Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Präsident von Hassel: Ich stelle fest, daß der Herr Bundesminister den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zur Amtsübernahme geleistet hat. Ich spreche Ihnen, Herr Bundesminister, die aufrichtigen Wünsche dieses Hauses aus.
({0}) Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Jahresgutachtens 1971 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache VI/2847 -
b) Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1972 der Bundesregierung
- Drucksache VI/3078 Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung fällt in eine Zeit, die sich konjunkturell deutlich unterscheidet von den Tagen des vergangenen Spätherbstes und des Winteranfangs. Die Auftragseingänge im neuen Jahr haben merklich zugenommen. Der Ifo-Test und andere Indikatoren zeigen eindeutig, die Geschäftserwartungen unserer Unternehmer haben sich unzweifelhaft verbessert. Nach den kritischen Momenten, die es vor einigen Monaten in der internationalen Handelspolitik gab, nach den Gefahren, die uns aus der Weltwährungskrise drohten, kann man heute in der Tat einen Gedanken aufgreifen, der aus dem Teilnehmerkreis der Konzertierten Aktion am vergangenen Freitag aufkam: Wir alle sollten jetzt mit mehr Vertrauen und mehr Zuversicht der weiteren Entwicklung entgegensehen.
({0})
Wir haben allen Anlaß dazu, und wir haben alle Berechtigung dazu. Noch im Oktober vorigen Jahres glaubte der Redner der Opposition, uns vor einer großen Zunahme der Arbeitslosigkeit warnen zu müssen. Herr Strauß hat in der Debatte zum Bundeshaushalt 1972 hier in diesem Hohen Hause dem Herrn Bundeskanzler gegenüber wörtlich erklärt: „Die Alternative, die Sie damals geleugnet haben, haben Sie mit Ihrer Regierung selbst herbeigeführt, nämlich die Alternative: Rezession mit Arbeitslosigkeit."
({1})
Meine Damen und Herren, heute kann ich darauf eine klare Antwort geben: die Rezession findet nicht statt.
({2})
Dies muß jeder bestätigen, der sich von den Realitäten des wirtschaftlichen Geschehens leiten läßt. Künstliche Nervosität und sterile Aufgeregtheit mögen anderen politischen Zwecken dienen. Auf keinen Fall finden sie ihre Rechtfertigung im wirtschaftlichen Geschehen.
Es mag für manche spannend wie in einem Krimi sein,
({3})
uns politische Ersosionsvorgänge einzureden. Aber eines sage ich jenen Inszenierern, die deutsche Wirtschaft hat die Phase der Unsicherheit, die durch den Konjunkturumschwung im letzten Herbst hervorgerufen war, hinter sich,
({4})
und die deutsche Wirtschaftspolitik verspürt überhaupt keine Lust zum Untergang.
({5})
Das durchschnittliche Realeinkommen nimmt auch in dieser Zeit laufend zu.
({6})
- Lassen Sie mich einen Augenblick reden!
({7})
- Sie können auch ganz gerne zuhören. - Das durchschnittliche Realeinkommen nimmt auch in dieser Zeit zu, im zweiten Halbjahr 1971 hat die volkswirtschaftliche Lohnquote mit 69 % eine nie gekannte Höhe erreicht. Die soziale Symmetrie war kein leerer Wahn.
({8})
Eine Konsumgütermesse nach der anderen zeigt bessere Ergebnisse, und mit einem Bauüberhang von 1 Million Wohnungen sind wir in. das neue Jahr gegangen. Das hat es noch nie gegeben, meine Damen und Herren.
({9})
Haase [Kassel] : Flucht in die Sachwerte!)
Und da spricht die Opposition draußen vom wirtschaftlichen. Ruin. In der Tat, einen solchen Kontrast von Wahrheit und Dichtung, den hat es noch nie gegeben.
({10})
Im Hinblick auf die Entwicklung des vergangenen Jahres liegt mir zuerst daran, dem Sachverständigenrat zur Begutachutng der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Namen der Bundesregierung zu danken für seine gutachtliche Tätigkeit. Der Rat hat uns kritisiert, aber er hat uns auch ermutigt und bescheinigt, daß die Bundesrepublik Deutschland am 9. Mai 1971 zu einer - wie er es wörtlich genannt hat - „couragierten Währungspolitik" überging.
({11})
Der Rat hat uns bestätigt, daß der Bund mit seinem gleichzeitigen binnenwirtschaftlichen Stabilisierungsprogramm vom Mai vorigen Jahres finanzpolitisch das Ruder herumgerissen hat.
({12})
Und der Rat hat schließlich zweifelsfrei dargelegt: „Die Wirtschaftspolitik hat die Chance für eine Rückkehr zur Stabilität noch einmal geschaffen."
Aber nicht nur dem Sachverständigenrat, der kraft Gesetzes seines kritischen Amtes waltet, haben wir zu danken. Auch der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute gilt unser Dank. Ihr Gutachten von Anfang Mai 1971 war richtig und mutig, auch wenn es viele damals nicht wahrhaben wollten. Manche haben damals das klare Wort der Institute für flexible Wechselkurse als eine Ermunterung für die Spekulation angesehen. Diese Behauptung war schlechthin falsch.
Die spekulativen Devisenzuflüsse waren verursacht durch tiefgreifende weltwirtschaftliche Ungleichgewichte.
({13})
Ich wehre mich dagegen, daß der Arzt, der die Krankheit und die Therapie beim Namen nennt, zum Schuldigen für die Krankheit gemacht wird.
({14})
Die Bundesrepublik Deutschland sollte stolz sein auf den Kranz ihrer unabhängigen und im Urteil unbequemen, ja unerbittlichen Wirtschaftsinstitute.
Meine Damen und Herren, mit diesen Hinweisen habe ich ein wirtschaftspolitisches Hauptproblem des Jahres 1971 angesprochen: die Überflutung Europas mit fremder Liquidität. Und wir haben damals am 8. und 9. Mai in Brüssel wahrlich nicht den Versuch gemacht, zum nationalen Alleingang anzutreten. Unser Vorschlag lautete bekanntlich: gemeinsame engere Bindung der europäischen Währungen aneinander, aber größere Flexibilität unserer Währungen nach außen. Manch einer wird jetzt erkennen - auch bei der Opposition -, daß wir heute in Europa, obwohl nach einigen Umwegen, uns mehr und mehr - wenn auch in bestimmten Grenzen - auf diesen damals angedeuteten Weg begeben.
({15})
Die Weltwährungskrise kam bekanntlich mit dem 15. August durch die Maßnahmen der Vereinigten Staaten von Amerika zum vollen Ausbruch. Die Bundesregierung hat in jenen schweren Wochen und Monaten unermüdlich und konsequent eine Linie gehalten, nämlich, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft und den atlantischen Partner USA zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzuführen. Dies wurde unter wesentlicher Mitwirkung der deutschen Delegation mit dem Währungsabkommen vom 18. Dezember 1971 in Washington erreicht. Natürlich war mit dieser Neuordnung der Wechselkurse noch nicht die Reform des Weltwährungssystems vollzogen. Ich selber habe dort schon am 18. Dezember 1971 gesagt: das Realignment - die Neuordnung der Wechselkurse ist ein „fragiles Gebäude, ein fragiles Kunstwerk". Es ist draußen wohl vermerkt worden, daß dieses deutsche Urteil weit entfernt war von billiger Euphorie. Und ich freue mich, daß wir uns in Europa auf der Brüsseler Tagung vom 6. und 7. März dieses Jahres auch zu dem ernsthaften Zweck zusammengefunden haben, eben jenes fragile Gebäude von Washington gemeinsam europäisch zu verteidigen.
({16})
Der binnenwirtschaftliche Sinn unserer couragierten Währungspolitik des Jahres 1971 war für jeden Klarsichtigen deutlich. Wir wollten den Zustrom von Auslandsgeldern abstoppen. Wir wollten die dadurch bewirkte explosionsartige Aufblähung unseres eigenen Geldvolumens entschlossen anhalten. Und da gibt es nun überhaupt keinen Zweifel; dies ist uns 1971 gelungen.
({17})
Wie jeder weiß, haben wir die Währungspolitik mit entsprechenden finanzpolitischen Maßnahmen flankiert. Unser Programm war beidhüftig angelegt, und wir haben es beidhüftig durchgeführt. Der Abschluß des Bundeshaushalts 1971 zeigt nun unwider10228
leglich, wir haben alle vier Ziele unserer haushaltspolitischen Beschlüsse vom Mai 1971 erreicht.
({18})
Die Bundesausgaben wurden tatsächlich um über 1 Milliarde DM verkürzt. Eine weitere Milliarde konnten wir zusätzlich in die Konjunkturausgleichsrücklage einzahlen. Die geplante Neuverschuldung des Bundes von 3,7 Milliarden DM wurde um sage und schreibe 2,7 Milliarden DM verkürzt, d. h. auf i Milliarde zurückgebracht.
({19})
Schließlich und endlich, wir haben von den rd. 26 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigungen bis zum Jahresende mehr als geplant, nämlich 9,4 Milliarden DM, nicht ausgenützt. Der Jahresabschluß des Bundeshaushalts für 1971 kann sich sehen lassen. Wer das nicht erkennen will, dem mangelt es entweder an dem Willen zu erkennen oder er leidet an einem Sehfehler.
({20})
Zum Trost kann ich nur hinzufügen: beide Mängel, der des Willens oder der Sehschärfe, ließen sich korrigieren.
({21})
Bei entsprechenden Hilfen und bereiten Helfern ist das alles möglich.
Die Währungspolitik und die Finanzpolitik des Jahres 1971 waren Teil einer in sich konsistenten Gesamtstrategie. Die Übersteigerungen des vorangegangenen Booms sollten Schritt für Schritt abgebaut, der Boden zur Wiedergewinnung eines höheren Grades an Preisstabilität sollte bereitet werden.
({22})
Aber zugleich sollte ein tieferer Einbruch in der Beschäftigung unserer Wirtschaft vermieden werden. Die Jahresergebnisse zeigen, daß unsere Strategie nicht ohne Erfolg war.
({23})
- Sie haben es sehr mit der Phonstärke. Hören Sie mal auf die Sache selber hin!
({24})
Gewiß, der jahresdurchschnittliche Preisindex für die Lebenshaltung mit 5,2% gegenüber dem Vorjahr ist uns zu hoch.
({25}) Da gibt es nichts zu beschönigen.
({26})
Trotzdem, die Kombination dieses Preisindex von durchschnittlich 5,2% für die Verbraucherpreise mit einer jahresdurchschnittlichen Arbeitslosenquote von nur 0,8 % ist als im internationalen Vergleich mehr als gut zu bezeichnen.
({27})
- Sehen Sie doch nach! - Sicherlich gibt es einige Länder mit einer niedrigeren Steigerung der Lebenshaltungskosten. Aber die Arbeitslosenquote ist darum in diesen Ländern bedeutend höher, oft doppelt oder dreifach so hoch wie in der Bundesrepublik. Viele Länder liegen in beiden Raten - im Preisindex der Verbraucherpreise wie in der Arbeitslosenquote - deutlich über unserem deutschen Niveau.
Dies ist kein Anlaß für deutsche Selbstgefälligkeit.
({28})
Der Rückgang in der Steigerungsrate der Lebenshaltungskosten in diesem Jahr von 5,8 % auf 5,5 % im Februar ist in sich gesehen natürlich noch kein ausreichender Indikator für einen gesicherten Fortschritt in der Stabilität. Viel wichtiger erscheint mir da die Entwicklung unserer industriellen Erzeugerpreise. Seit Frühjahr 1971 - so im April mit plus 5,2 % gegenüber dem Vorjahr -, also mit dem Beginn unserer letzten großen außen- und binnenwirtschaftlichen Stabilisierungsaktion, haben sich diese Steigerungsraten nicht mehr erhöht, sondern sich laufend nach unten bewegt. Die Deutsche Bundesbank hat jetzt mit Befriedigung darauf hingewiesen: unsere industriellen Erzeugerpreise haben im Januar dieses Jahres zum erstenmal seit zwei Jahren den durchschnittlichen Steigerungssatz der wichtigsten Industrieländer in der Welt unterschritten.
({29})
Die industriellen Erzeugerpreise liegen im Februar nur noch um 2,6 % über dem Vorjahresstand. Dies - 2,6 % - ist ein gutes Ergebnis im Sinne der Wiedergewinnung unserer Stabilität und im Sinne der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie. Unsere industriellen Erzeugerpreise sind im Boom ab 1969 seinerzeit der Zunahme der Verbraucherpreise zeitlich um einige Monate vorausgeeilt. Aus demselben Wirkungszusammenhang sollten wir nun mit einer nachfolgenden Abflachung auch der Verbraucherpreise rechnen können. Aber auch diesen Nachholprozeß müssen wir illusionsfrei verfolgen und unterstützen: administrative Preiserhöhungen im Verkehr und in der Agrarwirtschaft stehen vor der Tür. Um so mehr müssen wir unsere Anstengungen gegen weitere Kostensteigerungen und vor allem gegen den erneuten Zufluß von Auslandsliquiditäten verstärken.
Für die bisherigen Ergebnisse unserer Stabilitätspolitik des Jahres 1971 war auch ein anderer Tatbestand von ganz besonderer Wichtigkeit. Die Effektivverdienste je Beschäftigten in der Industrie sind im vierten Quartal 1971 auf eine Steigerungsrate von 6,8 % zurückgegangen gegenüber einem Jahresdurchschnitt von 10,6 % im Jahre 1971 und 16,7% im Jahre 1970. Das Fazit ist, die Tarifpolitik unserer Gewerkschaften, die Lohn- und Gehaltspolitik unserer Tarifparteien hat sich also dem Konjunkturverlauf angepaßt. Ich möchte es so sagen, unsere Gewerkschaften haben in der Praxis einen viel höheren Grad von Elastizität und Anpassungsfähigkeit bewiesen, als es vor einem halben Jahr noch viele Untergangspropheten wahrhaben wollten.
({30})
Wir sollten das Verhalten unserer Gewerkschaften mit Dankbarkeit anerkennen.
({31})
Natürlich haben unsere Gewerkschaften im Herbst vorigen Jahres ihre Schwierigkeiten gehabt, um mit der veränderten Konjunkturlage und mit dem veränderten Konjunkturklima fertig zu werden. Arbeitskämpfe mußten durchgestanden werden. Trotzdem haben die Gewerkschaften im Ergebnis den richtigen Weg eingeschlagen. Aber, meine Damen und Herren, Lohn- und Gehaltspolitik wird immer von zwei Seiten gemacht. Es wird wahrlich Zeit, daß die Unternehmer, gerade in der Konsumgüterindustrie, nun das Ihrige dazutun: der Weg zu einer kostenneutralen Lohn- und Gehaltspolitik sollte nun endlich durch eine entsprechende Unternehmerpolitik bei den Endverbraucherpreisen honoriert werden.
({32})
Ich sage es mit aller Deutlichkeit, wer jetzt gegen weichende Märkte Preiserhöhungen durchzusetzen versucht,
({33})
oder wer jetzt gar als Unternehmer mit erneuten Chancen der Preisüberwälzung rechnet, der spielt mit dem Feuer einer neu entfachten Preis-KostenSpirale. Niemand, der im Markte Verantwortung hat, sollte dieser Versuchung erliegen. Wer es dennoch tut, vergibt die einmalige Chance, daß der marktwirtschaftliche Wettbewerb gerade in der Zeit einer ruhigen Konjunkturbewegung wieder zu Ehren
kommt. Der echte Marktwirtschaftler kann sich gerade jetzt bewähren.
({34})
Ich darf das Hohe Haus daran erinnern, daß seit dem 18. August 1971 die Novelle zum Kartellgesetz, die Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf dem Tisch liegt. Speziell den Abgeordneten der Opposition, die der Bundesregierung so gern vorwerfen, sie komme mit ihren Reformvorhaben nicht über, ist hier bei der Behandlung dieser Novelle ein fruchtbares Betätigungsfeld angeboten.
({35})
Damit gelangen wir zur unmittelbaren Gegenwart. Wir können uns der Frage nach unserem heutigen konjunkturellen Standort und nach dem weiteren Verlauf der Dinge zuwenden.
Die Senkung des Diskonts durch die Deutsche Bundesbank auf 3 % am 24. Februar in diesem Jahre und die Einführung der Bardepotpflicht in Höhe von 40 v. H. durch die Bundesregierung und durch die Bundesbank am 1. März 1972 zeigen mit aller Deutlichkeit: für unsere Stabilitätspolitik müssen wir weiterhin an der Außenfront äußerst aktiv sein. Die Bewegungen auf den Devisenmärkten beweisen das zur Genüge.
Nun kann aber auch empirisch - nicht theoretisch, Herr von Bismarck, sondern praktisch - jener
Unsinn widerlegt werden, der anläßlich der letzten Währungsdebatte vom Sprecher der Opposition im bekannten Katarakt der Worte behauptet wurde, nämlich, die Devisenzuflüsse seien einzig und allein, so wurde es gesagt, durch die Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank verursacht, die ihrerseits durch die vermeintlichen Versäumnisse der Finanzpolitik eben zur Kreditverknappung gezwungen gewesen sei. Nun, meine Damen und Herren, heute haben wir, Herr Müller-Hermann, doch mit unserem Diskont den niedrigsten Satz in der ganzen westlichen Welt und dennoch spüren wir den Druck des geschwächten Dollars gegen unsere Wirtschaft. Da muß doch nun in der Tat eine andere Ursache dahinterstecken! Eines weiteren Beweises gegen die Unrichtigkeit jener These aus der Mottenkiste der Opposition bedarf es wohl nicht mehr. Der währungspolitische Rest ist dort wohl hoffentlich Schweigen.
({36})
Unserer Währungspolitik, die der Verteidigung der Leitkurse von Washington dient, entspricht gleichzeitig unsere eigene fortgesetzte Finanzpolitik der Zurückhaltung und der Vorsicht. Auch jetzt in diesen neuen Umständen bleibt unsere Politik gleichgewichtig, ausgewogen. Wir müssen den Kräften des Marktes zur Preisstabilisierung und zur markteigenen Erhöhung der privaten Investitionen weiter freien Raum geben. Ein flottes Durchstarten mit den öffentlichen Finanzen ist nach den neuen Gegebenheiten fehl am Platze. Denn sonst würde uns bald eine neue Überforderung der volkswirtschaftlichen Kräfte ins Haus stehen. Aus diesen Überlegungen sind in den letzten Tagen der Konjunkturrat für die öffentliche Hand, der Finanzplanungsrat und die Konzertierte Aktion zu einer übereinstimmenden Feststellung gekommen, nämlich: Die Notwendigkeit, die Eventualhaushalte und die Konjunkturausgleichsrücklagen des Bundes und der Länder, zusammen eine Summe von 4,2 Milliarden DM, zu aktivieren, besteht auf absehbare Zeit nicht.
Meine Damen und Herren, diese Vorschläge jener von mir genannten wichtigen Gremien sind schmerzlich für so manches Bundes- und Landesressort. Aber sie sind unumgänglich. Wenn die Geldpolitik aus außenwirtschaftlichen Gründen „leichter" geworden ist, dann muß die Fiskalpolitik um so „härter" werden, wenn man in der Gesamtpolitik solide bleiben will, und das wollen wir.
({37})
Die elastische Behandlung der Eventualhaushalte bedeutet zugleich eine erneute Entlarvung jener Vernebelungsthesen der Opposition. Für die Opposition waren bislang die Eventualhaushalte so ein Sammelsurium für kosmetische Kürzungen des Kernhaushaltes,
({38})
die dann dennoch mit seinem Inkrafttreten ebenfalls, wenn auch in schamhafter Verkleidung, wieder auf der Bühne der öffentlichen Ausgaben auftreten würden. Der jetzige Aufschub beweist, daß diese Konjunkturhaushalte wirklich politisch nur in eventum geplant sind.
({39})
Die Opposition hat auch hier in ihrem Urteil wieder einmal völlig schief gelegen.
({40})
Anders ist es mit der Zurückzahlung des Konjunkturzuschlages.
({41})
Wie wir alle wissen, ist er ohnehin zum 31. März 1973 fällig. Diese Bundesregierung hat bekanntlich mehrfach erklärt, daß sie diesen Zuschlag unter allen Umständen ehrlich nach Hause bringen will.
({42})
- Warten Sie nur ab; es kommt noch! Da für die zweite Hälfte dieses Jahres von allen Seiten eine merkliche Konjunkturbelebung vorausgesagt wird, wurde von den verschiedensten Gremien übereinstimmend empfohlen, den Konjunkturzuschlag so bald wie technisch möglich mit einem Schlag zurückzuzahlen, so z. B. vom Deutschen Industrie- und Handelstag. Die Opposition verhedderte sich
({43})
bei diesen öffentlichen Überlegungen in ganz besonderem Maße.
({44})
- Nein, Sie haben sich beim Konjunkturzuschlag schön verheddert.
({45})
Einmal verfiel sie auf den Gag, den ich auf gut bayerisch nur als hirnrissig bezeichnen kann,
({46})
daß nämlich die baldige Zurückzahlung des Konjunkturzuschlages sozusagen ein Wahlgeschenk sei. Das kommt doch von Ihnen.
({47})
Hier verwechselt anscheinend die Opposition in ihrem Rundum-Gefuchtel
({48})
- jawohl! - den Deutschen Industrie- und Handelstag mit der Bundesregierung. Welch eine Ehre, kann ich nur sagen!
({49})
Zum Thema Wahlgeschenke sollte sich die Opposition überhaupt in wohltuendes Schweigen hüllen.
({50})
Sie hat bekanntlich - Sie wissen das alle - vor der letzten CDU/CSU-Wahl, 1965, das deutsche Volk aus einem ganzen Füllhorn von finanziellen Erleichterungen gesegnet.
({51})
Aber als sich dann die verehrten und gebetenen Gäste nach vollzogener Wahl fröhlich an die Tafel setzten, kamen Köche und Kellner und servierten die herrlichen Gaben kurzerhand wieder ab.
({52})
Solches, meine Damen und Herren, ist nicht die Politik der sozial-liberalen Koalition.
({53})
Wir haben dem deutschen Volk im Jahre 1970 ein Konjunkturropfer abverlangen müssen, und wir zahlen es im gesamtwirtschaftlich richtigen Augenblick zurück.
({54})
Außerdem: diese Bundesregierung wird dafür sorgen, daß im Jahre 1973 finanziell nicht in Saus und Braus gelebt wird, nur damit im darauffolgenden Jahr wieder mit der großen Krille abkassiert wird.
({55})
Die Opposition möge sich rechtzeitig darauf einstellen - sie sollte es eigentlich schon erkannt haben -: Wir Sozialdemokraten und wir Freie Demokraten
({56})
- ja -, wir sind so gemein: wir sagen immer und sogleich die Wahrheit. Das ist es.
({57})
- Es freut mich, daß Ihre Stimmung bei der Opposition sich entgegen den düsteren Prognosen der neuen Konjunkturlage merklich, hörbar, sichtbar anpaßt.
({58})
Doch zurück zum fälligen Konjunkturzuschlag. Der von mir sehr verehrte Herr Kollege Leicht, der so vorbildliche Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages, verfiel vor einiger Zeit auf die Idee, den Konjunkturzuschlag unmittelbar für öffentliche Investitionen zu verwenden. Dieser staatstragende Vorschlag wurde allerdings von den Propagandisten seiner Partei mit der Geschwindigkeit eines Lamellenverschlusses aus dem Verkehr gezogen.
({59})
Dabei muß ich daran erinnern, daß diese Option für den Konjunkturzuschlag der CDU/CSU im Jahre 1970 sehr gut zu Gesicht gestanden hätte. Damals, im Februar, hat die Regierung bekanntlich in diesem Hohen Hause die Möglichkeit der Anwendung des § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes angedeutet, d. h. die Erhebung des zehnprozentigen Konjunkturzuschlages und seine Zuführung zur Konjunkturausgleichsrücklage für spätere öffentliche Investitionen. Ich habe damals insistiert und den von mir schon mehrfach hier vermißten Herrn Stoltenberg ausdrücklich gefragt, ob man für den § 26 bei der Opposition eine Basis finden könne.
({60})
Die Opposition spricht doch immer so viel von Gemeinsamkeit
({61}) auch in den großen Fragen der Innenpolitik.
({62})
Dazu wäre damals, Herr Stücklen, eine gute Gelegenheit gewesen. Tatsächlich rührte sich aber damals bei Ihnen keine Hand. Als dann im Sommer 1970 nach längeren Überlegungen der rückzahlbare Konjunkturzuschlag durch ein besonderes Gesetz beschlossen wurde, versagte sich die Opposition auf besondere Weise. Sie sagte weder ja noch nein, sondern sie ging still ins Abseits.
({63})
Und dort im Abseits befindet sich die Opposition beim Thema Konjunkturzuschlag heute noch. Aus der Ecke kommen Sie nicht wieder heraus.
({64})
Ich empfehle der Opposition da nur eine Haltung:
({65})
Der Kavalier schweige
({66})
ja, hören Sie zu, das ist an Sie gerichtet! - und nehme die Rückzahlung mit Würde in Empfang.
({67})
Was nun die tatsächlichen Auswirkungen der Rückzahlung in nächster Zukunft betrifft, so müssen wir bedenken, von den 5,9 Milliarden DM, die bei
der Bundesbank deponiert sind, entfallen 2 Milliarden DM auf den Unternehmenssektor. Sie werden dort bei der Rückzahlung der Konsolidierung von alten Schulden dienen. Ich hoffe sehr, daß hierbei auch die Auslandsverschuldung der betreffenden Unternehmungen zurückgeführt wird. Bei den restlichen knapp 4 Milliarden DM, die auf die privaten Haushalte entfallen, rechnen wir mit einer überdurchschnittlichen Sparrate von rund 20 %.
Meine Damen und Herren, wir haben in allen■diesen Jahren trotz allen Währungsstörungen von draußen den unerschütterlichen Sparwillen der deutschen Bevölkerung bewundert.
({68})
Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser Sparwille in diesem besonderen Falle auch speziell angesprochen wird. Anlagemöglichkeiten stehen bei Rückzahlung in Hülle und Fülle zur Verfügung, bis hin zu den Bundesschatzbriefen, denen sich in diesem Jahr besonders viele Leute zuwenden. Die Devise kann also lauten: Zur Sache, Schätzchen!
({69})
Aber unabhängig von solchen Anlagemöglichkeiten ist oberster Gesichtspunkt für uns dieser: Jeder Berechtigte kann völlig frei über seinen Betrag verfügen. Abgesehen davon ist es wohl angemessen, die Rückzahlung in eine Zeit zu legen, in der die Versuchung im Sinne einer stürmischen Vermehrung der Inlandsnachfrage relativ gering ist.
Deshalb, meine Damen und Herren, darf ich im Namen der Bundesregierung folgendes erklären: Der Konjunkturzuschlag wird ab 15. Juni zurückgezahlt.
({70})
Die Verrechnung mit den Unternehmen wird dabei verhältnismäßig schnell und einfach erfolgen. Die Masse der Arbeitnehmer wird spätestens mit der nächsten Gehaltszahlung, die auf den 15. Juni folgt, den Konjunkturzuschlag zurückerhalten. Abgesehen von Ausnahmefällen - wie z. B. bei den in die Heimat zurückgekehrten Gastarbeitern - wird der größte Teil des Konjunkturzuschlages um die Monatswende Juni/Juli in den Händen der berechtigten Arbeitnehmer sein.
({71})
Die Finanzämter werden sich bemühen, die Rückzahlung beschleunigt vorzunehmen. Der Vorsitzende der Länderfinanzministerkonferenz konnte im Finanzplanungsrat darauf hinweisen, daß ein ansehnlicher Teil der technischen Vorarbeiten schon geleistet sei. Ich weiß, daß unsere Steuerbeamten seit Jahren, seit Jahrzehnten
({72})
hoffnungslos überlastet sind. Dennoch glaube ich, daß sie sich dieser Arbeit mit besonderer Genugtuung annehmen werden.
({73})
Meine Damen und Herren, ich habe eben schon auf die allgemeinen finanzpolitischen Beschlüsse des Konjunkturrates und des Finanzplanungsrates hingewiesen. Wir haben ganz unmißverständlich die Fragen der Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden in diesem Jahr angesprochen. Wie Sie wissen, hat der Bund durch die Neuverteilung der Umsatzsteuer rund 2,8 Milliarden DM pro Jahr an die Länder abgetreten. Es bestand überhaupt kein Zweifel daran, daß hiervon die Hälfte der Neuverschuldung des Bundes zugeschlagen werden mußte. Hinzu treten einige andere unabweisbare Mehrausgaben auf Bundesseite: eine halbe Milliarde für Lohn- und Gehaltsaufbesserungen, die Pauschalkosten für den Berlin-Verkehr und ähnliches. Aber, meine Damen und Herren, dies ist nicht das Problem. Das Hauptproblem der Neuverschuldung der öffentlichen Hände in diesem Jahr ist das Problem der Länder. Bekanntlich erhalten Länder und Gemeinden von diesem Jahr an - und bereits in diesem Jahr - jährlich rund 4 Milliarden DM ansteigend -durch Abtretung von Steuereinnahmequellen und durch Verbrauchsteuererhöhungen, z. B. durch die Erhöhung der Mineralölsteuer.
Manche Kritiker in den Ländern und den Gemeinden sollten diese Mehreinnahmen als einen Beweis dafür ansehen, daß der Bund seine Verantwortung für den Gesamtstaat wahrnimmt.
({74})
Dabei sollte man allerdings auch bedenken, daß der Bund im wesentlichen für die Erschließung dieser Steuerquellen zu sorgen hat. Es ist nicht zu übersehen, daß man bei dieser Drecksarbeit der Steuererhöhung selber staubig wird.
({75})
- Aber lachen Sie nicht zu früh!
({76})
Wir sollten dabei auch nicht vergessen, daß die Opposition hier in diesem Saal zu fein dazu ist, um sich die Hände für Steuererhöhungen staubig zu machen, für Steuererhöhungen, die den Ländern und Gemeinden zugute kommen sollten, denen Sie sich politisch verbunden fühlen.
({77})
Bei der neuen Operation hatten wir uns vorgenommen, daß die Erschließung neuer Steuerquellen für Länder und Gemeinden die geplante Neuverschuldung bei diesen Gebietskörperschaften reduzieren müßte. Bei den Ländern ist das bisher nicht eingetreten. Im Gegenteil, während der Verhandlungen über die Steuerneuverteilung und während der Gesetzgebung zur Steuererhöhung bei den Verbrauchsteuern schwollen die Ausgabenpläne in den Ländern an, so daß sich nunmehr nach erfolgter steuerlicher Verbesserung für die Länder gar noch ein erhöhter Ansatz für die Neuverschuldung der Länder abzeichnet.
({78})
Wir haben das alles im Konjunkturrat und Finanzplanungsrat ohne Wertung, ohne Klagen über Schuld und Sühne behandelt. Wir haben einstimmig festgestellt, daß die Stabilisierung der öffentlichen Haushalte eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden ist.
({79})
Rückführungen der Ausgabepläne werden bei einigen Gebietskörperschaften unvermeidlich sein. Wenn wir dabei von etwaigen gesetzlichen Maßnahmen gesprochen haben, so will ich hier nur ein Beispiel nennen, damit unnötige Phantasien unterbleiben. So könnte es unter Umständen im Sommer nötig sein, daß wir dann, also in der Mitte dieses Jahres, durch eine wirksame Rechtsverordnung nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz erneut den Schuldendeckel auf die öffentlichen Haushalte setzen.
({80})
An diesem allen sehen Sie, meine Damen und Herren, wir haben in engster Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften die Lage nüchtern analysiert, und wir bereiten gemeinsam die notwendigen Maßnahmen vor. Im übrigen muß man auch hier Maß und Mitte halten. Die Eindämmung der gesamten öffentlichen Neuverschuldung ist zu schaffen, wenn wir unsere Instrumente gemeinschaftlich gebrauchen.
({81})
Niemand sollte da Streit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden säen. Wer aber da so leichthin angesichts dieser gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden von Finanzchaos spricht, der versündigt sich an der engen und fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den Länderfinanz- und -wirtschaftsministern und der Bundesregierung.
({82})
- Von Chaos - Herr Barzel, ich meine nicht Sie kann nur derjenige faseln, dessen Gedanken von Dunst und Qualm einer aufgeräumten CSU-Versammlung, gelinde gesagt, beeinflußt sind.
({83})
Im übrigen möchte ich eines klarstellen. Der Bundeshaushalt 1972 wird von den stets arbeitsbereiten und belastungswilligen Kollegen im Haushaltsausschuß kritisch durchleuchtet und ausgehandelt. Wir sollten heute nicht, wie die Engländer sagen, „Contempt of Parliament" begehen, d. h. wir sollten uns vor einer Mißachtung der laufenden Arbeit eines der wichtigsten Ausschüsse dieses Hohen Hauses hüten. Warten wir also seine Arbeitsergebnisse ab.
({84})
Lassen wir die Dinge in der richtigen Ordnung und Reihenfolge. Kritik und Würdigung des Haushalts 1972 gehören in die zweite und dritte Lesung des Etats. Dort sprechen wir uns wieder.
({85})
Wirtschafts- und finanzpolitisch halten wir unser Haus in Ordnung. Das sollte auch für jedes Land gelten. Es gibt keine Extravaganzen, keine Extrawürste
({86})
und und keinen Ausgabenrausch.
({87})
Vorsicht und Zurückhaltung sind die Leitmotive unseres Handelns.
({88})
Zugleich orientieren wir uns immer an den spontanen Kräften des Marktes und der Konjunktur.
Immer wieder habe ich auf die Gefährdungen an der außenwirtschaftlichen Front, an der währungspolitischen Front hingewiesen. Ich sagte schon, am 6. und 7. März 1972 hat Europa einen großen Schritt nach vorn getan. Die Parallelität von wirtschaftspolitischen und währungspolitischen Fortschritten ist nunmehr gesichert. Endlich wird es einen Lenkungsausschuß geben, bestehend aus zehn Mitgliedern, den unmittelbaren Stellvertretern der für die Konjunkturpolitik im eigenen Lande zuständigen Minister. Hinzu tritt das kompetente Mitglied der Kommission. Wir haben alles getan - und wir haben es erreicht -, um diesen neuen Lenkungsausschuß freizuschlagen, freizuhalten von allem Gestrüpp und Verhau, von Zwischenzuständigkeiten und Konsultationsritualen mit anderen Brüsseler Instanzen, die dort, wie wir alle wissen, im Wildwuchs grassieren. Hier ist endlich eine schlagkräftige Instanz geschaffen, in der laufend Informationen ausgetauscht werden, in der laufend Transparenz zwischen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer hergestellt wird, in der die wirtschaftspolitische Konvergenz vorbereitet und in der für die Durchführung der vom Rat gegebenen Orientierung gesorgt wird. Ich sage das hier sehr ungeschützt, aber gerade, weil ich damit einem Anliegen dieses ganzen Hohen Hauses nachkommen möchte: Meine Damen und Herren, dieser Lenkungsausschuß - Herr Barzel, das sollte Sie ganz besonders interessieren ({89})
kann im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Keimzelle, zu einem politischen Aktionszentrum erster Ordnung werden. Dies sollten wir alle begrüßen.
({90})
Für die Intervention unserer Notenbanken auf den Devisenmärkten haben wir gemeinschaftliche und verbindliche Regeln beschlossen. Wenn Sie so wollen: wir haben den ersten europäischen Regelmechanismus eingerichtet. In Zukunft wird Währungspolitik auf der Basis der Washingtoner Beschlüsse im Rahmen der Gemeinschaft nur noch konzertiert gemacht. Alle haben aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres gelernt. Deshalb kamen wir zu diesem hervorragenden Kompromiß.
({91})
Ich sagte schon, mit diesen Beschlüssen des Ministerrats ist Europas Position im Weltwährungssystem gestärkt, ja, ist Europas Position in der Weltwirtschaft gestärkt worden. Wir werden diese Position weiter festigen. Dieses Europa kann gerade im Angesicht der drängenden transatlantischen Probleme seine eigenen Kräfte in enger Allianz mit den USA mehr denn je entfalten.
Aber, meine Damen und Herren, dieses verstärkte und gestärkte Europa blickt nach West und Ost. In Osteuropa ist der Prozeß der weiteren Industrialisierung, der weiteren Entwicklung jener großen und kleinen Volkswirtschaften, unausweichlich. Wir alle sollten diesen Vorgang, einen Vorgang weltwirtschaftlichen Ausmaßes, begrüßen. Aber die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr die gesamte Europäische Gemeinschaft können bei diesem Prozeß der Entwicklung in Osteuropa nicht abseits stehen. Vielmehr haben wir doch in jenem gewaltigen Entwicklungsvorgang eine Funktion zu übernehmen, die unserer Lage, unserer ökonomischen Kraft und der Anpassungsfähigkeit und der Vielseitigkeit unseres Produktionsapparats entspricht.
In Kürze wird es Klarheit darüber geben, daß ein neuer Handelsvertrag zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland zustande kommt.
({92})
Auch die deutsch-sowjetische Wirtschaftskommission wird ihre Arbeit sehr bald aufnehmen können. Meine Damen und Herren, ich weiß, daß die interessierte deutsche Wirtschaft auf einen solchen Vertrag Wert legt, ja, daß sie die Notwendigkeit der politischen Absicherung eines solchen Handelsvertrags bejaht. Wirtschafts- und währungspolitische Integration im Westen, ökonomische Kooperation nach dem Osten, - das ist für uns, das ist für diese Bundesregierung ein Ganzes.
({93})
Es gibt manche - auch in diesem Hause -, die in diesen Tagen diese Zusammenhänge nicht sehen wollen. In der Entscheidung um diese ausgewogene Politik ist es vielleicht unausweichlich, daß einige Späne abfallen. Aber diese Späne, die hin und wieder die Grenzlinien der Entscheidung wechseln, fallen letztlich nicht ins Gewicht. Jene Späne, von denen ich spreche, werden schnell vom Winde verweht sein. Entscheidend ist die Kraft der historischen Tatsache,
({94})
daß unserer Wirtschaft in einer erstarkten Europäischen Gemeinschaft nun gerade durch die Ostverträge neue Chancen eröffnet werden.
({95})
So wende ich mich in diesem Augenblick ganz besonders an die deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft sollte in den Auseinandersetzungen um jene Seite unserer Politik nicht im Schatten bleiben.
({96})
Sie sollte jene Seite unserer Politik prüfen und dabei ihre eigenen Interessen im Rahmen des Ganzen erkennen. Die deutsche Wirtschaft sollte aus dem unpolitischen Schatten heraustreten.
({97})
Sie sollte ihre Stimme erheben für eine internationale Politik der Vernunft und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
({98})
Auch die deutsche Wirtschaft des Jahres 1972 kann nicht außerhalb der außenpolitischen Auseinandersetzungen dieser Zeit stehen. Auch das gehört, nebenbei gesagt, zum Jahreswirtschaftsbericht.
({99})
Unser Volk ist durch die Probleme der Verträge mehr denn je politisiert.
({100})
Es ist mit Recht aufgewühlt von dieser tiefgreifenden Problematik, und das ist gut so.
({101})
Aber die Stimme unserer Unternehmerschaft, die doch ein Symbol unserer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung ist,
({102})
sollte hier nicht stumm bleiben. Und ich sage zu den Unternehmern: Heute und in den kommenden Wochen werden auch dort Bekenner gefragt.
({103})
Präsident von Hassel: Ich danke dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen für die Einbringungsrede. Wir verbinden die Aussprache zu den Punkten 3 a und 3 b. Bevor ich das Wort Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann erteile, für den 55 Minuten Redezeit beantragt sind, habe ich die Ehre, eine Delegation der französischen Nationalversammlung unter Leitung des ersten Vizepräsidenten La Combe zu begrüßen. Es ist seit langer Zeit wieder die erste Begegnung. Wir freuen uns, heute die offizielle Delegation der französischen Nationalversammlung bei uns im Deutschen Bundestag und damit in der Bundesrepublik Deutschland herzlich willkommen zu heißen.
({104})
Das Wort hat der Abgeordnete Müller-Hermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies war die schwächste und enttäuschendste Einführungsrede, die es je gab.
({0})
Es wäre besser gewesen, der Herr Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hätte sich konkreter zum Jahreswirtschaftsbericht und zu den Fragen geäußert, auf die die Öffentlichkeit eine Antwort erwartet,
({1})
statt hier eine polemische und blumenreiche Debattenrede zu halten.
({2})
Der Herr Kavalier Schiller
({3})
hätte in weiten Passagen, glaube ich, besser Zurückhaltung üben sollen.
({4})
Meine Damen und Herren, jeder, der politisch handelt, muß sich an dem messen lassen, was er versprochen und was er gehalten hat.
({5})
Das gilt für die Opposition, aber das gilt besonders für die Regierung.
({6})
Anspruch und Wirklichkeit, Wahrheit und Dichtung sind die Eckwerte auch der wirtschaftspolitischen Beurteilung.
Bei der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht 1970 hat Herr Schiller erklärt: „Vor allem dürfen wir nicht in der schlechtesten aller Welten landen, nämlich bei Stagnation ohne Stabilität." Und genau das ist die Situation, in die uns diese Bundesregierung hineinmanövriert hat.
({7})
Als die Bundesregierung Brandt das Ruder in die Hand nahm, hatten wir eine Preissteigerungsrate von 2,7 %, und 1970 erklärte Herr Schiller: Eine Preissteigerungsrate von 3,5 % ist uns noch viel zuviel. Er fügte damals hinzu: Auch eine anvisierte Preissteigerungsrate des privaten Verbrauchs von 3 % im Jahresdurchschnitt ist nicht befriedigend; sie entspricht auch nicht unseren mittelfristigen Zielsetzungen. - Das war der Anspruch, meine Damen und Herren. Im Jahre 1971 hatten wir dann eine Preissteigerungsquote von 5,2 % und in den letzten Monaten des vergangenen Jahres, um die Jahreswende, eine Preissteigerungsrate von 5,9 und 5,8%. Das ist die Wirklichkeit.
({8})
Wenn wir im Augenblick auch vielleicht eine abflachende Entwicklung zu verzeichnen haben, so
haben wir doch die bei weitem höchste Inflationsrate der Nachkriegszeit.
({9})
Die Bundesregierung war angetreten, nicht nur Preisstabilität, sondern auch Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu garantieren, und hatte dafür so der Herr Minister Schiller - das beste Instrumentarium der Welt zur Verfügung. Das war der Anspruch. Tatsächlich hat die Bundesregierung alle drei Ziele in Gefahr gebracht.
({10})
Herr Minister Schiller hat gesagt: Rezession findet nicht statt. Sein Wort in Gottes Ohr! Das reale Wirtschaftswachstum liegt aber derzeit bei Null.
({11})
Die Bundesregierung war angetreten, übermäßige Konjunkturausschläge zu verhindern. Wir sind aber dabei, von einem Extrem ins andere zu verfallen.
Die Regierung war angetreten, große innere Reformen zu verwirklichen. Übriggeblieben sind Reformruinen, sind Löcher in allen öffentlichen Haushalten.
({12})
Übriggeblieben sind Bundesunternehmen, die durch die Schuld dieser Bundesregierung immer tiefer in die roten Zahlen geraten. Das ist die Wirklichkeit.
({13})
Nun hat uns Herr Schiller im Jahreswirtschaftsbericht 1972 für das Jahr 1972 eine Preissteigerungsrate von 4,5 % prophezeit, und er bezeichnet das als einen erheblichen Fortschritt in Richtung auf Preisstabilität.
({14})
Nun, meine Damen und Herren, wenn sich dieses Ziel tatsächlich erreichen ließe, so wäre das mit Sicherheit nicht befriedigend, aber immerhin ein gewisser Hoffnungsschimmer. Ich meine bloß, Herr Minister Schiller: damit, daß Sie sich hier selbst - auch heute - Mut zusprechen, werden die Probleme mit Sicherheit nicht gelöst.
({15})
Denn auch nicht das Geringste spricht dafür, daß Herrn Schillers bewundernswerter Optimismus im Jahre 1972 gerechtfertigter sein wird als 1971.
({16})
Denn im vorjährigen Jahreswirtschaftsbericht, Herr Minister Schiller, hatten Sie eine durchschnittliche Preissteigerungsrate von 3 % vorausgesagt. Tatsächlich ist eine völlig andere Entwicklung eingetreten. Und die für Dezember vorausgesagten und die tatsächlichen Werte klaffen um etwa 100 % auseinander.
({17})
Auch hier Anspruch und Wirklichkeit, meine Damen und Herren.
Wir sollten das auch nicht mit dem internationalen Vergleich beschönigen. Wir sind auf dem besten
Wege, uns in die internationale Spitzengruppe vorzurobben. Als wir in der Debatte über den vorjährigen Jahreswirtschaftsbericht auf Grund eigener Analysen darauf hinwiesen, eine Preissteigerungsrate von 4 % schiene uns wahrscheinlicher, hat Herr Minister Schiller über die Opposition einen Kübel von Hohn ausgeschüttet.
({18})
Er sprach von einer „Subkultur", in der sich die Opposition bei ihren Befragungen und Ermittlungen offenbar bewegt habe.
Nun, meine Damen und Herren, die Quintessenz der Prognosen für 1972 muß doch auf Grund aller bisherigen Erfahrungen bleiben: Wer sich immer wieder in seinen Prognosen irrt, der kann doch nun beim besten Willen nicht erwarten, daß man heute seinen Voraussagen Glauben schenkt.
({19})
Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, was jetzt zu tun ist, ist eine nüchterne und ungeschminkte Bestandsaufnahme notwendig. Ich sage das ohne dramatische Akzente, aber auch ohne euphorische Klimmzüge, wie sie die Rede von Herrn Schiller enthielt, die obendrein noch mit einigen Unwahrhaftigkeiten durchsetzt war.
({20})
- Ich komme noch darauf. Wie ist die wirtschaftliche Lage tatsächlich zu sehen?
Erstens. Am ehesten scheint die Welt auf dem Arbeitsmarkt noch in Ordnung zu sein. Trotz der gerade in der letzten Zeit zunehmenden Unsicherheit liegt die Arbeitslosenquote nicht nennenswert über der in den vergangenen Jahren. Dabei dürfen wir aber nicht übersehen: diese relativ günstige Entwicklung ist nicht zuletzt auch eine Folge des milden Winterwetters, und auch die strukturellen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt - etwa der natürliche Abgang von Erwerbspersonen - drücken die Arbeitslosenquote nach unten. Entscheidend und ein echter Konjunkturpuffer ist der ausländische Arbeitsmarkt. Immerhin sind in den letzten Monaten etwa 110 000 ausländische Arbeitskräfte zurückgegangen. Trotzdem - machen wir uns bitte nichts vor ist die Vollbeschäftigung durchaus nicht ungefährdet. Ein Anhalten der jetzigen Kostenentwicklung muß insbesondere für die exportorientierte Industrie zur Einschränkung von Produktionen oder auch zu der Überlegung führen, ob man nicht Produktionen ins Ausland verlagern muß.
({21})
Zweitens. Entscheidend für die zukünftige Entwicklung ist das reale Wachstum unserer Wirtschaft. Im Jahre 1971 ist es auf 2,9 % abgesunken, in den letzten beiden Vierteljahren 1971 bis auf Null, ja sogar unter Null,
({22})
und niemand sollte sich hier durch Zuwachsraten blenden lassen, die nur durch die Geldentwertung aufgebläht sind, aber nicht mehr sind als Papieraussagen.
({23})
Das Ifo-Institut hat für 1972 einen realen Rückgang der Investitionen um 9 % vorausgesagt. Zwar wird unsere Konjunktur nach wie vor von einer starken Verbrauchernachfrage getragen, wie gerade auch die Steigerung der Einzelhandelsumsätze in den letzten Monaten zeigt. Die Achillesferse der gegenwärtigen Konjunktursituation ist die Investitionsgüterindustrie. Die starken Ertragseinbußen, die Erschwernisse im Exportgeschäft und die ja regierungsamtlich bestätigten „Absurditäten" in der Steuerreform und dazu die allgemeine politische Unsicherheit werden auf absehbare Zeit kaum einen Anreiz für große Investitionsvorhaben geben. Im Gegenteil, alle Unternehmen schalten derzeit auf Sparflamme. Um so mehr muß man sich wundern, wie sehr die Bundesregierung schon wieder den Mund vollnimmt, wenn sie das reale Wirtschaftswachstum für 1972 im Jahreswirtschaftsbericht auf 2 bis 3% einschätzt. Um das zu erreichen, müßte in der zweiten Jahreshälfte der reale Wirtschaftswachstumszuwachs etwa bei 5 oder 6 % liegen.
({24})
Hier kann man nur sagen: entweder gibt sich diese Bundesregierung Illusionen hin, oder man lügt sich oder anderen etwas in die linke Tasche.
({25})
Auch von der Diskontsenkung sind keine Wunder zu erwarten, nicht zuletzt deshalb, weil eben die öffentlichen Hände genötigt sind, den Kapitalmarkt sehr stark in Anspruch zu nehmen, und damit der Kapitalzins sicherlich stark in die Höhe getrieben wird. Immerhin wird die Nettokreditaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden in diesem Jahre einschließlich Bahn und Post bei 29 % liegen. Ohne Bahn und Post wird sie um 50% über der des Vorjahres liegen. Auch das ist ein Rekord, der nicht ohne gesamtwirtschaftliche Folgen bleiben kann.
Drittens. Die Preis- und Kostenentwicklung wird auch von der Bundesregierung - auch heute von Herrn Schiller - als nicht befriedigend anerkannt. Nun, Selbsterkenntnis ist immerhin der erste Weg zur Besserung. Wir fragen da nur die Bundesregierung, warum sie denn bisher so wenig getan hat, da es doch diese unbefriedigende Preisauftriebsentwicklung nicht erst seit heute gibt.
({26})
Die Bundesregierung beschönigt aber auch wieder in ihrem Jahreswirtschaftsbericht, daß die Preissteigerungsraten dieses Jahres mehr oder weniger vorprogrammiert sind, und da spielen doch gerade die staatlich geregelten Preise eine ganz entscheidende Rolle. Ich wundere mich bloß, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister hier einen so eindringlichen Appell an die private Wirtschaft richtet, aber die inflationären Steigerungsquoten, die von den öffentlich administrierten Preisen und natürlich auch von den Steuererhöhungen ausgehen, unerwähnt läßt.
({27})
Wir müssen bei einer nüchternen Betrachtung davon ausgehen, daß es aus den Lohnrunden des vergangenen Jahres noch einen ganz erheblichen Überhang gibt, rdaß wir auch einen Nachholbedarf im preislichen Bereich bei den Agrarprodukten haben, der zweifellos auf die Lebenshaltungskosten nicht unerheblich durchschlagen wird. Es ist einmal nötig, darauf hinzuweisen, daß in den Jahren von 1969 bis 1971 der Produktivitätsfortschritt unserer Wirtschaft nicht einmal ein Drittel der Lohn- und Gehaltssteigerungen ausgemacht hat; von 1969 bis 1971 hatten wir einen Ldhn- und Gehaltszuwachs von etwa 41 %, aber nur einen echten Produktivitätsfortschritt von etwa 13 %. Die Folge ist, daß in den beiden iletzten Jahren allein die Lohnstückkosten um 25% angestiegen sind.
({28})
Schließlich hat die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den öffentlichen Haushalten ihre verheerenden Spuren hinterlassen. Hier kann man wirklich nur von dem Teufelskreis der Inflationspolitik sprechen.
({29})
Denn von der überproportionalen Aufblähung der öffentlichen Haushalte ist in besonderem Maße ein inflationärer Schub ausgegangen, und jetzt schlagen die Folgen der Inflation mit der Kostenexplosion wieder auf ,die öffentlichen Haushalte zurück.
({30})
Die Folge ist - bitte, hören Sie gut zu, meine Damen und Herren -, daß der reale staatliche Anteil am Produktionspotential erheblich zurückgegangen ist, und zwar von 281/2% im Jahre 1966 auf 26,7% im Jahre 1971. Diese Entwicklung zeigt nach meiner Auffassung zweierlei sehr eindringlich: erstens, wie völlig falsch die These ist, ,daß die Inflation den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben begünstige,
({31})
und zweitens, daß die Bundesregierung selbst mit ihrer Inflationspolitik ihr Lieblingsvorhaben zum Scheitern gebracht hat, die öffentlichen Dienstleistungen qualitativ und quantitativ zu verbessern. Nicht zuletzt - ich muß das hier noch einmal erwähnen - sind gerade die großen Dienstleistungsunternehmen des Bundes die Opfer der Wirtschaftspolitik dieser Regierung geworden. Der Ausgleich immer neuer Defizite bei Bahn, Post, Ruhrkohle, Lufthansa wird die öffentlichen Haushalte in einer Weise belasten, die in erster Linie zu Lasten der Zukunftsinvestitionen gehen muß.
({32})
Mit aller Deutlichkeit muß für die politischen Verantwortlichen und vor allem vor dem deutschen Volk festgehalten werden, daß diese Regierung leichtfertig die Geldwertstabilität verspielt hat und damit eben nicht nur ein Regierungsprogramm - das ließe sich noch hinnehmen , sondern letztlich den Forschritt in unserem Lande und die Sicherung unserer Zukunft.
Wie ist es nun zu dieser fast ausweglosen Situation gekommen? Die Bundesregierung hat fünf kardinale Fehler begangen, die zugleich fünf kardinale Schwächen dieser Koalition bloßlegen.
Erstens. Die Politik der Regierung Brandt war von vornherein auf eine allgemeine Überforderung des Produktionspotentials angelegt. Das fing schon bei der Regierungserklärung mit der Ankündigung aller nur denkbaren Reformvorhaben bei gleichzeitigen Steuersenkungsversprechen an.
({33})
Durch die großspurigen Ankündigungen wurde doch
allgemein der Eindruck erweckt, es sei schließlich
alles machbar und darstellbar, wenn man nur wolle.
({34})
Dadurch wurde der Keim für jene psychologische Grundstimmung in unserem Volk gelegt, die allenthalben im öffentlichen wie im privaten Bereich überhöhte Ansprüche aufkommen ließ. Bezeichnend ist, daß auf der letzten Sitzung des Finanzplanungsrates - Herr Minister Schiller, Sie werden das vielleicht bestätigen können - die Ländervertreter, und zwar quer durch alle politischen Schattierungen, darauf hingewiesen haben, daß für die übermäßige Ausweitung der Länderhaushalte die Reformillusionen und die von der Bundesregierung selbst geschaffene Inflationsmentalität verantwortlich seien.
({35})
Die Länder sähen sich angesichts der von der Bundesregierung gesetzten Zielsetzungen jetzt außerstande, ihre Ausgabenflut einzudämmen. Diese Feststellung der Ländervertreter ist im Grunde eine Anklage an die Adresse dieser Bundesregierung.
({36})
Die Bundesregierung hat es außerdem unterlassen, darauf hinzuweisen, daß die Inanspruchnahme großer Mittel für die Durchführung staatlicher Aufgaben nur dann gutgehen kann, wenn bei den zusätzlichen Ansprüchen an die Leistungskraft unserer Wirtschaft - und dann folgerichtig im privaten Bereich - eine entsprechende Zurückhaltung an den Tag gelegt wird. Die Bundesregierung meinte, ungestraft mehr verteilen zu können, als erwirtschaftet wurde. Das ist der Grund für die heutige Misere.
Franz Josef Strauß, meine Damen und Herren, hat Ihnen einen geordneten Haushalt mit vollen Kassen hinterlassen.
({37})
Was haben Sie daraus gemacht!?
({38})
Schon nach eineinhalb Jahren war soviel verwirtschaftet, daß Ihrem damaligen Finanzminister Alex Möller nichts anderes mehr übrigblieb, als seinen Hut zu nehmen, um damit ein deutliches und warnendes Signal zu setzen.
({39})
Ihre Haushalts- und Finanzpolitik war und ist unseriös und unverantwortlich. Das isst ein weiterer Grund für die Misere, in die wir hineingeraten sind.
({40})
Zum zweiten. In ihrem Hang, es jedermann recht machen zu wollen, hat die Bundesregierung mit der Abgabe von Vollbeschäftigungs- und Absatzgarantien gerade in der Phase der Hochkonjunktur ihre eigenen Maßhalteappelle konterkariert.
