Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/24/1972

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die Sitzung ist eröffnet. Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Bundesminister des Innern hat am 16. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Sportförderung - Drucksache VI 3093 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3178 verteilt. Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat am 22. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Jungmann, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Burger und Genossen betr. Sehvermögen im Straßenverkehr - Drucksache VI 3122 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3184 verteilt. Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat am 21. Februar 1972 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, zwischenzeitlich verkündeten Verordnungen keine Bedenken erhoben habe: Verordnung ({0}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 876/68 bezüglich der auf dem Sektor Milch und Milcherzeugnisse vorzunehmenden Berichtigungen der im voraus festgesetzten Erstattungen -- Drucksache VI/2739 Verordnung ({2}) des Rates über die Beihilfe für Olivenöl - - Drucksache VI/2740 Verordnung ({3}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({4}) Nr. 1171/71 hinsichtlich der völligen oder teilweisen Befreiung von der Verpflichtung zur Destillation der Nebenerzeugnisse der Weinbereitung - Drucksache VI/2763 Verordnung des Rates ({5}) zur Festsetzung des Grundpreises und des Ankaufspreises für Mandarinen zur Festsetzung des Grundpreises und des Ankaufspreises für Süßorangen -- Drucksache VI/2772 Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat am 22. Februar 1972 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden Verordnungen keine Bedenken erhoben habe: Verordnung ({6}) Nr. 2659/71 des Rates vom 15. Dezember 1971 zur Festsetzung der Auslösungsprefse für Wein für den Zeitraum vom 16. Dezember 1971 bis 15. Dezember 1972 Verordnung ({7}) Nr. 2660/71 des Rates vom 15. Dezember 1971 zur Änderung der Verordnung ({8}) Nr. 2311/71 über die Beihilfe für Olivenöl Verordnung ({9}) Nr. 2729/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 zur Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung ({10}) Nr. 1468/70 zur Festsetzung von Übergangsbestimmungen für die Bezeichnung der Interventionszentren für Rohtabak Nr. 2730/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 zur Änderung der Verordnungen Nr. 116/67/EWG und ({11}) Nr. 2114/71 über die Beihilfe für Ölsaaten Verordnung ({12}) Nr. 2830/71 des Rates vom 24. Dezember 1971 zur Änderung der Verordnung ({13}) Nr. 1599/71 zur Festsetzung zusätzlicher Bedingungen, denen eingeführter Wein, der zum unmittelbaren menschlichen Verbrauch bestimmt ist, entsprechen muß Meine Damen und Herren, wir -fahren in der Aussprache zu den Punkten 2 bis 6 der Tagesordnung fort: 2. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 Drucksache VI/3080 3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken -- Drucksache VI/3156 4. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen - Drucksache VI/3157 5. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland- und Außenpolitik - Drucksachen VI/2700, V1/2828 6. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen - Drucksache VI/1523 Das Wort hat der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.

Egon Franke (Minister:in)