({41})
Die Freiheiten, die ein wesentliches Element unserer freiheitlichen Grundordnung sind und bleiben sollen, dürfen gerade von den starken gesellschaftlichen Gruppen nicht als eine Aufforderung zur Zügellosigkeit und Disziplinlosigkeit verstanden werden. Freiheit funktioniert nur - das gilt nicht nur für den wirtschaftlichen Bereich -, wenn sie sich auch stets der Bindungen und der Pflichten bewußt zeigt. So müßten und müssen auch die beiden Tarifpartner in dem Bewußtsein gestärkt werden, daß ihre Handlungen nachteilige Konsequenzen für die Allgemeinheit, aber auch für sie selbst haben, wenn das gesamtwirtschaftlich vertretbare Maß überschritten wird. Meine Damen und Herren, hier hätte der Herr Bundeskanzler mit der Autorität seines Amtes zum richtigen Zeitpunkt eine wichtige Aufgabe gehabt, nämlich betont darauf hinzuweisen, daß die Überforderung der wirtschaftlichen Leistungskraft in erster Linie zu Lasten der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft geht,
({42})
der Rentner, der kinderreichen Familien, der Sparer. Statt dessen kam in dieser Phase der Hochkonjunktur aus dem Regierungslager die bekannte Unter-dem-Strich-Rechnung, die ein wahres Paradebeispiel für die Inflationsmentalität innerhalb der Bundesregierung war und ist. Schon jetzt zeigt sich mehr und mehr, wie fragwürdig und kurzlebig diese Unter-dem-Strich-Rechnung ist. Bereits als die Lebenshaltungskosten um 4 % anstiegen, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung darauf hingewiesen, daß die Lohnerhöhungen bei 81/2% liegen müßten, wenn man das reale Einkommensniveau der Arbeitnehmer erhalten wollte. Wie sieht denn diese Unter-dem-Strich-Rechnung, meine Damen und Herren, im Jahre 1972 aus? Wenn Sie ehrlich sind, Herr Minister Schiller, dann müssen Sie zugeben, daß 1972 von den Lohn- und Gehaltssteigerungen günstigstenfalls Null, nichts übrigbleiben wird.
({43})
- Das können Sie sich ganz einfach ausrechnen, Herr Lenders.
Drittens. Die Bundesregierung hat keinen Mut gehabt, das konjunkturpolitische Instrumentarium zu nutzen, um das Konjunkturschiff in ruhigere Gewässer zu steuern. Auf zwei Dinge muß man hier besonders hinweisen.
Erstens. Wie sehr sich die Bundesregierung zum Gefangenen ihrer eigenen Politik gemacht hat, das zeigt nun gerade das Schicksal des Konjunkturzuschlags. Der Konjunkturzuschlag wurde bei einer Preissteigerung von 3,8 % eingeführt, um die allgemeine Nachfrage und die Preise zu dämpfen. Er
lief dann bei einer Preissteigerung von 5,3 % aus, und jetzt wird die Rückzahlung verkündet, wo wir eine Preissteigerung um 6 % haben. Natürlich, meine Damen und Herren, müssen wir schon um der Glaubwürdigkeit des Parlaments willen die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags bis zu dem durch Gesetz festgelegten Termin durchführen. Ja, die Unionsfraktion hätte es unseren Mitbürgern gegönnt, wenn der zurückzuzahlende Betrag auch noch den gleichen Wert gehabt hätte wie zum Zeitpunkt der Einziehung.
({44})
Anzuprangern bleibt aber - das können Sie doch hier nicht verwischen, Herr Minister Schiller , daß diese Art von Konjunktursteuerung jeder, aber auch jeder inneren Logik entbehrt, ja, wirklich wie die Faust aufs Auge paßt.
({45})
Wenn Sie jetzt in diesem Zusammenhang von einer Verhedderung und einer Fummelei sprechen, so kann ich das nur an Ihre eigene Adresse zurückgeben.
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Die Erhebung des Konjunkturzuschlages hat sich rückschauend konjunkturpolitisch als ein völliger Schlag ins Wasser erwiesen, und seine Rückzahlung wird - dafür sprechen alle Indizien - die Konsumnachfrage weiter anheizen und damit den Preisauftriebstrend verstärken.
Das zweite. Das Fehlen eines konjunkturwirtschaftlichen Binnenprogramms zwang 1970 die Bundesbank, in die Bresche zu springen. Die Bundesregierung ging damals den Weg des geringsten Widerstandes. Die Bundesbank mußte den Diskontsatz auf 71/2% anheben; übrigens auch ein Nachkriegsrekord. Dabei hatte Herr Schiller noch am 17. Februar 1970 erklärt, die Kredit- und Kapitalzinsen könnten nicht länger auf dem gegenwärtigen Mount-Everest-Niveau gehalten werden, und dann kam die Anhebung des Diskontsatzes. Die Folgen dieser Hochzinspolitik haben unsere mittelständische Wirtschaft natürlich außerordentlich betroffen. Zum anderen waren die Dollarzuflüsse, die das monetäre Schmiermittel für die hausgemachte Inflation lieferten, zu einem großen Teil, wenn auch gewiß nicht allein, Herr Minister Schiller, die Folge der deutschen Hochzinspolitik. Die Bundesregierung hat doch durch ihre eigene Handlungsweise die Spekulation jedenfalls erst so richtig auf den Plan gerufen. Wenn Sie heute hier erklären, das habe mit der Hochzinspolitik nichts zu tun gehabt, sondern sei alles nur auf die Situation des Dollars zurückzuführen, so darf ich Sie auf Ihren eigenen Jahreswirtschaftsbericht verweisen, in dem es auf Seite 29 heißt:
In dieser Zeit
das war Mitte des vorigen Jahres strömte ein erheblicher Teil der im internationalen Verkehr befindlichen Geld- und Kapitalbeträge in das Bundesgebiet ein, weil ein beträchtliches Zinsgefälle zum Ausland bestand und im Frühjahr 1971 immer stärkere Aufwertungserwartungen hinzutraten.
Das sind die Tatsachen.
Damit sind wir bei Punkt vier der Fehlerskala angelangt. Viel zu sehr, meine Damen und Herren, hat diese Bundesregierung von vornherein die Währungspolitik als ein Instrument zur Steuerung der Binnenkonjunktur angesehen und eingesetzt. Durch die konjunkturpolitische Passivität der Bundesregierung geriet sie in einen wachsenden Widerstreit zu ihren weltwirtschaftlichen Verpflichtungen. Das hätte sie viel früher erkennen müssen. Die Freigabe der Wechselkurse war doch mit Sicherheit nicht, wie Sie das heute hinstellen, eine von Anfang an geplante Aktion. Sie glich mehr der Tat eines Verzweifelten, der Hals über Kopf die Flucht vor Problemen ergreift, die er selbst zuvor in die Welt gesetzt hat.
({47})
Die Bundesregierung hat es eben an einer rechtzeitigen und systematischen Abstimmung mit ihren europäischen Partnern im vergangenen Jahr fehlen lassen. Auch hier trägt der mit seiner Ostpolitik damals besonders engagierte Bundeskanzler sein gerüttelt Maß an Verantwortung.
({48})
Denn, meine Damen und Herren, viel zerschlagenes währungspolitisches Porzellan in und außerhalb der EWG ist sicherlich nicht zuletzt auf die recht schulmeisterliche und überhebliche Art des deutschen Verhandlungsführers zurückzuführen.
({49})
Auf jeden Fall war ,das völlig unzulängliche und nicht abgestimmte Krisenmanagement der Bundesregierung für einen erheblichen Teil der Probleme verantwortlich, die dann vorläufig durch die Konferenz von Washington gelöst schienen. Wir wissen aber heute, meine Damen und Herren, daß diese Lösung in ihrer Wirkung eben auch nur sehr begrenzt war und daß uns neue währungspolitische Probleme aufgehalst wurden. Mit Sicherheit - ich nehme an, hier befinden wir uns mittlerweile auch in Übereinstimmung mit der Bundesregierung - werden wir uns noch einmal wirtschafts- und währungspolitische Alleingänge wie im vergangenen Jahr nicht leisten können, wenn nicht noch mehr politisches Porzellan innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu Bruch gehen soll.
({50})
Das fünfte. Diese Bundesregierung hat schließlich um ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele erhebliches Zwielicht entstehen lassen und bestehen lassen. Niemand im Lande verläßt sich mehr darauf, daß die Kräfte, die diese Bundesregierung tragen, in ihrer Gesamtheit auf dem Boden unserer marktwirtschaftlichen Grundordnung stehen. Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei und Fraktion gewinnt eine Fraktion immer stärker an Boden, die das Heil der Menschen in einem marxistischen Staats- und Wirtschaftsmodell sieht und das Prinzip von Wettbewerb und Leistung ablehnt.
({51})
Wie sehr diese Fraktion nach vorne drängt und sich
durchzuboxen versucht, lesen wir fast jeden Tag
erneut in den Zeitungen. Ich verweise nur auf die Beispiele von Bremen und München.
({52})
Bundeskanzler 'Brandt und die SPD lassen es zu, daß das gesellschaftliche Klima durch eine emotionale, ideologisch gefärbte Kampagne zunehmend vergiftet wird.
({53})
Der SPD-Sonderparteitag zur Steuerreform hat ebenfalls klar gezeigt, daß es sich bei den Vertretern dieses Gedankengutes nicht etwa um eine sektiererische Minderheit, sondern eben um eine sehr ernst zu nehmende Strömung handelt, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre und in den 80er Jahren die Politik der Sozialdemokratischen Partei bestimmen wird.
({54})
Diese Situation innerhalb der derzeitigen stärksten Regierungspartei schafft eben kein Klima, in dem sich Unternehmer ermutigt fühlen können,
({55})
längerfristige Dispositionen zu treffen und sich mit ihrem Kapital zu engagieren. Die Marktwirtschaft funktioniert aber nur dann, wenn die Unternehmer Risiken eingehen. Und sie können nur Risiken eingehen, wenn diese sich in einem kalkulierbaren Rahmen bewegen. Der Bundeskanzler selbst hat einmal die Wirtschaft als Kuh bezeichnet, die man melken will. Man könnte auch sagen: sie ist das Pferd, das den Karren unserer ganzen Gesellschaft zieht. Der Karren unserer Gesellschaft wird mit seinen vielen Ansprüchen immer schwerer. Deshalb muß man auch das Pferd gesund und leistungsfähig halten, sonst funktioniert die Sache eben nicht.
Was muß nun in dieser Situation geschehen? Zunächst ein Wort zu der Frage nach den sogenannten Alternativen. Die erste Alternative wäre ein Bundeskanzler, der wirklich die Richtlinien der Politik bestimmt,
({56})
ein Bundeskanzler, der einen klaren Kurs erkennen läßt, der seine Führungsmannschaft auf einen gemeinsamen Nenner bringt,
({57})
der den Rest seiner Führungsmannschaft daran hindert, dem wirtschaftspolitischen Steuermann in den Arm zu fallen, wenn dieser wirklich einmal den richtigen Kurs steuern will,
({58})
ein Bundeskanzler, der mehr Verständnis für die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge aufbringt,
({59})
ein Bundeskanzler, der nicht erst nach zweieinhalb Jahren Regierungszeit bei der letzten, aber sicherlich nicht allerletzten Schiller-Krise vor seiner Fraktion erklären muß, er werde sich in Zukunft auch um die Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik kümmern.
({60})
Gerade aus der Sicht der gegenwärtigen Koalition ist die Frage nach den Alternativen eigentlich sehr, sehr vordergründig. Sie ist mehr ein Ablenkungsmanöver.
({61})
Ich komme darauf. Die Frage nach den Alternativen aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren, ist im Grunde ein Armutszeugnis.
({62})
Ich entsinne mich auch nicht, daß zu Zeiten einer von der CDU/CSU geführten Bundesregierung die Frage nach den Alternativen eine solche Rolle in der öffentlichen Diskussion gespielt hätte. Die Unionsfraktion ist während ihrer Regierungszeit ihren Weg gegangen, ohne viel nach den Alternativen der Opposition zu fragen.
({63})
Lassen Sie mich noch eines hinzufügen. Gerade die Steuereung der Konjunktur ist nun einmal von der Sache her eine ausgesprochene Aufgabe der Exekutive, denn sie verfügt über die Informationen, sie verfügt über das Instrumentarium. Sie hat Einfluß auf die Konzertierte Aktion. Sie kann sich mit der Bundesbank absprechen. Es ist doch nicht Sache der Opposition, der Bundesregierung zu sagen, sie solle einmal hier oder einmal dort ein Schräubchen anders drehen.
({64})
Die Alternative zur jetzigen Koalition ist eine andere politische Konstellation, ist ein anderes politisches Klima, ist eine neue, solide, eine neue, unverbrauchte Bundesregierung.
({65})
Die Alternative zur jetzigen Politik ist eine entschlossene Politik, die in ihren Ansprüchen vielleicht bescheidener, aber eben darum realistischer ist und die auf diese Weise dem Verbraucher, der Wirtschaft und dem Staat besser dient. Was wir jetzt brauchen, ist eine Regierung, die ihre Arbeit unter den Kernsatz stellt: Solidität und Stabilität.
({66})
Lassen Sie mich das, was wir darunter verstehen, in fünf Punkten zusammenfassen:
({67})
Erstens. Die Politik der CDU/CSU wird sich mit aller Energie an dem Ziel der Preisstabilität orien10240
tieren, gerade um Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum auf Dauer zu sichern. Dazu bedarf es gewiß großer gemeinsamer Anstrengungen, und es gibt mit Sicherheit keine rasche Wiederherstellung zum Normalen,
({68})
- Ja, meine Damen und Herren, nach allem, was geschehen, und nach allem, was unter Ihrer Verantwortung unterlassen worden ist,
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müssen wir uns auf eine langfristige Sanierung der Wirtschaft einrichten. Da nützt kein Schwitzbad über Nacht mehr.
Was insbesondere die öffentlichen Hände anbetrifft, werden wir, um es sinnbildlich darzustellen, auch um Schweiß und Tränen nicht herumkommen. Alle und voran die öffentlichen Hände werden sich ein erhebliches Maß an Zurückhaltung auferlegen müssen, gerade damit wir unsere zukünftigen Ansprüche an das Sozialprodukt realisieren können. Langfristig müssen wir die zusätzlichen Ansprüche aller Gruppen wieder am Produktivitätsfortschritt unserer Wirtschaft orientieren. Die Überforderung der letzten Jahre kann nicht zu einem guten Ende führen. Kurz- und mittelfristig werden wir in diesem Konsolidierungsprozeß sicherlich behutsam vorgehen müssen, um es nicht zu Zusammenbrüchen in der Wirtschaft und zu Einbrüchen in die Vollbeschäftigung kommen zu lassen, was wir alle nicht wünschen.
Die Erfahrung zeigt, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß es sehr viel schwieriger ist, den gesellschaftlichen Gruppen wieder abzugewöhnen, mit der Inflation zu leben, als Stabilität zu erhalten. Die Inflationsmentalität ist der Ausdruck mangelnden Vertrauens in Geldwert und Politik. Gewerkschaften und Unternehmer, Verbraucher und Bauwillige kalkulieren den Geldwertverfall in ihre Dispositionen ein und heizen damit wieder die Inflation an. Die Flucht in die Sachwerte, die sich gerade in den imponierenden Ziffern im Wohnungsbau äußert, hat eben zwei Seiten. Die Rekordziffern von Herrn Lauritzen sind auch Ausdruck dieser Flucht in die Sachwerte, die zu immer neuer Preistreiberei führt. Dies wird sich nur ändern, wenn keine Zweifel aufkommen und aufkommen können, daß eine neue Bundesregierung auch vor unbequemen Entscheidungen nicht zurückschreckt, wenn es darum geht, dem Verfall des Geldwertes Einhalt zu gebieten.
({70})
Zweitens. Die Unionsfraktion wird in den Fragen der Ordnungspolitik für einen ganz klaren Kurs sorgen. Mit dem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft legt sie ein generelles Bekenntnis zu unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, zum Leistungs-und zum Solidaritätsdenken ab, ein Bekenntnis zu jener Grundordnung, die das deutsche Volk in die Lage versetzt hat, aus Schutt und Trümmern wieder etwas aufbauen zu können, was sich in der ganzen Welt sehen lassen kann. Das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft schließt natürlich das Bekenntnis zum Wettbewerb und zur Weiterentwicklung der Wettbewerbsordnung ein. Dazu gehört aber auch, daß wir unsere Wirtschaft instand setzen, das für die Modernisierung der Betriebe und die Erhaltung der Arbeitsplätze nötige Kapital zu bilden. Auch müssen wir die Industrie sich möglichst frühzeitig auf den Strukturwandel einstellen lassen, der sich unausweichlich aus der technologischen Entwicklung, aber auch auf dem Wege zu einer großräumigen internationalen Arbeitsteilung ergibt.
Wir müssen - das wird gelegentlich übersehen - immer davon ausgehen, daß auf lange Sicht, auf absehbare Zeit unsere volkswirtschaftlichen Reserven knapp bleiben werden. Das gilt für Arbeitskräfte, das gilt für Kapital, das gilt für die Mittel des Staates. Und wir werden die gesamtwirtschaftliche Produktivität nur dann optimal steigern können, wenn nicht - oft aus politisch gefärbten Motiven und unter entsprechenden Vorwänden, meine Damen und Herren - volkswirtschaftliche Ressourcen auf die Dauer fehlgeleitet werden.
({71})
Deshalb kommt der Strukturverbesserung unserer Wirtschaft und der regionalen Erschließung nach unserer Auffassung ganz besondere Bedeutung zu. Dazu gehört, ,daß wir die Produktion mit hoher Wertschöpfung und hohem technischen know-how stark entwickeln. Dazu gehört aber auch, daß wir unsere Steuerpolitik, meine Damen und Herren, nicht in Widerspruch zu den ökonomischen Erfordernissen treten lassen.
({72})
Das dritte: Die Unionsfraktion sieht die Vermögensbildung in breiten Schichten der Bevölkerung und insbesondere die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital nicht als eine isolierte Aktion an, sondern als einen bedeutsamen, ja unerläßlichen Beitrag zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität über verstärkte Investitionen. Und da Sie an uns so häufig die Frage nach den konkreten Alternativen richten, möchte ich Sie hier einmal fragen: wo bleibt denn nun eigentlich Ihre Alternative zur Vermögensbildung?
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Wir wissen doch alle, daß die technische Entwicklung einen ungewöhnlich hohen Kapitaleinsatz bedingt. Kapitalbildung ist praktizierter Konsumverzicht. Heute wird doch unter Ihrer Federführung der Sparer bestraft, der bei einer Steigerung der Lebenhaltungskosten um 6% nur mit einem Spareckzins von 4% rechnen darf. Die Anreize, die wir für die Vermögensbildung geben wollen, setzen die Herstellung eines stabilen Geldwerts voraus. Wer in der Gegenwart auf Konsum verzichtet, muß eben sicher sein können, daß ihm sein Engagement über die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität auf die Dauer entsprechenden materiellen Vorteil einbringt.
Das vierte: Die Unionsfraktion wird die Kraft aufbringen, in der Haushaltspolitik eindeutige PrioDr. Müller-Hermann
ritäten zu setzen und aril eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hinzuwirken; mein Kollege Strauß wird dieses Thema noch ausgiebig behanhandeln.
({74})
Aktuelle Aufgabe ist es zunächst, alle Preisstabilisierungstendenzen zu stützen und bei der Konjunkturankurbelung äußerste Vorsicht walten zu lassen. Das gilt insbesondere für die Eventualhaushalte, zumal schon von den Kernhaushalten eine prozyklische Wirkung ausgeht. Ähnliches haben wir heute von Herrn Schiller gehört, nur steht das etwas in Widerspruch zu den Aussagen, die Herr Kollege Hermsdorf als sein Staatssekretär vor wenigen Wochen im „Spiegel" gemacht hat, wo er meinte: jetzt so schnell wie möglich die Eventualhaushalte in Gang setzen.
Die Verschuldung muß sich in den Grenzen halten, die durch den Kapitalbedarf der Wirtschaft auf der einen Seite und durch die Rücksichtnahme auf die Preisentwicklung auf der anderen Seite gesetzt sind. Wir warnen nachdrücklich davor, meine Damen und Herren, daß Bundesregierung, Länder und Gemeinden auch hier den Weg des geringsten Widerstandes gehen, indem sie die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand übersteigern.
Fünftens. Die Unionsfraktion wird sehr viel mehr Energie als die jetzige Koalition auf die Politik der europäischen Einigung verwenden. Sicherlich, wir geben uns keinerlei Illusionen über die Schwierigkeiten und Wagnisse hin, die mit der Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion verbunden sind. Wir übersehen auch nicht, wie schwierig es sein und bleiben wird, die EWG wirklich zu einer Stabilitätsgemeinschaft zu entwickeln.
Wichtig und vordringlich ist nach unserer Auffassung, daß bei allen Entscheidungen, die jetzt auf der EWG-Ebene getroffen werden, die Verzahnung von Währungs- und Wirtschaftspolitik gesehen und nicht nur gesehen, sondern auch durchgehalten wird, daß die EWG durch ihre eigene Stabilitätspolitik bei der Neuordnung des Weltwährungssystems selbst der Vorbereiter einer internationalen Stabilitätsgemeinschaft wird, daß sich die EWG auf eine Kooperation mit den Vereinigten Staaten und den anderen Staaten der westlichen Welt einstellt und insbesondere gegenüber den Amerikanern endlich lernt, mit einer Zunge zu sprechen, daß sie sich ihrer Mitverantwortung für die Entwicklungsländer bewußt zeigt und daß sich schließlich alles, was wir kurz- und mittelfristig an pragmatischen Entscheidungen zu treffen haben, langfristig an den Zielsetzungen eines liberalisierten Welthandels und einer funktionsfähigen neuen Weltwährungsordnung orientiert.
Meine Damen und Herren, gerade meine letzten Ausführungen haben erkennen lassen, daß es zwischen Koalition und Opposition durchaus auch Berührungspunkte gibt, daß wir manches Stück des Weges gemeinsam gehen könnten. So haben wir - ich glaube, Herr Bundesminister Schiller wird das bestätigen müssen - in den Fragen der europäischen Einigungspolitik der Bundesregierung Rükkendeckung und Hilfestellung gegeben, und auch da, wo wir eigene Initiativen entwickelt haben, geschah das nicht zuletzt, um damit unserer Regierung eine Chance zu geben, die Vorstellungen von dem Aufbau einer funktionsfähigen Gemeinschaft wirkungsvoller vertreten zu können. In den Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik und bei den konkreten Entscheidungen, die getroffen werden müssen, kann und darf es unter keinen Umständen zu einer Vernebelung der Meinungsunterschiede kommen.
Diese Bundesregierung Brandt wird in die deutsche Nachkriegsgeschichte als die Regierung eingehen, die die Inflation zugelassen und durch ihre eigenen Machenschaften gefördert hat und die mit den Problemen ihrer Zeit nicht fertig geworden ist.
({75})
Sie ist eine Bundesregierung, die sich besonders in der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch große Worte und kleine Taten auszeichnet.
({76})
Der Abgang von Ministern und der Verschleiß von Staatssekretären - ich begrüße Ihren neuen Staatssekretär - macht doch die ganze Misere dieser Bundesregierung deutlich; denn jeder Rücktritt signalisiert doch ein weiteres Stück Resignation und signalisiert, daß ein gewichtiges Teilprogramm nach dem anderen abgeschrieben werden muß.
({77})
Lenin wird das Wort zugesprochen, daß man eine freiheitliche Ordnung am wirkungsvollsten zerstört, wenn man ihren Geldwert zerstört,
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Gerade an diesem fundamentalen Punkt - diesen
Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen und auch anhören - hat diese Bundesregierung versagt.
({79})
Wir haben die große Sorge, daß 'die Kritik an dieser Bundesregierung mehr und mehr zu einer ungerechtfertigten Kritik an unserer freiheitlichen Grundordnung wird und daß die Unfähigkeit dieser Bundesregierung zu einem Beweis für die Unfähigkeit und mangelnde Funktionsfähigkeit unserer marktwirtschaftlichen Ordnung umfunktioniert wird.
({80})
Gegen 'diese Verketzerung und Verzerrung der Tatsachen werden ,wir mit aller Energie angehen.
({81})
Nimmt man jedenfalls die bisherigen Prognosen der Bundesregierung zum Maßstab, werden sich auch die Hoffnungsschimmer, von denen Herr Minister Schiller heute gesprochen ,hat und die der Jahreswirtschaftsbericht 1972 enthält, nicht weniger als Seifenblasen erweisen wie die Hoffnungsschimmer der beiden letzten Jahreswirtschaftsberichte.
Meine Damen und Herren, wir brauchen in dieser Situation eine Regierung, die in der Lage ist, Vertrauen auszustrahlen, auf deren Wort Verlaß ist,
die mutig und konsequent handelt, wenn die Umstände es erfordern. Die Regierung Brandt hat ihren Vertrauensvorschuß eingebüßt, weil sie nicht oder weil sie falsch handelt und weil heute jeder spürt, daß man ihren Worten, Reden und Versprechungen nicht trauen kann. Wegen der Ausweglosigkeit ihrer Politik sind Bundesregierung und Koalition in sich selbst brüchig und unsicher geworden. Diese Schwäche einer Regierung, die offenbar selbst nicht mehr sicher ist, ob sie überhaupt noch eine Mehrheit hinter sich hat, ist auch der Kern jenes Unsicherheitsgefühls, das alle Schichten unserer Bevölkerung erfaßt hat. Es besteht eine Vertrauenskrise in diesem Lande.
({82})
Deshalb kann die Bevölkerung und können wir nicht an eine Besserung der Dinge glauben, solange diese Bundesregierung im Amt ist.
({83})
Präsident von Hassel: Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Junghans. Für ihn hat die Fraktion der SPD eine Redezeit von 40 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe soeben bei der Rede von Herrn Müller-Hermann von meinem Mitarbeiter Herrn Müller-Hermanns Rede vom vorigen Jahr bekommen; und ich habe bei jedem Stichwort nachgelesen, was er im vorigen Jahr gesagt hat. Ich muß hier leider bekennen, Herr Müller-Hermann: viel Neues war nicht in Ihrer Rede erkennbar. Sie haben fast wörtlich Passagen unter den Stichworten Vollbeschäftigung, Verunsicherung usw. wiederholt. Sie haben nichts hinzugefügt. Nur eine Ausnahme möchte ich hier anmerken. Es ist die einzige Ausnahme, das einzig Neue, was Sie in Ihrer Rede gebracht haben. Sie plädierten 1971 für die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags und wollten uns verdächtigen, dies nicht zu tun. Jetzt tut es die Regierung, jetzt paßt es Ihnen auch wieder nicht.
({0})
Die Opposition tut hier so - und das ist komisch -, als würden Regierung und Koalitionsfraktionen heute im Bundestag vorgeführt. Davon kann keine Rede sein. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich möchte daran erinnern: daß das Parlament heute den Jahreswirtschaftsbericht verantwortlich debattieren kann, ist ein Verdienst meiner Freunde Karl Schiller, Alex Möller und meiner Fraktion, die Ihnen durch die Initiative des Stabilitäts- und Wachstums-Gesetzes diese Möglichkeit überhaupt erst gegeben haben.
({1})
Für Sie war doch bis vor kurzem Rechenhaftigkeit und Vorausschau in der Konjunkturpolitik noch des Teufels. Noch heute erleben wir immer wieder, daß Sie angesichts schwieriger Situationen in Panik verfallen - Herr Müller-Hermann, das haben Sie soeben wieder vorgeführt -, anstatt konjunkturpolitische Lösungsmöglichkeiten in diesem Hause anzubieten. Meine Damen und Herren, lassen Sie sich gesagt sein: Panikmache ist das Gegenteil von politischer Verantwortung.
({2})
Ob das nun gewollt ist oder ob es Ihnen an verantwortlichem Sachverstand mangelt, kann man dahingestellt sein lassen. Wahrscheinlich trifft beides zu. Denn wie sonst sollte man es sich erklären, daß Sie sich wirtschaftspolitischen Sachverstand - so wie Sie ihn verstehen - aus der Provinz ausleihen müssen? Was uns von dort entgegenschallt, hat manchmal, mit Verlaub zu sagen, etwas „Ostfriesisches" an sich. Ich bin gern bereit, das Wort „Ost", wenn es Ihnen nicht paßt, in diesem Zusammenhang zu streichen.
Nun zur Sache. Das Bild der Konjunkturlandschaft in der Bundesrepublik kann sich heute national und international sehen lassen.
({3})
Dies wurde erreicht, ohne daß wir den marktwirtschaftlichen Kurs verließen. Im westlichen Ausland drohten Protektionismus und Dirigismus fröhliche Urstände zu feiern. Auch in der Bundesrepublik riet mancher, nicht zuletzt aus den Reihen der Opposition, Herr Strauß, zu solchen fatalen Mitteln. Die Bundesregierung hat sich nicht beirren lassen. Sie ging den vernünftigen Weg der marktwirtschaftlichen Ordnung, und sie ging ihn - das möchte ich unterstreichen - erfolgreich.
({4})
- Das kommt alles noch!
In Washington wurde in langen und zähen Verhandlungen eine Neuordnung der Wechselkurse erreicht. Damit war dem aufkommenden Protektionismus ein Riegel vorgeschoben. Mit der Bereinigung der bedrohlichen Welthandelstage wurden für die deutschen Unternehmen wieder klare Daten und Fakten gesetzt, die langfristig Gültigkeit besitzen.
Bei den deutsch-französischen Konsultationen zwischen Staatspräsident Pompidou und Bundeskanzler Brandt am 11. und 12. Februar dieses Jahres konnte in Paris Übereinstimmung für die parallele Entwicklung der Wirtschafts- und der Währungspolitik in der Europäischen Gemeinschaft gefunden werden. Mit diesem Beschluß - man kann ihn wirklich nicht hoch genug einschätzen - wurde die Tür zu einer gemeinsamen europäischen Konjunktur-, Geld- und Währungspolitik aufgestoßen. Daraus ergaben und ergeben sich neue Impulse für die Integration der Gemeinschaft.
Diese Übereinstimmung von Pompidou und Brandt hat zu der Übereinkunft von Brüssel geführt. Die Tagung der europäischen Wirtschafts- und Finanzminister in der vergangenen Woche hat Ergebnisse von großer Tragweite gebracht. Ich nenne nur: 1. die Gründung eines Lenkungsausschusses beim Ministerrat der Gemeinschaft mit der Aufgabe, das wirtschafts- und finanzpolitische Vorgehen zu synchronisieren, 2. die feste Regelbindung für Interventionen in der Gemeinschaftswährung. Dies, zusammen mit der Verengung der Bandbreiten der Wechselkurse
zwischen den Mitgliedstaaten, erreicht zu haben ist eine beachtliche Leistung aller Beteiligten.
Was die Bundesregierung an Integrationswillen und Bereitschaft zur europäischen Zusammenarbeit eingebracht hat, verdient unser aller Dank und Anerkennung.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist die Hoffnung, wie ich annehme, des ganzen Hauses, daß die geplante Gipfelkonferenz der Zehn im Herbst dieses Jahres ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu Europa sein wird. Die innere Verknüpfung der Zehn wird dabei ebenso wie die Außenbeziehungen der erweiterten Gemeinschaft festzulegen sein.
Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Entschließungsantrag zur Europapolitik vom 24. Februar dieses Jahres ihre Einstellung dazu klar umrissen. Einiges scheint in der Europapolitik schon alltäglich geworden zu sein und hinterläßt in der Öffentlichkeit keinen besonderen Eindruck mehr. Ich meine z. B. die erstmalige Vorlage eines Jahresberichts über die Wirtschaftslage in der Gemeinschaft. Die Bundesregierung hat den Ihnen vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht bereits darauf abgestimmt. Auch dies sollten wir würdigen.
Gestützt auf diese Fortschritte hat binnenwirtschaftlich die Stabilitätspolitik der Bundesregierung mehr und mehr zu greifen begonnen. Wir haben uns nie die Stagflationstheorie der Opposition zu eigen gemacht.
({6})
- Warten Sie doch ab! - Wir haben vielmehr die gegenwärtige Konjunkturphase stets als Auslaufphase einer Wachstumsperiode begriffen, an die sich eine neue Wachstumsperiode anschließen muß und wird. Danach haben wir unsere Aktionen bemessen, und danach werden wir unsere Aktionen bemessen. Das Auslaufen dieser Wachstumsperiode vollzieht sich dadurch - anders als bei ihren Vorgängerinnen - in geordneter Verfassung. Daß wir dabei den richtigen Weg beschreiten, wird uns von allen objektiven Konjunkturbeobachtern bestätigt.
({7})
Das hat auch die letzte Tagung des Deutschen Industrie- und Handelstages bewiesen. Für diese Politik spricht auch, daß in der Wirtschaft wieder ein gemäßigter Optimismus an Boden gewonnen hat.
Die Regierung Brandt/Scheel hat bewiesen und beweist es immer wieder, daß Konjunkturberuhigung möglich ist, ohne daß ,es zu einer Rezession kommt und ohne daß die Arbeitsplätze gefährdet werden.
({8})
Meine Damen und Herren, die Rezession findet in diesem Lande unter dieser Regierung nicht statt.
({9})
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben noch um die Jahreswende das düstere Bild
der Stagflation an die Wand gemalt. Das entsprach
zwar Ihrem Wunschdenken; Sie hätten gern gesehen, daß die Wirtschaftslage sich so entwickelt, um diese Entwicklung dann der Bundesregierung anlasten zu können. Aber das entsprach und entspricht nicht der Wirklichkeit.
Die Fakten sehen doch so aus: Die Währungsbeschlüsse haben den Zufluß von Liquidität eingedämmt. Bardepot und Zinspolitik sichern dies ab. Die Aufwertung der D-Mark hat eine wesentliche Kostenentlastung der im hohen Maße importabhängigen deutschen Wirtschaft im Gefolge. Die industriellen Erzeugerpreise und die Großhandelspreise zeigen, daß der Preisantrieb bereits vor der Jahreswende 1971/72 seinen Höhepunkt überschritten hat. Die Beruhigung der Verbraucherpreise folgt bereits, wenn auch - das ist zuzugeben - zögernd. Die Tarifabkommen haben sich der veränderten Konjunkturlage angepaßt. Die in den Tarifverträgen vereinbarten Lohnerhöhungen wurden binnen Jahresfrist halbiert, gleichzeitig steigt die Arbeitsproduktivität wieder an.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen Blick zurück. In ihrer Sitzung am 4. Juni kamen die Teilnehmer der Konzertierten Aktion überein, darauf hinzuwirken, daß alle Beteiligten sich nicht an den Preis- und Einkommenserwartungen des Booms orientieren, sondern an den Notwendigkeiten einer Phase der gesamtwirtschaftlichen Konsolidierung. An dieser Absichtserklärung müssen wir die Beteiligten messen. Die Bundesregierung hat mit ihrer Stabilitätspolitik die gesamtwirtschaftlichen Akzente gesetzt. Die Gewerkschaften haben sich ihrem erklärten Willen gemäß verhalten. Die Unternehmer haben begonnen, dies auch zu tun. Meine Damen und Herren, die besonnene Politik der deutschen Gewerkschaften in den letzten Jahren verdient unser aller Anerkennung.
({10})
Sollten sich im nächsten Jahr auch die Preisraten, wie das bei den Löhnen der Fall war, halbieren - das hoffe ich -, dann stehe ich nicht an, dieses gleiche Lob den deutschen Unternehmern zu zollen.
({11})
In jüngster Zeit schießen sich die Feuerwerker der Opposition auch auf den Bundeshaushalt als Quelle des Geldwertschwundes ein. Ich will darauf nicht näher eingehen.
({12})
Wir haben ja keine Haushaltsdebatte - warten Sie ab -, sondern eine Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht. Deshalb nur zwei Bemerkungen zum Haushalt. Erstens: Ich leugne nicht die Bedeutung ,der öffentlichen Haushalte für die Konjunktur. Aber es ist einfach falsch - und das muß ich zurückweisen -, wenn Sie das Haushaltsgebaren des Bundes für die Preis- und Kostenentwicklung in diesem Lande verantwortlich machen wollen.
({13})
Zweitens: Wir wünschen, daß der Bundeshaushalt auch im Jahre 1972 konjunkturstützend vollzogen wird.
({14})
- Warten Sie die zweite und dritte Lesung ab. Wir haben jedenfalls keine rezessiven Gelüste wie Sie im Jahre 1966, meine Damen und Herren.
({15})
Und nun lassen Sie mich noch einige Worte zum Verhältnis der Sozialdemokraten zur Marktwirtschaft sagen. Diese Bundesregierung hat immer marktwirtschaftlich gehandelt.
({16})
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung in jeder Phase, auch in dieser schwierigen Phase des letzten Jahres, in diesem Kurs bestärkt.
({17})
Es ist doch geradezu grotesk, wenn diese Bundesregierung, meine Fraktion und meine Partei diffamiert werden, sie steuerten wirtschafts-, finanz- und gesellschaftspolitisch einen Kurs der Kollektivierung, der Verstaatlichung, der Staatsallmacht oder wie immer Sie es nennen.
({18})
Sie versuchen immer wieder, Herr Müller-Hermann - Sie haben es soeben auch wieder versucht, aber dieser Versuch ist untauglich -, die Sozialdemokraten außenpolitisch wie gesellschaftspolitisch in die Nähe der Kommunisten zu rücken. Das versuchen Sie immer wieder. Damit zeigen Sie aber auch - das möchte ich Ihnen zurückgeben welch verzweifelte Methoden Sie anwenden müssen, um Ihre eigene brüchig gewordene Position und Ihre Fehlanzeigen für realistische Alternativen zu überdecken.
({19})
Meine Damen und Herren, die Gesellschaften Westeuropas befinden sich im Aufbruch. Ich denke an die sozialen Erschütterungen in Frankreich, in Großbritannien, in Italien. Unsere soziale Ordnung hat sich demgegenüber bisher als stabil erwiesen. Wer jedoch glaubt, diese gesellschaftliche Stabilität sei gottgegeben, der irrt. Hinzu kommt, daß wir an der Nahtstelle zu den kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas liegen und unsere demokratische Ordnung gegenüber dem kommunistischen Machtbereich darstellen und ausbauen müssen. Die Bundesrepublik kann sich in dieser Situation ständige soziale und politische Konflikte nicht leisten. Sie zu verhindern, ist unsere Aufgabe. Deshalb gehen auch die sozialen und liberalen Kräfte in diesem Lande zusammen.
Ich möchte - um einen Zwischenruf von vorhin aufzugreifen - an dieser Stelle auch ein Wort über die Jugend sagen. Die nachwachsende Generation denkt radikaler als wir. Das ist in ganz Westeuropa, in der ganzen westlichen West so. In der Bundesrepublik gehen diese jungen Leute in diejenigen Parteien, die noch geistig lebendig sind. Die Aufgabe, die politisch engagierte Jugend mit Staat und Gesellschaft zu versöhnen, fällt im wesentlichen Sozialdemokraten und Freien Demokraten zu.
({20})
Wir setzen uns mit der Jugend in unseren Reihen auseinander, und wir sind dieser Auseinandersetzung gewachsen. Wir sind es, die die soziale Unrast der Jugend auffangen und in Bahnen lenken. Und wenn es in diesem Lande eine Partei gibt, die die Stärke und die geistige Kraft besitzt, anarchistische und linksradikale Strömungen zu überwinden, dann sind es die Sozialdemokraten.
({21})
Sie sollten nicht immer mit dem Hinweis ,auf Jungsozialisten reagieren, wenn wir uns zur Marktwirtschaft bekennen. Damit machen Sie es sich zu einfach; das ist falsch. Im Gegensatz zur CDU/CSU begreifen wir Sozialdemokraten Marktwirtschaft nicht als Privileg einer Gruppe. Wir stehen für eine Marktwirtschaft der Unternehmer u n d der Arbeitnehmer ein.
({22})
Mit unserer Politik haben wir die Verfassung der Marktwirtschaft gefestigt und dafür gesorgt, daß sich alle auf diese freie Wirtschaftsordnung berufen können. An dieser Politik halten wir auch in Zukunft fest.
Dem widersprechen auch nicht die Beschlüsse des Steuerreform-Parteitages der SPD, den Herr Müller-Hermann hier anzusprechen beliebte. Die Beunruhigung, die davon ausging, ist ja bereits vor dem Parteitag in der Öffentlichkeit geschürt worden, und sie wurde nachträglich mit polemischer Verzerrung der Ergebnisse weiter gefüttert. Hätte die CDU nicht zwanzig Jahre lang eine unausgewogene, opportunistische Steuerpolitik gemacht, dann wäre dieser Parteitag sicherlich nicht nötig gewesen.
({23})
Dieser Steuerparteitag - dazu mögen Sie stehen, wie Sie wollen hat die steuerpolitischen Fehlentwicklungen schonungslos aufgedeckt. Und wenn Sie sich der Mühe unterzogen hätten, die Beschlüsse wirklich zu überprüfen und zu analysieren, hätten Sie festgestellt, daß hier ein zeitgemäßes und ausgewogenes Reformprogramm beschlossen worden ist. Ich kann das beurteilen; ich war nämlich selbst Delegierter auf diesem Parteitag.
Nehmen wir an, die Beschlüsse des Parteitages brächten bei ihrer Durchführung gegenüber dem geltenden Recht im Jahre 1974 ein Steuermehraufkommen von 9,3 Milliarden DM. Bei einem geschätzten Bruttosozialprodukt in Höhe von 925 Milliarden DM ist das 1%. Dieses eine Prozent Sozialprodukt mehr für Bund, Länder und Gemeinden ist angesichts der großen öffentlichen Investitionsaufgaben sicherlich angemessen.
Das hat mit ruinöser Besteuerung der Gewinne nichts zu tun. Ich sage ganz offen: für uns SozialJunghans
demokraten sind Gewinne nichts Böses. Gewinne sind Investitionen von morgen. Diese Auffassung vertreten auch die Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten großer Unternehmen. Wenn schon, wie Sie behaupten, Gefahr für ,die Marktwirtschaft und das freie Unternehmertum droht, müssen Sie in eine ganz andere Richtung blicken. Es gibt in der deutschen Volkswirtschaft Entwicklungen, die die Markt-wirtschafts aushöhlen und letzten Endes zu Fall bringen könnten.
({24})
Diese Regierung hat deshalb zur Stärkung des Wettbewerbs eine Kartellrechtsnovelle vorgelegt, die zur Zeit im Wirtschaftsausschuß beraten wird. Der Gesetzentwurf sieht neben anderen wichtigen Vorschriften drei Regelungen von zentraler Bedeutung vor:
1. eine Fusionskontrolle für Zusammenschlüsse, an denen Großunternehmen beteiligt sind,
2. eine wirksamere Gestaltung der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und
3. Kooperationserleichterungen für kleinere und mittlere Unternehmen mit dem Ziel, deren Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bieten damit ein vernünftiges und notwendiges Konzept zur Sicherung der Marktwirtschaft an.
Eine von einer Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion ausgearbeitete Kartellrechtsnovelle, die ebenfalls u. a. eine Fusionskontrolle vorsah, ist, so hört man, Herr Kollege Strauß, am Einspruch des Wirtschaftssprechers der Opposition gescheitert. Ich stelle fest: in der CDU/CSU-Fraktion findet sich also keine Mehrheit für ein verbessertes Wettbewerbsrecht.
({25})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist das marktwirtschaftliche Gesetz, nach dem sie angetreten ist, im wahrsten Sinne des Wortes nur noch eine lästige Erinnerung.
({26})
Die Opposition muß sich dann sagen lassen, was unlängst Ernst Günter Vetter in der „Frankfurter Allgemeinen" gewissen Verbänden ins Stammbuch schrieb:
Verbände, die den Wettbewerb schwächen oder seine Vervollkommnung verhindern, gleichzeitig aber ihr Bild gegenüber der Umwelt aufpolieren wollen, verhalten sich wie Leute, die mit Dieselöl einen Spiegel blank putzen möchten.
Die Koalitionsfraktionen werden diese Kartellrechtsnovelle im Deutschen Bundestag verabschieden, auch gegen die Stimmen der CDU/CSU.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zu Ihrem politischen Selbstverständnis machen. Führende Herren Ihrer Fraktion ziehen durch die Lande und malen schwarz in schwarz das Bild einer Staatskrise. Ich habe hier eine Auswahl Ihrer
Äußerungen. Ich kann auch die Rede von Herrn Müller-Hermann von heute und vom letzten Jahr hinzufügen. Da ist die Rede von „Trümmern", die diese Regierung hinterläßt", von „Jahren der Mißwirtschaft, die durch Verschleierungspraktiken der Regierung noch nicht an den Tag kamen". Da werden breite Schichten der Bevölkerung bejammert, die angeblich für die Mißerfolge dieser Regierung zahlen müssen.
({27})
Da wird der Bundeskanzler aufgefordert, Klarheit über langfristige gesellschaftspolitische Zielsetzungen dieser Koalition zu schaffen.
({28})
Herr Dr. Barzel
({29})
bietet uns sogar einen Stabilitätspakt an, was immer er auch darunter verstehen mag. - Das sind doch elles nur verbale Kraftakte, weiter nichts.
({30})
Mit Phrasen versuchen Sie über Ihre eigene Ideen- und Konzeptionslosigkeit in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hinwegzutäuschen. Sie paralysieren sich heute selber.
({31})
Aber eins, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie mit diesen Phrasen nicht kaschieren: Immer dann, wenn es darum ging, im Bundestag ein Stück Fortschritt für die Menschen in diesem Lande auf den Weg zu bringen, sagten Sie nein.
({32})
Sie haben nein gesagt zum verbesserten Mieterschutz,
({33})
Sie haben nein gesagt zum neuen Betriebsverfassungsgesetz, Sie haben nein gesagt zur Sanierung und Modernisierung unserer Städte, Sie haben nein gesagt zu einem zeitgemäßen Demonstrationsrecht, Sie haben nein gesagt zu einer Dynamisierung der Kriegsopferrenten,
Zurufe von der CDU/CSU: Wo denn? - Da
haben wir zugestimmt!)
Sie haben nein gesagt zur verbesserten Ausbildungsförderung, Sie haben nein gesagt zum verstärkten Ausbau der Bundesfernstraßen, und Sie haben nicht zuletzt zweieinhalb Jahre nein gesagt zur Stabilitätspolitik dieser Bundesregierung.
({34})
- Sie haben doch die Haushaltspläne abgelehnt. Sie haben sich ins Abseits gestellt mit dem Konjunkturzuschlag.
Abg. Dr. Wulff: Zu welcher Sache sprechen
Sie eigentlich?)
Das ist die Bilanz des Neinsagens.
({35})
Wir, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, haben aufgezeigt, wohin der Weg dieses Staates führen soll. Sie haben uns wegen der von uns angestrebten und durchgeführten Reformen als „Sozialisten" verteufeln wollen. Das ist Ihre Art der politischen Auseinandersetzung. Dennoch werden wir Sie immer wieder zur Stellungnahme herausfordern. Wir werden von Ihnen wissen wollen, wie Sie zu Stabilität, Vollbeschäftigung und Wachstum, zu gesellschaftlichem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit stehen - hier, heute und in der Zukunft.
({36})
Meine Damen und Herren in der CDU/CSU, ich wiederhole: Wollen Sie die Stärkung des Wettbewerbs durch ein verbessertes Kartellgesetz, ja oder nein? Wollen Sie die skandalösen Auswirkungen der Steuerflucht bekämpfen, ja oder nein? Wollen Sie wirklich die Finanzlage von Bund, Ländern und Gemeinden auch durch diesen Beitrag des Steuerfluchtgesetzes verbessern, ja oder nein? Wollen Sie eine gerechtere Grund-, Gewerbe-, Erbschafts- und Vermögenssteuer, ja oder nein?
({37})
Wollen Sie die Mehrwertsteuer mit allen ihren unsozialen Folgen auf 17 % erhöhen, Herr Kollege Strauß, ja oder nein? Wäre das Ihr Beitrag zur Stabilität mit eingeschlossenen 41/2% Preiserhöhungen in dieser Sache, ja oder nein? Wollen Sie mit uns die flexible Altersgrenze und die Rentenreform verwirklichen, ja oder nein? Wollen Sie den Verbraucherschutz durch die Lebensmittelrechtsreform verstärken, ja oder nein?
({38})
Wollen Sie endlich einmal eine solide - ({39})
- Ich spreche nicht in Stuttgart, ich spreche hier in Bonn, das ist wohl klar.
({40})
- Ich dachte, Sie wollten etwas über - ({41})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wollen Sie eine solide Haushaltspolitik unterstützen
({42})
und Ihre Anträge, die Mehrausgaben und Mindereinnahmen in Milliardenhöhe vorsehen, zurückziehen in diesem Hause?
({43})
Das Patentrezept Ihres Fraktionsvorsitzenden
- „Liegenlassen", „so nicht" und „jetzt nicht" - ist letztlich für unsere Gesellschaft nicht hilfreich.
({44})
- Herr Kollege Ott, Sie sollten sich mal selbst eine Weile liegenlassen, damit Sie ausgeschlafen ins Plenum kommen und nicht so nervös und hektisch sind.
({45})
Meine Damen und Herren, hier in diesem Hause müssen und werden Entscheidungen gefällt werden, und da wird uns auch das Nein der Opposition weder irritieren noch stören.
({46})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mertes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wir haben in den letzten Wochen und praktisch bis zum heutigen Tage erlebt, wie in der Diskussion über konjunkturpolitische Prognosen ein Stimmungswandel eingetreten ist, der durch einige der jüngsten Konjunkturtests und durch andere Beiträge wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute ausgelöst wurde. Manche Auguren - das wissen Sie alle -, ,die noch zum Jahreswechsel nur dunkle Wolken am Konjunkturhimmel ausgemacht haben, sind nunmehr zum Teil auf einen optimistischen Kurs umgeschwenkt, und sie sehen schon wesentlich mehr als nur den bekannten zarten Silberstreifen am Horizont. Ich darf in diesem Zusammenhang auch auf den jüngsten und damit aktuellen Bericht der Deutschen Bundesbank hinweisen.
Selbstverständlich ist es so, wie es früher immer war und wie es auch gar nicht anders sein kann, daß die Entwicklung von Branche zu Branche und innerhalb der einzelnen Branchen große Unterschiede aufweist. Der Gesamttrend macht für mich aber nicht deutlich, woher der Kollege Müller-Hermann die Überzeugung nimmt, heute dennoch unbedingt schwarz in schwarz malen zu müssen, es sei denn, verehrter Herr Kollege Müller-Hermann, daß Sie eine besondere Sympathie für diese schwarze Farbe haben, wenn man unterstellen will, daß es sich dabei überhaupt um eine Farbe handelt.
Ich meine, der fast abrupte Wandel sollte für uns eine Warnung sein. Wir sollten vermeiden, in der konjunkturellen Diskussion unbedacht und in maßloser Übertreibung zu argumentieren, weil wir damit die Wirtschaft belasten. Mit Emotionen, mit Ängsten, mit unmotivierten Befürchtungen oder sogar systematischer Verunsicherung kommen wir in
keinem Bereich der Politik weiter, am wenigsten in dem Bereich der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Vielmehr ist Nüchternheit geboten, d. h. konkret, alle neuen Daten und Fakten müssen ständig neu in die Überlegungen eingebaut werden. Zweifellos ist das Verharren auf einer einmal bezogenen Linie in der Konjunktureinschätzung keine Tugend. Wir sollten uns andererseits aber auch davor hüben, noch nicht als gesichert anzusehende Tendenzen als absolute und unverrückbare Wahrheiten mißzuverstehen.
Meine Kolleginnen und Kollegen! Genauso, wie nach der Meinung der Freien Demokraten die Aussage von Konjunkturberichten mit Nüchternheit und Distanz zu betrachten ist, sollten wir nüchtern und mit der notwendigen Distanz das prüfen, was die Jahresprojektion der Bundesregierung beinhaltet. Sie stellt, basierend auf der Einschätzung einer gegebenen, zeitpunktbezogenen Konjunkturlage und auf der Einschätzung der Möglichkeiten staatlicher Konjunkturpolitik, ein Urteil über die künftige Wirtschaftslage dar. Ändern sich nun aber im Zeitverlauf bestimmte Daten in anderer als vorausgesehener Weise, so hat dies selbstverständlich Auswirkungen auf die projektierten Größen. Die Projektionen erheben also nach unserer Meinung nicht, wie immer fälschlicherweise behauptet wird, den Anspruch der absoluten Sicherheit oder gar der Unfehlbarkeit. Sie wollen nicht mehr, als die Voraussetzungen für rationale Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik verbessern; und sie wollen nicht diese Entscheidungen selbst überflüssig machen, die vom Staat, von den Unternehmern und von den
Gewerkschaften in voller Verantwortung getroffen werden müssen.
In der Beurteilung der von der Bundesregierung in der Jahresprojektion 1972 festgelegten Eckwerte stimmen wir Freien Demokraten mit den Aussagen überein, die im Jahreswirtschaftsbericht unter Nr. 46 niedergelegt sind und die ich wegen ihrer Bedeutung mit Ihrer Genehmigung auszugsweise zitieren möchte. Es heißt dort:
Gemessen an den mittelfristigen Zielsetzungen sind die Werte der Jahresprojektion der Bundesregierung nicht befriedigend.... Diese Zielkombination bietet jedoch die Chance, die Wirtschaftsentwicklung schrittweise wieder zu verstetigen und den mittelfristigen Gleichgewichtspfad anzusteuern. Sie ist aber nicht allein mit staatlichen Maßnahmen zu verwirklichen. Der Zielkonflikt zwischen hohem Beschäftigungsstand und realem Wachstum einerseits sowie Preisstabilität andererseits ist nur dann aufzulösen, wenn die Kostensteigerungen - und hier insbesondere deren gewichtigster Teil, die Lohnkosten je Produkteinheit - auf das von der Bundesregierung projektierte Ausmaß reduziert werden. Anderenfalls muß mit einem stärkeren Konjunkturabschwung gerechnet werden. Gleichzeitig würde die Chance eines Einstiegs in Richtung auf mehr Preisniveaustabilität vertan. Sehr wahrscheinlich würden die Unternehmen bei weiter steigendem Kostendruck ihre Investitionen unerwünscht stark einschränken und letztlich in
die Unterbeschäftigung ausweichen. Vollbeschäftigung wäre dann mit Mitteln der staatlichen Wirtschaftspolitik nicht mehr zu gewährleisten, wie auch die Erfahrungen anderer Staaten in ähnlichen Situationen gezeigt haben und zeigen.
Soweit, meine Damen und Herren, das Zitat.
Insbesondere möchte ich hier die Ausführungen zur Preisniveaustabilität unterstreichen. Die Bundesregierung weist mit Recht unter Nr. 4 des Jahreswirtschaftsberichts mit Nachdruck auf die Ansicht des Sachverständigenrates hin, daß der Staat im Hinblick auf die öffentlichen Haushalte neben seiner allgemeinen stabilitätspolitischen Verpflichtung ein unmittelbares Eigeninteresse an möglichst großer Preisniveaustabilität hat. Auch hier hat die Entwicklung deutlich gemacht, daß die Vorstellung, der Staat könne in einer Periode der Preissteigerungen seine Finanzen verbessern und er habe damit ein unmittelbares Eigeninteresse an einer solchen Entwicklung, in das Reich der Sage verwiesen werden muß.
({0})
Die Frage ist, ob überhaupt eine staatliche oder gesellschaftliche Instanz oder Gruppe an einer tendenziellen Preissteigerung ein Interesse haben kann. Die Antwort ist eindeutig: der Staat nicht, weil ihm die Kosten davonlaufen, die Wirtschaft nicht, weil ihr von einem gewissen Zeitpunkt an ebenfalls die Kosten davonlaufen und vorübergehende Vorteile sich sehr rasch ins Gegenteil verkehren, die Arbeitnehmer nicht, weil früher oder später ihre Arbeitsplätze gefährdet werden, die Konsumenten aus begreiflichen Gründen schon gar nicht und die vom Sachverständigenrat erwähnten Opfer des Verteilungskampfes, d. h. die schwächeren Gruppen der Bevölkerung, z. B. die Landwirte oder die Rentner, erst recht nicht. Und doch, meine Damen und Herren - das sollte uns zu denken geben -, scheint unsere Gesellschaft als Ganzes nicht stark genug zu sein, ihre Kräfte so zu koordinieren - das gilt auch für die politischen Parteien -, daß das gemeinsame, alle Interessen berücksichtigende Ziel der Preisstabilität erreicht werden kann. Ich treffe diese Feststellung ungeschminkt und ohne irgendeine Gefühlsduselei.
({1})
Das ist einfach ein Erfahrungswert, der nicht vom Tisch zu wischen ist.