Politiker ID: 11000570

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch nach den Ausführungen des Herrn Kollegen Schröder zum Schluß der gestrigen Debatte - eine rhetorische Leistung, die Respekt verlangt - bleibt die CDU/CSU bisher immer noch die Antwort auf die Frage schuldig, was von der Regierung in die Verträge nicht eingebracht werden mußte, konnte und durfte, ganz zu schweigen davon, daß die Alternative der CDU zu unserer Politik nicht zu sehen ist. Aber vielleicht kommt das ja noch. ({0}) Der CDU-Vorsitzende hat gestern gemahnt, neben spärlichen Lichtschimmern die überwiegenden Schatten der Lage der Nation konkret zu betrachten. Wir kennen diese Schatten. Wir kennen auch alle Daten. Warum sonst unternimmt diese Bundesregierung Schritt für Schritt Anstrengungen, um ein Mehr an Entspannung, Normalisierung und Entkrampfung zu erreichen, wenn sie nicht das Übermaß an Abnormität der Verhältnisse und des Verhaltens an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten vor Auge hätte! Nach Auffassung der Bundesregierung bedarf die Deutschlandpolitik unter den gegebenen Verhältnissen der Nüchternheit, der Geduld ({1}) und der Selbstbeherrschung, ja des langen Atems. ({2}) Ich freue mich sehr, daß wir darin übereinstimmen. Es kommt ja nicht darauf an, wie der eine oder andere das entstellt. Sie werden, wenn Sie diese Aussage überprüfen, nicht umhin können zuzugeben, daß von Anbeginn diese Bundesregierung nie Illusionen geweckt hat. ({3}) Von Anfang an hat sie betont, daß wir einen mühsamen Weg antreten, daß es gilt, voranzukommen und, wenn es sein muß, sich millimeterweise voranzukratzen. Das waren die Aussagen, die hier an dieser Stelle zu jeder Zeit gemacht wurden, und ich bitte Sie herzlich darum, das so ernst zu nehmen, wie es gesagt wurde; denn sonst wäre es eine Verkennung der Tatbestände, und uns liegt es überhaupt nicht, von solchen Voraussetzungen aus an die Arbeit zu gehen. Am Anfang unserer Deutschlandpolitik - und das ist der Versuch, bei allen Gegensätzen die praktischen Verhältnisse zu entkrampfen - steht die Erkenntnis, daß die polemischen Schelten und Pauschalurteile früherer Jahre hüben und drüben nicht weiterführen. Wir, die politisch Handelnden und die Öffentlichkeit insgesamt, müssen eine möglichst rationale Vorstellung gewinnen auch darüber, wie es im anderen Teil Deutschlands im Vergleich zu uns aussieht, was die beiden Gesellschaften leisten, nach welchen Normen und Regeln sie sich richten, wie sie gelenkt und organisiert sind. Die Bundesregierung hat sich darum vor zwei Jahren entschlossen, ihren jeweiligen Berichten zur Lage der Nation wissenschaftlich erarbeitete Materialien beizugeben. Sie beauftragte unabhängige Wissenschaftler mit der Untersuchung und gegenüberstellenden Darbietung von methodisch gesicherten Erkenntnissen über die einzelnen Lebensbereiche bei uns und in der DDR. Ein solches Vorhaben verlangt Distanz und Selbstbeherrschung. Beides war für die Wissenschaftler selbstverständlich, denen dafür unser Dank gilt; denn sie haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das, was wir an Auseinandersetzungen zu bestehen haben, so sachlich zu untermauern, daß dadurch die Aussage unserer Auffassungen und Argumente nur an Qualität gewinnen kann, und das gilt für alle hier in diesem Teil Deutschlands, die sich an dieser Diskussion beteiligen. Der Öffentlichkeit aber, die auf ein schnelles und klares Urteil dringt, mutet diese Methode ein sehr hohes Maß an Aufmerksamkeit und Geduld zu. Die Bundesregierung ist sich dessen bewußt, glaubt aber dennoch, ja eigentlich gerade deswegen, nicht auf diese Zumutung verzichten zu können. Das Grundgesetz schreibt uns vor, die nationale Einheit zu wahren, und es ist eine Selbstverständlichkeit - dennoch betone ich es besonders -, daß die Bundesregierung ihre ganze Kraft einsetzt, diesem Auftrag gerecht zu werden. Was aber wäre unser Bekenntnis zur Einheit der Nation wert, wenn wir nicht einmal die Mühe auf uns nähmen, die Dinge in ihrer ganzen Breite und Kompliziertheit zur Kenntnis zu nehmen, wenn wir darauf verzichteten, uns im einzelnen über den anderen, uns in vielem so fremden deutschen Staat zu informieren: über die Leistungen seiner Menschen, seine Ordnung, über seine innere und äußere Statur, sein Selbstverständnis und die Art und Weise, wie er mit den ihm an-heimgegebenen Menschen umgeht? Wie dieser Staat an seinen Grenzen zur Bundesrepublik und wie er an der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin mit seinen Bürgern verfährt, das wissen wir, das erfüllt uns mit Bitterkeit und Abscheu. Aber wir müssen auch wissen, daß dies nicht die ganze Wirklichkeit der DDR ist. Die Bundesregierung ist zuversichtlich, daß es den diesjährigen Materialien ähnlich ergeht wie den vorjährigen, daß sie Kenntnisse mehren und Interesse nach Vertiefung wecken, nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft selbst. Die Materialien 1972 stellen wichtige Rechtsnormen in beiden Staaten Deutschlands im Vergleich dar. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Rechtssysteme teilweise so stark voneinander abweichen, daß sie, wie etwa bei Teilen des öffentlichen Rechts, weniger verglichen als nur mehr einander gegenübergestellt werden können. Doch auch die Konfrontation, bei der jedes System aus seinen eigenen Denk- und Wertkategorien heraus beschrieben wird, schafft Einsichten in die Wirklichkeit. Mit der Vorlage der diesjährigen Materialien ist die Bestandsaufnahme aus den erfaßbaren Bereichen noch nicht abgeschlossen. Weitere Arbeiten ähnlicher Art werden in den nächsten Jahren folgen, um das Bild vervollständigen zu können. Es geht also der Bundesregierung nicht darum, die Unterschiede und Gegensätze zu verwischen, sondern darum, diese inhaltlich greifbar zu machen und sachlich festzuhalten. Materialien der vorgelegten Art setzen uns in den Stand zu erkennen, was die Spaltung unseres Volkes in Staaten und unterschiedliche Systeme tatsächlich bedeutet. Dieses Wissen, so herausfordernd und vielleicht auch deprimierend es vielfach sein mag, muß in unser Bewußtsein und Bemühen um die Einheit der Nation hineingenommen werden. Dies ist der uns gemäße rationale Weg: aus der Anstrengung des Begreifens das Bewußtsein der Verbundenheit mit den Menschen in der DDR wachzuhalten. In Ziel und Methode entspricht dieser Weg unserer Politik. Welchen Aufruhr gab es vor zwei Jahren, als die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation nüchtern feststellten: Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert. Der Bundesregierung wird seither vorgehalten, sie gehe vor der schieren Macht in die Knie, sie kapituliere vor Kommunisten, sie ziehe unsere rechtsstaatlichen Grundsätze in den Dreck. Die so sprechen, meine Damen und Herren, setzen sich dem Verdacht aus, die demokratische rechtsstaatliche Moral als Feigenblatt für das Verbergen unliebsamer Tatsachen zu benutzen. Unsere Grundsätze und Überzeugungen dürfen nicht dafür herhalten, uns um die Folgen des Krieges und der Niederlage herumzumogeln. Hier zeigt sich, ob wir ernstlich bereit sind, politisch verantwortlich für die ganze Nation zu sprechen und zu handeln. Die heutige Opposition hält sich zugute, in den Westverträgen die deutsche Frage offengehalten zu haben. Einer ihrer gewichtigsten Vertreter drückt das so aus: Es war seinerzeit der erste Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, der den Westmächten einige unliebsame Verpflichtungen als Gegenleistung für unseren Eintritt in die westliche Gemeinschaft aufgezwungen hat. Meine Damen und Herren, das Ehrenhafteste, das sich über die damalige Entscheidung sagen läßt, ist, daß sie eine Entscheidung für die Freiheit war, auf Kosten der Einheit, gewiß, aber für die Freiheit und die Demokratie und ihre Sicherung nach außen in diesem Teil unseres Vaterlandes. Diese Option, so meine ich, darf auch rückblickend nicht dem Verdacht ausgesetzt werden, sie sei um irgendwelcher anderweitiger Leistungen oder Gegenleistungen willen erfolgt. Das gebietet die Solidarität unter Demokraten; ich greife in diesem Zusammenhang das Wort des Fraktionsvorsitzenden der Opposition bewußt auf, um daran zu appellieren, daß bei all den Betrachtungen, die wir anzustellen haben, dieser Tatsache ganz besonders gedacht werden muß. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit den westlichen Demokratien verbündet, weil sie selber eine Demokratie ist und bleiben will. Wir sollten uns nicht scheuen, uns zu dieser Staatsräson zu bekennen. Das hilft uns auch, die grundlegenden Dinge, die mit der Entstehung unseres Staates zu tun haben, in den richtigen Proportionen zu sehen. Die Politik des Offenhaltens der deutschen Frage kann nur durchgehalten werden, wenn wir sie glaubwürdig vertreten. Glaubwürdigkeit nach innen wie nach außen setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, unser nationales Problem richtig und dimensionsgerecht in die europäische Landschaft einzufügen. Wir dürfen uns nicht überschätzen und die Erfahrungen unserer Nachbarvölker in Ost und West nicht unterschätzen. Die Lösungsbedürftigkeit der deutschen Frage ist kein Hebel zur Umstürzung der grundlegenden Territorial- und Machtverhältnisse. Eine deutsche Politik, die das versuchte, fände in beiden Teilen Europas kein Verständnis. Sie löste mehr denn je Widerstände und Mißverständnisse aus. Sie brächte uns um jenen Teil der Handlungsfähigkeit im Dienste unserer nationalen Anliegen, den wir nur in enger Übereinstimmung mit unseren westlichen Verbündeten und in realistischer Einschätzung der Interessen unserer osteuropäischen Nachbarvölker gewinnen können. Meine Damen und Herren, schon die Regierung der Großen Koalition erkannte, daß die Trennung unseres Volkes eigene Probleme und Gefahren mit sich bringt, ganz zu schweigen von den individuellmenschlichen Folgen, die nach dem Bau der Berliner Mauer ins schier Unerträgliche wuchsen. Daraus leitete sie für ihre Politik die praktische Aufgabe ab, die menschlichen Folgen der Trennung nach Möglichkeit zu lindern und dem Auseinanderleben der Menschen in beiden deutschen Staaten entgegenzuwirken, mit einem Wort: das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, die nationale Einheit zu wahren. Die Regierung der Großen Koalition bot der Regierung der DDR Verhandlungen und gegebenenfalls Vereinbarungen über verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Menschen und Institutionen in beiden Teilen Deutschlands an. Dieses Angebot, meine Damen und Herren, setzte doch wohl unvermeidlich die Fähigkeit und die Zuständigkeit der DDR-Behörden voraus, für die Menschen ihres Bereichs verbindliche Abmachungen zu treffen und diese in ihren Grenzen auch durchzuführen. Das mußte doch wohl die erste Voraussetzung sein, um überhaupt zu diesem Angebot kommen zu können. Die jetzige Bundesregierung ist der Meinung, daß die damalige Politik einem richtigen Ansatz entsprach. Nur scheut sich diese Bundesregierung nicht, die Voraussetzungen und inneren Abhängigkeiten einer solchen Politik beim Namen zu nennen. Das ist der Unterschied zu damals. Die jetzige Bundesregierung spricht aus, daß die DDR ein Staat ist. ({4}) Weil sie ernsthaft mit der DDR verhandeln will, hat sie sich mehrfach bereit erklärt, die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur DDR auf der Grundlage der Achtung der Selbständigkeit der beiden Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen, zu regeln. Das gehört wohl mit zu den ersten Voraussetzungen, wenn man es ernsthaft meint. Wie anders sollte denn sonst verhandelt werden? Oder sollen wir etwa an der Methode festhalten, nur einseitig Forderungen zu erheben, die uns zwar moralisch und seelisch in dieser oder jener Weise zufriedenstellen mögen, aber keinerlei Fortentwicklung, keinerlei Fortschritt in dem Bereich bedeuten, der uns eigentlich doch gemeinsam am Herzen liegen sollte? Wir müssen die Tatsache berücksichtigen, daß die deutsche Nation auf dem Gebiet zweier Staaten mit entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen und entgegengesetzten politischen Zielen fortbesteht. Die Materialien, die Ihnen in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation an die Hand gegeben worden sind, machen es jedem deutlich. Nun sagten Sie, Herr Dr. Barzel, der DDR müsse zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir jener Realität ins Auge sähen, daß die staatliche Einheit Deutschlands in absehbarer Zeit nicht verwirklicht werden könne. Glauben Sie wirklich, wir könnten mit dieser unserer Einsicht, wie Sie sie umschreiben, in eine verhandlungsfähige Position gelangen, die auch nur einen Schritt voranhelfen würde? Wenn Sie das glauben, Herr Dr. Barzel, dann gaukeln Sie sich etwas vor, dann spekulieren Sie auf Hoffnungen, die Sie uns unterstellen und vorwerfen. ({5}) Die faktische Spaltung Deutschlands ist da. Wer diesen Tatbestand ignorieren will, gaukelt sich immer noch in einer Illusion, die uns von der Wirklichkeit fernhält und keinerlei Schritte zur Lösung bedeutet. Wir wollen die Auswirkungen dieser Realität im Interesse der betroffenen Menschen und damit auch der Einheit unserer Nation mildern. Das ist das, was wir uns als konkrete Aufgabe in dieser Zeit stellen können, und das geht eben nicht, wenn man den Status quo verleugnet oder mit der Einsicht in Bestehendes Handel treiben will. Wer so vorginge, würde das Gegenteil bewirken und besorgte damit - um wiederum mit Ihnen zu sprechen, Herr Dr. Barzel - das Geschäft unserer gemeinsamen Feinde. Diese Feinde sind diejenigen, die sich jeder Normalisierung der Verhältnisse im Zentrum Europas - gegen die wohlverstandenen Interessen aller Staaten - entgegenzustellen suchen. Diese Feinde nehmen für ihr Geschäft sehr dankbar Argumente entgegen, die ihnen von welcher Seite auch immer geliefert werden sollten; sie nehmen sie gern entgegen, um damit in einem Sinne zu operieren, den wir gemeinsam nicht anerkennen, vertreten und fördern sollten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen: wir gründen unsere Politik auf die Gewißheit der Fortexistenz der deutschen Nation auf dem Gebiet zweier Staaten. Der Bundeskanzler hat dazu gestern einiges gesagt. Die Einheit der Nation setzt sich aus mancherlei zusammen: aus einer Vielzahl von zwischenmenschlichen und verwandtschaftlichen Bindungen, aus einem tiefsitzenden Gefühl des Zusammengehörens und der Eigenart vor der Welt, aus Traditionen der Lebensart, aus gemeinsamen geschichtlichen und kulturellen Erfahrungen, gemeinsamen Erinnerungen, gemeinsamem Schicksal. Das alles läßt sich nicht so ohne weiteres an der Garderobe der Zeitgeschichte abstreifen, sondern das besteht fort, ob es dem einen oder anderen gefällt oder nicht gefällt, und das läßt sich auch nicht mit Konstruktionen von bürgerlicher Nation oder sozialistischer Nation, wie es andere sagen, austreiben. Genauso unsinnig wäre es, zwischen sinnvollen und unsinnigen Nationen zu unterscheiden. Vermutlich glauben die Urheber solcher Begriffsmanipulationen selbst nicht an ihre Weisheiten, es sei denn, sie hätten den Kontakt mit der Wirklichkeit abgebrochen. Ein untrügliches Kennzeichen dafür, ob eine Nation besteht oder nicht besteht, ist die Auffassung ihrer Nachbarn, und hier besteht, glaube ich, nach allen Richtungen kein Zweifel. Für die Welt sind die Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR Deutsche, die man für die Wirkung und die Mitwirkung Deutschlands haftbar macht. Davon kann sich jeder jederzeit überzeugen. Natürlich wirken die Auffassungen des Auslandes auch auf das Bewußtsein der Nation zurück. Dessen ist sich die Bundesregierung bewußt. Auch wer ihre Politik ablehnt, wird nicht bestreiten können, daß sie auf diesem Felde in der Zeit, die ihr bisher zur Verfügung gestanden hat, für die Einheit der Nation mehr erreicht und getan hat als alle früheren Regierungen. Sie hat überzeugend die Friedensbereitschaft des deutschen Volkes gegenüber seinen Nachbarn deutlich gemacht. Sie hat die Probleme unserer geteilten Nation mit Maß und zugleich mit Anspruch in ihre europäische Verständigungspolitik eingebracht und für unsere Probleme neues Verständnis geweckt. Nicht zuletzt für diese Politik, meine Damen und Herren, hat der Bundeskanzler Brandt „im Namen des deutschen Volkes" den Friedensnobelpreis 1971 erhalten. ({6}) Dies war eine Anerkennung besonderer Art, und es wäre geradezu absurd, diese Tatbestände des politischen Geschehens um uns herum zu leugnen, zu ignorieren, wenn wir uns mit diesem Thema zu befassen haben. Diese Anerkennung galt dem ganzen deutschen Volk, das zum Teil auf Grund seiner Verantwortung von den Folgen des zweiten Weltkrieges schwer betroffen wurde und das jetzt seine Pflicht zum Frieden allem anderen voranstellt. Es gibt eine spezifisch deutsche Verantwortung für den Frieden in Europa, der sich beide deutsche Staaten nicht entziehen können. Den Deutschen hüben und drüben fällt die Aufgabe zu, so nebeneinander und miteinander zu leben, daß die systembedingten Gegensätze nicht noch zusätzlich durch eine besondere innerdeutsche Intimfeindschaft verstärkt werden. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, daß z. B. familiäre Bindungen auch eine Kehrseite haben können. Der Sprachgebrauch spricht von feindlichen Brüdern und meint damit ein Gegensatzverhältnis, das gerade durch den engen Verwandtschaftsgrad verschärft wird. Von derartigen Animositäten gilt es das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zu befreien. Das kann nicht dadurch geschehen, daß man seine nationale Komponente einfach ableugnet. Worauf es ankommt, ist, eine rationale Einstellung zu dieser Komponente zu gewinnen, gleich weit von Negation wie von blinder Überhöhung entfernt, eine Einstellung, die den Erfordernissen des europäischen Friedens gerecht wird. Dazu zählt auch, daß jeder der beiden Staaten mit sich selbst ins reine kommt. Beide Staaten müssen gleichsam sich selbst finden, bevor sie im Rahmen des Ost-West-Verhältnisses miteinander in Beziehung treten. Es geht nicht um Vermischung und um die Errichtung von falschen Fassaden der Gemeinsamkeit in Dingen, in denen es keine Kompromisse geben kann. Die DDR spricht von Abgrenzung und versteht darunter nach ihren eigenen Worten die Profilierung als sozialistischer Staat. So übertrieben und über das Ziel hinausschießend uns manche der Abgrenzungsbegriffe auch erscheinen mögen, wir sollten ihren tieferen Zweck nicht übersehen. Sie dienen augenscheinlich dazu, eine Politik der Beziehungen vorzubereiten. Wir kennen diese Methode aus langjähriger Beobachtung und Erfahrung sehr genau. Wir sollten auch nicht verkennen, daß die bisherigen Bemühungen der DDR unter dem Stichwort „Profilierung" ihren Menschen einige spürbare Erleichterungen gebracht haben. Der Reiseverkehr nach Polen und in die Tschechoslowakei etwa sind Fakten, die sich aus Notwendigkeiten ergeben, die aus der allgemeinen politischen Entwicklung bedingt und erforderlich sind. ({7}) Wir scheuen die Konkurrenz mit der DDR nicht, ja, wir würden uns freuen, käme es zu einem echten Wettbewerb, der den Menschen hüben und drüben nützen würde. Das ist unsere Auffassung schon seit vielen Jahren. Wir werden jede Gelegenheit nutzen, um in einen solchen Wettbewerb eintreten zu können. Das würden wir, so meine ich, mit großer Zuversicht gemeinsam bestehen können. Wir sind auch bereit zur Kooperation, die von den Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages erst kürzlich wieder den europäischen Ländern angeboten worden ist. Die beiden Staaten müssen und werden lernen, einander zu ertragen, weil es sonst keinen Weg gibt, die Verhältnisse menschenfreundlicher, friedlicher und sicherer zu machen. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber wir müssen uns ihr stellen, wenn wir sie ernst nehmen und es ernst meinen. Bundesrepublik und DDR müssen und werden zu einem Modus vivendi finden, weil die Zeit es verlangt und weil keiner von ihnen so in sich selber' ruht, daß er diesem Verlangen widerstehen könnte. Der Wille zum Modus vivendi ist noch nicht gleichbedeutend mit einer gemeinsamen Vorstellung von seinem Inhalt. Um diesen Inhalt muß gerungen werden. Das hat sich am Berlin-Abkommen bestätigt. Aber am Berlin-Abkommen hat sich auch erwiesen, daß es auf allen Seiten die Bereitschaft gibt, ein entspannteres Zusammenleben zu organisieren statt an den unüberbrückbaren Gegensätzen permanent zu kranken. ({8}) Diese Bereitschaft hat für Berlin eine Regelung zustande gebracht, deren Inkrafttreten der Stadt reale Aussichten auf eine krisenfreiere und stetigere Entwicklung eröffnen wird, auf eine Entwicklung als ein intaktes westliches Gemeinwesen, als eine offene Gesellschaft, geprägt von Urbanität, geistiger Lebendigkeit und Liberalität nach innen wie nach außen, fernab aller provinziellen Enge und Ängstlichkeit. Hier liegt die Stärke Berlins, hier hat sie immer gelegen. Diese Chance sollten wir mit Energie und Phantasie nutzen. Die Berliner können versichert sein: Die Bundesregierung wird wie bisher alles in ihren Kräften Stehende tun, um die Vitalität und Anziehungskraft ihrer Stadt zu erhalten und zu fördern. Wer Berlin sieht, soll und wird ein Stück unseres Lebens sehen, ein Stück unserer freiheitlichen Gesellschaft, unserer Art, zu leben und miteinander umzugehen. Dieses Ergebnis unserer praktischen Politik sollte uns gemeinsam bestärken, den so beschrittenen Weg weiterzugehen. Denn nur so kommen wir zu Erfolgen. ({9})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder hat die Bundesregierung einen umfangreichen Materialband zur Lage der Nation vorgelegt. Herr Bundesminister Franke hat gerade darüber gesprochen. Ich teile seine Meinung, daß den Wissenschaftlern, die an der Abfassung dieses Bandes beteiligt waren, Dank gebührt für eine Arbeit, die ganz fraglos wissenschaftliches Interesse finden wird, nicht zuletzt etwa für die Frage, ob es überhaupt möglich ist, mit diesen Methoden empirischer und soziologischer Forschung Systemvergleiche wertfreier Art vorzunehmen, Systemvergleiche etwa in bezug auf Rechtssysteme, bei denen wir ja schon, wenn wir unsere eigenen Verhältnisse betrachten, sehr wohl die Rechtssysteme und die Rechtswirklichkeit immer einander gegenüberstellen, um zur richtigen Wertung zu kommen. ({0}) Wieviel eher ist das notwendig, wenn wir einen Vergleich zwischen den Verhältnissen in der Bundesrepublik und in der DDR vornehmen. ({1}) Wenn die Bundesregierung einen politischen Bericht zur Lage der Nation erstattet, dann erwarten wir von ihr wertende Vergleiche. Dies ist zum zweitenmal hintereinander unterblieben. Nötig wäre es z. B. auch, den Nationbegriff der SED näher zu analysieren, denn er ist ja doch von unmittelbarer Bedeutung für eine Politik, die an der Einheit der Nation festhalten will. Daß dies auch möglich wäre, dafür haben wir einen sehr zündenden Beweis: Der Vorsitzende der Kommission der Bundesregierung zur Abfassung des Materialbandes zum Bericht zur Lage der Nation, Professor Ludz, hat im neuesten „Deutschland-Archiv" hierzu einen sehr interessanten Bericht gegeben, einen wesentlich interessanteren Bericht als den, den die Bundesregierung ihm in dem Materialband zur Lage der Nation zu publizieren gestattete. Nach diesen Darlegungen von Ludz hat -- wir wissen es - Honecker nun eindeutig vom Auseinanderbrechen der früheren deutschen Nation in zwei Nationen gesprochen. Er führt dies auf die historische Entwicklung bei und nach der Reichsgründung 1870/71 zurück, spricht vom fatalen Zusammenschweißen durch Blut und Eisen, von den nationalen Katastrophen der Großbourgoisie und erklärt die Nation für eine gesellschaftliche Sache, nämlich für die Sache der Arbeiterklasse und mithin des Klassenkampfes. Und das heißt für ihn heute: Die sozialistische Nation ist in der DDR verwirklicht und muß gegen den äußeren Feind, gegen die Bundesrepublik als der bürgerlichen Nation, abgegrenzt werden. Aber zugleich zerlaubt ihm seine Dialektik, zu erklären, daß die Staatsgrenze nicht die Klassengrenze sei. Auch in der Bundesrepublik gebe es Werktätige, Arbeiter, Bauern, Teile der Angestellten und des Mittelstandes, der Jugend und der Intelligenz, die die historisch wertvolle Substanz der Klassenkampf-nation darstellten, und diese müsse durch die DKP und andere radikale Gruppen zum Kampf gegen den Klassenfeind in der Bundesrepublik geführt werden. Das ist eine der wesentlichen Basen für die Einmischung in unsere Verhältnisse auf dem Boden des Nationbegriffs. ({2}) Deshalb ist der Entschluß radikaler Elemente zum langen Marsch durch die Institutionen, also zur Eroberung von Schaltstellen an den Hochschulen, von Lehrerverbänden, von Erziehungsaufträgen, aber auch zu dem Versuch zur Eroberung von Basisgruppen etwa in der SPD, für uns alle so gefährlich. Von daher verstehen wir sehr wohl das vitale, uns alle betreffende Interesse, welches die Führung der SPD an sorgfältigen Abgrenzungsbeschlüssen gegen Unterwanderung durch linksradikale Elemente hat. Aber, meine Damen und Herren, das genügt nicht. Vielmehr müssen wir daraus auch die Lehre ziehen, daß auch unter uns in der innenpolitischen Auseinandersetzung Bemühungen um Gemeinsamkeit im Verständnis dessen, was den Inhalt der Nation ausmacht, dringend notwendig sind. Ich meine, Nation ist ein Ingebriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewußtsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewußtsein hat diesen unseren Nationbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher - und nur von daher - wissen wir heute, daß wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt. Leider aber haben wir im Jubiläumsjahr der Reichsgründung, also im letzten Jahr, statt dessen von hoher und besonders hoher Stelle andere, zumeist kritische Äußerungen zu dieser Nation gehört. Es war vorwiegend die Rede vom Widerstand weiter Teile der Gesellschaft gegen diese Nation, ({3}) vom Riß zwischen Demokratie und Nation, von der Nation als dem Feld zur Erreichung gesellschaftspolitischer Ziele. Natürlich war sie unvollkommen. Natürlich gibt es in unserer Gesellschaft heute mehr Integration als damals. Und auch nichts gegen gesellschaftspolitische Ziele! Es ist die Aufgabe von uns, von den Parteien, urn diese Ziele demokratisch zu wetteifern. Aber die Nation muß diesem Wettkampffeld übergeordnet bleiben. ({4}) Jeder von uns fühlt sich als Deutscher auch dann, wenn er sich in diesem Wettkampf noch nicht durchgesetzt hat. Meine Damen und Herren, würden wir anders anfangen, würden wir die Nation selbst danach bestimmen, ob wir unsere gesellschaftspolitischen Ziele schon verwirklicht haben, würden wir also als die wahre Nation erst diejenige Demokratie ansehen, von der es etwa im Godesberger Programm der SPD heißt, daß sie sich im Sozialismus erfüllt, würden wir also meinen, daß das Gemeinwesen zu einem unerfüllten Dasein verdammt bleibt, solange sich dieser Sozialismus noch nicht eingestellt hat, dann hat das sehr schwerwiegende Folgen für die Lage der Nation im geteilten Deutschland. ({5}) Denn es besteht ein sehr empfindlicher Zusammenhang zwischen unserer innenpolitischen Auseinandersetzung und der Lage der Nation. Auch hier zeigen sich die großen Gefahren, wenn eine Regierung beginnt, Deutschlandpolitik im Alleingang zu betreiben. Denn wenn wir unsere hiesige gemeinsame Freiheit nur dazu benutzen, über den Inhalt der Nation und ihren Begriff einen Parteienstreit zu veranstalten, dann brauchen wir uns gemeinsam nicht mehr um die staatliche Einheit dieser Nation zu bemühen. ({6}) Der Gewinner einer solchen Phase aber wäre nur Honecker und sonst niemand. ({7}) Doch ich möchte nun, meine Damen und Herren, zur Deutschlandpolitik selbst kommen. Was wird aus der Lage der Nation unter dem Einfluß der beiden Verträge? Das ist für mich die Kernfrage. Darüber möchte ich jetzt sprechen, und darauf will ich mich auch beschränken. Zwei Zielen galt die gemeinsame Deutschlandpolitik dieses Hauses, nämlich erstens der Wiederherstellung der staatlichen Einheit und zweitens den Bemühungen um Erleichterungen - vor allem um mehr Freiheiten - und schließlich um das Recht auf freie Selbstbestimmung für die Menschen im anderen Teil Deutschlands. Die Gemeinsamkeit dieser Bemühungen war um so wichtiger, als wir uns alle der Empfindlichkeit unserer deutschen Lage in der internationalen Politik bewußt waren. Und um so gefährlicher ist es eben, daß diese Gemeinsamkeit für die Lage der Nation heute praktisch in Frage gestellt ist, und zwar durch die Vertragspolitik der Bundesregierung. ({8}) Wie ist es dazu gekommen? Welche Wahlmöglichkeiten fand die neue Regierung im Herbst 1969 denn vor? Nicht wenige, die die Linkskoalition öffentlich herbeigewünscht und herbeigeschrieben hatten, hatten dies mit der Hoffnung verbunden, eine Regierung Brandt werde die bisherige Offenhaltepolitik nicht fortsetzen, sondern auf das Ziel der staatlichen Einheit verzichten, also der Anerkennung der DDR praktisch keine Schwierigkeiten mehr in den Weg legen. - Andere dagegen setzten auf Beibehaltung der Offenhaltepolitik. Die Unsicherheit, welcher der beiden Wege zu wählen war, ging tief und geht wohl bis heute tief in die Reihen der neuen Koalitionsparteien hinein. Ich sage das nicht als Vorwurf; nur meine ich, die neue Regierung habe vor allem die Aufgabe gehabt, eine eindeutige Richtung anzugeben. Aber der entscheidende Einwand gegen den Weg, den diese Regierung nun deutschlandpolitisch tatsächlich eingeschlagen hat, ist der - ich wiederhole es -, daß sie den Versuch unternimmt, beide Wege miteinander zu verbinden, die Vorteile beider Wege für sich in Anspruch zu nehmen. Und das bisherige Resultat ist eine tief zweideutige Situation und folglich eine gefährliche Ungewißheit darüber, wohin denn nun die Bundesregierung, ob gewollt oder nicht, uns alle weiter führen wird. ({9}) Auf der einen Seite versichert sie uns unverändert, am Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands im Wege freier Selbstbestimmung festzuhalten. Nicht eine bloße Kulturnation - also Sprache, Geschichte und geistige Werte -, sondern die Nation im politisch-staatlichen Sinne bliebe die Grundlage ihrer Deutschlandpolitik. Solche Äußerungen waren überdies am Anfang der Regierungszeit noch verhältnismäßig spärlich. So wurden wir z. B. in der Debatte über die Lage der Nation im Jahre 1970 in diesem Hause noch aufgefordert, die Frage der Einheit der Nation von der Frage der staatlichen Einheit säuberlich zu trennen. ({10}) Inzwischen aber - und auffällig in den letzten Monaten - haben wir Versicherungen über das staatliche Einheitsziel wiederholt gehört. Das hilft nicht nur bei der Mehrzahl der Wähler, die dies wünschen, und vorsorglich in Karlsruhe, sondern es soll wohl auch gegen eigene Unsicherheit schützen. Auf der anderen Seite hat aber die Bundesregierung mit ihrer Regierungserklärung, mit ihrer Vertragspolitik, mit den Moskauer Absichtserklärungen und anderen amtlichen Texten die Deutschlandpolitik praktisch nachhaltig verändert. Sie glaubt zwar bei der neuen Marschrichtung den formellen Willensakt der Anerkennung der DDR vermeiden zu können, zugleich aber - wir sprachen hier gestern schon davon - beschreitet sie den Weg, auf dem praktisch alle Merkmale der Anerkennung der DDR verwirklicht werden. Golo Mann hatte 1970 gesagt, die Bundesrepublik solle sich in erster Linie selbst anerkennen, dann würden die anderen Anerkennungen von selbst folgen, gleichgültig in welcher Form. Eine verblüffende Parallele zu dieser Formulierung findet sich in der hier gestern auch schon genannten Bewertung der Deutschlandpolitik der Bundesregierung durch den französischen Staatspräsidenten nach dem Krim-Besuch des Bundeskanzlers; denn Pompidou sagte ja bekanntlich, er sehe es nicht ungern, daß die Bundesregierung auf eine Anerkennung der DDR zusteuere, „welchen Namen sie auch immer dafür verwenden möge". Name und Sache gehen also auseinander. Kann man denn deutlicher, kann man schärfer die Doppeldeutigkeit einer Politik kennzeichnen? Ich habe nie erfahren, ob die Bundesregierung öffentlich oder ob sie amtlich etwa jetzt bei dem Besuch des Bundeskanzlers in Paris dieser Deutung entgegengetreten ist. Ich habe aber selbst seit der Unterzeichnung der Verträge nicht nur Warschau und Moskau, sondern auch die drei westlichen Hauptstädte besucht, und in jeder dieser Hauptstädte wurde mir die Bundesregierung unter anderem gerade für das deutschlandpolitische Verhalten gelobt, welches sinngemäß Präsident Pompidou in der eben genannten Äußerung angesprochen hat. ({11}) Die Bundesregierung wird nicht müde, sich hier zu Hause auf dieses Lob des Auslandes zu beziehen, zugleich aber versichert sie vor der eigenen Öffentlichkeit, daß für sie die Politik einer Anerkennung außer Betracht bleibe. Daß dies formal gesehen zutrifft, glaube ich. Aber was hilft mir das, wenn sich dahinter ein Bedeutungswandel von 180 Grad vollzieht? ({12}) Die Form wird dann eben gleichgültig. So haben George Pompidou und Golo Mann gesagt, und so werden dann vielleicht noch andere sagen müssen. Ich will zwei Beispiele nennen. Immer wieder versichert die Bundesregierung, sie könne die DDR gar nicht anerkennen, denn das wäre eine Verfügung über Deutschland als Ganzes, und das stünde ihr nach den Viermächtevorrechten gar nicht zu. Ferner verweist sie darauf, daß es ihr erstmals wieder und vor allem im Berlin-Abkommen gelungen sei, die Viermächteverantwortung neu zu beleben. Damit will sie doch offenbar vor der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei dies der Beweis für ihr tätiges Festhalten am Selbstbestimmungsrecht und am staatlichen Einheitsziel. Aber, meine Damen und Herren, die Viermächterechte sind doch etwas ganz anderes. Sie sind ein Überbleibsel vom Ende des zweiten Weltkrieges und beruhen auf der Unfähigkeit der Sieger, sich angesichts der damaligen Gegensätze schon damals auf eine endgültige Lösung der deutschen Frage zu einigen. Ganz gewiß sind diese Vorrechte für uns in Berlin wichtig, sie sagen aber gerade nichts darüber aus, jedenfalls nichts Genaues, wie denn die Vier Mächte gemeinsam zur Forderung der Deutschen nach Selbstbestimmung und freier Wiederherstellung ihrer Einheit stehen. ({13}) Die Vier Mächte haben sich bei den Berlin-Verhandlungen auf eine Wiederbelebung ihrer Vorrechte verständigt, ohne aber damit etwas über Selbstbestimmung und Einheitsziel auszusagen. Meine Damen und Herren, deshalb sollte der, dem es um Selbstbestimmung und Einheitsziel geht, eben weniger auf die Viermächterechte und dafür mehr auf die Zusage unserer drei westlichen Verbündeten im Deutschland-Vertrag verweisen, ({14}) denn dort ist ausdrücklich die Unterstützung unserer Ziele zugesagt. Aber dieser Deutschland-Vertrag - vor allem sein entscheidender Art. 7 -, ist durch die Politik der Bundesregierung durchaus nicht wiederbelebt worden. Er gerät vielmehr durch ihre Verträge und Absichtserklärungen in die ernste Gefahr der Aushöhlung. ({15}) Meine Damen und Herren, der Opposition begegnet in einem solchen Zusammenhang nicht selten der Vorwurf, sie solle doch zu einer solchen Gefahr der Aushöhlung deutscher Positionen nicht beitragen, indem sie öffentlich davon spreche. Ich meine, das ist ein ganz falsches Verständnis unserer Oppositionsaufgabe. Es geht eben nicht, daß die Regierung im Alleingang ihre Vertragspolitik betreibt, mit der sie den praktischen Wert des Art. 7 des Deutschland-Vertrages gefährdet - siehe die Äußerungen von Pompidou -, daß sie die Opposition vorher nicht konsultiert, dafür aber hinterher von ihr verlangt, sie müsse aus nationaler Treuepflicht erklären, daß der Deutschland-Vertrag unverändert wirksam sei. So geht es nicht! ({16}) Vielmehr müssen wir auf die uns im Ausland viel- fach bestätigten Gefahrenmomente hinweisen, um ) vielleicht auf diesem Wege dazu beizutragen, daß eben nicht nur die Viermächterechte, sondern vor allem auch die Verantwortlichkeiten der drei Verbündeten neu- und wiederbelebt werden. Wir sind für die intensiven Bemühungen dankbar, die die Drei Mächte in den mühsamen Berlin-Verhandlungen auf sich genommen haben. Wir sind auch von dem persönlichen Einsatz beeindruckt, den die drei Botschafter und die Botschaftsräte in der ständigen Konsultationsgruppe mit dem Auswärtigen Amt wegen Berlin geleistet haben. ({17}) Aber es ging dabei eben um Berlin. Wir werden die Drei Mächte auch für die innerdeutschen Fortschritte wohl bald noch bitter nötig brauchen. Mein zweiter Punkt betrifft die formelle Zusage der Bundesregierung, sich für die Mitgliedschaft zweier deutscher Staaten in der UNO einzusetzen. Die Bundesregierung erklärte allerdings inzwischen, es sei ihr damit nicht so eilig, und außerdem brauche sie eine Rechtsbasis, welche den besonderen innerdeutschen Charakter der Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander klarstelle. Was nun aber die Eile anbetrifft, so stellte der Bundeskanzler am Anfang des Jahres in einem Interview in den Vereinigten Staaten fest, diese Frage hätten wir gar nicht mehr allein in der Hand; sie käme vielmehr von außen auf uns zu. - Natürlich tut sie das jetzt, nachdem unsere eigene Regierung und niemand sonst dieses Kind in die weite Welt gesetzt hat. ({18}) Im übrigen wird der Versuch, am innerdeutschen Verhandlungstisch eine klarstellende Rechtsbasis für die doppelte UNO-Mitgliedschaft zu finden, schon aus formalen Gründen eine Quadratur des Zirkels. Denn einerseits will die Bundesregierung der DDR ja dadurch ermöglichen, ein voll souveränes Völkerrechtssubjekt zu werden, wenn diese nur bereit ist, von uns an Stelle eines Botschafters einen Vertreter mit innerdeutschem Status zu akzeptieren. Zum anderen wird aber darauf verwiesen, daß wir wegen der Vorrechte der Vier Mächte gar nicht in der Lage wären, den Völkerrechtsstatus der Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander festzulegen. Das alles wirkt wie die Bemühungen um ein gigantisches Kartenhaus. Fest steht nur dies: Wenn erst einmal beide deutschen Staaten Mitglieder der UNO sind, dann werden sie von allen Regierungen in der Welt und nicht zuletzt von unseren eigenen Verbündeten als vollsouveräne Völkerrechtssubjekte betrachtet und behandelt w erden. Wer in der Welt, so frage ich, wird dann noch irgendeinen politisch relevanten Gedanken darauf verwenden, was es bedeutet, wenn eine deutsche Politik in Bonn weiterhin aus Verfassungsgründen vom Ziel der staatlichen Einheit der Nation spricht? ({19}) Gewiß, es wird niemanden stören, wenn wir Deutschen dann unsere Zusammengehörigkeit im Sinne einer bloßen Kulturnation betonen. Der Eintritt zweier deutscher Staaten in die UNO aber wird praktisch der unwiderrufliche Weg zur Anerkennung der DDR sein. Nun stimme ich mit unserem Kollegen Guttenberg und anderen ganz darin überein, wenn sie sagen: Es geht ja vor allen Dingen um die Freiheitsrechte. Bei der Aussicht auf einen brauchbaren Kompromiß ist auch über staatliche Einheit und Grenzen sehr wohl zu reden. Aber bietet denn - so ist zu fragen - die Politik der Bundesregierung eine Aussicht auf einen solchen Kompromiß? Wird sie mit ihrem Plan der innerdeutschen Verhandlungen ein entsprechendes Miteinander erreichen? Wird es ihr gelingen, die innerdeutschen Beziehungen in diesem Sinne generalzuregeln, so daß man über die bisher genannten Bedenken hinwegsehen könnte? In diesem Kernstück der Vertragspolitik der Bundesregierung liegen meine ernstesten Fragen und Sorgen. Unverändert folgt die Bundesregierung der alten Tutzinger Devise des Wandels durch Annäherung. Ihr liegt der an sich bestechende Gedanke zugrunde, daß es doch die Sorge der SED vor unseren Einwirkungsabsichten sei, die sie daran hindere, im eigenen Machtbereich mehr Freiheiten zu gewähren. Man müsse deshalb der SED diese Sorgen nehmen. Man müsse sich glaubhaft zur Nichteinmischung verpflichten. Man müsse ihre Komplexe abbauen, die Komplexe des Nichtanerkanntseins nämlich, durch Freigabe der Anerkennung in der Welt. Man müsse dadurch ihre Fähigkeit und ihr eigenes Interesse dafür wecken, die erhofften Folgen für die Menschen in der DDR selbst zu veranlassen. Dann kämen unsere eigenen Entspannungsbeiträge im allgemeinen Ost-West-Verhältnis hinzu, die doch dann jede Propaganda gegen uns und auf die Dauer auch jeden Sinn einer Abgrenzungspolitik gegenstandslos machten. So sehe es heute die westliche und die neutrale Welt. So würden es langsam auch Moskau und seine Verbündeten sehen. Und dann, so wird gefolgert, werde wohl oder übel auch die SED es sehen, zu lernen gezwungen sein. Das klingt alles ganz plausibel, und dennoch ist gerade hier das Kernstück nicht nur der unbewiesenen Spekulation für die Zukunft, sondern alle bisherigen Anzeichen sprechen leider eine ganz gegenteilige Sprache. ({20}) Die SED hat nun wirklich ernst damit gemacht, die Bundesrepublik zum Ausland zu erklären, und zwar Hand in Hand mit Datum und Sache des Moskauer Vertrages. ({21}) Sie hat alle bisherigen Sondereinrichtungen und Sprachgebräuche, die sie im gesamtdeutschen Sinne noch hatte, auf Auslandsfunktionen um- und damit abgestellt. Gleichzeitig und vor allem aber begann sie damit, ihre verschärfte und totale Abgrenzungspolitik gegen die Bundesrepublik im allgemeinen und gegen den Sozialdemokratismus im besonderen einzuleiten. Das geht uns alle an, vor allem solange die SPD unsere Regierung führt. Nun verweisen Sozialdemokraten uns oft genug darauf, dies sei doch nur ein Zeichen für die beginnende Wirkung ihrer Medizin. Es werde eben brenzlig für die alte bequeme SED-Linie, und das hätten wir von der CDU/CSU nicht fertiggebracht. Meine Damen und Herren, ich spreche über dieses Gebiet ganz ohne jede eigene Freude. Aber ich fürchte, es ist gar kein Grund zu einem solchen Stolz vorhanden. Ganz im Gegenteil! ({22}) Lenin hat gesagt, daß jede herrschende Klasse nur nach erbittertem Widerstand ihren Platz räume. Er meinte damit die Kapitalisten, aber seine Wahrheit gilt vor allem für die Kommunisten und nicht zuletzt für die SED. ({23}) Wir sind uns hier ja alle darüber einig, daß wir uns für unsere Landsleute in der DDR etwas anderes als ein ewiges SED-Regime wünschen. Dennoch müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß nicht wir von außen eine Verwandlung der inneren Verhältnisse drüben erreichen können, weder durch containment noch durch roll back, aber erst recht nicht durch das, was man drüben nun einmal als die gefährlichste und die raffinierteste Form eines Veränderungsversuchs von außen betrachtet, nämlich den Weg des Wandels durch Annäherung der freiheitlichen Sozialdemokraten. ({24}) Denn niemand ist ungeeigneter, der SED ihre Sorgen zu nehmen. - Ich weiß, daß das alles eine überaus empfindliche Stelle bei uns berührt. Ich sagte schon, daß ich ohne Freude darüber spreche. Wir wollen ja hier nicht wieder anfangen, uns gegenseitig mangelnden Willen und mangelnde Eignung für das gesamtdeutsche Geschäft vorzuwerfen. ({25}) Auch wäre mir wohler, wenn hier mehr Einverständnis vorhanden und darum weniger öffentliche Erörterungen über die innerdeutsche Politik vonnöten wären. ({26}) Aber angesichts des entschlossenen Alleingangs der Regierung in der Ost- und Deutschlandpolitik vom Tage der Regierungserklärung an blieb uns ja gar keine andere Wahl als die der öffentlichen Auseinandersetzung, und die nüchterne Analyse der Lage der SED zwingt uns - und zwingt uns gemeinsam - zu der Feststellung, die ich getroffen habe. Was folgt aus alledem? Es folgen in erster Linie Konsequenzen für die Ostpolitik des Westens im ganzen. Da ich mich aber hier auf die Lage der Nation beschränke, will ich in meinem Schlußteil nur noch etwas über unseren üblichen politischen Gesprächsrahmen hinaus zu dieser Lage der Nation sagen. Bei allem Streit ist unter uns Politikern ja seit Jahr und Tag die Sorge gemeinsam, wie wir denn fertig werden sollen mit einem Auseinanderfallen von hohen Ansprüchen in der Deutschlandpolitik und dem Mangel an sichtbaren Fortschritten. Wir alle kennen die Ungeduld, den Unwillen, das Unverständnis und schließlich als Schlimmstes die Interesselosigkeit, die eine solche Lage gerade bei jungen Menschen, aber nicht nur bei ihnen, sondern auch bei manchen nüchternen Berufspraktikern in unserer Industriegesellschaft mit ihren ganz anderen Problemen auslöst. Wir alle kennen die Sorge, mit der Deutschlandpolitik in einen luftleeren Raum zu geraten. Deshalb halte ich es für gut und nötig, wenn wir uns hier im Bundestag bei der Erörterung der Lage der Nation auch mit den Gedanken auseinandersetzen, die oft außerhalb des aktiven politischen und Parteieniebens unserer Mitglieder zur deutschen Frage gepflogen werden. Wir haben keinen Grund, irgendeiner Frage auszuweichen, der wir hier begegnen. Im politisch engagierten deutschen Geistesleben gibt es, wie wir alle wissen, eine sehr lebhafte Auseinandersetzung über die Deutschlandpolitik, vor allem im Blick auf die deutsche Geschichte. Aus vielen Beispielen möchte ich nur an Ulrich Scheuner erinnern. Er wies uns noch einmal in einem sehr lesenswerten Beitrag darauf hin, daß ja die deutschen Lande bis tief in das 19. Jahrhundert hinein nur Zwischenfeld zwischen europäischen Nationen waren. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es den Deutschen gelungen, eine selbständige nationalstaatliche Mittelstellung zwischen Ost und West zu erreichen. Diese Position ist politisch in zwei Weltkriegen von Grund auf erschüttert worden. Gewonnen hat vor allem Rußland. Die Zone der Spaltung, die einst bei Polen lag, ist nach Westen verschoben. Wieder, so scheint es, sind die deutschen Lande Zwischenfeld zwischen den Nationen, freilich anders als früher, nämlich untereinander geteilt durch die Gesellschafts- und Machtsysteme, jedes der beiden in seinem System integriert. Könnte überhaupt eine der beiden Regierungen, so wird dann gefragt, ihr Fundament erhalten, wenn sie die feste Anlehnung an ihre jeweilige Seite preisgäbe? Wenn das aber so ist, so wird weiter gefragt, liegt es dann nicht nahe, jeden Gedanken an einen vorübergehenden Zustand zu verbannen und in Gottes Namen im westlichen Lager um so schneller zusammenzuwachsen, wie man sich über die Zonengrenze hinweg doch offenbar auseinander-lebe? Geht es in einem Europa, so wird weiter gefragt, welches nach Stabilität und Entspannung sucht, nicht weit eher darum, zu dieser Stabilität dadurch beizutragen, daß wir die Teilung nun eben hinnehmen, für deren Überwindung wir doch kein Mittel in greifbarer Nähe wissen, als immerfort den bestehenden Zustand verändern zu wollen? Stören wir nicht diese Stabilität schon allein dadurch, daß wir uns Gedanken über die Deutschen in der DDR im Sinne der Einheit der Nation machen? Können wir denn darüber hinwegsehen, daß die europäischen Völker je länger desto weniger den Wunsch haben, in der Mitte eines im übrigen schwachen Zentraleuropas einen neuen, voll souveränen deutschen Nationalstaat entstehen zu lassen mit 80 Millionen Menschen und mit der Summe der beiden in ihrem Bündnis jeweils zweitstärksten Wirtschaftskapazitäten? Diese Stimmung wuchs doch ganz unabhängig davon, ob ein solcher neuer Staat für den Westen, für den Osten oder für die Neutralität optieren würde. Das alles war es, meine Damen und Herren, was Golo Mann und was andere dazu veranlaßte, nach einer Umkehr in der Deutschlandpolitik zu rufen. Und dennoch, so meine ich, sind die Gegengründe nach wie vor die gewichtigeren. Die Teilung Deutschlands ist nicht organisch, sie bleibt künstlich. Sie trennt zusammengehörige Menschen und Familien. Diese Menschen können einfach nicht den grotesken Verwandtschaftsthesen von Honecker zustimmen, ({27}) wenn er sagt, für die Freizügigkeit komme es auf die Verwandtschaft nicht des Blutes, sondern der gesellschaftlichen Auffassungen an. ({28}) Daher, Herr Minister Franke, wolle er die Grenze nach Polen und zur CSSR ebenso offen halten, wie er sie zur Bundesrepublik geschlossen halten wolle. ({29}) Das ist wider die Natur. Die Menschen hüben und drüben empfinden sich als Deutsche. Man kann die Lage Deutschlands weder mit dem Gefühl natürlicher Vaterlandsliebe noch mit rationalen Erkenntnissen der Machtverhältnisse jeweils für sich allein lösen, denn beides gehört zusammen, und erst beides zusammen führt zu dem Ergebnis, daß eben heute keiner von uns eine präzise Antwort darauf geben kann, wie sich die deutsche Frage langfristig entwickeln wird. Die Zeiten für eine solche Antwort sind dafür noch nicht reif. Solche Lagen gibt es in der Geschichte öfters. Freilich verlangen sie von den Menschen auch das Schwerste, was es gibt, nämlich eine Offenhaltepolitik unverfälscht durchzuhalten und zu ertragen, auch dann, wenn keine Fortschritte sichtbar werden. ({30}) Enttäuschung und Ungeduld sind nur allzu verständlich, aber sie sind schlechte Ratgeber. ({31}) Die Teilung, meine Damen und Herren, trennt das gemeinsame kulturelle Erbe, sie trennt gemeinsame Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft, sie widerspricht dem heute lebendigen Bewußtsein. Die Zusammengehörigkeit ist eine politische, menschliche und geistige Realität, die uns alle betrifft und die nicht abseitigen nationalistischen Gruppen zum Mißbrauch überlassen bleiben kann. ({32}) Aber es hängt eben ganz wesentlich von uns ab, ob dies auch eine Realität bleibt. Wir müssen uns selbst immer von neuem gewissenhaft darüber Rechenschaft ablegen, ob sie es denn noch ist; denn kein Grundgesetz bietet die Gewähr für ihren ewigen Fortbestand. Aber wir müssen vor allem auch sehen, welchen Einfluß die Regierungspolitik auf diese Realität nimmt und nehmen kann. Den schlimmsten Schaden jedenfalls bringen andauernde Unklarheiten. Wenn die Regierung Gründe dafür sieht, von den bisherigen Zielen der Deutschlandpolitik abzuweichen, dann soll sie sie offen nennen und demokratisch erörtern lassen. ({33}) Das Grundgesetz würde sie über kurz oder lang ohnehin dazu nötigen. Will sie das aber nicht, will sie vielmehr am Ziel der staatlichen Einheit in freier Selbstbestimmung wirklich festhalten, dann lasse sie nirgends, weder im In- noch im Ausland, weder in Verträgen noch in Absichtserklärungen, einen Zweifel daran aufkommen. Dann dulde sie keine anderweitigen Interpretationen ihrer Politik, am allerwenigsten bei unseren Verbündeten. Einen Mittelweg, meine Damen und Herren, gibt es nicht. Es wäre der Weg der Zweideutigkeit und der Ungewißheit. ({34}) Ein solcher Weg aber kann unsere Unterstützung nicht finden. Denn wir wollen nicht dazu beitragen, auf diese Weise die Lage der Nation, die empfindlich genug ist, weiter zu unterhöhlen. ({35})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine ganz persönliche Vorbemerkung. Gestern nachmittag war ich traurig oder böse darüber, daß ich infolge der Zeiteinteilung nicht zu Worte gekommen bin. Ich war empört über einiges, was sich hier zugetragen hat. Jetzt möchte ich nur eine Bitte aussprechen; die Zeit ist darüber hinweggegangen. Ich bitte die Fraktion der CDU/ CSU, die Rede des Herrn Stücklen noch einmal mit ihm gemeinsam nachzulesen und sich die Frage vorzulegen, ob es nicht sinnvoll ist, dazu hier heute oder morgen noch ein paar klärende Worte zu sagen. ({0}) Denn wenn hier schon immer wieder Appelle an uns gerichtet werden, mehr Gemeinsamkeit zu suchen, muß ich sagen, daß Herr Stücklen einen großen Beitrag dazu geleistet hat, daß die Spannungen zwischen uns und die Diffamierung untereinander gestärkt worden sind. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, ich will darauf jetzt nicht weiter eingehen. Ich wollte nur diese Bitte aussprechen. Wenn Sie die Rede gelesen haben, können Sie sich überlegen, ob das gut ist. Gestern hat Herr Dr. Schröder hier eine vielleicht grundsätzliche Stellungnahme zur Politik der deutschen Bundesregierung abgegeben. Ich glaube, es ist notwendig, auf einige der von ihm aufgeworfenen Fragen ernsthaft einzugehen. Herr Dr. Schröder sagte: Welche Folgen wird es haben, wenn beide Teile Deutschlands Mitglieder der Vereinten Nationen werden? ... Was wird sein, wenn unsere Partner ... in Ost-Berlin Botschaften errichtet haben? Ich frage Herrn Dr. Schröder mit Rücksicht auf seine eigenen Einsichten, die er hier gestern und in früheren Zeiten schon entwickelt hat: ({2}) Was haben Sie eigentlich für Vorstellungen, wie lange z. B. die Franzosen - ich nenne nur ein Beispiel, um Zeit zu raffen - noch gewartet hätten, ihre Beziehungen mit der DDR ohne unsere Politik auszubauen? Jeder, der die französische Politik gegenüber der DDR verfolgt hat, weiß, daß sie auf dem Weg war, ohne uns und sehr weit an uns vorbei die Beziehungen zur DDR in einen Zusammenhang zu bringen, der für uns überhaupt keine Möglichkeit der Bewegung mit den Franzosen gemeinsam mehr gebracht hätte. Ich bitte Herrn Dr. Schröder, sich das zu überlegen. Die zweite Bemerkung. Herr Dr. Schröder sagte: Diese Regierung hat den Weg der Politik der zwei Staaten in Deutschland erstmalig beschritten. Nun, Herr Dr. Schröder, ich darf daran erinnern, daß in der Großen Koalition Herr Bundeskanzler Kiesinger einen Brief an Herrn Stoph geschrieben hat, in dem die erste Begegnung zwischen der Großen Koalition und einem Regierungsvertreter der DDR vorbereitet werden sollte. Die nächsten Schritte, die wir hier gegangen sind, waren eine Automatik aus dieser Entwicklung und aus der Erkenntnis, in welcher Lage wir uns befinden. Herr Dr. Schröder sagte: Wir sagen klipp und klar, daß, wenn wir solche Verträge hätten schließen wollen, das schon Jahre vorher möglich gewesen wäre. wir sprechen aus unserer Beurteilung der künftigen weltpolitischen Entwicklung unsere Überzeugung aus, daß auch zu einem späteren Zeitpunkt ein solcher Vertragsabschluß nicht nur dieser Art, sondern besserer Art möglich geworden wäre. Herr Dr. Schröder, Sie haben auf dem Parteitag der CDU 1965 folgendes gesagt: Im Zeichen des Kalten Krieges war die Wiedervereinigungspolitik eingebettet in das umfassende Anliegen der freien Welt, die Einflußsphäre des Kommunismus in Europa zurückzudrängen. Heute - so sagten Sie 1965 hat sich in der Welt das beherrschende und allgemeine Interesse der Friedenserhaltung vor das Teilinteresse der Wiedervereingung Deutschlands geschoben. Es besteht zwar noch eine Übereinstimmung im Ziel, aber es ist für die deutsche Außenpolitik schwieriger geworden, den engen Zusammenhang der beiden Probleme bis in die praktischen Auswirkungen hinein zu erhalten. Ich frage Sie, Herr Dr. Schröder: Warum haben Sie, wenn Sie mit dieser Einstellung und dieser Einsicht 1965 in der Lage gewesen wären, einen solchen Vertrag zu bekommen, diesen dann nicht abgeschlossen? Die Entwicklung würde dann heute eine andere sein! ({3}) -- Ich darf bitten, mich aussprechen zu lassen. Meine Damen und Herren, bei der Rede des Herrn Dr. Schröder fiel mir eines auf. Er hat hier wahrscheinlich nicht ohne Absicht - das liegt wohl, wie wir ja aus der Vergangenheit wissen, wesentlich in seiner politischen Anschauung begründet - das Berlin-Problem aus der Betrachtung über die Vertragspolitik völlig herausgerissen. ({4}) Dies ist meiner Ansicht nach bezeichnend, ohne Vorwurf, einfach als Feststellung. Herr Dr. Schröder, wenn Sie nämlich von dein ausgingen, was einige Ihrer Kollegen hier so oft sagen, daß ihnen Berlin so am Herzen liege und Berlin ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung um die Außen- und Ostpolitik sein müsse, wäre es Ihnen nicht unterlaufen, hier, ohne Berlin zu erwähnen, davon zu sprechen, daß es ohne Zustimmung zu den Verträgen oder Ratifikation kein Desaster für die deutsche Politik gibt. Ich komme darauf noch zu sprechen. ({5}) Herr Dr. Schröder, Sie haben dann Ihre Befürchtungen ausgesprochen. Sie sagten: Wir befürchten, daß die Ostpolitik langfristig den Zusammenhalt des Westens, das empfindliche Machtgleichgewicht in Europa und damit unsere Sicherheit gefährdet. Immer wieder stellen wir fest, daß von seiten der CDU Mißtrauen gegenüber dem Verhalten unserer Partner ausgesprochen wird; denn anders ist es doch nicht zu beurteilen. Wenn richtig ist, wenn unbestreitbar ist, daß die Aussage von Präsident Nixon von Ihnen ernst genommen wird, daß die amerikanische Außenpolitik in Übereinstimmung mit der deutschen Außen- und Ostpolitik ist, wenn Sie ernst nehmen, was Pompidou in den letzten Tagen wieder erklärt hat, wenn Sie ernst nehmen, was die englische Regierung zur deutschen Außen- und Ostpolitik erklärt hat, können Sie solche Bemerkung und solche Befürchtung nicht aussprechen. Dies heißt also, Sie gehen davon aus, daß man in der Politik keine Offenheit, sondern Tricks anwenden muß, um unsere Verbündeten auf die Dauer zu halten. Dieses, Herr Dr. Schröder, wird nicht gelingen. ({6}) Sie sagen: Wir befürchten, daß es auf die Dauer gesehen zu einer Machtverschiebung in Europa zugunsten der Sowjetunion kommt. Das ist die gleiche Bemerkung. Wieso soll es unter der Voraussetzung zu einer Machtverschiebung kommen, daß erstmalig seit 1961 Tore zwischen beiden Teilen Deutschlands aufgestoßen werden, Veränderungen entstehen, die nicht uns belasten, sondern für uns mehr Bewegungsfreiheit mit sich bringen? Wo sind Verschiebungen der Grenzen zuungunsten des Westens oder Machtverschiebungen sichtbar? Sie sprechen hier Befürchtungen aus, die auf keinerlei Fundament der heutigen Politik beruhen. ({7}) Sie sagen, Herr Dr. Schröder: Wir befürchten, daß sie - die Sowjetunion aus dieser veränderten Situation heraus dem ihr äußerst unbequemen westeuropäischen Zusammenschluß nach Kräften Steine in den Weg legen wird. Wieso soll sie das nach den Vereinbarungen tun? Sie hätte es doch ohne diese Vereinbarungen und ohne die Verträge durchaus auch tun können. Das Interesse der Sowjetunion und die Gemeinsamkeit des Westens kann doch durch unsere Politik nur auf Gegenseitigkeit verstärkt werden. Daß die Sowjetunion, wie es Herr Barzel gefordert hat, die Anerkennung der EWG ausspricht, ist ein Verlangen, das - entschuldigen Sie, wenn ich das sage - meiner Ansicht nach jeder politisch realen Anschauung entbehrt. Eine ganz andere Frage ist, ob wir nicht in der Lage sind, die Sowjetunion durch unsere Politik in der NATO und in der EWG an den Punkt zu bringen, wo sie auch mit der EWG verhandeln wird, weil sie Interesse an den wirtschaftlichen Beziehungen hat. Mir sind Ihre Befürchtungen nicht klar, sie beruhen meiner Ansicht nach auf einem anderen Fundament, von dem Sie hier nicht gesprochen haben: im Grunde genommen die ewige Sorge, daß der Westen keinen Zusammenhalt hat, der Zusammenhalt des Ostens stärker ist, die Macht des Ostens stärker wird, die Macht des Westens nachläßt und damit eine Schwierigkeit für uns eintritt. Herr Dr. Schröder, Sie müssen nur eines erkennen: Wenn die Macht des Westens nachläßt, liegt es nicht an der deutschen Außenpolitik. Die deutsche Außenpolitik und die deutsche Ostpolitik haben alle Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der Zusammenhalt des Westens mit dieser Politik, getragen von dieser Politik, stärker geworden ist, als er in den letzten Jahren vor dieser Politik gewesen ist, und daß der Zusammenhalt heute fester getragen wird von der Gemeinsamkeit, als es der Fall war, bevor diese Politik eingeleitet wurde. Hier ist gestern -- ich glaube, von Herrn Dr. Barzel - behauptet worden, daß jüngste Reden von Herrn Brosio, insbesondere auch auf der NATO-Konferenz, deutlich machen, welche Skepsis der frühere und der heutige Generalsekretär der UNO gegenüber dieser Politik haben. ({8}) - Nein, nein, es ist auch gesagt worden, Herr Brosio auf der NATO-Konferenz in Ottawa! ({9}) Nun will ich Ihnen eines sagen: Wenn Sie die beiden Reden des Herrn Luns und des Herrn Brosio von Ottawa nachlesen - mir fehlt die Zeit, hier lange Zitate zu benutzen -, dann müßten Sie bemerken, daß Herr Brosio als erstes festgestellt hat, daß die deutsche Außen- und Ostpolitik - ich formuliere jetzt kurz; ich kann Ihnen die Rede nachher vorlesen - Bestandteil der NATO-Politik ist und daß die NATO volles Vertrauen zur Bundesregierung und zu ihrer Ostpolitik hat und diese Politik als eine gemeinsame Politik der NATO mit der Bundesregierung ansieht. Die Bedenken gegen die Schwächung der NATO haben überhaupt nichts mit dieser Politik zu tun. Sie beziehen sich auf andere Umstände, nämlich die innenpolitischen Schwierigkeiten in den Vereinigten Staaten. Daraus ziehen die beiden Herren ihre Schlußfolgerungen. Wenn Sie die Rede von Brosio auf der NATO-Konferenz nachlesen, können Sie solche Behauptungen gar nicht aufstellen. Meine Damen und Herren, hier ist gestern der Versuch gemacht worden, mit Zitaten der Vergangenheit die Sozialdemokratische Partei anzugreifen. Ich verzichte hier heute im großen und ganzen auf Zitate Ihrerseits, denn Sie wissen ganz genau: wenn man die Zitate einiger Ihrer leitenden Herren bringt, können Sie heute nur noch den Mantel der Nächstenliebe darüber decken, mit welchen Hoffnungen Ihre Politik im Jahre 1952 in bezug auf die deutsche Befreiung ({10}) und in bezug auf die Befreiung des gesamten europäischen Ostens eingeleitet wurde. Sie kennen die Aussagen, die Herr Dr. Adenauer damals gemacht hat. ({11}) Aber nun will ich Ihnen eines sagen: Die Sozialdemokraten, die damals, in den Jahren bis 1954, gekämpft haben, sind davon ausgegangen - das ist das Entscheidende für die Entwicklung, in der wir uns heute befinden -, daß nach 1945 noch eine Politik möglich sei, die im Zuge der unmittelbaren Nachkriegsentwicklung, bevor echte, endgültige, langfristige Fakten geschaffen wurden, die deutsche Frage noch in Ordnung zu bringen vermöge. Das waren die Reden, die damals von den Freunden gehalten wurden, die Sie heute gerne zitieren: Die Vorstellung, daß unsere Politik gemeinsame deutsche Politik werden kann, mit dem Ziel, die Nachkriegszeit auszuschöpfen und die deutsche Einheit zu erhalten. Wir haben 1952 bis 1954 versucht, Sie zu veranlassen, neben der Westpolitik nicht alles beiseite zu schieben, was von der Sowjetunion aus ihrer damaligen schwachen Situation in dieser Zeit an möglichen Angeboten kam. Das alles haben Sie beiseite geschoben mit dem trostreichen Wort von Dr. Adenauer: Nein, meine Herren, jetzt nicht verhandeln! ({12}) Erst stark werden! ({13}) Dann geht es nicht nur um die Freiheit Deutschlands, sondern um die des ganzen versklavten Osteuropa. ({14}) Das wissen wir. Das war die Vorstellung. Das ist ein Zitat, mit dem ich nur sagen will: Mit dieser Vorstellung, mit dieser falschen Vorstellung, ({15}) mit dieser Perspektive, die damals schon unrealistisch war denn die erste sowjetrussische Atombombe war 1949 bereits in der Luft, die Wasserstoffbombe 1953 und 1957 der Sputnik; das war die Abrundung -, machten Sie Politik. Sie wußten also -- und jeder hätte vorausschauen müssen und können -, daß eine solche Machtpolitik, wie sie Adenauer und Dulles vorhatten, keine Chance mehr hatte. Dennoch haben Sie die Möglichkeiten, die wir Sozialdemokraten damals wenigstens noch bis ins kleinste untersuchen wollten, beiseite geschoben mit der festen Vorstellung: Das machen wir mit der Macht; das geht viel besser, in einigen Jahren, in kurzer Zeit. ({16}) Es gibt dann im Jahre 1955 noch einmal einen solchen Ausspruch von Dr. Adenauer. Nun sage ich Ihnen: Die Folgen der Politik, die Sie 1954/55 mit den Verträgen eingeleitet haben - mir würde viel daran liegen, noch über die Behandlung Berlins durch Ihre Politik zu sprechen, aber die Zeit ist zu knapp geworden -, tragen wir heute gemeinsam. Ich frage jetzt einmal hier in aller Offenheit, ich frage auch die heutige Bundesregierung, ob sie z. B. imstande ist, uns die Protokollunterlagen der Geheimgespräche vor den Pariser Verträgen vor Augen zu führen. Ich komme jetzt also einmal zurück auf Ihre immer wiederkehrende Forderung, auch die Protokolle zu sehen. Ich kann mir nicht denken, daß die Westmächte 1954 bei der Unterschrift unter die Pariser Verträge der damaligen Bundesregierung auch nur annähernde Versprechungen gemacht haben, über die Grenzen Deutschlands noch einmal zu verhandeln, um ernsthaft eine Verschiebung vorzunehmen. Ich gehe vielmehr davon aus, daß Sie den Vertriebenen damals nicht das gesagt haben, was Sie gewußt haben. ({17}) Das ist doch ausgeschlossen. Sie können doch der englischen Regierung nicht soviel Infamie unterstellen. Churchill hat am 15. Dezember 1944 im Unterhaus folgendes erklärt. Dieses Zitat muß ich hier einmal bekanntgeben. Ich lasse die Einleitung weg. Die Überführung von mehreren Millionen Menschen aus dem Osten in den Westen oder Norden müßte durchgeführt werden ebenso wie die Vertreibung der Deutschen. Denn das bedeutet der Vorschlag: die totale Vertreibung der Deutschen aus dem Gebiet, das Polen im Westen und Norden erhalten soll. Denn Vertreibung ist diejenige Methode, die, soweit wir es sehen können, am befriedigendsten und dauerhaftesten sein wird. Es wird keine Vermischung von Be- völkerung mehr geben, die endlose Schwierigkeiten verursachen könnte, wie es im Fall Elsaß-Lothringen geschehen ist. Es wird reiner Tisch gemacht. Ich bin nicht beunruhigt durch die Aussicht auf Entflechtung von Bevölkerungen, nicht einmal durch diese umfangreichen Überführungen, die unter modernen Bedingungen eher möglich sind als je zuvor. Ich sehe auch nicht, warum es in Deutschland keinen Platz geben sollte für die deutsche Bevölkerung Ostpreußens und der anderen Gebiete, die ich erwähnt habe. Schließlich haben sie bereits 6 oder 7 Millionen Deutsche in diesem schrecklichen Krieg verloren. ({18}) in den sie Europa zum zweitenmal in einer Generation ohne Zögern gestürzt haben. Das können Sie nachlesen im Protokoll des Unterhauses vom 15. Dezember 1944, die Erklärung von Churchill. ({19}) Und Präsident Roosevelt - ({20}) - Ja, ich kann mir vorstellen, daß Sie das vernös macht. Aber lassen Sie mich doch einmal reden! ({21}) Präsident Roosevelt hat sich im November 1944 in seinem Brief zu den Grenzen bereit erklärt, bei der Austreibung der Deutschen Hilfe zu leisten. Und dann wollen Sie uns und den Vertriebenen einreden, die Westmächte hätten bei den Pariser Vertragsverhandlungen zugesagt, an dieser Grenze zu rütteln?! Die Geheimprotokolle möchte ich sehen. Es gibt ja da sicher auch welche. ({22}) Ich möchte sie sehen, wenn die alte Regierung sie zurückgelassen hat - Dokumente der Vergangenheit. ({23}) Meine Damen und Herren, da ist ein Wendepunkt, den wir diskutieren müssen. Dieser Wendepunkt ist schon älter. Aber die heutige Debatte macht deutlich, wie weit wir in der Einschätzung der politischen Entwicklung und der politischen Lage auseinander sind. Sie leben im Grunde genommen - das muß ich Ihnen sagen - in der Vergangenheit einer Politik, die Sie durch Ihre eigene Verhaltensweise in Wirklichkeit seit langem beendet haben, nämlich der Politik, als befänden wir uns noch in der Nachkriegsperiode, wo es darauf ankommt, Friedensvertragsverhandlungen zu erreichen, in denen alles noch einmal von vorn beginnt. Ich sage Ihnen in aller Offenheit, meine Damen und Herren: Dieser Zug ist durch Ihre Politik seit langem abgefahren. ({24}) Es wäre vielleicht ganz gut gewesen, wenn wir die Zeit gehabt hätten, uns, bevor wir in diese Debatte gingen, einmal die internationale Lage anzusehen. Meine Damen und Herren, wenn Sie hier immer wieder davon ausgehen, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion möglich werden, und wenn auf der anderen Seite Herr Dr. Weizsäcker gerade eben wieder dargestellt hat, wie energisch die Sowjetunion ihre Position vertreten wird, frage ich Sie, was Sie für Vorstellungen haben, wie, wann und wo es einmal eine Chance geben könnte, in der Zeit, in der von der deutschen Nation überhaupt noch gesprochen wird, der Begegnung der Nationen näherzukommen. Jetzt haben wir folgenden Tatbestand. 1960, als das Chruschtschow-Ultimatum auf dem Tisch lag und all das, was wir uns aus der Zeit vor 1955 noch an Entwicklung vorgestellt hätten, 1960, als wir schon in einer ziemlich schweren Krise waren, hat die Sozialdemokratische Partei durch ihren damaligen stellvertretenden Vorsitzenden und heutigen Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner Ihnen das Angebot einer Bestandsaufnahme und des Versuchs, mit der Bestandsaufnahme zu einer gemeinsamen Politik zu kommen, gemacht. Sie sind damals - das dorf ich wohl so ausdrücken - mit Hohn über dieses Angebot hinweggegangen. Ich werde nie vergessen: da gab es unter anderem eine Antwort von Herrn von Guttenberg auf Herbert Wehner und Erich Ollenhauer. Er sagte damals: Und Herr Wehner hat auch mit seiner Formel von der Bestandsaufnahme im Grunde gleichfalls eine Revision mindestens auch unserer Politik erwartet. Nun, vielleicht stünde am Ende - das können Sie sich für die jetzige Situation wirklich einmal zu Herzen nehmen einer solchen gegenseitigen Anpassung die vielgerühmte deutsche Eintracht. Aber ich fürchte, wir hätten dann die innerdeutsche Einigkeit um den Preis der westlichen Gemeinschaft erkauft, jener Gemeinsamkeiten, die bisher die Bundesrepublik und West-Berlin vor Moskaus Griff bewahrten. Meine Damen und Herren, - so sagte Herr von Guttenberg weiter die Überprüfung unserer Politik ist für uns gleichbedeutend mit der Revision des Richtigen, ({25}) gleichbedeutend mit der Abkehr vom Wege des Erfolges, ({26}) gleichbedeutend mit dem Ende einer konsequenten Kontinuität ({27}) und mit dem Anfang einer möglichen neuen deutschen Isolierung. ({28}) Welche Arroganz! 14 Monate später zog die DDR die Mauer ({29}) und beendete den Traum von der gemeinsamen Nation. ({30}) Die Konsequenz, die Herr Strauß daraus zog, können Sie nachlesen in der „Zeit" in seinem Interview vom Jahre 1966. Man kann auch nicht - sagte er auf eine Frage ein Problem 15 Jahre später noch genauso sehen, wie man es 15 Jahre vorher gesehen hat, weil eben die Welt heuter schneller denn je in einem Veränderungsprozeß ist. Damit kam es zur Konsequenz. Die „Zeit" fragte: Sie haben die Formeln geprägt, roan müsse die deutsche Frage europäisieren. „Ja", sagte Strauß. Die „Zeit" stellte dann noch eine Zwischenfrage zum Münchener Abkommen und zu Atomwaffen. Da sagte Herr Strauß: Das hat mit der Europäisierung der deutschen Frage nur indirekt etwas zu tun. Ich verstehe natürlich, was Sie meinen. Es geht aber um das historische Modell. Und ich glaube nicht an die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der 4 Besatzungszonen - ich kann mir unter den gegebenen und vorausschaubaren Umständen und den möglichen Entwicklungen und Entwicklungslinien nicht vorstellen, daß ein gesamtdeutscher Nationalstaat wieder entsteht, sei er auch neutralisiert, aber ungebunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann ich nur sagen: Herr Strauß, Sie sind mir ein schöner Preuße. ({31}) Nun muß ich Ihnen als letztes hierzu noch sagen: Eine Konsequenz zog dann im Jahre 1967 Herr Kiesinger, der leider heute nicht hier ist; ich hätte ihn gerne daran erinnert, ({32}) weil er gestern so ganz anders sprach. Er sagte: Wenn dem so ist, wenn die politischen Positionen sich so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wecken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf beschränken, das zu bewahren, was uns geblieben ist, unsere eigene Freiheit, die Verweigerung der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates durch die freie Welt. Dies ist die Politik, die Sie auch heute hier vertreten haben. Herr Kiesinger allerdings zog damals eine andere Konsequenz: Eine solche rein defensive Politik würde, das ist meine feste Überzeugung und die Überzeugung der Regierung der Großen Koalition - aller miteinander, und da war Herr Strauß auch dabei -, von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen. ({33}) Sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärtsbringen, ({34}) sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, ({35}) denn die Zeit wirkt nicht für uns. ({36}) Mein Eindruck bleibt es, meine Damen und Herren: Herr Kiesinger ist damals von seiner Fraktion im Stich gelassen worden. ({37}) Und nun sage ich: Wenn es um den Erhalt der Nation geht, dann ist meiner Ansicht nach die Begegnung der Menschen einer gespaltenen Nation das beste Bindeglied, das es für die Zeit, in der wir uns befinden, überhaupt geben kann. Denn dies müssen Sie doch sehen: Seitdem es die Mauer gibt, gibt es im Grunde genommen keine Begegnung der Menschen einer Nation aus beiden Teilen Deutschlands mehr. Das ist doch unbestreitbar. Die wenigen Versuche - Verwandtenbesuche aus Not - sind keine Begegnungen. Wenn man also über das nachdenkt, was jetzt alles hier geredet worden ist, über das nachdenkt, was Sie selbst zu der Entwicklung gesagt haben, müssen wir uns über einen Punkt verständigen. Es würde eine sehr lange Zeit dauern, es wird eine sehr lange Zeit dauern, die wir gar nicht übersehen können, bis sich die Nation wieder zu einem Staat zusammenfinden kann. Was ist die Schlußfolgerung, die ein Politiker daraus ziehen kann? Daß er Wege und auch Umwege suchen muß, auf denen die Nation in der Zeit in Begegnung bleibt, in der die staatliche Spaltung unvermeidbar besteht. ({38}) Und diese Begegnung erreichen Sie doch nicht durch die Politik, die Sie hier vertreten haben, meine Damen und Herren von der Opposition! Denn die Forderung des Herrn Barzel mit seinem Stufenplan und die Forderung der CSU mit ihrem Vertrag sind doch in den luftleeren Raum gestellt, weil jeder weiß: dafür, daß diese Forderungen so erfüllt werden, gibt es keine Voraussetzungen. Ohne diese Verträge keine Berlin-Vereinbarung, ohne Berlin-Vereinbarung kein Fall der Mauer, und ohne Fall, Beseitigung oder auch nur Öffnung der Mauer um ein kleines Stück auf lange Sicht keine Begegnung der Nation. ({39}) Dies ist das eine. Nun die zweite Bemerkung: Meine Damen und Herren, ich sage so etwas an dieser Stelle beinahe ungern, weil es woanders anders ausgelegt wird. Sie müssen sich doch über eines im klaren sein. Für den langen Marsch, den wir vor uns haben, bleibt ein Zentralpunkt, und ich bedauere, daß Herr Schröder daran so vorbeigegangen ist. Es bleibt ein Zentralpunkt, und das ist Berlin. ({40}) Und da muß ich nun eine zusätzliche Bemerkung machen, die mir in der Öffentlichkeit beinahe schwerfällt; die Gründe werden Sie verstehen. Wenn wir uns die Vereinbarung, die wir über Berlin treffen konnten, die die Vier Mächte getroffen haben - Nixon betrachtete sie als das Wichtigste der Deutschlandpolitik der letzten 20 Jahre -, ({41}) vor Augen halten, dann erkennen wir, wir haben das Fundament der deutschen Einheit in Zukunft, West-Berlin, durch diese Viermächtevereinbarungen in einem Ausmaß gesichert, in dem Berlin seit 1945 nicht gesichert war. ({42}) Das erste Mal haben sich alle vier Siegermächte an diese Vereinbarung gebunden und damit gleichzeitig ihre gemeinsame Verpflichtung wieder aufgenommen. Allein die Berliner Vereinbarung mit allem, was Sie damit im Zusammenhang sehen müssen, ist wertvoll als Material, als Fundament für die Berlin-Politik, wenn diese Vereinbarung nach der Ratifikation in Kraft gesetzt wird. ({43}) - Herr Schröder hat zu Berlin nie ein solches Verhältnis gehabt. ({44}) - Nein, nicht „Pfui", Herr Dr. Barzel, das paßt nicht. ({45}) - Nein, Sie dürfen nicht verkennen, daß Herr Dr. Schröder damals, als wir das erste Mal mit der Bundesversammlung nach Berlin gehen wollten, im Kabinett alle Widerstände aufgebaut hat, die er damals als Minister dagegen aufbauen konnte. Er hatte seine Überlegungen dazu. ({46}) Er hatte zu Berlin ein anderes Verhältnis, als wir es von uns aus gesehen haben. ({47}) Denken Sie doch einmal darüber nach, wenn Sie schon die Zwischenrufe machen: Als die Bundesrepublik gegründet wurde und die Westmächte ihre Einsprüche in der Berlin-Frage geltend machten, gab es zwei Überlegungen. Da hat Ernst Reuter einmal gesagt, die Bundesrepublik, die Bundesregierung, der Bundestag müßten Berlin so behandeln, als sei es zwölftes Land. Ich frage Sie jetzt einmal, die Sie darüber so national und patriotisch denken. Können Sie sich vorstellen, daß eine französische Nationalversammlung unter der Voraussetzung, daß ihre Hauptstadt unter den gleichen Bedingungen gestanden hätte, unter denen unsere Hauptstadt 1949 stand, nicht erklärt hätte: „Wir akzeptieren den Einspruch der Westmächte, aber hier geht kein Gesetz heraus, bei dem wir wissen, daß mit den Stimmen unserer Hauptstadt eine andere Entscheidung gefallen wäre"? Können Sie sich solch eine Nationalversammlung vorstellen? Ich nicht, das sage ich Ihnen. Berlin blieb bei den demokratischen Entscheidungen vor der Tür, und zwar bis heute. Das sind unsere Empfindungen, die wir in dem Moment haben. ({48}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen nur, wenn die Tore jetzt nach den Bedingungen der Berlin-Vereinbarung aufgestoßen werden, entsteht für die nationale Position und für die Menschen im geteilten Deutschland eine völlig neue Qualität der Möglichkeiten, nationale Interessen gemeinsam zu entwickeln. ({49}) Darüber sollten Sie sich im klaren sein. ({50}) Meine Damen und Herren, das Ganze steht unter dem Zeichen dier Friedenspolitik. Wir leiten eine Friedenspolitik unter Wahrung der nationalen Interessen als eine gemeinsame Sache der westlichen Bündnis- und Vertragspartner ein. Wir haben nichts weggegeben, was wir besitzen, wir haben das Recht als formale Position nicht aufgegeben, aber das Trugbild wertloser Rechte nicht zum Leitbild unserer Politik gemacht. Ich zitiere Professor Morgenthau aus „Macht und Frieden" - Sie werden es kennen -: Die Realität echter Vorteile muß das Trugbild wertloser Rechte ersetzen. Die echte Alternative - so ist sein Schluß liegt nicht zwischen Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit, sondern zwischen politischer Weisheit und politischem Wahnwitz. Meine Damen und Herren, ich messe den Vereinbarungen über Berlin und den Verträgen noch aus einem anderen Grunde besondere Bedeutung bei. Gestern wurde hier davon berichtet - damit komme ich an den Abschluß meiner Betrachtungen -, daß, wie Ihnen bekannt ist, zwischen der DDR, Polen und der CSSR die Grenzen geöffnet wurden. Einige von Ihnen messen dem keine große Bedeutung bei, weil es Ihnen vielleicht nicht ganz in den Denkprozeß paßt. Lassen Sie mich hier ein Zitat aus Warschau bringen. In einem Beitrag der Warschauer Wochenzeitung „Politika" vom 15. Januar 1972 heißt es: Besondere Bedeutung hat die Tatsache, daß der Zyklus der Aufhebung der Grenzschlagbäume in unserem Bereich gerade vom polnisch-deutschen Vertrag ausging. Das kann als Beweis dafür gewertet werden, daß der Prozeß der Liquidierung der psychologischen Barrieren und Feindseligkeiten, die aus den Ereignissen der vergangenen Kriegszeit herrühren, abgeschlossen ist. Ein Symbol dafür war der Marsch der Polen, die in der Neujahrsnacht 1971/72 mit Sektflaschen zu den unbekannten Deutschen über die Oderbrücken zogen. Die jetzt hergestellte Freiheit, die Westgrenze zu überschreiten, die faktische Öffnung der Grenze hat keinen Präzedenzfall in den 20 Jahrhunderten polnischer Geschichte. Es ist das Gefühl einer Abenddämmerung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Begegnung, die die Polen nicht als Begegnung mit DDR-Bürgern allein verstehen, sondern als Begegnung mit Deutschen, ({51}) wird sich fortsetzen in der Begegnung zwischen Bundesrepublikanern und Polen. Dort werden sich auch Bundesrepublikaner und DDR-Bürger treffen. Vielleicht wird noch eine Weile vergehen, bis Begegnungen in der DDR in großem Umfang möglich sind. Aber die Tore sind aufgestoßen, und wir werden erleben, daß der Zug weiterfährt. Wenn Sie überhaupt die Idee haben, die Mauer und die Stacheldrähte, die Grenzpfähle zwischen Ost- und Westeuropa so zu lockern, daß die Herrschaftssysteme untereinander zum offenen gesellschaftlichen Ringen kommen - das war ja doch immer Ihr Anliegen -, dann müssen Sie doch einräumen, daß mit diesen Verträgen und den Berlin-Vereinbarungen Tore aufgestoßen worden sind, wobei heute am Anfang die Auswirkungen im Hinblick auf eine neue europäische Entwicklung noch gar nicht zu übersehen sind. ({52})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Amrehn.