Nach Ansicht der Freien Demokraten sind also auf diesem Sektor weiterhin verstärkte Bemühungen aller Entscheidungsträger in unserer Wirtschaft notwendig, insbesondere wenn sich die Tendenz einiger neuer konjunktureller Daten im Trend in den nächsten Monaten fortsetzen sollte. Im Januar hat sich die monetäre Expansion, die sich schon in den letzten Monaten des Jahres 1971 wieder deutlich beschleunigt hatte, nahezu unvermindert fortgesetzt. Demgegenüber zeigte die Industrieproduktion bei teilweise allerdings erheblichen Zuwächsen des Auftragseingangs weiterhin einen leichten Abwärts10248
trend. Dies ist zweifellos eine Entwicklung, die nicht gerade zu überwältigendem Optimismus hinsichtlich der Preisentwicklung in den nächsten Monaten Anlaß geben kann, aber auch eine Entwicklung, die wir als Faktum, so scheint mir, in unsere politischen Überlegungen und Entscheidungen mit einbeziehen müssen.
Insbesondere mahnt uns die Entwicklung der Geldmenge als Summe aus Bargeldumlauf und Sichteinlagen unter stabilitätspolitischen Gesichtspunkten wieder zu erhöhter Aufmerksamkeit. Während ihre Zuwachsrate, saisonbereinigt und auf Jahresrate umgerechnet, vor der Freigabe des D-Mark-Wechselkurses im Dreimonatsabschnitt - März bis Mai 1971 -21,4% betrug, sank sie in der Folgezeit, insbesondere durch Maßnahmen dieser Bundesregierung und dieses Parlaments, bis einschließlich September des vergangenen Jahres auf 4,7 % ab. Im letzten Quartal 1971 dagegen betrug die Zuwachsrate, umgerechnet auf die Jahresrate, schon wieder 12 %. Schon diese wenigen Zahlen in ihrem zeitlichen Bezug zueinander zeigen, wie sehr das monetäre Problem in unserer Wirtschaft durch unsere außenwirtschaftliche Verflechtung bestimmt wird. Die Abhängigkeit vom Ausland ist durch die Integration in der EWG, die weitergelaufen ist, und den Ausbau unserer Handelsbeziehungen mit anderen Ländern in den letzten Jahren so stark geworden, daß wir uns dem intern ationalen Preiszusammenhang nur sehr schwer entziehen können. Das zeigt auch ein Blick auf die durchschnittliche Steigerungsraten der Lebenshaltungskosten des letzten Jahres bei uns und unseren
wichtigen Handelspartnern. Einige Zahlen in diesem Zusammenhang sind in der Debatte heute bereits genannt worden. Ich möchte nur feststellen, daß wir mit 5,2 % bedauerlicherweise im vorderen Mittelfeld der Stabilitätsskala liegen. Das kann man auch als einen Erfolg bezeichnen; es kommt dabei auf den Standpunkt an.
Die in den letzten Wochen aufgetretenen Probleme werden sich abschließend erst dann lösen lassen, wenn - auch das spreche ich hier ungeschützt aus - die USA eine stärker zahlungsbilanzorientierte Geldpolitik betreiben, wenn ihr Zahlungsbilanzdefizit abgebaut wird und der Dollar zur Konvertibilität zurückkehren kann. Aber auch hier möchte ich sagen, daß das in naher Zukunft leider nicht zu erwarten ist. Auch das ist eine der nüchternen Realitäten. Aus diesem Grunde gilt es zu prüfen, wie wir uns von dem Dollarproblem unabhängiger machen können. Hier sind wir Freie Demokraten der Meinung, daß der in Brüssel eingeschlagene Weg der Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion der einzig denkbare ist und die einzige Alternative darstellt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Brüsseler Beschlüsse sind nach Meinung der Freien Demokraten insbesondere deshalb positiv zu bewerten, weil die geplante Integration nicht nur auf einem Bein steht, also nicht nur die Schaffung einer Währungsunion vorsieht, sondern weil auch der Grundsatz der Parallelität zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik fest verankert worden ist. Schon mit Rücksicht auf
die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Agrarmarktes haben wir Freien Demokraten immer wieder darauf hingewirkt, daß die Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EWG zur Voraussetzung einer Integration gemacht wird. Diese Notwendigkeit ist jetzt von allen Partnern voll anerkannt worden. Sie kommt in den Maßnahmen der Brüsseler Beschlüsse zum Ausdruck, die eine Verstärkung der Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik vorsehen. Wir begrüßen das.
Es handelt sich dabei einmal um die Einsicht, daß wegen der Harmonisierung alle Partner ihr wirtschafts- und finanzpolitisches Instrumentarium vervollständigen und vereinheitlichen müssen. Die Kommission wird deshalb dem Rat sobald wie möglich den Vorschlag einer Richtlinie zur Förderung von Stabilität, Wachstum und Vollbeschäftigung in der Gemeinschaft unterbreiten. Ferner ist mit der Koordinierungsgruppe ein Organ geschaffen worden. das auf Grund seiner Zusammensetzung in der vorgesehenen Arbeitsweise die Möglichkeit hat, eine wirkliche Harmonisierung der gesamten Wirtschafts-und Finanzpolitik in der EWG herbeizuführen. Damit, meine Damen und Herren, kommen wir auch auf dem Sektor der Stabilitätspolitik einen ganz, ganz großen Schritt weiter.
Auf dieser Grundlage war es unserer Ansicht nach in Brüssel möglich und angesichts der aktuellen Lage zweckmäßig, bei den währungspolitischen Vereinbarungen eben diesen Schritt nach vorn zu machen. Es wird jetzt die Aufgabe der Zentralbanken der erweiterten Europäischen Gemeinschaft sein, mit einem untereinander abgestimmten Verhalten auf der Basis des detailliert festgelegten Regelsystems Zug um Zug die währungspolitische Gleichschaltung gegenüber dem Dollar zu vollziehen. Dabei begeben wir uns - das sei nicht verschwiegen, meine Damen und Herren, das wissen Sie so gut wie ich - auf absolutes Neuland. In Brüssel ist deshalb richtigerweise von den Verhandlungspartnern be- schlossen worden, sich nicht auf einen festen Zeitplan für eine weitere Verringerung der Bandbreiten festzulegen; denn das Spiel mit acht Bällen, wie es Präsident Klasen genannt hat, erfordert auch bei guten Jongleuren einige Zeit der Übung.
Wir Freien Demokraten sind der Ansicht, daß es mit dem Instrumentarium, das jetzt in Brüssel geschaffen worden ist, sowie mit dem Maßnahmekatalog, der bei uns zur Verfügung steht, möglich sein sollte, schrittweise mit marktkonformen Mitteln die internationalen Finanzströme zu regulieren. Auf Grund unseres wirtschaftlichen Gewichts in der EWG besteht ferner die Chance, die Gemeinschaft auf den Weg zu einem stabilitätsbewußten Wachstum zu führen, ein Ziel, dessen Durchsetzung bisher in der ganzen Welt mehr oder weniger als eine Illusion angesehen wurde. Der Schritt zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion allein wird uns allerdings noch nicht von der Notwendigkeit vermehrter interner Bemühungen um die Lösung des Stabilitätsproblems befreien; denn keine außenwirtschaftliche Absicherung - gleich, welcher Art allein kann eine innere Preisniveaustabilisierung garantieren.
Darüber hinaus muß, bezogen auf unsere gegenwärtige Lage, das berücksichtigt werden, was die Bundesbank im Dezember letzten Jahres, also vor der erneuten Spekulation gegen den Dollar, feststellt:
Es wird - noch einer längeren Periode verminderten Geldvolumens bedürfen, um das in der Bundesrepublik zweifellos noch vorhandene monetäre Inflationspotential wirklich abzubauen.
Wenn wir also Preisstabilität wollen, müssen wir auf eine straffere Geldpolitik ein stärkeres Gewicht legen. Hierbei sollte meines Erachtens eingehend geprüft werden, ob es nicht zweckmäßig ist, die Entwicklung der Geldmenge als monetären Indikator stärker in das Kalkül der Konjunkturpolitik einzubeziehen.
Darüber hinaus sollten wir zu einer Verstetigung bei der Zuwachsrate der Geldmenge kommen und diese den realen Expansionsmöglichkeiten in etwa anpassen. Denn es muß, meine Damen und Herren, einmal ganz eindeutig festgestellt werden, daß ohne eine außergewöhnlich starke Ausdehnung der Geldmenge eine Verschlechterung des Geldwertes nicht denkbar ist und daß alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die die Wachstumsrate der Geldmenge nicht verringern, letztlich keinen durchschlagenden stabilitätspolitischen Effekt haben können.
In diesem Zusammenhang darf ich kurz auf das Instrument des Konjunkturzuschlags eingehen, an dessen Wirksamkeit im Zusammenhang mit der Erörterung des Rückzahlungstermins vor einiger Zeit Zweifel aufgekommen sind. Es ist unbestritten, daß in dem Maße, in dem Mittel bei der Bundesbank stillgelegt worden sind, der Konjunkturzuschlag in den Jahren 1970/71 direkt restriktiv gewirkt hat.
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Was die Rückzahlung betrifft, so ist zweifelsohne der ins Auge gefaßte und heute mitgeteilte Termin der denkbar günstigste, den es für diese Rückzahlung überhaupt geben kann.
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Eine stärkere Berücksichtigung der Geldpolitik um zu dieser Frage noch einmal kurz zurückzukehren - heißt nun aber nicht, daß eine regelmechanistische Wirtschaftspolitik verfolgt werden sollte. Die Gründe, die hiergegen sprechen, sind ausführlich und einleuchtend in dem jüngst veröffentlichten Gutachten des wirtschaftswissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen niedergelegt worden. Notwendig ist es jedoch, die Geldmenge als Orientierungsmaßstab und als Entscheidungshilfe für den Einsatz der korrigierenden Maßnahmen verstärkt heranzuziehen. Diese Tendenz ist auch bei der Bundesbank ganz deutlich verstärkt worden.
Aber nicht nur in der Ausrichtung, sondern ouch um Mitteleinsatz, sollte meines Erachtens bei der Geldpolitik eine Überprüfung in Richtung auf eine Aktivierung vorgenommen werden, und zwar im Bereich der Offenmarktpolitik durch eine Intensivierung der Geschäfte mit Nichtbanken und auf dem Kapitalmarkt sowie im Bereich der Staatsverschuldung durch Berücksichtigung der monetären Effekte, d. h. der Wirkungen, die sich aus einer Veränderung von Höhe und Struktur der Schuld auf Geldmenge und Zins ergeben. Als Konsequenz der hier skizzierten Richtung würde sich ein Effekt ergeben, den ein liberaler Wirtschaftspolitiker besonders hervorheben muß. Die Globalsteuerung würde zumindest teilweise von der Notwendigkeit der direkten Regulierung der Nachfragekomponenten am Markt befreit werden. Das wäre schon etwas. Statt der konjunkturpolitisch motivierten Schwankungen der Staatsausgaben könnte eine gleichmäßigere Entwicklung angestrebt werden. Eine solche Haushaltspolitik würde aber gleichzeitig für die Unternehmen besser kalkulierbar sein und ihren Freiheitsspielraum ganz beträchtlich erweitern.
Eine ausgeglichene monetäre Entwicklung ist zwar eine notwendige, aber - das möchte ich hinzufügen - keine hinreichende Bedingung für eine gleichmäßige stabilitätsorientierte Wirtschaftsentwicklung. Sie muß sowohl im Bereich der gesellschaftlichen Gruppen durch Tarifvereinbarungen entsprechend ergänzt werden, die der Gesamtlage angemessen sind, als auch im Bereich der staatlichen Politik durch eine abgestimmte Haushalts-, Finanz- und Strukturpolitik, um die sich diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen von Beginn der Arbeit an ernsthaft und nicht ohne Erfolg bemüht haben.
In unserer Wirtschaft sind in den letzten Jahren beträchtliche Strukturwandlungsprozesse ausgelöst worden. Sie haben ihre wesentliche Ursache in der Kosten-Preis-Entwicklung, die zu einer Veränderung der Wettbewerbssituation und zur Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Sektoren, national und international, geführt hat. Zum Teil sind auch unter diesem, ich möchte sagen, Quasi-Zollschutz unrealistischer Paritäten oder aus anderen Gründen Produktionskapazitäten aufgebaut worden, die bei einer normalen wirtschaftlichen Entwicklung nicht ausgenutzt werden können. Auch das, meine ich, sollten wir sehen.
Das weitere Ausmaß dieses Prozesses wird davon abhängen, wie sich in Zukunft in den einzelnen Bereichen die Kosten-Ertragslage darstellen wird. Wir Freien Demokraten sind der Ansicht, daß diese Entwicklung unabhängig von der konjunkturellen Situation einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, weil mit ihr Umschichtungen verbunden sind, die zur Freisetzung von Arbeitskräften in sektoralen und regionalen Bereichen führen können.
Diese Gefährdung der Arbeitsplätze, die sich heute zum Teil erst abzeichnet, aber durchaus existent ist, kann nicht durch eine globale Vollbeschäftigungspolitik, also durch ein Mittel der Konjunktursteuerung, aus der Welt geschafft werden. Die Sicherung der Arbeitsplätze für die abhängig Beschäftigten ist vielmehr nur durch die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gewährleistet. Dies setzt aber eine konsequente und wirksame Strukturpolitik voraus, die in den betroffenen Wirtschaftszweigen zur Konsolidierung führen muß.
In einigen Branchen werden wir dabei nicht umhin können temporäre Anpassungshilfen zu gewähren. Diese sollten in der Regel aber nur in solchen Zweigen gezahlt werden, die, langfristig gesehen, ausreichende Wachstumsmöglichkeiten haben oder von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung sind. Solche vorübergehenden Hilfen sind nämlich nur sinnvoll, wenn zu erwarten ist, daß in wenigen Jahren die Phase der Marktkonsolidierung erreicht wird.
Nach Ansicht meiner Fraktion muß eine wirksame Strukturpolitik neben den wichtigsten Aspekten, wie Raumordnung, Umweltschutz, Bildung und Ausbildung, Verkehrs- und Gesundheitswesen, vor allem die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen berücksichtigen. Dabei kommt der Erhaltung der Investitionsfähigkeit eine ganz zentrale Bedeutung zu. Sie macht in unserem wirtschaftlichen System eine ausreichende Gewinnentwicklung erforderlich. Ohne die Bereitschaft ,der Unternehmen, zu investieren, würde der notwendige technische, betriebliche und organisatorische Fortschritt behindert, wenn nicht blockiert werden. Das heißt, die staatliche Wirtschaftspolitik muß sich bewußt an den fortschrittlichen Unternehmer wenden, der den technischen, ökonomischen und sozialen Erfordernissen unserer Zeit aufgeschlossen gegenübersteht und diese Entwicklung auch von sich aus vorantreibt.
In einer dynamischen, auf Wettbewerb und auf optimale Ausnutzung der vorhandenen Mittel eingestellten Welt können wir uns die Konservierung überholter Produktionsmethoden einfach nicht mehr leisten. Strukturschwächen und Strukturkrisen sind bei der Ablaufdynamik der gegenwärtigen Strukturwandlungen unvermeidbar. Das wissen wir. Gefährlich und kostspielig aber wäre der Versuch, diesen Strukturwandel abbremsen zu wollen und der Gesamtentwicklung in der Wirtschaft und der Technik insbesondere retardierend in die Speichen zu greifen. Die Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik ist es vielmehr, wie es meine Fraktion immer wieder gefordert hat, von einer Politik der Angebotsstärkung auszugehen, wenn wir erreichen wollen, daß die Wirtschaft langfristig all diejenigen Leistungen erbringt, die notwendig sind, die wachsenden Anforderungen des Staates und der Gesellschaft zu decken. Insbesondere muß die staatliche Förderung verstärkt Pilotprojekten dienen, d. h. Modellen, die der Erschließung neuer Wege dienen, zu einer besseren Ausnutzung der vorhandenen Reserven führen und deshalb für nachahmungswürdig gehalten werden.
In diesem Zusammenhang richten wir erhöhtes Augenmerk auf die Förderung der kleinen und mittleren Betriebe der gewerblichen Wirtschaft. Dabei genügt es nach Auffassung der Freien Demokraten aber nicht, eine mehr oder weniger behelfsmäßige Schutzpolitik zu betreiben. Das Problem für die kleinen und mittleren Selbständigen ist die Bewältigung der Flut von Veränderungen, die ständig über uns hereinbricht. Das Motto muß also statt „Schutzpolitik" heißen „Befähigungspolitik" mit allen Konsequenzen, die sich aus diesem Begriff ergeben. In der Zielsetzung richtige Ansätze sind hierzu im Aktionsprogramm zur Leistungssteigerung kleinerer und
mittlerer Unternehmen enthalten, das diese Bundesregierung verabschiedet hat. Sie müssen weiter ausgebaut werden.
In dieser Hinsicht begrüßen wir Freien Demokraten, daß im Jahreswirtschaftsbericht in Ziffer 71 die Fortentwicklung der Grundsätze für kleine und mittlere Unternehmen sowie des Aktionsprogramms als wichtige Aufgabe der Bundesregierung in diesem Jahr bezeichnet wird. Im Bereich der Mittelstandspolitik ist darüber hinaus auf die Förderung von Kooperationen verstärktes Gewicht zu legen. Die im Wirtschaftssauschuß zur Beratung anstehende, von dieser Bundesregierung eingebrachte und begründete Kartellrechtsnovelle wird die gesetzlichen Möglichkeiten hierfür verbessern und zum Teil neu schaffen. Wir dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im mittelständischen Bereich der Wirtschaft noch erhebliche psychologische Widerstände gegen Kooperationen zu überwinden sind, einesteils aus Unkenntnis hinsichtlich der Möglichkeiten, die Kooperationen bieten, andernteils aber auch deshalb, weil an dieses moderne wirtschaftspolitische Instrument Befürchtungen in bezug auf eine Einengung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit geknüpft werden, Befürchtungen, die in aller Regel jedoch unbegründet sind.
Meine Damen und Herren, im ersten Teil meiner Ausführungen - insoweit schließt sich hier der Kreis - habe ich schon auf die Folgen der engen Außenhandelsverflechtungen unserer Wirtschaft hingewiesen. Einer zu einseitigen Exportorientierung und damit der mit dieser Kopflastigkeit verbundenen Krisenanfälligkeit bestimmter Teile der deutschen Wirtschaft muß auch von der strukturellen Seite der außenwirtschaftlichen Verflechtung entgegengewirkt werden. Als Mittel dazu bieten sich an: die Verstärkung des privaten Kapitalexports für Anlageinvestitionen im Ausland, die Unterstützung des Aus- und Aufbaus von Produktionsprozessen im Ausland, die in einem komplementären Verhältnis zum Industriepotential der Bundesrepublik stehen, die weitere Verstärkung der Außenhandelsbeziehungen, vor allem im Bereich der hochwertigen Wirtschaftsgüter. Diese Maßnahmen, in die auch kleine und mittlere Unternehmen verstärkt eingeschaltet werden sollten, verfolgen das Ziel, die Export-Import-Struktur gleichmäßiger zu gestalten.
In weiten Teilen meiner Ausführungen habe ich mich mit dem Problem der Preisstabilität befaßt. Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend feststellen: Nur eine Politik äußerster Konsequenz vermag dieses Ziel zu sichern. Aber der damit verbundene Erfolg würde, so meine ich, alle Anstrengungen mehr als rechtfertigen.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Strauß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In manchen Situationen des politischen Lebens ist es sicherlich angeStrauß
bracht, nach der Maxime zu handeln: Angriff ist die beste Verteidigung. Ob es die Situation, in der sich Herr Schiller zur Zeit befindet, ebenfalls angebracht erscheinen läßt, nach dieser Maxime zu handeln, möchte ich mehr als bezweifeln.
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Wir hätten gern etwas mehr über die unverkennbaren Schwächen, Ungereimtheiten, Absurditäten und Widersprüche in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung gehört, als es heute geschehen ist. Die gelegentlichen Ausfälle, die ihn sogar in bayerische Gefilde entrückt haben,
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befreien ihn in Zukunft nicht von der Aufgabe, als verantwortlicher Wirtschafts- und Finanzminister zu handeln, solange er noch im Amt ist.
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Herr Schiller hat heute in seiner Darstellung, die einerseits der Versuch eines gigantischen Heldenepos, eines Doppelhelden war, mit gelegentlichen romantischen Einlagen und einem lyrischen Abschluß eine Landschaft gezeichnet, wie sie sonst etwa nur von bukolischen Dichtern dargestellt wird:
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eine sonnenüberglänzte Wiese, in der sich alles in perfekter Harmonie befindet, in der Mensch und Natur in glückseliger Zuordnung zueinander ihrem höheren Wesen nachstreben können.
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Leider sieht die Wirklichkeit etwas anders aus. Dabei darf ich mich mit seiner Rede, die ich sehr sorgfältig gehört und gelesen habe, sowie auch mit einigen Ausführungen des Kollegen Junghans beschäftigen, weshalb ich nicht von einem vorbereiteten Konzept ausgehen kann.
Herr Schiller hat am Anfang seiner Darlegungen von der falschen Prognose der Opposition gesprochen und in dem Zusammenhang erklärt, ich hätte bei der ersten Lesung des Haushalts 1972 - das ist schon sehr, sehr lange her; es wird noch lange Zeit dauern, bis er verabschiedet wird, und weshalb, das werden wir heute auch noch der Öffentlichkeit mitzuteilen haben - gesagt: Die Alternative „Rezession mit Arbeitslosigkeit" ist doch die Schwelle, an der wir heute stehen. Und dann sagte er: „Darauf kann ich eine klare Antwort geben: die Rezession findet nicht statt." Sehr verehrter Kollege Schiller, die Rezession ist schon eingetreten; denn der Zuwachs im Wachstum ist in einem auf Zuwachsraten, wenn auch maßvoller Art, aufgebauten sozialen und wirtschaftlichen Leistungssystem eine unentbehrliche Größe.
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Und wenn das Wachstum zum Stillstand gekommen ist, wie es zur Zeit beim realen Wachstum der Fall ist, während Sie immer noch ein stattliches Wachstum nominaler Art verzeichnen können, dann ist das bereits eine Rezession. Wir befinden uns in einem Zustand, den ich nennen möchte: Stagnation, also Stillstand des realen Wachstums, anhaltende Inflation - siehe auch das, was das Ifo-Institut gestern
prognostiziert hat, nämlich anhaltende Preiserhöhungen in der Größenordnung von 5 % und mehr - und noch gesicherte Vollbeschäftigung. Das heißt, wenn die Bundesregierung Stabilität erreichen wollte, dann hätte sie gleichzeitig einen Zustand herbeiführen müssen, den sie mit Recht vermieden hat - das bestreite ich nicht -; sie hätte nämlich Stabilität nur um den Preis der Arbeitslosigkeit herbeiführen können. Die Aufgabe einer verantwortlichen Wirtschaftspolitik ist es aber, ein ausreichendes Maß an Wachstum - keine gigantischen Wachstumsraten, aber doch Raten von real 4 bis 5 %, nominal von 6 bis 7 % - zu erreichen, d. h. eine Inflationsrate von etwa 2 %, die aber nicht von vornherein zu programmieren ist. Programmieren soll man null Prozent; dann wird man zum Schluß immer noch mit einer kleinen Preisauftriebsrate abkommen.
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Von diesem Dreieck: Wachstum, Stabilität und Vollbeschäftigung - ich lasse einmal die Zahlungsbilanz beiseite, auf sie komme ich in einem anderen Zusammenhang zu sprechen - hat die Bundesregierung nur die Vollbeschäftigung erreicht. Sie hat das Wachstum versäumt, weil wir in den Zustand der Stagnation eingetreten sind, und hat andererseits die Vollbeschäftigung mit einer anhaltenden, über das Jahr 1972 sich erstreckenden Inflation erkauft. Das ist doch der Zustand.
Darf ich in dem Zusammenhang, Herr Kollege Schiller, etwas zitieren, was heute im „Handelsblatt" zu lesen ist. Dort heißt es:
Das Dokument der Bundesregierung
- gemeint ist der Jahreswirtschaftsbericht ist bereits Makulatur. Papiere, auf denen Konjunkturprognosen stehen, vergilben besonders schnell. Die im Bericht erklärte wirtschafts- und finanzpolitische Strategie der Vorsicht und Zurückhaltung ist reichlich euphemistisch.
Gleichzeitig ist heute vom Präsidenten der Westdeutschen Landesbank, von Herrn Poullain, der ja sicherlich zu Ihren Freunden und gelegentlichen Bewunderern gehört, eine Warnung zu lesen, und zwar die Warnung vor der kontrollierten Inflation. Der Zustand, den Sie herbeigeführt haben, ist Stagnation im Wachstum, kontrollierte Inflation und auf dieser Basis noch mühsam aufrechterhaltene Vollbeschäftigung. Es heißt dort weiter: Er kritisierte, daß man sich bereits mit relativer Stabilität zufrieden gäbe. Das sei eine Einladung an Unternehmer und öffentliche Hand, von vornherein eine bestimmte Rate der Geldentwertung einzukalkulieren.
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Eine der großen Sünden und einer der Fehler, Herr Kollege Schiller, war es, von vornherein eine Inflationsrate einzuprogrammieren. Sie können es ruhig als Erfahrungswert nehmen: Wenn man eine Inflationsrate in Höhe von 2 bis 3 % einprogrammiert, wird man im Endergebnis eine von 4 bis 5 oder von 5 bis 6 % erreichen, wie es geschehen ist.
Herr Kollege Schiller, es gibt sicherlich bei jedem von uns die Möglichkeit, zu sagen, er habe sich da
oder dort getäuscht. Niemand ist ausgenommen, und ich möchte mich selbst selbstverständlich auch nicht ausnehmen. Ich habe z. B. damals gemeint, der Export würde zurückgehen, weil die Unternehmer ihre Erträge erhalten wollten. Die Unternehmer haben ihren Export weiterhin aufrechterhalten und um ihre Marktanteile auf den Weltmärkten gekämpft, haben drastische Ertragsrückgänge im Exportgeschäft hingenommen. Die Folge davon ist der Gewinnverfall im Inland und der Rückgang des Ertrags der Körperschaftsteuer sowie das Ausnutzen der letzten Preisnischen im Inland zur Kompensation dieser Verluste im Auslandsgeschäft.
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Ich habe niemals gesagt, Herr Kollege Schiller, daß eine totale Preisstabilität möglich sei. Das billige ich Ihnen auch heute zu. Ich habe gesagt, man müsse eine volle Preisstabilität anstreben, Wenn man alle Zeichen darauf setzt, eine volle Preisstabilität zu erreichen, wird man zum Schluß immer noch mit einer leichten Preissteigerungsrate herauskommen. Das ist der Tribut, den man dem auf Wachstum aufgebauten Leistungssystem unseres Staates und der Vollbeschäftigung zahlen muß. Das sage ich ausdrücklich, weil es die Alternative „Stabilität oder Arbeitslosigkeit" für uns nicht geben darf. Aber ich habe nicht zu denen gehört, Herr Kollege Schiller, die damals wie Sie als anklagender Oppositionsredner in der Zeit der Regierung Erhard und des Wirtschaftsministers Schmücker den Finger erhoben und gesagt haben: 3,4 % sind unerträglich; wenn wir hinkommen: im ersten Jahr 3 %, im zweiten Jahr 2 %, im dritten Jahr 1 %, im vierten Jahr 1/2% - so haben Sie sogar einmal gesagt -, und dabei bleibt es. Wobei es geblieben ist, haben wir gesehen.
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Sie haben weiterhin erklärt, wenn die Preissteigerungsrate 2 % überschreite, müsse eine Regierung den Hut nehmen. - Sie haben dann zwei Hüte genommen, aber in einem anderen Sinne des Wortes.
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Herr Kollege Schiller, im Zusammenhang mit den Staatsausgaben muß ich Ihnen noch entgegenhalten: Sie haben seinerzeit von der Inflationslücke gesprochen und haben diesen Begriff definiert als den Unterschied zwischen der Erhöhung der Staatsausgaben und dem realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts.
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Warum haben Sie heute nicht bekanntgegeben, wie hoch die von Ihnen so definierte inflationäre Lücke nach Ihren eigenen Maßstäben in den Jahren Ihrer Regierungszeit geworden ist? Ich werde Ihnen die Zahlen dazu nennen müssen. Vielleicht kann man es auch gleich machen. In einem Vergleich der Jahre betrug z. B. der Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts im Jahre 1966 3 %, dagegen die Haushaltssteigerung beim Bund 4,2 % und bei den öffentlichen Händen insgesamt 4,5 %. Im Jahre 1967 war die Steigerung plus minus null, die Haushaltssteigerung beim Bund dagegen betrug 12,4 % und bei den öffentlichen Händen insgesamt 6,4 %. Das widerspricht der Regel, die Sie aufgestellt haben und die ich hier auch genannt habe.
Allerdings gebe ich zu: Man darf Ausgabesteigerungen und realen Zuwachs des Sozialprodukts nicht immer nur auf ein Jahr beziehen. Im Jahre 1967 war es unsere gemeinsame Aufgabe, die in Stagnation abgleitende Wirtschaft aufzufangen und mit neuem Leben zu erfüllen. Damals war es richtig und angebracht, die Ausgaben des Bundes kräftig zu erhöhen, um durch starke Erhöhung der Staatsnachfrage auch die private Nachfrage wiederum zu beleben.
Im Jahre 1968 haben wir aber vorbildlich gehandelt. Damals betrugen der reale Zuwachs 7,3 %, die Haushaltssteigerung beim Bund minus 0,7 und im Gesamthaushalt nur plus 2,3 %. Wenn man also 1967 und 1968 zusammennimmt, ergibt sich ein vorzügliches Bild.
Im Jahre 1969 betrugen der reale Zuwachs 8 %, die Haushaltssteigerung beim Bund 8,3 und im Gesamthaushalt 9,7 %.
Jetzt zum Jahr 1970: Realer Zuwachs 5,3 %, Haushaltssteigerung beim Bund 6,9 und im Gesamthaushalt 11,3 %. Ich werde Ihnen sagen, warum. Es hat keinen Sinn, hier Länder und Gemeinden anzuklagen. Der Bund ist der Anführer im Inflationsgeleitzug, und wenn die öffentlichen Haushalte durch die Versprechungen und Programme des Bundes in Zwang genommen werden, müssen Länder und Gemeinden folgen, weil sie überhaupt keine Wahl mehr haben.
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Im Jahre 1971 haben wir noch einen Zuwachs des realen Sozialprodukts von 2,9 %, eine Ausgabensteigerung beim Bund von 13,5 und im Gesamthaushalt von 14 bis 15 % zu verzeichnen.
Für das Jahr 1972 prognostizieren Sie einen realen Zuwachs von 2 bis 3 %. Herr Müller-Hermann hat vorhin schon mit Recht ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Denn zur Zeit sind wir im ersten Quartal bei Null, und für das zweite Quartal ist noch keine wesentliche Besserung zu erwarten. Der Zuwachs des realen Sozialprodukts müßte in der zweiten Hälfte schon bei 6 % liegen, um 3 % zu erreichen. Aber selbst wenn man 2 bis 3 % als richtige Prognose - Sie werden das im nächsten Jahreswirtschaftsbericht wahrscheinlich korrigieren müssen ({13})
Sie meinen: ein anderer; aber das ist jetzt nicht die Sorge ({14})
zugrunde legt - beträgt die Zuwachsrate des Bundeshaushalts 1972 - das ist ja auch einer der Gründe, warum vor dem 23. April nicht die zweite und dritte Lesung des Bundeshaushalts erfolgen darf ({15})
nicht 8,5 %, wie Sie damals angegeben haben. Ich habe schon in der ersten Lesung als Sprecher meiner Fraktion erklärt, daß diese 8,5 % nichts anStrauß
deres sind als das Ergebnis kosmetischer Operationen und schönheitlicher Korrekturen. In Wirklichkeit beträgt die Zuwachsrate des Bundeshaushalts im Jahre 1972 um die 12 % herum. Die Zuwachsrate der gesamten Haushalte liegt hei 12 bis 13 oder 14 %. Ein abschließendes Urteil ist noch nicht möglich. Bei einem realen Wachstum von 2 bis 3 %, das Sie prognostizieren, und einer sicheren Ausgabensteigerung von 12 % und noch mehr haben wir in diesem Jahr nach Ihrer eigenen Definition - Ihre wissenschaftliche Erkenntnis ist doch sicherlich in der Zeit Ihrer Amtserfahrung nicht größer geworden als in Ihrer Zeit als Oppositionsredner -eine inflationäre Lücke von 10 %. Darum soll man endlich einmal zugeben, daß diese Steigerungen der öffentlichen Haushalte, die durch Ihre Versprechungen, Ankündigungen und Reformprogramme oder Reformluftschlösser eingeleitet worden sind, eine Inflationsquelle erster Ordnung darstellen, wobei ich mit dem Wort „Inflationsquelle erster Ordnung" oder „Inflationsherd erster Ordnung" nur die damaligen Sprecher der Opposition, nämlich Karl Schiller und Alex Möller, im Zusammenhang mit den bescheidenen Steigerungsraten der Bundeshaushalte jener Jahre 1965 und 1966 anführe.
Gilt das Wort von der „inflationären Lücke" heute nicht mehr, Herr Schiller? Ist dieses Wort in die Gedächtnislücke gefallen? Regiert bei uns schon George Orwell von 1984? Darf man nicht mehr sagen, was seinerzeit gesagt worden ist? Wir hätten gern etwas dazu gehört, wie Sie heute Ihre damalige Äußerung bewerten, daß der Unterschied zwischen der Steigerung des realen Sozialprodukts und der Steigerung der Staatsausgaben, daß dieser Zuwachs die inflationäre Lücke sei. Halten Sie noch immer an der „inflationären Lücke" fest? Dann sagen Sie uns doch bitte: Hier bin ich gescheitert und gebe es zu, statt Ihre Blamage hinter den Angriffen gegen die CDU/CSU zu verbergen.
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Ich habe vorhin gesagt: im Jahre 1967 betrugen der reale Zuwachs praktisch null, die Haushaltssteigerung beim Bund 12,4 und die Steigerung aller öffentlichen Haushalte 6,4 %. Aber damals galt es, die Vollbeschäftigung zu erhalten, die Einbrüche beim Wachstum und auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen, wieder normale Vollbeschäftigung herzustellen und die Kurzarbeit zu beseitigen. In einer solchen Situation ist selbstverständlich ein Wirtschafts- und Finanzminister nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die Staatsausgaben höher anzusetzen, als der augenblickliche Zuwachs des realen Sozialprodukts ist. Aber wir hatten ja Vollbeschäftigung in diesen Jahren, wir hatten zum Teil sogar Übervollbeschäftigung. Sie haben überflüssigerweise Vollbeschäftigungsgarantien in jenen Jahren gegeben, in denen die Überbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt und in der Währung unserem Geldwert größte Schwierigkeiten gemacht hat. ln einer solchen Situation sind solche Steigerungsraten der öffentlichen Haushalte Inflationsquellen erster Ordnung. Ich kann das nicht deutlich und oft genug sagen.
({17})
Herr Kollege Schiller, wenn Sie mir sagen dürften oder könnten, was Sie sich dabei denken, dann könnten Sie mir hierbei doch nicht Unrecht geben. Denn Sie können doch nicht leugnen, daß dieser ungeheure „Deflator", wie man es neuerdings nennt - der Unterschied zwischen realem und nominalem Zuwachs und der Unterschied auch zwischen der Erhöhung der Staatsausgaben und der Erhöhung des nominalen Sozialprodukts --, daß dieser Unterschied eine der Inflationsquellen ist. Ich lasse mich nicht darauf ein, zu sagen: „Das ist die Inflationsquelle"; es gibt mehrere Inflationsquellen. Hier kann man dann immer sagen: „Die Opposition behauptet, es sei der öffentliche Haushalt", und weist dann nach, daß der öffentliche Haushalt es angeblich nicht ist. Dann kommt dazu die an Dämlichkeit nicht zu überbietende Frage: Wo hättet denn ihr gespart? Auf die habe ich heute bei dem Kollegen Junghans bloß noch gewartet. Das war das, was in dem Katalog noch fehlte.
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Dieser Unterschied ist nun einmal die inflationäre Lücke. Die Bundesregierung muß zugeben, daß sie auf diesem Gebiet das Gebot der Stabilität gröblichst verletzt hat.
({19})
Sie hat es auch noch auf anderen Gebieten gröblichst verletzt, auch auf dem Gebiete der Währungspolitik, auch auf dem Gebiete ihrer Einstellung zur Lohnpolitik. Wir sind hundertprozentig Anhänger der Tarifautonomie. Eine verantwortliche Regierung darf aber die Lohnbewegung in einer solchen Konjunktursituation nicht anheizen, wie es durch sie und den Bundeskanzler geschehen ist. Hier muß die Bundesregierung vielmehr den Mut haben, dämpfend einzuwirken, und darf nicht die Gewerkschaftsführer gegenüber ihren eigenen Mitgliedern noch unter Druck setzen, wie es geschehen ist.
({20})
Dann ist heute der Konjunkturzuschlag erwähnt worden. Herr Schiller hat, was sicherlich morgen mit seinem Namen verbunden sein wird, die Rückzahlung zum 15. Juni angekündigt. Erstens ist die Rückzahlung nicht anderes als eine gesetzliche Pflicht. Bezeichnend war nur, daß manche überhaupt die Einhaltung der gesetzlichen Pflicht bezweifelt haben. ({21})
Nein, Sie nicht, ich auch nicht. - Aber wenn Sie
nun in dem Zusammenhang, Herr Kollege Schiller, sagen, nur Hirnrissige hätten einen Zusammenhang mit dein Stichwort „Neuwahlen" hergestellt, dann muß ich sagen, daß es um die Volksgesundheit, besonders im Bereich der Publizistik, in unserem Lande ganz schlecht bestellt sein muß.
({22})
Denn so viele Karikaturisten, Kommentatoren und Leitartikler haben den Zusammenhang zwischen einer baldigen Rückzahlung des Konjunkturzuschlags und den eventuell unvermeidlichen Neuwahlen herausgestellt, daß ich mir um den Gesundheitszustand dieser Gruppe in unserer Bevölkerung ernste
Sorgen machen muß. Die sind dann alle hirnrissig geworden und brauchen eine neurologische Behandlung.
({23})
So viele Neurologen gibt es trotz der Bemühungen der Bundesregierung um die Verbesserung der Gesundheitserhaltung in unserem Lande nicht, wie erforderlich wären, um alle die zu behandeln, die nach Meinung des Herrn Schiller hirnrissig sind, weil zwischen der Rückzahlung des Konjunkturzuschlags und dem Stichwort „Neuwahlen" sie einen Zusammenhang sehen.
Herr Schiller, vielleicht sind Sie im Augenblick in Ihrer Partei weniger tätig; das kann sein. Sie haben zwar in Ihren Organisationen nicht immer leichtes Spiel - das weiß ich -, aber wenn Sie so viel mit Parteiarbeit zu tun hätten wie ich, würden Sie folgendes wissen. Aus dem Bereich der SPD-Organisation ist das Stichwort bekannt geworden: „Ab 6. Mai Urlaubssperre, ab 6. Mai Vorbereitung von Neuwahlen" - nicht als sichere Angabe, aber man muß ja auf alles gefaßt sein -, und wenn es nun so zufällig eintrifft: „6. Mai" und „Zielangabe: zweite Hälfte Juni" - das wäre dann der Termin, der in der SPD-Organisation angegeben wurde -, und am 15. Juni zahlen Sie den Konjunkturzuschlag zurück, dann sind wir alle „hirnrissig", wenn wir da einen gewissen Zusammenhang schüchtern anzudeuten uns erlauben.
({24})
Und weil wir schon über den Konjunkturzuschlag im Zusammenhang mit Wahlgeschenken reden, und weil Herr Schiller meint, im Hause des Gehenkten rede man nicht vom Strick - das meinte er doch, als er sagte: „Sie haben es gerade nötig, über Wahlgeschenke zu reden", und sich dabei auf das Jahr 1965 bezog -: Wir alle kennen die Übertreibungen, die damals bei Kosten in der privaten Wirtschaft und angesichts der allgemeinen Forderungen und Erwartungen auf dem Gebiet der öffentlichen Haushalte unserer volkswirtschaftlichen Leistungskraft auferlegt wurden. Diese Übertreibungen haben wir mit einem kleinen, aber nicht zu unterschätzenden Einbruch bezahlt, der wieder kurzfristig ausgebügelt werden konnte. Nur, Herr Kollege Schiller: die Regierung Erhard hatte damals dank dem Nein der SPD das Stabilitätsgesetz nicht zur Verfügung - das kann nicht oft genug und deutlich genug gesagt werden -, weil Sie damals noch der Meinung waren
ich habe Ihnen damals Postkutschen-Föderalismus vorgehalten -, man sollte, statt eine Verfassungsänderung vorzunehmen, Staatsverträge gleichlautenden Inhalts zwischen dem Bund und allen Bundesländern schließen. Aber das Fazit war, daß die Überlastung der Wirtschaft mit Kosten und die Überbürdung der öffentlichen Haushalte, die zum erstenmal in diesem Umfange als Folge einer lang anhaltenden Prosperität und demgemäß gestiegener Forderungen aufgetreten waren, zu einem Rückschlag geführt haben. Das hätte eine Lehre sein müssen.
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Aber nun wollen wir das Thema „Wahlgeschenke" noch etwas ausdehnen. Wer hat denn hier in diesem Hause am 28. Oktober 1969 der staunenden Umwelt in einer schon von Inflation gefährdeten Wirtschaftssituation - aber nur gefährdeten, noch nicht befallenen - Steuersenkung versprochen? Das war der Bundeskanzler dieser Regierung mit Zustimmung seines Finanz- und seines Wirtschaftsministers. Wie konnte man am 28. Oktober 1969 die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages und den Wegfall der Ergänzungsabgabe am 1. Januar 1970 versprechen, wenn man von Konjunkturpolitik auch nur die geringste Ahnung hat?!
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Die damals versprochene Steuersenkung ist nicht eingetreten. Sie tritt auch nicht mehr ein, Herr Kollege Schiller. Denn in der Zwischenzeit ist das, was diese Bundesregierung durch Erhöhung der administrativen Preise, id est Tarife und Gebühren, sowie durch die Erhöhung der Verbrauchsteuern dem „kleinen Mann" aus der Tasche gezogen hat, wesentlich mehr als das, was er durch Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrags jemals hätte bekommen können.
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Bei dem Zusammenhang der in der Steuerreform bestehenden berühmten Interdependenzen können Sie die Steuerreform erst vom 1. Januar 1976 an in Kraft setzen. Dann kommt er in den Genuß des Wahlversprechens vom Jahre 1969, hat in der Zwischenzeit ein Mehrfaches davon zahlen müssen, was er nun bekommt, und nach Ihren Plänen soll ja dann der Arbeitnehmerfreibetrag nur von der Steuerschuld mit 20 % abgezogen werden, d. h. er kriegt im Monat 4 DM mehr. Das ist übriggeblieben, aber für den 1. Januar 1976.
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Der Wegfall der Ergänzungsabgabe fällt mangels Masse aus; denn die Ergänzungsabgabe wird in den kommenden Tarif sowieso eingebaut werden. Dann können Sie sagen: Die Ergänzungsabgabe gibt es nicht mehr; dafür ist der allgemeine Tarif erhöht worden.
Herr Kollege Schiller, ich hätte heute nicht so geantwortet, wenn Sie uns durch Ihre Bemerkungen nicht dazu herausgefordert hätten. Wir hätten heute einen streng sachlichen, sich seiner eigenen Schwächung, Fehlprognosen und Sünden bewußten Schiller viel milder behandelt
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als den, der hier als Gewichtheber vor seiner Fraktion zum Weltrekord angetreten ist.
({30})
Uns galt das ja gar nicht; es galt ja den Kollegen da drüben. Es geht eben nichts über Imageverbesserung.
({31})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir nicht erlebt, daß im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages am 5. Juni 1970 die CDU/CSU den Antrag gestellt hat, diese SteuersenkungsvorStrauß
lage auf unbestimmte Zeit zu vertagen, weil sie konjunkturpolitisch unverantwortlich sei?
({32})
In der Situation des Jahres 1970 eine Steuersenkung von 2 Milliarden DM, die dann für den 1. Juli in Aussicht gestellt wurde, durchzuführen, hätte nichts anderes bedeutet, als einem Zuckerkranken Traubenzucker zur Kräftigung zu verabreichen,
({33})
hätte bedeutet, die damals schon heranbrandende inflationäre Welle zu verstärken. Wir sind damals im Finanzausschuß mit 13 gegen 12 Stimmen niedergestimmt worden. Die Vorlage ist zur Behandlung im Plenum reif gemacht worden.
Am 14. Juni waren Landtagswahlen in drei Bundesländern, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und im Saarland. Fast die Hälfte der Bundesbevölkerung ist an die Wahlurnen getreten. Bei den Diskussionen vor diesen Landtagswahlen, in die vielmals einzugreifen ich die Möglichkeit hatte, sind wir immer wieder mit der Frage beglückt worden: „Warum gönnt ihr uns die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrags und den Wegfall der Ergänzungsabgabe nicht? Die Bundesregierung hält, wenn nicht für den 1. Januar, dann für den 1. Juli daran fest." Wir mußten als Oppositionssprecher die unangenehme Pflicht erfüllen, zu sagen: Im Interesse der Stabilität der Währung und der Erhaltung ihres Geldwertes sind diese Steuersenkungen unverantwortlich.
Die Wahlen waren vorbei. Es kam der Freitag nach den Wahlen, die Vorlage wurde aufgerufen. In Unkenntnis der Geschäftsordnung des Bundestages, Herr Schiller, haben Sie das Wort zur Geschäftsordnung ergriffen, was Sie als Mitglied der Bundesregierung gar nicht konnten, sondern nur als Parlamentarier, und haben die Absetzung der Steuervorlage auf unbefristete Zeit hier an dieser Stelle mit der Begründung beantragt, daß sie aus konjunkturpolitischen Gründen nicht zu verantworten sei.
Wenn das nicht Wahlgeschenke sind! Was ist Ihnen denn zwischen dem 5. und dem 19. Juni an neuen Erkenntnissen zugewachsen? Ein Bundesbankbericht? Haben Sie damals einen Bundesbankbericht gebraucht, um zu wissen, daß wir uns in inflationärer Gefahr befinden? Sehen Sie, das ist ein Vorgang, der das Vertrauen, den Glauben an eine Regierung in weiten Kreisen der Öffentlichkeit ernsthaft erschüttern mußte und erschüttert hat.
({34})
Dabei waren Sie damals noch nicht Doppelminister. Aber Sie haben den Antrag als Konjunkturminister gestellt, und wir müssen die Regierung ja als eine Einheit behandeln.
Keine Regierung ist sicher vor Fehlern. Sicherlich könnte auch eine CDU/CSU-Regierung weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft behaupten, daß sie fehlerfrei alle Dinge mit genialer Fähigkeit behandeln würde. Sie haben auch durchaus das Recht, zu sagen: Der Vorgang von 1965, zuerst Leistungsprogramme aufbauen und dann in einem Haushaltssicherungsgesetz abbauen müssen, - das macht man nicht, oder: das ist nicht schön. Das gebe ich Ihnen zu. Da waren wir alle mit beteiligt. Alle zusammen waren wir Sünder. Auch die Opposition von damals hat ihr Teil dazu beigetragen,
({35})
die Regierung da hineinzutreiben im Wettlauf um die Verteilung des Kuchens, die Verteilung des Sozialprodukts. Aber eine Steuersenkung am 5. Juni im Ausschuß gegen die Opposition, die Ihnen damals die Hand geboten und gesagt hat: Runter von der Vorlage!, mit 13 gegen 12 Stimmen durchsetzen und beim Wähler des 14. Juni den Eindruck erwekken, am 1. Juli komme die Steuersenkung, und am Freitag hernach sagen: 1. April! Nichts wird's mit der Steuersenkung!,
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- Herr Kollege Schiller, das ist ein Vorgang, der sicherlich im Bewußtsein nur durch Hilfe mancher publizistischer Ambulanzen etwas verdrängt worden ist. Aber wir werden dafür sorgen, daß hier die Erinnerung ungetrübt bleibt.
Ich würde das nicht sagen, Herr Kollege Schiller, wenn uns nicht die Vorgänge um den Haushalt 1972 und um die Finanzplanung 1973 bis 1975 wieder in peinlicher Weise an diesen Vorgang erinnert hätten.
({37})
Wir haben damals im Oktober den Haushalt 1972 in erster Lesung behandelt. Der Haushalt 1972 ist das Basisjahr für die Finanzplanung der Jahre 1973, 1974 und 1975. Daß die Regierung im Jahre 1969 den Haushalt nicht zeitgerecht vorlegen konnte, hat ihr niemand vorgeworfen. Eine Regierung, die neu anfängt, kann nicht in der kurzen Frist vom 1. November bis zur Weihnachtspause die schwierige Aufgabe der Neufassung des Haushalts - damals für 1970 - und der Finanzplanung für 1971 bis 1973 erfüllen. Aber im Jahre 1971/72 bestand keinerlei Grund, die Verabschiedung des rechtzeitig vorgelegten Haushalts so zu verzögern.
Ich habe hier schon einmal gesagt, mit welchen Methoden das betrieben wird, nämlich durch planvolles, systematisches Verzögern der Berichterstattung.
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- Es wäre möglich gewesen, Herr Kollege Kirst, diesen Haushalt vor dem 23. April dieses Jahres zu verabschieden. Sie wissen doch genau, daß Verfassung und Haushaltsrecht in einer Soll-Bestimmung die Verabschiedung vor Beginn des neuen Jahres vorschreiben. Ich bin nicht der Meinung, daß die Soll-Bestimmung immer exakt eingehalten werden kann. Aber wer glaubt, daß die Behandlung des Haushalts in der Woche nach den Landtagswahlen ein Zufall sei, der glaubt auch, daß der Storch Kinder bringt und das Christkind zu Weihnachten kommt.
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10256 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode
Man will die Stunde des finanzpolitischen Offenbarungseides auf die Zeit nach den Landtagswahlen vom 23. April verschieben, weil man weiß, welche Bedeutung ihnen zukommt. Wir haben ja auch bereits Töne dieser Art gehört. Sie können nicht bestreiten, daß Sie schon in Ihren bruchstückweisen Antworten
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auf unsere sehr präzisen Anfragen zugeben mußten, wie sehr sich die Haushaltslage aus heutiger Sicht bereits gegenüber Ihrer damals von mir als falsch bezeichneten Haushaltsplanung verändert hat. Sie haben damals illusionäre Zahlen eingesetzt. In der Zwischenzeit mußten Sie Mehrausgaben oder Mindereinnahmen in Höhe von 2,8 Milliarden DM zugeben. Sie waren bis jetzt nicht in der Lage, 1,2 Milliarden DM globale Minderausgaben bzw. Einsparungen zu verteilen. Sie erwarten nunmehr, daß das der Haushaltsausschuß macht. Es wäre aber die Aufgabe der Regierung, wenn sie eine globale Minderausgabe einsetzt,
({41})
sie auf die einzelnen Haushalte zu verteilen. Ihre Ressortkollegen sträuben sich mit Händen und Füßen dagegen, diese Minderausgaben hinzunehmen. Dast ist doch der Grund dafür, daß Sie sagen: „Ich wollte, es wäre Nacht, oder der Haushaltsausschuß käme!",
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) damit Sie diese Entscheidung nicht selbst zu treffen brauchen.
({43})
- Ich wollte, es wäre Nacht, oder Blücher käme; aber in diesem Fall muß es heißen: oder der Haushaltsausschuß käme.
Wenn aber nun der Haushalt 1972, wie von Ihnen, Herr Kollege Schiller, zugestanden wurde, schon um 2,8 Milliarden DM höher wird - das sind schon 3 % Mehrausgaben gegenüber den 8,5 %, die Sie angekündigt haben -, wenn weiterhin 1,2 Milliarden DM Minderausgaben ein halbes Jahr nach der Vorlage mitten im Haushaltsjahr von dieser Regierung immer noch nicht auf die Einzelpläne aufgeteilt werden können, dann haben wir doch Grund zu der Annahme, daß die Minderausgaben nicht erfolgen oder nur per Zufall nachgewiesen werden, wenn in einigen Ressorts am Ende Haushaltsreste übrigbleiben. Darüber hinaus gibt es noch bestimmte auf den Bundeshaushalt bereits zukommende Belastungen auf dem Agrarsektor, dem Personalsektor, dem Schuldensektor, dem Kapitaldienstsektor,
({44})
- bei der Ruhrkohle usw., die Mehrausgaben erfordern, nicht zu sprechen von der ungenügenden Defizitdeckung bei der Bahn, Mehrausgaben, die nicht einmal in den jetzt zugegebenen Zahlen enthalten sind. Darum muß auch die Nettokreditfinanzierung, d. h. die Mehrverschuldung des Bundes, erheblich erhöht werden. Die Einnahmen könnten stimmen; das hängt vom Wirtschaftsverlauf ab.
Vor einem Vierteljahr waren Sie selbst und die Herren Ihres Hauses noch anderer Meinung und haben mit Minderannahmen bis zu 1,5 Milliarden DM gerechnet. Vielleicht bleiben sie uns erspart. Aber wenn nun heute Ihre Rechnung zum Basisjahr 1972 papierkorbreife Makulatur ist der Haushalt muß grundlegend neu gefaßt werden -, dann ist doch die Finanzplanung 1973 bis 1975 das erste Märchen, das unter dem Namen Schiller erscheint, aber nicht unter dem des Dichters, sondern unter dem des Wirtschaftsministers.
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Denn wenn die Basis des Jahres 1972 so stark verschoben wird, nämlich im Sinne von Mehrausgaben und wesentlich höheren Kreditaufnahmen, dann tritt doch mit dem Jahr 1973 und mit jedem weiteren Jahr in stärkerem Maße das Gesetz der perspektivischen Verzerrung auf. Wenn schon die Basis falsch geschätzt ist, und zwar um einen optisch korrigierten, schöngefärbten Haushaltsansatz zu bieten, dann ist diese Basis für die Jahre 1973, 1974, 1975 eine Quelle ständig größer werdender Fehler. Darum sollte die Bundesregierung auch ihre Finanzplanung von 1973 bis 1975 zurückziehen und neu vorlegen.
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Das wäre auch eine Stunde der Ehrlichkeit, wenn sie sie neu vorlegte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollege Schiller sprach davon, daß die Opposition ins Abseits gegangen sei, daß er damals in der ersten Hälfte - in der Rede steht, glaube ich, im Februar des Jahres 1970 Herrn Kollegen Stoltenberg, dessen Anwesenheit er vermißt - ich habe Ihr Bedauern früher nicht so bemerkt, aber ich nehme es jetzt gern zur Kenntnis , die Hand geboten habe,
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- ihm angedeutet habe, daß er ihm die Hand biete, § 26 anzuwenden. Das wäre beinahe der SchillerStoltenberg-Pakt geworden. Wenn ich mich noch recht erinnere, liegt die Entscheidung über die Anwendung von § 26 des Stabilitätsgesetzes ausschließlich bei der Bundesregierung.
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Der Ihnen vorliegende Text sieht anscheinend ein Vetorecht der Opposition vor, und darum haben Sie Herrn Stoltenberg die Hand geboten, damit Ihnen die Opposition keine Schwierigkeiten macht. Nein, Herr Kollege Schiller, wir haben nur die Fehler gesehen, die im Herbst 1969 begangen worden sind, und haben von dieser Bundesregierung erwartet, daß sie pflichtgemäß handelt und nicht nach Opportunität und Popularität und nach Bundesgenossen schielt, die man zuerst beschimpft und dann heranzieht, wenn es in diesem Hause um unpopuläre Dinge geht.
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Wir haben uns auch im Juli 1970 bei dem Gesetz über den Konjunkturzuschlag von 10 0/0 nur deshalb der Stimme enthalten, weil dieser Konjunkturzuschlag im Juli 1970 bereits keinen Sinn mehr hatte, seine Wirkung bereits weitgehend verfehlen mußte.
Ich habe damals hier auf meine Pressekonferenz vorn Oktober, die letzte, die ich als Finanzminister hatte, verwiesen und gesagt, daß es notwendig wäre, den Konjunkturzuschlag noch im Jahre 1969 einzuführen. Ich habe in unzähligen Reden gesagt: Hätten wir nicht Wahlkampf gehabt, wäre das Thema Konjunkturzuschlag schon in der Zeit der Großen Koalition - das war aber damals bei dem Partner hoffnungslos - behandelt worden. Im Juli 1970 hat man den Konjunkturzuschlag dann eingeführt, um die unerträgliche Preissteigerungsrate von 3,8 % zu dämpfen. Eingestellt wurde seine Erhebung bei 5,3 %, und die Zurückzahlung ist bei 5,8 % angekündigt worden; jetzt haben wir 5,2%.
Die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags schafft natürlich neue Probleme. Ist es richtig, ihn jetzt zurückzuzahlen? Ich gebe Ihnen zu, es ist richtig, ihn auf einmal zurückzuzahlen; denn Sie haben sich zum Durchstarten bei hoher Inflationsrate entschieden, nur nicht zum vollen Durchstarten. Sie geben nur Dreiviertelgas, aber Sie haben sich zum Durchstarten entschieden. Deshalb ist für die voraussehbare Zukunft kein Zeitpunkt mehr zu erwarten, wo die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages etwa weniger schädlich wäre, als sie heute ist. Deswegen muß das ganze Problem des Konjunkturzuschlages völlig neu durchdacht werden; denn der § 26 ist von der Regierung nicht angewendet worden, weil die Rückzahlung nicht vorgesehen ist. Wir haben damals die Verzinsung verlangt; die ist von der Bundesregierung abgelehnt worden. Wir haben eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, und Sie können nicht leugnen, Herr Kollege Schiller, daß der Substanzverlust der Steuerzahler beim Konjunkturzuschlag rund 1,2 Milliarden DM beträgt. Er teilt sich ungefähr hälftig auf den eingetretenen Zinsverlust und auf den eingetretenen Substanzverlust auf. Wissen Sie, daß diese 1,2 Milliarden DM die Eigenfinanzierungsquote für 75 000 Eigentumswohnungen wäre?
({50})
Für 75 000 Eigentumswohnungen! Das ist ein quantitativer Vergleich, der Sie zum Nachdenken anregen sollte. Wir haben uns damals nicht ins Abseits gestellt, sondern wir haben uns der Stimme enthalten, weil wir dieser verpfuschten Konjunkturpolitik nicht durch einen nachträglichen Segen noch eine Rechtfertigung erteilen wollten.
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Herr Kollege Schiller, Sie haben mich heute über den Unsinn belehrt, daß das hohe Zinsniveau die Auslandsgelder angelockt hätte.
({52})
- Ja, Sie haben heute zwischen den Zeilen angedeutet, daß es dafür noch andere Gründe gebe. Ja, es gibt noch andere Gründe, aber Sie taten gut daran, in der so aufgebauten Rede auf diese anderen Gründe nicht einzugehen. In dem Fall darf ich Sie ergänzen. Das ist eine Funktion, die ich schon öfter mit Erfolg übernommen habe.
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Nach der Aufwertung 1969 waren wenige Milliarden abgeflossen, aber es waren einige abgeflossen. Der Tiefstand war im Januar 1970 erreicht. Im Januar 1970 setzte ein langsam ansteigender Dollarstrom ein, bis sich der Strom zur Lawine verwandelte. Die Lawine kam Ende April/Anfang Mai 1971. Wenn Sie die damaligen Berichte der Bundesbank nachlesen, finden Sie in den Zeilen und zwischen den Zeilen den Vorwurf der Bundesbank, daß die Bundesregierung ihre stabilitätspolitischen Verpflichtungen nicht ernst genug nehme. Sie haben sich ja damals, als Sie die Steuervorlage abgesetzt haben, selbst auf einen Bundesbankbericht berufen und haben gesagt, auf Grund dieses Bundesbankberichtes sei es unverantwortlich, die Steuersenkungen zu gewähren. Das war, wie Sie wissen, der Unterschied zwischen dem 5. und dem 19. Juni.
Die Bundesbank hat eher zu dämpfen begonnen als die Bundesregierung. Der Bundesbank standen stumpfe Instrumente zur Verfügung: in der Hauptsache das Instrument des Diskontsatzes und das Instrument der Mindestreserven. Durch die Erhöhung der Mindestreserven sind die Kredite verknappt worden; durch die Erhöhung des Diskontsatzes sind die Kredite verteuert worden. Aber, Herr Kollege Schiller, sie sind doch nur für den verteuert worden, der nicht die nötigen Sicherheiten, die nötigen Verbindungen und die nötigen Kenntnisse hatte, um sich wesentlich billiger und in praktisch unbegrenzter Menge Auslandskredite verschaffen zu können.
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Sie können doch - und ich muß es Ihnen hier einmal sagen - einfach nicht bestreiten, daß eine erhebliche Zahl von hochvermögenden und gut verdienenden Bürgern unseres Landes, die die Voraussetzungen dafür aufbrachten, durch diese Ihre Währungspolitik in den Genuß steuerfreier und arbeitsloser Einkommen in Millionenhöhe gekommen sind.
({55})
Während der kleine Mann - der Handwerker, der Einzelhändler, der kleine und der mittlere Industrielle - es schwer hatte, überhaupt einen Kredit zu bekommen, und jedenfalls nicht so viel bekam, wie er wollte,
({56})
während er einen Zins von 11 1/2 bis 12 1/2 % zahlen mußte, bekam der andere aus dem Ausland in unbegrenzter Höhe einen Kredit mit einer Kostenlage von 8 oder 8 1/2 %.
Es gibt nicht wenige Fälle, Herr Kollege Schiller, in denen Sie mit Ihrer scheinbar marktwirtschaftlichen Ideologie - ich sage: scheinbar marktwirtschaftlichen Ideologie - die Möglichkeit gegeben haben, Auslandskredite aufzunehmen und sie im Inland zu einem höheren Zins zu verleihen, als man im Ausland zahlen mußte. Und wenn die Kreditnehmer dann ein halbes Jahr durchgehalten haben, hatten sie den Gewinn. Aber die haben das Geld in der Zwischenzeit noch gar nicht abgezogen; die warten auf weitere Leistungen Ihrerseits auf diesem Gebiete. Aber wer den Kredit - nehmen
wir einmal einen Kredit von 5 Millionen Dollar im Dezember zurückgezahlt hat, der hat im Februar, März oder April 18 Millionen Mark gutgeschrieben bekommen. Dafür hat er 8 bis 81/2 % bei den damaligen Habensätzen gezahlt. Er hat im Inland mühelos für 9 bis 91/2% weiterverleihen können. Dann hat er ein Dreivierteljahr später den Kredit von 5 Millionen Dollar - also 16 Millionen DM - zurückgezahlt, und 2 Millionen DM waren sein arbeits- loses, steuerfreies Einkommen. Und da können Sie doch nicht sagen, daß diese Regierung für den kleinen Selbständigen eingetreten ist und die Großverdiener schröpft!
({57})
Ich gehöre nicht zu den volksrednerischen Klassenkämpfern, die gegen das Großkapital, gegen die Großverdiener usw. in der Öffentlichkeit zu Felde ziehen, weil die in der Minderheit sind und man so besser bei der Mehrheit Sympathien bekommt. Aber ich scheue mich nicht, in jedem Kreise - auch vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie und vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag - zu sagen, daß diese Währungspolitik den Großbesitzern und Großverdienern in unserem Lande arbeits- und steuerfreie Einkommen in einer Höhe gebracht hat, wie sie ein normaler Handwerker oder kleiner Industrieller mit härtester Arbeit nicht einmal in zehn Jahren erwerben kann. Und das hat doch mit „sozial" nichts mehr zu tun!
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Der Strom kam mit dem Zinsgefälle. Und dann kamen die Gutachten. Wir haben uns ja schon oft über die Kausalwirkung unterhalten. Die wollen Sie nicht sehen, Herr Kollege Schiller, aber außer Ihnen sehen sie alle anderen. Dann kamen also die Gutachten - sicher nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Arbeit Ihres Hauses -, in denen Wechselkursfreigabe oder Aufwertung empfohlen wurde. Diese Gutachten wurden von der Bundesregierung als wertvoller Beitrag begrüßt, und dann wurde aus dem Strom eine Lawine. Es kam Ihr größtes Heldenstück - in Wirklichkeit eine Verzweiflungstat -: die Freigabe der Wechselkurse, von der Sie heute sagen, Sie hätten damit die Reform des Weltwährungssystems eingeleitet oder herbeigeführt. Ich habe dazu damals schon in meiner Rede gesagt: am deutschen Wesen soll nicht immer allzu penetrant die Welt genesen; das ist nicht unbedingt gut. Sie wissen, wir haben hier einmal eine Diskussion darüber ausgetragen.
Nun kommen die Washingtoner Beschlüsse. Was ist nach den Washingtoner Beschlüssen abgeflossen? Wenig. Was ist zugeflossen? In der Zwischenzeit wesentlich mehr, als abgeflossen ist. Dasselbe Problem ergibt sich wieder. Ich hätte heute eigentlich erwartet, daß Sie auf die Rede Ihres Kollegen Arndt, Ihres ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs, eingegangen wären. Ich sehe diese Rede heute nur in der Fassung der „Süddeutschen Zeitung" mit der Überschrift: „Arndt droht" den USA „mit Dollar-Boykott". Er hat in der Rede in Tokio angekündigt, daß unter Umständen drastische Maßnahmen ergriffen werden müßten, um den Zustrom
von Dollar gegen stabile Währungen zu unterbinden. Damit sind wir wieder bei dem alten Thema.
Sie haben das Bardepot-Gesetz angeführt. Das Bardepot-Gesetz, Herr Kollege Schiller, zieht nicht! Das Bardepot-Gesetz bekämpft nur zum Teil zinsinduzierte Zuflüsse. Ich habe mich in der Bankenwelt in der Zwischenzeit, seit Sie es angewandt haben, genau umgehört. Da sieht es so aus, daß die Auslandskreditaufnahme unvermindert weitergeht und man sogar die Bardepoteinlage leistet, die dann vom ausländischen Kreditgeber dazugegeben wird. Wenn der 2 Millionen DM vom Ausland will, nimmt er 2,8 Millionen DM auf, deponiert 800 000 DM bei der Bank und hat, wie gewollt, 2 Millionen DM, und das auch heute noch zu einem Zinssatz, der nicht höher ist, zum Teil noch niedriger, als er zur Zeit in der Bundesrepublik gültig ist. Mit dem Bardepot-Gesetz sind nicht einmal zinsinduzierte Zuflüsse voll zu bremsen, wie Sie gemeint haben.
Herr Kollege Schiller, Sie haben mich immer als einen bösen Dirigisten angeprangert. Letztes Jahr, als wir den währungspolitischen Diskurs miteinander gehabt haben, haben Sie sich als apostolisch reiner Engel der Marktwirtschaft in wohlwollende Empfehlung gebracht, dafür aber mich als den teuflischen Dirigisten mit dem Pferdefuß und mit dirigistischem Gestank bezeichnet.
({59})
- Ich blieb nur in Ihrer heutigen Diktion, Herr Kollege Schiller. Sie sagten, Sie würden die Marktwirtschaft erhalten und der böse Strauß wolle die Devisenkontrolle einführen. Ich mache gar kein Hehl daraus, daß ich in Übereinstimmung mit den meisten Industrieländern der Welt eine Kontrolle der Devisenbewegungen größeren Umfanges, solange der Euro-Dollar-See nicht ausgetrocknet ist, für unvermeidbar halte. Sie haben es ja heute in Ihrem Plädoyer gegen sich selbst zugegeben. Sie haben gesagt: Hier hat sich gezeigt, daß die Behauptungen, vom Zinsgefälle käme der Zustrom, falsch seien.
Es sind andere Gründe. Heute wird doch kein Mensch mehr behaupten, daß unsere Währung im Export unterbewertet sei und deshalb neue währungspolitische Maßnahmen notwendig seien. Man frage unsere Exportwirtschaft, vor allem in ihrer Konkurrenz gegenüber Frankreich, England und anderen Ländern, aber auch gegenüber den USA und gegenüber Japan! Hier kann von Unterbewertung keine Rede mehr sein. Vergleicht man nämlich - wozu ich leider keine Zeit mehr habe - die Entwicklung der industriellen Erzeugerpreise seit 1960, so haben fast alle Länder mehr inflationiert als wir; das stimmt. Aber die Währungsänderungen, die Verschiebung der Paritäten sind wesentlich größer als die Mehr-Inflation in anderen Ländern. Die Franzosen hatten in diesen elf Jahren z. B. 24 % mehr Inflation auf dem Gebiet der industriellen Erzeugerpreise. Ich rede nicht von Lebenshaltungskosten der Index paßt hier nicht -. Aber die Währungsrelationen zwischen Frankreich und uns haben sich seit der Zeit um 42 % zugunsten der franStrauß
zösischen Exporteure und zu Lasten der deutschen Exporteure verschoben. Gut, das sei jetzt erledigt, wir wollen darüber nicht mehr reden. Das ist Tatsache. Es hat bis zu einem gewissen Grad auch gesundheitsfördernd gewirkt; aber nur bis zu einem gewissen Grade - wenn man sagt: nur was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Aber die Dosis ist nicht beliebig zu steigern, das wissen Sie.
Darum ist jetzt nicht mehr über währungspolitische Maßnahmen zu reden. Sie stehen heute hier und erklären Ihren Bankrott, eingekleidet in die Worte des Angriffs gegen uns. Wenn das Zinsgefälle heute nach Ihrer Meinung nicht mehr existiert und der Zustrom trotzdem kommt, gibt es dafür doch nur zwei Erklärungen: Entweder sind wir aufwertungsverdächtig, was wir nicht sind, nicht sein dürfen und was diese Regierung mit einer Lautstärke und Deutlichkeit verkünden müßte, die in der ganzen Welt endgültig als glaubwürdig, trotz ihrer sonstigen Unglaubwürdigkeit, angenommen würde.
({60})
Wenn wir aber nicht aufwertungsverdächtig sind, gibt es doch nur noch den einen Grund, daß dieser See von rund 50 Milliarden Euro-Dollar - das sind 160 Milliarden DM jederzeit in Richtung dieser Währung oder in Richtung jener Währung in Bewegung gesetzt werden kann. Alle anderen Länder, auch Großbritannien, auch Belgien, auch Holland, auch die Schweiz, haben mit offenen oder mit versteckten administrativen Maßnahmen ihre Wirtschaft davon abgehalten, größere Kredite im Ausland aufzunehmen, ohne diesen Euro-Dollar-Besitzern zu erlauben, ihre Euro-Dollars in ihren Ländern in größerem Umfang unterzubringen. Deshalb haben Sie mich als Dirigisten angegriffen; ich bin deshalb nicht gestorben. Sie haben gesagt: Die Marktwirtschaft erlaubt so etwas nicht. Und heute müssen Sie zugeben, daß Ihr Bardepot-Gesetz nicht ausreicht, daß es nicht einmal die zinsinduzierten Zuflüsse ausreichend abwehrt, geschweige denn gegen das Problem der Euro-Dollars eine ausreichende Waffe ist. Hier muß die Bundesregierung einmal sagen, was sie in Gemeinschaft mit den EWG-Partnern in Wirklichkeit tun will. Denn sonst kommt der unaufhaltsame Strom des Dollars wiederum auf uns zu.
Herr Kollege Schiller, ich möchte von Ihnen gerne einmal wissen, wie Sie sich die Reform des Weltwährungssystems denn vorstellen. Beim letzten Mal habe ich Sie gefragt, und Sie haben gesagt, es sei noch nicht Zeit. Wir wollen doch einmal wissen: Wer soll z. B. die Funktion der Reseverwährung übernehmen? Welcher Anpassungsmechanismus löst nach Meinung der Bundesregierung die Probleme der Währungspolitik, und vor allem, wie kann ein ausreichender Prozentsatz der in der Welt herum-schwimmenden Euro-Dollars - wahrscheinlich nur durch Vereinbarung der Notenbankpräsidenten möglich - nach den USA zurückgeholt und dort für die Währungen der übrigen Länder unschädlich eingelagert werden? Das sind die Probleme, die sich hier stellen.
Nach Ihrer Meinung hatte die Opposition unrecht, als sie sagte, die Zinspolitik sei es gewesen. Nein, die Zinspolitik hat den Strom angelockt. Aus dem Strom wurde eine Lawine. Ich habe aus meiner Meinung nie ein Hehl gemacht. Es war schon unser Dissens in der Großen Koalition, daß ich die Anwendung des Außenwirtschaftsgesetzes immer für notwendig gehalten habe, um diese Flut fernzuhalten und um nach dem Fernhalten mit den übrigen Landern und den USA zusammen die Maßnahmen zu besprechen, die notwendig sind, wenn der EuroDollar-See ausgetrocket werden soll. Darauf haben Sie heute wieder keine Antwort gegeben. Das ist doch das eigentliche Problem.
Lassen Sie mich ein Letztes behandeln. Herr Kollege Schiller, die Neuverschuldung des Bundes und die Neuverschuldung der öffentlichen Hände überhaupt steigen in einer für die heutige Konjunktursituation nicht zu verantwortenden Weise.
({61})
Sie hatten 4,7 Milliarden DM eingeplant. Das war angesichts der Konjunktursituation schon hoch. Bei den 4,7 Milliarden DM bleibt es aber nicht, da die 4 Milliarden DM Steuererhöhungen verschluckt sind, nicht mehr zu Buche schlagen und nur einen Teil der Schlaglöcher gestopft haben und da Mehrausgaben in der Größenordnung von 3 bis 4, unter Umständen sogar 5 Milliarden DM herumschwimmen; 2,8 Milliarden DM geben Sie zu, 1,2 Milliarden DM Minderausgaben sind in keiner Weise belegt. Sie müssen also 3 bis 4, unter Umständen sogar 5 Milliarden DM auf dem Wege der Mehrverschuldung decken.
({62})
Dazu kommen die Nebenherfinanzierungen bei Öffa, bei ERP, in der Krankenhausfinanzierung usw. Ihre Annahme, daß der Bund sich stärker verschulden könne, aber die Länder und Gemeinden in diesem Jahr weniger bräuchten, ist evident falsch, Herr Kollege Schiller.
({63})
Sie müssen im Bund als Minimum 7,5 Milliarden DM, im Haushalt erkennbar, aufnehmen. Wahrscheinlich werden es bis zu 9 Milliarden DM werden. Die Nebenherfinanzierung hat der Rechnungshof früher so sehr gerügt. Wir haben diese Sünde in kleinem Umfang, als läßliche Sünde begangen. Sie ist von Ihnen zur Kapitalsünde und Dauersünde ausgebaut worden, sie ist beinahe die Schillersche Erbsünde geworden.
({64})
Bei der Nebenherfinanzierung, der Finanzierung neben den öffentlichen Haushalten, steht der Kapitaldienst in den Haushalten, auch Zinszuschüsse. Das andere wird dann über KfW und andere Kreditinstitute finanziert. Die Bundesbank bezeichnet 12,5 Milliarden DM als inflationsunschädlich. Wenn der Bund 7,5 bis 9 Milliarden DM für sich in Anspruch nimmt - nehmen wir den schlechteren Ansatz, nur 7,5 Milliarden DM für den Bund -, bleiben nur 5 Milliarden DM übrig. Länder und Gemeinden brauchen aber mindestens soviel, wie der Bund braucht, nämlich 7,5 Milliarden DM, wahrscheinlich wesentlich mehr. Ihr Haus hat es ein Märchen genannt, als wir von einem Verschuldungs10260
bedarf der öffentlichen Hand von 18 Milliarden DM sprachen und mit der Nebenherfinanzierung, wenn man Bahn und Post mit einbezieht, auf einen Betrag von 25 Milliarden DM kamen. Aber lassen wir Bahn und Post und Nebenherfinanzierung heraus! Dann sind es 15 Milliarden DM als Minimum. Da müssen Sie viel Glück haben. Es geht bis zu 18 Milliarden DM hinauf.
Diese Verschuldungsquote ist angesichts der gegebenen Konjunktursituation, bei der gar nicht genügend Dämpfung vorhanden ist, noch inflationär. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Sie müssen aber diese Verschuldung aufnehmen, weil es anders gar nicht möglich ist.
Sie haben hier nicht erklärt, was der Konjunkturrat der öffentlichen Hand Ihnen gesagt hat, als Sie darüber sprachen:
Für Bund, Länder und Gemeinden, ohne Bahn und Post, ergibt sich nach einer von Schiller vorläufig aufgemachten Rechnung folgendes Finanzierungsdefizit:
- ich entnehme das der Niederschrift eines Landesbevollmächtigten über die Sitzung -:
Bund 7,5, Länder 6, Gemeinden 5. Macht zusammen 18,5.
Darin sind die Nebenfinanzierung sowie Bahn und Post nicht enthalten.
In der gleichen Sitzung haben die Ländervertreter übereinstimmend festgestellt, daß die Reformillusionen und eine Inflationsmentalität die eigentlichen Fakten der überproportionalen Steigerungen der Länderhaushalte seien. Es heißt dort weiter:
Die Länder sehen sich angesichts der in allen Bereichen, im Bereich der Bildung, Krankenversorgung, Umweltschutz, Verkehr, maßgeblich auf Grund der vom Bund gesetzten Zielvorstellungen nicht in der Lage, die Ausgabenflut zu bremsen. Trotz überproportionaler Steigerungen der Haushalte und der Neuverschuldung würden vielfach die Investitionsausgaben sinken.
Das hat dieser Landesbevollmächtigte in seinem Protokoll beim Ablauf der Sitzung für seinen Ministerpräsidenten festgehalten. Herr Kollege Schiller, darüber hätten wir hier heute gern etwas gehört. Statt Ihrer von Attacken gespickten Märchenstunde hätten Sie ein Bild der Wahrheit bei der Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht bieten müssen.
({65})
Ich komme zum vorletzten Punkt. Herr Kollege Junghans, Sie haben mich wegen der 17 % Mehrwertsteuer angesprochen, die im Zusammenhang mit meinem Namen genannt worden sind. Ich darf Ihnen sagen, was ich in Wirklichkeit ausgeführt habe; Herr Kollege Schiller war dabei. Herr Kollege Schiller und ich waren beide der Auffassung, daß die alte Behauptung, direkte Steuern seien sozial und indirekte Steuern seien unsozial, in dieser Primitivität nicht aufrechterhalten werden könnte. Ich teile die Auffassung des Kollegen Schiller. Wir haben beide übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß eine gewisse Erhöhung der indirekten Steuern mit entsprechenden sozialen Ausgleichsleistungen wahrscheinlich unvermeidlich sei und im Hinblick auf die EWG-Harmonisierung uns ohnehin abgefordert werde.
Ich habe in dem Zusammenhang geschildert, wie groß die Schwierigkeiten sind. Die Franzosen haben 23 % Mehrwertsteuer, wir haben 11 %. Die arithmetische Mitte sind 17 %. Wenn die Franzosen auf 17 % heruntergehen, entsteht bei ihnen ein Ausfall von 25 Milliarden NF. Wenn wir von 11 auf 17 % erhöhen, entsteht bei uns eine Mehreinnahme von rund sechs mal vier - 25 Milliarden DM. Ich habe in dem Zusammenhang gesagt:
Wir liegen bei 11 %, und wenn wir 17 % anvisieren - was ich nicht empfehle -,
so steht es hier im Wortlautprotokoll, laut Tonband und zwei vereidigten Stenographen des Bundestages, die diese Sitzung aufgenommen haben. wäre das für uns ein Mehrbetrag von 25 Milliarden DM, ...
Daraufhin fragte mich der Diskussionsleiter, Herr Sweerts-Sporck:
Herr Strauß, Sie sagen, 17 % anzuvisieren würden Sie nicht empfehlen. Was würden Sie denn anvisieren?
Meine Antwort:
Das läßt sich nicht in der Form sagen, daß man einen Prozentsatz in die Landwirtschaft stellt. Die Gesamtsteuerlast kann nach meiner und unserer Überzeugung praktisch nicht wesentlich angehoben werden, ohne daß negative, wirtschaftsschädigende Wirkungen eintreten.
Ich habe dann im folgenden dafür plädiert, daß bei einer Anhebung der indirekten Steuern Sozialentlastungen auf dem Gebiet der direkten Steuern eintreten müßten, als da sind: Erhöhung des Existenzminimums, Ausbau des Familienlastenausgleichs, eine sozialere Staffelung des Tarifs, als Sie sie vorhaben mit der Anhebung von 19 auf 20 % und mit dem Sprung nach der Proportionalzone gleich von 20 auf 26 %, statt eine durchgehende Progressionszone zu wählen; dazu käme unter Umständen auch noch eine Verbesserung der Sparförderung für die kleineren und die mittleren Einkommensbezieher. Das wären die sozialen Ausgleichsleistungen, die man bei Erhöhung der indirekten Steuern den Beziehern der kleineren und der mittleren Einkommen gewähren müßte. Den Rentnern müßte man eine Zulage gewähren, weil sie von den Ausgleichsleistungen im Rahmen der direkten Steuern nichts hätten.
Herr Kollege Junghans, Sie können das Protokoll jederzeit von mir bekommen. Ich hoffe, Sie sind damit zufrieden.
Wir haben das Thema Steuerreform, Herr Kollege Schiller, nicht angeschnitten. Aber der Kollege Junghans hat es getan. Sie hätten diese Gelegenheit heute benutzen sollen. Da Sie das nicht getan haben, so benutzen Sie sie noch!
Sie haben der Steuerverwaltung dafür gedankt, daß sie die schwierigen Gesetze vollzieht, daß sie
auch die Aufgabe freudig erfüllen werde, jetzt den Konjunkturzuschlag zurückzuzahlen. Aber Sie behaupten immer noch, daß Sie in der Lage wären, die Steuerreform am 1. Januar 1974 in Kraft zu setzen. Ich sage Ihnen im Namen der gesamten Opposition eines: Wir lassen das nicht zu. Jedenfalls wird die Steuerreform nicht mit unserer Zustimmung in Etappen verabschiedet werden. Es geht nicht an, daß man die vermögensabhängigen Steuern unter dem Stichwort Steuerreform ohne Aussagen über die Änderung der Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie der Gewerbesteuer erhöht bzw. verlangt, daß wir diese Vorhaben ohne Kenntnis Ihrer Vermögensbildungspläne und Ihrer Mehrwertsteuerpläne isoliert für sich behandeln. Und wenn Sie sagen, es wäre möglich, die Steuerreform zum 1. Januar 1974 in Kraft zu setzen, dann gilt das nur, wenn Sie die vermögensabhängigen Steuern, abgetrennt von der übrigen Steuerreform, in den Steuererhöhungsplänen für sich allein hier in diesem Hause gegen uns durchziehen wollen. Im Herbst kommen die Vorlagen über Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer. Es ist diesem Parlament nicht zuzumuten, daß man vor einer Bundestagswahl - wenn wir sie normal ansetzen: im Herbst des Jahres 1973 - im ersten Halbjahr 1973 ein Steuerreformwerk unter Zeitdruck und unter dem Druck von Wahlen verabschiedet, ein Reformwerk, das kühlen Verstand, den Verzicht auf opportunistische Lösungen und deshalb weite zeitliche Distanz von kommenden Wahlentscheidungen erfordert.
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Darüber gibt es doch nicht den geringsten Zweifel. Angenommen, wir würden diese Steuerreform, sagen wir, im Juni 1973 verabschieden, dann brauchen die Steuerverwaltung und die Wirtschaft - und wenn Sie das nicht wissen, Herr Kollege Schiller, dann erkundigen Sie sich bei Ihrer Steuerverwaltung - ein ganzes Jahr, um Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer, was die meiste Arbeit macht, in ihren Verwaltungen und Betrieben auf das neue System umzustellen. Darum sagen Sie doch hier einmal, was Sie wollen. Bleiben Sie beim 1. Januar 1974 mit der Verabschiedung eines Teilpaketes? Dann sagen wir nein dazu. Legen Sie das Ganze vor? Dann müssen Sie auf das Jahr 1975 oder 1976 kommen, weil 1973 eine normale Behandlung und Verabschiedung im Finanzausschuß angesichts der gegebenen Umstände nicht mehr möglich ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das waren die Probleme, die beim Jahreswirtschaftsbericht hier auch vom Herrn Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen anders hätten behandelt werden müssen, als sie behandelt worden sind.
Wenn Sie, Herr Kollege Junghans, uns hier vorwerfen, daß wir im Lande draußen die Unternehmer verunsicherten, daß wir den Sozialdemokraten böse Pläne unterstellten, dann darf ich Sie nur bitten, das zu lesen, was heute im „Handelsblatt" über die Eckwerte der Bundesregierung und über die Eckwerte des SPD-Parteitages steht. Lesen Sie die genauen Zahlenbeispiele und daß die Antwort des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen auf diesen damaligen Artikel im „Handelsblatt" schlechterdings falsch ist, weil er von falschen Gewinnvoraussetzungen, nämlich von einer bis zu 20%igen Kapitalverzinsung, ausgeht. Diese heute in der Wirtschaft fast nirgendwo mehr anzutreffende Voraussetzung führt dann zu den optimistisch gefärbten Zahlen. Lesen Sie das, bevor Sie darüber reden, und lesen Sie bitte auch, was der neu gewählte Bundesvorsitzende der Jungsozialisten kurz nach seiner Wahl als sein Programm bekanntgegeben hat. Sie mögen sagen, das seien Jugendtorheiten; dann ist es - das gebe ich zu - ein innerparteiliches Problem. Er sagte wörtlich: „Ich bin der Auffassung, daß es gute Gründe dafür gibt zu sagen, daß die derzeitige kapitalistische Wirtschaftsordnung überwunden werden muß." Und in einer anderen Passage heißt auf die Frage „Kann Ihres Erachtens die soziale Marktwirtschaft überhaupt im Sinne der Jungsozialisten reformiert werden und gleichzeitig private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und freie Unternehmerentscheidung erhalten bleiben?" die Antwort: „Nein, das kann nicht sein!" Ja, wenn das die verbindliche Meinung der Generation bei Ihnen ist, die morgen diese Ränge hier einnimmt, dann können Sie doch uns als Opposition weder das Recht absprechen noch die Pflicht verübeln, daß wir vor dieser Entwicklung warnen und diese Warnung auch in der Öffentlichkeit gebührend zum Ausdruck bringen.
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Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 14 Uhr. Wir beginnen wieder mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist unterbrochen.
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Die Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
- Drucksache VI/3243 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen, Frage 1 des Herrn Abgeordneten Baier:
Wenn die Mitteilung der Badischen Landeskreditanstalt in Karlsruhe zutrifft, daß die zur Verfügung stehenden Bundesmittel zur Förderung von Instandsetzungs- und Modernisierungsarbeiten in Altwohngebäuden bereits durch Anträge belegt sind und weitere Anträge auf Bewilligung derartiger Mittel nicht mehr angenommen werden können, frage ich die Bundesregierung, was getan wird, damit auch in den übrigen zehn Monaten dieses Jahres die dringenden Instandsetzungs- und Modernisierungsarbeiten in Altwohngebäuden gefördert werden können.
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Ravens. Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: Herr Kollege, es ist mir bekannt, daß noch eine erhebliche Anzahl .von Wohngebäuden instand10262
Parlamentarischer Staatssekretär Ravens
gesetzt und modernisiert und dafür öffentliche Mittel gewährt werden müssen. Im Haushaltsplan meines Hauses für das Jahr 1972 sind deshalb wieder 20 Millionen DM als Darlehen und 9 Millionen DM als Zinszuschüsse - insgesamt erfodert diese Jahresmaßnahme 1972 an Zinszuschüssen einen Bereitstellungsrahmen von 45 Millionen DM - vorgesehen. Mit diesen Mitteln werden bei einem Zinsverbilligungseffekt von 3% Kapitalmarktmittel in Höhe von 300 Millionen DM mobilisiert. Diese Mittel unterliegen auch nicht mehr wie im Jahre 1971 der konjunkturellen Kürzung um 15% bei den Darlehen und 40% bei den Zinszuschüssen. Die Mittel werden umgehend nach Verabschiedung des Haushaltsplanes über die Länder und Kreditinstitute den Eigentümern von Altwohngebäuden zur Verfügung gestellt werden. Es ist ferner beabsichtigt, diese Maßnahmen auch über das Jahr 1972 hinaus fortzuführen und die dafür vorgesehenen Mittel nach Möglichkeit anzuheben.
Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Modernisierungsmittel immer knapp bemessen waren. Sie sind auch mehr dazu gedacht, die Maßnahmen initiativ zu beeinflussen. Deshalb geht die Bundesregierung auch davon aus, daß die Länder die Instandsetzungsmaßnahmen mit eigenen Mitteln ebenfalls fördern.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneter Baier.
Herr Staatssekretär, ich habe den Eindruck, daß Sie auf meine Frage nicht eingegangen sind. Ich habe gefragt - und ich möchte diese Frage wiederholen -: In welcher Weise gedenken Sie, wenn es so ist, wie die Badische Landeskreditanstalt feststellt, daß nämlich bereits in den ersten beiden Monaten dieses Jahres die zur Verfügung stehenden Bundesmittel verbraucht sind, für die restlichen zehn Monate die Förderung der Modernisierung des Altwohnhausbesitzes vorzunehmen?
Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: Herr Kollege Baier, verbraucht sind die Mittel des Jahres 1971 und nicht die des Jahres 1972. Diese Mittel kann mein Haus naturgemäß erst nach Verabschiedung des Haushalts durch den Deutschen Bundestag freigeben, und das werden wir tun. Unmittelbar nach Verabschiedung des Haushalts werden wir diese Mittel zur Verfügung stellen.
Vizepräsidet Frau Funcke: Eine zweite Zusatzfrage.
Darf ich es dann so verstehen, daß Sie weitere zusätzliche Mittel für das Haushaltsjahr 1972 noch im Laufe dieses Jahres zur Verfügung stellen, um die vorliegenden Anträge zu bedienen?
Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen:
Wir werden, Herr Kollege Baier, unmittelbar nach Verabschiedung des Haushalts, wenn dieses Hohe Haus es so beschließt, 20 Millionen DM als Darlehen und 9 Millionen DM für Zinszuschüsse den Ländern und Kreditanstalten für das Haushaltsjahr 1972 zur Verfügung stellen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, beziehen sich die zuständigen Banken, die solche Anträge mit dem Vermerk zurückweisen, es stünden nicht genügend Mittel zur Verfügung, auf das Jahr 1971? Kann der Antragsteller, dem jetzt im Februar sein Antrag von der Bank zurückgesandt worden ist, im Mai, wenn der Haushalt verabschiedet ist, erneut einen Antrag für das Jahr 1972 stellen? Hat er dann Aussicht, daß er das Geld bekommt?
Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: So ist es. Er kann einen Antrag für das Haushaltsjahr 1972 stellen.
Bekommt er dann Geld?
Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: Dies wird im einzelnen von der Bank geprüft und nicht durch mich.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist die Frage aus dem Geschäftsbereich beantwortet. Vielen Dank, Herr Staatssekretär!
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Die Frage des Herrn Abgeordneten Reddemann soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Damit ist auch dieser Geschäftsbereich erledigt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Freyh zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Herrn Abgeordneten Pieroth auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 4 des Herrn Abgeordneten Werner auf. - Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin!
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht Herr Bundesminister Genscher zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 18 des Herrn Abgeordneten Dr. Slotta auf:
Wann - und gegebenenfalls in welchem Sinne - beabsichtigt die Bundesregierung eine Änderung des § 79 a des BundesVizepräsident Frau Funcke
beamtengesetzes, damit nicht nur - wie bisher - solche Beamtinnen einen Antrag auf Ermäßigung ihrer Arbeitszeit bis zur Hälfte ihrer regelmäßigen Arbeitszeit stellen können, die mit mindestens einem Kind unter 16 Jahren in häuslicher Gemeinschaft leben, sondern auch solche, für die eine Arbeitszeitverkürzung wegen pflegebedürftiger Angehöriger sich als notwendig erweist?
In meinem dem Deutschen Bundestag vorgelegten Erfahrungsbericht über die Teilzeitbeschäftigung und langfristige Beurlaubung von Beamtinnen und Richterinnen ({0}) ist als eine in Erwägung zu ziehende Gesetzesänderung u. a. auch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der geltenden Vorschriften auf Beamtinnen, die pflegebedürftige Angehörige zu betreuen haben, aufgeführt.
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 148. Sitzung am 4. November 1971 einen Entschließungsantrag angenommen, mit dem die Bundesregierung ersucht worden ist „im Benehmen mit den Ländern die in dem Bericht - Drucksache VI/2064 - genannten Änderungsvorschläge zu prüfen und dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezember 1972 einen entsprechenden Gesetzentwurf zuzuleiten".
Die vorbereitenden Erörterungen mit den hauptbeteiligten Bundesressorts und den Ländern in dem hierfür zuständigen Arbeitskreis für Beamtenrechtsfragen sind inzwischen aufgenommen worden. Eine Aussage über den Zeitpunkt für die Einbringung eines Gesetzentwurfs läßt sich erst nach Abschluß der Ressortverhandlungen machen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, kann ich Sie so verstehen, daß von der Bundesregierung in der Tat eine Erweiterung des in § 79 a des Bundesbeamtengesetzes beschriebenen Personenkreises erfolgen wird und daß Sie bestrebt sein werden, diese Novellierung so schnell wie möglich einzubringen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung steht dem Anliegen, das aus Ihrer Fragestellung spricht, sehr positiv gegenüber.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 19 des Herrn Abgeordneten Geldner auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die besoldungsmäßig zu niedrige Einstufung von graduierten Ingenieuren zu beseitigen, vor allem im Hinblick auf die weiter angehobene Ausbildungsqualität durch die Schaffung von Fachhochschulen?
Die Frage, welche Auswirkungen die Errichtung von Fachhochschulen auf die Besoldung von Beamten mit einem Fachhochschulabschluß hat, ist zwar bei den graduierten Ingenieuren besonders aktuell geworden ; sie ist aber auch bei anderen Berufen aufgeworfen und damit von allgemeiner Bedeutung. Die Einstufung der graduierten Ingenieure mit Fachhochschulabschluß kann daher nicht isoliert für sich betrachtet werden. Der Zusammenhang mit der Bildungsreform muß beachtet werden.
Auch der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. März 1971 betont, daß vor einer Neuordnung des gesamten Laufbahnrechts nicht bisher gleich bewertete Beamtengruppen unterschiedlich besoldet werden dürfen. Die Bundesregierung hat zu dem Fragenkomplex auf Grund von Anfragen im Bundestag erst vor kurzem Stellung genommen. Auf die Antworten in der Bundestagsdrucksache VI/2944 und in der Anlage 27 zum Stenographischen Bericht über die Bundestagssitzung vom 28. Januar 1972 darf ich ergänzend Bezug nehmen.
Seien Sie im übrigen versichert, Herr Kollege, daß die Schwierigkeiten und Besonderheiten, die mit Ihrer Frage angesprochen sind, erkannt sind. Es werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um zu einer allgemeinen, angemessenen und befriedigenden Lösung zu kommen.
Eine Zusatztrage.
Herr Minister, können Sie mir in etwa einen Zeitpunkt nennen, zu dem dieses gerade bei den graduierten Ingenieuren anstehende Problem gelöst sein wird?
Wir werden um eine beschleunigte Regelung bemüht sein, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Baier.
Herr Minister, meine Frage geht in dieselbe Richtung. „Beschleunigte Regelung" ist ein sehr dehnbarer Begriff. Ich möchte Sie fragen, ob Sie die Absicht haben und es für durchsetzbar halten, noch in dieser Legislaturperiode für die Besoldung der Graduierten etwas zu tun.
Bei der Entscheidungsfreude und Entscheidungskraft der Bundesregierung handelt es sich nicht um einen dehnbaren Begriff, sondern um eine fast präzise Zeitangabe.
({0})
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe dann die Fragen 20 und 21 des Herrn Abgeordneten Baeuchle auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft geben über Zahl und Aufklärung von Banküberfällen ({0}) in den Jahren 1970 und 1971?
Findet eine gesonderte Ausweisung dieser Fälle in der Bundeskriminalstatistik statt?
Herr Abgeordneter, ich möchte im Interesse einer objektiven Aufklärung der Öffentlichkeit den Sachverhalt in größerem Zusammenhang darstellen.
Bis zum Jahre 1963 schwankte die Zahl der Banküberfälle zwischen 30 und 100 jährlich. Im Jahre 1964 stieg die Zahl auf 202 Banküberfälle; sie erreichte im Jahre 1967 mit insgesamt 430 Banküberfällen den bisherigen Höchststand. Danach sank die Zahl. Mit ursächlich für das Absinken der Zahl der Banküberfälle ist wohl vor allen Dingen die am 2. Februar 1966 in Kraft getretene Unfallverhütungsvorschrift „Kassen" der Verwaltungsberufsgenossenschaft und die am 1. Dezember 1967 in Kraft getretene entsprechende Vorschrift des Gemeindeunfallversicherungsverbandes. Sie enthalten Vorschriften über die Sicherungsmaßnahmen in Banken, allerdings nur Vorschriften, die für kleinere Kreditinstitute gelten, weil sich damals das Hauptgewicht der Überfälle gegen die kleineren Kreditinstitute richtete.
Ausweislich der dem Bundeskriminalamt von den Ländern im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes gegebenen Informationen sind in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1970 235 Raubüberfälle auf Geldinstitute, öffentliche Kassen und Geldboten verübt worden, wovon 108 aufgeklärt wurden. Von den Tätern wurden 5 409 155 DM geraubt. Eine Person wurde getötet und 10 Personen wurden verletzt. Im Jahre 1971 stieg die Zahl der Raubüberfälle auf 354. Aufgeklärt sind bis jetzt 174 Fälle. Der Beuteanteil stieg auf 10 185 000 DM. Getötet wurden zwei Personen und verletzt 25.
Die Bundesregierung hat aus dieser Entwicklung frühzeitig die Konsequenzen gezogen. Bereits in ihrem Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung hat sie auf den Anstieg der Raubkriminalität hingewiesen, die durch Raubüberfälle auf Geldinstitute, Kassen und Geldboten charakterisiert wird.
Die Erkenntnis, daß die bisherigen Sicherheitsvorkehrungen in mancher Hinsicht unzureichend und verbesserungsfähig sind, hat mich veranlaßt, den Schutz von Geldinstituten vor Banküberfällen in der Innenministerkonferenz am 10. September 1971 zur Sprache zu bringen. Die Innenministerkonferenz hat daraufhin in einem Beschluß zum Ausdruck gebracht, daß die in der letzten Zeit wieder zunehmende Zahl von Banküberfällen eine Überprüfung der für die Kreditinstitute geltenden Schutzvorschriften erfordert und darüber hinaus Vorkehrungen für die Erleichterung der Aufklärung der Überfälle und der Ergreifung der Täter vorgesehen werden müssen.
Einer auf meine Anregung im Anschluß an die Innenministerkonferenz vom 10. September 1971 gebildeten Arbeitsgruppe aus Vertretern der öffentlichen Kassen, des Bankgewerbes, der Gewerkschaften, der Berufsgenossenschaften, der Kriminalpolizei und der zuständigen Ministerien unter dem Vorsitz des Präsidenten des Bundeskriminalamtes ist die Aufgabe zugewiesen worden, Vorschläge für einen besseren Schutz der Geldinstitute - auch im Blick auf eine Erleichterung der nach den Straftaten notwendigen polizeilichen Ermittlungen - auszuarbeiten. Die Arbeitsgruppe hat bisher in zwei Sitzungen, und zwar im Dezember und Februar 1972,
eine Reihe zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen für Kassenräume beraten. Die Beratungen werden am 2. und 3. Mai 1972 fortgesetzt und, wie ich hoffe, mit einem sehr guten Ergebnis abgeschlossen werden können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Baeuchle.
An welche Sicherheitsvorkehrungen, Herr Minister, ist insbesondere hier gedacht, die zukünftig noch eingeführt werden sollen?
Herr Abgeordneter, zunächst einmal ist es die Frage, ob es richtig ist, bei der jetzt erkennbaren Zielrichtung der Überfälle auch gegen größere Zweigstellen der Bankinstitute die Schutzvorschriften der Unfallversicherung nur auf die Mitarbeiter von kleineren Bankinstituten zu erstrecken. Wir finden, daß die Mitarbeiter und die Kunden auch größerer Zweigstellen denselben Anspruch auf Schutz haben. Außerdem denken wir daran, eine Reihe von Maßnahmen vorzusehen, die der Polizei die Identifizierung der Täter erleichtern sollen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Slotta.
Herr Bundesminister, Sie sind doch sicherlich mit mir nicht der Meinung, daß die Steigerungsrate der Banküberfälle nach der Regierungszeit des Kanzlers Erhard darauf zurückzuführen ist, daß der damalige Bundeskanzler aufforderte, jede Woche eine Stunde mehr zu arbeiten, und die Bankräuber dies zu wörtlich genommen haben?
({0})
Herr Kollege, die Frage darf nicht beantwortet werden. Sie steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der gestellten Frage.
Sie geht übrigens, Frau Präsidentin, von falschen historischen Tatbeständen aus. Denn der Höhepunkt lag bekanntlich, wie ich dargelegt habe, im Jahre 1967.
Keine Zusatzfrage. - Es sei denn, sie gehört direkt zu der ursprünglichen Frage und nicht zu der letzten Frage. - Bitte schön!
Herr Bundesminister, ist die Bundesregierung bereit, für den Fall, daß durch Unfallverhütungsvorschriften allein eine bessere Sicherung der Banken nicht zu erreichen ist, eventuell auch gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, wie das beispielsweise in Amerika der Fall ist?
Sie ist dazu nicht nur bereit, sondern entschlossen.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich Frage 22 des Herrn Abgeordneten Dr. Arnold auf:
Ist die Bundesregierung bereit, darauf hinzuwirken, daß die Versorgung der Familien von Polizeibeamten, die im Dienst getötet oder dienstunfähig werden, erheblich verbessert wird?
Die Bundesregierung ist mit Ihnen, Herr Kollege, in Sorge darüber, daß besonders in jüngster Zeit in verstärktem Umfange Polizeibeamte in Ausübung ihres Dienstes von Rechtsbrechern getötet oder verletzt werden. Beispielsweise wurden nach der beim Polizeiinstitut Hiltrup zentral für Bund und Länder geführten Statistik in der Zeit vorn 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1971 266 Beamte als durch Rechtsbrecher tödlich verletzt registriert. Die Verantwortlichen in Bund und Ländern sind daher übereinstimmend der Auffassung, daß für solche Fälle die versorgungsrechtliche Stellung der Beamten bzw. ihrer Hinterbliebenen entscheidend verbessert werden muß.
Unter Mitwirkung des Bundes und der Länder ist inzwischen eine Lösung erarbeitet worden. Es ist damit zu rechnen, daß der Bundesrat in seiner Sitzung am 24. März 1972 einen entsprechenden Initiativgesetzentwurf verabschieden wird. Diese von der Bundesregierung und den Landesregierungen für notwendig erachtete Neuregelung hat unter anderem folgendes zum Inhalt:
Erstens. Es wird neu eingeführt die Gewährung einer einmaligen Entschädigung von 40 000 DM für im Dienst angegriffene und dadurch schwerbeschädigte Beamte oder von 20 000 DM für die nächsten Hinterbliebenen von im Dienst durch einen solchen Angriff getöteten Beamten. Die Hinterbliebenen erhalten die Entschädigung neben der laufenden qualifizierten Dienstunfallversorgung.
Zweitens. Die laufende qualifizierte Dienstunfallversorgung wird wie folgt verbessert. Nach geltendem Recht beträgt das Ruhegehalt eines im Dienst durch einen Angriff beschädigten Beamten oder Polizeivollzugsbeamten auf Lebenszeit oder auf Probe 75 v. H. der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge aus der Endstufe der nächsthöheren Besoldungsgruppe, bei Vollzugsbeamten mindestens jedoch aus der Endstufe der Besoldungsgruppe A 7. Das Witwengeld beträgt 60 v. H., das Waisengeld 30 v. H. hiervon. Nach dem Initiativgesetzentwurf soll demgegenüber die laufende qualifizierte Dienstunfallversorgung der Vollzugsbeamten sowie der Beamten der Laufbahngruppe des mittleren Dienstes und ihrer Hinterbliebenen mindestens nach der Endstufe der Besoldungsgruppe A 9 bemessen werden.
Die Bundesregierung wird den Initiativgesetzentwurf des Bundesrates mit ihrer Stellungnahme beschleunigt dem Hohen Hause zuleiten. Die Bundesregierung wäre dem Hohen Hause dankbar, wenn im Interesse unserer Beamten dieses Vorhaben nach Einbringung des Gesetzentwurfs beschleunigt behandelt werden könnte.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, ich darf Ihnen für die Beantwortung dieser Frage danken und damit die Frage verbinden, ob nach Ihrer Auffassung die sehr berechtigte Hoffnung besteht, daß wir in diesem Hause alsbald bei entsprechender Zusammenwirkung zu dieser doch spürbaren Verbesserung in der Versorgungsregelung kommen werden,
Ich kann das uneingeschränkt bejahen, Herr Kollege.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider ({0}).
Herr Bundesminister, in Kenntnis der Bundesratsvorlage, die Sie soeben erwähnt haben, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung bereit, die Hinterbliebenen von Polizeibeamten, die in Ausübung ihres Dienstes getötet worden sind, mit den Hinterbliebenen von. Führern von Strahlflugzeugen der Bundeswehr hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung gleichzustellen?
Herr Abgeordneter, auch diese Frage wird bei der Behandlung im Bundestag mit zu erörtern sein. Die Bundesregierung hat Wert darauf gelegt, daß der Gesetzentwurf zunächst einmal durch Zusammenwirken mit den Ländern gefördert werden kann. Ich glaube, daß hier im Hause, das bessere Vergleichsmöglichkeiten als der Bundesrat für andere Bereiche hat, diese Frage mit einbezogen werden muß.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiechle.
Herr Bundesminister, beabsichtigt die Bundesregierung, nach einer Möglichkeit zu suchen, entweder rückwirkend im Zusammenhang mit diesem Gesetz oder in Form einer Zwischen- oder Übergangslösung für rückliegende Fälle etwas Ähnliches noch in Kraft treten zu lassen?
Herr Abgeordneter, ich würde es für völlig unvertretbar halten, wenn man eine solche Lösung nur für künftige Fälle vorsähe.
Keine Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider ({0}) auf:
Ist die Bundesregierung bereit, insbesondere mit den Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Freihandelszone Verhandiungen mit dem Ziel aufzunehmen, internationale Vereinbarungen zur Angleichung der Rechtsvorschriften über die Herstellung, den Handel, den Erwerb und das Führen von Waffen zu erreichen?
Der Entwurf eines Waffengesetzes, der zur Zeit in den Aus-
schössen dieses Hauses behandelt wird, enthält eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung des illegalen Waffenhandels. Diese Maßnahmen müßten aber mindestens zum Teil unwirksam bleiben, solange es Interessenten möglich ist, im europäischen Ausland Waffen und Munition unter erleichterten Bedingungen zu erwerben. Es ist daher unbedingt notwendig, das europäische Waffenrecht - und hier vor allem auch die Vorschriften über den Erwerb und den Export in den Grundzügen zu vereinheitlichen.
Die Bundesregierung hat daher die Initiative des Kollegen Sieglerschmidt im Europarat begrüßt und unterstützt. Auf diese Initiative hin hat die Beratende Versammlung am 20. Januar 1972 dem Ministerkomitee empfohlen, so schnell wie möglich Schritte zu unternehmen, um die Gewaltverbrechen zu verringern und eine wirksamere Kontrolle der Schußwaffen in den Mitgliedstaaten sicherzustellen,
a) indem es die Möglichkeit prüft, europäische Abkommen zu entwerfen, durch die Vorschriften über Schußwaffen eingeführt werden, die in angemessener Weise vereinheitlicht sind;
b) indem es bis zur Vereinheitlichung der in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten geltenden gesetzlichen Bestimmungen über den Erwerb und Besitz von Schußwaffen wirksame Vorschriften erarbeitet, die für die Ausfuhr solcher Waffen maßgebend sind, um dadurch ihre illegale Einfuhr und Verwendung im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten zu verhindern.
Die Bundesregierung wird während der Beratungen im Europarat ihre Vorstellungen über die Vereinheitlichung der waffenrechtlichen Vorschriften vortragen.
Sie hat ferner bei der Durchführung der Richtlinien „Einzelhandel" im Rahmen der EWG angeregt, die Vorschriften der Mitgliedstaaten über den Handel mit Schußwaffen und Munition zu harmonisieren.
Darüber hinaus wird außerdem in Übereinstimmung mit der französischen Regierung zur Zeit eine Verhandlungsinitiative durch die Bundesregierung geprüft, durch die auf eine schnelle Vereinheitlichung des Waffenrechts über den Rahmen der EWG hinaus hingewirkt werden soll.
Bitte schön, eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, ist die Bundesregierung in der Lage, die Behauptung führender Polizeibeamter zu entkräften, wonach Schußwaffen in der Hand von Straftätern in aller Regel aus dem illegalen Waffenhandel und Waffenschmuggel stammen?
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, sie zu entkräften, weil diese in Ihrer Frage enthaltene Behauptung im wesentlichen den Feststellungen der Bundesregierung entspricht.
Eine zweite Zusatzfrage.
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die zunehmenden Waffendiebstähle in der Bundeswehr und bei den Stationierungsstreitkräften künftig zu verhindern?
Hierfür sind ausreichende und notwendige Sicherheitsmaßnahmen im Gange, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Riedl.
Herr Bundesminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß der Transitverkehr zwischen den Ostblockstaaten und den Ländern der EWG häufig dazu benutzt wird, Waffen zu schmuggeln, und daß insbesondere mit Kraftfahrzeugen, die beispielsweise als Bananentransporte oder Apfeltransporte deklariert sind, Waffen in großen Mengen in die Bundesrepublik eingeschmuggelt werden?
So wie Sie das als Feststellung in Ihrer Frage sagen, Herr Abgeordneter, kann ich das nicht bestätigen. Es wäre auch eine Überschätzung dieses Faktors der illegalen Waffeneinfuhr, wenn man annähme, daß der illegale Waffenhandel hierdurch wesentlich beeinflußt wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Bundesminister, in Kenntnis der oft unvermeidbar langwierigen Prozeduren im Ministerrat des Europarates eine vorsorgliche Frage: Wird die Bundesregierung alles tun, um diese langwierigen Prozeduren in diesem so wichtigen Fall zu beschleunigen?
Sie wird, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage? Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Bundesmdnister, darf ich Sie vielleicht in Ergänzung der Frage des Kollegen Sieglerschmidt fragen, nachdem Sie schon bilaterale Gespräche mit Frankreich aufgenommen haben, ob Sie auch die Gelegenheit nutzen, mit Belgien die gleichen Verhandlungen zu führen, weil meines Wissens auch in Belgien zur Zeit ein neues nationales Waffenrecht zur parlamentarischen Behandlung vorliegt?
Das ist beabsichtigt, Herr Abgeordneter.
Keine weitere Zusatzfrage.
Vizepräsident Frau Funcke
Die Frage 24 ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Frage 25 des Herrn Abgeordneten Ziegler:
Wie beurteilt die Bundesregierung die vom Mitglied des Bundesvorstands der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD, Heinz Kopp, formulierte und vain Bundeskongreß der Arbeitsgemeinschaft mit Beifall aufgenommene Kritik am „bürgerlichen Parlamentarismus", und sind die Äußerung des Vorstandsmitglieds der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD vor dem Bundeskongreß der Jungsozialisten: „Wir wiegen uns nicht in der Hoffnung, den Sozialismus mittels Stimmzettel zu erreichen" und seine Warnung vor der „Illusion ..., vom
Kapitalismus könne man schiedlich und friedlich zum Sozialismus kommen", nach Ansicht der Bundesregierung geeignet, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der politischen Ziele der Arbeitsgemeinschaft zu begründen?
Herr Abgeordneter, was den ersten Teil Ihrer Frage angeht, so sieht es die Bundesregierung nicht als ihre Aufgabe an, alle politischen Meinungsäußerungen außerhalb dieses Hauses zu bewerten.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so habe ich die Richtigkeit des von Ihnen angegebenen Zitats bisher nicht bestätigt bekommen. Wohl aber hat mir ein Mitglied dieses Hohen Hauses, das die Rede gehört hat, gesagt, es sei nicht zutreffend. Deshalb kann ich guten Gewissens Ihre Frage, ob hier verfassungswidrige Tendenzen erkennbar seien, mit einem entschiedenen Nein beantworten.
Eine Zusatzfrage.
Darf ich Ihnen, Herr Bundesminister, das Redemanuskript, das bei diesem Kongreß an die Presse verteilt worden ist, zur Verfügung stellen, damit Sie das nachlesen können?
Ich würde niemals wagen, die Annahme von Manuskripten abzulehnen, die mir ein Mitglied dieses Hohen Hauses zur Verfügung stellen will, Herr Abgeordneter.
({0})
Zweite Zusatzfrage.