Franz Amrehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Argumentation sowohl der Regierung als auch der Koalitionsparteien - so auch in den Worten von Herrn Kollegen Mattick - spielen die Berlin-Vereinbarungen eine zentrale Rolle. Das ist aus zwei Gründen begreiflich. Erstens. Eine Entspannung in Mitteleuropa, die diesen Namen wirklich verdient, kann nicht an Berlin vorbeigehen. Das ist von der Regierung immer so erklärt worden, und damit ist die Opposition völlig einverstanden. Der zweite Grund ist folgender. Angesichts der Unausgewogenheit der Verträge möchte die Regierung heute wenigstens schon einen Erfolg vorweisen, der greifbar ist. Ich untersuche nicht, ob es zutrifft, daß es eine Berlin-Vereinbarung ohne die Verträge mit Moskau und Warschau nicht gegeben hätte. Dazu gibt es unter den Alliierten durchaus auch andere Auffassungen. ({0}) Aber wenn schon die Regierung sich auf diesen Erfolg selbst beruft, wenn sie das Verdienst dafür in Anspruch nimmt, die Berlin-Vereinbarung erreicht zu haben, dann stellt sich allerdings auch die Frage, ob das Entgegenkommen, die Konzessionen und die Anerkennungen in den Verträgen umgekehrt ein entsprechendes ausreichendes Entgegenkommen auch für die Berlin-Vereinbarung ausgelöst haben, ({1}) ein Entgegenkommen, das uns wirklich guten Gewissens sagen ließe: diese Berlin-Regelung ist befriedigend. Wenn ich bisher überhaupt nicht nach Osten habe gehen dürfen und übermorgen vielleicht mit Genehmigung dann doch einmal einen Besuch machen darf, dann ist das unbezweifelbar eine Verbesserung, aber ich kann noch lange nicht behaupten, daß schon allein dadurch die Regelung befriedigend sei. ({2}) Gestern ist hier hervorgehoben worden, daß das Zustandekommen der Berlin-Vereinbarung in sich bereits ein großer Erfolg sei. Das läßt sich doch aber nur dann behaupten, wenn der Inhalt dessen, was zustande gekommen ist, auch wirklich befriedigend ist. Da muß ich sagen: wenn uns noch vor einem Jahr hier einer erklärt hätte: „In die Berlin-Vereinbarung wird hineingeschrieben, daß in West-Berlin ein Konsulat der Russen errichtet werden soll", dann hätte mir Herr Mattik damals mit Sicherheit erklärt, das sei unannehmbar. ({3}) Die Auseinandersetzungen um Berlin dauern nun schon über ein Vierteljahrhundert. Sie sind so hartnäckig, weil der Kampf um den Besitz der Stadt ja über weit mehr entscheidet als nur über das Schicksal Berlins. Wer das weiß und in den 25 Jahren aus nächster Nähe die Geschehnisse miterlebt hat, der wird das Bemühen um eine befriedigende Berlin-Regelung nicht nur innerlich mit guten Wünschen begleiten, sondern auch größtes Verständnis für die ungeheuren Schwierigkeiten haben, die sich einer Regelung entgegenstellen, und er wird mit solchen Maßstäben dieser Erfahrungen auch an das Ergebnis herangehen, wenn er es prüft. Aber am Wege einer langen Strecke von 1945 an liegen doch auch eine Fülle von bitteren Enttäuschungen, die uns lehren, daß gedruckte Buchstaben noch nicht für bare Münze zu nehmen und daß Hoffnungen und Aussichten noch lange keine Wirklichkeiten sind. ({4}) Es trifft doch nicht zu, daß diese Berlin-Vereinbarung die erste sei nach dem Jessup-Malik-Abkommen. ({5}) hat es doch bereits eine Vierer-Vereinbarung, einen Beschluß der Vier Mächte nach nicht weniger als vierwöchiger Außenministerkonferenz gegeben, in dem doch die Verbesserung und die Normalisierung der Verkehrsverbindungen nach Berlin und zwischen den Zonen, die Vereinfachung, Verbesserung und Normalisierung der Telefon- und Post- und sonstigen Verbindungen vereinbart worden sind. Aber diese Vereinbarung ist nicht gehalten worden; erst danach wurden die Telefonverbindungen in Berlin durchgeschnitten. Es hat doch auch jene große Enttäuschung vom Juli 1955 gegeben, als wir wirklich mit ganz großen Hoffnungen einer Viermächtevereinbarung entgegengesehen haben. Sie ist als eine Gipfelvereinbarung in Genf zwischen den Staatspräsidenten und den Premierministern der damaligen Zeit zustande gekommen. Nach einer Geheimsitzung der Regierungschefs Bulganin, Eisenhower, Anthony Eden und Edgar Faure ist 1955 eine Direktive an die Außenminister gegeben worden, in der es heißt: Die Regierungschefs sind übereingekommen, daß die deutsche Frage und die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands im Einklang mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes und dem Interesse der europäischen Sicherheit durch freie Wahlen gelöst werden sollen. Hat uns das damals nicht einen ungeheuren Auftrieb gegeben? Seinerzeit hat schon einmal jemand gesagt - so wie es gestern gesagt worden ist, Herr Wehner -: Das ist ein Wendepunkt. Ich möchte Ihnen heute nicht die vier Reden verlesen, die damals zu dieser Vereinbarung von den vier Staatschefs gehalten worden sind. ({6}) Edgar Faure hat damals gesagt: „Über dieses Übereinkommen hinaus wird der Geist dieser Konferenz eine nachhaltige Auswirkung auf die internationalen Beziehungen und einen glücklichen Einfluß auf ihre Zukunft haben." ({7}) Wir haben das gern gehört, Herr Wehner. ({8}) Wir haben immer unsere Hoffnungen da hineingesetzt. Aber wir bleiben skeptisch, solange Buchstaben nicht Wirklichkeit geworden sind. ({9}) Und das ist nun einmal wahr: die Skepsis in Berlin gegenüber den neuen Vereinbarungen ist nicht nur etwa bei den Christlichen Demokraten vorhanden, sondern in der ganzen Bevölkerung - das beobachten Sie unverändert -, die nicht aufhört, auf Verbesserungen zu hoffen, aber, obwohl sie weiter ihren Mann stehen wird, doch erst daran glaubt, wenn das, was versprochen ist, in die Wirklichkeit umgesetzt wird. ({10}) - Wie sieht es denn nun im Augenblick aus, Herr Kollege? ({11}) Bis zur Stunde hat sich auf den Wegen nach Berlin überhaupt nichts geändert. Seit fast 21/2 Jahren haben wir Erklärungen abgegeben, die dem entgegenkommen sollten, was Pankow als eine Verbesserung des Klimas erwartet hat und was von uns als eine Voraussetzung für die Gesprächsmöglichkeiten angenommen wurde. ({12}) - Herr Kollege Mattick, seien Sie bitte nachsichtig mit mir. Nicht daß ich jetzt Ihre Fragen nicht beantworten wollte - ich stehe gern zur Verfügung-, aber Sie wissen, ({13}) wie eng unsere Zeit heute jeweils eingegrenzt ist und daß Zwischenfragen eine Ausweitung bedeuten würden, die diese Zeitgrenze sprengen müßte. ({14}) - Aber ich sage Ihnen: ich stehe gern zur Verfügung und würde mich freuen, wenn wir auf diese Weise die Debatte erweitern und vertiefen könnten. Jedoch bitte ich umgekehrt darauf Rücksicht zu nehmen, daß ich von den vielen Punkten, die ich vorzutragen hätte, überhaupt nur ganz wenige herausgreifen kann. Präsident von Hassel: Gestatten Sie dennoch eine Zwischenfrage von der anderen Seite des Hauses, von Herrn Abgeordneten Borm?

Franz Amrehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, das, was ich gegenüber der einen Seite erklärt habe, muß ich nun für alle Seiten gelten lassen. ({0}) Ich bitte um Nachsicht. Bis zur Stunde hat sich überhaupt noch nichts geändert. Wir haben inzwischen die Erklärung über die beiden deutschen Staaten abgegeben, wir haben die Interzonenhandelskredite ungeheuer erweitert, und wir haben die Zusicherung gegeben, die Aufnahme in die UNO zu betreiben. Gestern hat hier ein Redner erklärt, die Pauschalierung der Gebühren wäre, käme sie zustande, eine große Sache. Die Pauschalierung ist von uns vorgenommen worden. Wir haben die Jahreszahlung übernommen. Aber auf den Autobahnen hat sich daraus bis zur Stunde nicht die geringste Erleichterung hinsichtlich der Kontrollen oder eine schnellere Abfertigung nur als Geste des guten Willens ergeben. ({1}) Daran muß man die Ergebnisse der Verhandlungen doch auch ein wenig messen. Wenn nun jemand sagt, im Telefon- und Postverkehr habe sich aber etwas gebessert, dann muß ich natürlich daran erinnern, daß wir erstens auch finanziell eine ganze Menge dafür leisten ({2}) und daß zweitens West-Berlin als Antwort darauf zum Ausland erklärt worden ist. Heute muß man auf einen Brief nach Berlin eine Auslandsbriefmarke kleben. ({3}) Außerdem ist die Gebühr für ein Telefongespräch von Ost-Berlin nach West-Berlin für die Dauer von sechs Minuten nach den Vereinbarungen von 60 Pf auf 4,60 DM erhöht worden. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist doch im Moment die Wirklichkeit. Nun ist gestern in Aussicht gestellt worden, daß es bereits zu Ostern und zu Pfingsten gewisse Erleichterungen auf den Autobahnen und für Besucher geben soll. Wir freuen uns für die Menschen, die davon nach Jahren endlich wieder Gebrauch machen können. Aber ich weigere mich, zuzugeben, daß es sich hierbei um ein Zeichen des behaupteten guten Willens oder um ein Zeichen der politischen Entspannung handelt. Was wir erleben, ist doch nichts anderes als ein willkürlicher, ja, ich sage, ein frivoler Umgang mit menschlichen Gefühlen zu politischen Zwecken. ({5}) Es ist der Versuch einer penetranten Einflußnahme auf den Entscheidungswillen dieses Parlaments, ({6}) und das, meine Damen und Herren, kann ich nicht als Entspannungswillen bezeichnen. Was ist das für eine Entspannung, bei der uns für eine vorübergehende Zeit das Zuckerbrot der Erleichterung auf den Zufahrtswegen hingehalten wird, während man für die Zeit danach schon wieder mit der Peitsche des Rückfalls in die Unmenschlichkeit droht! ({7}) Was uns an Erleichterungen geboten werden soll, ist doch in Wahrheit nur die teilweise Milderung von Unrechtsmaßnahmen, die im Laufe der Jahre über West-Berlin verhängt worden sind. ({8}) Ich behaupte nicht, daß es kein Fortschritt wäre, wenn es der Politik gelänge, auch das abzubauen. Aber ob daraus schon eine befriedigende Berlin-Regelung wird, ({9}) ist wieder eine ganz andere Frage. ({10}) Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich an einem drastischen Beispiel zeigen. In der alliierten Vereinbarung steht, daß die Abfertigung auf den Zufahrtswegen auf die „schnellste, einfachste und günstigste Weise" vor sich gehen soll, die der internationale Verkehr kennt. Ich leugne nicht, daß ich darin eine wirklich vielversprechende und verheißungsvolle Hoffnung erblickt habe. Wenn ich mir nun aber die Ausfüllungsvereinbarungen ansehe, stelle ich fest, daß dort wieder das Visum verankert worden ist, daß es wieder das Fahndungsbuch und auch wieder die Schreibarbeiten gibt. Das hat doch mit der „schnellsten, einfachsten und günstigsten" Abfertigung überhaupt nichts zu tun. ({11}) Dann weiß ich schon heute, daß das alles andere sind als Privilegien, von denen der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen in diesem Zusammenhang gesprochen hat. Meine Damen und Herren, wenn die Verträge überhaupt einen Sinn haben sollen und wenn ihnen die Anerkennung der Realitäten zugrunde gelegt wird und wenn sie Entspannung bringen sollen, dann müßte doch endlich in der Phase der Verhandlungen und schon ganz und gar in der Zeit der parlamentarischen Behandlung dieser Verträge die Rolle Berlins als Druckmittel ein Ende gefunden haben. ({12}) - Ich habe, Herr Wehner, nicht gezögert, unter mehreren positiven Punkten die in den Texten zu finden sind, u. a. hervorzuheben, es sei wirklich sehr beachtlich, daß die Sowjetunion sich am 3. September vergangenen Jahres bereit erklärt hat, die Berlin-Regelung zu unterschreiben, wenn die innerdeutschen Vereinbarungen zustanden gekommen sind, und mit der Unterschrift die Berlin-Regelung in Kraft zu setzen, ehe die Bundesregierung überhaupt die Ratifizierung in diesem Hause einleitet. Hierzu hat sich die Sowjetunion per Unterschrift verpflichtet. Sie begeht schon die erste Vertragsverletzung, indem sie das nicht tut. ({13}) Ich frage mich weiter: wieviel darf ich denn von der künftigen Wirklichkeit einer gut geschriebenen Vereinbarung halten, wenn schon am Anfang die Vertragsverletzung steht? Das Zweite: Unsere Bundesregierung hat sich am 25. August in voller Kenntnis dieser Vereinbarungen vor dem deutschen Volk im Fernsehen und durch Abdruck im Bulletin dazu verpflichtet, die Ratifizierung erst einzuleiten, wenn die Schlußakte unterschrieben ist. Die Schlußakte ist nicht unterschrieben. Aber die Ratifizierung ist dennoch schon eingeleitet. Der Bundeskanzler hat das gestern mit den Worten erklärt: Es ergibt sich aus der politischen Lage, daß die Ratifizierung eingeleitet wird, bevor die Berlin-Vereinbarung in Kraft tritt. Aber wo kann da unser Vertrauen noch bleiben, wenn so gravierende Festlegungen schlicht übergangen werden und heute nicht mehr gilt, was gestern gelten sollte? ({14}) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mattick?

Franz Amrehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte, noch einmal auf meine Bemerkungen verweisen zu dürfen, die ich vorhin gemacht habe. Meine Damen und Herren, mit dem, was hier geschieht, wird ein ganz unmittelbarer Druck auf die Entscheidung dieses Parlaments ausgeübt, die Verträge anzunehmen, bevor die Vergünstigungen der Berlin-Vereinbarung in Kraft treten, und das ent9852 gegen verpfändeten Worten. Müßte nicht eigentlich das ganze Parlament sich dagegen wenden? Müßten wir nicht alle Einspruch erheben gegen dieses Verfahren? Aber wir erleben, daß statt dessen auch von amtlicher Seite dieser Druck der Sowjets auf uns fortgesetzt wird, mitgemacht wird. ({0}) Meine Damen und Herren, die Regelung sollte befriedigend sein. Wir haben es wahrhaftig niemals als die beste Regelung angesehen, daß Berlin entgegen dem, was es durch seine Vertreter im Parlamentarischen Rat wollte, nicht Bundesland im Vollsinne hat werden können. Wir haben immer nur die Motive unserer alliierten Freunde wegen der guten Gesinnung respektieren können, aus der sie ihre Vorbehalte erhoben haben. Gestern hat hier Herr Borm erklärt, durch die neue Vereinbarung habe sich daran auch gar nichts geändert. Das ist eben nicht richtig. Von nun an hängt infolge des Berlin-Abkommens die Frage, ob Berlin volles Bundesland werden kann, nicht mehr allein von der Entscheidung der Westmächte und ihrer Freiheit ab, zu sagen: Wir etwickeln dieses Stück zum vollen Bundesland. ({1}) Vielmehr haben wir diese Rechtslage an die Zustimmung der Sowjetunion gebunden. Da kann ich nicht behaupten, daß dies ein Weg hin zur Selbstbestimmung der Berliner sei, - was Sie, Herr Mattick, in diesem Zusammenhang immer gefordert haben -, sondern diese Vereinbarung bringt uns ein Stück weiter weg von der Selbstbestimmung der Deutschen, aus Berlin ein Land der Bundesrepublik zu machen. ({2}) Ich könnte mich mit einer solchen Regelung versöhnen lassen, wenn gleiches auch für den Ostsektor bestimmt worden wäre. ({3}) Aber hier ist doch eben die Ungleichheit. Darum behaupte ich, daß sich auch im Status in diesem Umfang eine Veränderung ergeben hat, vor der wir nicht die Augen verschließen dürfen. Ein zweites. Das Generalkonsulat ist eine sowjetische Forderung gewesen, ohne die eine Berlin-Vereinbarung, wie der amerikanische Botschafter gesagt hat, nicht zustande gekommen wäre. Hier kommen wir doch nicht an dem Tatbestand vorbei, daß die Bundespräsenz, nachdem z. B. die SPD- und die FDP-Fraktion seit zwei Jahren nicht mehr nach Berlin gekommen sind, nicht nur faktisch, sondern auch schriftlich abgebaut wird und statt dessen die sowjetische Präsenz in West-Berlin erhöht wird. ({4}) Ich weiß natürlich auch, daß in der Vereinbarung steht, das Generalkonsulat dürfe sich nicht politisch betätigen. ({5}) Das tragen Sie einmal vor einer Berliner Versammlung von Menschen aller Schichten vor, und sagen Sie, die dürften sich da nicht politisch betätigen! - Und glauben Sie mir: Den Sowjets ist es völlig gleichgültig, auf welche Weise sie ihren Fuß in die Tür bekommen können. ({6}) - Ich habe das leider nicht verstanden. ({7}) Nun noch einige Worte zu dem, was die Bundesregierung in der Antwort an den Bundesrat erklärt hat. ({8}) In der Erklärung, die die Bundesregierung auf die Einwendungen des Bundesrats gegeben hat, heißt es, die Ausfüllung des Berlin-Abkommens gehe noch über den Rahmen dessen hinaus, was uns die Allier-ten dort bereitet hätten. Nichts kann falscher sein als diese Behauptung. Ich bin bereit, Ihnen an Hand von 20 Punkten nachzuweisen, daß das nicht zutrifft. Am allerwenigsten trifft das für das Visum zu. Hier hat die innerdeutsche Ausfüllung des Rahmenabkommens etwas eingeführt, was gegen den allierten Vertragstext ist. Es war doch der Regierende Bürgermeister Schütz, der mit uns gefordert hat, es dürfe nur Identitätskontrollen geben. In der Rahmenvereinbarung steht ausdrücklich: In den Bussen darf nur die Identität geprüft werden. Trotzdem hat die innerdeutsche Seite zugestanden, daß in dem Bus mit 50 und mehr Passagieren wieder eine Sammelliste aufgestellt - „schnellste, günstigste und einfachste Abfertigung" - und ein Sammelvisum erteilt werden muß. Als Grundbedingung einer befriedigenden Berlin-Regelung ist aufgestellt worden, daß es keine Diskriminierungen mehr geben dürfe. Der Regierende Bürgermeister Schütz hat erklärt, es dürfe insbesondere keinen Unterschied mehr geben für den Besuch des Ostens zwischen den Westberlinern und den Westdeutschen. Wer heute von West-Berlin aus nach Osten gehen will, der bedarf - außer bei Tagesbesuchen in Ost-Berlin ohne Übernachtung - einer Genehmigung der Kommunalbehörde im Osten, um überhaupt einreisen zu dürfen. Selbst wenn er nach Ost-Berlin geht, braucht er im Gegensatz zum Westdeutschen einen Berechtigungsschein, ein Visum zur Ausreise und ein Visum zur Einreise. Das ist alles schlechter und überhaupt nicht mit dem vergleichbar, was der Westbürger in Anspruch nehmen kann. Das ist im Ergebnis auch nicht befriedigend. Wir waren einschließlich des Senats gar nicht damit einverstanden, daß es eine Kontingentierung für die Besuche von Westberlinern gibt. Aus dem Grunde hatte der Regierende Bürgermeister die Vereinbarung nicht annehmen wollen; aber es ist bei dieser Diskriminierung und Kontingentierung geblieben. Kann man das dann „befriedigend" nennen? Ganz zu schweigen jetzt von den vielen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Mißbrauchsklausel, die in den deutschen Regelungen gegenüber der SchwamAmrehn migkeit der alliierten Vereinbarung noch zugunsten der Ostbehörden verschärft worden ist! ({9}) Jeder weiß, daß es am einzelnen Beamten hängen wird, ob bei einem Durchreisenden die hohe Wahrscheinlichkeit einer Absicht des Mißbrauchs der Autobahn unterstellt wird. Das hängt nach wie vor von der Beurteilung des einzelnen auf der Autobahn ab. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen. Es wird natürlich immer wieder die Frage gestellt: Wenn Sie die Verträge schon ablehnen wollen, können Sie es dann auch auf sich nehmen, die Berlin-Vereinbarung nicht in Kraft treten zu lassen? Nun wäre es eine formale Antwort, zu sagen: die Vierervereinbarung der großen Mächte, die an Berlin beteiligt sind, kann doch nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine bilaterale Vereinbarung in Deutschland zustande kommt. ({10}) Aber lassen Sie es mich auch von der Sache her beurteilen. Um mit einem abgewandelten Kennedy-Wort zu sprechen: Ich kann mich doch nicht mit dem Apfel begnügen, wenn ich einen Obstgarten hingeben soll! ({11}) Das heißt doch: auch West-Berlin kann nicht mit einem Vertrag gedient sein, der in der Welt draußen zumeist als ein Teilungsvertrag verstanden wird. Ein Schritt der deutschen Politik im ganzen in die falsche Richtung kann auch für Berlin nicht richtig sein. ({12}) Ein Vertrag, mit dem die Deutschen genötigt werden, ihr Recht auf Selbstbestimmung im Text zu verschweigen - und wenn dies auch nicht durch Interpretation anders dargestellt werden kann -, kann allein mit einer Berlin-Regelung nicht gerechtfertigt werden. Ein Vertrag, den wir für Deutschland nicht verantworten können, können wir auch nicht für Berlin verantworten. Auch die Berliner und alle Abgeordneten hier sind doch verpflichtet, das Gesamtinteresse ganz Deutschlands nach bester Überzeugung und nach innerstem Gewissen wahrzunehmen, notfalls auch um den Preis, daß die Berlin-Vereinbarung vorerst nicht in Kraft treten sollte. ({13}) Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Achenbach.

Dr. Ernst Achenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000002, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Diskussion hat mich an ein französisches Sprichwort erinnert, welches da lautet: Qui trop embrasse mal étreint, frei übersetzt: Wer sich mit zehn Sachen gleichzeitig beschäftigt, macht keine ordentlich. ({0}) Ich ziehe daraus für mich die Schlußfolgerung, daß ich nur zum Inhalt des Moskauer Vertrages und zu dem sprechen werde, was der verehrte Kollege Schröder dazu gesagt hat. Ich würde sagen, das ist schon ein abendfüllendes Stück, oder, wie es ein Amerikaner sagen würde: That's a mouthful, wieder frei übersetzt: Da hat man schon genug zwischen den Zähnen! ({1}) Ich darf beginnen, Herr Kollege Schröder, mit der Erinnerung, daß wir uns seit 40 Jahren kennen - ({2}) Präsident von Hassel: Einen Augenblick, Herr Kollege! Darf ich Sie bitten, die Unterhaltungen in den Vorraum zu verlegen! Es stört hier. Insonderheit haben, glaube ich, die Fernsehteilnehmer ein Recht darauf zu wissen, daß hier aufmerksam zugehört wird. Ich darf Sie bitten, herauszugehen und die Unterhaltungen draußen zu führen. Bitte schön, Herr Abgeordneter!

Dr. Ernst Achenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000002, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schröder, ich möchte mich gern mit Ihnen über das unterhalten, was sie gestern vorgetragen haben. Zunächst möchte ich mich damit einverstanden erklären, daß Sie eingangs in Ihrer Rede betonten, diese Diskussion hier müsse sachlich geführt werden, jeder müsse der anderen Seite den guten Willen zubilligen; wir sollten unter der Voraussetzung sprechen, daß auf beiden Seiten Patrioten stünden, die unter den gegebenen Umständen das Beste für unser Land und Volk wollten. Niemand sollte in dieser Diskussion verteufelt werden. Diese Kontroverse dürfe nicht zu einem Glaubenskrieg werden oder ausarten. - Damit bin ich voll einverstanden. Ich hatte bei meiner letzten Intervention hier bereits betont, daß wir gut beraten wären, wenn wir das Begriffspaar „kalte Krieger" und „Verzichtspolitiker" gemeinsam beerdigen würden. Sie haben diesen Vorschlag angenommen, das finde ich gut so. Wir können gemeinsam der Welt mitteilen, daß es hier in Bonn weder kalte Krieger noch Verzichtspolitiker, sondern vaterlandsliebende Abgeordnete gibt, die für ihr Land und für die Welt den Frieden wollen. Das wollen wir doch einmal gemeinsam feststellen! ({0}) Nun haben Sie auch sonst noch etwas Vernünftiges gesagt. Sie haben festgestellt, daß es nach wie vor gemeinsame Ziele gibt: Festhalten am Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen, friedliche Beziehungen und Verständigung, Zusammenarbeit auch mit den Staaten Osteuropas einschließlich der Sowjetunion und Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt! Voll einverstanden! Ich nehme an, Sie sind auch noch einverstanden, wenn wir noch zwei Punkte hinzufügen. Wir sind doch alle hier bereit, für unseren Staat, für diesen freiheitlichen Rechtsstaat einzutreten und ihn zu verteidigen. Darüber hinaus wollen wir uns alle auch um Berlin kümmern. Also haben wir da ja dann schon einen ganz schönen Katalog von Gemeinsamkeiten. Nun komme ich noch zu einem Schlußzitat, und da fängt allerdings langsam die Kritik an, Herr Kollege Schröder. Sie haben auf der Seite 30 Ihrer Rede gesagt: Ich vertrete absolut den Standpunkt, daß wir Deutschen keine Auslegung der Verträge zu unseren Ungunsten vornehmen sollten, also uns nicht einer Argumentationslinie der Gegenseite bedienen dürfen. Sehr richtig, Herr Kollege Schröder. Nun hätte ich ganz gern gesehen, daß man auch einmal von Ihrer Seite vorträgt, was in diesem Moskauer Vertrag denn eigentlich drinsteht. Da dies nicht geschehen ist, möchte ich mich jetzt damit ein bißchen beschäftigen. Der Vertrag ist ja gar nicht so lang, so daß die Rede gar nicht so lang wird. Es ist vielleicht auch ganz gut, daß die vielen Leute, die uns zuhören und die die Texte nicht vorliegen haben, verstehen müssen, worüber wir uns eigentlich streiten. Wollen wir doch einmal sehen, was in dem Moskauer Vertrag steht, ({1}) um uns anschließend ein Urteil darüber bilden zu können, ob Ihre Befürchtungen, Herr Schröder, oder die Hoffnungen anderer berechtigt oder nicht berechtigt sind. ({2}) - Nein, ich finde nur: wenn er sagt, man sollte keine Interpretation vornehmen, die uns schädigt, dann war es ein Versäumnis, daß er den Vertrag anschließend nicht interpretiert hat. ({3}) Das ist doch der ganze Witz. Diese Interpretation will ich jetzt einmal vornehmen und dann feststellen, ob Herr Schröder mit meiner Interpretation übereinstimmt. Das ist doch normal. Dieser Vertrag hat erst einmal eine Präambel. In dieser Präambel lautet der erste Satz: IN DEM BESTREBEN, zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der Welt beizutragen, Das wollen wir doch wohl alle? ({4}) Mit diesem Satz sind Sie also einverstanden. Der zweite Satz lautet: IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten auf der Grundlage der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen den sehnlichen Wünschen der Völker und den allgemeinen Interessen des internationalen Friedens entspricht, Ich jedenfalls teile diese Überzeugung, und ich nehme an, Sie teilen Sie auch, Herr Schröder. Dagegen ist also auch nichts einzuwenden. Dann kommt der dritte Absatz. Dort steht: IN WÜRDIGUNG der Tatsache, daß die früher von Ihnen verwirklichten vereinbarten Maßnahmen, insbesondere der Abschluß des Abkommens vom 13. September 1955 - das war ja der Bundeskanzler Adenauer über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, günstige Bedingungen für neue wichtige Schritte zur Weiterentwicklung und Festigung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaffen haben, Sie müssen doch zugeben: daß die jetzige Regierung die damalige Regierung würdigt, ist doch nett von ihr. Außerdem stimmt das auch. ({5}) - Lassen Sie mich doch doch erst einmal den Vertrag zu Ende bringen! Anschließend gerne, Herr Marx. Dann kommt der vierte Punkt: IN DEM WUNSCHE, in vertraglicher Form ihrer Entschlossenheit zur Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen ihnen Ausdruck zu verleihen, einschließlich der wirtschaftlichen Beziehungen sowie der wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Verbindungen, im Interesse beider Staaten, Ja, dagegen ist doch offenbar keiner, denn das steht sogar in dem Plan der CSU. ({6}) Da sind wir uns also auch schon wieder einig. Folglich werde ich doch wohl sagen können: Gegen die Präambel kann dieser Bundestag überhaupt nichts vorbingen. ({7}) Da haben wir als einen Teil schon mal weg. Nun kommen wir auf den Art. 1. Dessen Abs. 1 lautet: Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken betrachten es als wichtiges Ziel ihrer Politik, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung zu erreichen. Das wollen wir doch auch. Da gibt es also doch wohl auch keine Meinungsverschiedenheit. ({8}) - Ich spreche jetzt einmal von dem Vertrag. ({9}) Gegen den Art. 1 Abs. 1, Herr Stücklen, haben Sie bestimmt nichts. Nun kommt der Abs. 2. Ich kann Ihnen sagen, daß Herr Außenminister Scheel da ganz verdienstvoll verhandelt hat. Sie, Herr Schröder, haben zwar gemeint, man hätte Sie nur als Statist eingeladen. Wenn damit unterschwellig von Ihnen gemeint sein sollte, ich sei da nur als Statist gewesen und mein Freund Karl Wienand ebenfalls, so muß ich Ihnen ehrlich sagen: Bei dem Selbstbewußtsein der Siegerländer gelingt es Ihnen nicht, mich mit Komplexen zu versehen. ({10}) Ich bin ein freier Abgeordneter, war in Moskau frei und habe dort meine Meinung gesagt. Hier und da hat man sogar meinen Rat angenommen, habe ich das Gefühl. ({11}) Sehen Sie, dieser zweite Absatz lautet so: Sie bekunden ihr Bestreben, die Normalisierung der Lage in Europa und die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten zu fördern, und gehen dabei von der in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage aus. Nun sind Sie, Herr Kollege Schröder - wir sind ja alte Juristen - mit den Gesetzen der Logik wohlvertraut und werden mir sicher zustimmen, wenn ich Ihnen sage: Wenn man die Normalisierung der Lage in Europa fördern will und dabei von der bestehenden Lage ausgeht, dann folgt daraus, daß die Vertragspartner der Auffassung sind, daß die bestehende Lage in der Tat nicht sehr normal ist, ({12}) und das ist sie auch nicht. Sie ist schizophren, sie ist unfriedlich, und sie muß normalisiert und verbessert werden, und dafür sind beide Vertragsparteien. ({13}) Damit hätte ich also, wie ich meine, den ersten Artikel über die Bühne gerollt. Nun kommt also der zweite Artikel. ({14}) -- Das dauert gar nicht mehr lange, Herr Stücklen. Der Art. 2 sagt also - ich will es jetzt sogar ein bißchen verkürzen -, daß sich die beiden Staaten unter keinen Umständen mit Gewalt bedrohen wollen und auch nicht Gewalt anwenden wollen. Das ist von einer absoluten Klarheit. Als Jurist schließlich habe ich neulich mein 25jähriges Jubiläum als Anwalt gefeiert, Herr Stücklen - verstehe ich ein bißchen was davon. Außerdem gibt es noch eine Erklärung von Herrn Gromyko. In Zukunft ist also hier der Gewaltverzicht, und zwar in vollem Umfang, ausgesprochen. Davon beißt keine Maus einen Faden ab. ({15}) Das, Herr Stücklen, wollen Sie ja auch. Das wollte auch die Regierung Kiesinger. Das ist also nun erreicht. Wissen Sie, als die Regierung Kiesinger/ Brandt das damals den Russen vorschlug, da waren diese nicht ohne weiteres bereit, dies in dieser Form zuzugestehen, sondern da haben sie Noten geschickt, auf die ich jetzt im Interesse der guten Beziehungen nicht mehr eingehen will. Nun aber steht das klar im Vertrag drin: ausschließlich friedliche Mittel. Der Gewaltverzicht ist klar und total. ({16}) - Das ist ganz genau so einfach, wie ich es Ihnen vortrage. ({17}) Nun kommt der Art. 3. Da war ich bei den Verhandlungen ein bißchen dabei. Ich nehme nicht an, daß ich da Geheimnisse verrate, Der Art. 3 enthält einen ersten Satz, um den sogar ein bißchen gekämpft worden ist. ({18}) Aber er steht ja nun da. Da heißt es: „In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzipien", nämlich mit dem vorstehenden Prinzip, daß man keine Gewalt anwenden will und sich auch nicht mit Gewalt bedrohen will. Dieses Prinzip soll auch in bezug auf die Grenzen gelten. Ja, das leuchtet mir nun wieder ein. ({19}) Denn wenn ich bei Grenzen Gewalt anwende, dann ist das doch wesentlich gefährlicher, als wenn ich sonstwo Gewalt anwende. Also, in Anwendung dieses Gewaltverzichts erklären nun die beiden Mächte, daß die Grenzen nicht angetastet werden sollen, - mit Gewalt. Das ist die logisch zwingende Folge aus diesem Eingangssatz, den wir da nach langen Verhandlungen hineingenommen haben. Das ist dadurch gewährleistet. Nun, sehen Sie, Verhandlungen unter Fachleuten und Diplomaten führen manchmal zu nicht ganz einfachen Ergebnissen, sondern sind manchmal ein bißchen kompliziert. Und nun mache ich Sie darauf aufmerksam, daß unter diesem ersten Obersatz drei Gedankenstriche stehen. Das, was auf diese Gedankenstriche folgt, ist in Übereinkunft von den Verhandelnden dazu ausersehen worden, Unterfälle dieses vorderen Satzes zu beschreiben. Art. 3 ist also ein Anwendungsfall des Art. 2, mithin ein Anwendungsfall des Satzes, daß man auf Gewalt verzichtet. Und dann wird in Art. 3 als Anwendungsfall eben besonders herausgestellt, daß die Grenzen nicht mit Gewalt angetastet werden. Nun bestand das Bedürfnis, auch zu sagen, welche Grenzen. Denn Sie müssen ja wissen, daß die Positionen vorher anders waren. Es hat doch eine Zeit gegeben, wo der Partner auf unseren Vorschlag gesagt hat: Was heißt hier Gewaltverzicht? Das haben wir ja gar nicht nötig; das wollen wir auch gar nicht. Wenn ihr das aber wollt, dann müßt ihr erst einmal alles anerkennen und auf alles mögliche verzichten. ({20}) Und sehen Sie, eben das haben wir nicht getan, damit das klar ist! ({21}) Nun kommt noch der Art. 4 hinzu, und hier, Herr Kollege Schröder, appelliere ich wieder an Ihren juristischen Sachverstand und darf Ihnen noch ergänzend dazu mitteilen, daß bei der Abfassung des Art. 4 in ganz besonderer Weise an die Pariser Verträge gedacht und über sie gesprochen wurde, und zwar in erster Linie über Art. 7 des Vertrages zwischen uns und den drei Westmächten. - Art. 4 des Moskauer Vertrages lautet: Dieser Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen. Da haben wir also in erster Linie an diesen Pariser Vertrag, unseren Vertrag mit den Westmächten, gedacht, und zwar, wie gesagt, an Art. 7, dessen erster Satz so lautet: Die Unterzeichnerstaaten - also die Vereinigten Staaten, England, Frankreich und wir sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Und ich darf Ihnen ganz ehrlich sagen: auf dem Standpunkt dieses Artikels stehe ich noch heute. ({22}) Ich bin darüber erfreut, daß sich die Westmächte hier dazu verpflichtet haben, mit uns einen Friedensvertrag zu schließen, der frei ausgehandelt werden soll und der den Frieden dauerhaft sichert. ({23}) Nun wissen Sie, ein Frieden wird nicht dauerhaft gesichert, wenn man einen Vertrag schließt unter dem Motto: du hast den Krieg verloren, also mußt du ... - Vielmehr muß man den Friedensvertrag unter dieser Fragestellung aushandeln: wie muß der Friede aussehen, damit er im Interesse aller Beteiligten auf die Dauer gesichert ist? ({24}) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?

Dr. Ernst Achenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000002, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Würden Sie mich das eben zu Ende bringen lassen? Die Frage kann gern gleich oder am Schluß gestellt werden. Dies wollen wir also nach wie vor. Nun kommt der weitere wichtige Satz hinzu: Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß. Und, meine Damen und Herren, das ist geschehen! ({0}) Es liegt also ein Modus vivendi vor. So, Herr Kollege Schröder, nun habe ich Ihnen auf Grund meiner jetzt nicht politischen, sondern juristischen Erkenntnisse, die ich früher - wie Sie - hier auf der Universität Bonn und sonstwo erworben habe, dargestellt, wie dieser Vertrag auszulegen ist. ({1}) Und ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, diese Auslegung ist richtig, ({2}) und bei dieser Auslegung verstehe ich überhaupt nicht, wie jemand sagen kann, wir hätten auch nur das Geringste verschenkt oder auf das Geringste verzichtet. Das ist eben nicht der Fall! ({3}) Ich werde Ihnen sogar sagen, Herr Kollege Schröder, daß ich in Diskussionen in Moskau gelegentlich gemeint habe: Wissen Sie, eigentlich muß ich ja sagen, seit Beendigung der Feindseligkeiten sind 25 Jahre ins Land gegangen, und wir haben immer noch keinen Friedensvertrag geschlossen. Das wird doch nun verdammt Zeit. Wir könnten uns ja auch überlegen, ob wir nicht schon anfangen sollten, über einen richtigen Friedensvertrag zu sprechen. Aber vielleicht ist es richtig, nachdem man sich 25 Jahre lang wechselseitig nur beschimpft hat - die einen sagten, das sind nichts anderes als bösartige Weltrevolutionäre, und die anderen sagten, das sind nichts anderes als bösartige monopolistische Kapitalisten -, daß man zunächst eine erste Etappe, einen solchen Modus vivendi braucht, um eine Grundlage zu bekommen, um vernünftig miteinander reden zu können. Und darum geht es allein, Herr Schröder! Sie zitieren auch jenes Wort, daß den Verbündeten nicht mehr einfällt als den Deutschen selbst. Ich glaube, Herr Schröder, das habe ich selbst vor zehn Jahren erfunden. Ich habe damals im Auswärtigen Ausschuß - ich habe die Ehre, ihm seit 1957 anzugehören - der Bundesregierung gesagt, daß es jetzt diesen Art. 7 gibt. Nun, meine ich, müssen wir uns selbst etwas einfallen lassen, was die deutsche Sache weiterbringt, und müssen davon unsere Verbündeten überzeugen und natürlich gleichzeitig auch ihren Interessen Rechnung tragen. ({4}) Man soll sich nicht selbst zitieren - ich zitiere überhaupt nicht gerne -, ({5}) aber diesmal will ich es doch tun. Ich habe im Jahre 1959 gerade dazu etwas gesagt, und ich meine, es paßt sehr gut auf die heutige Zeit. Es handelte sich damals um eine Große Anfrage der Freien Demokraten an die Regierung. Da waren Sie noch nicht Außenminister, Herr Schröder; das war noch der Herr von Brentano. Ich habe damals gesagt: für Sie, die Christlichen Demokraten, wie für uns, die Freien Demokraten, ist das Bündnis mit den angelsächsischen Staaten ebenso wie das mit Frankreich der Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik. Das trifft heute noch zu. Das wird auch, wie ich annehme, nach wie vor vom ganzen Hause unterstrichen. ({6}) Wir wollen dieses Bündnis fortsetzen. Im übrigen können wir das auch, denn ich entsinne mich, mit eigenen Ohren gehört zu haben, daß Herr Gromyko vernünftiger- und klugerweise sagte, als es um eine Wende in den Beziehungen ging: Aber selbstverständlich wollen wir Sie nicht Ihren Freunden abspenstig machen, ({7}) und wir hoffen, daß Sie uns unsere Freunde auch nicht abspenstig machen. ({8}) - Lachen Sie nicht so! Es ist in der Politik sehr wichtig, daß man die Partner zunächst einmal beim Wort nimmt. ({9}) Und ich habe damals weiter gesagt: Das bedeutet, daß wir verpflichtet sind, für außenpolitische Initiativen, die wir im Interesse unseres Landes für richtig halten, unter Einsatz all unserer Überzeugungskraft das Verständnis und die Zustimmung unserer großen Verbündeten zu erlangen, und daß wir in der Tat, Herr Bundesaußenminister, - das war Herr von Brentano bei allem, was wir tun, auch die berechtigten Interessen unserer Verbündeten berücksichtigen müssen. Ich habe dann noch hinzugefügt: Was wir hier klar und unmißverständlich für uns aussprechen, gilt umgekehrt aber ebenso für die Politik unserer Verbündeten im Verhältnis zu uns. In dem großen westlichen Verteidigungsbündnis freier und gleicher Staaten müssen auch unsere Verbündeten bei der Ausarbeitung der gemeinsamen Außenpolitik der Allianz die Lebensinteressen des deutschen Volkes berücksichtigen, und so wie wir für ihre, müssen sie für unsere Belange eintreten. Das erfordert die Achtung vor dem gegebenen Wort, die Ehre und das wohlverstandene nationale Interesse jedes Bündnispartners. Wenn Herr von Weizsäcker eben plötzlich gemeint hat, Herr Pompidou würde nicht mehr dafür eintreten, muß ich den eigentlich in Schutz nehmen. Ich habe keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Franzosen zu diesem Vertrag stehen ({10}) und daß sie im Rahmen des Bündnisses auch zu ihrem Wort stehen, für unsere Belange einzutreten. Dann habe ich, an den Bundeskanzler gewandt, etwas gesagt, das im Grunde der Kern ist, Herr Schröder: Nun, Herr Bundeskanzler, bei Fortdauer des kalten Krieges, in dem die Sowjets in den Amerikanern ausschließlich angriffslüsterne Monopolkapitalisten, die Amerikaner die Sowjets ausschließlich als angriffslüsterne Weltrevolutionäre sahen, konnte das Lebensinteresse des deutschen Volkes, die Überwindung seiner Spaltung, von unseren westlichen Bündnispartnern begreiflicherweise nicht genügend wahrgenommen werden, weil der kalte Krieg par excellence der Zustand ist, der den Status quo wiederum begreiflicherweise immer fester zementiert, weil das alles überschattende Mißtrauen jede Seite veranlaßt, fest auf den innegehabten Positionen zu verharren und keine Veränderungen zuzulassen, aus Furcht, sie könnten die Positionen der einen Seite auf Kosten der anderen verbessern. Das ist doch selbstverständlich so. Wenn man aber aus diesem Circulus vitiosus herauskommen will, muß man schon ein bißchen Mumm haben und wenigstens miteinander sprechen wollen. Herr Schröder, etwas hat mich betroffen gemacht. Sie haben in der „Zeit" einen großen Artikel geschrieben, im Ton sehr nett und klug, wie Sie ja sind. Dem, was Sie dort unter Ziffer IX sagen, kann ich aber gar nicht folgen. Es heißt dort im letzten Absatz: So ist das Nein zu den Verträgen nicht nur eine außenpolitische Aussage, sondern es unterstreicht auch eine notwendige innenpolitische Haltung. Ich weiß, daß dieser letztgenannte Gesichtspunkt in der bisherigen Debatte zu kurz gekommen ist. Es wäre aber schädlich, die Zusammenhänge nicht deutlich und plastisch zu sehen. ({11}) Herr Schröder, wir haben uns gemeinsam gegen diese etwas miesen Versuche - ich sage es so, denn ich bin ja ein freier Abgeordneter - des Herrn Honecker gewandt, sich abzukapseln. Aber besteht nicht der Verdacht, daß Sie dazu neigen, daß wir uns abkapseln? Das sollten wir nicht tun. ({12}) Darum ging es ja immer in der Diskussion zwischen uns in den ganzen Jahren. Ich bestreite nicht die Legitimität der Überlegung, ob der Zeitpunkt richtig oder falsch ist. Ich stelle nur fest, daß Sie in all den langen Jahren immer der Meinung waren, der Zeitpunkt sei noch nicht gekommen oder er sei falsch. ({13}) Darüber können wir ja sehr freundschaftlich verschiedener Meinung sein. Wir sind eben der Meinung, daß der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wenn eine Weltmacht auf uns zukommt und sagt: Wir möchten ganz gern eine Wende in den Beziehungen, ({14}) und wenn sie gewillt ist, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem wir sage und schreibe überhaupt nichts aufgeben. Und von dieser Interpretation her, von der berechtigten Aussage her, daß man den Vertrag nicht anders interpretieren soll, wenn man nicht den deutschen Interessen schaden will ({15}) - daß meine Interpretation juristisch einwandfrei ist, wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten - Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg?