Darf ich Sie dann, Herr Bundesminister, noch fragen, ob Sie es überhaupt für mit unserer freiheitlichen Ordnung und mit den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates vereinbar halten, wenn man politische Ziele nicht mit den Mitteln des Stimmzettels durchsetzen will?
Herr Abgeordneter, ganz sicher werden wir alle gemeinsam nicht nur mit den Mitteln des Stimmzettels, sondern auch etwa mit dem Mittel der Überzeugung versuchen, politische Ziele durchzusetzen. Aber gerade das, was Sie möglicherweise als mißverständlich an dieser Stelle der Rede empfinden, wird von einem Kollegen dieses Hohen Hauses, der an der Veranstaltung teilgenommen hat, als falsch bezeichnet.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten Wagner auf:
Wird die Bundesregierung dem mit Beschluß des Bundestages vom 3. März 1971 angenommenen Antrag des Innenausschusses ({0}) nachkommen, wonach die rechtzeitige Vorlage der erforderlichen Gesetzentwürfe erwartet wird, damit zum 1. Juli 1972 die Höherstufung der Eingangsämter unter Wegfall der Regelbeförderung und die Umwandlung der Unterhaltszuschüsse für Beamtenanwärter in Anwärterbezüge durchgeführt werden kann?
Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Ersten Gesetzes über die Erhöhung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern vorgelegt, der eine allgemeine Erhöhung der Gehälter und Versorgungsbezüge ab 1. Januar 1972 vorsieht. Die Kosten betragen 1972 allein für den Bundeshaushalt 695 Millionen DM. In welcher Weise darüber hinaus strukturelle Maßnahmen gemäß den Entschließungen des Bundestages vom 3. März 1971 verwirklicht werden können, wird gegenwärtig von der Bundesregierung geprüft.
Es ist beabsichtigt, diese Frage im Zusammenhang mit der Beratung des Ersten Besoldungserhöhungsgesetzes im Innenausschuß des Bundestages zu erörtern. Hierbei werden sicher sowohl die neuere Entwicklung auf dem Gebiet der Bildungsreform als auch Auswirkungen auf die Tarifpolitik nicht außer Betracht bleiben dürfen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wagner.
Herr Bundesminister, trifft es zu, daß Sie anläßlich des Beteiligungsverfahrens gemäß § 94 den Beamtenvertretern die Mitteilung gemacht haben, daß aller Voraussicht nach mit der Einhaltung des Termins für die von mir genannten Maßnahmen nicht gerechnet werden kann?
In dieser Schärfe nicht. Aber ich habe auf die Probleme hingewiesen, die bestehen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Auffassung, daß, wenn diese Termine nicht eingehalten werden können, damit die mit dem Ersten BesVNG eingeleitete Weiterentwicklung des Beamten- und Besoldungsrechts ernsthaft gefährdet würde und damit verständlicherweise und berechtigt erhebliche Unruhe im Bereich der Beamtenschaft entstehen müßte?
Herr Abgeordneter, daß hier Probleme entstehen, ist offenkundig. Die Situation ist aber, wie Sie wissen, nicht einfach. Deshalb sieht die Bundesregierung auch gern Ratschlägen und Deckungsvorschlägen aus Kreisen der Opposition entgegen.
Keine Zusatzfrage. - Die Fragen 27 und 28 bittet der Fragesteller schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Riedl auf:
Welche langfristige Konzeption hat die Bundesregierung hinsichtlich der Förderung künftig zu errichtender Eisschnellauf-Kunsteisbahnen in der Bundesrepublik Deutschland, und unter welchen Bedingungen ist die Bundesregierung insbesondere bereit, eine Eisschnellauf-Kunsteisbahn in München zu bezuschussen?
Die mittel-und langfristige Konzeption der Bundesregierung hinsichtlich der Förderung künftig zu errichtender Eisschnellauf-Kunsteisbahnen in der Bundesrepublik bedarf wegen der Beteiligung mehrerer Finanzierungsträger der Abstimmung mit den Ländern und Standortgemeinden sowie aus sportfachlichen Gründen auch mit dem Deutschen Sportbund - Bundesausschuß zur Förderung des Leistungssports - und den jeweiligen Bundessportfachverbänden. Das hierbei erzielte Einvernehmen hat seinen Niederschlag in der Projektliste über die Planung von Bundes- und Landesleistungszentren gefunden, die vom Bundesministerium des Innern soweit erforderlich fortgeschrieben wird.
Nach dem aus der Projektliste derzeit ersichtlichen Stand ist beabsichtigt, neben dem Bundesleistungszentrum für Eisschnellauf in Inzell zwei Landesleistungszentren in Berlin und Dortmund zu errichten. Die Errichtung weiterer Landesleistungszentren für den Eisschnellauf mit finanzieller Beteiligung des Bundes ist bisher nicht vorgesehen. Die Bundesregierung wäre bereit, eine Eisschnellaufbahn in München zu bezuschussen, wenn es sich hierbei um ein Landesleistungszentrum handelt, das vom Bundessportfachverband für zentrale Schulungsmaßnahmen der Spitzensportler benötigt wird. Über die Errichtung eines Landesleistungszentrums entscheidet auf Antrag die zuständige Landesregierung nach Abstimmung mit dem Bundesausschuß zur Förderung des Leistungssports des Deutschen Sportbundes und dem Bundessportfachverband. Erst nach einer solchen Entscheidung kann vom Bauträger ein Antrag auf Mitfinanzierung des Landesleistungszentrums an den Bund gestellt werden, wobei die voraussichtliche Nutzung des Landesleistungszentrums für Bundeszentrale Zwecke dargelegt werden muß.
Ein formeller Antrag an die Bundesregierung auf Mitfinanzierung einer Eisschnellaufbahn in München liegt bisher nicht vor. Eine abschließende Beurteilung ist daher noch nicht möglich.
Keine Zusatzfrage. - Dann rufe ich die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Ott auf:
Trifft es zu, daß der „Bonner Staatsapparat" mit einer großen Anzahl ehemaliger Nationalsozialisten durchsetzt ist, wie der stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD, Karsten Voigt, kürzlich geäußert hat?
Nein, Herr Abgeordneter.
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Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Bundesminister, sind Sie, wenn Sie die Äußerung von Karsten Voigt bestreiten, daß der „Bonner Staatsapparat" mit einer großen Anzahl ehemaliger Nationalsozialisten durchsetzt sei, bereit und in der Lage zu bestätigen, daß auch im Bundeskabinett keine ehemaligen Angehörigen der NSDAP oder ihrer Gliederungen - oder jedenfalls nicht in großer Zahl - sitzen?
Herr Abgeordneter, ich beabsichtige nicht, im Jahre 1972 eine zweite Entnazifizierung durchzuführen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, da Sie so antworten, frage ich Sie: Mißbilligen Sie dann auch die Äußerung des früheren Bundesfinanzministers Möller, die er gegenüber der Opposition getan hat,
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mit der er diese Opposition in Zusammenhang mit der Vergangenheit gebracht hat? Mißbilligen Sie das?
Herr Abgeordneter, ich beabsichtige nicht, eine Mißbilligung auszusprechen. Ich kann auch den Zusammenhang mit der ersten Frage in keiner Weise erkennen.
Herr Kollege, das hätte ich gern gesagt. Das brauchten Sie nicht zu tun.
Keine weitere Zusatzfrage? - Bitte schön, Herr Kollege Hansen!
Herr Bundesminister, ist es nicht vielmehr so, daß frühere Bundesregierungen für eine gewisse Kontinuität zum Dritten Reich dadurch gesorgt haben, daß sie belastete NS-Mitglieder in ihre Dienste genommen haben?
Ich möchte das früheren Bundesregierungen ebenso wenig unterstellen wie dieser, Herr Abgeordneter.
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Keine Zusatzfrage. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern beantwortet. Haben Sie vielen Dank, Herr Bundesminister.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesminister der Justiz auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Erkel zur Verfügung. Ich rufe die Frage 31 des Herrn Abgeordneten von Bockelberg auf:
Trifft es zu, daß das Bundesministerium der Justiz auf Grund der vom Rechtsausschuß erteilten Aufträge eine Anhörung von einer Vielzahl von freiberuflichen Verbänden durchgeführt hat?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Die Frage kann ich mit Ja beantworten.
Eine Zusatzfrage.
von Bockelberg ({0}) : Aus welchem Grunde, Herr Staatssekretär, ist über die Anhörung kein Protokoll geführt worden, obwohl die Vertreterin des Ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit dies bei der Anhörung angeregt hat?
Herr Abgeordneter, es sind in dreitägigen Anhörungen ungefähr 60 Verbände angehört worden. Wir haben es in dieser Situation nicht für richtig gehalten, ein Wortprotokoll zu führen. Wir sind aber bereit, den Ausschüssen des Bundestages eingehend zu berichten.
Eine weitere Zusatzf rage.
von Bockelberg ({0}) : Ist ,der Bundesjustizminister bereit, eine Niederschrift noch zu fertigen und den Initiatoren dieses Gesetzentwurfs zuzustellen?
Herr Abgeordneter, ich habe schon gesagt, daß eine Niederschrift, die zur Veröffentlichung bestimmt ist, nicht gefertigt worden ist. Wir beabsichtigen nicht, sie nachträglich zu erstellen.
Eine Zusatzfrage, bitte schön!
Herr Staatssekretär, ist der Eindruck von Teilnehmern an der Anhörung zutreffend, daß der Beamte des Bundesjustizministeriums seine Fragen an die Verbände aus der Einstellung einer inneren Gegnerschaft gegen den Gesetzentwurf gestellt hat?
Herr Abgeordneter, ich kann diese Frage nicht mit Ja beantworten. Ich habe an der Besprechung selbst nicht teilgenommen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß der maßgebende Beamte des Hauses den Intentionen des Gesetzentwurfs aufgeschlossen gegenübersteht.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilt der Bundesjustizminister die Meinung, daß schon aus den schriftlich formulierten Fragen für die Anhörung eine Gegnerschaft gegen den Gesetzentwurf abgeleitet werden kann?
Ich möchte die Frage mit Nein beantworten.
Keine Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 32 des Herrn Abgeordneten von Bockelberg auf:
Hat der Bundesminister der Justiz im Gegensatz zur Grundhaltung des Rechtsausschusses in seiner ersten Beratung gewichtige Bedenken gegen ein Partnerschaftsgesetz?
Die Vertreter der Bundesregierung haben bereits in den beteiligten Ausschüssen auf der Grundlage eines Kabinettsbeschlusses erklärt, daß die Bundesregierung die dem Entwurf des Partnerschaftsgesetzes zugrunde liegende Absicht, die Zusammenarbeit von Angehörigen freier Berufe zu fördern, grundsätzlich begrüßt. Die Bundesregierung hat in ihrer vorläufigen Stellungnahme gegenüber den Ausschüssen im einzelnen begründet, daß die Ausgestaltung des Entwurfs, so wie er vorliegt, allerdings noch keine geeingete Lösung der Fragen bietet, die mit einer besonderen Organisationsform für den Zusammenschluß von Angehörigen freier Berufe verbunden sind. Ich darf mir erlauben, hierzu auf das Protokoll der 66. Sitzung des Rechtsausschusses vom 9. Oktober 1971 zu verweisen, in dem diese Gesichtspunkte eingehend dargestellt sind.
Eine Zusatzfrage.
von Bockelberg ({0}) : Ist die Bundesregierung bereit, für die Beratung des Gesetzentwurfs die Formulierungen zur Verfügung zu stellen, von denen die Bundesregierung glaubt, daß sie noch fehlen?
Herr Abgeordneter, die Frage ist dahin zu beantworten, daß es hierbei nicht mit einigen Formulierungshilfen getan ist. Der Gesetzentwurf wirft eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf, die, wie ich schon sagte, im Ausschußprotokoll aufgeführt sind und die nicht mit einer bloßen Formulierungshilfe aus der Welt geschafft und bereinigt werden können.
Weitere Zusatzfrage.
von Bockelberg ({0}) : Ist das Bundesjustizministerium bereit, über Formulierungshilfen hinausgehende Umformulierungen vorzunehmen?
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Die Anhörung der Organisationen ist gerade erst am 8. März abgeschlossen worden. Das Ergebnis muß im einzelnen im Zusammenhang mit den beteiligten Ressorts ausgewertet werden. Erst danach läßt sich entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Regelung seitens der Bundesregierung vorgeschlagen werden kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß gerade dem betroffenen Kreis der freien Berufe nur dann mit einem solchen Partnerschaftsgesetz gedient ist, wenn alle Fragen, insbesondere die der Haftung und des Schutzes der Mandanten oder Auftraggeber, also beider Seiten, in ausreichender Weise geprüft und in deren Interesse nur nach sachlicher Beratung gelöst werden können?
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Sie haben mit der Haftungsfrage einen Komplex angesprochen. Wie auch die Anhörung der Verbände ergeben hat, steht bei einem Teil der Angehörigen der freien Berufe nicht die Überlegung im Vordergrund, wie der Zusammenschluß gefördert werden kann, sondern die Frage, wie die Haftung angesichts des wachsenden Risikos begrenzt werden kann. Diese Frage betrifft aber nicht nur die Zusammenschlüsse, sondern auch ebenso diejenigen, die als Einzelkräfte tätig sind.
Keine Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, auf Grund des Urteils des 4. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 21. September 1971 gesetzgeberische Maßnahmen vorzuschlagen, die die besondere Problematik genitalkorrigierender Operationen bei Transsexuellen und Transvestiten regeln?
Es läßt sich gegenwärtig noch nicht überblicken, ob die Bundesregierung gesetzgeberische Maßnahmen zur Regelung der Probleme vorschlagen wird, die sich im Zusammenhang mit genitalverändernden Operationen bei Transsexuellen und Transvestiten ergeben. Wie auch der Bundesrerichtshof betont hat, würde die rechtliche Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung, abgesehen von ihrer sozialen Bedeutung, weittragende rechtliche Auswirkungen insbesondere im Bereich des Eherechts und des Strafrechts haben.
Wenn man tatsächlich die Zugehörigkeit eines Menschen zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht mehr wie bisher als allein schon nach körperlichen Merkmalen bestimmbar und als unwandelbar sollte ansehen können, so würde es im Falle einer gesetzgeberischen Erfassung dieses Sachverhalts wohl notwendig sein, die für die Geschlechtszugehörigkeit maßgebenden Kriterien festzulegen und vor allem den Zeitpunkt zu fixieren, von dem an eine Geschlechtsumwandlung anzunehmen wäre. Außerdem könnte wohl kaum darauf verzichtet werden, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen ein ärztlicher Eingriff, der eine Geschlechtsumwandlung bewirken oder vollenden sollte, zulässig wäre.
Eine Beurteilung all dieser Fragen setzt eine eingehende Information über den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auf diesem Gebiet - vor allem in der Medizin - voraus. Erst nach Beschaffung dieser Information kann überblickt werden, ob diese Erkenntnisse schon so weit gesichert sind, daß sie sich als Grundlage für eine gesetzliche Regelung anbieten, und ob auch tatsächlich ein Bedürfnis für eine gesetzliche Regelung besteht.
Im übrigen ist, so darf ich hinzufügen, in dem Fall, der dem Beschluß des Bundesgerichtshofes, der in der Frage genannt ist, zugrunde liegt, inzwischen Verfassungsbeschwerde eingelegt worden. Die Bundesregierung hält es zunächst für angezeigt, hier von sich aus keine weiteren Maßnahmen einzuleiten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, zu berücksichtigen, daß sich gerade aus der angezogenen Entscheidung des Bundesgerichtshofes ergibt, daß Transsexuelle und Transvestiten unter einem, wie der Bundesgerichtshof sagt, „schicksalhaften unwiderstehlichen Drang" leiden und daß die Rechtsordnung diesen Drang als ich zitiere wörtlich - „anerkennenswertes Bedürfnis" zu sehen hat, so daß die Forderung, dem Gegengeschlecht zugeordnet zu werden, unter dem Gesichtspunkt des Art. 1 des Grundgesetzes als berechtigt zu werten ist.
Herr Abgeordneter, es liegen zu dieser Frage, soweit ich das im Augenblick zu beurteilen vermag, gesicherte medizinische Erkenntnisse noch nicht vor. Wir werden uns bemühen, diese Frage zu prüfen und werden uns daraufhin eine Auffassung bilden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, entspricht es nicht im Hinblick auf Art. 1 - Menschenwürde - auch nach Meinung der Bundesregierung einem Grundprinzip unserer freiheitlichen Ordnung, daß eine solche Minderheit in diesem Lande auch besonderen Schutz durch den Gesetzgeber erfährt?
Ich stimme Ihnen zu, Herr Abgeordneter. Die Frage ist aber, wann die Bundesregierung dieses Problem aufgreifen kann.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich Frage 34 des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Wie steht die Bundesregierung zu Namensänderungen bei Transsexuellen und Transvestiten, durch die entweder der Vorname des anderen Geschlechts oder ein geschlechtsneutraler Vorname verliehen werden soll?
Die Erteilung eines Vornamens des anStaatssekretär Dr. Erkel
deren Geschlechts oder n u r eines geschlechtsneutralen Vornamens an Transsexuelle und Transvestiten ist derzeit nach der Rechtsprechung nicht möglich. Ich darf hierzu zunächst auf den Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 15. April 1959 verweisen, nach dem Knaben mit Ausnahme des Beivornamens „Maria" keine weiblichen Vornamen erhalten dürfen.
Ferner hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 6. Dezember 1968 den Standpunkt eingenommen, daß eine Person im Wege der behördlichen Namensänderung selbst bei Vorliegen besonderer Umstände keinen Vornamen erhalten darf, der nicht der im Geburtenbuch eingetragenen Geschlechtsbezeichnung entspricht. Diesem Urteil, das ich erwähne, lag der Antrag eines Transvestiten zugrunde, seinen Vornamen „Michael Cornelius" in „Maria" zu ändern oder hilfsweise die Führung des zusätzlichen Vornamens „Maria" zu gestatten.
Bei einer eventuellen gesetzlichen Regelung der Frage von Geschlechtsumwandlungen wäre aber jedenfalls im Rahmen der bereits erwähnten notwendigen Anpassungen auf verschiedenen Rechtsgebieten selbstverständlich auch die Frage der Vornamensänderung bei Transsexuellen und Transvestiten zu prüfen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie im Hinblick auf Art. 1 unseres Grundgesetzes meine Meinung, daß die leider ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu derartigen Namensänderungen den sogenannten Ordnungsanspruch des Staates auf Beibehaltung des bisherigen Vornamens überbewertet?
Herr Abgeordneter, die Frage steht doch mit der anderen Frage im Zusammenhang. Solange die medizinische Frage nicht geklärt ist, ist die zweite sekundäre Frage in dieser Form nicht zu beantworten.
Eine Frage ,des Herrn Abgeordneten Erhard.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß es in die Kompetenz der Bundesregierung oder auch in Ihre Kompetenz gehört, zu prüfen, ob die Verfassungsfrage durch das Bundesverwaltungsgericht richtig oder falsch beantwortet wird?
Herr Abgeordneter, man kann selbstverständlich eine Meinung über Rechtsprechungsfragen haben. Die Verfassungsfrage ist hier noch nicht grundsätzlich geprüft worden. Das Bundesverfassungsgericht wird sich möglicherweise damit befassen.
Keine Zusatzfrage mehr. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, die Fragen sind beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Rohde zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 52 des Herrn Abgeordneten Maucher auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es bei der Berechnung der Ausgleichsrente für Beschädigte und Kriegerwitwen immer Schwierigkeiten gibt wegen der Berechnung des Einkommens aus eigenen! Hausbesitz?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsidentin, wegen des Sachzusammenhangs würde ich die beiden Fragen gern gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 53 auf:
Ist die Regierung bereit, baldmöglichst eine Klärung im Wege der Rechtsverordnung zur Festsetzung der Anrechnung des Einkommens aus Hausbesitz zu erlassen, in der die neuen Einheitswerte berücksichtigt werden und eine entsprechende Heraufsetzung der Einkommensfreigrenze erfolgt?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: In Ihrer Frage, Herr Kollege Maucher, beziehen Sie sich offenbar auf einen Sachverhalt, den unser Haus bereits im Jahre 1968 klargestellt hat. Durch Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 29. Februar 1968 sind die zuständigen Verwaltungsbehörden der Länder gebeten worden, der Einkommensermittlung aus Hausbesitz bei der Ausgleichsrente wie im Steuerrecht die bisherigen Einheitswerte zugrunde zu legen, auch wenn der Einheitswert des Grundbesitzes nach dem Bewertungsgesetz von 1965 im Einzelfall schon neu festgestellt wurde. Sollten Ihnen gleichwohl Fälle bekannt geworden sein, in denen dies nicht beachtet wurde, wäre ich Ihnen für eine Mitteilung dankbar.
Da die derzeitige Berechnungspraxis an das Steuerrecht anknüpft, ist -- damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage - eine Neugestaltung der Bewertungsvorschriften in der Kriegsopferversorgung erst sinnvoll, wenn die neuen Einheitswerte im Steuerrecht Anwendung finden werden. Dies aber wird, wie in Art. I des Bewertungsänderungsgesetzes bestimmt ist, nicht vor dem 1. Januar 1974 der Fall sein.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir nicht zugeben, daß sich gerade durch den Tatbestand, den Sie dargestellt haben, bei den in der Zwischenzeit fertiggestellten Neubauten andere Auswirkungen ergeben? Der Einheitswert ist dort anders festgestellt. In einigen Fällen wird das Einkommen aus dem Mietwert der Wohnung angerechnet, in anderen Fällen wird es nicht angerechnet. Meine konkrete Frage: Wären Sie bereit, wegen der veränderten Verhältnisse den Einkommenssatz auf
6000 DM heraufzusetzen? Dadurch würde viel Verwaltungsarbeit erspart.
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe auf den Zusammenhang hingewiesen, der zwischen dem Steuerrecht und den damit verbundenen Bewertungsgrundsätzen einerseits und den Bewertungsvorschriften der Kriegsopferversorgung andererseits besteht. Soweit ich sehe, kann dieser Sachverhalt bei der Regelung der genannten Fragen nicht außer Betracht bleiben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß das wirklich eine Sache ist, die sehr viel Verwaltungsarbeit erfordert, ohne daß dabei finanziell viel herauskommt? Vor allem die Beschaffung der Unterlagen bringt eine Belastung für die Betroffenen mit sich. Könnte man nicht so verfahren, daß beim Einfamilienhaus oder einer Eigentumswohnung, bei denen sich Kosten und Miete decken, grundsätzlich ein Mietwert der eigenen Wohnung bei der Berechnung der Ausgleichsrente nicht angerechnet wird?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, das hier zu beantworten, würde zu weit gehen. Ich möchte auf mein Angebot zurückkommen, daß Sie mir Fälle, von denen Sie den Eindruck haben, daß sie von dem erwähnten Rundschreiben unseres Hauses abweichen, mitteilen, damit ich das im einzelnen prüfen lassen kann.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich aber doch im ganzen Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie eine Möglichkeit suchen werden, in dieser Frage sowohl verwaltungsmäßig als auch für die Betroffenen eine gewisse Erleichterung zu erreichen?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, in unserem Hause herrscht der Eindruck vor, daß anfänglich aufgetretene Verwaltungsschwierigkeiten durch das von mir zitierte Rundschreiben an die Verwaltungsbehörden der Länder inzwischen überwunden worden sind.
Eine letzte Zusatzfrage.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß dadurch, daß zum Teil der alte, aber auch zum Teil der neue Einheitswert mitgeteilt werden, Verwechselungen vorkommen?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, wie die Verwaltungsbehörden verfahren sollen. Sie sollen die alten Einheitswerte zugrunde legen, die ja auch im Steuerrecht erst in Zukunft eine veränderte Bewertung erfahren.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 54 des Abgeordneten Meinike ({0}) ist zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 55 des Herrn Abgeordneten Horstmeier auf:
Wie viele Landwirte - gegliedert nach Altersgruppen - haben seit dem Inkrafttreten des Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes von der Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen für die gesetzliche Rentenversicherung Gebrauch gemacht?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich würde auch hier gerne beide Fragen im Zusammenhang beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Horstmeier auf:
Wieviel Bundesmittel wurden dafür aufgewendet?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Die Zahl derjenigen Landwirte, die seit dem Inkrafttreten des Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes am 1. Januar 1971 von der Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung Gebrauch gemacht haben, läßt sich nur durch Rückfrage bei allen Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung ermitteln. In der für die Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden Zeit war dies nicht möglich.
Hingegen konnte festgestellt werden, wie viele Landwirte für die Nachentrichtung einen Zuschuß des Bundes beantragt haben: Im Jahre 1971 sind 460 Anträge auf Gewährung eines Zuschusses gestellt worden, davon allein im zweiten Halbjahr 1971 428 und im letzten Quartal 227. Diese Zahlen lassen darauf schließen, daß die Antragsaktion für die Inanspruchnahme eines Zuschusses zur Nachentrichtung erst spät, nämlich zum Jahresende 1971, angelaufen ist, so daß heute eine einigermaßen verläßliche Beurteilung des Ergebnisses der neu eingeführten Maßnahme noch nicht möglich ist. Ich kann Ihnen daher, was Ihre zweite Frage betrifft, auch noch keine dem Sachverhalt Rechnung tragende Zahl über aufgewendete Bundesmittel nennen. Sie können aber davon ausgehen, daß sich unser Haus darum bemüht, sorgfältig die Erfahrungen mit der Beitragsnachentrichtung auszuwerten.
Eine Zusatzfrage.
Trotz dieser nicht hinreichenden Unterlagen - die Gründe sehe ich ein - frage ich: Ist die Bundesreigerung bereit, zu überHorstmeier
legen, welche Gründe es wohl haben könnte, daß diese Möglichkeiten relativ wenig in Anspruch genommen worden sind? Wenn man davon ausgeht, daß immerhin 100 000 Landwirte im Jahr sich andere Berufe suchen müssen - bei der Betrachtung dieses Fragenkomplexes muß man doch von dieser Zahl ausgehen -, ist diese Zahl doch sehr gering.
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich vermute, daß die Verzögerung sich aus den Anlaufschwierigkeiten sowohl bei den Versicherungsträgern als auch bei den betroffenen Landwirten erklärt. Im übrigen sind die sozialökonomischen Beratungsstellen für die Landwirtschaft eingehend über die Möglichkeiten der Beitragsnachentrichtung unterrichtet worden und geben diese Informationen auch weiter. Soweit es unser Haus angeht, sind wir bemüht, z. B. auf den Tagungen der Landwirte, insbesondere der Bauernverbände, Informationen über diese Nachentrichtungsmöglichkeit zu erteilen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würde es nicht eine Überlegung wert sein, ob der wesentliche Grund für die Nichtinanspruchnahme darin gesehen werden muß, daß die Altersgrenze - 50 Jahre, wie Sie wissen bis zu der die erworbenen Rechte aus der Altershilfe gelöscht werden müssen, zu hoch festgesetzt ist?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, das läßt sich angesichts der kurzen Zeit, in der diese Maßnahme läuft, noch nicht abschließend beantworten.
Keine Zusatzfrage. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde!
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan anwesend.
Die Fragen 57 und 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger sind zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude auf. Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haar anwesend.
Ich rufe die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner auf:
Trifft es zu, daß nach den bisherigen Aussagen, in Verbindung mit dem Fall „Paninternational", wirtschaftliche Interessen von Charterflugunternehmen in unzulässiger Weise mit der Sicherheit der Beförderung kollidieren, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus, um für die kommende Urlaubszeit die Sicherheit der Beförderung bei Charterflugunternehmen, die sich als unzureichend erwiesen haben, zu gewährleisten?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Eine so weitgehende Feststellung, wie sie dem ersten Teil der Frage zugrunde liegt, halte ich für ungerechtfertigt. Obgleich damit die Antwort auf den zweiten Teil der Frage entfällt, möchte ich betonen, daß die eingeleiteten strukturellen und personellen Maßnahmen die Leistungsfähigkeit der Behörden der Luftaufsicht weiter verbessern werden. Im übrigen möchte mein Haus dem Ergebnis der Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht vorgreifen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wieviel angemeldete Charter-Fluggesellschaften sind zur Zeit in der Bundesrepublik tätig, und wie groß sind ihre Zahl an einsetzbaren Flugzeugen und ihre Transportkapazität für Fluggäste und Flugurlauber?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich werde Ihnen darauf gern schriftlich Auskunft erteilen. Wir müssen es zunächst zusammenstellen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, treffen Nachrichten zu, daß sich eine größere Zahl von Charter-Flugunternehmen in schlechter Rentabilitätslage befinden oder sogar rote Zahlen aufweisen und es daher immer schwerer haben, die notwendigen Sicherheitsauflagen für ihre Fluggäste und Flugurlauber zuverlässig zu erfüllen, wie sie sich als unaufschiebbare Konsequenzen des Falles Paninternational ergeben?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich kann Ihnen im Augenblick nach dem Stand unserer Ermittlungen nur sagen, daß die Überprüfungen auch der wirtschaftlichen Situation der Charter-Gesellschaften laufend weitergeführt werden und ein strenger Maßstab angelegt wird.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jobst.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß zu den Zulassungsbedingungen für eine Fluggesellschaft nicht nur die technische, sondern auch die wirtschaftliche Zuverlässigkeit gehört und daß an eine Fluggesellschaft höhere Anforderungen als an andere Unternehmen zu stellen sind? Und hätte nicht bei der Gesellschaft, die jetzt
in Konkurs gegangen ist, mindestens vor geraumer Zeit geprüft werden müssen, ob die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich weiß nicht, ob Ihre Feststellungen auch auf den Erfahrungen im Untersuchungsausschuß, dem Sie selbst angehören, fußen. Ich kann nur feststellen, daß die wirtschaftliche Zuverlässigkeit in Einzelfällen laufend überprüft wird und daß daraus auch Konsequenzen im Einzelfall gezogen werden.
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Herr Kollege, Sie können keine weitere Zusatzfrage stellen; es tut mir leid.
Die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Jung wird schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 75 der Abgeordneten Frau Lauterbach auf:
Ist der Bundesregierung die Unfallgefahr bekannt, der Reisende mit der Deutschen Bundesbahn beim Ein- und Aussteigen durch die häufig zu hohen Trittbretter an den Zügen - gemessen am Abstand zur Bahnsteigkante - ausgesetzt sind und über die vor allem ältere und behinderte Menschen Klage führen?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Dem Bundesminister für Verkehr
ist das Problem bekannt. Die Schwierigkeit liegt bei den unterschiedlichen Bahnsteighöhen im In-und Ausland, die immer wieder zu Klagen von Reisenden Anlaß gegeben haben.
Zu einer Zusatzfrage, bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, können Sie mir einmal genau sagen, in welcher Höhe, gemessen von der Bahnsteigkante, die von vielen Reisenden beanstandeten Trittbretter angebracht sind und wie man in anderen Ländern dieses Problems Herr zu werden versucht?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Frau Präsident, darf ich vielleicht erst die Frage 76 beantworten, weil damit auch einiges von der Zusatzfrage beantwortet werden kann?
Einverstanden. Ich rufe die Frage 76 der Abgeordneten Frau Lauterbach auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß im Rahmen ihrer Unfallverhütungsmaßnahmen auch diese Unfallursache beseitigt werden kann?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Da die Vereinheitlichung der
Bahnsteighöhen nicht möglich war, hat sich die Deutsche Bundesbahn entschlossen, ihre Reisezugwagen mit einer zusätzlichen, klappbaren Trittstufe auszurüsten. Die Neubauwagen werden bereits mit dieser Ausstattung geliefert, die vorhandenen Wagen werden nach und nach entsprechend umgestellt. Hierdurch wird in Zukunft ein weitgehend bequemer und gefahrloser Übergang vom Wagen zum Bahnsteig möglich sein.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wann dieses Umstellungsprogramm in Angriff genommen bzw. abgeschlossen werden wird?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Es ist bereits in Angriff genommen. Aber für den Abschluß der Umstellungsarbeiten kann ich natürlich definitiv keinen Termin nennen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß durch diese Maßnahme gerade ältere und behinderte Menschen, von denen hier gesprochen worden ist, bei dem oft knapp bemessenen Aufenthalt der Züge ihre Angst und ihre Hilflosigkeit im Reiseverkehr verlieren und dadurch auch das Aktionsprogramm für die älteren Reisenden, das die Bundesbahn mit Ihrer Hilfe durchführt, eine entsprechende Förderung erfährt?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Frau Kollegin, dies ist auch meinem Hause bekannt. Als wirksamste Maßnahme hat sich bisher immer noch die Unterstützung durch Bahnbedienstete erwiesen. Daher wird den Reisenden empfohlen, sich rechtzeitig mit einer entsprechenden Bitte an das Personal im Zuge oder auf dem Bahnhof zu wenden. Das Personal der Bundesbahn ist angewiesen, den Reisenden in jeder Beziehung behilflich zu sein.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 77 des Abgeordneten Dr. Jobst auf:
Gab es bei der Deutschen Bundesbahn im Januar und Februar 1972 leerstehende Waggons, und wenn ja, wie groß war in diesem Zeitraum im Durchschnitt der tägliche Anfall?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Nicht verfügt, d. h. nicht in beladenem Zustand auf dem Wege zu einem Empfangsbahnhof, waren in dem von Ihnen, Herr Kollege, angegebenen Zeitraum durchschnittlich 48 000 Güterwagen, und zwar 63 000 zu Beginn des Monats JaParlamentarischer Staatssekretär Haar
nuar und 38 000 gegen Ende des Monats Februar. Unter den 38 000 befanden sich rund 23 000 offene Wagen, für die, soweit älterer Bauart, außerhalb des Herbstverkehrs praktisch keine Verwendungsmöglichkeit besteht. Andererseits war der ein Drittel des Bestandes ausmachende Park der Spezialwagen im allgemeinen voll eingesetzt.
Allgemein ist zu sagen, daß alljährlich der Tiefpunkt der Wagengestellung im Januar liegt und daß sich bis zum Frühjahr der Ausnutzungsgrad des Wagenparks wieder auf ein normales Maß einpendelt. Ein wirklich zutreffendes Bild erhält man nur, wenn man die Inanspruchnahme des vorhandenen Laderaums für einen längeren Zeitraum zugrunde legt. Sie belief sich im Jahre 1971 auf 91,1 % des Gesamtbestandes und sank - wie alljährlich - im Monat Januar um 10 %, d. h. sie erreicht im Januar 1972 immerhin noch rund 80 %, im Februar dieses Jahres etwa 83 %. Man kann dem Vorstand der Deutschen Bundesbahn darin zustimmen, wenn er für 1971 eine Vollauslastung des Güterwagenparks feststellt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nach Ihrer Auskunft, daß im Januar im Durchschnitt 47 000 und im Februar im Durchschnitt 48 000 überzählige Wagen bei der Bundesbahn vorhanden waren, möchte ich Sie fragen: Wie vereinbart sich Ihre heutige Antwort mit der Mitteilung des Herrn Ministers Leber in der Fragestunde am 3. Februar, der auf meine Frage ausgeführt hat, die Tatsache, daß sich die Bundesbahn in Frankreich Tausende von Waggons leihen mußte, sei ein Beweis, daß die Kapazitäten ausgelastet seien, und der dann auf eine weitere Frage ausgeführt hat - ich darf jetzt zitieren -:
Im übrigen ist die Behauptung nicht richtig, die Deutsche Bundesbahn habe leerstehende Waggons, jedenfalls gar nicht in dieser Größenordnung. Es kann mal vorkommen, daß irgendwo vorübergehend ein paar Waggons nicht ausgelastet werden. Das kann sich besonders um die Feiertage herum ereignen.
Haar, Parlamentarischer 'Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich vermute, daß es sich um Spezialwagen gehandelt hat, die in Frankreich zur Verfügung gestanden haben. Ich kann Ihnen dazu im Detail nach den vorhandenen Unterlagen keine nähere Auskunft geben, Herr Kollege.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Tatsache ist doch, daß Sie heute einräumen müssen, daß die Bundesbahn einen erheblichen Bestand an überzähligen Wagen hat und daß uns der Verkehrsminister ein ganz anderes Bild geliefert hat. Sind Sie nicht der Meinung, daß der Bundesverkehrsminister über die Probleme der Bundesbahn besser informiert sein müßte?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich bin nicht dieser Auffassung. Der Verkehrsminister ist bestens über die Probleme der Bundesbahn informiert. Im übrigen nehme ich an, daß Sie zustimmen, wenn wir feststellen - in Übereinstimmung mit den Angaben des Bundesbahnvorstands, auch wenn Sie in der Öffentlichkeit zum Teil andere Zahlen genannt haben -, daß der Ausnutzungs- und Auslastungsgrad der Güterwagen im Jahre 1971 wirklich als voll bezeichnet werden kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, wenn Sie - worin ich Ihnen zustimme - eine Auslastung des Wagenparks der Bundesbahn bis zu 85, ja bis 90 % als zumindest nicht dramatisch ansehen, dann möchte ich doch wirklich fragen, warum Ihr Herr Minister in einer der letzten Fragestunden die Tatsachen vor diesem Hause auf wiederholtes Drängen der Opposition nicht auch offen wiedergegeben, sondern sich zu einer Aussage entschlossen hat, die sich eben mit den Tatsachen nicht in Übereinstimmung befindet.
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Zu dem Zeitpunkt, als Sie Ihre Fragen an den Verkehrsminister stellten, hatten Sie nach meiner Information die gleichen Unterlagen wie der Minister, und er hat nach den Unterlagen, die vom Vorstand der Deutschen Bundesbahn zur Verfügung gestellt waren, das Zahlenmaterial wahrheitsgemäß und offensichtlich auch vollständig wiedergegeben.
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Keine Zusatzfrage.
Damit sind wir am Ende der heutigen Fragestunde. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Haar.
Wir kehren zurück zu der Aussprache zu Punkt 3 der Tagesordnung:
a) Beratung des Jahresgutachtens 1971 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache VI/2847 -
b) Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1972 der Bundesregierung
- Drucksache VI/3078 - Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie in allen wirtschaftspolitischen Debatten der letzten Jahre, so hat die Opposition auch heute wieder die Lage dieses Landes und die Zukunft in schwarzen Farben gemalt. Neue Argumente waren nicht oder kaum zu hören, erst recht keine Alternative zur Wirtschaftspolitik der Bundesregierung.
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Was die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage angeht, so mögen unter den Fachleuten in einigen Nuancen Auffassungsunterschiede bestehen; in einem Punkt aber stimmen die um Objektivität bemühten Beobachter und offenbar auch die Kollegen, die hier heute vormittag gesprochen haben, überein, nämlich darin, daß die von vielen befürchteten Rezession nicht stattfinden wird.
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Dies ist keineswegs selbstverständlich. Vor wenigen Monaten konnten wir es landauf, landab noch anders hören, nicht nur von der Opposition, sondern auch von manchen Herren der Wirtschaft, die sagten, daß sie nicht länger schweigen wollten oder könnten. Wer Erinnerungslücken aufzufüllen hat, braucht im übrigen nur nachzulesen, was Herr Kollege Strauß in der Haushaltsdebatte am 20. Oktober vergangenen Jahres - das ist ja noch nicht so viele Monate her - gesagt hat. Der Kollege Schiller hat dies heute vormittag schon zitiert.
Nun, wir haben immer betont, daß Rezession und Arbeitslosigkeit nicht, so wie Herr Strauß in jener Rede vom 20. Oktober meinte, für diese Bundesregierung wirtschaftspolitische Alternativen seien. Heute können wir wohl sagen: wir haben uns daran gehalten und sind, manchen Schwierigkeiten zum Trotz, nicht ohne Erfolg geblieben.
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Wir haben eine konsequente Politik der Konjunkturdämpfung betrieben, aber wir haben die Vollbeschäftigung nicht aufs Spiel gesetzt. Die Arbeitslosenquote liegt - „saisonbereinigt", wie die Statistiker sagen - bei knapp 1 %. Damit und nicht nur damit unterscheiden wir uns beträchtlich von vielen anderen Ländern, die vor den gleichen oder schwierigeren wirtschaftlichen Problemen stehen. Ich will hier absichtlich noch einmal die Vergleichszahlen zu dem einen Prozent bei uns nennen: Vereinigte Staaten 5,7 %, Großbritannien 4 %, Italien 3,2 % und Belgien 3 %.
In einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem Bild der Wirtschaftslage, das die Kollegen Müller-Hermann und Strauß hier heute vormittag gezeichnet haben, stehen auch die Ergebnisse der Unternehmerbefragungen. Sie zeigen, daß sich die Stimmung der Wirtschaft in den letzten Monaten deutlich gebessert hat. Die Statistik der Auftragseingänge und einige andere Anhaltspunkte deuten darauf hin, daß es sich dabei nicht nur um subjektive Gefühle handelt. Die genaue Analyse der Zahlen mag den Experten überlassen bleiben. Aber aus vielen Informationen und Gesprächen der
letzten Zeit, nicht zuletzt mit urteilsfähigen Männern der Wirtschaft, habe ich doch den Eindruck gewonnen, daß wir, was die konjunkturelle Entwicklung angeht, zuversichtlich sein können. Dies ist auch die Auffassung der Deutschen Bundesbank, wie Sie deren heute veröffentlichtem neuestem Monatsbericht entnehmen können. Ich fühle mich in meiner zuversichtlichen Beurteilung nicht zuletzt durch die Tatsache bestärkt, daß die deutschen Gewerkschaften - Herr Kollege Junghans hat heute vormittag schon darauf hingewiesen - auf die veränderten wirtschaftlichen Daten mit einem so hohen Maß an Verantwortungsbewußtsein reagiert haben.
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Auch dies ist ja keineswegs selbstverständlich, wenn wir uns einmal umsehen, womit man es auf diesem Gebiet in manchen anderen Ländern zu tun hat. Ich weiß auch, daß es für Gewerkschaftsführer keineswegs immer leicht ist, gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen. Dafür, daß dies bei uns weithin geschieht, möchte ich ausdrücklich Dank sagen.
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Als Ergebnis einer in jüngster Zeit alles in allem maßvollen Lohnentwicklung hat der Kostenauftrieb in der Industrie spürbar nachgelassen. In dieses Bild paßt es, daß die industriellen Erzeugerpreise seit Monaten praktisch stabil sind, die Einfuhrpreise sogar zurückgegangen sind und auch die Zinsbelastung gesunken ist. Dies alles sind gute Voraussetzungen für eine Wiederbelebung der Investitionstätigkeit und für die Vermeidung dessen, was die Opposition als Gefahr der „Stagflation" bezeichnet hat.
Ich weiß natürlich, es gibt aus der Wirtschaft auch andere Stimmen. Ein prominenter Sprecher der Industrie hat vor einiger Zeit gesagt, die Lage sei in den letzten 40 Jahren noch nie so ernst gewesen. Ich glaubte zunächst, es habe sich um einen Versprecher gehandelt, aber nachdem diese Erklärung verschiedentlich wiederholt worden ist, muß ich annehmen, daß sie ernst gemeint war. Nun, wenn ich richtig rechne, schrieben wir vor 40 Jahren das Jahr 1932. Es ist doch wohl absurd, um kein härteres Wort zu gebrauchen, die heutige Lage mit der Weltwirtschaftskrise von 1932 und mit dem, was ihr folgte, auch nur in einen Zusammenhang zu bringen.
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Ich verkenne dabei nicht, daß es in unserer Wirtschaft strukturelle und regionale Schwierigkeiten gibt, aber sie sind überwindbar. Was mir wirklich Sorge bereitet - nicht nur Ihnen, verehrte Kollegen von der Opposition, sondern uns in der Regierung genauso -, ist die Entwicklung der Verbraucherpreise. Man kann jedoch nicht so tun, als ob dies ein spezielles deutsches Problem wäre; das ist nicht sachlich und deshalb auch nicht redlich. In praktisch allen Industrieländern kämpfen heute Regierungen und Notenbanken gegen die schleichende Geldentwertung. Selbst ein so stabilitätsbewußtes Land
wie die Schweiz hat zur Zeit höhere Preissteigerungsraten als die Bundesrepublik Deutschland.
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Das sei nicht gesagt, um irgendwie von der Aufgabe abzulenken, die wir selbst zu erfüllen haben. Aber man muß die Dinge in den richtigen Zusammenhang setzen.
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Die Bundesregierung hat nun zweimal versucht, sich von dem weltweiten Trend, mit dem wir es zu tun haben, abzuhängen: durch die Aufwertung 1969 und durch die Freigabe der Wechselkurse im Mai vergangenen Jahres. Herr Kollege Strauß und seine Freunde haben diese Entscheidungen bitter bekämpft. Für meine Begriffe wurde ihr Bekenntnis zur Preisstabilität zum Lippenbekenntnis, als es darum ging, dafür unter schwierigen äußeren Bedingungen wirklich etwas zu tun.
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Herr Kollege Strauß, wenn ich es recht in Erinnerung habe, haben Sie sich damals für die - wie ich meine: noch nicht einmal langfristig richtig gesehenen - Interessen einiger Industriezweige eingesetzt, während sich die Bundesregierung am Interesse der Konsumenten, der Arbeitnehmer und der vielen mittelständischen Unternehmen orientiert hat.
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Das muß hier auch einmal deutlich festgehalten werden.
Unsere zweimaligen Versuche, die D-Mark aus dem weltweiten Strudel der Geldentwertung herauszuhalten, sind keineswegs erfolglos geblieben. Im internationalen Vergleich ist die D-Mark heute nicht weniger, sondern mehr wert als vor drei Jahren.
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Dies spüren nicht nur die Millionen Reisenden, die ihren Urlaub im Ausland verbringen, sondern dies spüren - wenn auch natürlich für meine Begriffe noch nicht deutlich genug - ebenfalls die Verbraucher, die ausländische Waren billiger oder weniger stark verteuert kaufen, und dies spürt natürlich auch die Industrie, die auf den Auslandsmärkten billiger einkaufen kann und für die es leichter geworden ist, im Ausland zu investieren.
Dennoch - ich sage es noch einmal - bleibt der Kampf um mehr Preisstabilität weiterhin ein vorrangiges Ziel der Bundesregierung. Alle öffentlichen Hände - nicht nur der Bund, auch Länder und Gemeinden - müssen dieses Ziel bei ihrer Ausgabenpolitik berücksichtigen. Zurückhaltung möchte ich deshalb auch Ländern und Gemeinden dringend ans Herz legen. Ich weiß genau, wo vor allem die Kommunen der Schuh drückt. Ich weiß genau, daß Länder und Gemeinden durch die großen Anstrengungen insbesondere für die Verbesserung des Bildungswesens und der inneren Sicherheit sowie für wichtige Infrastrukturvorhaben, aber vor allem auch durch die Entwicklung der Personalkosten teilweise vor schwierigen finanziellen Problemen stehen.
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Aber ich darf hier doch auch darauf hinweisen, daß Länder und Gemeinden durch die Erhöhung der Mineralölsteuer und die Neuverteilung des Umsatzsteueraufkommens in diesem Jahr - Herr Schiller nannte die Ziffer heute früh schon - fast 4 Milliarden DM an Mehreinnahmen erhalten. Es ist nicht unbillig, wenn wir darum bitten, dies bei der Kreditaufnahme zu berücksichtigen.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein offenes Wort. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es in den kommenden Jahren des Einsatzes größerer Mittel bedarf, wenn, wie es die Bürger erwarten, die „Lebensqualität" verbessert werden soll. Aber nicht jede neue Einrichtung muß notwendigerweise in diesem Jahr errichtet werden.
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Auch wird man sagen müssen, daß Sparsamkeit und Rationalisierung des Personalaufwands nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch bei den öffentlichen Haushalten dringend erforderlich sind.
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Die Ansprüche an den Staat wachsen auf allen Ebenen. Seien wir ehrlich: die Opposition trägt mit ihren ausgabewirksamen Forderungen das ihre dazu bei.
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Die zuständigen Beamten haben mir heute morgen aufgeschrieben, daß Ihre ausgabewirksamen Gesetzentwürfe und Anträge, meine Damen und Herren von der Opposition, von 1972 bis 1975 nicht weniger als 17 Milliarden kosten,
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von denen rund 11 Milliarden durch den geltenden Finanzplan nicht gedeckt sind.
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Die Bundesregierung und insbesondere ihr Finanzminister haben die permanente Aufgabe,
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das Wünschenswerte mit dem Möglichen in Übereinstimmung zu bringen. Das ist kein leichtes Geschäft. Denn viele Reformen auf vielen Gebieten sind in der Tat erforderlich.
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Aber bisher haben wir es noch immer geschafft, Ausgaben und Einnahmen in Übereinstimmung zu halten.
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Es ist deshalb völlig abwegig, wenn Herr Kollege Strauß und andere Sprecher der Opposition von „Zerrüttung der Staatsfinanzen" oder „Finanzchaos" sprechen. Ich kann auch die permanenten Aufforderungen nicht verstehen, „die Karten auf den Tisch zu legen". Was soll denn das heißen? Schließlich liegen der Bundeshaushalt und die mittelfristige Finanzplanung diesem Hohen Hause zur Beratung vor.
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Darin findet man alle wichtigen Informationen für den Zeitpunkt, zu dem das eingebracht wurde, und dies wird, wie sich das gehört, bei der Verabschiedung des Haushalts 1972 ergänzt und kurz danach erneut bei der Aufstellung des neuen Haushalts, nämlich des 73ers, diesmal, wie wir hoffen, nicht erst am Schluß sondern schon zu Beginn der Sommerpause, also relativ rasch nach der Verabschiedung des 72er Haushalts in diesem Hohen Hause.
Tatsache ist, daß sich das Steueraufkommen völlig normal entwickelt, was auch Herr Kollege Strauß heute vormittag zugeben mußte. Der Bund wird darüber hinaus in diesem Jahr einen größeren Teil seiner Ausgaben auf dem Kreditwege finanzieren, was, wie die Opposition genausogut weiß wie ich, nicht zuletzt mit der schon erwähnten Neuverteilung des Umsatzsteueraufkommens zusammenhängt. Die Bundesregierung kann dies guten Gewissens verantworten, zumal da sie die Kapitalmärkte in den vergangenen Jahren kaum in Anspruch genommen hat.
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- Die von der Opposition betriebene Stimmungsmache gehört ebenso in die Rubrik Verunsicherung wie ihre Schwarzmalerei über die wirtschaftliche Lage.
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Bei der Beratung des Haushalts 1971 vor etwa einem Jahr hat die Opposition das gleiche Lied gesungen. Ich erinnere nur an den Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion vom 9. Februar 1971, in dem genau wie in ihrer heutigen Argumentation mit Zahlen sehr großzügig operiert wurde. Die Zahlen sahen - und jetzt sprechen wir nicht von Vermutungen, sondern von dem, was in den Büchern steht -, wie wir heute wissen, ganz anders aus, als sie damals im Februar vorausgesagt wurden. Ich will das durch ein paar Beispiele konkretisieren.
Erstens. Die Ausgaben des Bundes blieben um gut 1 Milliarde DM unter dem Haushaltssoll. Die im Frühjahr geplante Minderausgabe von 1 Milliarde DM wurde damit voll erwirtschaftet.
Zweitens. Zusammen mit den Steuermehreinnahmen - d. h. gegenüber dem Haushaltssoll ein Mehr von 1,7 Milliarden DM - wurde es möglich, die ursprünglich vorgesehene Nettokreditaufnahme von 3,7 Milliarden DM um 2,7 Milliarden DM auf rund 1 Milliarde DM zu vermindern.
Drittens. Der Konjunkturausgleichsrücklage hat der Bund, wie beschlossen, im vergangenen Jahr 1971 eine Milliarde DM zugeführt ;davon eine halbe
Milliarde DM bereits frühzeitig Ende des dritten Quartals.
Viertens. Auch die Zielvorstellung, die Verpflichtungsermächtigungen um 2 bis 3 Milliarden DM nicht in Anspruch zu nehmen, konnte verwirklicht werden. Ich dachte, es war richtig, einmal die damaligen Vermutungen mit den inzwischen feststellbaren Zahlen zu vergleichen.
Nun braucht man uns nicht darüber zu belehren, oder, wir brauchen einander nicht darüber zu belehren, daß die Preisentwicklung in der Tat einzelne Gruppen der Bevölkerung empfindlich trifft. Dies gilt vor allem für die Rentner, deren Einkommen als Folge des von uns gemeinsam geschaffenen Systems unserer Rentenversicherung erst mit einiger Verzögerung angepaßt werden. Aber ich bitte doch, auch hier die Tatsachen nicht völlig aus dem Auge zu verlieren. Tatsache ist, daß die Rentner in diesem Jahr eine Einkommenssteigerung um rund 10 % erwarten können. Denn zu der linearen Rentenanhebung hinzu kommt die Rückzahlung des Krankenkassenbeitrages, die dieses Hohe Haus vor kurzem auf Initiative der Koalitionsfraktionen beschlossen hat.
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Auch im nächsten Jahr werden die Renten um fast 10 % steigen und im übernächsten Jahr voraussichtlich sogar um mehr als 11 %. Ich darf auch darauf verweisen, daß dank der von dieser Bundesregierung eingeführten Dynamisierung der Kriegsopferenten diese um duchschnittlich 30% und die Renten für Witwen sogar um 40 % höher liegen als vor dem Regierungswechsel 1969.
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Ich will in diesem Zusammenhang jetzt nicht einen Überblick über die wichtigen Maßnahmen geben, die in den vergangenen zwei Jahren ergriffen wurden, um unser System der sozialen Sicherheit zu verbessen. Die von uns vorgeschlagene Reform der Rentenversicherung wird jedenfalls hinzukommen. Wir lassen uns, meine Damen und Herren von der Opposition, jedenfalls, Regierung und Koalition, in der Sorge um die sozial Schwächeren in diesem Lande von niemandem übertreffen.
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Aber ich wiederhole noch einmal: Wir müssen - ({26})
- Hören Sie doch bitte zu! Ich wiederhole ohne den Zwischenruf: Wir müssen und werden auch weiterhin alles uns Mögliche tun, um zu einem höheren Maß an Preisstabilität zu kommen. Aber es ist doch nicht seriös, wenn die Opposition landab, landauf so tut, als hinge dies allein von einer Bundesregierung in Bonn ab. Sie wissen genau, daß dies nicht seriös ist, so zu argumentieren.
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Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur durch
ihren Außenhandel und zahlreiche finanzielle VerBundeskanzler Brandt
flechtungen heute in einem hohen Maße in die Weltwirtschaft integriert,
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auch unsere Preis- und Kostenentwicklung ist heute eher noch stärker auf Grund der zunehmenden westeuropäischen Integration nicht unabhängig von dem, was in anderen Ländern passiert. Dies müßte spätestens in der Dollarkrise des vorigen Jahres auch den Kollegen von der Opposition klargeworden sein.
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Ich habe durchaus den Eindruck, daß dies heute in
der Bevölkerung besser verstanden wird als früher.
Ohne eine Reform des internationalen Währungssystems und ohne eine deutliche Reduzierung des amerikanischen Zahlungsbilanzdefizits - das muß der Bundeskanzler hier einmal ganz offen aussprechen dürfen -, ich wiederhole also: ohne Reform des Weltwährungssystems und deutliche Reduzierung des amerikanischen Zahlungsbilanzdefizits,
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das im vorigen Jahr nicht weniger als 30 Milliarden Dollar ausmachte, werden die weltweiten Inflationstendenzen nur schwer einzudämmen sein. Die Neufestsetzung der Wechselkursparitäten im Dezember war ein wichtiger Schritt auf diesem Wege. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihren Beitrag zur Lösung des Problems geleistet. Aber es wird sicher einige Zeit dauern, bis die Früchte dieser Neuordnung reifen. Ich bin überzeugt, daß es in den nächsten Jahren gelingen wird, auch zu einer grundlegenden Reform des internationalen Währungssystems zu kommen, nachdem die westliche Welt im Dezember in Washington demonstriert hat, daß sie auch heute noch zu solidarischem Handeln fähig ist, wenn auch meist leider erst in Krisensituationen.
In der Zwischenzeit müssen wir uns der Dollarflut mit anderen Mitteln erwehren.
({31})
Mit der Einführung des Bardepots und der kürzlichen Diskontsenkung auf 3 % haben Bundesregierung und Bundesbank das zur Zeit Mögliche getan, um die Devisenzuflüsse in Grenzen zu halten.
({32})
Weitergehende Kontrollen - ich habe erwartet, daß der Zuruf kommt - möchten und wollen wir vermeiden helfen, weil die Konvertibilität der D-Mark als ein wesentlicher Bestandteil unserer marktwirtschaftlichen Ordnung anzusehen ist. Dies sollte gerade von denen anerkannt werden, die sonst bei allen möglichen Gelegenheiten befürchten, die Marktwirtschaft könne in Gefahr geraten.
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Grund zu einer gewissen Zuversicht bieten hier vor allem die Fortschritte, die gerade in diesen letzten Wochen auf dem Wege zu einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gemacht worden sind. Sie stellen, um den französischen Wirtschaftsminister Giscard d'Estaing zu zitieren, den „größten Fortschritt seit Den Haag" dar. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern haben wir künftig eine bessere Chance, die importierte Inflation abzuwehren und im europäischen Rahmen - nicht im Alleingang , gestützt auf das, was jetzt vereinbart werden konnte, eine besser aufeinander abgestimmte Wachstums- und Stabilitätspolitik zu betreiben.
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Das sich entwickelnde „Europa der Zehn" und seine Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion werden uns neue Aufgaben stellen und uns gelegentlich auch nicht leichte Entscheidungen abverlangen. Aber es wird uns zugleich neue Chancen bieten. Dies sollten wir als wesentlichen positiven Faktor nicht übersehen, wenn wir heute die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes überdenken.
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Das Wort hat der Abgeordnete Barzel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst, Herr Bundeskanzler, eine Bitte an Sie zu richten. Sie haben hier von Ausgabeanträgen der Opposition in einer geradezu astronomischen Höhe gesprochen. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, uns diese Ausarbeitung - Sie haben gesagt, einige Beamte hätten sie Ihnen vorgelegt - zugänglich zu machen, damit wir genau wissen, worüber geredet wird.
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- Meine Damen und Herren, können Sie nicht einmal einen Satz in Ruhe anhören?
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- Ich denke, Sie werden noch mehr hören. Jetzt kommt der zweite dazu; Sie kennen ihn genau, Herr Kollege Schäfer.
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Sie haben hier am 2. Dezember 1969 - das hat in der Debatte heute morgen eine Rolle gespielt - angeboten, nicht nur die Steuersenkungen nicht vorzunehmen, sondern über alle ausgabewirksamen Anträge, über Ihre ebenso wie über unsere, eine Verständigung herbeizuführen. Daß es innerhalb des verfügbaren Finanzvolumens unterschiedliche Prioritäten gibt, hat z. B. die Abstimmung dieses Hauses über den Familienlastenausgleich dargetan. Sie werden ja wohl nicht mit der Opposition so weit umspringen wollen, daß Sie ihr gar noch verbieten möchten, wenigstens ihre eigenen Prioritäten zu setzen,
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wenn Sie schon bereit sind, eine finanzwirksame Verständigung herbeizuführen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihr Unverständnis für unsere wiederholt erhobene Forderung „Karten auf den Tisch!" geäußert und darauf hingewiesen, daß dem Hause ein Haushalt und eine mittelfristige Finanzplanung vorlägen. Zu einer ehrlichen Rede des Kollegen Schiller hätte es aber heute morgen gehört, uns mitzuteilen, was alles an dem vorliegenden Haushalt nicht mehr stimmt, was in der mittelfristigen Finanzplanung grundlos ist, weil es überhaupt nicht mehr berechenbar ist, und dann hätten Sie vor allen Dingen die Fragen meiner Kollegen beantworten müssen, warum der Haushaltsausschuß vor dem 23. April zu einer Beratung dieses unsoliden und nicht ausgeglichenen Haushalts hier in diesem Hause nicht kommen soll. Das ist doch die wirkliche Lage.
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Da der Kollege Schiller jetzt anwesend ist, möchte ich gern zum Thema der Verschuldung der öffentlichen Hand Bezug auf ein Gespräch nehmen, das wir in einer anderen Konstellation hatten, bevor Sie in den Jahren 1966/67 den ersten Eventualhaushalt starteten. Wir haben uns damals lange darüber unterhalten - wie ich finde, mit einem Erfolg für unsere Seite -, daß es bei der Frage der Verschuldung nicht nur wichtig ist, eine sicher aus konjunkturpolitischen, aber auch aus anderen Gründen sehr wichtige Obergrenze für Ausgaben im Auge zu behalten, und daß es noch mehr darauf ankommt, wofür man sich verschuldet. Das ist doch die Frage nach der Qualität Ihrer Finanzpolitik. Gehen Sie Schulden ein, um für morgen investive Mittel für die Modernität dieses Landes sicherstellen zu können, oder verschulden Sie sich, um notdürftig nominal einen Kassenausgleich, den es in Wirklichkeit nicht gibt, auf dem Papier herbeizuführen?
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Das ist die Frage, und diese Frage wird hier zu beantworten sein.
Der Bundeskanzler hat mit einigen Zahlen gearbeitet, die aus internationalen Vergleichen kommen. Er hat dabei die beiden heute morgen von uns vorgetragenen Fakten weder bestritten noch bestreiten können, nämlich einmal, daß wir jetzt die höchste Inflationsrate seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben, und zweitens die Tatsache, daß unser Wachstum in diesem Jahre bei Null ist. Diese beiden Zahlen haben Sie vergessen. Wenn Sie hier schon Indizes für die Steigerung der Verbraucherpreise oder der Lebenshaltungskosten vorlesen, sind wir natürlich gewappnet, im Laufe der Debatte den Zettelkasten zu öffnen und einmal zu erzählen, was sich früher bei Preissteigerungen von 2 und 21/2 % Herr Professor Erhard von der damaligen Opposition hat anhören müssen. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, dann sagen, Sie seien auf diesem Gebiet nicht ohne Erfolg geblieben - so waren eben Ihre Worte -, und zugleich die Sorgen, die wir äußern, als Stimmungsmache - dies war auch Ihr Wort - abtun, möchte ich Sie eigentlich fragen: Wie halten Sie es mit Ihren eigenen Worten? Als wir früher einmal kurz vor 4 % Preissteigerung waren und wir dies rügten, waren Sie schon der Bundeskanzler. Das war vor dem 1. Mai 1970. Da haben Sie gesagt: Bei 4 % wird es ernst. Jetzt sind wir schon eine ganze Weile über 5 %, wir nehmen das ernst, und das nennen Sie, wenn wir das sagen, eine Stimmungsmache!
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Sie haben sich eingangs auf die objektiven Fakten, wie Sie es nannten, gegründet. Ich möchte gerne mit Genehmigung des Herrn Präsidenten von den objektiven Fakten - ({7})
- Verzeihen Sie, das tut mir um so mehr leid, als es mir zum zweitenmal passiert.
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- Nein, ich werde mir jetzt angewöhnen, auf die Frau Präsidentin zu sehen. Das habe ich mir gerade vorgenommen.
Zu den objektiven Fakten, Herr Bundeskanzler, die Sie hier verschweigen, die der Kollege Schiller hier verschwieg und die wir eigentlich als Antwort auf die Rede des Kollegen Strauß über die inflationäre Lücke erwartet hätten, gehört doch z. B. die Stellungnahme des Finanzplanungsrates und des Konjunkturrates vom 9. März 1972. Das ist doch sicher unbestreitbar, denn was hier steht, ist doch sicher mit Ihrer Zustimmung zustande gekommen. Ich möchte das mit Genehmigung der Frau Präsidentin in diese Debatte einführen. Es heißt also im Bulletin Nr. 37 vom 11. März 1972 auf Seite 600 - nicht Bulletin der Opposition, sondern dieser Regierung -:
Die sich trotz der bereits beschlossenen Verbrauchsteuererhöhung ({9}) bisher abzeichnende Neuverschuldung der Gesamtheit aller öffentlichen Haushalte entspricht weder den gegenwärtig erkennbaren konjunkturpolitischen Erfordernissen noch den längerfristigen finanzwirtschaftlichen Möglichkeiten.
({10})
Die Ausgabenpläne müssen überprüft und unter Berücksichtigung der weiteren konjunkturellen Entwicklung auf ein gesamtwirtschaftlich vertretbares Maß zurückgeführt werden.
({11})
Bund, Länder und Gemeinden tragen hier eine gemeinsame Verantwortung.
Daher werden die Mitglieder der beiden Gremien gemeinsam Maßnahmen zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen von Bund, Ländern und Gemeinden vorbereiten. Gesetzgeberische Maßnahmen sind dabei ebensowenig ausgeschlossen wie eine spürbare Kürzung aller nicht auf gesetzlichen Verpflichtungen beruhenden Ausgaben bei allen öffentlichen Händen. Auf die weitere konjunkturelle Entwicklung muß bei allen diesen Überlegungen Rücksicht genommen werden.
Ferner wurde eine erste Aussprache über die Grundannahmen für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden im Jahre 1973 geführt.
Die Mitglieder beider Gremien kamen überein, daß sich die öffentlichen Haushalte an der zu erwartenden Zunahme des Bruttosozialprodukts von etwa 8 Prozent orientieren sollen.
Der Konjunkturrat und der Finanzplanungsrat behandelten des weiteren Fragen der Bildungsfinanzierung. Hierzu wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Für diese Gruppe stellten der Finanzplanungsrat und der Konjunkturrat fest, daß die Vorarbeiten für Prioritätsvorschläge im Rahmen von realistischen mittelfristigen Finanzplänen von Bund, Ländern und Gemeinden erfolgen müßten. Sie stellten weiter fest, daß sich diese mittelfristigen Vorschläge zur Bildungsfinanzierung im Rahmen einer vernünftigen, die Leistungsfähigkeit erhaltenden steuerlichen Belastung bewegen müßten. Sie müßten zugleich den Erfordernissen von Stabilität und Wachstum der Wirtschaft entsprechen.
Soweit dieses Zitat, das ich hier vollständig einführen wollte.
({12})
Herr Bundeskanzler, nach fast drei Jahren Regierung müssen Sie in Vorarbeiten für Prioritätsvorschläge über Bildungsfinanzierung eintreten. Dies ist eine der schrecklichsten Mitteilungen, die Ihre eigene Regierung der deutschen Öffentlichkeit hat machen müssen.
({13})
Wir halten fest, daß jetzt zum drittenmal dem Bundestag ein Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregierung vorgelegt wird. Wir müssen zum drittenmal feststellen, daß sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert hat und daß zugleich die Ziele der Bundesregierung - sowohl was die Preisstabilität wie was das wirtschaftliche Wachstum anlangt; dies ist ja wohl beides unbestreitbar - bescheidener ausgefallen sind. Zum drittenmal entzieht sich die Bundesregierung der Aufgabe, hier ein realistisches Bild der wirtschaftlichen Lage zu geben. Sie schweigt über die finanzpolitische Wirklichkeit und geht weiterhin den Weg, die Schwierigkeiten der Gegenwart mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu überdecken.
Wir sind, wie mein Kollege Müller-Hermann hier heute bisher unwidersprochen hat feststellen können, in der Situation, die der Bundeswirtschaftsminister im Jahre 1970 als die schlechteste aller möglichen Welten gekennzeichnet hat, in der Stagflation. Und es ist ganz klar, Herr Bundeskanzler, daß Sie heute ganz sicherlich nicht mehr den Inflationsdruck aus dem Ausland als ein Alibi für Ihre versagende Stabilitätspolitik anführen können.
({14})
Wir erinnern Sie daran, daß vor der letzten Währungsmaßnahme der Bundesbankpräsident, auf den Sie sich heute beriefen, Herr Klasen, erklärte, wir hätten eine hausgemachte Inflation.
({15})
Weil dies so ist, verlangen wir Antwort auf die
hausgemachten Themen, zuerst auf den Haushalt
und auf die Finanzpolitik dieser Regierung bezogen.
({16})
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, beim internationalen Vergleich sind, dann können Sie nicht übersehen, daß wir mit den Verbraucherpreisen im letzten Vierteljahr 1971 aber dem Durchschnitt der Gemeinschaft der Sechs liegen. Das bietet insbesondere deshalb zu Besorgnissen Anlaß, weil wir in ,den Fragen des Wirtschaftswachstums das Schlußlicht der Sechsergemeinschaft geworden sind.
({17})
Und dies beides zugleich ist doch Anlaß zu ernster Sorge.
Wenn dann die Regierung hier alles beschönigt und nicht einmal die finanzpolitischen Karten auf den Tisch legt, besteht doch Sorge über diesen konkreten Punkt hinaus. Denn ich stimme Müller-Hermann darin zu, daß dieses wirtschaftspolitische Nichthandeln, dieses Beschönigen einer wirtschaftspolitischen Lage, diese Darstellung einer Lage, die der Wirklichkeit nicht entspricht, bald staatspolitisch gefährlich ist, weil die Bürger eben am Wort einer Regierung zweifeln, und das kann allen Demokraten keineswegs egal sein, meine Damen und Herren.
({18})
Aber Wirtschaftspolitik ist ja keine Sache, die um ihrer selbst willen betrieben wird, sondern es kommt auf die Ergebnisse an, die man dabei bewerkstelligen kann. Wenn Sie sich die Ergebnisse ansehen, Herr Bundeskanzler, sollte Sie dies besorgt machen; da genügt nicht der Satz hier, daß Sie zu den sozial schwachen Schichten stehen. Wie ist es denn bei den Rentnern? Wir haben das niedrigste Rentenniveau, das wir seit der Reform im Jahre 1957 hatten. Wollen Sie bestreiten, daß insbesondere die kinderreichen Familien unter der Teuerung leiden? Wollen Sie bestreiten, daß die Landwirte - wir werden übermorgen darüber sprechen - im vergangenen Jahr eine drastische Verminderung ihres Realeinkommens hinnehmen mußten, oder wollen Sie gar bestreiten, daß Sparer und Bausparer erhebliche Substanzverluste haben und daß wir jetzt eine höhere Preissteigerung - Kollege Strauß hat dies heute morgen dargetan, ohne eine Antwort ,der Regierung zu erhalten - haben, als ,der Spareckzins beträgt? Dies ist kein Beitrag zur breiteren Vermögensbildung, sondern zum Gegenteil, das ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt, meine sehr verehrten Kollegen.
({19})
Herr Bundeskanzler, wie ist Ihnen und Ihrer Regierung zumute, wenn Sie Ihre Regierungserklärung in die eine Hand nehmen und das Sachverständigengutachten in die andere, wo Sie feststellen müssen, daß nur mit immer mehr Geld immer weniger bewirkt werden kann, daß der Sachverständigenrat Ihnen ins Stammbuch schreibt, daß wir hier rückläufige Raten haben, daß es mit den öffentlichen Leistungen also nicht vorwärts-, sondern zurückgeht? Wir haben doch hier nicht mehr, sondern weniger. Die Investitionsraten sinken, und mit den Steuererhöhungen, die Sie vorgenommen haben, können Sie doch nur ,die Löcher notdürftig stopfen; damit können Sie keine zusätzlichen öffentlichen
Aufgaben erfüllen oder gar Ausgaben vornehmen. Dies ist doch die Lage.
({20})
Wenn Sie mit Recht - das ist ein Punkt, in dem wir in manchem übereinstimmen - hier in mancher Hinsicht von Stabilitätsbewußtsein sprachen und wenn Sie an das Nachlassen der Inflationsmentalität und an das Stabilitätsbewußtsein, insbesondere der Gewerkschaften, appellierten, wären Sie doch, Herr Bundeskanzler, hier nur dann wirklich glaubhaft, wenn Ihre eigene Rechnung stimmte. Aber die stimmt nicht; denn die Schätzung ist doch unwidersprochen, daß für 'Bund, Länder und Gemeinden zusammen allein in diesem Jahr 1972 30 Milliarden DM fehlen. Das ist doch unwidersprochen, und dazu muß eine Regierung sich doch äußern, wenn hier ein Jahreswirtschaftsbericht gar noch mit prognostischer Kraft vorgelegt wird.
Ich sprach eben von den für uns alarmierenden Mitteilungen in 'dem Kommuniqué ,des Konjunktur- und des Finanzplanungsrates, und ich denke, niemand hat dieses Alarmzeichen überhört; denn dort ist ja von Haushaltssicherungsgesetzen und anderen Dingen die Rede. Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, vor einigen Tagen abermals aus konkretem Anlaß, den der Kollege Schiller besser kennt als wir alle, noch einmal angekündigt, sich selbst mehr um die anstehenden wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zu kümmern. Diese Erklärung kannten wir schon. Wir haben genau dieselbe Erklärung bekommen- damit auch die ganze Öffentlichkeit-, als der Kollege Möller als Bundesminister der Finanzen zurücktrat. Was ist geschehen, seitdem Sie sich verstärkt um diese Fragen kümmern?
({21})
Das Kommuniqué des Konjunktur- und des Finanzplanungsrates beweist, daß sich die Unordnung der öffentlichen Finanzen inzwischen krisenhaft zugespitzt hat. Wir sehen, daß von den Reformversprechen eines nach dem anderen wie ein Wechsel platzt, ob es sich nun um die Vermögensbildung, wo Sie nicht einmal einen Bericht zustande bekommen, ob es sich um die Bildungspolitik oder um die Steuerreform handelt.
Wir sehen, meine Damen und Herren - das gehört dazu, Müller-Hermann hat das völlig zu Recht in eine wirtschaftspolitische Frage hineingebracht -, daß die Frage des politischen Radikalismus und der nicht immer genügenden Abgrenzung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in diesen Fragen natürlich von wirtschaftspolitischer Relevanz ist. Das produziert doch ebenso wie Ihre Steuerbeschlüsse Unsicherheit. Wenn Sie sagen, man müßte doch einmal die Grenze der Belastbarkeit ausprobieren, zitiere ich dazu den Professor Erhard: „Was würde man wohl machen, wenn ein Arzt mit seinem Patienten so umginge? Denn dann ist doch die Gefahr, daß man jenseits der Grenze der Belastbarkeit eines Tages sich einfindet, und die Folgen sind dann nicht mehr reparierbar."
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Meine Damen und Herren, ich begrüße allein das, was die Regierung auf dem europäischen Gebiet hier vorgetragen hat. Aber, Herr Bundeskanzler, wollen wir uns doch hier miteinander nicht ein Bild machen, das den Realitäten nicht entspricht. Das, was jetzt beschlossen ist, ist doch im Grunde die Rückkehr zu der Lage, die im vergangenen Jahre bestanden hat, bevor Sie sich zum währungspolitischen Alleingang entschlossen haben. Das ist doch die Situation.
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Nun sollte man sich dessen, glaube ich, nicht allzu laut belobigen. Ich meine, an dieser Stelle ist der Hinweis notwendig, daß diese Wirtschafts- und Währungsunion, die wir immer gewollt und bejaht haben - das ist hier überhaupt keine Frage -, nur zu einem Erfolg führen wird und nur dann wirklich halten und nicht bei den nächsten Schwierigkeiten in einem Mitgliedsland wieder aufgehalten wird, wenn Sie gleichzeitig damit Stufen zur politischen Union des freien Europa gehen. Ich will hier die außenpolitischen Dinge nicht einführen. Das überlassen wir dem Kollegen Schiller. Jeder wird sich seinen Vers darauf zu machen haben, daß er von dieser Stelle aus die Unternehmer ermunterte, zugunsten dieser Ostpolitik Stellung zu nehmen. Das kommt in anderen Debatten, das gehört hier nicht dazu.
Herr Bundeskanzler, wir fordern Sie also noch einmal auf, aus den dargetanen Gründen die Karten auf den Tisch zu legen, ein ungeschminktes Bild der öffentlichen Finanzlage zu geben, sich gestützt darauf um einen Stabilitätspakt der Sozialpartner zu bemühen und dann auf alle Gesetzesvorhaben und Pläne zu verzichten, die entweder nicht finanzierbar sind oder die Volkswirtschaft in einer Weise belasten, daß sie sie nicht tragen kann, oder die offenkundig den Trend der Systemsprengung in sich tragen. Wenn Sie das nicht schaffen, wird Unsicherheit bleiben und werden wir hier kein Stück weiter vorankommen.
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Herr Bundeskanzler, in einem Punkt hätte ich gern von Ihnen eine Aufklärung erhalten. Es war etwas merkwürdig, zu hören, daß für die Preise nicht allein die Regierung verantwortlich sei. Das haben wir früher anders gehört.
({25})
Nun, wollen wir uns damit nicht lange aufhalten. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn wir in dem Punkt einig sind - ich bin sicher, daß der Kollege Arndt nachher eine rationale wirtschaftspolitische Rede hierzu halten wird -, können wir uns vielleicht darüber verständigen, daß auch der Bundeskanzler seinen Freunden draußen untersagt, für die Preissteigerung, solange er regiert, allein die Unternehmungen verantwortlich zu machen. Meine Damen und Herren, das kann schon deshalb nicht stimmen, weil sonst der Kollege Leber mit seinen dauernden Preissteigerungen eine ganz besonders unverantwortliche Politik, gerichtet gegen die eigene Koalition betreiben würde;
({26})
denn er ist doch wohl, wenn ich es richtig sehe, der größte Unternehmer, den die Bundesrepublik Deutschland hat.
Meine Damen und Herren, wenn ich diese Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht höre, wenn ich sehe, wie man, falls irgendwo ein Strohhalm ist, ihn ergreift, aber sich scheut, uns allen wirklich reinen Wein einzuschenken, wenn ich sehe, was hier von Reformversprechen übriggeblieben ist, wenn früher beschlossene Reformen unter Ihren Händen zu Ruinen werden, dann sage ich: dies ist die traurigste ökonomische und soziale Bilanz, die je in diesem Hause vorgelegt worden ist. Diese Regierung ist nicht einmal imstande, zu bewahren, was sie übernommen hat.
({27})
Das Wort hat der Bundesminister Schiller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mir große Mühe geben, Herr Barzel, in Ihren großen Worten den kleinen Inhalt zu finden.
({0})
Sie haben hier ein Bild der deutschen Situation, der deutschen ökonomischen Lage vermittelt, das aber auch in keiner Weise den Meinungen entspricht, die von unabhängigen Leuten und unabhängigen Instituten heute dargelegt werden.
({1})
Ich will Ihnen ein Zitat geben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe für den Redner.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, warum Sie sich aufregen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich wollte versuchen, dem schwarzen Bild, das Herr Barzel von der ökonomischen Lage hier vorgab, eine Äußerung des unabhängigen Ifo-Instituts in München entgegenzusetzen. Sie lautet folgendermaßen - es ist die letzte Nummer des Ifo-Schnelldienstes vom 15. März 1972 -:
Im Gegensatz zur Situation im Herbst 1966 deutet jedoch heute nichts auf eine kumulative Verstärkung der Konjunktur nach unten hin. Anders als damals wirken der private Verbrauch, insbesondere aber die Nachfrage nach Wohnbauten konjunkturstützend.
({1})
Die krisenhafte Stimmung, wie sie in der Wirtschaft im Herbst 1971 weit verbreitet war, ist zu Beginn des Jahres einer freundlicheren Grundhaltung gewichen. Ausschlaggebend hierfür dürfte neben der Neufixierung der Wechselkurse und dem Ende des Streiks in der Metallindustrie insbesondere die Ankündigung von konjunkturanregenden Maßnahmen durch die Bundesregierung gewesen sein.
({2})
Meine Damen und Herren, dies erklärt ein unabhängiges Organ. Hier wird die Reaktion der Wirtschaft auf Maßnahmen einer Bundesregierung positiv registriert, einer Bundesregierung, von der Herr Barzel sagt, sie habe kein Vertrauen in der Wirtschaft, kein Vertrauen in der Bevölkerung.
({3})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben Sie alle angehört, und wir dürfen ja wohl antworten.
Herr Kollege Barzel hat meine Antwort auf Herrn Strauß vermißt. Ich will sie jetzt geben. Herr Strauß, Sie haben in einem Punkt festgestellt, daß absolute Preisstabilität, von der Zahlengröße Null, nicht erreichbar sei. Wir sind uns darin völlig einig.
({4})
- Hören Sie doch einmal zu! Es ist noch nicht das Rezept erfunden - auch nicht für Herrn Stücklen -, alles auf einmal, mit einem Urlaut, mit einem Wort zu sagen. - Herr Strauß hat weiter gesagt: Aber wir sollten diese Null einprogrammieren. Die Wirklichkeit würde am Ende des Jahres dann ohnehin bedeuten, daß man 2 % oder 21/2 % darüber liegen werde. Das war seine Darstellung. Ich kann nur sagen: ich freue mich von Herzen, zum erstenmal durch Herrn Kollegen Strauß eine Unterstützung gefunden zu haben in unserem Bemühen, Zielprojektionen jeweils für das kommende Jahr zu formulieren. Jedesmal sind wir genau in demselben Dilemma wie er: Wir wollen, daß z. B. die Preisbewegung nicht zu weit nach oben geht und halten etwas tiefer, weil wir genau wissen: wenn wir in der Pro10284
jektion meinethalben auf 21/2 % gingen, würde durch die psychologische Auswirkung die Bewegung sehr leicht weiter nach oben gehen.
({5})
In diesem Sinne haben wir bisher gehandelt.
({6})
Genau in demselben Sinne haben wir die Projektion angesetzt unter Einbeziehung der außenwirtschaftlichen Lage.
Und eines muß ich Ihnen nun sagen, wenn Sie das mit früheren Jahren - 1965, 1964 - vergleichen, damals war in der Tat die Lage so: Damals gab es kein außenwirtschaftliches Problem.
({7})
- Weil die Dollar-Situation eine andere war und weil im Ausland keine inflationäre Umwelt herrschte - wie jetzt.
({8})
- Jawohl! Sehen Sie sich doch die Zahlen aus jenen Jahren an!
({9})
Herr Strauß, zu dem, was Sie uns hier in Sachen Zielprojektion gesagt haben, kann ich nur sagen: Das ist eine Unterstützung dessen, was wir Jahr für Jahr versuchen, und ist auch eine Darstellung des Risikos, das mit solchen Projektionen verbunden ist.
({10})
Nun haben Sie die Frage nach der inflationären Lücke gestellt. Ich muß mit aller Deutlichkeit folgendes sagen. Es gibt keine absolute Feststellung über die Erlaubtheit dieser oder jener Lücke im Sinne einer Inflationslücke. Die Größe, die jeweils angemessen ist, hängt ausschließlich von der jeweiligen Konjunkturphase ab. Ich glaube, auch da sollte man sich mit Herrn Strauß einigen können: In einem Jahr der Rezession wie 1967 war eine Zuwachsrate des Bundeshaushalts von 11 oder 12 % angebracht. Dies war eben in diesem Sinne keine inflatorische Lücke. Die Engländer sagen dazu: Sie war reflatorisch. Wenn dieselbe zusätzliche Ausgabe oder zusätzliche Verschuldung in einer Situation eintritt, in der die gesamte Wirtschaft, die gesamte Entwicklung sich ohnehin im Boom, im steilen Aufstieg befindet, wirkt eine solche Mehrverschuldung sehr viel anders als im Zeichen der ruhigen Konjunkturentwicklung oder gar der Stagnation.
Herr Strauß, von Ihrer Hypothese aus - die Herr Barzel noch unterstrichen hat -, daß wir uns in diesem Augenblick - sagen wir, von Oktober/ November letzten Jahres bis jetzt - im Wachstum unserer Wirtschaft realiter bei der Größe Null befänden, muß ich Ihnen sagen, daß analog zur Situation des Jahres 1967 eine Zuwachsrate des Bundeshaushalts von, sagen wir einmal, 11 % durchaus konjunkturgerecht, ja sogar notwendig ist.
(Beifall bei den Regierungsparteien. - Zuruf von der CDU/CSU: Und die Preise? Abg. Strauß: Inflation als „built in"!
- Keineswegs als eingebaut. ({11})
- Null war es da auch nicht, Herr Strauß. Wir wollen bei den realen Zahlen bleiben! Es lag keineswegs bei Null. Aber wir nehmen auch an, daß bei einem stärkeren Wachstum unserer Gesamtwirtschaft, bei einer Mehrauslastung unserer vorhandenen Kapazitäten in der zweiten Hälfte dieses Jahres, genauso wie damals im Aufschwung, die eigentlichen Stabilitätsgewinne dann erst entstehen, weil dadurch Kostendegressionen eintreten und damit eine zusätzliche Beruhigung in den Preisen in Erscheinung tritt. Auch dies sollten Sie in Rechnung stellen.
Hier ist von der Neuverschuldung der öffentlichen Hände insgesamt die Rede gewesen. Ich habe mir inzwischen die Zahlen noch einmal angesehen. Wenn wir den Bundeshaushalt, die Haushalte der Länder und Gemeinden und die Haushalte all jener hilfsfiskalischen Einrichtungen, die vorhin mehrfach zitiert worden sind und die alle miteinander zu dem weiten Begriff „öffentliche Haushalte" gehören, insgesamt nehmen, stellen wir folgendes fest: Im Jahre 1970, für das diese Regierung wohl haushalts- und finanzpolitisch verantwortlich war, ergab sich für den Bereich der öffentlichen Haushalte insgesamt ein Finanzierungsüberschuß von plus 4,2 Milliarden DM. Das ist die Rechnung. Sie können dies in der neuesten Nummer der Monatsberichte der Deutschen Bundesbank nachlesen. Im Jahre 1971 betrug dieser Überschuß immerhin noch 2,8 Milliarden DM. Im zweiten Halbjahr 1971 ist dieser Überschuß bei abflachender Konjunktur auf minus 0,5 Milliarden DM für alle öffentlichen Haushalte insgesamt umgeschlagen. Ich sage Ihnen hier an dieser Stelle: diese Nettozusatzverschuldung, dieses Minus, das da im zweiten Halbjahr 1971 eingetreten ist, war durchaus antizyklisch, konjunkturpolitisch adäquat, richtig bemessen und hilfreich in der Vermeidung von Arbeitslosigkeit.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?
Bitte sehr.
Herr Schiller, glauben Sie, daß das, was Sie zum Schluß gesagt haben, in der Ausgabe noch stimmen kann, wenn man überlegt, daß Sie uns für das erste Halbjahr 1971 eine Steigerungsrate von im Schnitt 16,5 % und für das zweite Halbjahr eine viel geringere Steigerungsrate genannt haben, um dann am Ende auf eine Steigerungsrate von 13 % zu kommen? Die MehrverschulLeicht
dung nur verursacht im zweiten Halbjahr! Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, was Sie hier sagen.
({0})
Herr Leicht, ich habe Ihnen hier den gesamten Finanzierungssaldo aller öffentlichen Haushalte unter Einschluß aller hilfsfiskalischen Einrichtungen, veröffentlicht bei der Deutschen Bundesbank, verlesen. Sie alle können in diesem Augenblick oder danach diese Zahlen nachprüfen.
Ich sage Ihnen noch eines, und damit komme ich wieder auf Herrn Barzel zurück. Das, was er verlesen hat, ist ein Kommuniqué aus dem Finanzplanungsrat und dem Konjunkturrat für die öffentlichen Hände, an dem ich zusammen mit meinen Kollegen aus den Ländern gemeinsam mitgearbeitet habe. Ich will Ihnen nun die Lage etwas deutlicher schildern und ohne Wertung, ohne Angabe, wer schuldig sei oder wer sühnen müsse, ich will Ihnen sagen, wie wir zu diesen Feststellungen gekommen sind. Wir haben vorhin festgestellt, daß der Bund, die Länder und die Gemeinden insgesamt - der Herr Bundeskanzler hat es wiederholt - neue Steuerquellen in Höhe von 4 Milliarden DM erschlossen haben. Bei den Ländern selber war für das Jahr 1972 eine Neuverschuldung von 5,3 Milliarden DM in Aussicht genommen. Wir hatten angenommen, daß die neuen Steuermittel - Anteil an der Umsatzsteuer usw. - etwa zu einer Reduktion der Neuverschuldung auf 3,5 Milliarden DM bei den Ländern führen würde.
Zum Erstaunen vieler anwesender Länderfinanzminister selbst stellte sich heraus, daß die Nettoneuverschuldung inzwischen durch Mehranforderungen dieser oder jener Ressorts in diesen oder jenen Ländern insgesamt trotz der großen steuerlichen Entlastung auf 6 Milliarden DM zu veranschlagen war. Das war, wie die Amerikaner sagen, ein „Swing" von 2 1/2 Milliarden DM, also ein Umschwung von einer Größe, die uns gemeinsam veranlaßt hat, deutlich zu sagen: hier müssen Grenzen gesetzt werden; hier müssen die Ausgaben geprüft werden.
Wir haben von gesetzlichen Maßnahmen gesprochen; Herr Barzel ist leider nicht mehr im Hause. Ich sage noch einmal als Beispiel: Wir haben auf Grund des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes eine Rechtsverordnung zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung gerade im Hinblick auf diese Entwicklung für den Sommer dieses Jahres in Aussicht genommen. Das war unsere gemeinsame Vorstellung. Das Hauptproblem liegt in der Tat in diesem Bereich. Ich wiederhole es, und zwar sage ich es ohne Wertung oder Abwertung in bezug auf dieses oder jenes Land oder in bezug auf diese oder jene Gemeinde: Wenn hier von der Verschuldung insgesamt gesprochen und gefragt wird, wofür verschuldet wird,
({0})
so sage ich ganz deutlich: im Bund nur für Investitionen
({1})
- Sie wissen, daß wir überhaupt nur einen kleinen Teil unserer Investitionen mit Verschuldung finanzieren. Die Selbstfinanzierungsquote aus Steuern für eigene Investitionen ist beim Bund bekanntlich sehr hoch, d. h. der Anteil der Kreditmittel ist klein.
({2})
Ein zusätzlicher Teil der Verschuldung des Bundes ist aus der Tatsache entstanden, daß wir Steuereinnahmequellen im Verhandlungswege an die Län- der abgetreten haben. Daran können Sie nicht zweifeln.
({3})
Wir haben weiter festgestellt, daß der Hauptteil der vorliegenden Neuverschuldung bei den Ländern für Bildungseinrichtungen vorgesehen ist. Auch darüber haben wir jetzt nicht zu urteilen, sondern das haben wir der gemeinsamen Prüfung in der Zukunft vorbehalten. Herr Barzel hat - auch auf Grund des Kommuniqués - gesagt, in Sachen Bildungsfinanzierung hätten wir im Finanzplanungsrat gewisse Beschlüsse über die Notwendigkeiten von Priori- täten gefaßt. Meine Damen und Herren, das ist aber doch kein Armutszeugnis für den Bund oder für die Bundesregierung, sondern dabei handelt es sich um folgendes. Wir haben festgestellt, daß die Bildungsplaner in den Ländern Zahlenmaterial als Basis zur Verfügung haben, das für die Bildungsplanung mittelfristig unzureichend ist.
Erinnern Sie sich einen Augenblick daran, daß die wesentlichen Investitionen und der wesentliche Bedarf in diesem Bereich von den Ländern kommen. Wir haben dagegen festgestellt, das Minimum für eine mittelfristige Bildungsfinanzierungsplanung sei doch wohl das Vorliegen einer normalen mittelfristigen Finanzplanung. Dabei haben wir konstatiert: eine solche gibt es beim Bund und im übrigen bei drei Bundesländern; ein weiteres Bundesland bereitet diese mittelfristige Finanzplanung vor. Ich will jetzt in Pietät und Takt nichts über die politische Zuordnung dieser Bundesländer sagen. Über eines besteht aber gar kein Zweifel: solange nicht alle 11 Bundesländer so etwas wie eine mittelfristige Finanzplanung haben, können wir auch nicht eine gemeinsame mittelfristige Finanzplanung für den Sektor Bildung vornehmen; und das liegt nicht am Bund.
({4})
Dann weise ich mit aller Deutlichkeit darauf hin: in diesem Kommuniqué ist von einem Haushaltssicherungsgesetz überhaupt nicht die Rede.
({5})
- Überhaupt nicht. - Jawohl, die Rechtsverordnung ist ein gesetzgeberischer Akt durch den Bundesrat, angeführt als Beispiel; aber das Haushalts10286
sicherungsgesetz ist nicht genannt. Darüber kann auch kein Zweifel sein.
({6})
- Das ist nicht Gegenstand der Debatte im Finanzplanungsrat gewesen.
({7})
- Herr Luda, ich weiß nicht, ob Sie dabei waren! Ich weiß nicht, welche Quellen Sie gehabt haben. Auf jeden Fall unterhalten wir uns jetzt über das, was Gegenstand der Debatte war und was in vollständiger Toleranz in ein umfassendes Kommuniqué eingegangen ist.
({8})
- Nein, nicht für das Volk, sondern für alle, die mit dieser Sache befaßt sind.
Dann hat Herr Barzel gesagt: wir brauchen einen Stabilitätspakt zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und Staat. Ich wollte darauf nicht eingehen. Dieser Stabilitätspakt ist vor drei Jahren vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagen worden. Wir haben viele Male in der Konzertierten Aktion über dieses Thema gesprochen. Wir haben festgestellt, daß die beiden Tarifvertragsparteien selber sich nicht in der Lage sahen, einen verbindlichen Pakt dieser Art mit den eigenen Gesetzen der Tarifautonomie in Einklang zu bringen. Das ist die Lage, und das sollte man anerkennen. Dann haben wir die beiden Seiten in der Konzertierten Aktion eigenen Spitzengesprächen überlassen und gesagt: „Setzt euch mal untereinander über so etwas auseinander!" Dabei ist das herausgekommen, was ich heute morgen zu schildern versucht habe. Die Gewerkschaften haben gesagt: „Wir werden mal versuchen, entsprechend der Konjunktur eine gesamtwirtschaftlich adäquate Lohn- und Gehaltspolitik zu betreiben. Aber wir setzen dabei voraus - wenn eine solche Tendenz überhaupt möglich ist -, daß die Unternehmer der Konsumgüterindustrie ein solches Verhalten der Gewerkschaften honorieren." Genau diesen Punkt habe ich heute morgen angesprochen: daß es höchste Zeit wird, daß von der Verbrauchsgüterpreisseite auf den Trend zu einer kostenneutralen Lohnpolitik reagiert wird.
({9})
Das ist der Weg zu einem solchen Pakt. Einen geschriebenen Pakt, Herr Müller-Hermann, das haben wir längst festgestellt, gibt es nicht, weder mit Tinte noch mit Blut geschrieben. Den gibt es nur in den Verhaltensweisen. Und da sind jetzt diejenigen, die im Konsumgütersektor für die Preispolitik maßgebend sind, am Zuge. Die Gewerkschaften waren etwas schneller. Das ist die Situation.
({10})
Ich habe über die gesamten Finanzierungssalden der öffentlichen Haushalte gesprochen. Ich habe deutlich Auskunft gegeben, daß es den absoluten Begriff der Inflationslücke bei der Finanzierung öffentlicher Ausgaben nicht gibt. Ich will jetzt noch ein paar Worte - auch als Antwort auf die Fragen von Herrn Strauß zur Währungspolitik sagen. Herr Strauß, ein Zinsgefälle ist natürlich relevant für Devisenbewegungen. Ich habe mich nur dagegen gewandt, daß man es einzig und allein einer Seite, nämlich der sogenannten Hochzinspolitik eines Landes, zurechnet. Es kann doch durchaus so sein - wir alle kennen die Situation -: wenn ein großes Land drüben mit den Zinsen in den Keller gehen will, dann können wir selbst da nicht ganz folgen. Selbst bei einer bescheidenen Zinspolitik, bei einer leichten Zinspolitik, die im eigenen Hause gar nicht mehr Hochzinspolitik ist, treten dann noch Probleme auf. Eines kann ich dazu sagen: Die Bundesbank hat festgestellt, daß das in dem Bereich der kurzfristigen Geldbewegung internationaler Art durch die Bundesregierung neu eingerichtete Bardepot wirkt, d. h. es hat den Zinsgraben im Bereich der kurzfristigen internationalen Geldbewegungen zugeschüttet. Auch das sollte man zur Kenntnis nehmen.
Schauen Sie sich die Devisenmärkte an! Sie sind deutlich ruhiger geworden. Wir sollten auch daran denken und jedes Wort, das wir in dieser Richtung heute und hier von uns geben, auf die Waagschale legen.
Herr Kollege Strauß hat ein sehr anschauliches Bild von den Gewinnen gezeichnet, die bei Währungsveränderungen von Leuten gemacht würden, die nicht arbeiteten, sozusagen zu Hause auf dem Sofa säßen und nur hin und wieder telefonierten.
({11})
Jawohl, jawohl, nur dafür. Das habe ich so gemeint, Herr Strauß. Wenn sie nebenbei noch eine schöne Fabrik haben, dann habe ich jenes Einkommen nicht zugerechnet; das ist klar.
({12})
Nur, Herr Strauß, ich will Ihnen eines sagen. Wenn Ihre These stimmt, daß nur die Großen dabei so riesige Gewinne gemacht haben und die Kleinen durch die Aufwertung oder die Einführung der flexiblen Wechselkurse nur Schaden gehabt haben, dann frage ich Sie folgendes: Warum hat sich die Deutsche Sparerschutzgemeinschaft unaufhörlich für die Aufwertung der D-Mark im richtigen Augenblick und für die Freigabe des Wechselkurses eingesetzt?
({13})
Die Sparerschutzgemeinschaft ist keine Gemeinschaf,
({14})
die etwa nun die Interessen der deutschen Großindustrie vertritt.
({15})
Oder ein anderes. Warum, Herr Strauß, haben sich der Zentralverband des Deutschen Handwerks und sein Präsident Wild - Sie kennen den Präsidenten Wild genausogut wie ich - jedesmal für eine Aufwertung der D-Mark im richtigen Augenblick und für die Freigabe der Wechselkurse im vorigen Jahr eingesetzt? Doch nur, weil sie, die kleine und mittlere Gewerbetreibende vertreten, sich gegen den Inflationsinfekt vom Ausland schützen wollten.
({16})
Das war doch deren Interesse. Sie können das nicht auf Ihre einfache Formel bringen. Im Gegenteil, die importierte Inflation ist eine Angelegenheit, die gerade unser Handwerk, gerade unser mittleres Gewerbe ganz besonders unter den Schlitten bringt.
({17})
- Wir haben hier in diesem Fall über Währungspolitik gesprochen, und darauf antworte ich. Herr Strauß hat seine Sympathie für andere Maßnahmen der außenwirtschaftlichen Absicherung ausgesprochen. Er hat den ominösen Paragraphen des Außenwirtschaftsgesetzes nicht genannt, aber er hat deutlich in dieser Richtung gesprochen und darauf hingewiesen, es würden solche administrativen Maßnahmen auch in anderen Ländern gebraucht.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen dazu nur zweierlei sagen: Wir haben in der Bundesrepublik einen Außenhandelsumsatz von 240 Milliarden DM. Selbst wenn wir administrative Kontrollen jener Art einführten, so könnte es dennoch möglich sein, daß Zahlungsfristen und Zahlungsziele sich verschieben, und es genügen im Schnitt eine Verschiebung von vier Wochen in den Fristen und Zielen, um 20 Milliarden DM zusätzlich als Devisen, selbst unter einem solchen administrativen Kontrollsystem, in das Land hereinzubringen.
Oder eine andere Möglichkeit: Sie bringen Zahlungsziele, Exportpreise und Importpreise unter Kontrolle, und dann landen wir beim LSO-Verfahren im Außenhandel,
({18})
und das wollen wir nicht. - Gott sei Dank, daß ich darin Verbündete habe.
Oder: Wie kommen Sie mit dem Kontrollsystem an das neue Faktum der großen multinationalen Unternehmungen heran, die riesige Mengen von Liquidität über die Grenzen bewegen können? Mit Kontrollen können Sie es nur machen, indem Sie in jede multinationale Unternehmung eine Truppe von Kommissaren schicken, die die Akten und die Preise prüfen. Wenn Sie Kontrollen haben wollen!
({19})
Sonst ist die Sache nicht effizient, Herr Strauß.
Dann gibt es die berühmten Lücken, und dann entstehen unter einem Regime administrativer Kontrollen neue Gewinne, nun nicht mehr Spekulationsgewinne, sondern Gewinne anderer Art. Das sind Gewinne, weil man ein Kontingent hat, das sind Gewinne, weil man eine Genehmigung hat. All diese Leute, die dann mit Genehmigung in den Besitz der billigen Mittel gekommen sind, oder alle die Leute, die Lücken gefunden haben, machen dann ihrerseits Gewinne, genau solche bequemen Gewinne, die Sie beschrieben haben, die bei Spekulanten bei der Veränderung von Währungsparitäten entstehen können.
Damit kommen wir auf den Kern der Sache. Es ist kein Kraut gewachsen, in einer solchen Situation, wo draußen in der Welt Währungsschwierigkeiten, Währungsschwächen bestehen, mit administrativen Methoden effektiv und gerecht dagegen anzugehen. Herr Strauß, auch Sie sind sicherlich nicht der Meinung, daß wir zu einer totalen Zurückweisung des Dollars im internationalen Zahlungsverkehr übergehen sollten; ich glaube, nicht.
({20})
- Da wäre ich nicht seiner Meinung. Denn ich bin der Meinung, wenn wir zu einer totalen Zurückweisung, wie das die Lehrbücher so früher sagten, zu einer totalen Repudiation des Dollars kämen, würde das einen ökonomisch unfreundlichen Akt gegenüber einem anderen Land bedeuten.
({21})
Es würde aber auch bedeuten, daß wir gegenüber rund einem Drittel unseres Exportes in jene Zone der verweigerten Währung unsererseits eine Art von unfreundlichem Akt begehen würden.
({22})
Ich glaube, darüber, daß wir diese radikale Lösung nicht wählen können, sind wir uns einig.
Unser Kollege Arndt hat vielleicht andere Vorstellungen, die in dem Zeitungsartikel nicht richtig wiedergegeben sind, und er ist Manns genug, seine wissenschaftliche Auffassung zur Lösung dieses Dollarproblems hier selber und sicherlich überzeugend darzustellen.
Ich kann nur eines sagen, Herr Strauß. Die Quintessenz auch Ihrer Darlegungen ist die: Wir sollten das Washingtoner Ergebnis und die Washingtoner Beschlüsse verteidigen und weiterentwickeln. Sie werden nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich jetzt weitere, konkrete Überlegungen öffentlich darstelle. Das wäre schon ein Verstoß gegen unsere Verpflichtung, daß wir in Zukunft in diesen Dingen in Europa konzertiert, gemeinsam, gemeinschaftlich vorgehen. Die Verteidigung der europäischen Position ist nunmehr leichter geworden, weil sie zu zehn und vielleicht eines Tages mit zwei oder drei weiteren Ländern zu zwölfen oder dreizehn stattfindet. Herr Strauß, was ich Ihnen bei Ihren Argumentationen - nicht moralisch, sondern gedanklich - vorwerfen muß: Sie sind immer noch in dem Zustand ,der Verteidigung der nationalen Währung bzw. in dem
Modell der nationalen Währungspolitik. Dieses Modell haben wir aufgegeben.
({23})
- Ich habe Ihnen viele Male gesagt, daß wir ,den Alleingang nicht vorgeschlagen und ihn auch nicht gemacht haben, denn einige sind mit uns gegangen; das wissen Sie genau.
({24})
Sie argumentieren zu dem Thema Währungspolitik immer noch, als ob wir, die Bundesrepublik Deutschland, allein mit dem nationalen § 23 die internationalen Währungsprobleme lösen könnten.
({25})
Wir befinden uns alle, Sie und wir, in dieser Frage
- das gebe ich freimütig zu - in einem gemeinsamen Lernprozeß. Sie sollten aus Ihren Überlegungen - ich sage es noch einmal - das veraltete Modell der autonomen nationalen Währungspolitik ausschließen.
({26})
Ein letztes Wort zum Thema Konjunkturzuschlag, weil es hier von Herrn Strauß wiederum angesprochen wurde. Herr Strauß, ich will Ihnen zwei Beweise dafür liefern, daß die Rückzahlung ab 15. Juni mit Ihren Vermutungen oder Zufälligkeiten - oder wie immer Sie das nennen mögen - überhaupt nichts zu tun hat. Vom 18. bis 20. November vorigen Jahres hat ein Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands stattgefunden, den Sie in anderem Zusammenhang sicherlich in Erinnerung haben werden. Auf diesem Parteitag habe ich gesagt: Aus gesamtwirtschaftlichen Gründen werden wir wahrscheinlich am Ende der ersten Hälfte des Jahres 1972 mit ,der Rückzahlung des Konjunkturzuschlags beginnen.
({27})
Das war zu einem Zeitpunkt, als weder Sie noch andere von irgendwelchen vorgezogenen Wahlterminen sprachen.
({28})
- Jawohl, beginnen, natürlich!
({29})
- Lieber Herr Strauß, ich habe es offengelassen, ob wir ihn in einer Rate oder in zwei Raten zurückzahlen. Das ist, wie Sie selber wissen, ein technisches Problem.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner?
Bitte sehr!
Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß die CDU/CSU-Fraktion am 11. Juli 1970 einen Antrag gestellt hat, wonach die Freigabe des Konjunkturzuschlags spätestens am 30. Juni 1972 erfolgen sollte?
({0})
Sehr verehrter Herr Kollege Porzner, dies ist mir bekannt, und ich glaube, Herr Kollege Strauß versteht nun, weshalb ich u. a. die Gegenwart des Kollegen Stoltenberg heute so vermißt habe, denn vor mir liegt sein Antrag:
Wir beantragen, daß die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages spätestens bis zum 30. Juni 1972 erfolgt.
({0})
Aber ich will Ihnen noch eines sagen. Herr Stoltenberg hat damals zwei Begründungen gegeben, die nicht so schön waren und die wir ablehnen mußten.
({1})
- Eine Begründung lautete: durch die Vorziehung des Termins - wir wollten mehr konjunkturpolitische Bewegungsfreiheit haben - könnten die weit verbreiteten Befürchtungen vermindert werden, die versprochene Rückerstattung sei nicht gesichert. Hier bin ich allerdings der Meinung, daß der sehr verehrte Herr Kollege Stoltenberg mit dieser Begründung uns allen, ja der Autorität dieses Hauses, das das Gesetz mit Rückzahlungspflicht beschlossen hat, keinen Gefallen getan hat.
({2})
Der Kollege Stoltenberg hat dann eine zweite Begründung gegeben, die besonders pikant ist. Darin steht:
Außerdem wird der unangenehme, von der Koalition sicher nicht gewünschte Eindruck vermieden, der Zeitpunkt in ihrer Vorlage sei bewußt wenige Monate vor die nächste Bundestagswahl gelegt.
({3})
Sie sehen - Herr Stoltenberg und Sie, Herr Strauß -, Sie haben in Sachen Rückzahlung des Konjunkturzuschlages eine Art Trauma, ein Bundestagswahltrauma. Sie denken bei dem Termin jedesmal: Wann liegt da möglicherweise die Bundestagswahl? Das war damals schon so. Wir sind frei von diesem Trauma.
({4})
- Herr von Bismarck, ich mache jetzt Schluß, ich will Sie nicht noch länger aufhalten.
Wir haben heute etwas verkündet, womit wir dem alten Vorschlag von Herrn Stoltenberg folgen. Das ist nun Ihrer Ansicht nach wieder nicht richtig.
({5})
obgleich Herr Strauß selbst gesagt hat, gesamtwirtschaftlich sei es vernünftig, es heute zu tun. Da scheint mir nun wieder etwas zwischen dieser und Ihren anderen Aussagen rissig zu sein. Ich will nun nicht mehr von hirnrissig sprechen.
({6})
Ich würde sagen, Herr Strauß, bei Ihnen und Herrn Stoltenberg ist die Parteilogik etwas rissig geworden.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Luda.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schiller, was die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages betrifft - das war Ihr letztes Thema -, möchte ich doch den Standpunkt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier nochmals eindeutig wie folgt formulieren: Die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages ist, wie diese leidige Angelegenheit vor zwei Jahren gelaufen ist, heute nur noch eine rechtliche Kategorie, die ökonomisch nicht mehr debattiert werden kann. Deshalb sind wir von der CDU/CSU dafür, daß damit im Sinne der sofortigen Rückzahlung dieses Konjunkturzuschlages Schluß gemacht wird.
({0})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner?
Bitte schön!
Herr Luda, ist Ihnen bekannt, daß bisher nur ein Mitglied des Bundestages öffentlich gefordert hat, diesen Konjunkturzuschlag nicht zurückzuzahlen, nämlich ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, der frühere Staatssekretär Leicht?
Herr Kollege Porzner, darf ich Sie bitten, den Artikel von Herrn Leicht einmal selbst von Anfang bis Ende durchzulesen, dann werden Sie sehen, daß er das so nicht gesagt hat,
({0})
und nehmen Sie bitte zusätzlich zur Kenntnis, daß Überschrift und Einleitung nicht von Herrn Leicht, sondern gegen seine Intention von der Redaktion verfaßt worden sind.
({1})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeswirtschaftsminister, dem ich jetzt antworten möchte, hat gesagt, daß es in dem Streit, in dem wir uns hier befinden, gut sei, sich auf objektive Instanzen und Autoritäten beziehen zu können. Auf der Tagesordnung heute steht die Diskussion über das Jahresgutachten der Sachverständigen, und ich möchte mir erlauben, den Jahreswirtschaftsbericht und die neueste Konzeption der Bundesregierung zu all diesen Fragen einmal mit dem in Vergleich zu setzen, was uns die Sachverständigen vor wenigen Wochen auf den Tisch gelegt haben.
Die Gutachter haben festgestellt, daß sich der Zielkonflikt zwischen Geldwertstabilität, Wachstum und Vollbeschäftigung jetzt wesentlich schärfer als noch vor einem Jahr stellt. Nach Auffassung der Sachverständigen sind gegenwärtig alle drei Ziele verletzt bzw. gefährdet. Zu beachten ist vor allem die Feststellung der Gutachter, daß der Kaufkraftverlust im Jahre 1971 der höchste während der letzten 20 Jahre gewesen ist. Es ist eine objektive Autorität, die so etwas feststellt. Von 1949 bis einschließlich 1969 hat die jährliche Teuerungsrate in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich 1,9 % betragen. Das waren die 20 Jahre, in denen von der CDU/CSU geführte Bundesregierungen die Verantwortung trugen. Nachdem sich die Steigerungsrate im Jahre 1969 auf 2,7 % belaufen hatte, stieg sie 1970 - im ersten Jahr der Regierung Brandt - auf 3,8 % und im Jahre 1971 auf 5,2 %. Schlagartig mit Amtsantritt der Regierung Brandt wurde also in der Bundesrepublik Deutschland der Übergang von der schleichenden zur trabenden Inflation vollzogen, und je länger die Regierung amtierte, desto schneller wurde das Tempo. Nur wer politisch blind ist, kann da von Zufall sprechen!
({2})
Erfreulicherweise stellt das Gutachten im übrigen fest, daß der Anstieg der industriellen Erzeugerpreise - im Gegensatz zur Situation bei den Lebenshaltungskosten - seit Frühjahr 1971 langsam abgenommen hat. An den industriellen Erzeugerpreisen hat es also nicht gelegen, weshalb es eigentlich logisch und zwangsläufig gewesen wäre, wenn die Bundesregierung in ihren bisherigen Einlassungen eine freundliche Adresse auch in diese Richtung gerichtet hätte.
Leider hat sich auch das Wirtschaftswachstum während der Amtszeit der Regierung Brandt sehr negativ entwickelt. Im Gutachten heißt es, daß sich der konjunkturelle Abschwung, der bereits 1970 begonnen hatte, 1971 verstärkt fortsetzte. Ein deutlich verlangsamtes Wirtschaftswachstum sei besonders seit Sommer 1971 festzustellen. 1969, also praktisch vor Amtsantritt der Regierung Brandt, hat das Wirtschaftswachstum real 8 % betragen. 1970 sank es ab auf 5,3 %, 1971 auf 2,9 %. Und für 1972 lautet die Status-quo-Prognose des Sachverständigenrates auf nur noch 1 %. - Seit die Regierung Brandt im Amt ist, führt also die Treppe der Preise bedrohlich nach oben, aber der Wachstumspfad verläuft rapide talwärts.
({3})
Stagflation nennt man eine derartige Lage - laut Schiller und Arndt die schlechteste aller Welten.
Das also ist laut Gutachten die Lage, in der wir uns befinden. Die Bundesregierung sollte daher
endlich aufhören, die CDU/CSU der Schwarzmalerei zu bezichtigen. Das Bild, das die Sachverständigen malen, ist dunkel genug und entspricht allzu sehr den Darstellungen der CDU/CSU in den vergangenen zwei Jahren.
({4})
Zu den Gründen für die Preiswelle stellt das Gutachten fest, die öffentlichen Haushalte betrieben eine unkontrollierte und nicht konjunkturgerechte Ausgabenexpansion. Und in Ziffer 177, Herr Bundeswirtschaftsminister - aber er ist nicht mehr anwesend
({5})
des Sachverständigengutachtens, auf das ja auch sicherlich der Bundeswirtschaftsminister als auf eine objektive Aussage besonderen Wert legt, steht wörtlich geschrieben:
({6})
Die Haushaltspolitik hat kräftig expansiv gewirkt.