Dr. Ernst Achenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000002, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schulze-Vorberg, lassen Sie mich zu Ende reden; nachher gern. Ich bin gerade gut im Zug! Auf der Basis dieser Interpretation des Moskauer Vertrages und nach der Lektüre des Textes - die Leute draußen müssen ja auch wissen, worum es geht, und bisher wußten sie es gar nicht so genau; ({0}) sie hatten zwar den Text früher einmal in der Zeitung gelesen, aber Zeitungen pflegt man ja nicht aufzuheben, und man hat sie auch nicht ständig vor sich liegen - frage ich mich nun, ob diese Kategorie der Befürchtungen, die Sie aussprechen, richtig ist. Was die Befürchtung angeht, daß unsere westlichen Verbündeten nicht mehr zum Vertrag stehen, so muß ich die westlichen Verbündeten in Schutz nehmen. ({1}) Wenn dem so wäre, taugte das ganze Bündnis nichts. Wir stehen treu zum Bündnis - das haben wir auch immer gesagt -; infolgedessen stehen die anderen auch treu dazu. Sonst hat die ganze Sache doch keinen Sinn. Es geht doch in erster Linie um folgendes. In diesem Vertrag haben wir das Versprechen der Westmächte in bezug auf einen frei ausgehandelten Friedensvertrag. Vom Osten hatten wir das bisher noch nicht, vielleicht auch ein ganz kleines bißchen aus eigener Schuld, denn wir sind ja auf die Vorschläge, die von östlicher Seite gemacht wurden, nicht echt eingegangen, weil wir meinten, der richtige Moment wäre noch nicht gekommen. Jetzt haben wir nichts anderes als einen Modus vivendi. Aber eines möchte ich ganz klar sagen - auch im Hinblick auf das, was Herr von Weizsäcker sagt -: ich bin der festen Überzeugung, daß diese Regierung, die ich unterstütze - für mich kann ich das ganz verbindlich sagen, aber für die anderen sicher auch; das wird mir Walter Scheel bestimmt bestätigen -, selbstverständlich für die staatliche Einheit Deutschlands ist. Ich habe den Kollegen in Moskau unwidersprochen sagen können, ({2}) daß, wenn wir schon von Realitäten sprächen, sie ja wohl zugeben müßten, daß die Deutschen ihr Land nicht selber gespalten hätten, sondern daß andere das für sie besorgt hätten; ({3}) und nun seien wir zwar keine Weltmacht, auch nicht eine Großmacht, aber wir hätten doch ein bißchen Selbstachtung, und das gefalle uns nicht, deshalb wollten wir die deutsche Einheit wieder haben und mit ihnen darüber sprechen. Deshalb hat Walter Scheel auch diesen Brief geschrieben, und sie haben ihn akzeptiert. ({4}) Nun wären wir alle gut beraten - das sage ich Ihnen in der heutigen Zeit -, ({5}) wenn wir diesen Modus vivendi nicht ansähen als etwas, was für zehn, zwanzig Jahre dauern soll, - nein, das soll die Grundlage schaffen, um auf ihr von diesem Modus vivendi aus zu einem frei ausgehandelten Friedensvertrag zu kommen, der die Zukunft Europas auf Dauer sichert. Das ist das Ziel, das ich jedenfalls vertrete. Ich hoffe, daß da die meisten Leute derselben Meinung sind. Ich bin überzeugt, Walter Scheel vertritt dieses Ziel auch. So, nun habe ich das Gefühl, ich rede schon ein bißchen arg lang. ({6}) - Daß Sie der Meinung sind, ist ja klar. - Der Kollege Strauß spricht doch fließend Latein, soweit ich weiß. Er wird sich erinnern - er hat es sicher einigen Kindern beigebracht; ich nehme es an, Herr Kollege Strauß -, da gibt es den berühmten Satz: „Dum spiro spero" - „Solange ich atme, hoffe ich." ({7}) Das schließt nicht aus, daß ich gleichzeitig sehr wachsam bin. ({8}) Nun gibt es zwei Haltungen. Der eine sagt: „Solange ich atme, hoffe ich, bin aber dabei wachsam, damit ich nicht betuppt werde", und der andere sagt: „Solange ich atme, habe ich Befürchtungen" - auch wenn es staatsmännische sind. ({9}) Da muß man nun die Wahl treffen. Ich sage Ihnen ehrlich: ich bin dafür, es bei dem alten lateinischen Satz zu belassen und, was die Befürchtungen angeht, sie natürlich sehr wachsam zu prüfen, aber erstens sie nicht zu beschreien und zweitens genau aufzupassen. Lassen Sie mich deshalb jetzt schließen, weil ich auch müde werde, ehrlich gesagt; denn ich gehöre ja, wie Sie wisen, mit Ihnen, Herr Schröder, zu der Minderheit in diesem Hause, die älter als 60 Jahre ist. Ein beklagenswerter Zustand! ({10}) Deshalb hat es mich so gefreut, daß Sie gestern einen solchen Beifall bekamen; denn in unserem Alter freut man sich, wenn die Leute nett zu einem sind. ({11}) Zum Schluß möchte ich aber noch begründen, warum ich für diesen Satz bin, daß man hoffen soll und hoffen muß und beharrlich sein muß wie Wilhelm der Schweiger, der ja aus den Siegerländer Wäldern kommt. Ich habe einmal von diesem Platz aus - da haben Sie ein bißchen gelacht, das ist ja schon zehn Jahre her, ich hoffe, Sie lachen heute nicht den schönen Vers zitiert, der lautet: Drum mutig drein und nimmer bleich, denn Gott ist allenthalben, die Freiheit und das Himmelreich gewinnen keine Halben. So ist es. ({12}) Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, Sie haben eben Ihrem Fraktionskollegen glückwünschend die Hand geschüttelt. ({0}) - Hier, als Herr Achenbach eben dieses Pult verließ. Aber ich glaube, Herr Kollege Achenbach, ich muß sagen, daß ich bei den vielen hundert Diskussionen über dieses so ernste und uns alle so bedrückende Thema selten eine Rede gehört habe, ({1}) die sich auszeichnete durch ein so hohes Maß an Leichtfertigkeit und - entschuldigen Sie bitte - ({2}) Was Herr Kollege Achenbach hier zu weiten Teilen - indem er den Text, wie er sagte, interpretierte - vorgetragen hat, läßt mich erst begreifen, warum der Text dieses Vertrages so ist, wie er ist, wenn er in Moskau beraten hat. ({3}) Herr Kollege Achenbach, man könnte hinzufügen: Vielleicht bekommen Sie dann auch noch einige Nachweise dafür, daß die abendliche Lachstunde in der sowjetischen Botschaft um zweieinhalb Minuten verlängert wird. Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU hat am 14. Oktober des vergangenen Jahres ihre Große Anfrage zur Deutschland- und Außenpolitik eingebracht. Sie sagte dort in der Begründung: Die Außenpolitik der Bundesregierung, insbesondere die Verträge von Moskau und Warschab und die Krimreise des Bundeskanzlers haben erhebliche Unklarheiten hervorgerufen und Anlaß zu schwerwiegenden Bedenken gegeben. Unsere Befürchtungen und Sorgen haben sich seither nicht verringert, im Gegenteil, sie sind -- im Zusammenhang mit den vielen zusätzlich abgegebenen Erklärungen, Erläuterungen und Interpretationen - gewachsen; sie haben sich erhärtet. Wer einmal genau nachliest, was auch in dieser Debatte hier von seiten der Regierung gesagt worden ist, dem wird deutlich, wie sehr sich die Widersprüche potenzieren, und zwar einmal die Widersprüche von der Regierung selbst und zum anderen dort, wo sie die Texte erläutert und wo ihre kommunistischen Partner die gleichen Texte und die gleichen Begriffe ganz anders erläutern. Unser erster Vorwurf an den Bundeskanzler - er is nicht da, doch soll diese Rede eine Auseinandersetzung mit ihm und seiner Politik sein - ist, daß er die Kontinuität der deutschen Politik durchbrochen hat, daß seine Behauptung von den „beiden Staaten auf deutschem Boden" die bisherige Deutschlandpolitik, die bisherige Ostpolitik aus den Angeln gehoben hat. ({4}) Damals ist mit der Regierungserklärung am 28. Oktober die Wende der deutschen Politik markiert worden. Seither läuft der Kurs unserer Politik in eine andere Richtung. Der Bundeskanzler sagt, sie laufe auf den Frieden zu. Ich antworte: der Kurs der deutschen Politik läuft seit Ende des zweiten Weltkrieges auf Frieden und Freiheit zu. ({5}) - Sie, Herr Bundeskanzler, sagen, es sei Ihr Wunsch, so wie es Adenauer im Westen gelungen ist, jetzt mit dem Osten Ausgleich zu finden. Da antworten wir: dies ist unser gemeinsamer Wille. Aber Ausgleich setzt voraus, daß beide Seiten ausgleichen wollen, daß beide Seiten aufeinander zugehen wollen. Seit 1969 hat allerdings diese Bundesregierung begonnen, jene sowjetischen Forderungen Stück um Stück zu akzeptieren, durch die die Sowjetunion ihre Art von Frieden ansteuert. Ausgleich mit den Staaten des Ostens ist möglich - davon sind wir überzeugt -, wenn zwischen ihnen und uns auf der Basis der Menschenrechte - ich wiederhole: auf der Basis der Menschenrechte - Vereinbarungen getroffen werden, bei denen Dauerhaftigkeit und friedliches Zusammenwirken die notwendig zu leistenden Opfer bald vergessen machen. Dr. Marx ({6}) Noch zur Zeit der Großen Koalition hat die Sowjetunion unsere auf Selbstbestimmung, Freiheit und Wiedervereinigung ausgerichtete friedliche Politik wider besseres Wissen als „aggressiv" bezeichnet. Der Bundeskanzler rühmt sich heute, daß solche Diffamierungen seit seiner Moskauer Unterschrift weggefallen seien. Wir müssen ihn fragen, ob er bedacht hat: Warum wohl? Die kommunistischen Partner haben die Verträge als einen Sieg der konsequenten Politik des sozialistischen Lagers bezeichnet. Sie haben darüber gespottet, daß man, wie sie sagen, „an den Ufern des Rheins" begonnen habe, „realistisch" zu sein, daß man die „aggressive" Forderung - die „aggressive" Forderung! - nach Selbstbestimmung, Freiheit, Menschenrecht und Wiedervereinigung aufgegeben habe. So versteht man in der Sowjetunion die Verträge, und ich bedaure, daß der Bundeskanzler gestern in seiner Erklärung einen Satz - neben anderen, aber diesen zitiere ich - vorgetragen hat, der diese Interpretation zu stützen scheint. Er sagte nämlich: Unser friedliches Streben nach deutscher Einheit und europäischer Einigung wird durch diese Verträge dem Vorwurf der Friedensstörung entzogen. Mit anderen Worten: man glaubt nicht, daß wir alle von einem Streben nach Frieden und Freiheit erfüllt sind, sondern man nimmt an, daß man Verträge dieser Art braucht, damit die andere Seite gnädig bereit ist, uns zu glauben. ({7}) Meine Damen und Herren, wir sagen Ihnen, was Zeitwahl, Ansatz und Durchführung dieser Art von Ostpolitik anlangt, daß sie auf einer verfehlten Einschätzung des Gegners beruht, daß sie leichtfertig, daß sie abenteuerlich ist und daher von uns als unverantwortlich angesehen wird. ({8}) Wir sagen, daß damit die Erfüllung der sowjetischen Wünsche, ihre Hegemonie über Europa zu stärken, erleichtert wird, und wir sehen auch die ersten Auswirkungen, nämlich Angst, Unsicherheit und enorm gesteigerte kommunistische Aktivität im eigenen Land. ({9}) Deshalb bekämpfen wir diese Politik. Ich füge hinzu: wir sind auch mißtrauisch, weil die Bundesregierung draußen und drinnen zu vielen Vorgängen, die diese Politik begleiten, nicht immer die Wahrheit gesagt hat. ({10}) Wir sind mißtrauisch, Herr Bundesaußenminister - ich spreche Sie jetzt einmal stellvertretend für die ganze Regierung an -, weil für Sie oft das heute Gesagte schon morgen nicht mehr gilt und weil Sie mit einem ärgerlichen Schulterzucken das abtun, was Sie gestern noch feierlich in Ihren eigenen Festreden verkündet haben. ({11}) Des Bundeskanzlers Emissär wurde nach Moskau geschickt, ohne daß er eingehende, klare Weisungen des verantwortlichen Kabinetts ({12}) über den Inhalt seiner Gespräche und Verhandlungen erhalten hatte. Jedenfalls ist diesem Hause, seinen Ausschüssen und der Bevölkerung dieses Landes nichts davon gesagt worden. ({13}) Die Experten des Auswärtigen Amtes waren weder gefragt noch unterrichtet, ja sogar die Mitglieder Ihres Kabinetts, Herr Bundeskanzler, wußten oft nur schemenhaft, was in ihrem eigenen Namen in Moskau diskutiert wurde. ({14}) - Es mag sein, Herr Barzel, daß es einige bis heute nicht wissen, und ich habe auch aus der Interpretationsrede des Kollegen Achenbach - wenn ich das mit einem etwas lustigen Unterton sagen darf - den Eindruck gewonnen, daß auch einer, der in Moskau dabei war, nicht genau weiß, was dort ausgehandelt worden ist. ({15}) Als dann jener Vertragsentwurf ans Tageslicht kam, den man Bahr-Papier zu nennen sich angewöhnt hat, war es für substantielle Änderungen zu spät. Die sowjetische Konzeption hatte sich durchgesetzt. Die Möglichkeiten für Sie, Herr Außenminister - geben Sie es doch zu -, waren gering, Ihr Spielraum war allzu eng. Aber das entsprach und entspricht auch heute noch den wahren Machtverhältnissen in dieser Regierung, wo der Staatssekretär des Kanzleramts, einzig gestützt auf das Vertrauen seines Bundeskanzlers, die Dinge fertig macht und der Außenminister nur noch zu einer gewissen kosmetischen Behandlung aufgerufen wird. ({16}) Es ist auch ein einmaliger Vorgang in der modernen Diplomatie, daß derjenige, der eine so weittragende und verschlungene Politik erfunden und erdacht hat, über diese Politik als Diplomat selbst verhandelt. Die notwendige Distanz zwischen der politischen Zentrale und dem Unterhändler gibt es nicht mehr. Egon Bahr war alles in einer Person. ({17}) Er war bei seiner und bei dieser Regierung politischen Existenz dazu verdammt, das, was diese Regierung „Erfolg" nennt, zu haben, ein Ergebnis auszuhandeln, und zwar rasch. ({18}) - Ich merke, daß es einigen, die dazwischenrufen, nicht paßt, daß man einmal die Methode, die hier angewandt wurde, öffentlich und deutlich darlegt. Aber daran kann uns niemand hindern. ({19}) Dr. Marx ({20}) Meine Damen und Herren, hören Sie bitte genau zu! Ich sage: da Egon Bahr dieses undurchsichtige Spiel selbst konzipiert hat, konnte er, als es abgeschlossen war, seine Absichten dem schließlich erreichten Ergebnis anpassen. Er hüllte sich bei den Gesprächen in Moskau und auch hier in den Mantel des Geheimnisträgers, so, als ob es nicht um die wichtigsten, um die vitalsten Dinge unseres Volkes ginge. Ich füge hinzu, daß man in den Zentralkomitees kommunistischer Parteien, ja, sogar in der Deutschen Kommunistischen Partei, alsbald besser über Egon Bahrs Geheimgespräche Bescheid wußte als bei den demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages. ({21}) Dies kann niemand bestreiten, meine Damen und Herren. Dies weiß auch die Regierung, und sie soll wissen, daß wir dies mit ihr als eine unerhöhrte Zumutung und Peinlichkeit empfinden. ({22}) Die Vertreter der Regierung gaben einen ganzen Schwall von halbwahren und unwahren Erläuterungen zu Inhalt und Bedeutung des Bahr-Papiers. Sie nannten es einmal Gedankenskizze, mal Gesprächsnotiz, mal Protokollnotiz, mal Ergebnisprotokoll, mal Leitsätze, und sie sagten der Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag - ich zitiere Sie, Herr Bundesaußenminister -, daß es „auf gar keinen Fall Grundlage von vertraglichen Vereinbarungen" sein könne. So Walter Scheel am 2. Juli 1970 im ZDF. ({23}) Und doch, meine Damen und Herren, das Bahr-Papier war nichts anderes, es ist nichts anderes als der Abklatsch jenes Gromyko-Papiers, das - Herr Bundesaußenminister, das werden Sie nicht bestreiten können; wenn Sie es wollen, sagen Sie es diesem Hause - im März 1970 durch Gromyko in die Verhandlungen eingeführt wurde, und zwar als deren Version der vorhergehenden Besprechung. Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Looft?

Uwe Looft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001373, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Abgeordneter, ich erlaube mir eine Frage. Hat nicht der FDP-Bundesvorsitzende und jetzige Bundesaußenminister Scheel gestern erklärt, daß auf Grund der Verträge von der Bundesrepublik für die Dauer ihrer Existenz das Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie als polnisches Staatsgebiet anzusehen sei, und hat er nicht gleichzeitig erklärt, daß nur ein gesamtdeutscher Souverän frei sei, erneut über die Ostgrenzen zu sprechen und friedensvertragliche Regelungen darüber zu treffen? Werden nicht durch die Verträge und durch die angeführten Erklärungen des deutschen Außenministers die Sowjetunion und Polen geradezu veranlaßt, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes des gesamtdeutschen Souveräns entgegenzuwirken und beides auf alle Zeiten zu verhindern?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Looft, ich glaube, daß das, was Sie in Ihrer Frage ausdrücken, mit Ja beantwortet werden kann. Das hat auch gestern schon hier in der Diskussion eine Rolle gespielt. Es ist auch ganz schlüssig. Wenn ich z. B. sage ({0}) - ich gebe jetzt Antwort auf eine Frage -, daß diese Regierung und jede andere Bundesregierung hinsichtlich einer Feststellung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze gebunden seien und daß dies erst verändert wird, wenn wir einen gesamtdeutschen Souverän haben, dann möchte ich denjenigen Polen sehen, der daraus für sich noch das Politische vernünftig, gerecht ableitet, er solle dafür sorgen, daß es diesen gesamtdeutschen Souverän gibt. ({1}) - Verzeihung, ich würde gern weitermachen, da die Zeit eilt. Meine Damen und Herren, ich benutze die Gelegenheit gern, mich zu wiederholen, und ich hoffe sehr, daß das in Ihrem Gedächtnis bleibt. Ich sprach von dem Bahr-Papier und ich sage: aus dem Gromyko-Papier wurde das Bahr-Papier, aus dem Bahr-Papier wurde der deutsch-sowjetische Vertrag und die Absichtserklärungen. Dieser Vertrag trägt also die Handschrift der anderen Seite. Bis in den Wortlaut, bis in die einzelnen Halbsätze hinein finden wir - von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und von Ihnen, Herr Außenminister, paraphiert - viele jener Forderungen, die seit den Gipfelkonferenzen der kommunistischen Parteichefs in Bukarest 1966, in Karlsbad April 1967 und dann -- nach der heimtückischen Okkupation der CSSR - im Frühjahr 1969 in Budapest als Forderungen an die Bundesrepublik Deutschland formuliert worden sind. Die Bundesregierung, jedenfalls in ihr diejenigen, die den Text kannten, hatten damals, als diese Erklärungen im Ostblock vorgetragen wurden, gesagt, dies sei alles nicht akzeptabel. Jetzt ist es akzeptiert, und die gleichen Leute nennen es einen Erfolg. Ich muß auch sagen - ich wende mich wieder an den Bundeskanzler -, daß mit enormen Steuergeldern viele hundert Tonnen Papier bedruckt worden sind, um dem deutschen Volk die Erfolge von Moskau zu verkaufen. Aber die Schönschreiber der Bundesregierung haben an der harten Wahrheit vor-beigeschrieben. Ihr und Ihrer Abgesandten „großer Erfolg" bestand nämlich darin, die geforderten politischen Gebühren der anderen Seite Stück um Stück zahlen zu müssen. Dafür trägt die Bundesregierung die alleinige Verantwortung. Natürlich haben wir immer wieder gehört, daß die Regierung sagt, der Vertrag sei ausgewogen, beide Seiten hätten gegeben. Aber diese Regierung hat bei sehr vielem Wortgeklingel immer unpräzise auf die Frage geantwortet, was die Sowjets nun eigentlich an substantiellen Leistungen in dem deutsch-sowjetischen Vertrag erbracht hätten. Ich sage Ihnen: Ich stelle diese Frage hier erneut, und wir hoffen, daß die Regierung antwortet, aber nicht Dr. Marx ({2}) wie im Bundesrat, wo Sie, Herr Außenminister, die einzelnen, ganz hochgeschraubten, extremen sowjetischen Forderungen genannt haben. Es ist nicht Politik, damit zufrieden zu sein, daß ein anderer seine hochgeschraubten Forderungen ein wenig mäßigt, und sich dann vor den Bundestag zu stellen und zu sagen: Seht her, das ist unser Erfolg! ({3}) Es gibt trotz der hilflosen Gebärde - vielleicht kann ich Ihnen aufhelfen, Herr Außenminister - eine Fülle von Widersprüchen, die Sie produziert haben. So sagt z. B. der Bundeskanzler, er betreibe eine Politik der Kontinuität. Herr Schröder hat gestern aber im einzelnen gesagt, was dazu auszuführen notwendig war. Aber Sie selbst verwenden doch gern die Formel von der Sackgasse. Was denn nun? Einigen Sie sich doch in der Regierung! Kontinuität oder Sackgasse? Das müssen Sie sagen, wenn Sie über uns urteilen. ({4}) Einerseits haben Ihre Propagandisten die Formel erfunden - ich sage: die Primitivformel -: 20 Jahre nichts getan! Andererseits urteilen Sie damit eine Politik ab, von der Sie heute sagen, sie sei die Basis Ihrer eigenen Ostpolitik. Einerseits verkünden Sie urbi et orbi, es gebe keinen Dissens, d. h. keinen Widerspruch, keine entgegengesetzte Auslegung in den wichtigsten Vertragsbestimmungen. Andererseits warnen Sie die Opposition, sie solle sich unter keinen Umständen die sowjetische oder polnische Interpretation zu eigen machen, weil das gegen die nationalen Belange verstoße. Also was denn? Gibt es den Dissens oder nicht? ({5}) Einerseits werden diejenigen als übelwollend verleumdet und diffamiert, die nach subtiler Lektüre der amtlichen sowjetischen Zeitungen fürchten, die Grenzfragen seien nicht mehr offen. Andererseits sagen Sie, Herr Außenminister - und zwar dann, Herr Kollege Scheel, wenn Sie so farbig die „großen Erfolge" Ihrer Westpolitik schildern -, im Westen gehe es nur deshalb voran, weil man keine ungelösten Grenzprobleme mehr habe. Ja, was denn nun? Gibt es jetzt noch offene Grenzen, oder sind das gelöste Grenzprobleme? Auch darauf erwarten wir eine Antwort. Einerseits verwenden Sie das bezeichnende Argument, es sei vor allem der Viermächtevorbehalt, der es uns unmöglich mache, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. Andererseits erklärt diese Regierung, sie erkenne trotz des Viermächtevorbehalts die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an. Auch hier wieder die Frage: was gilt eigentlich, was sind eigentlich die Prinzipien nach denen Sie diese Politik machen? ({6}) Man muß dem Bundeskanzler und denjenigen, die dafür Verantwortung tragen, sagen, daß sie die deutsche Politik auf die Schaukel gesetzt haben. Sie haben, Herr Bundeskanzler, nicht Adenauer, nicht Erhard, nicht Kiesinger fortgesetzt oder weiterentwickelt, sondern der Herr Bundeskanzler ist eher bei frühen eigenen politischen Einsichten und Bekundungen, die hier vorliegen, geblieben. Ich sage: eine gewisse politische, nicht besonders durchformte Ideologie, die aus Willy Brandts Artikeln und Büchern der 30er, ja sogar noch der 40er Jahre, spricht, kehrt heute wieder in seine Gedanken ein. Wer sich mit den voluminösen Büchern und Sammlungen beschäftigt, die in den letzten Monaten mit enormen Einsätzen staatlicher Gelder erschienen sind - wir hören gerade, daß ein neuer großer Geldeinsatz von weit über 1 Million DM dafür geleistet werden soll -, findet dort Gedanken, Interviews und Reden des Bundeskanzlers zusammengestellt. Lesen Sie das einmal nach, meine Damen und Herren! Es gibt da manch Erstaunliches, und Sie werden auch auf kaum Faßbares stoßen. Da gibt es z. B. Zitate, die gibt es gar nicht mehr. Dann gibt es andere, die lasen sich früher anders. Ich muß schon sagen, der spätere Historiker, nämlich diejenigen, die nach der Maxime des Leopold von Ranke, handeln, zu „erzählen, wie es gewesen ist", werden mit dem, was der Bundeskanzler wirklich in verschiedenen Zeiten gesagt hat und was er wirklich gemeint hat, ihre liebe Not haben. ({7}) Sie müssen jedenfalls die strenge Methode klassischer Quellenkritik anwenden. Ich sage das als einen Beitrag aus der Geschichtswissenschaft, da der Bundeskanzler uns gestern einen unvergeßlichen Beitrag aus der Disziplin der Germanistik hier vorgetragen hat. ({8}) Meine Damen und Herren, vielleicht wird mancher sagen, daß Opportunismus den Politiker auszeichne oder Wetterwendischkeit oder ganz einfach Schlauheit. Ich meinerseits wehre mich dagegen. ({9}) - Herr Matthöfer, vielleicht gilt das für Sie! Ich bin nicht entschieden; denken Sie darüber nach! Für mich und für viele auf allen Seiten dieses Hauses ist Politik nicht fingerfertige Anpassung an die Macht, nicht taktische Routine und nicht behendes Managertum. ({10}) Den wirklichen Politiker und den Staatsmann ({11}) zeichnet aus, Herr Eppler, die Fähigkeit, konsequent und in seinen Aussagen verläßlich zu sein. ({12}) Der Bundeskanzler hat einmal in einem Fernsehinterview erklärt - ich zitiere „Falls ich zum Bundeskanzler gewählt werden sollte, wird es auf dem Gebiete der Außenpolitik zu keinen grundsätzlichen Änderungen kommen." Zwei Jahre ist Willy Brandt Bundeskanzler, und wie sehr hat sich entgegen dieser Aussage die Szenerie der Außenpolitik gewandelt. ({13}) Dr. Marx ({14}) Manches, Herr Apel, auf das Sie heute stolz sind, haben Sie früher verabscheut. Manches, was Sie heute unterschreiben und uns, der Fraktion der CDU/CSU zu akzeptieren zumuten, ({15}) haben Sie selbst vor wenigen Jahren noch als verwerflich bezeichnet. ({16}) Meine Damen und Herren, ich erinnere aus der unerhörten Vielzahl von Zitaten, die es gibt, daran, daß der Bundeskanzler einmal in West-Berlin am 23. März 1962 auf die Frage einer Schülerin sagte: „Herr Gomulka hat im vergangenen Herbst der Errichtung der Mauer zugestimmt. Warum sollten wir ihm als Quittung dafür den Verzicht auf Ostdeutschland anbieten?" Der Bundeskanzler und Sie alle haben sich doch viele Jahre hindurch mit guten Gründen geweigert, auf die politischen Vorstellungen der Sowjets einzugehen. Als es hier um die Grundfragen ging, waren wir doch alle einig. Heute aber kommen Sie und sagen: Dies alles war eine sterile Politik. Sie weisen mit den Fingern auf uns und möchten gerne, daß Ihre eigenen Darlegungen von damals unter den Tisch fallen, daß nicht darüber geredet wird. ({17}) Meine Damen und Herren, das ist genauso wie bei denjenigen, die nach der Bundestagswahl den Eindruck erwecken, sie hätten vor den Bundestagswahlen immer schon das gleiche gesagt, was sie jetzt sagen, und sie hätten damals der Bevölkerung angekündigt, was sie jetzt tun. Die Sozialdemokraten und wir - es ist gestern schon einmal zitiert worden haben am 26. September 1968 hier in diesem Saale in einer Erklärung formuliert: Die Anerkennung des anderen Teils Deutschlands als ... zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht. Der Bundeskanzler selbst hat - vor welch lange zurückliegender Zeit, könnte man jetzt sagen, nämlich Anfang der 60er Jahre - gesagt -- wörtlich -: Wir müssen uns davor hüten, in der Bundesrepublik in Gedanken die Zweistaatentheorie zu vollziehen, die uns die Sowjets einreden wollen. ({18}) Nach der Wahl stellt der gleiche Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung - man muß auch hinzufügen: ohne Konsultierung der Verbündeten -- fest, es gebe zwei Staaten auf deutschem Boden. Im Kasseler Gespräch mit Willi Stoph ist das, was man die Souveränität der DDR nennt, bestätigt worden. Ebenso hat Egon Bahr dies in den ominösen Absichtserklärungen getan, und jeder, der den Moskauer Vertrag liest und darüber spricht, sollte natürlich --- das gilt auch für Herrn Achenbach - die Absichtserklärungen, die interessanterweise jetzt nicht mit vorgelegt worden sind, lesen. Dasselbe geschah noch einmal auf der Krim, wo man durch die Art und Weise der Einladung und durch die Befolgung der Einladung, in der Ortswahl und im Kommuniqué mit Leonid Breschnew deutlich machte, wie sehr sich dieses Land bereits im Sog sowjetischer Politik befindet. ({19}) Ich füge hinzu, daß sich da sehr deutlich dargestellt hat, Herr Apel, wie sehr diese Ostpolitik zu einem Instrument der sowjetischen Westpolitik geworden ist. ({20}) Herr Bundesaußenminister, vor der Bundestagswahl exakt - ({21}) Der Bundesaußenminister zuckt mit den Schultern. Ich komme auf das Schulterzucken noch zurück. ({22}) Im übrigen kenne ich eigentlich nicht Zwischenrufe von der Regierungsbank, normalerweise erfolgt es aus dem Plenum des Bundestages. ({23}) Aber bitte, Herr Bundesaußenminister, antworten Sie doch! Ich sage: Vor der Bundestagswahl am 7. Februar 1969 - haben Sie in der Zeitschrift „publik" erklärt - ich zitiere -: Wir haben mit Polen -- das zeigt schon ein Blick auf die Landkarte - gar keine Grenze ... ({24}) Wir können naturgemäß mit Polen nicht über eine Grenze reden, ... - Sie haben doch eben gesagt: So ist es! Warum sagen Sie jetzt nicht: So ist es!? ({25}) Ich zitiere weiter: ... die die DDR - und nicht die Bundesrepublik - mit Polen hat. Sie fügten hinzu: Über die Oder-Neiße-Linie kann nur dann geredet werden, wenn Friedensverhandlungen anstehen .. . ({26}) An einer späteren Stelle sagen Sie: Es wäre höchst unlogisch, ... - Ich gebe zu, Sie haben einmal einen Zwischenruf gemacht, wo Sie sagten, die Politik sei unlogisch! Sie sagten: Es wäre höchst unlogisch, wenn jemand, der den Alleinvertretungsanspruch ablehnt, schon vorher über eine Grenze sprechen würde. ({27}) Dr. Marx ({28}) Nach der Wahl haben Sie - sowohl gestern im Bundestag als auch vor einigen Tagen im Bundesrat - erklärt - ich zitiere -: Für die Vertragsparteien reichte jedoch die Übereinstimmung über die im Vertrag niedergelegte Feststellung, daß nämlich die Oder-Neiße-Linie die polnische Westgrenze bildet, aus. Sie haben hinzugefügt, was ich vorhin schon einmal andeutete, daß dies jede künftige Bundesregierung bindet. ({29}) Der Herr Bundeskanzler hat vor der Bundestagswahl, und zwar in seinem Buch „Koexistenz - Zwang zum Wagnis", gesagt - auch hier zitiere ich ({30}) Es ist unsinnig ..., - sagt der Bundeskanzler ausgerechnet von der Bundesrepublik zu erwarten, daß sie die Oder-Neiße-Linie anerkennen soll ... ({31}) Das würde doch bedeuten, daß sie die Grenze zwischen anderen Staaten anerkennen soll, also etwa wie die Grenze zwischen Österreich und Italien oder die zwischen Norwegen und Schweden ... Nach der Bundestagswahl hat der Bundeskanzler im deutsch-sowjetischen Vertrag - ich sage: als dem übergeordneten, dem bevorrechtigten, dem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag - die Festellung getroffen, daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Er hat dann gesagt, daß alle Grenzen in Europa - hier hatte er sich gerade noch dagegen gewehrt, die Grenzen anderer Leute anzuerkennen - heute und künftig unverletzlich, unerschütterlich seien. ({32}) Diesen Vertrag legen Sie uns, meine Damen und Herren, heute vor. Sie verlangen von uns eine Zustimmung. Wir aber erinnern Sie an den Satz eines Mannes - ich spreche jetzt zu den Kollegen der SPD -, dessen Bild in Ihrem Fraktionszimmer hängt. Kurt Schumacher hat am 9. Oktober 1951 in Hamburg erklärt - ich zitiere -: Die Anerkennung - es kann sein, daß das einigen nicht paßt; ich merke es, ich höre es; trotzdem zitiere ich ihn der Oder-Neiße-Linie wird nicht vorgenommen werden. Und Kurt Schumacher fügte hinzu und ich würde hoffen, daß es seinen Freunden in den Ohren klingt -: Jedes demokratisch gewählte Parlament wird eine solche Zumutung mit erdrückender Mehrheit ablehnen. ({33}) Meine Kollegen von der SPD, Sie haben im Jahre 1968, sozusagen zum Auftakt des Wahlkampfes, Ihre „sozialdemokratischen Perspektiven" formuliert. Dort sagten Sie: Wir wissen uns verpflichtet, für die Selbstbestimmung der Deutschen in der DDR einzutreten. Nach der Bundestagwahl wird in den von beiden Seiten paraphierten deutsch-sowjetischen Absichtserklärungen folgenschwer festgestellt, daß die Beziehungen - ich zitiere zwischen beiden Staaten Deutschlands ... auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, der Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit zu gestalten seien. Warum, so frage ich, hat der Bundeskanzler dieses Landes nach den Wahlen eine andere Politik betrieben, als er es vor den Wahlen mit seinen Freunden der Bevölkerung dieses Landes versprochen hat? ({34}) Wer hat sich geändert? Was hat sich verändert? Die sowjetische Politik? Das Politbüro der SED? Oder hat sich der Bundeskanzler geändert? ({35}) Meine Damen und Herren, wie können Sie, so frage ich mich, für eine Politik, die gegen Ihre eigenen Erklärungen gemacht worden ist, die Sie gegen uns und ohne uns gemacht haben, von uns Zustimmung verlangen? Und was, so fragen wir, ist eigentlich mit dem Gewaltverzicht mitten in Deutschland und in Berlin? Egon Bahr hat erklärt, daß in Moskau über Berlin nicht verhandelt werden konnte. Der Bundesaußenminister sagte auf Seite 10 der uns gestern zugeleiteten Rede: Außerdem ist auch Berlin in den Gewaltverzicht durch die Verpflichtung beider Partner einbezogen, sich in Fragen, die die Sicherheit in Europa berühren, der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Also, Egon Bahr hat gesagt: In Moskau konnte über Berlin nicht verhandelt werden; Gewaltverzicht für Berlin hätte daher in einem eigenen Vertrag zwischen den Vier Mächten ausgehandelt werden müssen. Und dies sei geschehen. Nehmen wir aber einmal das Viermächteabkommen zur Hand und prüfen dort in Abschnitt I 2 nach! Dort steht wörtlich - ich zitiere -: Unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen nach der Charta der Vereinten Nationen stimmen die vier Regierungen darin überein, daß in diesem Gebiet keine Anwendung oder Androhung von Gewalt erfolgt odere daß StreitigDr. Marx ({36}) keiten ausschließlich mit. friedlichen Mitteln beizulegen sind. Ich gebe zu, wir, die CDU/CSU, glaubten damals für einen Augenblick, es sei tatsächlich gelungen, Schießbefehl und Minenfelder in Berlin wegzuräumen. Aber wir wurden dann schmerzlich - Herr Gromyko sagt, es sei schmerzlich -, w i r wurden schmerzlich eines Schlechtern belehrt, nämlich, daß dies nicht bedeutet Gewaltverzicht in Berlin, sondern daß dies bedeutet, die vier vertragschließenden Parteien hätten untereinander und für sich auf Gewaltanwendung in Berlin verzichtet. Und es heißt dort nicht: Berlin, es heißt: in dem betreffenden Gebiet. Das alles, meine Damen und Herren, bedeutet, wenn man die Augen vor den wirklichen Proportionen all der vielen Vereinbarungen, Verträge, Abkommen, Abreden und Nebenabreden nicht verschließen will, ({37}) daß ein tatsächlicher, für uns abstrakter Gewaltverzicht fixiert wird, in den die Erfüllung der sowjetischen Forderungen eingekleidet ist, daß aber der konkrete, uns, Herr Metzger, unmittelbar betreffende Gewaltverzicht, nämlich der hier mitten in Deutschland, nicht erreicht worden ist. Ich sage Ihnen: Gewaltverzicht trotz Gewaltanwendung in unserem eigenen Lande, das ist unerträglich. ({38}) Meine Damen und Herren, man kann sagen: wir haben Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. Ich muß sagen, jeder weiß, daß, wenn an der Zonengrenze oder an der Sektorengrenze geschossen wird, dies nicht ohne Duldung und Billigung der Sowjetunion geschieht. ({39}) Ich wiederhole, was Herr Barzel gestern sagte: Wer sich dieses Vertragswerk ansieht, kommt zu dem Ergebnis: die sowjetischen Interessen sind geregelt, die deutschen sind im Nebel der Erwartungen und Hoffnungen untergetaucht, - die deutschen, Herr Kollege Franke, soweit man dieses Wort so noch anwenden kann. In unserer Großen Anfrage, meine Damen und Herren, haben wir auf die sehr ernste Situation aufmerksam gemacht, die sich aus dem ganz unterschiedlichen Verständnis der Verträge in Moskau und in Bonn ergibt. Die Bundesregierung hat zunächst abgestritten, daß es einen Dissens, einen Widerspruch gebe. In der Antwort auf unsere Große Anfrage sagt sie - ich zitiere -: Über die Auslegung der Verträge . . . besteht zwischen den Vertragspartnern kein Dissens, der die Bundesregierung veranlassen könnte, in erneute Verhandlungen . . . einzutreten. Was soll dieser Satz? Entweder kein Dissens, dann ist das objektiv falsch; oder es ist - wenn ich nicht „Irreführung" sagen will, so deshalb, weil sich die Antwort auf die Große Anfrage im Ton wohltuend von früheren Antworten, die die Regierung gegeben hat, abhebt. - eine Zweideutigkeit, Herr Bundesaußenminister. Sie sagen, wenn man den Satz genau liest: Es könnte sein, daß es einen Dissens gibt; aber der ist nicht so, daß wir noch einmal neu. verhandeln. - Darum geht es eigentlich und ging es gestern in der Frage von Herrn Schröder, als er das Thema der Zeitwahl und der Verhandlungsmethode ansprach. Sie haben eine Methode gewählt, die der anderen Seite die Möglichkeit bietet, mit Händereiben zu sagen: Türen zu! Mit uns, mit dieser Regierung darüber jetzt nicht mehr. Das ist das eigentlich Schlimme, das ist das eigentlich schwerwiegende Versäumnis, das ist diese schlecht angelegte und durchgeführte Diplomatie. ({40}) Meine Damen und Herren, es wird an vielen Stellen gesagt: „kein Dissens" ; an anderen wird gesagt, es sei doch „alles völlig klar". Der Bundesaußenminister sagt im Bundesrat - und er tut es in der Form des Ausrufes -: Wo steht denn das? Insoweit erkenne ich durchaus die Verwandtschaft zwischen Herrn Außenminister Scheel und Herrn Achenbach. Er guckt nur auf einen sehr positivistisch und sehr oberflächlich verstandenen Text des Vertrages. Es wird aber dann an anderen Stellen auch eingeräumt, es könne ja auch Mehrdeutigkeit in entscheidenden Begriffen geben, und dann wird gesagt: Na gut, die Kommunisten haben es eben so an sich, daß sie bei vielen Dingen das Gegenteil verstehen. Entscheidend sei, daß die Anwendung der Begriffe auf der eigenen Seite „gut abgesichert" sei. Diese Beruhigung ist oberflächlich. Herr Bundesaußenminister, sie wird der Tatsache nicht gerecht, daß die sowjetische Seite über jenes Übermaß an Macht verfügt, das sie, wann immer sie will, wann immer sie es im Kalkül ihrer Politik haben will, ({41}) ihrer Interpretation Nachdruck verschafft, das sie in die Lage versetzt, sie durchzusetzen. Es ist für mich mehr als fraglich, ob unsere Bündnispartner ihre Verpflichtungen auch auf Verträge ausdehnen, die sie nicht unterzeichnet und deren gefährliche Mehrdeutigkeit sie nicht zu vertreten haben. - Das ist meine im Ton der Sorge und der Befürchtung vorgetragene Antwort, Herr Bundesaußenminister, auf Ihre Mitteilung, dies alles müsse nur eben „gut abgesichert" sein. Wir fragen danach, wie die Sowjetunion die Verträge versteht und wie die Sowjetunion sie auslegen will. Wir fragen nicht deshalb - auch dies ist eine Antwort, Herr Kollege Achenbach -, weil wir die Vorstellungen der Sowjetunion übernehmen möchten; dies ganz gewiß nicht. Aber die Fraktion der CDU/CSU empfindet es als ihre erstrangige Pflicht, als ihre politische Pflicht, sich darum zu kümmern, was der Verhandlungs- und Vertragspartner sagt, welches besondere Interesse eigentlich die große Sowjetmacht an diesem Vertrag hat und wie sie ihn in ihre ideologische und imperialistische Politik einordnet. Mir scheint oft - und das ist an diesem Tage noch einmal deutlicher geworden -, daß wir in der CDU/ Dr. Marx ({42}) CSU die Politik der Sowjetunion ernster nehmen als die Regierung. Wir hören nämlich genau zu, was die Verantwortlichen in Moskau sagen, weil wir wissen - ({43}) - Herr Mattick, Sie haben vielleicht die Rede von Herrn Brosio vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gehört, in der er an ein Gespräch mit Herrn Togliatti erinnerte, bevor er Botschafter in Moskau wurde. ({44}) Und er hat gesagt: Herr Togliatti hat mir damals erklärt: Hören Sie und lesen Sie immer genau, was die kommunistischen Genossen in Moskau sagen, denn wir Kommunisten sagen offen und klar unsere Meinung. - Deshalb habe ich das hier eingeführt. Meine Damen und Herren, wir sind nicht bereit, einen Vertrag zu unterschreiben und zugleich mit nervös suchenden Fingern danach zu suchen, wie man ihn umgehen könne. Dieser Vertrag ist wie jeder Vertrag für uns eine sehr ernste Sache. Deshalb möchten wir vorher wissen, was er enthält, möchten vorher die Verpflichtungen der Regierung kennen. ({45}) Wir legen großen Wert darauf, Verträge, ihren Inhalt, ihre Begleitumstände und ihre Konsequenzen genau zu verstehen, und deshalb -- nicht weil wir, wie Sie, Herr Außenminister, im Bundesrat gesagt haben, monoman Fragen stellen wollten -, weil wir dies wissen wollen und weil Sie auf die meisten Fragen bisher keine wirkliche Antwort gegeben haben, sind wir so hartnäckig mit unseren Fragen. Dabei ist es - und das ist vorhin auch angeklungen - eine der wichtigsten und vordringlichsten Fragen: Handelt es sich um einen Modus vivendi, also um eine Abmachung auf eine überschaubare Zeit, um eine vorläufige Regelung, oder handelt es sich um etwas Endgültiges? In zahllosen Erklärungen haben die amtlichen Organe der kommunistischen Parteien des Ostblocks festgestellt, jetzt sei der Schlußstrich gezogen, die Sache sei endgültig. Der Bundeskanzler selbst hat das Bild von dem Blatt gebraucht, das im Buch der Geschichte neu aufgeschlagen worden sei. Und doch haben er und sein Außenminister erklärt, alle wichtigen Fragen seien weiterhin offen, z. B. die Festlegung der Ostgrenze - denn dies sei ja nur eine Beschreibung - oder die Wiedervereinigung. Der Bundeskanzler hat gesagt, er habe in Moskau das Selbstbestimmungsrecht gefordert und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR verweigert; Moskau wisse das alles und habe es akzeptiert. Aber dann frage ich: warum steht von all dem in diesen Verträgen kein einziges Wort? ({46}) Es wäre gut, meine Damen und Herren, wenn auf diese entscheidenden Fragen vor dem Deutschen Bundestag klar und nicht doppelbödig geantwortet würde. Es wäre gut, wenn der Herr Bundeskanzler bei dieser Debatte vor diesem Hause erklärte, daß durch diesen Vertrag die Demarkationslinie nicht als Grenze mitten durch Deutschland völkerrechtlich bindend akzeptiert worden ist, wenn er erklärte, daß er das Recht auf Selbstbestimmung auch für die 17 Millionen drüben zu fordern nicht aufhören wird, daß er nicht bereit ist, die Hand für die Aufnahme der totalitären DDR in die UN zu leihen, wenn in diesem Staate DDR nicht die Menschenrechte hergestellt werden. ({47}) Und es wäre gut, wenn der Bundeskanzler hier erklärte, daß die von den Sowjets so sehr geschätzten Rechtstitel für uns nicht ein juristischer Schnickschnack sind, ({48}) wenn er endlich begreifen würde, daß Rechtstitel ein wichtiger Teil politischer und moralischer Macht sind. ({49}) Es wäre gut, wenn hier erklärt würde, daß das Grundgesetz uns alle verbindlich auffordert, stellvertretend für alle Deutschen zu handeln, daß dieses Grundgesetz uns verpflichtet, die Menschen drüben - ich bediene mich nicht meiner Vokabel, sondern der Worte derer, die ich jetzt anspreche - nicht „abzuschreiben", und daß sie nicht der sogenannten Souveränität jener Leute überantwortet werden, die der Bundeskanzler selbst vor nicht allzu langer Zeit - ich zitiere - „Kerkermeister unseres Volkes" und „blutbesudelte Schergen" genannt hat. ({50}) Wenn der Bundeskanzler dies alles sagt und wenn er es so meint und seine Politik darauf aufbaut, kann er mithelfen - es ist doch so -, die tiefe Kluft, die diese seine Politik in diesem Hause und draußen im Volke aufgerissen hat - Herr Wehner, ich bediene mich eines Wortes von Ihnen -, wieder zuzuschütten. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie müssen hier und heute oder morgen ({51}) - ja, es ist schon nötig -, um aus den tausend gegensätzlichen Deutungen heraus die Problematik zu klären, sagen, was eigentlich mit dem „Brief zur deutschen Einheit" ist. Dieser Brief, dem die Bundesregierung in ihrer Argumentation eine zentrale oder prinzipielle Bedeutung zumißt, wurde nach der Unterzeichnung in Moskau vom Außenminister an seinen sowjetischen Kollegen, Herrn Gromyko, gerichtet. Es ist ein einseitiger Brief. Die Sowjets weigerten sich, seinen im Vergleich zu dem, was man hier zitiert hat, nämlich den Adenauer-Brief, ohnehin dünnen Inhalt in den Vertrag aufzunehmen. Ich darf mich noch einmal der Großen Anfrage zuwenden, Herr Bundesaußenminister. Da haben Sie auf unsere Frage 1 und 1 a eine Antwort gegeben. Ich nehme an, es ist eine Summe von Druckfehlern. Ich kann nicht annehmen, daß Sie dies absichtlich so gemacht haben, denn Sie sagen in dieser Antwort: Dr. Marx ({52}) Der sowjetischen Regierung ist die Auffassung der Bundesregierung bekannt, daß das deutsche Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung besitzt ... Von diesem Recht steht im Briefe nichts. ({53}) Da sagen Sie, daß dieser Vertrag nicht in Widerspruch zum politischen Ziel steht. Dies ist in der Tat ein gravierender Unterschied. ({54}) Im übrigen oder notabene, Herr Sieglerschmidt, an der Behandlung dieses Briefes durch die Sowjets kann man sehen, was eine konsequente sowjetische Politik ist, durch die Moskau seine eigenen Interessen schützt und die unseren, ich würde sagen, in etwas Unverbindliches verweist. In den Zeitungen hat es gestern Mitteilungen gegeben, wozu ich gerne etwas wüßte: Ist es wahr, Herr Bundesaußenminister, daß der sowjetische Außenminister bei Ihren Gesprächen, als Sie auf das Thema der deutschen Selbstbestimmung zu sprechen kamen, gesagt hat, jetzt höre er mal weg? ({55}) - Das war nicht die Bild-Zeitung. Es könnte aber durch eine klare Erklärung des Bundesaußenministers deutlich gemacht werden, ob dies so war und, wenn es so war, wie er darauf geantwortet hat. ({56}) Meine Damen und Herren, was diesen Brief anlangt, so wünscht die Fraktion der CDU/CSU, Herr Bundesaußenminister, daß Sie auf folgende Fragen klare Antworten geben, weil das für uns alles noch sehr unklar ist: 1. Hat die Sowjetunion in der Sache - ich sage: in der Sache, weil wir den Verbalismus, der hier getrieben wird, langsam satt haben - das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung anerkannt? Wenn ja, wo und durch wen? 2. Wir möchten wissen, ob sie den Brief zur deutschen Einheit und Selbstbestimmung angenommen oder ob sie ihn nur empfangen hat. 3. Wir möchten wissen: Wer hat seinen Empfang bestätigt? Da gibt es verschiedene Versionen. War dies der Chef des Archivs im sowjetischen Auswärtigen Amt oder wer anders? Und warum eigentlich, Herr Bundesaußenminister - Sie haben diesen Brief, wie Sie gestern diesem Hause vorgelesen haben, an den Außenminister der UdSSR addressiert - hat nicht der Adressat des Briefes den Brief beantwortet? ({57}) Der Inhalt dieses Briefes, Selbstbestimmung für alle Deutschen, ist uns wichtig genug, daß der sowjetische Außenminister zumindest bestätigt, er habe ihn zur Kenntnis genommen und ihm nicht widersprochen. ({58}) Diese Frage ist die nächste, Herr Kollege Stücklen. -- Wenn es so war, wie Sie gestern und in den Tagen vorher gesagt haben, warum war es so schwer, ihn in den Vertrag aufzunehmen, und wie lautete die Argumentation Ihres sowjetischen Partners, die die Aufnahme in den Vertrag verhinderte? Wir möchten auch gern wissen: Ist dieser Brief - Sie legen ihn uns hier als Teil des Vertragswerkes vor - eigentlich in der Sowjetunion veröffentlicht worden? Herr Bundesaußenminister, war, als die sowjetische Regierung das Vertragswerk vor wenigen Tagen dem Präsidium des Obersten Sowjets zur Ratifikation zugeleitet hat, dieser Brief zur deutschen Einheit mit dabei? Bitte sagen Sie uns „ja" oder „nein". ({59}) Falls er - ich sage das vorbeugend nicht dabeigewesen sein sollte, schiebe ich sofort die Frage nach: Warum haben Sie dann nicht dagegen protestiert? ({60}) Was in aller Welt will diese Bundesregierung mit einem Brief, den die eine Seite als Vertragswerk versteht, die andere nicht, von dem die Bundesregierung sagt, er sei sehr wichtig, von dem sowjetische Diplomaten einer Reihe von Kollegen in diesem Hause - auch mir gesagt haben, sie kennten ihn gar nicht; im sowjetischen Außenamt gingen täglich Tausende von Briefen ein, man könne nicht jeden lesen. ({61}) Meine Damen und Herren, wie eigentlich will man - hier paßt das Wort - zu einer solchen Art von Manipulation schweigen? Die Bundesregierung sagt, es gebe keinen Dissens. Ich sage Ihnen: der entscheidende Dissens liegt offenbar schon in der Frage, was eigentlich zum Vertragswerk gehört, was in Moskau und was in Bonn zur Ratifikation vorgelegt werden soll. Sie werden doch zugeben - und ich bitte Sie zuzustimmen, Herr Außenminister -: Dies ist unerträglich für jeden frei gewählten Abgeordneten, der hier seine Pflicht zu erfüllen hat. ({62}) Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn der Bundeskanzler bei Gelegenheit - wenn es geht, noch in dieser Debatte - erklärte, ({63}) was der folgende Satz auf Seite 2 seiner gestrigen Darlegungen bedeutet - ich zitiere -: Das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen. Dr. Marx ({64}) Ich frage: Was glaubt eigentlich der Bundeskanzler dieses Landes diesem Bundestag und der Bevölkerung in einem solchen unerhörten Satz zumuten zu können? ({65}) Meine Freunde, das Selbstbestimmungsrecht steht uns nicht im Laufe eines geschichtlichen Prozesses zu, sondern es steht jedem von uns zu, auch denen, die jetzt drüben in der DDR zuhören. ({66}) Meine Damen und Herren, es gibt noch eine weitere Frage, die zu stellen mich niemand hindern kann: Was bedeuten eigentlich die Absichtserklärungen, d. h. die Punkte 5 bis 10 des Bahr-Papiers? Die Bundesregierung sagt, sie seien nicht Teil des Vertragswerkes. Ich habe hier die Broschüre des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Unter „I. Das Vertragswerk" steht dort „Bahr-Papier". Frage an die Regierung: Ist das Bahr-Papier nun ein Teil des Vertragswerkes, ja oder nein? ({67}) - Herr Mattick, Sie haben Ihre Redezeit bereits I konsumiert. Herr Bundesaußenminister, ich möchte wissen, ob diese Absichtserklärungen für Sie die „vereinbarte Grundlage des künftigen politischen Handelns" und ob sie auf Treu und Glauben zu betrachten sind und, wenn ja, was dies dann in Ihrer Darlegung bedeutet. Uns ist das alles nicht klar. Niemals ist klar gesagt worden, wie man diese Absichtserklärungen anwendet. Wir möchten daher die Bundesregierung bitten, uns - wenn es für sie klar ist - die zusätzliche Antwort zu geben, wie die Sowjetunion diese Absichtserklärungen, die ja beide Seiten gegenseitig ausgetauscht haben und in denen ja auch für das Schicksal unseres Landes entscheidende Festlegungen getroffen worden sind, eigentlich versteht. Also: Gibt es in dieser Frage, Herr Bundesaußenminister, auch einen Dissens oder gibt es Übereinstimmung? Wenn ja, wie sieht das aus? Der Herr Bundeskanzler hat in früheren Jahren - es ist jetzt zehn Jahre her - in einem sehr beeindruckenden Aufsatz die Stoßrichtung der sowjetischen Politik gekennzeichnet. Er sagte, sie richte sich gegen Deutschland. ({68}) Und der Bundeskanzler fügte dann hinzu - ich zitiere den jetzigen Bundeskanzler -: ... die Sowjetunion hat den groß angelegten Versuch begonnen, die Nachkriegsphase zu beenden, den heutigen Zustand völkerrechtlich zu zementieren und in aller Form ein neues Blatt der Geschichte aufzuschlagen, in dem zwei gewissermaßen souveräne Staaten auf deutschem Boden ihre anerkannte Existenz beginnen. ... Der Bundeskanzler fährt fort: Die Forderung nach Wiedervereinigung wird zum Revanchismus erklärt werden. Und wir werden, wenn wir unsere Landsleute nicht verraten wollen, jedenfalls Revisionisten sein müssen. Der Bundeskanzler fährt fort: Ich sage es in allem Ernst: das Schicksal der Demokratie in Deutschland hängt davon ab, daß die Demokraten in dieser Situation nicht versagen. ({69}) Nach diesen, wie ich glaube, sehr ernsten Worten hat der Bundeskanzler hinzugefügt - ({70}) - Sie sollten nicht den Versuch machen, zu stören, wenn ich vorlesen will, was der Bundeskanzler, Ihr Parteivorsitzender, früher gesagt hat; es sei denn, es ist Ihnen peinlich. ({71}) Ich zitiere weiter. Er sagte: Bei dem heutigen Vorstoß der Sowjetunion geht es ... darum, daß dem deutschen Volk und damit einem Verbündeten des Westens moralisch das Kreuz gebrochen werden soll. Ein derartiges Teilungsdiktat ({72}) ist für Deutschland unannehmbar. Wir können und dürfen uns damit auch nicht abfinden. Der Bundeskanzler schließt diesen Teil, den ich vorlese: Man kann einem Volk, ({73}) wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben, eine Teilung auferlegen, man kann es aber nicht auch dazu bringen, sie zu akzeptieren ... ({74}) Der Satz geht noch weiter. Er heißt dann: . . . sich mit ihr abzufinden und sie zu unterschreiben. Und dann heißt es: Das Ergebnis würde nicht dem Frieden dienen. ({75}) So weit Willy Brandt. Am Ende - Herr Präsident, in zwei Minuten! - noch folgendes. ({76}) Dr. Marx ({77}) Kaum jemand hat die heutige Politik, die uns als eine Friedenspolitik verkauft wird, ({78}) klarer und eindeutiger als Hindernis für den Frieden bezeichnet und abgeurteilt als in den eben zitierten Sätzen der heutige Bundeskanzler selbst. ({79}) Niemand hat deutlicher und, ich sage auch, ergreifender und bewegender die politische und die moralische Szenerie beschrieben als einer der damals so beherzten, kühnen und tapferen Männer an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei. ({80}) Auch dieses Zitat werde ich Ihnen nicht ersparen. Es lautet: Immer gibt es die Menschen, die in einer kritischen Stunde anfangen, davon zu reden, man müsse sich mit den Realitäten, mit den Tatsachen, mit den Dingen und mit den Verhältnissen abfinden. ({81}) Dieses Zitat geht weiter: Auch dafür haben wir Deutsche bittere Erfahrungen genug gesammelt. Mit den realen Verhältnissen fanden sich alle diejenigen ab, die 1933 sich dazu entschlossen, ihren Frieden mit Hitler zu machen. Immer wollte man Schlimmeres verhüten. Am Ende lag Deutschland in Trümmern. ... Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen. Der dies sagte, war Ernt Reuter. ({82}) Er war früher Kommunist, dann Sozialdemokrat, Regierender Bürgermeister von Berlin; er war ein Demokrat, für den Wahrheit, Frieden und Freiheit über alles gingen. ({83}) - Herr Kollege Wehner, auf diesen Zwischenruf - ({84}) -- Das mag sein; das ist dann aber auch ein Stück meiner eigenen Entscheidung. ({85}) Herr Wehner, wir haben Ernst Reuter damals zugestimmt. ({86}) Wir stimmen ihm heute zu. ({87}) Für die CDU/CSU haben sich die Kategorien des Rechts und der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens nicht verändert. ({88}) Meine Damen und Herren, in allem Ernst: ({89}) bei dieser Debatte, die wir hier führen, wo es um die entscheidensten Fragen geht, sage ich noch einmal, daß sich die Kategorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens für uns nicht verändert haben, daß wir an diesen Kategorien diese Verträge messen und daß sie vor diesen Kategorien und unserer politischen Verantwortung nicht bestehen können. ({90}) Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, bei der Zeiteinteilung für die heutige Debatte sind wir - ({91}) - Darf ich bitten, daß wir jetzt in Ruhe noch den letzten Redner der Vormittagsrunde anhören, für den lediglich zehn Minuten beantragt sind. Wir sind davon ausgegangen, daß wir noch diesen Redner hören, damit wir zu einem gewissen Abschluß kommen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyen.

Roelf Heyen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, daß wir auf diesen Marxismus Kaiserslauterner Prägung, der hier eben geboten wurde, eingehen sollten. Aber hier ist Ernst Reuter genannt worden, und da muß man sagen, daß Ernst Reuter zu seinen Lebzeiten bei Ihrer Regierung der CDU/CSU für Berlin betteln gehen mußte. ({0}) Aber sozialdemokratische Führer sind offenbar immer dann gut, wenn sie nicht mehr leben. Zu seinen Lebzeiten haben Sie Schumacher bekämpft, haben Sie seine Politik bekämpft, und zu Lebzeiten von Ernst Reuter haben Sie ihm und Berlin die größten Schwierigkeiten gemacht. ({1}) Das müßten Sie, Herr Amrehn, am besten wissen, und auf Ihre Ausführungen will ich jetzt eingehen. Schon 1963, als wir die erste Passierscheinregelung unterschrieben haben, haben Sie gesagt: Dies ist ein falscher Schritt in die falsche Richtung, und dies ist der Anfang vom Ende West-Berlins. Das haben Sie heute in bezug auf das Viermächteabkommen von Berlin wiederholt. 1969, um auf die Passierscheinregelung zurückzukommen, war Kiesinger bereit, für eine solche Regelung die Bundesversammlung nicht in Berlin stattfinden zu lassen. ({2}) Das sind die Preise und das sind die Zeitpunkte, Herr Schröder. Sie wären bereit gewesen, sich die Bundespräsenz ohne ein Abkommen Stückchen für Stückchen „herausbrechen" zu lassen. Dies muß einmal ganz deutlich gesagt werden. ({3}) Herr Amrehn, bevor ich mich mit Ihren Thesen auseinandersetze, noch ein kurzes Wort zum Generalkonsulat. Während der Verhandlungen, während des schweren Ringens um Verbesserungen, die Sie heute wieder in Frage gestellt haben, hat Herr Lummer, Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus, Herrn Abrassimow einen Brief geschrieben, in dem er anbot, für die Schließung des Spandauer Gefängnisses - das war sein Preis - sowjetische Präsenz in West-Berlin zuzulassen. ({4}) Das ist das zweite Stück, das man - ohne Abkommen und ohne Sicherheit - für einen Gefangenen, für ein Gefängnis in Spandau preisgeben wollte. Dies zunächst einmal zum Generalkonsulat und zu den Passierscheinen. Ich habe in der Debatte den Eindruck gewonnen - das gilt sowohl für den Beitrag von Herrn Barzel als auch für die Beiträge von Herrn Schröder, Herrn Kiesinger und Herrn Amrehn -, daß die CDU die Stadt Berlin und ihr Schicksal immer nur so behandelt, wie es gerade in ihr parteipolitisches Konzept paßt. ({5}) Herr Barzel bestreitet den Zusammenhang zwischen dem Berlin-Abkommen und den Verträgen. Herr Schröder - dadurch kam erst eine gewisse Logik in seine Ausführungen - erwähnte Berlin überhaupt nicht. ({6}) - Ja, das kennen wir von Herrn Schröder - darauf komme ich noch zu sprechen - schon aus den 50er Jahren. Er war der dienstälteste Bundesminister. Wenn er nun befürchtet, daß Bundesschilder in Berlin abmontiert würden, sollten wir uns doch einmal daran erinnern, daß diese Bundesschilder der damaligen Regierung und ihrem Innenminister Stück für Stück abgerungen werden mußten. Das ist in den Akten nachzulesen. Herr Kiesinger sagt: Dies ist eine erfreuliche Sache, das Viermächteabkommen ist gut, und wir wollen auch nicht daran herummäkeln. Herr Amrehn aber stellt - damit ist er ein guter Bekannter geblieben - das Ganze wieder voll in Frage. Das ist, glaube ich, eine unredliche Politik. Es stünde der CDU/CSU besser an, wenn sie hier klar sagte: Das Viermächteabkommen ist ein großer Schritt nach vorn für Berlin und die Berliner. ({7}) So war es ja auch schon einmal. Als es darum ging, für eine Passierscheinregelung die Bundesversammlung aufzugeben, sagte Herr Dr. Kiesinger als Bundeskanzler: Uns kommt es nicht darauf an, bloße Rechtstitel zu verteidigen, uns kommt es darauf an, etwas für die Menschen zu tun. ({8}) Diese Politik haben wir konsequent fortgesetzt. ({9}) Herr Barzel , ich habe in der „Welt" einen sehr guten Beitrag von Ihnen gelesen, wo Sie, aufbauend auf dem Viermächteabkommen, bereits Vorschläge über die Zukunft Berlins machen. Sie beziehen sich dabei auf die Anlage IV a) und stellen die Frage, warum internationale Institutionen und zentrale Stellen nicht auch in West-Berlin ihren Sitz haben sollten. Sie lehnen dieses Abkommen ab, bauen aber gleichzeitig ihre Zukunftsperspektiven auf. Dies ist unredlich. ({10}) Sie sagen weiter, daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik aufrechterhalten und weiterentwickelt werden können. Das ist richtig, das steht in dem Abkommen. Sie sagen ferner, dies sollten wir nutzen. Aber wenn wir dieses Abkommen weiterentwickeln wollen, müssen wir es zunächst einmal haben. Das ist das Wichtigste. Sie begehen praktisch politische Zechprellerei, wenn Sie einerseits von diesem Abkommen profitieren wollen und auf der anderen Seite nein dazu sagen. Wer zum Viermächteabkommen ja sagt, der muß auch zur Ostpolitik dieser Regierung ja sagen. Und wer ja sagt zur Sicherheit und Lebensfähigkeit Berlins, der muß auch zu den Verträgen ja sagen. Wer, verehrter Herr Barzel, sich Gedanken über die Zukunft der Stadt macht, der muß - das ist das Wichtigste - auch zu der Politik der Westmächte ja sagen, die West-Berlins Sicherheit garantieren und dieses Abkommen abgeschlossen haben. Dieses Ja wollen wir heute von Ihnen hören. Sonst ist alles als ein Nein zu Berlin zu werten. ({11}) Niemand wird bestreiten können, daß dieses Viermächteabkommen und die Verhandlungen über Berlin erst durch diese Politik in Gang gekommen sind. Niemand wird bestreiten können, daß erst durch die Unterschrift in Moskau der Vertrag seinen Umfang und seine Prägung bekommen hat. Auch dies muß deutlich festgestellt werden. ({12}) Wer meint, dieses Viermächteabkommen ohne eine solche Unterschrift zu bekommen, der gibt sich Illusionen hin. ({13}) - Wir haben immer den Zusammenhang zwischen dem Viermächteabkommen und den Verträgen deutlich gemacht. ({14}) Schade, daß Herr Strauß nicht mehr da ist. ({15}) - Entschuldigung! Ich dachte, Sie seien etwas näher zur CDU gerückt. Ich hatte Sie da vermutet. Herr Strauß, Sie haben kürzlich beklagend gesagt: Es ist für mich unsagbar beschämend, daß der große Redner vom 13. August 1961 zehn Jahre später nicht mehr wahr haben will, was er gesagt hat. Mein Gott, dies war eine große Rede, und ich war damals stolz darauf, einen solchen Regierenden Bürgermeister zu haben. Dies war eine sehr große Rede in einer Zeit der Bedrängnis, als übrigens Ihr Bundeskanzler nicht anwesend war, nicht erschienen war. In der Stunde der größten Not dieser Stadt machte Konrad Adenauer Wahlkampf. ({16}) Das muß man doch ganz deutlich sagen. Das haben wir zum zehnten Jahrestag der Mauer wieder einmal deutlich gemacht. Das ist Ihnen peinlich. Das wollen Sie verdrängen. Aber ein Bundeskanzler gehört in der Zeit, wo die Stadt Berlin am meisten bedroht ist, in diese Stadt. Adenauer ({17}) hat damals Wahlkampf gemacht gegen diesen Regierenden Bürgermeister, der diese große Rede, Herr Strauß, gehalten hat. ({18}) - Ich habe keine Angst vor Zwischenfragen, aber ich möchte jetzt meine Rede zu Ende bringen. ({19}) - Adenauer ist Ehrenbürger von Berlin geworden, weil die Berliner nicht so engstirnig sind, wie manche andere. ({20}) - Da sitzt Herr Wohlrabe. Sie waren damals glaube ich noch Abgeordneter im Abgeordnetenhaus und haben dort gleich gut qualifizierte Zwischenrufe gemacht wie hier. Die CDU und die SPD, oder umgekehrt, im Berliner Abgeordnetenhaus haben gemeinsam beschlossen, was sie unter einer befriedigenden Berlin-Regelung verstehen. Sie haben damals gesagt: erstens, daß die Westberliner in den Ostteil der Stadt gehen und daß sie ihre Verwandten und Freunde in der DDR besuchen können. Wir haben diese Kriterien einstimmig beschlossen. Herr Barzel, ich könnte auch Ihre acht Punkte hier aufführen und Sie müßten sie alle abhaken, wenn Sie redlich sind und wenn Sie ehrlich vor sich selbst sind. ({21}) - Ich kann sie verlesen, ich habe sie bei mir. Aber ich möchte meine Zeit nicht überziehen. Diesen Punkt können wir jedenfalls abhaken. Es sind noch mehr Kriterien hineingekommen -mein Kollege Wehner hat das erwähnt -: aus humanitären, aus familiären, aus religiösen, aus kulturellen, aus kommerziellen Gründen und als Touristen. Insofern könnten Sie, Herr Barzel, wenn Sie keine Verwandten drüben haben, auch als Tourist in die DDR gehen. Ich würde mich freuen, Sie unter den Linden begrüßen zu können. Zweitens wurde gesagt, daß West-Berlins gewachsene Bindungen zum Bund - das stimmt wörtlich mit dem überein, was auch Herr Barzel in seinen acht Punkten gesagt hat -, seine Zugehörigkeit vor allem zur Wirtschafts-, Finanz- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie die Außenvertretung durch den Bund auch von der Sowjetunion und ihren Verbündeten anerkannt werden. Auch dieser Punkt kann abgehakt werden. Wer mir - auch von Ihnen - vor zwei Jahren gesagt hätte, wir könnten z. B. die Außenvertretung durchsetzen, dem hätte ich gesagt: Du machst dir große Illusionen, dies ist nicht mehr zu erreichen. Das hätten uns unsere westlichen Freunde auch gesagt. Wir haben es erreicht. Wir haben ein Stück hinzugewonnen, was durch Nicht-Politik aufgegeben worden war. ({22}) Drittens haben wir einen Zugang zu Lande von und nach Berlin bekommen, auf dem sich jede Person unbehindert bewegen kann und jede Ware unbehindert befördert wird. Selbstverständlich müssen wir sehen, durch welches Territorium wir fahren. Wer in dieser Diskussion, Herr Amrehn, die DDR mit der Schweiz oder Holland vergleicht, macht sich einer Verniedlichung des Ostberliner Regimes schuldig. Denn dieses ist ein Verhandlungspartner, dem wir die Dinge abtrotzen mußten, und das ist uns gelungen. ({23}) --- Gemeinsam mit uns! ({24}) - Wir sind da in jeder Phase und in jeder Frage mit den Westmächten einig gewesen. Aber ich möchte als Berliner und gerade weil ich das besonders deutlich sehe und es auch als einen ganz großen Schritt nach vorn ansehe, diese 30-TageBesuchszeit ganz klar als einen der größten Erfolge dieser Regelung neben den grundsätzlichen Regelungen hervorheben. 30 Tage Bresche in die Mauer schlagen ist mehr als 20 Jahre warten und auf Rechtstiteln beharren! ({25}) 30 Tage Potsdam, Eberswalde, Nauen, Fürstenwalde - das liegt um Berlin herum; vielleicht haben es einige Kollegen vergessen -, Teltow, Klein-Machnow, Neuruppin und Werder, aber auch Erfurt, Magdeburg, Wittenberg, Dresden und Frankfurt an der Oder sind mehr und sind viel mehr als das ständige Reden von den Brüdern und Schwestern! Nur so können die Brüder und Schwestern wieder zueinander kommen. Was nützt es uns, von den Brüdern - manchmal scheinheilig - in der Zone oder in der sogenannten DDR, wie sie sagen, zu sprechen, wenn wir sie nicht besuchen können! Ich verstehe, daß die Berliner Bevölkerung im Moment und solange dieses Abkommen noch nicht in Kraft ist, skeptisch ist. Wir müssen das verstehen, weil wir in Berlin zuviel erlebt haben. Aber wenn dieses Abkommen in Kraft ist, dann haben wir für diese Menschen mehr getan als Sie mit Ihrer Politik der Proklamationen. Deshalb möchte ich, Herr Marx, eben nicht mit Zitaten von Konrad Adenauer oder anderen enden, sondern sagen: Wir haben ein Stück mehr Einheit erreicht, und dies ist - das haben Sie vergessen, Herr Schröder-mehr als Rechtstitel und Ansprüche. ({26}) Präsident von Hassel: Wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr zum Aufruf der Fragestunde. Um 15 Uhr wird die Aussprache fortgesetzt. ({27})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir treten in die Fragestunde - Drucksache VI/3165 ein und fahren mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung fort. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Rohde zur Verfügung. Ich rufe die Frage 86 des Herrn Abgeordneten Cramer auf: Trifft es zu, daß mongoloide Kinder keinen Anspruch auf Schwerbeschädigtenausweise zur kostenlosen Benutzung von Nahverkehrsmitteln haben, weil sie nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht als „körparbehindert" gelten? Bitte, Herr Staatssekretär! Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Cramer, nach geltendem Recht steht Behinderten unter den sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr nur zu, wenn sie körperbehindert im Sinne des § 39 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes sind. Das sind Personen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung ihres Stützund Bewegungssystems behindert sind. Die von Ihnen genannten mongoloiden Kinder sind nach den geltenden Vorschriften nicht in diesen Kreis einbezogen. Ich habe jedoch Verständnis dafür, wenn es als soziale Härte empfunden wird, daß diese Personengruppe in das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965 nicht aufgenommen worden ist. Wie ich auf eine entsprechende Anfrage des Abgeordneten Pawelczyk in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 13./15. Oktober 1971 bereits erklärt habe, erwägt die Bundesregierung, bei der vorgesehenen Novellierung des vorgenannten Gesetzes eine Erweiterung des begünstigten Personenkreises vorzuschlagen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer.