Das gleiche muß heute rückblickend für das Jahr 1970 gesagt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ott?
Bitte schön, Herr Ott!
({0})
Herr Kollege Luda, stimmen Sie mit mir überein, wenn ich annehme, daß die schlechte Besetzung der Regierungsbank entweder darin ihre Ursache hat, daß die Regierung an diesem Thema überhaupt nicht mehr interessiert ist, oder darin, daß sie bereits ihren Rücktritt ratenweise vorbereitet?
({0})
Herr Kollege Ott, ich beabsichtige, im weiteren Verlaufe meiner Ausführungen auch zu dem noch etwas zusätzlich zu sagen,
({0})
was der Herr Bundeskanzler vorhin hier ausgeführt hat, und ich hoffe sehr, daß der Herr Bundeskanzler dann selbst zugegen ist,
({1})
um auf meine Ausführungen dann seinerseits zu antworten.
Meine Damen und Herren, diese Feststellung des Jahresgutachtens entspricht übrigens auch dem Urteil, welches die Deutsche Bundesbank in ihrem Jahresbericht für das Jahr 1970 auf Seite 6 gesprochen hat. Da heißt es:
Auch die staatlichen Haushalte haben 1970 durch ihre Kassentransaktionen die Gesamtnachfrage expansiv beeinflußt.
({2})
Natürlich betrifft das, wie im Jahreswirtschaftsbericht an sich richtig bemerkt wird, auch die Länder und Gemeinden. Aber dafür ist die Bundesregierung gleichfalls verantwortlich; denn das Stabilitätsgesetz bietet ihr die Instrumente, um erforderlichenfalls auf die Ausgaben- und Schuldenpolitik aller sonstigen öffentlichen Haushalte einzuwirken. Auch hier fehlte es jedoch der Mehrheit der Bundesregierung - vor allem dem Bundeskanzler, wozu ich dann gleich noch einiges werde sagen müssen an der erforderlichen Einsicht und der politischen Kraft, um von den gesetzlichen Vollmachten rechtzeitig und ausreichend Gebrauch zu machen.
Noch 1969 hatte der Bundeswirtschaftsminister mit der Versicherung um das Vertrauen der Öffentlichkeit geworben: Wir werden wohldosiert und wohlabgestuft sanft und gleitend gegensteuern, die Werkzeuge liegen griffbereit. Der krasse Widerspruch zwischen diesem trügerischen Schein und der harten Wirklichkeit, wie sie in dem Jahresgutachten dargestellt wird, macht deutlich, wie sehr die Bundesregierung versagt und so den ihr gewährten Vertrauensvorschuß kurzfristig verwirtschaftet hat.
({3})
Diese Fehlentwicklung ist um so unverständlicher, als festzustellen ist, daß es weder an der Bereitschaft der CDU/CSU zur Kooperation noch an unseren Alternativvorschlägen gefehlt hat. Es ist offensichtlich erforderlich, daran zu erinnern, daß die CDU/ CSU-Fraktion bei der Beratung des Bundeshaushalts 1970 im Haushaltsausschuß sage und schreibe 80 detaillierte Änderungs- und Kürzungsanträge gestellt und die wichtigsten anschließend bei der Verabschiedung im Plenum wiederholt hat. Die Koalition hat diese Alternativen damals verworfen, obwohl die Deutsche Bundesbank im Frühjahr 1970 auch schon dringend ersucht hatte, den Nachfragesog durch derartige Maßnahmen entscheidend zu dämpfen. Wir waren es also nicht allein, sondern auch die objektiven Gremien, auf die der Herr Bundeswirtschaftsminister so entscheidenden Wert legt, haben die Bundesregierung in all dieser Zeit vergeblich zu solchen Maßnahmen aufgefordert.
Einige Monate später, in der Sondersitzung des Bundestages vorn 10. und 11. Juli 1970, hatte die CDU/CSU einen Antrag betreffend konjunkturpolitische Dämpfungsmaßnahmen eingebracht. Danach sollte der Bundeswirtschaftsminister gemäß § 6 des Stabilitätsgesetzes ermächtigt werden, bei Vollzug des Haushalts die Verfügung über bestimmte Ausgabemittel und das Eingehen von Verpflichtungen zu Lasten künftiger Rechnungsjahre von seiner EinDr. Luda
willigung abhängig zu machen. Der Haushaltsplan-entwurf 1971 sollte gekürzt und in einen Kern- und einen Eventualhaushalt aufgegliedert werden. Eine Nettokreditaufnahme des Bundes sollte 1971 unterbleiben, und die Bundesregierung sollte die Länder und Gemeinden zu einer entsprechenden Haushaltsführung anhalten. Auch diese Alternativen der CDU/ CSU sind damals von der Koalition abgelehnt worden. Die Bundesregierung hatte statt dessen für 1971 einen Haushaltsplanentwurf mit einer Steigerungsrate von 12 % vorgelegt. Damit hat sich deutlich gemacht das müssen wir doch heute noch einmal ganz klar aussprechen -, daß sie trotz Überkonjunktur und trotz inflationären Preisauftriebes fest zu einer expansiven Ausgabenpolitik entschlossen war.
Der von den Sachverständigen erhobene Vorwurf einer unkontrollierten und nicht konjunkturgerechten Ausgabenexpansion besteht also zu Recht. Der von der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht versuchte Entlastungsbeweis vermag in keiner Weise zu überzeugen.
Der Sachverständigenrat kommt in seinem Gutachten für die künftige Wirtschaftspolitik zu folgenden Konsequenzen; ich zitiere:
Die Lohnpolitik wirkt weiterhin inflationär. Daher muß die Wirtschaftspolitik um der Preisstabilität willen mit Konjunkturanregungsmaßnahmen warten. Eigentlich wären solche Maßnahmen nötig, um einer drohenden Rezession entgegenzuwirken.
Es sei unvermeidlich, daß 1972 das Preisniveau weiter steigt und der Beschäftigungsgrad weiter sinkt. Es könne nur darauf ankommen, den Abschwung 1972 - meine Damen und Herren, das ist der Kernpunkt - zu nutzen, um Anschluß an eine befriedigende Zukunft zu finden.
Um in dieser Dilemmasituation künftig wenigstens dieses bescheidene Ergebnis, Herr Bundeswirtschaftsminister, zu ermöglichen, entwickelt der Sachverständigenrat zwei verschiedene Strategien. Diesen stellt er eine dritte gegenüber, von der er ausdrücklicht sagt, daß sie mit den Zielen des Stabilitäts- und Wachstums-Gesetzes nicht vereinbar sei. Auf diesen Punkt muß ich leider gleich sehr nachdrücklich zurückkommen.
In den ersten beiden Alternativen wird eine kostenniveauneutrale Lohnpolitik als vorrangiges Kernproblem behandelt. Darunter verstehen die Sachverständigen eine Steigerungsrate der Effektivlöhne von höchstens 6 %. Darüber hinaus machen sie zusätzliche expansive Maßnahmen davon abhängig, daß ein längerer Stillstand bei den durchschnittlichen Erzeugerpreisen der Industrie eingetreten ist. Schließlich unterstellen die Gutachter bei diesen beiden Alternativen eine wirksame außenwirtschaftliche Absicherung. Wenn alles das nicht erfüllt ist, können nach Auffassung der Gutachter expansive Maßnahmen im Jahre 1972 nicht in Frage kommen. In den beiden ersten Strategien differieren also nur die vorgesehenen expansiven Maßnahmen. Das sind bei Strategie I die Freigabe und Praktizierung der Investitionshaushalte und eine mäßige Senkung des
Zinsniveaus, und bei Strategie II sind es statt der Praktizierung der Eventualhaushalte die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags und eine starke Senkung des Zinsniveaus. Nach Ansicht der Sachverständigen würden die Preise im Falle der Strategie II stärker steigen als bei Strategie I.
Die Bundesregierung hat sich nunmehr entschlossen, den Konjunkturzuschlag im Sommer dieses Jahres zurückzuzahlen.
({4})
- Das ist ein Faktum, zu dem wir alle stehen, meine Damen und Herren. In Abweichung vom Jahreswirtschaftsbericht soll der Eventualhaushalt nicht mehr im Frühjahr wirksam werden, aber immerhin soll mit der Verwirklichung in der zweiten Jahreshälfte offenbar auch nach den jetzigen Intentionen begonnen werden.
Wie die Intentionen auch aussehen mögen, ob es gelingt, den Vollzug des Eventualhaushalts wesentlich hinauszuschieben, erscheint höchst fragwürdig. Daß der Herr Bundeswirtschaftsminister dies ankündigt, ist verständlich. Aber alle sind sich wohl darüber im klaren, daß dies nicht von ihm allein, sondern von seinen Kabinettskollegen, die zugleich seine Kontrahenten sind, entschieden werden wird, von den Herren Leber, Schmidt, Lauritzen usw. Wer wüßte denn nicht, daß es hier nur um einen Pro-forma-Eventualhaushalt handelt und daß dieser durch Sachzwang und Verzahnung in Wahrheit Bestandteil des Kernhaushalts ist. Die Ressorts haben doch fest mit den dort vorgesehenen 2,5 Milliarden DM gerechnet und wollen jetzt auf diese Beträge nicht verzichten. Jedenfalls haben Sie einen entsprechenden Kabinettsbeschluß bisher noch nicht zuwege gebracht, Herr Schiller. Das müssen wir doch einmal ausdrücklich festhalten.
({5})
Weil dies den Bundeskanzler und den Minister für Wirtschaft und Finanzen noch in größte politische Schwierigkeiten bringen wird, hat die Koalition dafür gesorgt, daß die zweite und die dritte Lesung des Bundeshaushalts 1972 im Bundestag erst nach den Landtagswahlen vom 23. April vollzogen werden sollen.
({6})
Auch das macht die politische Schwäche dieser Regierungskoalition deutlich.
Darüber hinaus ist festzustellen, daß die Bundesregierung alles getan hat, um nicht nur eine kräftige Zinssenkung --- Strategie II des Gutachtens -, sondern sogar eine sehr kräftige Zinssenkung - das ist Strategie III, Herr Schiller - zu erreichen. Hinzu kommt, daß die Bundesregierung keineswegs gewillt ist, die vom Sachverständigenrat zur Grundvoraussetzung erklärte stabilitätskonforme Lohnpolitik abzuwarten.
Ob die weitere Grundvoraussetzung, die außenwirtschaftliche Absicherung, gegeben ist, erscheint angesichts der weiter andauernden Dollarkrise fraglich. Jedenfalls ist die Flexibilität des Wechselkurses
nach unten angesichts der jüngsten Dollarschwäche fast ganz ausgeschöpft. Also auch diese Grundvoraussetzung des Sachverständigenrats ist leider Gottes mit einem deutlichen Fragezeichen zu versehen.
Bei dieser Sachlage, meine Damen und Herren, hat die jetzige Konzeption der Bundesregierung mehr Ähnlichkeit mit der Strategie III des Sachverständigengutachtens,
({7})
bei der eindeutig auf Expansion umgeschaltet wird und von der es im Gutachten heißt, sie sei mit den Zielen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nicht vereinbar. Die Bundesregierung sollte daher aufhören, zu versichern, sie lehne eine Politik des Durchstartens ab. Ganz offensichtlich ist sie doch im Begriff, wieder kräftig Gas zu geben. Die vom Bundeskanzler angestrebten Neuwahlen werfen in der Tat ihre Schatten voraus. Das es um die Macht geht, meine Damen und Herren, ist das Stabilitätsgesetz nur noch Makulatur. Seien wir uns darüber im klaren!
({8})
Die Entwicklung ist um so gefährlicher, als auf Grund des Februar-Berichts der Deutschen Bundesbank von einem Nettoverschuldungsbedarf aller öffentlichen Haushalte im Jahre 1972 von 22 Milliarden DM auszugehen ist. Wie man aber seitdem
hört, soll diese Summe inzwischen noch wesentlich weiter angewachsen sein; wie Dr. Barzel vorhin gesagt hat, ist jetzt von 30 Milliarden DM die Rede. Dr. Barzel hat den Bundeswirtschaftsminister aufgefordert, zu dieser Behauptung, die bisher nicht widerlegt worden ist, hier detailliert Stellung zu nehmen. Aber in seiner Antwort hat Herr Schiller - ich muß ,das leider sagen - nur ausweichend reagiert. Er hat ausweichend auf die Finanzierungsüberschüsse aus den Jahren 1970 und 1971 zurückgegriffen und erklärt, erst im zweiten Halbjahr 1971 sei bei allen öffentlichen Haushalten ein Finanzierungsdefizit von 0,5 Milliarden DM aufgelaufen. Herr Schiller, wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten gleich klargestellt, daß bei dieser Betrachtungsweise alle Sozialversicherungsträger, wie mir scheint - ich konnte das so schnell natürlich nicht nachprüfen -, mit einbezogen worden sind - Sie nicken; das ist der Fall -, weshalb diese Zahl in keiner Weise in Vergleich gesetzt werden kann zu früheren Raten der Nettokreditaufnahme und auch nicht in Beziehung gesetzt werden kann zu der Zahl von 22 Milliarden DM aus dem Februar-Bericht der Deutschen Bundesbank?
Herr Schiller, wollen Sie nicht bitte noch in dieser Debatte eindeutig Stellung nehmen zu der Frage, wie hoch der gesamte Nettokreditbedarf aller öffentlichen Hände einschließlich Bahn und Post, aber ausschließlich der Sozialversicherungsträger nach dem Stand vom heutigen Tage ist? Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, daß diese gravierende Frage geklärt wird. Denn im Jahre 1971 hat laut der Auskunft, die die Bundesregierung
unserer Fraktion am 3. Februar 1932 erteilt hat - das ist die vergleichbare Zahl, Herr Schiller, die Sie soeben geflissentlich umgangen haben -, die Neuverschuldung aller öffentlichen Körperschaften ohne Sozialversicherungsträger 12,5 bis 13 Milliarden DM betragen. Wenn wir aber davon auszugehen haben, daß im Jahre 1972 der Gesamtkreditbedarf sich auf 29 oder 30 Milliarden DM beläuft, dann müssen wir hier doch folgendes festhalten: Die Verschuldungsrate der öffentlichen Hand hat im Jahre 1971 zu einer Inflationsquote von 5,2 % geführt; für das Jahr 1972 steht eine Neuverschuldungsrate vor uns, die mehr als doppelt so hoch ist wie im vorigen Jahr. Daraus folgt doch zwangsläufig, daß der Inflationsprozeß, wenn jetzt nicht sofort etwas geschieht, in den nächsten Monaten mit gewaltiger Kraft weitergehen wird.
Der Finanzplanungsrat und der Konjunkturrat für die öffentliche Hand haben in der Sitzung vom 9. März - auf diese Sitzung, Herr Schiller, müssen wir jetzt einmal im einzelnen eingehen, weil Sie vorhin versucht haben, insofern vor der Öffentlichkeit ein objektiv falsches Bild zu zeichnen - mit Recht festgestellt, daß die sich bisher abzeichnende Neuverschuldung weder den konjunkturpolitischen Erfordernissen noch den längerfristigen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten entspricht. Wie verzweifelt die Stimmung der Beteiligten in dieser Sitzung gewesen ist, geht daraus hervor, daß z. B. geäußert wurde: Wir leben von der Substanz, wir haben die Erwartungshorizonte zu hoch geschraubt; hier kann nur noch politisch geholfen werden, nur durch Gesetz. Meine Damen und Herren, das war generelle Meinung.
Wenn Herr Schiller vorhin in bezug auf die Frage der erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen nicht eine falsche Aussage vor diesem Parlament gemacht hätte, hätte ich nicht gesagt, welche Äußerung dort weiter noch gefallen ist. Es ist dort noch zusätzlich gesagt worden, daß das finanzpolitische Tableau, vor dem wir stehen, mitten in Friedenszeiten Methoden der Staatsfinanzierung wie im Kriege bedeutet. Auch das ist geäußert worden. Sie können daraus ersehen, meine Damen und Herren, wie ernst die Lage ist.
({9})
Sie können daraus sehen, mit welcher Bedenkenlosigkeit diese Bundesregierung versucht, solche Tatbestände zu verschweigen und zu verschleiern.
Hier kann nur noch politisch, nur durch Gesetz, geholfen werden. Das steht ja ausdrücklich, Herr Schiller, in dem veröffentlichten Kommuniqué. Eine Rechtsverordnung aber ist kein Gesetz. Sie wissen doch ganz genau, daß Sie vorgeschlagen haben, demnächst den Schuldendeckel für die öffentliche Hand zu verfügen, daß das auf Widerspruch gestoßen ist und daß daraufhin aus dem Rat heraus eine gesetzliche Maßnahme, und zwar ein Haushaltssicherungsgesetz, vorgeschlagen worden ist, eine Maßnahme, über die man bei der nächsten Gelegenheit miteinander sprechen will. Das sind die wahren Tatsachen, die eben hier der Öffentlichkeit verheimlicht oder verschwiegen worden sind.
Eine solche Durchforstung der öffentlichen Finanzen ist natürlich genau das, was nottut. Die CDU/CSU verlangt das doch schon seit zwei Jahren. Welchen Preis wäre wohl die Bundesregierung heute zu zahlen bereit, wenn sie die Ablehnung des konjunkturellen Dämpfungsprogramms der CDU/ CSU vorn 10. Juli 1970 rückgängig machen könnte? Die von der Bundesregierung jetzt angekündigten Maßnahmen kommen zwei Jahre zu spät. Wenn die Bundesregierung heute von der Notwendigkeit einer Stabilisierung der Staatsfinanzen selber öffentlich spricht und intern sogar von einem Haushaltssicherungsgesetz, so kommt das einem Offenbarungseid gleich.
({10})
In dem Kommuniqué wird nur ganz allgemein von der unvertretbaren Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte gesprochen. Wenn aber von der Finanzkrise die Rede ist, hat die Öffentlichkeit Anspruch darauf, Herr Minister Schiller, daß endlich einmal konkrete Zahlen genannt werden. Früher hat Herr Schiller immer wieder gesagt: Die Zahl ist heute kein Tabu mehr. Trotzdem wird sie, seit er amtiert, mehr und mehr zum Tabu. Ich frage Sie: warum geschieht das? Ich frage die Bundesregierung nochmals: Stimmt die Behauptung, daß für das Jahr 1972 ein Gesamtnettokreditbedarf aller öffentlichen Haushalte einschließlich Bahn und Post von 30 Milliarden DM aufgelaufen ist?
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert eine Bestandsaufnahme. Die Leiche muß jetzt auf den Tisch.
({11})
Wenn es nunmehr, unter welcher Regierung auch immer, zu der dringend notwendigen Sanierung der öffentlichen Hand kommt, wird es sicher wieder Stimmen geben, die Haushaltsstreichungen unter Hinweis auf die Vordringlichkeit von Reformen und Infrastrukturausbau bekämpfen. Unvergessen ist noch die Feststellung des Bundeskanzlers Brandt in der Debatte vom 10. Juli 1970, daß Haushaltsplan und Stabilisierungsprogramm zwei verschiedene Dinge seien.
({12})
Wörtlich sagte er: „Unseren Mitbürgern ist mit einer Stabilisierungspolitik, die den ungeschmälerten Fortgang im Ausbau der öffentlichen Infrastruktur unberührt läßt, besser gedient als mit einer Erklärung, die Inflationsängste anheizt und die inneren Reformen wieder liegenläßt."
Herr Abgeordneter, ich muß Sie auf den Ablauf Ihrer Redezeit aufmerksam machen.
Ich bin gleich zu Ende; ich hatte keine Redezeit angegeben.
Das Gutachten bringt auch noch die notwendige Klarstellung.
({0})
Die Sachverständigen weisen nach, daß von 1966 bis 1971 der Preisanstieg für die öffentliche Hand sich auf rund 30 % gegenüber einem Preisanstieg für die Privaten in Höhe von nur 20 % belaufen hat. Der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt ist trotz dieser Setzung von falschen Prioritäten nicht gestiegen, sondern gesunken. Das ist die Bilanz von heute.
Die Politik, welche rigoros den Staatsausgaben die Priorität vor Stabilitätserwägungen geben wollte, hat also kläglich Schiffbruch erlitten.
({1})
Wenn der Bundeskanzler dem nicht endlich Rechnung trägt, werden ihm die Zügel noch vollends entgleiten.
({2})
Die Wochenschrift „Die Zeit" hat kurz nach der Bundestagswahl am 3. Oktober 1969 geschrieben:
Die neue Regierung wird ein Erbe übernehmen, um das sie viele Regierungen in der Welt beneiden werden.
({3})
In Wahrheit muß unsere wirtschaftliche Lage durch eine Aneinanderreihung von Superlativen gekennzeichnet werden, nämlich Rekordproduktion, Rekordgewinne,
({4})
Rekordaufträge und nicht zuletzt Rekordlöhne. Die deutsche Wirtschaft hat ein Wachstumstempo erreicht, das in der westlichen Welt nur noch von den Japanern übertroffen wird.
Meine Damen und Herren, das war die Eröffnungsbilanz der Regierung Brandt. Wieviel ist von diesem Erbe kurzfristig verwirtschaftet worden! Die Regierung Brandt wird ihrer Nachfolgerin einmal ein Erbe übergeben, um das diese kein Mensch wird beneiden können.
({5})
Herr Abgeordneter Luda, zum Glück sind die Geschäftsführer Ihrer Fraktion besser über die Bestimmungen der Geschäftsordnung im Bilde. Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal mit den Vorschriften über die Redezeiten vertraut zu machen.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Arndt ({1}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann die Einschätzung des Kollegen Luda nicht teilen.
({0})
Dr. Arndt ({1})
Die konjunkturelle Abwärtsbewegung ist gebrochen; es kann keinen Zweifel daran geben. Die Rezession findet nicht statt.
({2})
Europas Wirtschaftspolitik, die gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik ist ein gehöriges Stück weiter. Der Konjunkturzuschlag wird zurückgezahlt. Sie meinten, Herr Luda, er solle sofort zurückgezahlt werden,
({3}) möglichst noch vor dem 23. April.
Ferner möge man mir den Hinweis darauf gestatten, daß draußen schönes Wetter, fast leistungsfeindliches Wetter ist. Schließlich ist der Dollar wieder um zwei Pfennig gestiegen.
({4})
Ein besseres Timing für die Debatte des Jahreswirtschaftsberichtes hätte sich die Bundesregierung gar nicht aussuchen können. Das Timing ist schon zu gut, als daß es geplant sein könnte.
({5})
Nun, meine Damen und Herren, Plandaten, Projektionen: Die Daten des Jahreswirtschaftsberichtes für 1972 sind - wie damals die für 1971 und die für 1970 - Richtwerte. Sie sind keine Rasthäuser, an denen sich der arme Wanderer am Abend zur Ruhe begeben
({6})
und von denen er mit Sicherheit erwarten kann, sie vorzufinden. Es sind keine Flugplätze, die Pilot und Passagiere mit Sicherheit erreichen zu können glauben.
({7})
- Ja, die Flugplätze wegen Herrn Strauß.
Die Programmzahlen und Plandaten haben sich der Wirklichkeit anzupassen, nicht umgekehrt.
({8}) Wer umgekehrt verfährt, wird scheitern;
({9})
denn wir in der Bundesrepublik Deutschland können diese Welt zwar mitformen, aber wir können sie nicht allein formen. Wir sind ein Teil der Welt; wir sind nicht d i e Welt.
({10}) - Ja, das spielt eine Rolle.
Was die Preisdiskussion anbelangt, so gibt es eine Nachricht vom 11. März. Herr Präsident, ich erlaube mir, sie frei zu übersetzen. Der ökonomische Chefberater von Präsident Nixon sagte, Befürchtungen, daß das neue internationale Währungsabkommen von Washington zusammenbrechen werde, seien ungerechtfertigt. Das Ausland, die anderen Länder würden zu lernen haben, die Realitäten dieses Lebens anzuerkennen. Er wurde in einem Interview gefragt, wie die Vereinigten Staaten diese Befürchtungen, daß die Leitkurse nicht halten würden - bei gleichzeitiger Konjunkturerholung im eigenen Lande -, zerstreuen könnten. Dazu sagte Herbert Stein, der Präsident des Council of Economic Advisers: „Ich bin nicht sicher, daß da ein Weg ist, die beiden Dinge zu vereinbaren. Ich denke, sie werden die facts of life zu lernen haben."
({11})
Er meinte damit, daß die andere Welt sich der amerikanischen Politik im Augenblick anzupassen habe, daß wir die Dollarflut akzeptieren müßten. Warum? Was sind seine facts of life? Was ist das, von dem er ausgehen muß.
Das ist eine Arbeitslosigkeit von zur Zeit knapp 6 obo in den Vereinigten Staaten. In den dortigen Programmdaten und Projektionen des Präsidenten wird erwartet und gehofft und bezeckt, diese Arbeitslosigkeit von 6 % bis auf 5 % am Ende dieses Jahres herunterzubringen. Gemessen an dieser Arbeitslosigkeit gibt es immer noch relativ hohe Preissteigerungen von 3 bis 4 % trotz Lohn- und Preiskontrollen, trotz Phase eins der Kontrollen, trotz Phase zwei der Kontrollen. Zu den „facts" des gegenwärtigen amerikanischen Lebens gehört außerdem ein Defizit im Bundeshaushalt 1972 vom Sommer bis zum Sommer von 39 Milliarden Dollar, 120 bis 125 Milliarden DM, ein Defizit, das größer ist als unser ganzer Bundeshaushalt in Ausgaben und Einnahmen. Ferner gehört dazu ein Defizit in der Leistungsbilanz, Handelsbilanz, Dienstleistungsbilanz, der Bilanz der Übertragungen, von 21/2 Milliarden Dollar im vorigen Jahr, mit der Annahme, Befürchtung, Schätzung wie immer Sie es nennen wollen -, daß es 1972 mehr werden wird. Auch gehört dazu das vom Bundeskanzler erwähnte Defizit in der Devisenbilanz, also die eben erwähnte Leistungsbilanz plus die Kapitalbewegungen, von 30 Milliarden Dollar im vorigen Jahr. Dazu gibt es keine Schätzung und keine Befürchtung und keine Erwartung, was das 1972 wohl für eine Zahl sein könnte.
Das sind schreckliche Ausgangswerte. Es sind auch schreckliche Erwartungswerte. Dennoch ist es nur ein Teil der Wirklichkeit von Mister Stein, nämlich der Wirklichkeit eines Landes nach einem blutigen und vergeblichen Krieg. Wer wirft da den Stein auf Mister Stein, wenn er sagt, wir alle anderen hätten die facts of life zu lernen? Diese Regierung nicht, die Fraktion nicht, für die ich spreche, und die FDP nicht und - ich habe genau hingehört - die Opposition auch nicht. Nicht ein einziger hat diesen Punkt in dieser Form herausgestellt und verlangt, daß in den Vereinigten Staaten eine grundlegende Revision der Politik etwa in Richtung einer Deflationspolitik eintreten solle, wie sie die ersten zwei Jahre der Regierung Nixon gebracht hatten und wie sie gescheitert ist.
Nun komme ich zurück zu dem Problem der Planung und der Projektion, vor dem wir stehen, vor dem die Regierung steht und dem sich niemand entziehen kann. Es geht nicht nur um die Planung des
Dr. Arndt ({12})
Jahreswirtschaftsberichts, sondern auch um die der Finanzen, eines jährlichen Etats, der ja auch nur Ermächtigungen vorsieht und damit die Beweglichkeit nach unten immer sichert. Diese Beweglichkeit nach unten ist genutzt worden: im vorigen Jahr durch Sperren und im vorvorigen Jahr durch Sperren. Aber es geht auch um die mittelfristige Finanzplanung. Ich erinnere Sie alle in diesem Hause an die erste mittelfristige Finanzplanung dieser Art 1967: Bundesfinanzminister Strauß, Bundeskanzler Kiesinger, Bundeswirtschaftsminister Schiller, viele andere, unter der Platane im Garten des Palais Schaumburg. Es ging um die mittelfristige Finanzplanung für die Jahre 1968 bis 1972.
Da stand neben der Beseitigung und Überwindung der Rezession ein Problem im Vordergrund, das damals einen Buchtitel gefunden hat, nämlich: „Die amerikanische Herausforderung" von Jacques Servan Schreiber mit einem Vorwort des damaligen Bundesfinanzministers. Dieser amerikanischen Herausforderung war zu begegnen durch Förderung der Technologie, Konzentration der Unternehmen, Konzentration der Wirtschaft. Die europäische Führungslücke war zu beseitigen. Europäische Nachteile im Wettbewerb der Wirtschaften untereinander waren - wir hätten zu kleine Unternehmen mit veralteter Technik - zu vermindern. Das war das Ziel der Mifrifi von damals für die Jahre 1970, 1971 und 1972. Was ist aus dieser amerikanischen Herausforderung geworden, die damals so viele Menschen in Europa, auch in Japan und wo immer beschäftigt hat? Daraus sind die facts of life des Mr. Stein geworden, an die wir uns, wie er meint, anzupassen hätten.
Nun kommt das Problem Nummer zwei. Der Sprecher der Freien Demokratischen Fraktion, Herr Mertes, brachte in seinen Ausführungen als wichtigen Punkt, daß die Geldmengenvermehrung, die money supply, unter Kontrolle gebracht werden müsse; sonst sei jede Stabilitätspolitik vergeblich. Wie recht er hat! Man muß nicht ein Anhänger Friedmans, Johnsons, Brunners - viele deutsche Namen - sein, ein Anhänger der Quantitätstheorie, die einen ganz strengen, strikten Zusammenhang zwischen der Erhöhung der Geldmenge und der Erhöhung der Preise herstellt. Man muß nicht dazu bereit sein, derart spitz zu kalkulieren, wie es jene sehr einflußreichen Theoretiker und Berater der amerikanischen Regierung tun, daß das Geldvolumen nur 5 % pro Jahr steigen darf, oder vier, oder sechs - je nach den Rechengrundlagen -, damit Preisstabilität erhalten bleibt. Es genügt für uns zu wissen, daß eine jährliche Erhöhung der Geldmenge um 10 bis 15 % zu viel ist, und das haben wir in den letzten Jahren gehabt.
({13})
- Sehr richtig, Herr Müller-Hermann! - Es ist zu viel, um die Stabilitätsfront zu halten.
Und was wir zur Zeit an Beruhigung haben: die guten Nachrichten über Halbierung der Lohnzuwachsrate, die guten Nachrichten über die Stagnation der Lohnkosten - denn das ist nun einmal eine
gute Nachricht, daß sie in der Industrie nicht mehr steigen -, die guten Nachrichten über die Verlangsamung des Erzeugerpreisindex' der Industrie und etwas auch der Lebenshaltungskosten, das verdanken wir bei dieser Steigerung der Geldmenge geradezu unglaublichen Anstrengungen der Menschen in diesem Lande, der Menschen in den Betrieben, in den Gewerkschaften, der Unternehmer - ob groß, mittel oder klein -, und so schließe ich mich auch an: das verdanken wir dieser Regierung.
({14})
Bei einer derartigen explosiven Entwicklung der
Geldmenge den Stabilitätserfolg - nämlich nur 5
bis 6 % Preissteigerung bisher gehabt zu haben ({15})
und die Leistungen der Menschen, die dahinterstehen, die ihre Stabilitätspakte schon geschlossen
haben, mies zu machen, damit sollten Sie aufhören!
({16})
Sie sollten damit aufhören, diese Bemühungen zu verringern und diese Leistungen zu negieren.
({17})
Denn für mich ist es eine unglaubliche Leistung. Es ist eine Leistung, Herr Leicht, von der Präsident Nixon und Premierminister Heath für ihre Länder nicht einmal zu träumen wagen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.
Ich will das auch Herrn Barzel noch selbst zu sagen versuchen. Unter diesen Umständen zu dem Urteil zu kommen: Die wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert, das heißt einfach, die Leistungen dieser Menschen, ihr Stabilitätsanstrengungen zu negieren.
Sie haben der Regierung vorgeworfen, daß sie nicht 0 % in ihre Programme eingesetzt hat, und ein anderer von Ihnen hat ihr vorgeworfen: Warum nur 3 %, wenn doch damit zu rechnen ist, daß es mehr werden? Die facts of life des Mr. Stein für die Wirtschaftspolitik sind nicht zu negieren. Denn die Expansion des Geldvolumens kommt von der Ankaufspflicht der Zentralbanken, und nicht nur unserer, sondern der in Europa, in Japan, aller, die sich bereit gefunden haben, nach dem Abkommen von Bretton Woods und seiner Erneuerung - wenn auch Verbesserung - von Washington Dollars in Zahlung zu nehmen und dafür eigene Währung auszuhändigen.
({18})
- Das habe ich nicht gesagt.
({19})
Ich wüßte auch nicht, wer „alle anderen" sind. Ich
habe gesagt: Hier in diesem Land haben sich alle
Dr. Arndt ({20})
angestrengt, um unter diesen unglaublichen äußeren Bedingungen die Entwicklung des Preisniveaus unter Kontrolle zu halten. In England ist es um 10 % gestiegen. Zur Zeit liegen wir in der EWG nicht am unteren Ende, sondern in der Mitte oder oben.
({21})
Aber wir liegen jedenfalls in einem Zweijahres-oder Einjahresdurchschnitt gut, und auch für 1972, selbst wenn es ({22})
- Natürlich liegen wir schlechter als früher. Aber es wurde von Ihnen immer wieder behauptet, so etwas hätten wir noch nie gehabt. 1951 war die Preissteigerung größer, bei den Lebenshaltungskosten, bei den Industriepreisen, und auch 1951 hatten wir eine Kriegslage.
({23})
- Ja, natürlich, im Jahresdurchschnitt. Vom Jahresdurchschnitt können Sie nicht leben.
({24})
- Was heißt das, „Alibi", Herr Breidbach? Das ist nicht das Problem.
({25})
Diese Fraktion, der ich angehöre, hat mich nicht für einen Teil der Problematik zu ihrem Sprecher bestimmt, um zu akklamieren. Es ist nicht unsere Aufgabe in diesem Haus, der Regierung zu akklamieren. Es ist unsere Aufgabe, sie anzuspornen und zu versuchen, mit Ihnen zu ringen um Lösungen - und das war ja mager, was wir da heute gehört haben, sehr mager ({26})
und, Herr Breidbach, vor den Lösungen um die Einschätzung. Ich referiere doch nur von den facts von Mr. Stein, und das sind die facts der Wirtschaftspolitik, und es gibt welche in der Außenpolitik; das sind die facts des Mr. Kissinger.
({27})
- Ich spreche von der wirtschaftlichen Lage dieses Landes und dieser Welt.
({28})
Das ist wohl das Problem. Ich bin nicht gezwungen, an den Titelzeichen des Gutachtens zu kleben. Das Gutachten hat klar herausgestellt: ohne außenwirtschaftliche Absicherung keine binnenwirtschaftliche Stabilität.
({29})
- Herr Luda, es wird lange dauern, bis Sie -, sollten Sie einmal, was ich wirklich nicht hoffe, die wirtschaftspolitische Verantwortung in der Verfassung, in der Sie jetzt sind, wiederkriegen - die gleichen Leistungen und die gleichen Anstrengungen wieder erreichen, die in diesen letzten Jahren vollbracht worden sind; ich fange da nicht 1969 an, ich nehme auch 1968 und 1967, die Jahre der Großen Koalition, hinzu. Aber ich darf auch sagen: Nicht jede Leistung während der Großen Koalition war eine Leistung der Großen Koalition.
({30})
Zurück zu Herrn Mertes. Es ist der Bundesbank zweimal gelungen, die Geldmenge unter Kontrolle zu bekommen: erstens nach der Aufwertung im Winter 1969/70 für einige Monate und zweitens im Sommer des Floating, im Sommer der Bewegung, von Mai bis August, bis dann durch neue Facts von Washington neue Daten auch für die internationale Geldpolitik gesetzt wurden. Es ist kein Alibi, wenn ich sage: In den beiden Jahren 1970 und 1971 - ich bitte Sie wirklich, Herr Breidbach, sich das einmal klarzumachen - sind 47 Milliarden Dollar an zusätzlicher internationaler Liquidität entstanden. Wenn man das zu den Tageskursen umrechnet, sind das über 160 Milliarden DM. Das hat es in dem gesamten Zeitraum von 1945 bis einschließlich 1969 nicht gegeben. In der ganzen Zeit, in den mehr als 20 Jahren, hat es nicht so viel internationale Liquidität wie in diesen zwei Jahren gegeben. Ich habe mir vor einem Jahr schon einmal erlaubt, darauf hinzuweisen; ich brauche die Zahlen immer nur um I jeweils ein halbes Jahr oder ein Vierteljahr zu erweitern.
({31})
Dann ist das Realignment zustande gekommen. Auch das war eine große Anstrengung. Es ist nicht etwa deswegen unter deutschem leadership zustande gekommen - so habe ich die Bundesregierung, insbesondere den Bundeswirtschafts- und Finanzminister, wohl richtig verstanden -, weil wir scharf darauf sind, mit riskanten Aktionen und Experimenten im internationalen Rampenlicht zu stehen, sondern weil economic leadership im vorigen Jahr eben von dem Land nicht wahrgenommen werden konnte, von dem es eigentlich wahrgenommen werden müßte, dem ökonomisch stärksten - das sind die USA -, und weil die anderen, denen wir vielleicht auch gern gefolgt wären, in ihrem Bewußtseinsprozeß hinsichtlich der Lage noch nicht so weit waren, halbwegs funktionierende Instrumente zu akzeptieren. Seit dem Herbst 1970, seit der Kopenhagener Weltwährungskonferenz, ist versucht worden, mit den anderen Mitgliedstaaten der EWG um eine vernünftige Lösung - interne Stabilität und Beweglichkeit in den Kursen nach außen - zu ringen.
Die Aktion hat geklappt, und das Realignment ist zustande gekommen, und das gibt uns die Hoffnung, daß die amerikanische Wirtschaft und Zahlungsbilanz wieder in ein Gleichgewicht nach außen kommen, und es besteht vielleicht auch die Hoffnung, nach diesen zwei bis drei Jahren - denn so
Dr. Arndt ({32})
lange wird es wohl dauern, die US-Wirtschaft im Gleichgewicht zu sehen - oder in den darauffolgenden fünf Jahren vielleicht wieder einmal ein Buch über „Die amerikanische Herausforderung" lesen zu können. Aber bis dahin, bis nach den zwei Jahren, in denen sich amerikanische Exporte auf den Märkten der Welt wieder besser durchsetzen und die amerikanischen Importe, gemessen an der Vergangenheit, etwas unterdurchschnittliche Wachstumsraten haben können, ist eine lange Zeit. Jeder kann im Bundesbankbericht nachlesen, daß im Januar Devisen zugeflossen sind - ich glaube, im Gegenwert von etwas über 3 Milliarden DM -, im Februar waren es etwas über 2 Milliarden DM, und nun haben wir März; wir werden abwarten, was Ende März sein wird. Wir wissen, daß die Hauptlast der Zuflüsse nicht mehr wie 1970, und zwar bis Mai 1971, auf uns zukommt, sondern sie sich jetzt verteilt. Der Dollar ist dementsprechend fast überall gleich unterhalb des sogenannten Mittelkurses. Aber die liquidisierenden Folgen der Erhöhung des Geldvolumens sind zur Zeit wieder am Werk.
Herr Abgeordneter Arndt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. von Bismarck?
Ja, bitte!
Dr. von Bismarck ({0}); Herr Kollege Arndt, sind Sie nicht bereit, einzuräumen, daß der unverhältnismäßig viel stärkere Zustrom der Dollars in das Bundesgebiet als in andere Länder, wovon Sie eben zum Schluß sprachen, mit eine Folge des Aktes vom Februar/März 1970 war, wo wir statt Anwendung des Stabilitätsgesetzes eine Hochzinspolitik hervorgebracht haben, die eben nicht nur den Nominalzins, sondern den Realzins bis zum Mai 1971 so hoch setzte, daß eine ausgesprochene Magnetwirkung auf die Dollars ausgeübt wurde?
Ich glaube, daß der Dollarzustrom in die Bundesrepublik Deutschland zu der damaligen Zeit deshalb besonders stark war, weil wir ein Land sind, das wenig abwertungsverdächtig ist. Es war tatsächlich derjenige gut beraten, der diesen Hafen angelaufen hat. Zinsen waren damals überall hoch, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten.
({0})
Die Zinsen in Europa waren hoch, in England, in Frankreich ({1})
- Natürlich spielten die Zinsen eine Rolle, und sie spielen vor allen Dingen seit vorigem Herbst eine Rolle.
({2})
Aber mit idem Dollarzustrom in die Bundesrepublik Deutschland nahmen wir damals die Hälfte der Weltliquidität auf, und zwar einfach deswegen, weil hier das Risiko einer Abwertung am geringsten war. Das ist natürlich ein Vertrauensvotum für die D-Mark, wie immer man das sonst sehen mag.
Kontrollen hätten damals nicht funktioniert. Sie funktionieren nur dann, wenn der Währungssturm auf eine andere Küste weht und man ihn nur an sich vorbeilenken müßte, oder sie funktionieren, wenn die Verfassung der Geldmärkte dem nicht entgegensteht. Sie ,hätten also in den letzten Monaten nicht funktioniert und auch nicht zur Zeit, wo wir tatsächlich immer noch starke Zinsdifferenzen zu den USA haben. Die Bundesbank hat mit der Diskontsenkung einen sehr mutigen Schritt getan, um zu versuchen, diese Zinsdifferenz zu den USA abzubauen. Doch zwei Tage später sind die amerikaninischen Zinsen ebenfalls heruntergesetzt worden. Statt einer Bewegung nach oben ist eine Bewegung nach unten zustande gekommen. Das heißt nach Lage der Sache, zu dem amerikanischen Defizit in der Leistungsbilanz kommt noch ein Defizit in der Kapitalbilanz hinzu. Amerikanische Politiker, Wissenschaftler, Banker haben das angesprochen. Ich nehme nur als Beispiel Mr. Roosa, den früheren Unterstaatssekretär in der amerikanischen Treasury unter Präsident Kennedy. Der sagte, die gegenwärtige Zinspolitik macht die Leitkurse und das Abkommen von Washington zuschanden. Und tatsächlich, seit 200 Jahren, etwa seit 1800, ist bekannt, daß Länder mit Defiziten in der Leistungsbilanz danach streben sollten, Kapital zu importieren und entsprechend ihre Zinssätze zu erhöhen. Ein englischer Bankier, David Ricardo, hat es z. B. geschrieben, und das ist bisher nie anders gewesen. Es ist bedauerlich, daß die amerikanische Politik in den letzten Monaten seit diesem Abkommen von Washington das nicht so gesehen hat, daß sie in diesen letzten Monaten nicht mehr mit der notwendigen kalkulierbaren Rationalität geführt wird; denn um die Durststrecke von zwei Jahren durchzustehen, ist es vernünftig, mit den Zinsen hochzugehen, denn Zinsen sind dazu da, Zeitdifferenzen zu überbrücken. Die amerikanische Vollbeschäftigungspolitik - oder eine bessere Beschäftigungspolitik, denn bei 5 % Arbeitslosigkeit kann man nicht von Vollbeschäftigungsziel reden - würde dadurch nicht gefährdet werden. Es gibt Techniken, den langfristigen Zins für eine Zeit niedrig zu halten und den kurzfristigen dennoch anzuheben.
Es kommt jetzt für die Diskussion in Europa und auch im Fernen Osten darauf an, eine Revision dieser amerikanischen Politik durchzusetzen. Denn bei allem Verständnis für die Lage der Vereinigten Staaten, bei jeder Bereitschaft, die Amerikaner wieder in den Stand zu setzen, ökonomische Führerschaft auszuüben, ist man nicht gezwungen, Schritte mitzugehen, mit denen sie anscheinend gegen ihre eigenen Interessen handeln.
Dr. Arndt ({3})
Die europäische Antwort - und das ist das Problem Nummer 3 - ist jetzt möglich, nachdem das ungewohnte Terrain fließender Wechselkurse, freier Wechselkurse, das Terrain der Beweglichkeit begangen wurde. Auch in einem Lande wie Japan, das sich allein gegen eine Aufwertung wehrte, wird das jetzt offen diskutiert und werden Kontrakte von Firmen, die langfristige Exportgüter herstellen - z. B. in der Elektroindustrie; wir können das heute in einer Tageszeitung lesen , mit 8 % unter dem Mittelkurs abgeschlossen, weil sonst das Risiko für die Firma nicht zu tragen ist. Dort diskutiert man die Wechselkursversicherung nach deutschem Muster, und man diskutiert auch Maßnahmen wie das Bardepot.
Das heißt, in diesen zwölf Monaten haben alle mit uns gelernt, was machbar ist und was nicht machbar ist. Für die interne amerikanische Diskussion kommt es nun darauf an, daß die USA wissen, daß sie hier in Europa nicht mit jeder Anpassung an ihre gegenwärtige Politik rechnen dürfen. Sie müssen vielmehr wissen, daß auch wir in der Lage desjenigen sind, den Franz Werfel sagen ließ: es gibt immer zwei Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit einer vernünftigen Politik - das hieße: eine leichte Anhebung der dortigen Zinssätze -, und es gibt die Möglichkeit, daß dann, wenn diese Politik nicht durchgeführt wird, wenn also der Dollar de facto selbst laufend vom eigenen Lande aus abgewertet wird, Europa gemeinsame Abwehrmaßnahmen ergreift, Abwehrmaßnahmen - Vizepräsident Barre hat das Ende Februar in einem Interview in Paris gesagt - des kontrollierten Floating, Abwehrmaßnahmen der gespaltenen Wechselkurse - die dann wahrscheinlich letzten Endes auch zu einem kontrollierten Floating führen würden -, Abwehrmaßnahmen dieser oder jener Art. Jedenfalls sind wir nicht gezwungen, uns auf diese amerikanische Politik einzustellen.
Das ist, wie gesagt, durch die Erfahrungen möglich gewesen, die die Welt und Europa im vorigen Jahr mit dem deutschen Experiment haben machen können.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit geht dem Ende entgegen.
Was wir aber in 'dieser Lage nicht machen können, ist, die Eigenentwicklung des Landes von diesen internationalen Gegebenheiten abhängig machen. Wir müssen diesen Staat weiter stärken; wir können uns nicht an einer vermeintlichen Stabilitätspolitik mit Streichungen und immer neuen Streichungen beteiligen.
({0})
Herr Strauß hat von einer Differenz, von einer Inflationslücke, von 13 zu 3% gesprochen. Das ist eine falsche Denkweise. Wir müssen vielmehr auch in 'dieser Lage die Entwicklung des Landes durch öffentliche Investitionen weiter vorantreiben. Auch Personal, z. B. Lehrer, wird gebraucht. Denn eine Veränderung der Preissituation bekommen wir nur
durch eine Veränderung der amerikanischen Politik oder durch eine Veränderung der europäischen Reaktion auf diese Politik. Es ist nicht angebracht und es wäre höchst falsch, die innere Entwicklung des Landes unter einer Schwierigkeit leiden zu lassen, die wir nicht zu vertreten haben und die wir auch nicht allein beseitigen können.
Herr Kollege Arndt, da wir ja aus Erfahrung wissen, daß Sie oft auch hier im Parlament Gedanken aussprechen, die den späteren Aktionen der Regierung vorauseilen, darf ich Sie gerade im Anschluß an das, was Herr Kollege Schiller vorhin gesagt hat, fragen: ist das eine Andeutung darauf, daß Sie weiter eine Politik auch der nationalen Alleingänge befürworten?
Nein, eine Politik gemeinsamer europäischer Aktionen, die möglich sind, weil alle Länder in Europa gesehen haben, was möglich ist. Ich bin sicher, daß sich diese Politik realisieren läßt. Ich bin sicher, daß wir weder Stagnation noch Geldinflation auf Dauer haben müssen, wenn sich diese neuen europäischen Institutionen mit dem entsprechend engagieren und wenn den Amerikanern klar wird, daß Europa Abwehrmaßnahmen, welcher Art auch immer, zur Verfügung hat; denn wir brauchen und dieses Land braucht Bewegung und Entwicklung, es kann nicht im Biedermeier verharren,
({0})
im Biedermeier einer Diskussion über Zuwachsraten des Bundeshaushalts, über Zuwachsraten von Gemeindehaushalten. Diskussionen, die daran nichts ändern können, daß wir in einem internationalen Dilemma stehen, das nur international gelöst wer-, den kann. Und deswegen: es war Leistung, es ist Leistung, und, Herr Müller-Hermann, die Richtung stimmt!
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine Bemerkung, die ich hier, wenn Sie so wollen, persönlich auf eigene Kappe mache, die den Arbeitsstil dieses Parlaments anbelangt. Ich glaube, wir sollten uns doch einmal überlegen, ob es so sinnvoll ist, wie wir es tun: heute zwölf Stunden Jahreswirtschaftsbericht, übermorgen vier oder sechs Stunden - ich weiß es noch nicht - Agrarbericht, dann wieder ein Bericht, dann wieder ein Bericht und dann - auf das Thema komme ich in anderem Zusammenhang zurück - noch die Haushaltsberatung. Auch um des Ansehens dieses Parlaments willen - die Häufigkeit der Debatten führt nicht zur Qualitätsverbesserung, und sie führt auch nicht zu größerer Beteiligung der Kollegen ({0})
entsteht die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, hier einmal zu überlegen, jene Berichte, die zeitlich in die Nähe der Etatberatung geraten, mit der jeweiligen Einzelplanberatung zu verbinden; denn heute reden wir nominell über den Jahreswirtschaftsbericht, zu 50 % reden wir über den Haushalt, und in vier Wochen reden wir über den Haushalt und reden dann wieder über dieselben Themen, über die wir heute gesprochen haben. Das sollten wir uns einmal überlegen. Noch dazu geschieht das Reden auf allen Seiten weitgehend mit den gleichen Argumenten.
({1})
- Das habe ich damit gar nicht gesagt. Man braucht sie vielleicht nicht so miteinander zu verbinden, wie das heute geschehen ist. Ich habe auch nicht gesagt, daß man sie chemisch rein trennen soll, ich habe einen Vorschlag zur Arbeitsökonomie gemacht.
({2})
- Sicher. Ich wäre sehr dankbar, wenn das die, die dafür zuständig sind, einmal bedenken würden.
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- Wir sind doch keine Verwaltung.
Meine Damen und Herren, der Kollege Müller-Hermann - ich glaube, Kollege Junghans hat sich die Mühe gemacht, die heutige Rede an Hand der Rede vom vergangenen Jahr zu vergleichen und zu verfolgen; das ist ihm, wenn ich seine Einlassung heute morgen richtig verstanden habe, sehr leicht gefallen - hat im wesentlichen tatsächlich das wiederholt, was er hier im vergangenen Jahr gesagt hat. Und das scheint mir ein Unterschied zu dem zu sein, was der Kollege Strauß gesagt hat; denn hinter allem gewohnten Feuerwerk an Schwarzmalerei - oder wie man es nennen will ({4})
schienen mir in der Rede des Kollegen Strauß zwei Punkte neu zu sein, die - auch wenn er nicht da ist - festzuhalten und festzuschreiben mir wert sind, weil sie, glaube ich, Fortschritte in seiner Denk- und in seiner Argumentationsweise zumindest andeuten, soweit ich ihn richtig verstanden habe.
Kollege Strauß hat heute morgen davon gesprochen, daß unsere Wirtschaft am Tage der Regierungserklärung - 28. 10. 1969 -, auf die er sich bezog, inflationsgefährdet gewesen sei. Nun will ich das nicht wiederholen, was ich über den Gebrauch des Wortes „Inflation" hier schon wiederholt gesagt habe; ich halte das nach wie vor aufrecht. Aber - das ist doch interessant - wenn und soweit hier eine politische Verantwortung festzustellen ist - und auch darauf werde ich nachher noch einmal als die Kernfrage unserer Auseinandersetzung zurückkommen -, dann muß doch aus der Feststellung des Kollegen Strauß, die Wirtschaft sei am 28. Oktober 1969 inflationsgefährdet gewesen, die Frage abgeleitet werden dürfen, wer denn für diesen Gefährdungszustand die Verantwortung gehabt hat. Mit Sicherheit nicht die Regierung, die an diesem Tag ihre Regierungserklärung abgegeben hat.
({5})
- Ich rede hier von dieser Regierung, gegen die Sie Ihre gesamte und in ihrer Art so zweifelhafte Opposition hier und draußen im Lande betreiben.
({6})
Ich darf auf das hinweisen, was, glaube ich, Kollege Arndt hier angesprochen hat und was in diesem Zusammenhang doch auch noch einmal gesagt werden soll und muß. Es kommt nicht nur darauf an - wie es hier heute morgen geschehen ist -, unsere Geldverschlechterungsrate in Relation zu anderen Ländern zu setzen. Man sollte doch auch vielleicht, Herr Müller-Hermann, endlich einmal zu begreifen versuchen, daß dies eben eine Frage ist - Kollege Arndt hat, glaube ich, sehr gut die internationalen Zusammenhänge dargestellt -, die in der Tat von der politischen Gruppierung der jeweiligen Regierung unabhängig ist. Denn Sie können ja nicht behaupten, daß gleiche Koalitionen wie hier in Bonn in England, in Frankreich, in den USA oder wo immer bestehen, wo gleiche oder höhere Geldsteigerungsraten zu verzeichnen sind. Das müssen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({7})
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller-Hermann?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kirst, es bestreitet ja niemand, daß unsere Wirtschaft eben auch im internationalen Zusammenhang gesehen werden muß. Aber stammt nicht das Wort von der hausgemachten Inflation auch aus dem Munde des Herrn Bundeswirtschaftsministers Schiller und von der Bundesbank? Das sind doch wohl auch von Ihnen anerkannte objektive Urteile. Wir wollen es uns bitte nicht zu leicht machen.
Nein, das mache ich bestimmt nicht, Herr Kollege Müller-Hermann. Kein Mensch hat hier abgestritten, daß es nicht nur außenwirtschaftliche Faktoren sind,
({0})
sondern es sind auch binnenwirtschaftliche Faktoren. Nur: Was die Auseinandersetzung mit Ihnen so schwer macht - darauf wäre ich später selbstverständlich gekommen -, das ist doch der Drall, den Sie Ihrer Argumentation immer geben - bewußt
geben - , daß Sie „hausgemacht" suggestiv mit
„regierungsgemacht" gleichgesetzt haben wollen. Das ist nun einmal der Punkt, über den wir uns streiten müssen.
({1})
Darauf bezog sich meine Feststellung, daß das wohl nichts mit der politischen Couleur der jeweiligen Regierung zu tun hat, wenn wir diese internationale Erscheinung feststellen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Bitte sehr.
Herr Kollege Kirst, das ist ja ein alter Streit zwischen uns. Ich gebe Ihnen völlig zu, daß „hausgemacht" nicht gleich „regierungsgemacht" heißt. Aber geben Sie wenigstens zu, daß gerade nach diesem Jahreswirtschaftsbericht bzw. nach dem Sachverständigengutachten z. B. die expansive Wirkung der beiden Haushalte 1970 und 1971, für die ja die Regierung insgesamt die Verantwortung trägt, auch eine Inflationsquelle war und insofern ein Teil dieser hausgemachten Inflation regierungsgemacht oder regierungsverschuldet ist?
Herr Kollege Jenninger, wir sind uns eben offenbar nähergekommen, indem Sie jetzt nur noch von einem Teil sprechen, bei dem man hausgemacht und regierungsgemacht gleichsetzen muß. Das ist sicher schon ein Fortschritt. Es ist sehr gut, wenn man sich in der Debatte millimeterweise annähern kann.
Aber, Herr Kollege Jenninger, ich habe es auch noch einmal nachgelesen, als es der Kollege Luda zitierte -, hier werden - das will ich gar nicht kritisieren - Bund, Länder und Gemeinden durcheinandergeworfen. Das konnte ich so schnell nicht nachprüfen. Aber nach meiner Erinnerung steht jedenfalls eines fest: Die dort kritisierten Zuwachsraten der öffentlichen Hände insgesamt liegen höher als die des Bundes. Der Bund hat - dafür liegen die Zahlen vor - unter dem Durchschnitt von Bund, Ländern und Gemeinden gelegen. Die Zuwachsraten bei Ländern und Gemeinden waren höher. Das wird Ihnen notfalls von Amts wegen noch einmal bestätigt werden. Das können wir auch in der Haushaltsdebatte weiter vertiefen. Im übrigen liegt der Faktor, der in den Gutachten festgelegt ist - ich will das gar nicht bagatellisieren -, glaube ich, bei 0,8 %, bezogen auf das Bruttosozialprodukt. Er hat sicher eine Wirkung, aber eben nicht die alles entscheidende Wirkung, die von Ihnen immer da hineingelegt wird, ganz abgesehen davon, daß auch das Gutachten sehr deutlich zum Ausdruck bringt - man müßte das natürlich immer vollständig zitieren -, inwieweit diese Dinge zwangsläufig gewesen sind infolge der Personalkostenbewegung usw.; das wird nicht gesagt, aber die Zwangsläufigkeit wird hervorgehoben, das wissen wir.