Johann Cramer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000340, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es jetzt schon in den einzelnen Ländern verschiedenartig gehandhabt wird, z. B. Berlin Fahrtfreiheit für den Betroffenen und für eine Begleitperson gewährt, während Bayern nur die Freiheit der Fahrt selbst gewährt. Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, dieser Sachverhalt ist Gegenstand der vorbereitenden Gespräche, die wir über das von mir genannte Vorhaben auch mit den Vertretern der Länder führen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer.

Johann Cramer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000340, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie mir sagen, Herr Staatssekretär, wann ungefähr mit einer Besetz, lichen Neuregelung zu rechnen ist? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminster für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, wir sind darum bemüht, die Vorarbeiten beschleunigt zum Abschluß zu bringen. Einen präzisen Zeitpunkt für die Vorlage des Entwurfs kann ich allerdings noch nicht nennen, da vorab vor allem die finanziellen Auswirkungen zu Lasten des Bundes und der Länder geklärt werden müssen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Vogt auf: Treffen Pressemeldungen zu, wonach die Bundesregierung nicht mehr beabsichtigt, noch in dieser Legislaturperiode den Vermögensbildungsbericht vorzulegen? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident, mit Einverständnis des Fragestellers würde ich beide Fragen gern im Zusammenhang beantworten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Der Herr Kollege Vogt ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 88 des Abgeordneten Vogt auf: Wann wird die Bundesregierung den Sparförderungsbericht fertigstellen und veröffentlichen? Bitte Herr Staatssekretär! Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Vogt, es gibt keinen Beschluß der Bundesregierung, der besagt, daß in dieser Legislaturperiode kein Bericht über die Vermögenspolitik vorgelegt wird. Allerdings ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß dieser Bericht nicht nur eine Bestandsaufnahme sein, sondern auch Grundsätze für die Weiterentwicklung der Vermögenspolitik enthalten soll. Im Zusammenhang mit den Eckwerten der Steuerreform hat die Bundesregierung einen Kabinettbeschluß zur Vermögenspolitik gefaßt. Die Beratungen über die Konkretisierung dieses Kabinettbeschlusses im einzelnen, mit denen die Fertigstellung des Vermögensberichtes verbunden ist, sind noch nicht abgeschlossen. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung diesem Hohen Hause über Vermögensbildung und Sparförderung wiederholt berichtet hat, insbesondere auf Kleine Anfragen der Regierungsparteien und der Opposition. Damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage: Der von Ihnen genannte Sparförderungsbericht ist von der Bundesregierung fertiggestellt, dem Deutschen Bundestag gestern zugeleitet worden und wird den Damen und Herren dieses Hohen Hauses alsbald vorliegen. Mit dem Sparförderungsbericht wird bereits ein wichtiger Bereich der Gesamtberichterstattung vorgezogen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogt.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, darf ich davon ausgehen daß der inzwischen fertiggestellte und uns gestern zugestellte Sparförderungsbericht kein Ersatz für den vielfach angekündigten Vermögensbildungsbericht sein wird? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, er ist in dem Sinne kein Ersatz, aber er beinhaltet Fragen, die mit dem Thema Sparförderung und Vermögenspolitik, wie Sie wissen, in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogt.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie mir in etwa sagen, wann mit dem Vermögensbildungsbericht zu rechnen ist? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe in meiner einleitenden Antwort schon darauf hingewiesen, daß dieser Bericht im Zusammenhang mit dem Kabinettbeschluß vom 11. Juni 1971 und den darauf eingeleiteten Arbeiten steht.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist es richtig - ich frage jetzt mit Bezug auf den Sparförderungsbericht - daß die Urteile über die gesellschaftspolitische Bedeutung der sozialen Privatisierung in einem ersten Entwurf für den Sparförderungsbericht inzwischen korrigiert worden sind? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, den Inhalt des Sparförderungsberichts werden wir in diesem Hohen Hause in allen Einzelheiten erörtern können. Dann werden sicher auch die gesellschaftspolitischen Leitlinien erörtert werden. Die von Ihnen genannte Frage, unter welchen Gesichtspunkten eine Beurteilung vorzunehmen ist, wird sicherlich in der Debatte eine Rolle spielen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine letzte Zusatzfrage.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, darf ich noch einmal fragen, ob zwischen einer ersten Fassung des Sparförderungsberichts und der jetzt fertiggestellten Fassung in der Frage der gesellschaftspolitischen Bedeutung der sozialen Privatisierung Unterschiede bestehen. Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, lassen Sie mich darauf eine allgemeine Antwort geben. Was in Zeitungen oder an anderer Stelle im Hinblick auf unterschiedliche Gesetz- oder Berichtsentwürfe als erste Fassung bezeichnet wird, sind zumeist erste Referentenentwürfe, die Gegenstand von Besprechungen mit Verbänden, mit den Ländern und anderen beteiligten Stellen sind. Die Ergebnisse solcher Besprechungen werden natürlich in der endgültigen Fassung eines Gesetzentwurfs, eines Berichts oder einer sonstigen Vorlage mitberücksichtigt, wenn das aus dem Gesichtswinkel der Bundesregierung als sachlich geboten erscheint.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Weigl hat um schriftliche Beantwortung der Fragen 89 und 90 gebeten. Die Antworten werden in der Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf: Trifft es zu, daß die Ländesversicherungsanstalten auf Veranlassung des Bundesversicherungsamtes die Leistungen für Zahnersatz einschränken, und wenn ja, in weichem Umfang? Herr Staatssekretär! Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident, da auch hier die Fragen in einem Zusam9874 Parlamentarischer Staatssekretär Rohde menhang stehen, möchte ich sie auch gemeinsam beantworten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 92 des Abgeordneten Varelmann auf: Ist vorstehende Minderung der Leistungen bejahendenfalls mit der guten Entwicklung der Beitragseinnahmen in der Rentenversicherung in Einklang zu bringen? Herr Staatssekretär, bitte! Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Varelmann, es trifft nicht zu, daß das Bundesversicherungsamt die bundesunmittelbaren Träger der Rentenversicherung veranlaßt hat, die Leistungen für Zahnersatz einzuschränken. Hierzu besteht auch nach geltendem Recht keine Handhabe; denn es handelt sich bei den Zuschüssen für Zahnersatz um zusätzliche Leistungen, die die Träger der Rentenversicherung nach § 1305 der Reichsversicherungsordnung erbringen können und über deren Gewährung die Selbstverwaltungsorgane der Versicherungsträger zu entscheiden haben. Ihrer Anfrage liegt offenbar die Beanstandung eines Haushaltsansatzes der LVA Oldenburg-Bremen durch das Bundesversicherungsamt zugrunde. Hierbei geht es um folgendes. Seit dem Inkrafttreten des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes bestimmt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung nach Anhörung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates den Gesamtbetrag und die Anteile der einzelnen Träger der Rentenversicherung der Arbeiter an diesem Betrag, die für Maßnahmen zur Rehabilitation und für Verwaltungs-und Verfahrenskosten zur Verfügung stehen. Die LVA Oldenburg-Bremen hat den auf sie nach der 3. Bemessungs-Verordnung vom 26. Oktober 1971 bestimmten Anteil überschritten. In welcher Weise der von der Aufsichtsbehörde vorgenommenen Beanstandung Rechnung getragen wird, insbesondere wie der der LVA nach der Bemessungs-Verordnung zur Verfügung stehende Betrag verwendet wird, bei dessen Bemessung im übrigen die künftige Entwicklung der Beitragseinnahmen in der Rentenversicherung der Arbeiter bereits berücksichtigt worden ist, ist Sache der Selbstverwaltung. Das Bundesversicherungsamt hat hierauf keinen Einfluß.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Franz Varelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, soweit ich unterrichtet bin, liegen die Forderungen auf Einschränkung der Ausgaben nicht nur bei der Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen vor, sondern auch bei anderen Landesversicherungsanstalten. Die Möglichkeiten der Einschränkung der Ausgaben sind nur sehr gering. In den Kreisen der Selbstverwaltung der LVA Oldenburg-Bremen steht man unter dem Eindruck, daß nur noch bei den Beihilfen für Zahnersatz ein Spielraum in den Ausgaben gegeben ist. Ist es nicht bedauerlich, daß in der gegenwärtigen Zeit der Hochkonjunktur in diesem Bereich eine Demontage der sozialen Leistungen ansteht?

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Staatssekretär! Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ob der LVA Oldenburg-Bremen nur die Möglichkeit der Einschränkung von Leistungen für Zahnersatz zur Verfügung steht, kann ich nicht übersehen und auch nicht beurteilen, weil das Sache der Selbstverwaltung ist. Soweit es die Bemessungs-Verordnung betrifft, geht diese zurück auf das Dritte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz, das seinerzeit, und zwar auch mit Ihrer Zustimmung, beschlossen worden ist, um langfristig die Finanzierung für alle Träger der Rentenversicherung sicherzustellen. Das aber kann man keinesfalls als eine Demontage sozialer Leistungen bezeichnen. Vielmehr war dieses Gesetz - darin würde ich auch mit Herrn Katzer einer Meinung sein - darauf angelegt, die finanzielle Solidität der Rentenversicherung in den siebziger Jahren und darüber hinaus zu sichern.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Franz Varelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit dem Erlaß dieser Bemessungs-Verordnung haben sich aber die Finanzverhältnisse der Rentenversicherung wesentlich geändert. Wäre es deswegen nicht angebracht, daß sich das Bundesarbeitsministerium um eine Aufhebung bemüht, damit die Leistungen erbracht werden können? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe den Eindruck, daß bei vielen Beteiligten Bedenken bestehen würden, jetzt schon wieder in die Finanzzusammenhänge des erst vor zwei oder drei Jahren verabschiedeten Gesetzes einzugreifen. Die Gesamtentwicklung der Finanzen der Rentenversicherung ist nach 1969 nicht schlechter, sondern, wie Sie spätestens aus der Tagespresse, aber auch aus den Unterlagen wissen, die das Arbeitsministerium herausgibt, wesentlich besser geworden. Das ist auch Gegenstand der Diskussionen über die Fortentwicklung der Rentenversicherung.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.

Franz Varelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, welche Schritte würde das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung einleiten, wenn die Selbstverwaltung diese Einschränkung der Ausgaben ablehnte? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, wir haben - das darf ich jetzt zur Sache Parlamentarischer Staatssekretär Rohde im allgemeinen sagen - vor einiger Zeit mit den Trägern der Rentenversicherung über die Fragen des Zahnersatzes gesprochen. Wir waren darin einig, daß wir zunächst die Stellungnahme der Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung abwarten wollen, die ihrerseits auch die Frage der Leistungen der Krankenversicherung auf dem Gebiet des Zahnersatzes behandelt. Ich darf also unterstreichen, daß das eigentliche Problem, nämlich die Gewährung von Leistungen bei Zahnersatz, Gegenstand der Beratung der Sachverständigenkommission ist, in der alle Beteiligten - Krankenkassen, Arbeitgeber, Gewerkschaften usw. - vertreten sind.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine letzte Zusatzfrage.

Franz Varelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist dem Bundesministerium bekanntgeworden, daß in Kreisen der Selbstverwaltung das Verlangen des Bundesversicherungsamts wesentliches Unbehagen ausgelöst hat? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe einleitend darauf hingewiesen, daß das Bundesversicherungsamt nicht mit dem Blick auf eine ganz bestimmte Leistung interveniert, sondern daß das Bundesversicherungsamt darauf zu achten hat, daß bei den Leistungen insgesamt, die ich hier genannt habe - um welche Art es sich auch im einzelnen handelt - die Grundsätze des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes beachtet werden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung beantwortet. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Der Herr Abgeordnete Dr. Schulze-Vorberg hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage, der Frage 117, gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 118 des Herrn Abgeordneten Ott auf: Muß aus der Anzeigenaktion der Bundesregierung Ende Januar 1972 über die Erweiterung der EWG geschlossen werden, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, Presse, Rundfunk und Fernsehen hätten die Bevölkerung bis dahin unzureichend, falsch oder tendenziös einseitig über die europäische Integration unterrichtet? Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Ahlers zur Verfügung. Herr Staatssekretär!

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich möchte Ihre Frage wie folgt beantworten. Es wäre falsch, Herr Abgeordneter, einen derartigen Schluß zu ziehen, wie er in Ihrer Frage nahegelegt wird. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Presse, Rundfunk und Fernsehen sehr wohl die Bevölkerung ausreichend und korrekt über die europäische Integration unterrichtet haben. Unsere Anzeige sollte lediglich noch einmal unterstreichen, für wie wichtig die Bundesregierung den Vorgang der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft hält. Sie sollte darüber hinaus dartun, daß die Europapolitik gegenüber der Ost- und Westpolitik keineswegs in den Hintergrund getreten ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Anton Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, mir zu sagen, wie hoch die Aufwendungen dafür waren, daß diese Anzeigenaktion durchgeführt werden konnte?

Not found (Staatssekretär:in)

Ja, Herr Abgeordneter, 157 000 DM.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Anton Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie mir den Unterschied erklären, der zwischen dieser Art von in steigendem Maße betriebenen Propaganda der Bundesregierung und der Art von Propaganda, die das frühere Reichspropagandaministerium entwickelt hat, besteht?

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege Ott. Bitte stellen Sie Ihre Zusatzfragen nicht in wertender Form, sondern als Sachzusatzfrage.

Anton Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, da Sie vorher erklärt haben, daß die öffentlichen Publikationsmittel ihre Pflicht vollauf erfüllen, halten Sie die Bevölkerung für so wenig informiert, daß Sie glauben, daß hier eine zusätzliche Propaganda der Regierung für ihre Verdienste notwendig ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, erst einmal handelt es sich ja bei der Europapolitik sicher nicht um ein alleiniges Verdienst der Regierung, ({0}) sondern wir alle hier sind uns ja darüber klar, daß die Europapolitik eine gemeinsame Angelegenheit ist. Zum zweiten ist das Problem - ich lasse einmal, wenn Sie erlauben, eine Auseinandersetzung über den Begriff der Propaganda beiseite - jeder Werbung, ob politischer oder kommerzieller Art, nicht der mangelnde Informationsstand der Bevölkerung, sondern die Tatsache, daß wir alle zusammen alles ' sehr schnell vergessen. Es ist daher notwendig, die Bevölkerung immer wieder an Sachverhalte und Vorgänge zu erinnern, wie es ja auch die Werbung nötig hat, für jedes Produkt das Interesse der Bevölkerung ständig neu zu finden. Das ist ein allgemeiner Zustand, der sicher nicht auf die politische Werbung beschränkt ist und der gar nichts damit zu tun hat, daß man etwa den Informationswillen oder den Informationsstand der Bevölkerung zu gering bemißt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Jahn, Sie hatten sich zu einer Zusatzfrage gemeldet. Bitte!

Dr. Hans Edgar Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001014, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, niemand bestreitet der Bundesregierung das Recht, sich auch publizistisch für die Erweiterung der EWG und für die politische Union einzusetzen. Aber sind Sie nicht der Meinung, daß sich die Bundesregierung in diesen Inseraten mehr als übernommen hat, wenn sie den Wandel der französischen Europapolitik durch den Nachfolger de Gaulles, den Präsidenten Pompidou, der die Voraussetzungen für die Erweiterungsverhandlungen war, und das Ergebnis, das Sie in Ihren Inseraten feiern, allein auf ihr Konto schreibt, wobei Sie doch eben gesagt haben, daß Sie den Erfolg der Europapolitik allen in diesem Hause vertretenen Parteien zuschreiben?

Not found (Staatssekretär:in)

Natürlich, Herr Abgeordneter, und ich bleibe auch bei dem, was ich gesagt habe. Aber wenn ,die Bundesregierung wirbt - was, wie Sie ja auch eben gesagt haben, ihr gutes Recht ist -, wirbt sie natürlich für sich und nicht auch für alle anderen. Selbstverständlich stimme ich Ihnen zu, daß der Wechsel auf der europäischen Bühne, den Sie angesprochen haben, die Grundvoraussetzung für den Erfolg dieser Erweiterungspolitik war.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Damm.

Carl Damm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind nicht, wenn es sich, wie Sie in Ihrer ersten Antwort gesagt haben, lediglich darum handelte, gewissermaßen einen Strich unter etwas, was schon allgemein bekannt ist, zu ziehen, damit es noch hervorgehoben wird, 157 000 DM, eine ganze Menge Geld und doch wohl etwas zuviel für eine solche Unterstreichung, also kaum mit einer sorgfältigen Haushaltsführung zu vereinbaren?

Not found (Staatssekretär:in)

Im Gegenteil, Herr Abgeordneter, angesichts der Anzeigenkosten ist es, wenn eine Anzeigenaktion nur 157 000 DM kostet, eine ungewöhnlich sparsame Verwendung von Haushaltsmitteln. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Herrn Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes beantwortet. Ich danke Ihnen. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Bundesminister Genscher zur Verfügung. Ich rufe zuerst die vom Abgeordneten Engholm eingebrachte Frage 37 auf: Trifft es zu, daß im Gegensatz zu anderen uniformierten Einheiten wie Bundeswehr, Polizei und Zoll der Bundesgrenzschutz eine gewisse Haarlänge vorschreibt und disziplinarisch gegen Beamte vorgeht, die sich dieser Vorschrift nicht beugen, und ist dies nach Meinung der Bundesregierung mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vereinbar?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, für den Bundesgrenzschutz ist die Frage der Haartracht weder ein modisches Problem noch eine Frage der Geschmacksorientierung noch gar der Ideologie. Es geht vielmehr allein darum, die aus den dienstlichen Erfordernissen gebotenen Konsequenzen zu ziehen. Dabei ist es selbstverständlich, daß die Beamten des Bundesgrenzschutzes dieselben Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wie jeder andere Staatsbürger haben. Es ist übrigens nicht richtig, daß eine gewisse Haarlänge vorgeschrieben ist. Die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes sind lediglich gehalten, den Erfordernissen des Dienstes und auch ihrer eigenen Sicherheit Rechnung zu tragen. - Es kann auch nicht, wie in der Frage geschehen, verallgemeinernd gesagt werden, daß z. B. bei der Polizei nicht auch ähnliche Erfordernisse gesehen werden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Björn Engholm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000476, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, würden Sie disziplinarische Maßnahmen, etwa auch in Form von sehr empfindlichen Geldbußen, auch dann für angebracht halten, wenn sich der in diesem Fall von mir mittelbar angesprochene Beamte des Bundesgrenzschutzes in Lübeck freiwillig bereit erklärt hat, während des Dienstes seine mäßig langen Haare mit einer Perücke zu verdecken?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich glaube, daß das ein klassischer Fall einer Ermessensentscheidung ist. Ich meine, daß ein solcher Fall nicht unbedingt bestraft und schon gar nicht mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt werden sollte. Dabei gehen allerdings sicher die Meinungen darüber, was als empfindlich zu betrachten ist, auseinander.

Björn Engholm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000476, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf ich mir, da es sich bei diesem Soldaten um einen Beamten handelt, dessen Haarlänge etwa der meinen gleich ist, die Frage erlauben: Würden Sie mich auf Grund meiner Haarlänge als BGS-inkonform betrachten? ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, hier findet der amtierende Präsident ein Haar in der Suppe. Die Frage steht nicht mehr in dem erforderlichen unmittelbaren Zusammenhang. Aber der Herr Minister kann natürlich dazu noch etwas sagen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Gleichwohl, Herr Präsident, hätte ich gern noch zum Ausdruck gebracht, daß es sicher zumindest für den BGS ein Gewinn wäre, wenn Sie, Herr Abgeordneter, dort möglicherweise eine Reserveübung ableisteten. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, wir sind mit dem Haarwuchs noch nicht am Ende. Sie hatten noch eine zweite Frage gestellt, die Frage 38: Ist der Bundesregierung weiterhin bekannt, aus welchen Gründen der Bundesgrenzschutz seinen Beamten in solchen Fällen keine Haarnetze zur Verfügung stellt und warum er mit drakonischen Maßnahmen gegen Beamte mit langen Haaren vorgeht?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, Haarnetze werden beim BGS nicht ausgegeben, weil sie unter den Erfordernissen des BGS als nicht geeignet erscheinen. Von drakonischen Maßnahmen gegen Beamte mit, wie es in Ihrer Frage heißt, langen Haaren, ist mir nichts bekannt. Ich werde aber gern jedem von Ihnen aufgezeigten Einzelfall nachgehen. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Keine weiteren Fragen zu diesem sicher sehr interessanten Thema. Die Fragen 39 und 40 des Abgeorneten Dr. Schmitt-Vockenhausen werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Dr. Schneider ({0}) und die Frage 42 des Abgeordneten Niegel gemeinsam auf, weil diese Fragen in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ich nehme an, die Fragesteller sind damit einverstanden: Was gedenkt die Bundesregierung gegen die Absicht der Kommunistischen Partei Italiens zu unternehmen, in der Bundesrepublik Deutschland Betreuungsstellen für italienische Gastarbeiter einzurichten? Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung gegen die Errichtung von Regionalsektionen der Kommunistischen Partei Italiens in Stuttgart für Süddeutschland und in Köln für Norddeutschland, und welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus der angekündigten Zusammenarbeit der Kommunistischen Partei Italiens ({1}) mit der Deutschen Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Arbeiterjugend ({2}) sowie des Studentenbunds Spartakus?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, ich bitte, hier ausnahmsweise wegen der Komplexität sehr ausführlich antworten zu dürfen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich habe das von mir aus schon miteinander verbunden. Die Fragesteller haben auch keine Bedenken.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Kommunistische Partei Italiens betätigt sich schon seit zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Sie verfügt seit 1968 über einen eigenen Parteiapparat, den sie in den folgenden Jahren angesichts der steigenden Zahl der Gastarbeiter immer weiter ausgebaut hat. Die amtlichen Erkenntnisse über die Tätigkeit der KPI in der Bundesrepublik sind allerdings lückenhaft. Bis 1970 gab es keine gezielte Beobachtung in dieser Richtung. Wegen der Zunahme politischer Aktivitäten von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland habe ich im Februar 1970 die Anweisung gegeben, im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten politisch extreme Ausländergruppen gezielt zu beobachten. Für die Zeit vor 1970 liegen daher nur Randerkenntnisse vor. Diese besagen, daß die Kommunistische Partei Italiens bis 1970 Stützpunkte im Raum Stuttgart, Düsseldorf, Köln, Saarbrücken und München gebildet hatte. Der Parteiapparat gliederte sich in Nationalkomitees, Landeskomitees, Bezirkskomitees, Kreiskomitees sowie in KPI-Zellen und -Betriebsgruppen. So gab es beispielsweise Betriebsgruppen bei Bosch und Mercedes-Benz in Stuttgart, bei MAN in München und bei der Firma Ford in Köln. Im September 1971 beschloß die KPI nach den vorliegenden Erkenntnissen, ihre Parteistruktur und den Parteiapparat in der Bundesrepublik neu zu ordnen. Dementsprechend wurden am 30. Januar 1972 in Stuttgart und am 6. Februar 1972 in Köln Gebietsföderationen Süd und Nord gegründet. Die KPI verfolgt dabei das Ziel, ihre Arbeit in der Bundesrepublik effektiver und intensiver zu gestalten. An der bereits geschilderten Parteistruktur wird offensichtlich festgehalten. Die KPI nennt für die Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen folgende Ziele: Mitgliederwerbung und Vorbereitung der Mitglieder für den Kampf für den Kommunismus in Italien nach ihrer Rückkehr, soziale Betreuung der italienischen Arbeitnehmer, Gleichstellung mit deutschen Arbeitnehmern, Verbesserung der Lohn-, Schul- und Berufsausbildungsverhältnisse. Die Arbeit der KPI geschieht im wesentlichen auf zwei Ebenen, und zwar durch die Parteiorganisation und durch die im März 1970 gegründete Betreuungsorganisation, genannt „Italienischer Verband der Auswanderer und ihrer Familien" ({0}). Die FILEF hat derzeit 22 Zweigstellen in der Bundesrepublik. Sie gibt in ihrer Satzung kulturelle, sportliche und soziale Ziele an und wird von KPI-Funktionären geleitet. Angestrebt wird eine möglichst große Mitgliedschaft italienischer Arbeitnehmer mit dem Ziel, eine starke Basis für Verhandlungen mit den deutschen Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen und politischen Institutionen zu haben. Über die Betreuung ihrer Landsleute in der Bundesrepublik hinaus versucht die KPI mit Hilfe die9878 ser Organisation die italienischen Arbeitnehmer in ihrem Sinne zu beeinflussen und Mitglieder für die Partei zu werben. Hauptzweck der Gründung war, einen Einfluß über den Kreis der Parteimitglieder hinaus zu gewinnen. Was nun die Zusammenarbeit mit der DKP, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend sowie dem sozialistischen Studentenbund Spartakus angeht, so ist folgendes festzustellen. Die Beziehungen zur DKP und ihren Jugendorganisationen leiden bisher unter den unterschiedlichen ideologischen Auffassungen. Die KPI versucht, eine gewisse Eigenständigkeit zu wahren, während in den Augen der KPI die DKP vorbehaltlos die Linie der KPdSU vertritt. Wie bekannt wurde, trafen sich in jüngster Zeit Funktionäre der KPI und der DKP, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Den Funktionären der KPI soll dabei die volle Unterstützung der DKP zugesagt worden sein. Auf Betriebsebene bestehen bereits Kontakte, z. B. bei der Herausgabe von Betriebszeitungen der DKP mit Texten in italienischer Sprache. Eine dritte Ebene der Partei der KPI in unserem Lande stellen die sogenannten „Betreuungsbüros" der italienischen Gewerkschaft CGIL, z. B. das „Nationale Verbandsfürsorgeinstitut" ({1}), dar. Die CGIL ist eine kommunistisch beeinflußte Gewerkschaft. Die „INCA"-Büros beraten und unterstützen die italienischen Arbeitnehmer kostenlos in sozialen Fragen. Das erste INCA-Büro wurde 1961 in Heidel- berg eingerichtet. Es folgten 1963 Büros in München, Bayreuth und Köln, 1964 in Bremen und Hannover, 1965 in Stuttgart und 1966 in Düsseldorf. Die Mitarbeiter der Büros sind hauptamtlich tätig. Sie versuchen, im Rahmen der Betreuung die Hilfesuchenden auch in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die italienische Regierung gewährt den von ihr anerkannten Betreuungsorganisationen einen Beitrag zu den durch die soziale Betreuung der italienischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland entstehenden Kosten. Die Organisationen müssen am Ende jeden Jahres einen detaillierten Bericht über ihre Betreuungsarbeit vorlegen. Die von der kommunistisch beeinflußten Gewerkschaft CGIL geschaffene Betreuungsorganisation INCA ist seit ihrem Bestehen von der italienischen Regierung anerkannt und erhält für ihre Betreuungstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland in der genannten Weise vom italienischen Staat finanzielle Unterstützung. Die von der KPI aufgebaute Betreuungsorganisation FILEF wurde seitens der italienischen Regierung zunächst als private Vereinigung von italienischen Gastarbeitern angesehen und erhielt keinerlei staatliche Finanzhilfe, wie eine solche auch der Parteiorganisation der KPI in der Bundesrepublik Deutschland nicht gewährt wird. Erst vor ungefähr zwei Monaten hat die italienische Regierung auch die FILEF, also die Betreuungsorganisation der KPI, als Betreuungsorganisation anerkannt. Sie wird dieser bei einem entsprechenden Nachweis ihrer Betreuungstätigkeit in gleicher Weise wie den anderen anerkannten Betreuungsorganisationen einen Beitrag zu den entstandenen Kosten gewähren. Soweit bekannt ist, haben Ausschreitungen oder gewaltsame Aktionen italienischer Kommunisten im Bundesgebiet bisher nicht stattgefunden. Die italienische KP hat ihre Mitglieder ausdrücklich angewiesen, ihre Tätigkeit nur im Rahmen der Gesetze auszuüben. Daran haben sie sich nach den mir vorliegenden Feststellungen bisher auch gehalten. Meine Herren Kollegen, was Ihre Fragen anbelangt, welche Maßnahmen die Bundesregierung zu ergreifen beabsichtigt, so sind die Bestimmungen des Ausländerrechts und des Vereinsrechts zu prüfen. Wie Sie sicherlich wissen, hat die Stadt Frankfurt am Main im November vorigen Jahres gemäß § 6 Abs. 2 des Ausländergesetzes vier Funktionären der rechtsextremen italienischen Partei MSI jegliche politische Tätigkeit untersagt, die darauf abzielt, für die MSI zu werben oder sonstwie im Bereich der Bundesrepublik Deutschland für diese Vereinigung öffentlich tätig zu werden. Auslösendes Moment war die Absicht, in Frankfurt ein Büro zu eröffnen. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat den Antrag auf Aufhebung der sofortigen Vollziehung dieser Verbotsverfügung zurückgewiesen und die Untersagungsgründe in diesem Verfahren als gegeben angesehen. Für ausländerrechtliche Maßnahmen gegen die KPI oder ihre Hilforganisationen wären auch hier die Ausländerbehörden am Sitz des jeweiligen Büros, also im Falle der KPI etwa in Stuttgart oder Köln, zuständig. Eventuelle vereinsrechtliche Maßnahmen beurteilen sich nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes und § 14 und 15 des Vereinsgesetzes. Mit der Frage, ob und inwieweit gegen die Tätigkeit der KPI in der Bundesrepublik Deutschland mit ausländer- oder vereinsrechtlichen Mitteln vorgegangen werden kann, wird sich morgen die Innenministerkonferenz befassen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich den Beratungen dort nicht vorgreifen möchte.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schneider ({0}).