Aber lassen Sie mich nun zu dem Gedanken, den ich hier eben ausführte, zurückkommen. Ich hatte davon gesprochen, bei Herrn Kollegen Strauß erfreulicherweise eine gewisse Änderung seiner bisherigen Haltung feststellen zu können. Ich will es noch einmal mit diesen Worten sagen: Der Konjunkturzug war im Herbst 1969 bereits in voller Fahrt. Es war doch nicht so, daß er auf dem Abstellgleis stand und diese Regierung erst den Dampf anlassen mußte. Es ist nun einmal so, daß sich Konjunkturzyklen - das ist überall so, und sich über diese Konstatierung zu verständigen gehört dazu, um überhaupt über Möglichkeiten der Verständigung debattieren zu können - eben nicht nach Legislaturperioden richten.
({0})
Die Geschichte dieses Booms hat nicht mit dem Amtsantritt dieser Regierung begonnen.
In den Äußerungen des Kollegen Strauß erschien mir ein Zweites wichtig. Er hat bei den vielen Malen, in denen er in dieser Legislaturperiode über die Frage gesprochen hat, glaube ich, zum erstenmal eine etwas differenzierte Haltung zur Aufwertung eingenommen. Bisher hatte er eigentlich immer nur, wenn auch wiedersprüchlich, im gleichen Atemzug davon gesprochen, daß die Aufwertung gefährlich und wirkungslos war. Heute habe ich ihn so verstanden, daß er zum erstenmal eine zumindest begrenzte Wirkung der Aufwertung und später auch des Floating auf unsere Preispolitik zugestanden hat. Das wollen wir als erfreulichen Fortschritt neben einigen anderen Punkten feststellen, die sehr zu kritisieren sind und auf die ich in einer kleinen Auswahl noch einmal zu sprechen kommen will. Wir haben selbstverständlich - da gibt es eigentlich keinen Unterschied - niemals die Aufwertung oder die außenwirtschaftlichen Maßnahmen als Allheilmittel hingestellt, aber doch als unabdingbare Voraussetzung, um mehr Stabilität zu erreichen.
Beide Äußerungen scheinen mir ein bescheidener, aber am Anfang stehender Beitrag zu einer positiven Vergangenheitsbewältigung in dieser konjunkturpolitischen Auseinandersetzung gewesen zu sein. Im übrigen haben wir natürlich heute in diesen sieben Stunden, die die Debatte schon wieder läuft, auch sehr viel an gewohnter, so würde ich sagen, Vergangenheitsbewältigung zu erleben, zu erleiden und zu erdulden gehabt. Diese Vergangenheitsbewältigung bezieht sich im wesentlichen auf zwei Punkte. Einmal ist es der Zitatenkrieg, und zweitens ist es die Frage, inwieweit sich Prognosen als richtig erwiesen haben, von wem immer und wo sie gestellt worden sind.
Ich darf feststellen, daß wir Freien Demokraten von diesem Zitatenkrieg erfreulicherweise verschont geblieben sind. Ich habe es hier schon einmal gesagt: es gibt eben kaum oder wahrscheinlich gar keine Zitate, die man uns vorwerfen kann, weder aus der Zeit vor 1966 noch zwischen 1966 und 1969 noch in dieser Koalition.
Was aber nun die Zitate anbelangt - ich will mich hier insoweit gar nicht in die Auseinandersetzung zwischen SPD und CDU einschalten -, muß
man doch einmal feststellen: Bei den Zitaten, die die Sozialdemokraten bis 1966 betreffen, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste ist, daß das, was damals gesagt wurde - ich sage das hier bei aller Freundschaft innerhalb der Koalition -, tatsächlich falsch war. Wenn es aber falsch war, dann wird es doch nicht dadurch richtig, daß andere Leute es heute wiederholen. Das ist doch das Entscheidende bei diesem Zitatenkrieg. Ich habe den Eindruck, daß hier seitens der CDU/CSU nur eine Art eitler Rechthaberei betrieben wird, die im Prinzip niemandem etwas nützt. Wären aber die zitierten Ausführungen richtig gewesen, würde die heutige Opposition ja eigentlich nur eine nachträgliche Rechtfertigung der damaligen Opposition betreiben, was wiederum auch nicht ihre Aufgabe wäre. Ich glaube also, wir wären alle gemeinsam besser dran, wenn wir uns auf diesen Zitatenkrieg nicht unentwegt einlassen müßten.
Was die Prognosen angeht, so kann ich hier nur das betonen, was Kollege Mertes heute morgen gesagt hat, und nur ergänzend dazu feststellen, daß wir Freien Demokraten wohl von uns sagen dürfen, daß wir uns nie an falschen Prophetien beteiligt haben. Sonst wären sie uns sicher schon irgendwann einmal entgegengehalten worden.
Nun meine ich, daß die Ausführungen des Kollegen Strauß in einigen Punkten doch noch einer sehr deutlichen Erwiderung und Kritik bedürfen.
Zunächst noch einmal zum Thema Konjunkturzuschlag. Ich will den Faden hinsichtlich der Wahlgeschenke hier nicht fortspinnen. Ich will nur soviel sagen: Wir gehen vom normalen Ablauf der Legislaturperiode aus, aber immerhin, für die Bürger, die sich von der CDU verunsichern lassen, bedeutet natürlich die Zurückzahlung des Konjunkturzuschlages zum 15. Juni, daß unter keinen Umständen irgend jemand in Versuchung kommt, ihn nicht zurückzuzahlen. Diese Regierung wird ihn in jedem Fall zurückzahlen. Leider ist das für die Opposition nicht so zweifelsfrei geblieben, wie Herr Strauß das hier heute darstellte. Ich habe Herrn Strauß in der Sondersitzung im Juli 1970 den Vorwurf machen müssen, daß er ja die Glaubwürdigkeit des Parlaments und der Regierung mit seiner damaligen falschen Behauptung in Zweifel ziehe, die Regierung werde den Konjunkturzuschlag nicht zurückzahlen. Es war doch nicht so, wie er es heute gesagt hat. In Wirklichkeit hat man sich ja noch einen Alibi-Antrag hinsichtlich der Verzinsung einfallen lassen, der die Enthaltung ermöglichte. Dabei sind wir uns alle darüber klar, daß Geld, das stillgelegt wird - und das war ja der konjunkturpolitisch gewollte Sinn und Effekt -, nicht verzinst werden kann.
Nun hat Kollege Strauß auch wieder - wie konnte es anders sein - zum zigsten Mal die Sache mit den angekündigten Steuersenkungen angesprochen. Ich will dazu nur folgendes sagen. Auch da war seine Darstellung natürlich unvollständig. Er hat erklärt, am 5. Juni 1970 habe die CDU gesagt, man sollte das liegenlassen. Soweit richtig, aber nur halb wahr. Denn der eigentliche Vorschlag - Kollege Leicht hat das durch einen Zwischenruf deutlich gemacht - war ja der, statt dessen das Kindergeld zu erhöhen, und zwar in dem gleichen Ausmaß, das finanziell bezüglich der Steuersenkung vorgesehen war, das also finanziell gegenseitig zur Dek-kung zu bringen. Das wäre konjunkturpolitisch natürlich im Prinzip dasselbe gewesen. Insofern war also die konjunkturpolitische Absicht der Opposition in dieser Frage sicherlich nicht sehr ernst gemeint.
Ich glaube, wir tun gut daran, über die Frage der Steuerreform dann zu sprechen, wenn sie hier vorliegen wird. Ich meine nur: es war sicher vernünftig, daß hier eine Klarstellung zu den 17 % Mehrwertsteuer gekommen ist. Denn wenn die Äußerung so gefallen wäre, wie sie zunächst berichtet worden ist, hätte sich der Kollege Strauß wohl auch den Vorwurf machen lassen müssen, mit einer solchen Äußerung die künftige Verhandlungsposition der Bundesregierung in dieser schwierigen Frage erschwert zu haben.
Interessant scheint mir - ich sehe allerdings im Augenblick weder Herrn Schulhoff noch andere aus der Opposition hier im Saal -, daß der Kollege Strauß bei diesen steuerpolitischen Überlegungen offenbar die Möglichkeit und die Notwendigkeit - wie sie die Bundesregierung in ihren Eckwerten zum Ausdruck gebracht hat -, die Gewerbesteuer in diesem Zusammenhang abzubauen, völlig ad acta gelegt hat; eine, glaube ich, ganz interessante Feststellung.
Nun ein paar Worte zur Haushaltspolitik. Ich bin allerdings der Meinung, wir sollten sie im April, wenn der Haushalt vorliegt, im einzelnen erörtern. Nur eines: Ich muß - ich habe das neulich schon getan - entschieden den Vorwurf des Kollegen Strauß zurückweisen - ich hätte eigentlich erwartet, daß das der Vorsitzende des Haushaltsausschusses getan hätte -, die Koalitionsparteien betrieben im Haushaltsausschuß eine Art Verschleppungspolitik. Herr Baier, ich wollte es neulich nicht sagen, jetzt sage ich es aber: Kollege Bußmann und ich waren bereit, die Berichterstatterbesprechung für einen ganz großen Etat, die normalerweise drei Tage dauert, in der ersten Woche der Weihnachtspause zu machen; wir wären auch gekommen. Dann kam der Wunsch Ihrer Kollegen: „Das wollen wir doch nicht machen; laßt es uns lieber im Februar machen."
({1})
Wir haben das selbstverständlich akzeptiert. Aber dann von Verzögerung zu sprechen, scheint mir doch ein starkes Stück zu sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Baier?
Bitte!
Herr Kirst, können Sie mir aus dem Haushaltsausschuß einen Fall nennen, daß Berichterstatter der CDU gebeten haben, wegen nicht durchgeführter Vorberatungen eine Etatberatung abzusetzen? Waren es nicht vielmehr koali10302
tionsangehörige Berichterstatter, die immer wieder das Begehren hatten, Tagesordnungspunkte abzusetzen, mit der Begründung, daß sie noch nicht mit der Vorbereitung fertig seien?
Kollege Baier, ich habe Ihnen soeben einen Fall genannt, wo es wirklich umgekehrt war, wobei anerkennenswerte persönliche Motive vorlagen. Nur wehre ich mich dann dagegen, daß solche Vorwürfe gemacht werden.
Im übrigen meine ich mich richtig zu erinnern, daß, wenn Vertagungswünsche vorgebracht worden sind, sie übereinstimmend von beiden Berichterstattern kamen. Es hat einen speziellen Fall gegeben, das war der Einzelplan 10, wo wir aus ganz bestimmten Gründen - weil da auch mit der Regierung noch bestimmte Dinge zu besprechen waren - die Beratung mehrmals abgesetzt haben. - Aber wie wir es auch machen, ist es natürlich falsch. Hätten wir es anders gemacht, müßten wir uns heute den bombastischen Vorwurf anhören, die Koalition habe diesen Haushalt im Haushaltsausschuß durchgepeitscht. Außerdem müssen wir den Sitzungsplan berücksichtigen; der hat eben zu dieser Terminierung geführt.
Nun zu der Bemerkung, daß das dann nach den Wahlen in Baden-Württemberg sein werde. Dazu möchte ich folgendes sagen. Die Erfahrungen, die wir mit der Art Haushaltsdebatte gemacht haben, wie Sie sie im Juni 1970 geführt haben - damals habe ich Ihnen einmal zugerufen: „Sie machen ja eine Non-stop-Wahlkampfschau", ein Vorwurf, der in der Öffentlichkeit als richtig anerkannt worden ist -, könnten uns natürlich zu der Überlegung bewogen haben, es so zu machen. Aber es ist nicht bewußt so gemacht worden. Der Grund, warum der Haushalt so spät gekommen ist, war die Absicht der Regierung - und wir sind der Meinung, daß sie richtig war -, für die Vorlage des Haushalts 1972 die Steuerschätzungen vom 15. August 1971 abzuwarten. Jeder, der etwas von Haushaltstechnik und allem Drum und Dran versteht, weiß natürlich, daß, wenn man das abwarten wollte, eine schnellere Behandlung - einschließlich dann der ersten Lesung usw. - nicht möglich war.
Im übrigen werden wir natürlich noch feststellen - da haben wir eine gute Bilanz , wann in früheren Jahren Haushalte auch in Nicht-nach-Wahl-Jahren jeweils beraten worden sind.
Ich will hier der Einzelberatung nicht vorgreifen. Nur zur Frage der Verschuldung: ich glaube, der Bundeskanzler hat heute nachmittag schon darauf hingewiesen, daß man hier doch sehr unterscheiden muß zwischen dem, was geplant und bis zu einem gewissen Grade prognostiziert wird, und dem, was eintritt. Da können wir, ich darf das noch einmal unterstreichen, für die Jahre 1970 und 1971, jedenfalls was den Bund anbelangt, eine sehr zufriedenstellende Bilanz - mit einer Neuverschuldung von jeweils nicht mehr als 1 Milliarde DM gegenüber dem Vorjahr bei einem Haushaltsvolumen von 90 bzw. 100 Milliarden DM - aufweisen.
Wenn von der „Inflationslücke" gesprochen wird, so habe ich manchmal den Eindruck, daß auch hier
wieder von einer Welt gesprochen wird, wie sie gar nicht ist. Wenn Sie hier über Kreditfinanzierung sprechen, dann muß der unbefangene Beobachter eigentlich den Eindruck gewinnen, wir lebten noch in einer Zeit, in der die Regierung die Notenpresse in Gang setzen konnte.
Meine Damen und Herren, unabhängig davon, was als Anspruch der öffentlichen Hände in Haushaltsplänen und Finanzplänen festgelegt wird: die Grenzen der Neuverschuldung setzt der Kapitalmarkt; darüber müssen wir uns alle im klaren sein. Insofern kommen hier manchmal sehr schiefe Momente hinein.
Im übrigen: die Kassandra-Rufe von heute waren dieselben wie vor einem Jahr und vor zwei Jahren, und die Ergebnisse waren so, wie ich sie eben aufgezeigt habe.
({0})
Kollege Strauß hat gesagt, unsere Frage, wo er denn sparen wolle, sei primitiv. Ich habe irgendwo oben auf dem Schreibtisch ein Interview liegen, daß Herr Strauß vor ein paar Tagen der „Augsburger Allgemeinen" gegeben hat. Man kann es sich natürlich so einfach machen, wenn man seine Leser und Zuhörer entsprechend einschätzt. Er hat vier Schwerpunkte genannt, die sich im übrigen mit denen dieser Regierung decken. Er hat gesagt, er wolle nicht Schiedsrichter sein, er würde nur aufpassen - so ungefähr. Das ist natürlich keine Antwort; das ist keine legitime Begründung des Vorwurfs, die Regierung habe zuviel ausgegeben oder wolle zuviel ausgeben.
Nun zu einer am Rande doch bezeichnenden Sache. Kollege Strauß hat heute morgen vom Bardepotgesetz gesprochen. Ich will jetzt nichts Grundsätzliches dazu sagen. Aber in dem, was er gesagt hat, war einmal ein Denkfehler und zum anderen ein Rechenfehler. Ich reagiere nun einmal allergisch auf falsche Zahlen. Kollege Strauß hat gesagt, man würde dieses Bardepotgesetz unterlaufen. Wenn ich 100 000 DM haben wolle, gebe der ausländische Kreditgeber eben 140 000 DM. Der Denkfehler ist natürlich der, daß die Zinsen - und darauf kommt es an - dann auf die 140 000 DM zu zahlen sind. Er hat dann ja nicht 100 000 DM zur Verfügung, sondern 84 000 DM; denn die 40 % sind natürlich von der Gesamtsumme zu rechnen. Er ist eben ein wenig mit „auf Hundert", „im Hundert" und „vom Hundert" durcheinandergekommen. Das geht anderen aber offenbar auch so. Neulich hat mir jemand gesagt, der Zinssatz bei 50 % Bardepot würde sich ja auch nur um 50 % erhöhen. In Wirklichkeit erhöht sich natürlich der effektive Zinssatz um 100 %. Das muß man sehr deutlich sehen.
Ich kann im Interesse der Opposition nur hoffen, daß nicht alle Rechnungen, die uns der Kollege Strauß hier aufmacht - insbesondere deshalb sage ich es -, so mit Denk- und Rechenfehlern behaftet sind wie diese Rechnung.
({1})
Nun, meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Kollegen Barzel. Er hat in der ihm eigenen geKirst
konnteren Art nur das Demagogische wiederholt, was Kollege Müller-Hermann heute morgen zum besten gegeben hat. Er beruft sich dauernd auf das Angebot des Ausgabenstopps im Dezember 1969. Damit er das nicht immer wieder sagt: So oft er dieses Argument vorbringt, werden wir ihm entgegenhalten müssen, daß das ein Angebot mit doppeltem Boden war. Von Ihnen ist damals - ja, Herr von Bismarck - vorgeschlagen worden, die Entscheidung über alle ausgabewirksamen Anträge zurückzustellen. Das ist richtig.
({2})
- Ja, zurückzustellen bis zu irgendeinem Zeitpunkt.
({3})
Das hat Sie aber nicht davon abgehalten, unabhängig davon in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten ständig publikumswirksame, ausgabewirksame Anträge einzubringen.
({4})
Sie wollten also auf der einen Seite das Image des Stabilitätsbewußten haben und auf der anderen Seite das Image eines, der allen alles bringt. Das nenne ich ein Angebot mit doppeltem Boden!
({5})
Wirksam wäre ein Vorschlag gewesen, hier gemeinsam keine ausgabewirksamen Anträge einzubringen. Aber das haben Sie uns nicht vorgeschlagen.
Schließlich möchte ich noch die Ausführungen des Kollegen Müller-Hermann in die Erinnerung zurückrufen. Sie haben doch sehr deutlich gezeigt, daß es der Opposition in weiten Teilen leider nicht um eine sachliche Auseinandersetzung geht, sondern um eine Fortsetzung der hemmungslosen Vorwürfe gegen diese Regierung. Was hier heute morgen gesagt worden ist, das alte Schlagwort von der Inflationsregierung, soll in der Bevölkerung den Eindruck erwecken, die bedauerliche Geldwertentwicklung sei das bewußte Ziel dieser Regierung. Hier wird die Suggestion einer gewollten Inflation erzeugt.
({6})
- Herr Müller-Hermann, Sie müssen Ihre eigenen Reden mal lesen, vielleicht glauben Sie es dann.
({7})
Sie tragen mit dieser Art der Auseinandersetzung eine schwere Verantwortung, die eines Tages auf Sie zurückschlagen wird. Ich meine, mit dieser Form der Auseinandersetzung, die wir ja nicht nur in diesem Bereich finden, sondern auch in anderen Bereichen, gefährden Sie auch die Lebensfähigkeit dieser parlamentarischen Demokratie, die wir gemeinsam bejahen. Sie setzen sie um kurzsichtiger kurzfristiger parteitaktischer Ziele willen aufs Spiel. Das muß Ihnen einmal ganz deutlich gesagt werden. Wir bejahen die Rolle der Opposition. Wir bejahen
den parlamentarischen Streit. Aber es muß dann über Dinge gestritten werden, über die man streiten kann, unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Methoden. Die Auseinandersetzung kann jedoch nicht darin bestehen, daß die eine Seite immer falsche, verleumderische Behauptungen aufstellt und die andere diese wieder mühsam zu widerlegen hat, was ihr sicher auch gelingt. Der entscheidende Denkfehler ist ja heute wieder einmal klargeworden: in Ihrer Auseinandersetzung ist eben die bewußte Irreführung - Kollege Jenninger, Sie machten vorhin, glaube ich, die Zwischenfrage -, hausgemacht sei regierungsgemacht, um das noch einmal sehr deutlich zu sagen. Es ist nicht nur so, daß Sie hier die Suggestivwirkung erzielen wollen,. daß in den Augen der Bevölkerung hausgemacht gleich regierungsgemacht sei, -
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Bismarck?
Ich war mit dem Satz zwar noch nicht zu Ende, aber trotzdem gern, Herr Präsident.
Entschuldigen Sie bitte, Sie sprachen schon eine zeitlang. Ich mußte mich irgendwie dazwischenschieben. Sie sprechen ja so schnell, wie ich das auch tue.
Herr Kollege Kirst, wo Sie gerade dabei sind, die Moral so eindeutig zu verteidigen: wollen Sie vielleicht doch einräumen, daß unser Angebot, das wir damals im späten Jahr 1969 gemacht haben, nämlich ausgabenwirksame Beschlüsse bis zur Beratung des Haushalts zurückzustellen, erstens terminiert war und zweitens von Ihnen nicht angenommen worden ist und dadurch nicht wirksam war, Ihre These mit dem doppelten. Boden also gar keinen Boden hat?
Das war ja schon im Augenblick des Angebots fragwürdig und unglaubwürdig, weil da schon die ersten Anträge dieser Art vorlagen. Das können wir notfalls nachweisen.
Ich wollte also sagen: das Entscheidende, worauf Sie setzen - ein Teil von Ihnen bewußt, ein Teil von Ihnen unbewußt, das gebe ich Ihnen gerne zu; Sie sind zum Teil die Gefangenen Ihrer eigenen Propaganda -,
({0})
das ist die Gleichung „hausgemacht gleich regierungsgemacht". Das ist das, was ich Ihnen immer wieder sagen werde, solange Sie so verfahren, daß Sie mit dieser Methode
({1})
- ich rede jetzt von Ihrer Methode, wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen zu führen -, das von uns gemeinsam errichtete, heute vom ganzen Parlament bejahte System der Marktwirtschaft verleugnen, weil Sie an die Möglichkeiten der Ein10304
wirkung der Regierung Maßstäbe setzen, die nicht marktkonform sind. Das ist und bleibt das Entscheidende.
({2})
Wir haben es Ihnen häufig gesagt. Auch der Kollege Kienbaum hat es Ihnen ausgerechnet, welche viel größere Bedeutung die Entscheidung der Tarifpartner hat. Sie können uns nicht vorwerfen, daß wir nicht von Anfang an die Bedeutung der Entscheidung der Tarifpartner klar und deutlich beiden Seiten gesagt haben.
Herr Abgeordneter Kirst, ich glaube, Sie haben gerade einen Satz beendet. Darf ich Sie fragen, ob Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Leicht beantworten?
Bitte schön.
Herr Kollege Kirst, würden Sie wenigstens bereit sein - im Sinne der Auseinandersetzung, die Sie führen wollen , zuzugeben, daß, wenn Sie im Jahre 1970 z. B. - ich greife nur - unseren Anträgen gefolgt wären, damals schon 1,5 Milliarden im Haushalt zu streichen, nicht auszugeben, damals schon die Verpflichtungsermächtigungen um 5 Milliarden zurückzuhalten, damals schon einen Eventualhaushalt einzuführen usw., Sie dazu hätten beitragen können, das „hausgemacht" von der Regierung her zumindest einzuschränken?
Kollege Leicht, Sie haben hier drei Fragen gestellt.
({0})
Zunächst darf ich sagen: diese Methode der Argumentation haben Sie - vielleicht nicht Sie persönlich, aber im Prinzip Sie - schon angeschlagen, bevor wir hier überhaupt den ersten Haushalt von dieser Regierung vorgelegt bekommen haben.
({1})
Sie, Herr Kollege Leicht, haben von den Verpflichtungsermächtigungen gesprochen. Die waren 1970 um 9 Milliarden DM größer als 1969; richtig. Das war aber eine rein methodische Umstellung, das hing mit dem Wehrhaushalt zusammen; das können Sie nachsehen.
Sie haben von den 1,5 Milliarden DM gesprochen. Wir haben gemeinsam - ich gebe zu: gemeinsam - aus den 2,7 Milliarden DM Sperren, die die Regierung zunächst vorgeschlagen hatte, etwa 2,2/2,3 Milliarden DM Kürzungen gemacht. Ihr Antrag sollte eine globale Minderausgabe sein.
Lassen Sie uns - ich sehe, meine Redezeit geht zu Ende - über die Frage, wann ein Eventualhaushalt berechtigt und erforderlich ist und wann nicht im April sprechen; wir tun das dann ausführlich. Es kommt nur darauf an, festzustellen, daß in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Methoden anzuwenden sind, und sicher war die haushaltspolitische Situation bei der Aufstellung des
Haushalts im Jahre 1970 und 1971 eine andere als im Jahre 1972.
({2})
Aber mir erscheint ein Punkt noch wichtig, den ich erwähnen muß, den der Kollege Müller-Hermann vielleicht sogar - ich will nicht eingebildet sein - als Auswirkung meines ständigen Vorwurfs in dieser Richtung - Sie dürfen ja unser Wirtschaftssystem nicht verleugnen - genannt hat. Er hat nämlich heute morgen interessanterweise gesagt: Sie würden sich dagegen wehren, daß man mit der Kritik an der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Wirtschaftssystems diskreditieren wolle. So ungefähr haben Sie, Herr Kollege Müller-Hermann, heute morgen gesagt. Wenn es so wäre, würden wir Ihnen in dieser Abwehr Beistand leisten. Ich darf Ihnen also versichern, daß es ganz gewiß nicht unsere Absicht ist, dieses Wirtschaftssystem zu diskreditieren. Ich habe in jedem Fall auch immer hinzugefügt, daß ich davon ausgehe, daß von den parlamentarisch verantwortlichen Kräften in diesem Lande niemand dieses Wirtschaftssystem ändern oder diskreditieren will. Darum geht es auch nicht. Wir wollen nur, daß Sie sich zu ihm bekennen, und zwar zu den Rosinen wie zu den bitteren Mandeln. Das setzt allerdings das voraus, was ich so gerne intellektuelle Redlichkeit nenne.
({3})
Meine Damen und Herren, zum Stabilitätspakt. Niemand will Geldwertverschlechterung. Ich glaube, wir sollten festhalten, daß dies zumindest hier heute doch angeklungen ist und daß man das Argument: wir wollten Geldwertverschlechterung aus haushaltspolitischen Vorteilen - so dumm dieses Argument immer war - nicht mehr gebracht hat. Der Streit geht ja letzten Endes nicht darum, ob wir Stabilität wollen oder nicht, er geht darum, wie, wo und wann wir Geldwertverschlechterung verhindern können; darum geht der Streit.
Ich meine, daß hier heute eine Reihe von sachlichen Beiträgen geleistet worden ist. Ich darf noch einmal den Beitrag des Kollegen Arndt erwähnen, der, wie ich glaube - obwohl .es mir nicht zusteht, hier Zensuren zu erteilen -, ein guter Anschauungsunterricht für dieses Problem war.
Wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß natürlich jede Zielsetzung in einer bestimmten Phase Preise kostet, und wir müssen uns darüber im klaren sein, daß das sogenannte magische Viereck - jedenfalls alle Volkswirte in der Welt sind sich darüber im klaren -, daß diese vier Ziele: Wachstum, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht nie gleichzeitig maximal erreicht werden können, sondern daß es immer nur um eine optimale Kombination geht.
({4})
und daß es immer nur die Aufgabe ist - soweit, Herr Müller-Hermann, die Regierung das in unserem Wirtschaftssystem kann -, dann den Schwerpunkt auf das jeweils gefährdete Ziel zu legen. Wir meiKirst
nen, daß die Regierung vielleicht zu viel erwartet hat von dem, was sie getan hat; daß sie aber alles getan hat, was sie tun konnte.
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Lassen Sie mich sagen: Ich würde mich freuen, wenn wir nach diesen zweijährigen argumentatorischen Schlachten in diesen Fragen doch einmal zu dem Punkte kämen, wo wir etwas finden könnten, was noch wichtiger ist, was sogar für uns die Form des Stabilitätspaktes wäre, daß nämlich unsere gemeinsam hier in diesem Hause tätigen politischen Kräfte auch einmal im Interesse der Sache in dieser Auseinandersetzung zu einem Wahrheitspakt kämen. Wir sind gern dazu bereit, und wir erwarten Ihren Beitrag dazu.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sprung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich noch einmal den Fragen der europäischen Zusammenarbeit und der Währung zuwenden. Die Notwendigkeit der Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften ist in diesem Hause unumstritten. Hier haben wir einen der Punkte, in denen es noch Übereinstimmung zwischen den Fraktionen gibt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Regierung stets unterstützt, wenn es darum ging, den von ihr und früheren Regierungen eingeschlagenen Weg der europäischen Integration weiterzuführen. Die Opposition stimmte mit der Regierung überein, daß bei wachsender wirtschaftlicher Integration Europas immer mehr wirtschaftliche Entscheidungen dem einzelstaatlichen Zuständigkeitsbereich entzogen und auf Gemeinschaftsebene getroffen werden und daß dieser Prozeß der schrittweisen Kompetenzverlagerung, weil sie sowohl der integrationspolitischen Zielsetzung als auch den wirtschaftspolitischen Erfordernissen des Gemeinsamen Marktes entspricht, zu bejahen sei.
Einigkeit bestand auch darin, daß das letzte und eigentliche Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion eine weltoffene Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums sein muß, in der es keine Wirtschafts- und Währungsgrenzen mehr gibt, und daß zur Sicherung eines möglichst spannungsfreien Prozesses eine effektive Parallelität zwischen den Fortschritten einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik sowie der schrittweisen Einengung nationaler Befugnisse und der Schaffung entsprechender Gemeinschaftskompetenzen gewährleistet sein muß.
Wie steht es mit diesen Forderungen heute, meine Damen und Herren? Im Jahreswirtschaftsbericht 1972 sind die Ausführungen der Bundesregierung über die Fortführung der europäischen Integration wesentlich vorsichtiger gehalten als in den beiden früheren Jahresberichten. Warum geschieht das? Es geschieht, weil sich in der Zwischenzeit gezeigt hat, daß die Erwartungen des Jahres 1970 offensichtlich zu hoch geschraubt waren. Es geschieht, weil in der Zwischenzeit die Entschließung des Ministerrats vom 22. März 1971 zur Ingangsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion gefaßt wurde. Diese Entschließung aber, meine Damen und Herren, bleibt bereits in wesentlichen Punkten, insbesondere in institutioneller Hinsicht, hinter den Vorschlägen zurück, die wir hier in diesem Hause vor der Ministerratssitzung vom 9. Februar 1971 diskutiert haben. Es geschieht aber auch deshalb, weil inzwischen auch einiges andere passiert ist, ich meine, weil wir außerdem in der Zwischenzeit eine Währungskrise hinter uns haben, die die westliche Welt an den Rand eines Handelskrieges gebracht hat und die Zusammenarbeit in der EWG einer äußersten Belastungsprobe aussetzte.
Meine Damen und Herren, ich will nicht erneut auf die Gründe für die Maßnahmen der Bundesregierung vom Mai 1971 eingehen. Ich will nicht erneut darauf eingehen, daß die Entwicklung, die zu der Maßnahme vom Mai 1971 geführt hat, bereits lange vorher erkennbar war. Das ist heute schon mehrfach zum Ausdruck gekommen. Fest steht, daß die Krise, in die mit der ergriffenen Maßnahme auch die Gemeinschaft geriet, hätte vermieden werden können, wenn rechtzeitig auf Gemeinschaftsebene abgestimmte Maßnahmen ergriffen worden wären, so wie man jetzt auch über solche Maßnahmen diskutiert und inzwischen auch Maßnahmen vereinbart und auch verabschiedet hat. Es ist die Bundesregierung gewesen, die durch ihren Alleingang gemeinschaftliche Maßnahmen unterband. Ging die Bundesregierung nicht bereits mit dem festen Entschluß nach Brüssel, den Kurs der D-Mark freizugeben? Aus der heutigen Sicht der Dinge ist der Lauf der Ereignisse im Jahre 1971 eine höchst bedauerliche Entwicklung gewesen, hat sie doch nicht nur den Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion hinausgezögert, sondern zu einer abermaligen Verwässerung der ursprünglichen Forderungen, die im Werner-Bericht niedergelegt waren, geführt.
Ich will auch nicht noch einmal auf die Entwicklung nach dem Mai 1971 über die amerikanischen Maßnahmen vom 15. August bis hin zur Washingtoner Währungskonferenz vom 18. Dezember eingehen.
Wo stand die EWG, als das alles vorüber war? Von der beschlossenen Inangriffnahme der Wirtschafts- und Währungsunion war man weiter entfernt als im Februar 1971. Bei dieser Sachlage ist es zumindest verständlich, daß sich der Jahreswirtschaftsbericht 1972 über die Wirtschafts- und Währungsunion nur mehr in allgemeinen Ausführungen ergeht. Kein Wort über die Maßnahmen der ersten Stufe, über den Einstieg in die Wirtschafts- und Währungsunion, kein Wort über die währungspolitischen Maßnahmen des Ministerratsbeschlusses vom 22. März 1971. Wie hätte man auch mehr sagen sollen? War doch noch völlig offen, ob es überhaupt möglich sein würde, die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion wieder in Angriff zu nehmen?
Nun, meine Damen und Herren, darüber gibt es inzwischen Klarheit, Klarheit seit dem deutsch-französischen Konsultationsgespräch vom 10. und 11. Februar dieses Jahres und seit der Tagung der Wirtschafts- und Finanzminister in der letzten Woche in Brüssel. Nach gründlichen Erörterungen, so wurde in der Pressekonferenz nach dem deutsch-französischen Konsultationsgespräch von Staatspräsident Pompidou erklärt, seien sich beide Regierungen darüber einig geworden, den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion so wiederaufzunehmen, wie sie ihn im Februar/März 1971 bereits abgesteckt hätten.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es, daß die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion wieder auf der Tagesordnung ist. Sie hegt jedoch einige Zweifel, ob wirklich nur ein Jahr verlorengegangen ist, mit anderen Worten, ob tatsächlich dort fortgefahren wird, wo man am 8. Mai 1971 stand. Sieht man sich die Ministerratsentschließung vom 22. März 1971 an, so fällt die Fülle einzelner Maßnahmen auf, die darin für die erste Stufe von drei Jahren ins Auge gefaßt wurden. Es sind Maßnahmen sowohl währungspolitischer als auch wirtschaftspolitischer Art. Was erscheint davon in den Pariser und Brüsseler Beschlüssen? Ausdrücklich erwähnt werden nur die Verengung der Bandbreiten und die Einführung eines Interventionssystems. Daneben soll noch die Richtlinie für Maßnahmen zur Abwehr unerwünschter Devisenzuflüsse von Mitte letzten Jahres endgültig verabschiedet werden, worunter beispielsweise auch unser Bardepotgesetz fällt. Außerdem soll ein Konjunkturlenkungsausschuß eingesetzt werden.
Von der Vielzahl der in der Ratsentschließung vom März letzten Jahres für die erste Stufe genannten konkreten Maßnahmen sind also nur zwei und außerdem nur monetäre Maßnahmen vorgesehen. Warum nur diese beiden Maßnahmen neben der Grundsatzerklärung und neben der Anerkennung des Parallelitätsgrundsatzes? Ist die Bundesregierung etwa der Meinung, daß von diesen Maßnahmen eine Art Zugzwang ausgeht, der gleichsam notwendigerweise zur Wirtschafts- und Währungsunion führt? In der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß dies eine Illusion wäre. Selbst der gemeinsame Agrarmarkt ist nicht in der Lage gewesen, einen solchen Zugzwang auszuüben.
Der Bundeswirtschaftsminister hat zum Ausdruck gebracht, daß die Bereitschaft zu einer Bandbreitenverengung innerhalb der EWG und die Möglichkeiten, die sich aus den vergrößerten Bandbreiten ergeben, die am 18. Dezember 1971 in Washington beschlossen worden sind, zu mehr gemeinsamer Flexibilität nach außen und mehr gemeinsamer Stabilität nach innen führen. So richtig und gemeinschaftsbezogen diese währungspolitische Linie ist, Herr Minister, so stellen sich doch zwei Fragen. Die erste: Darf dies eigentlich nach dem Realignment der Wechselkurse vom 18. Dezember 1971 noch das Problem sein? Darauf komme ich noch einmal zurück. Und die zweite: Erreichen Sie, Herr Minister, mehr gemeinsame Stabilität nach innen allein mit der Bandbreitenverengung?
Im Jahreswirtschaftsbericht 1971 stehen die wich- tigen Sätze:
Die wirtschaftliche Entwicklung in der Gemeinschaft war in den letzten Jahren von Spannungen begleitet. ({0}) Hauptproblem sind die inflationären Tendenzen in allen Ländern der Gemeinschaft. Gerade im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion wird es aber von den Preisentwicklungen in den Mitgliedstaaten abhängen, ob die Gemeinschaft auf der Basis fester Wechselkurse ohne Paritätsänderungen und ohne desintegrierende Tendenzen funktionieren kann.
Das gilt auch heute noch, Herr Minister. Von einer Verengung der Bandbreiten allein werden aber kaum Auswirkungen auf die Preisentwicklung in den einzelnen Staaten ausgehen. Das Hauptproblem, die inflatorischen Entwicklungen in allen Ländern der Gemeinschaft, bleibt also bestehen, und zwar das Problem inflatorischer Entwicklungen, die man nicht allein auf den Zufluß amerikanischer Dollars zurückführen kann. Ganz offensichtlich, Herr Arndt, meint die Bundesregierung mit dem Hinweis auf die inflatorischen Tendenzen in allen Mitgliedstaaten die hausgemachten inflatorischen Tendenzen. Es ist doch wirklich nicht möglich, alles auf den Dollar abzuschieben. Das tut weder die Bundesregierung, noch tut es die Bundesbank.
Sicherlich ist die Verengung der Bandbreiten für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, insbesondere des Agrarmarktes, von erheblicher Bedeutung. Doch wie lange, Herr Minister, glauben Sie das System aufrechterhalten zu können, wenn die inflatorischen Tendenzen in allen Mitgliedstaaten fortdauern und die Preisentwicklung von Land zu Land so unterschiedlich bleibt? Um den aus einer solchen Situation resultierenden Schwierigkeiten besser als bisher begegnen zu können, hat man doch im Rahmen des IMF die Bandbreiten gerade vergrößert. Eine Verengung der Bandbreiten, wie durch die EWG vorgesehen, kann doch offensichtlich nur funktionieren, wenn man annimmt oder unterstellt, daß es bezüglich der Preisentwicklung in der EWG anders aussehen wird, daß entweder der inflatorische Trend gebrochen wird oder daß alle Mitgliedstaaten Inflation im Gleichschritt betreiben. Das letztere lehnen Sie, Herr Minister, genauso ab wie wir, auch wenn die Wirklichkeit anders aussieht.
Was bleibt also zu tun? Was kann getan werden? Da ist zunächst das Interventionssystem, das notwendig zur Verteidigung der Bandbreitenverengung gehört, also ein System von Maßnahmen, die darauf abzielen, daß sich die Schwankungen der EWG-Währungen innerhalb der verengten Bandbreiten halten. Natürlich stellt sich die Frage - und sie ist ja auf der letzten Sitzung der Wirtschafts- und Finanzminister in Brüssel ausgiebig erörtert worden -, wie das technisch vor sich gehen soll. Ohne Zweifel stellt das vorgeschlagene System hohe Anforderungen an die Zentralbanken. Beruhigend ist, Herr Minister, daß in dem System keine Kreditgewährungen vorgesehen sind. Sollte sich später herausstellen, daß gewisse Kreditlinien in VerbinDr. Sprung
dung mit dem Interventionsmechanismus nötig sind, so müßten sie auf jeden Fall eng begrenz sein und eindeutige Auflagen für die jeweilige nationale Wirtschafts- und Konjunkturpolitik enthalten.
Für solche Kreditgewährungen steht der EWG im übrigen bereits ein Instrument zur Verfügung, nämlich der schon beschlossene mittelfristige finanzielle Beistand. Der Errichtung eines besonderen Währungsausgleichsfonds dafür zu einem späteren Zeitpunkt bedürfte es also nicht.
Dennoch, Herr Minister, trotz noch so ausgefeilter Technik der Intervention zur Verteidigung der verengten Bandbreiten, ohne eine Koordinierung und Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik wird es keinen dauerhaften Fortschritt geben. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, vom Beginn der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion an eine Wirtschafts- und Konjunkturpolitik der Stabilität zu betreiben, ist unverzichtbar und eine unabdingbare Voraussetzung für ein Funktionieren, ganz sicher für ein längerfristiges Funktionieren der vorgesehenen Maßnahmen.
Im übrigen haben Sie selbst, Herr Minister, die Dinge vor genau zwei Monaten noch ähnlich gesehen. Als Sie vor diesem Hause über die Washingtoner Beschlüsse vom 18. Dezember berichteten, haben Sie erneut betont, daß die Gemeinschaft nicht etwa eine „Gemeinschaft der nach oben harmonisierten Inflationsraten sein darf", sondern klargestellt - ich zitiere -:
Die Erfahrungen zeigen im übrigen ..., daß die von deutscher Seite immer wieder unterstrichene Einhaltung der vereinbarten Parallelität zwischen wirtschafts- und währungspolitischen Fortschritten notwendiger denn je ist. Die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion darf-nicht ausschließlich in einer Verringerung der innergemeinschaftlichen Bandbreiten bestehen. Dies ist im übrigen
- haben Sie hinzugefügt nicht unser Problem von heute und morgen. Das war vor zwei Monaten, Herr Minister.
Was hat sich seitdem gewandelt oder geändert? Hüten wir uns davor, heute den entscheidenden Fortschritt bereits in der Verengung der Bandbreiten zu sehen, so wichtig diese für den innergemeinschaftlichen Warenverkehr, insbesondere für den gemeinsamen Agrarmarkt auch sein mag. Die Verengung der Bandbreiten kann lediglich der Einstieg in eine engere währungspolitische Zusammenarbeit in der EWG, die Vorstufe eines neuen Währungsmechanismus in Europa, vielleicht auch ein erster Ansatz für eine eigenständige europäische Währungspersönlichkeit sein, mehr nicht. Das ist der erste Punkt, den ich etwas beleuchten wollte.
Jetzt noch einige Bemerkungen zu der Übereinkunft, einen konjunkturpolitischen Lenkungsausschuß zu schaffen. Herr Minister, wir haben bereits eine Kommission und eine Reihe von Ausschüssen, die sich mit Fragen der Währungspolitik, der Konjunkturpolitik und der Wirtschaftspolitik befassen. Warum also noch einen konjunkturpolitischen Lenkungsausschuß? Ich weiß, was Sie darauf erwidern werden, denn Sie haben sich dazu bereits geäußert. Ich wiederhole die Frage: Warum nicht die bereits bestehenden Organe? Sie selbst haben doch noch im letzten Jahresbericht festgestellt, daß zur Sicherung eines möglichst spannungsfreien Prozesses der Stufenplan eine effektive Parallelität zwischen den Fortschritten in der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik sowie zwischen der schrittweisen Einengung nationaler Befugnisse und der Schaffung entsprechender Gemeinschaftskompetenzen gewährleisten müsse. Davon ist im Augenblick keine Rede mehr. Selbst beim besten Willen der beteiligten Länder - und ich glaube, den können wir unterstellen -: Wie, Herr Minister, glaube Sie, läßt sich eine Koordinierung der Konjunkturpolitik bewerkstelligen, eine Koordinierung und Harmonisierung, die doch wohl nicht nur zu einem gleichen Konjunkturrhythmus in den einzelnen Mitgliedstaaten führen muß, sondern auch mit den gleichen Zielsetzungen, mit der Verfolgung gleicher wirtschaftspolitischer Ziele einhergehen muß? Auch zu dieser Frage haben Sie früher Feststellungen getroffen, die wir unterstützt haben, die wir aber neuerdings vermissen.
Und nun zur Weltwährungssituation. Meine Damen und Herren, als sich die Zehnergruppe zusammen mit der Schweiz und dem Weltwährungsfonds am 18. Dezember auf eine umfassende Neubewertung der Wechselkurse, auf die Einführung größerer Bandbreiten und darauf einigte, eine grundlegende längerfristige Reform des Weltwährungssystems in Angriff zu nehmen, wurde diese Einigung als eine geschichtliche Tat gefeiert. Der Bundeswirtschaftsminister hat in diesem Hohen Hause am 19. Januar dieses Jahres in seinem Bericht über die Konferenz von Washington ausgeführt, daß damit die nach dem 15. August entstandene Gefahr eines weltweiten Währungs- und Handelskrieges gebannt sei. Und er hat hinzugefügt:
Die den freien Zahlungs- und Handelsverkehr belastenden Maßnahmen sind weitgehend wieder abgebaut; die Wirtschaft kann wieder frei von Diskriminierungen und frei von nicht kalkulierbaren Einflüssen disponieren. Für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit ... haben die Vereinbarungen von Washington eine neue Basis geschaffen.
Es steht außer Zweifel, daß sich die an die Beschlüsse von Washington geknüpften Erwartungen leider schon in der kurzen Zeit, die seitdem verstrichen ist, nicht erfüllt haben. Die Beschlüsse haben leider nicht zu der erwarteten und erhofften Beruhigung geführt, die allgemein für nötig gehalten wurde und wird, um ausreichend Zeit für die Arbeiten an einer Reform des Weltwährungssystems zu haben. Der Dollar ist inzwischen erneut unter Druck geraten und bewegt sich im Verhältnis zu den wichtigsten anderen Währungen nahe dem unteren Interventionspunkt.
Nimmt es dann wunder, wenn in den Kommentaren zur gegenwärtigen Währungssituation erklärt wird, daß wir wieder dort stünden, wo wir vor dem 18. Dezember waren, ja, daß die Lage insofern noch
schlechter sei, als man damals noch die Chance einer Aufwertung der anderen Währungen und einer Dollar-Abwertung gehabt hat, heute dagegen nicht mehr?
Die Bundesregierung und die Bundesbank haben, wie bekannt, inzwischen Maßnahmen ergriffen, den erneut in die Bundesrepublik einströmenden Dollarbeträgen entgegenzuwirken. Sie haben den Diskontsatz gesenkt und haben das Bardepotgesetz, das vor wenigen Wochen erst weit nach unten in die „wirtschaftspolitische Tiefkühltruhe" - wie Sie, Herr Minister, es ausgedrückt haben - gelegt worden war, aus dieser hervorgeholt und zur Anwendung gebracht.
Vor der Vollversammlung des DIHT haben Sie, Herr Minister, das Bardepot als „ultima ratio" bezeichnet. Danach kommt also, wenn ich den Begriff richtig verstehe, nichts mehr. Und wenn nun auch diese Maßnahmen nicht ausreichen und damit die außenwirtschaftliche Flanke offenbleibt? Dann werden Sie etwas tun müssen, Herr Minister, allerdings - darum ersuchen wir Sie nachdrücklich, und Sie haben dies ja heute morgen bereits zugesagt - nicht wieder im Alleingang, sondern gemeinsam, d. h. abgestimmt mit den anderen Mitgliedstaaten der EWG, und durch Maßnahmen, die den internationalen Kapitalverkehr nicht beschränken oder beeinträchtigen.
Es dürfte, meine Damen und Herren, weitgehend Übereinstimmung darin bestehen, warum die Beschlüsse von Washington nicht zu der erhofften Beruhigung der Währungssituation geführt haben. Neben einem Wiederaufleben der Spekulation ist es vor allem das nach wie vor bestehende Zinsgefälle zwischen den USA und Europa, das durch eine entsprechende, auch jetzt noch in erster Linie auf die eigenen konjunkturpolitischen Belange der USA ausgerichtete Kredit- und Geldpolitik bedingt ist. Die Gründe für diese Politik hat Herr Arndt vorhin genannt.
Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA selbst wird dieser Haltung und diesem Vorgehen zunehmend Kritik entgegengebracht. Der kurzfristige Zinssatz in den USA hat in diesen Wochen sein niedrigstes Niveau in den letzten zehn Jahren erreicht. Natürlich bedeutet das keinen Anreiz für die Repatriierung von im Ausland angelegten Dollarbeträgen.
Damit stellt sich heraus, daß am 18. Dezember in Washington zwar mit dem Realignment der Wechselkurse ein Erfolg erzielt wurde, jedoch ein Erfolg, der zur Bewältigung der anstehenden Probleme nicht ausreicht. Es stellt sich heraus, daß der Zinspolitik - der Koordinierung bzw. Harmonisierung der Zinspolitik, der Angleichung unterschiedlich hoher Zinssätze in den einzelnen Ländern - bei einem weitgehend freien internationalen Kapitalverkehr eine nicht minder bedeutsame Rolle als realistischen Wechselkursen zukommt. Die Annahme, daß größere Bandbreiten, wie sie am 18. Dezember beschlossen worden sind, mehr Spielraum für eine unterschiedliche Zinspolitik schaffen würden, hat sich offensichtlich als falsch erwiesen.
Meine Damen und Herren, im Jahreswirtschaftsbericht 1970 war zu lesen:
Die Beruhigung der Währungslage nach den Paritätsänderungen bei der D-Mark und dem französischen Franken erlaubt diese Überlegungen, nämlich die einer Reform des Weltwährungssystems, mit Sorgfalt und genügendem Abstand vom täglichen Geschehen zu führen.
Welche Illusion! Sie erlaubte es nicht. Was haben wir seitdem währungspolitisch erlebt! Als die Washingtoner Beschlüsse vor drei Monaten gefaßt worden waren, hörte man ähnliche Feststellungen. Sie erwiesen sich noch schneller als 1970 als Täuschung. Es ist richtig: die europäischen Staaten sind bemüht, das Abkommen von Washington zu verteidigen. Die ergriffenen Maßnahmen zeigen es, doch sie reichen nicht aus. Auch die USA müssen ihren Beitrag dazu leisten. Die Bedeutung, die dabei der Zinspolitik zukommt, habe ich schon erwähnt. Aber vielleicht ändert sich daran bereits in der nächsten Zeit etwas.
Ein weiteres Moment, das zu der jüngsten Entwicklung beigetragen hat, dürfte die Erklärung des US-Finanzministers gewesen sein, daß eine Rückkehr zur Konvertibilität des Dollar in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten sei. Erhebliches Gewicht dürfte schließlich auch die Erkenntnis haben, daß es mit der für so wichtig gehaltenen Reform des Weltwährungssystems wohl doch nicht schnell vorangehen wird. Das wären allerdings keine sehr optimistischen Aussichten, ein Problem zu lösen, dem entscheidende Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines freien Waren- und Kapitalverkehrs und für die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und internationalen Arbeitsteilung zukommt.
Was die wichtigsten Fragen anlangt, auf die eine Reform der Weltwährungsordnung hinauslaufen muß, so sind sie alle gleichermaßen schwierig. Die Rückkehr zur Konvertibilität des Dollar wird wesentlich davon abhängen, bis wann die USA imstande sind, ihr erhebliches Zahlungsbilanzdefizit abzubauen. Ganz sicher gelingt das nicht kurzfristig. Das Problem der Reservemedien wird andere Schwierigkeiten aufwerfen. Vor wenigen Jahren noch diskutierte man im IMF, im internationalen Währungsfonds, darüber, wie man dem Mangel an internationaler Liquidität begegnen könne und schuf dafür die Sonderziehungsrechte. Heute geht es um den Überfluß, und soweit die Sonderziehungsrechte betroffen sind, darum, nicht sie an Stelle des Dollar zu einer neuen Inflationsquelle werden zu lassen.
Auch das dritte Problem, die Flexibilität der Wechselkurse, wurde in den letzten Jahren diskutiert. Es wurden dafür verschiedene Lösungen vorgeschlagen. Im Jahreswirtschaftsbericht 1970 hieß es dazu - ich zitiere -:
Die Ausführungen des Sachverständigenrates über Alternativen zum gegenwärtigen Währungssystem sind ein wertvoller Beitrag zur gegenwärtigen internationalen Diskussion über Möglichkeiten einer Auflockerung zu großer Starrheiten. ... Die Bundesregierung wird sich
an diesen Erörterungen, die auch das Thema „crawling peg" behandeln, förderlich beteiligen. ... Eine völlige Freigabe der Wechselkurse dürfte indessen wohl auch künftig nur in besonderen Ausnahmefällen ein taugliches Mittel zur Lösung von Zahlungsbilanzproblemen sein. . .. Auch die häufig erwogene Erweiterung der Schwankungsbreiten der Wechselkurse beiderseits der Parität würde zwar spekulative Kapitalbewegungen erschweren, das Hauptproblem - die Auseinanderentwicklung von Preisen und Kosten - allein jedoch nicht lösen und innerhalb der EWG erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Dagegen erscheint der Gedanke, Paritätsänderungen erforderlichenfalls häufiger und in kleineren Stufen vorzunehmen und dadurch ein fundamentales Zahlungsbilanzungleichgewicht möglichst schon im Entstehen zu korrigieren, einer sorgfältigen Prüfung wert.
Warum zitiere ich diese Ausführungen, Herr Minister? Ich tue es, um zu zeigen, wie schnell sich die Auffassungen darüber ändern, welche Maßnahmen am besten geeignet sind, auf welchem Wege am besten eine größere Flexibilität der Wechselkurse hergestellt wird. Augenblicklich sind es größere Bandbreiten, früher waren es andere Techniken, und vielleicht liegen morgen neue Vorschläge auf dem Tisch. Wir stehen alle - um ein Wort von Ihnen vorhin zu gebrauchen - in einem Lernprozeß. Wichtig wird es sein, Regelungen zu treffen, die nicht tagesbezogen sind, gleichsam flexibel im Hinblick auf eine Flexibilität der Wechselkurse zu sein und zu bleiben.
Eine letzte Frage: Warum ist eine Reform des Weltwährungssystems und seine flexiblere Gestaltung eigentlich nötig geworden, nachdem doch das System von Bretton Woods lange Zeit recht gut funktioniert hat? Sie ist, meine Damen und Herren, nötig geworden, weil der inflatorische Trend in der Welt, insbesondere in den wichtigsten Welthandelsländern in den letzten Jahren zugenommen hat. Darüber waren wir uns heute vormittag einig. Der Hauptgrund für die Währungsschwierigkeiten der jüngsten Zeit, der Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft liegt letztlich nicht im System von Bretton Woods, sondern im Verlust der wirtschaftlichen Stabilität der Volkswirtschaften, im Prozeß ihrer Inflationierung. Hier liegen das eigentliche Übel und die eigentliche Aufgabe. Kehren die westlichen Nationen nicht zu einer Wirtschaftspolitik der Stabilität zurück, dann helfen auch die in Aussicht genommenen Änderungen am System nichts; dann kommt die nächste Währungskrise bestimmt. Und deshalb genügt es nicht, nur das System zu ändern; hinzukommen muß die Verpflichtung der Staaten zu einer Politik der Stabilität.
Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Stabilität muß das primäre Ziel einer Wirtschaftspolitik sein, und zwar auch im Interesse des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung. Denn inzwischen ist deutlich geworden, daß die Inflation nicht das wirtschaftliche Wachstum stimuliert, nicht die Vollbeschäftigung sicherstellt, sondern zum genauen Gegenteil führt, nämlich das Wachstum bremst und die Vollbeschäftigung beeinträchtigt. Das frühere Mitglied des Council of Economic Adviser, Professor Henry Wallich, hat in einem Artikel mit der Überschrift „Aus der Krise gelernt" festgestellt - ich zitiere -:
Andererseits ist natürlich schon seit langem klar, daß bei hohen und daher unvermeidlich unterschiedlichen Inflationsraten fixe Kurse keinen langen Bestand haben können. Man muß also für ihre relativ leichte Veränderlichkeit Sorge tragen. Es wäre jedoch ein Fehlschluß, dies als eine Erfahrung der Krise hinzustellen. . . .
Die Notwendigkeit, die fixen Wechselkurse veränderlicher zu gestalten als in der Vergangenheit, entsteht in der Hauptsache aus der Inflation, nicht aus der Natur des Systems.
Will man auch in dieser Hinsicht aus der Krise einen Schluß ziehen, so müßte er auf die Folgen der Inflation abzielen. Die Inflation unterminiert nicht nur, wie sattsam bekannt, die Zahlungsbilanzen und damit die Stabilität der Währungen; sie zerstört das internationale System als solches. Eine Anpassung an die Inflation, welche diese unschädlich macht, gibt es auf internationalem Gebiet so wenig wie auf nationalem.
({1})
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich schlage vor, die beiden Vorlagen an den Wirtschaftsausschuß - federführend - sowie an den Finanz- und den Haushaltsausschuß - mitberatend - zu überweisen. Widerspruch erfolgt nicht. Es ist so beschlossen.
Wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 16. März 1972, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.