Dr. Oscar Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, teilen Sie die Auffassung, daß außer sicherheitsrechtlichen und politischen Erwägungen die zunehmende Betätigung ausländischer Parteien auch unter anderen Gesichtspunkten von Bedeutung ist, wenn die Ausländer sich wachsend und mit immer verbesserten Organisationen in die inneren Angelegenheiten des Gastlandes einmischen oder es zum Austragungsort von politischen Spannungen und Streitigkeiten machen, die ihren Ursprung in anderen Ländern und in anderen Gesellschaftssystemen haben?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat nie einen Zweifel darüber gelassen, daß sie es nicht zulassen wird, daß innenpolitische Streitigkeiten anderer Länder auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland übertragen und hier ausgetragen werden. Eine anBundesminister Genscher dere Sache ist es, wenn es sich um die Wahrnehmung von Interessen hier arbeitender Gastarbeiter handelt. Ich glaube, wir müssen uns dem sehr komplexen, auch gesellschaftspolitischen Problem stellen, das darin besteht, daß wir in unserem Land eine sehr große Zahl ausländischer Gastarbeiter haben, die an dem Produktivitätsfortschritt und dem Wohlstand in unserem Lande mitwirken. Daraus ergeben sich auch gesellschaftliche Probleme, die sicher noch nicht in dem erforderlichen Maß gelöst sind, wie es eigentlich der Fall sein sollte.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Oscar Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, haben Sie Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Gründung der KPI-Zweigstellen und der Betreuungsorganisationen und ihre Zusammenarbeit mit der DKP im Rahmen der von Ihnen im Verfassungsschutzbericht 1969/70 dargestellten Strategie des proletarischen Internationalismus liegt, der auf eine sozialistische Umwälzung der derzeitigen Verhältnisse auch in der Bundesrepublik Deutschland abzielt?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, es ist bekannt, daß es eine Reihe gemeinsamer Ziele der kommunistischen Parteien in allen Ländern gibt. Ich habe bei der Feststellung, daß die Kommunistische Partei Italiens ihren Mitgliedern in der Bundesrepublik die Weisung gegeben hat, sich streng nach den Gesetzen unseres Landes zu richten, auch diesen Tatbestand mit im Auge gehabt. Gegenteiliges hat bisher nicht festgestellt werden können.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, wäre es möglich, daß in den Besprechungen der Vertreter der Sozialdemokratischen Partei im Jahre 1968 -diese Besprechungen waren schon einmal Gegenstand der Fragestunde; sowohl Sie als auch Herr Ehmke hatten sich innerhalb weniger Wochen hier mit diesem Thema zu befassen; Herr Ehmke sagte seinerzeit, die Besprechungen seien deswegen durchgeführt worden, um die Haltung der Kommunistischen Partei Italiens zu eruieren - seitens der jetzigen Regierungsmitglieder Franke und Staatssekretär Bahr bestimmte Zusagen im Hinblick auf die Tätigkeit der KPI in Deutschland gemacht worden sind?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich habe erstens nicht die Aufgabe, als Mitglied der Bundesregierung Fragen zu behandeln, die allein in die Zuständigkeit von Parteien, und zwar demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, fallen. Zweitens kann ich mir nicht vorstellen, daß die von Ihnen genannten Persönlichkeiten derartige Zusicherungen gegeben haben, schon deshalb nicht, weil -- wenn Sie meiner ersten Antwort aufmerksam zugehört hätten, müßten Sie das wissen ---- die Tätigkeit der Kommunistischen Partei Italiens viele Jahre vor dem von Ihnen genannten Zusammentreffen aufgenommen worden ist. Herr Abgeordneter, drittens hätte ich es begrüßt, wenn Sie diese Fragestunde zum Anlaß genommen hätten, lieber noch einmal den mit diesem Thema im Zusammenhang stehenden Komplex aufzugreifen, da Sie zwar in einer Presseerklärung, nicht aber im Deutschen Bundestag die Behauptung - ich betone: die unzutreffende Behauptung - aufgestellt haben, Sie seien hier von der Bundesregierung falsch unterrichtet worden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, halten Sie die Voraussetzungen für Verbotsmaßnahmen gegen diese Zweigstellen oder Sektionen der KPI in der Bundesrepublik nicht ebenso für gegeben, wie Sie die von Ihnen vorhin angezogenen Verbotsmaßnahmen gegen die rechtsextremistische MSI in Frankfurt für geboten halten?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich hatte bereits zum Ausdruck gebracht, daß für die Anordnung der ausländerrechtlichen Maßnahmen die dort zuständigen Behörden verantwortlich sind. Ich gehe davon aus, daß die Behörden, die ausländerrechtlich die Verantwortung in den Städten tragen, in denen die Kommunistische Partei Italiens Zweigstellen unterhält, den Sachverhalt mit der gleichen Gewissenhaftigkeit prüfen, wie das in einem anderen Fall in Frankfurt geschehen ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.

Valentin Brück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, eingangs Ihrer Ausführungen haben Sie dargelegt, daß Sie der morgigen Beratung nicht vorgreifen wollten. Sind Sie denn für Ihre Person bereit, das Ausländergesetz, insbesondere den § 6 des Gesetzes, in die morgigen Beratungen sehr eingehend einzubeziehen, nachdem gewisse Erfahrungen gemacht worden sind?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich werde alle gültigen Bestimmungen in die morgigen Beratungen einführen. Ich gehe davon aus, daß auch meine Kollegen aus den Ländern das tun werden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Matthöfer.

Hans Matthöfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001439, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, meinen Sie nicht auch, daß es besser wäre, anstatt mit polizeilichen Verbotsmaßnahmen gegen solche Tenden9880 zen vorzugehen, gewissermaßen positiven Verfassungsschutz zu betreiben, indem man die ausländischen Arbeiter stärker als bisher über unsere demokratischen Institutionen und über die Arbeitsweise unserer demokratischen Parteien und Gewerkschaften aufklärt? ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich hatte, glaube ich, schon in einer früheren Antwort gesagt, daß das gesellschaftspolitische Problem der Integration ,dazu gehört auch die Aufklärung über die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland - ohne Zweifel noch nicht befriedigend gelöst ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von Thadden. von Thadden ({0}) : Herr Minister, können Sie uns eine Angabe darüber machen, wie sich die Intensität der Arbeit der KPI auf deutschem Boden zur Intensität der Arbeit rechtsradikaler, also neofaschistischer Gruppen aus Italien verhält?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ohne Zweifel ist die Organisationsdichte der Kommunistischen Partei Italiens stärker.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Hern Abgeordneten Becher.

Dr. Walter Becher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000122, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, habe ich Sie recht verstanden, als Sie vorhin sagten, daß sich die Organisationen der KPI insbesondere seit 1970 stark verbreitet hätten? Und darf man da nicht doch annehmen, daß bei den im Jahre 1967 geführten Geheimgesprächen zwischen Vertretern der KPI und der Sozialdemokratischen Partei, bei denen - den vorliegenden Quellen nach - die Wiederzulassung der KPD zugesagt worden sein soll, auch die Zulassung einer intensiven Tätigkeit der KPI zugestanden worden sein kann?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeodneter, ich glaube, daß man zunächst einmal den Komplex Deutsche Kommunistische Partei und KPI, was die Betätigungsmöglichkeiten angeht, streng trennen muß. Die Deutsche Kommunistische Partei hat ihre Tätigkeit bekanntlich im Jahre 1968 aufgenommen. Einer Zulassung, wie Sie meinen, bedurfte es dazu nicht. Wohl aber ist richtig, daß die damalige Bundesregierung, die Regierung Kiesinger, und auch der Bundesminister des Innern keine Veranlassung gesehen haben, Maßnahmen gegen die Aufnahme der Tätigkeit der Deutschen Kommunistischen Partei zu ergreifen. Es sind, wie Sie wissen, solche Maßnahmen jedenfalls nicht ergriffen worden. Was nun die Tätigkeit der Kommunistischen Partei Italiens angeht, so scheint mir schon der Ausgangspunkt Ihrer Frage auf einem Mißverständnis zu beruhen. Ich habe nicht gesagt, daß seit dem Jahre 1970 die Tätigkeit der Kommunistischen Partei Italiens besonders intensiv geworden sei, sondern ich habe gesagt, die Erkenntnisse aus der Zeit vor 1970 seien deshalb lückenhaft, weil damals, also vor 1970, die nach Auffassung der jetzigen Bundesregierung gebotene Aufmerksamkeit diesen Aktivitäten nicht geschenkt worden ist. Erst ein Erlaß aus dem Jahre 1970 hat dafür die Veranlassung geboten. Deshalb sind die Erkenntnisse seit dieser Zeit größer, intensiver und weniger lückenhaft, was aber keinesfalls den Schluß zuläßt, daß etwa erst in diesem Zeitpunkt eine intensive Tätigkeit aufgenommen worden wäre.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Miltner.

Dr. Karl Miltner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001510, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß nunmehr durch die zahlenmäßige Verstärkung der KPI-Zweigstellen in der Bundesrepublik und die verstärkte Aktivität dieser Zweigstellen eine neue tatsächliche und rechtliche Situation gegeben ist? Und teilen Sie damit auch die Auffassung Ihres Parteifreundes Weyer, der diesen Zustand charakterisiert hat und daran Maßnahmen geknüpft haben möchte?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, die Rechtssituation hat sich nicht verändert, weil ja auch keine neuen Gesetze in diesem Bereich ergangen sind. Die tatsächliche Situation ist in der Tat in der Entwicklung. Das ist auch der Anlaß dafür, daß sich die Innenministerkonferenz morgen mit dieser Frage befaßt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz.

Prof. Dr. Carl Otto Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001322, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, gibt es eigentlich auch Betreuungsorganisationen italienischer Arbeiter, die dem MSI nahestehen, und werden auch sie vom italienischen Staat unterstützt?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich kann diese Frage im Augenblick nicht beantworten, aber die Tatsache, daß der italienische Staat die kommunistische Betreuungsorganisation unterstützt, scheint mir zu zeigen, daß dabei parteipolitische Unterschiede nicht gemacht werden. Aber bitte, das ist nur eine Annahme. Ich will gern auch dieser Frage nachgehen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vogel.

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, nachdem Sie zur tatsächlichen Seite zu erkennen gegeben haben, daß der Sachverhalt weitgehend von Ihrem Hause erforscht und aufgeklärt ist, und nachdem insoweit eine ausreichende tatsächliche Beurteilungsgrundlage für die rechtliche Beurteilung besteht, wenn ich davon ausgehe, daß Sie als Bundesinnenminister insoweit zuständig sind, möchte ich Sie fragen: Sind Sie als der zuständige Minister nicht doch in der Lage, dem Hause Ihre rechtliche Würdigung des gegebenen Sachverhalts mitzuteilen, auch angesichts der Tatsache, daß sich die Länderinnenminister morgen mit diesem Komplex beschäftigen werden?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich hatte versucht, darzulegen, daß der Bundesinnenminister zwar für vereinsrechtliche Maßnahmen, nicht aber für andere zuständig ist. Die Bundesregierung legt Wert darauf, daß alle Maßnahmen, die in diesem Bereich getroffen werden, in einer absoluten Abstimmung mit den Bundesländern stattfinden. Ich glaube, daß jeder, der die Struktur der Bundesrepublik Deutschland kennt, insbesondere auch die zwischen Bund und Ländern verteilte und geteilte Verantwortung für die öffentliche Sicherheit, Verständnis dafür haben wird, wenn die Bundesregierung über Maßnahmen von solch schwerwiegender und tiefgreifender Art nur in voller Übereinstimmung mit den Bundesländern entscheidet. Das ist der Grund, warum ich die morgige Sitzung der Innenminister nicht präjudizieren möchte.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Wir kommen zur Frage 43 des Herrn Abgeordneten Wagner ({0}). Hier hat der Fragesteller um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Büchner auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß Personalbogen, die im öffentlichen Dienst verwendet werden, eine Rubrik „Orden und Ehrenzeichen" enthalten, und wird die Bundesregierung veranlassen, daß diese Rubrik in Zukunft nicht mehr in Personalbogen erscheint?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Frage nach Orden und Ehrenzeichen, Herr Abgeordneter, ist nicht allgemein in den Personalbogen der Bundesbehörden enthalten. Die Angabe von Orden und Ehrenzeichen wie auch von Titeln kann natürlich von Bedeutung sein, wenn sich damit das Persönlichkeitsbild des Bewerbers in Beziehung zu seinem Werdegang oder zu der vorgesehenen beruflichen Verwendung abrundet. Ich meine, man sollte es der Beurteilung des jeweils für die Personalverwaltung verantwortlichen Ressorts überlassen, ob es derartige Angaben zu den Eignungs- und Leistungsmerkmalen in Beziehung setzen will.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Peter Büchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, sind Sie in der Lage, konkrete Beispiele zu geben, wie der Besitz von Orden und Ehrenzeichen für die fachliche Qualifikation von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst relevant werden könnte?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich würde nicht sagen: „für die fachliche Qualifikation". Aber, Herr Abgeordneter, wenn ein demokratischer Staat - und die Bundesrepublik Deutschland hat sich dazu bekannt - bestimmte Auszeichnungen verleiht. besteht kein Grund, sie zu verschweigen. Niemand ist verpflichtet, diese Fragen zu beantworten.

Peter Büchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, mir liegt hier ein Personalbogen der Oberfinanzdirektion Münster für Verwaltungsangestellte vor, in dem unter anderem auch nach Olympia-Ehrenzeichen gefragt wird. Da Sie nun auch für den Sport verantwortlich sind, möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß, wenn eine solche Qualifikation nur irgendwie Voraussetzung wäre, um Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst werden zu können, nach den Olympischen Spielen in Sapporo und wohl auch nach denen in München die Personalknappheit im öffentlichen Dienst dadurch vielleicht noch entsprechend verstärkt werden würde?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, diese Ihre Meinung muß ich in der Tat schon aus eigennützigen Gründen teilen, weil auch mir auf diese Weise der Weg in den öffentlichen Dienst verschlossen wäre. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Offergeld auf: Welche Erkenntnisse über die Wirkungen von Naßkühltürmen auf Klima und Luft liegen bisher vor, und ist die Bundesregierung bereit, gemeinsam mit der Schweiz die voraussichtlichen Auswirkungen der Kühlsysteme der geplanten Kernkraft- werke Kaiseraugst und Leibstadt zu prüfen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die möglichen regionalen klimatischen Auswirkungen des Betriebes von Naßkühltürmen großer Kernkraftwerke erhebliche Bedeutung haben. Die Wirkung von Naßkühltürmen auf Klima und Luft ist grundsätzlich bekannt, jedoch sind die Folgen weitgehend von den örtlichen meteorologischen Gegebenheiten abhängig. Im Einzelfall kann daher nur ein sachverständiges Gutachten Aufschluß über die Auswirkungen geben. Von schweizerischer Seite ist ein Gutachten in Angriff genommen worden, das die hier gestellten Fragen im Zusammenhang mit dem geplanten Schweizer Kernkraftwerk mit Naßkühltürmen in Kaiseraugst behandeln wird. Die Fertigstellung des Gutachtens wird für April erwartet. Die Bundesregierung wird bilaterale Kontakte mit schweizerischen Bundesbehörden aufnehmen, um zu versuchen, Unterlagen über die genannten und geplanten Kernkraftwerke zu erhalten. Dabei ist zu prüfen, ob das begonnene Schweizer Gutachten auch auf Leibstadt übertragbare Ergebnisse liefern wird oder ob ein gesondertes Gutachten erforderlich ist. Eine deutsche Stellungnahme kann erst nach Vorliegen des Gutachtens abgegeben werden. Jedenfalls wird die Bundesregierung bei wesentlicher Beeinträchtigung deutscher Interessen entsprechende Schritte einleiten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Offergeld.

Rainer Offergeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, sicherlich teilen Sie die Auffassung der Ministerkonferenz für Raumordnung, wonach dem Standort von Kernkraftwerken große Bedeutung für die Raumordnung und Landesplanung zukommt. Kann ich davon ausgehen, daß Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es für die Interessen beider Seiten schädlich sein könnte, wenn in der Nordostschweiz, also zur deutschen Grenze hin, in erheblicher Massierung Standorte von Kernkraftwerken festgelegt würden, ohne daß das vorher mit uns abgestimmt würde?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, mit den Grundsätzen der Raumordnungsministerkonferenz stimme ich in vollem Umfang überein. Die Frage, ob das auch in dem von Ihnen angegebenen Fall zutrifft, ist ja gerade Gegenstand der Prüfung. Aber ich bin der Meinung, daß es unseren gutnachbarlichen Beziehungen ebenso wie der Notwendigkeit einer europäischen Raumordnungspolitik entspricht, wenn die Festlegung der Standorte keinesfalls ohne Abstimmung geschieht.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Rainer Offergeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf ich auf Grund Ihrer Antwort auf meine Frage davon ausgehen, daß eine solche Abstimmung - Sie haben gesagt, Sie bemühten sich um Unterlagen - bisher nicht erfolgt ist, obwohl die Planungen für diese Kraftwerkbauten in der Schweiz schon nahezu abgeschlossen sind, wenn man Pressemeldungen glauben darf?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ja, jedenfalls nicht eine Abstimmung mit einer abschließenden Meinungsbildung.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.

Johann Peter Josten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, wären Sie bereit, die genauen Prüfungsergebnisse über die Wirkungen von Naßkühltürmen auf Luft und Wasser, von denen Sie vorhin sprachen, jeweils den örtlichen Behörden dort zur Verfügung zu stellen, wo, wie z. B. in Bad Breisig oder im Raum Weißenthurm am Rhein, Kernkraftwerke geplant werden?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Jawohl.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Schlee auf: Wie gedenkt die Bundesregierung auf die laut Bekanntgabe des bayerischen Staatsministeriums des Innern, nach der tschechoslowakische Sicherheitsorgane sich in der Nacht zum Mittwoch, dem 2. Februar 1972 wiederum durch Festnahme oder Bedrohung mit Schußwaffen eines Flüchtlings bemächtigt haben, der sich bereits auf dem deutschen Ufer der Röslau bei Schirnding/ Mühlbach ({0}) befand, neuerliche Verletzung der Gebietshoheit und des Asylrechts der Bundesrepublik Deutschland (0 zu reagieren?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt beantworte ich die Frage wie folgt: Nach den Feststellungen des Bundesgrenzschutzes hat sich in der Nacht vom 1. zum 2. Februar 1972 an der deutschtschechoslowakischen Grenze folgendes ereignet. Gegen 22.30 Uhr beobachtete eine Streife des Zollgrenzdienstes, daß von einem tschechoslowakischen Beobachtungsturm an der erwähnten Stelle Leuchtkugeln abgeschossen wurden. Unmittelbar darauf riegelten tschechoslowakische Grenzsicherungskräfte die Grenze mit Doppelposten im Abstand von etwa 50 Metern ab. Die Streife des Zollgrenzdienstes und eine von ihr verständigte Streife des Bundesgrenzschutzes erreichten gegen 22.45 Uhr das fragliche Gebiet an der Grenze, konnten aber zunächst keine weiteren Feststellungen treffen. Beim Absuchen der Grenze wurden am 2. Februar 1972 gegen 1.00 Uhr am Ufer der Röslau, die in diesem Abschnitt die Grenze bildet, Spuren gefunden, die vermuten lassen, daß eine Person versucht hat, sich mit den Händen am angeböschten Ufer hochzuziehen und daß sie sich dabei leicht verletzt hatte. Spuren, die darauf schließen ließen, daß tschechoslowakische Grenzsoldaten den Bach oder anderes Bundesgebiet betreten hatten, konnten indessen nicht entdeckt werden. Nach dem festgestellten Sachverhalt spricht zwar einiges für die Vermutung, daß die tschechoslowakischen Grenzsicherungsorgane bei diesem Vorgang einen Fluchtversuch vereitelt haben. Die getroffenen Feststellungen reichen jedoch für den Nachweis einer Grenzverletzung durch die Grenzwachen der Tschechoslowakei nicht aus.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Albrecht Schlee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001978, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, würden die Feststellungen auch dann nicht für den Nachweis einer Grenzverletzung ausreichen, wenn die Ergebnisse zeigten, daß man von tschechoslowakischer Seite mit Waffengewalt den Flüchtlinge zur Rückkehr gezwungen hat?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, wenn das bewiesen werden könnte, wäre das etwas anderes.

Albrecht Schlee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001978, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, da es sich hierbei nicht um den ersten Fall dieser Art handelt, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß derartige Vorkommnisse, auch wenn sie nicht genau festgestellt werden können, in der dortigen Grenzbevölkerung ein Gefühl der Unruhe, der Unsicherheit und der Bedrohung hervorrufen müssen, wenn darauf nicht entschieden reagiert wird?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, das ruft nicht nur bei dieser Grenzbevölkerung Beunruhigung hervor, sondern überall und vor allem dort, wo die Bevölkerung mit diesen Problemen in besonderem Maße konfrontiert ist. Ich glaube aber, daß die Wirksamkeit unserer Proteste in den Fällen, in denen wir genaue Unterlagen haben, herabgemindert würde, wenn wir uns auf den Pfad von Vermutungen begäben, auch wenn diese Vermutungen ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit haben. Es sollte Ihnen bekannt sein, Herr Abgeordneter, daß die Bundesregierung in jedem Fall einer Grenzverletzung, wo immer sie stattfindet, mit aller Energie protestiert, übrigens nicht, wie früher, durch untergeordnete Stellen, sondern als Bundesregierung. Als Mitglied der Bundesregierung tue ich das.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Dr. Fritz Wittmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002540, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hat man sich in diesem speziellen Fall bei den tschechoslowakischen Grenzbehörden um Aufklärung bemüht, da die Spurensicherung, von der Sie hier berichtet haben, darauf hindeutet, daß etwas geschehen ist?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ja, Herr Abgeordneter, das ist geschehen. Der Grenzbeauftragte der bayerischen Grenzpolizei in Furth im Wald hat den Vorfall bei einer aus anderem Anlaß abgehaltenen Besprechung mit Offizieren der tschechoslowakischen Paßkontrolle in Mühlbach zur Sprache gebracht. Auch dabei konnten keine weiteren Erkenntnisse gewonnen werden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Müller ({0}) auf: Welche Zielsetzung verfolgt die Bundesregierung mit dem von ihr in ihrem Umweltprogramm angekündigten Umweltforum, und welche Organisationen und Gruppen sollen in dem Forum vertreten sein?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das Umweltforum ist als eine gemeinsame Veranstaltung für alle an Umweltproblemen Beteiligten gedacht, d. h. für die Verursacher, für Gesetzgebung und Verwaltung in allen Bereichen, für den theoretischen und praktischen Sachverstand, für Vertreter der Medien, insbesondere aber für die von Umweltbelastungen berührten Bürger. Eine solche Zusammenführung von Energien und von Aktivitäten außerhalb der Verwaltung und die Aufnahme von Kritik und Anregungen aus der Bevölkerung hat sich ja bereits bei der Erarbeitung des Umweltprogramms der Bundesregierung außerordentlich bewährt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.

Willi Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001566, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, besteht zwischen diesem Forum, das nach Ihren Worten ja wohl als eine ständige Einrichtung für den Dialog gedacht und geplant ist, und der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen e. V. irgendeine Übereinstimmung und ein Zusammenhang?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Wir den-den auch an diese Arbeitsgemeinschaft.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Willi Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001566, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Halten Sie im Sinne meiner ersten Frage die Zusammensetzung dieses Kreises für so abgewogen - ich meine die Beteiligung aller -, daß er den Gesichtspunkten gerecht werden kann, von denen Sie vorhin gesprochen haben?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Wenn das so wäre und nichts mehr zu wünschen übrigbliebe, brauchten wir dieses neue Gremium nicht zu schaffen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Müller ({0}) auf: Welche Vorbereitungen sind bisher getroffen worden, damit das Umweltforum möglichst bald mit seiner Arbeit beginnen kann?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Wie ich schon gesagt habe, wird das Umweltforum keine Veranstaltung der Bundesregierung sein. Wir hoffen, daß wir dem Hohen Hause in Kürze ausführlich über die Beteiligung berichten können. Wir sind da noch in Gesprächen mit verschiedenen Partnern.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.

Willi Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001566, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf man davon ausgehen, daß zumindest das, was ich vorhin bereits habe anklingen lassen, gesichert sein wird, daß es in dem vorhin genannten Verein auch eine abgewogene personelle Zusammensetzung des Hauptausschusses gibt, wobei alle Interessen berücksichtigt sind? Es darf nicht etwa so aussehen, daß Industrie, Technik und Wissenschaft dominieren, während die eigentlichen Betroffenen, die zum Teil auch Verursacher sind, dabei zu kurz kommen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ja, Herr Abgeordneter. Dabei sind natürlich nicht nur die Verursacher betroffen. Ich finde, Betroffene sind vielmehr diejenigen, die nicht Verursacher sind.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jahn.

Dr. Hans Edgar Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001014, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ist daran gedacht, dieses Umweltforum auch für Interessengruppen aus dem EWG-Bereich zu öffnen? Sie wissen, daß die Harmonisierungsfragen hier eine große Rolle spielen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß ich sehr dafür eintrete, eine internationale Zusammenarbeit zu fördern. Aber ich würde es schon als einen großen Fortschritt ansehen, wenn wir ein sehr differenziertes, unabhängiges Forum dieser Art für unseren Bereich schaffen könnten. Was Sie anregen, kann dann sicher ein nächster Schritt sein.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Die Frage 49 des Abgeordneten Pieroth wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Damit sind die Fragen aus diesem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Minister. Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung steht der Herr Bundesminister Ertl zur Verfügung. Zuerst rufe ich die Fragen 79 und 80 des Abgeordneten Dr. Häfele auf: Welche konkreten Vorstellungen hat die Bundesregierung in der Frage der Einführung von Bewirtschaftungszuschüssen in landwirtschaftlichen Problemgebieten? Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß solche Bewirtschaftungszuschüsse rasch kommen müssen, um zu verhindern, daß infolge übermäßiger Abwanderung aus der Landwirtschaft wertvolle Landschaften veröden?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

1. Im Rahmen der Agrarstrukturpolitik werden verschiedene Hilfen für die Landwirtschaft gewährt. Soweit sie die Landschaftspflege berühren, hat der Bund keine Kompetenz. 2. Die Landschaftspflege ist bis zur Lösung der Frage, ob sie in die konkurrierende Gesetzgebung genommen werden soll oder nicht, ausschließliche Ländersache. 3. Für begrenzte Gebiete stehen Einkommenshilfen zur Diskussion, in Brüssel, aber auch hier in der Bundesrepublik. Es ist sehr schwierig, hierfür die Kriterien zu finden. Diese Hilfen sind sicherlich nicht geeignet, das Problem der Sozialbrache zu lösen. 4. Weil der Bundesregierung die Schwierigkeiten insbesondere für Grünland- und Futterbaubetriebe bekannt sind, hat sie sich ganz besonders bemüht, im Rahmen des Einkommensausgleichs, der für die Verluste durch die D-Mark-Aufwertung gewährt wird, vor allem die Grünland- und Futterbaubetriebe zu berücksichtigen. Das galt auch für die im letzten Jahr zusätzlich gewährte Liquiditätshilfe. Ich kann Ihnen aus meinem Bereich versichern, daß diese Hilfen sehr nützliche Wirkungen gezeigt haben. So konnte im bayerischen Bereich festgestellt werden - ähnliche Berichte habe ich auch aus dem Schwarzwald -, daß beispielsweise seit langem nicht mehr bestoßene Almen wieder neu bestoßen wurden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage.

Dr. Hansjörg Häfele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, denkt die Bundesregierung daran, für den Fall, daß sie die Kompetenz für den Landschaftsschutz erhält, Bewirtschaftungszuschüsse einzuführen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Für ein noch nicht gelöstes Problem kann ich jetzt natürlich keine verbindliche Erklärung abgeben. Herr Kollege, das werden Sie von mir nicht verlangen können. Hier ist ja zunächst das Hohe Haus gefragt; denn das muß das Hohe Haus entscheiden. Aber ich will einmal versuchen, Ihnen hier so präzise wie möglich zu antworten: 1. Das Problem der Sozialbrache ist sicherlich ein Problem, das auch im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur zur Diskussion steht. Diesbezüglich führen wir Verhandlungen mit den Ländern. 2. Selbstverständlich muß sich der Bund, sollte die konkurrierende Gesetzgebung kommen, auf Grund dieser Tatsache und der sich daraus möglicherweise ableitenden legislativen Verpflichtung auch Gedanken darüber machen, wie er zur Lösung des Problems beitragen kann.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Hansjörg Häfele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hat die Bundesregierung schon Vorstellungen, welche Kosten entstünden, wenn solche Bewirtschaftungszuschüsse eingeführt würden?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Häfele, Sie bringen mich hierbei auf einen ganz schwierigen Pfad. Aber ich will Ihnen hier einmal folgendes sagen: Ich lasse in meinem Haus, weil ich diese positiven Erfahrungen mit dem Einkommensausgleich für die Almwirtschaft und Hutungen gesammelt habe, gerade ermitteln, welche Kosten entstehen, wenn man diese Hilfen langfristig fortsetzen könnte. Das soll nicht heißen, daß ein Beschluß über die Fortsetzung dieser Hilfen gefaßt wurde. Aber ich lasse es wenigstens untersuchen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage. Aber, Herr Kollege, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß mit jeder weiteren Zusatzfrage die Chance des Kollegen Höcherl schwindet, daß seine Frage aus diesem Geschäftsbereich noch beantwortet wird.

Dr. Hansjörg Häfele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist meine letzte Zusatzfrage. Herr Bundesminister, teilen Sie meine Meinung, daß hier Eile geboten ist, bald eine Entscheidung herbeizuführen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Häfele, ich teile Ihre Meinung. Ich teile sogar Ihre Meinung, daß bezüglich der konkurrierenden Gesetzgebung Eile geboten ist. Ich kann Sie als Kollegen der bedeuBundesminister Ertl tenden CDU/CSU-Fraktion nur bitten, dem Bundesminister zu helfen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 81 des Abgeordneten Höcherl auf: Trifft es zu, daß Bundesminister Ertl in der Agrardebatte der Beratenden Versammlung in Straßburg die Inflationsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zugestanden hat, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um diese Entwicklung einzudämmen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Höcherl, ich habe keine solche Aussage gemacht, wie Sie es in Ihrer Frage darstellen. Aber ich will Ihnen hier einmal mitteilen, was ich gesagt habe. Ich habe in einer Rede vor dem Europarat im Zusammenhang mit der Fortentwicklung der europäischen Agrarpolitik folgendes ausgeführt - jetzt zitiere ich wörtlich, deshalb muß ich es ablesen, da man sich ja nicht alles merken kann -: „Die Agrarpreiserhöhung muß, solange es keine besseren Alternativen gibt" - das führt übrigens auf die vorhergehende Frage zurück, nämlich zur europäischen Regional- und Strukturpolitik -, „so gestaltet werden, daß sie nicht hinter den Inflationsraten zurückbleibt." Das gilt für die EWG-Agrarpolitik. Damit wird also nicht, wie Sie glaubten, eine Inflationspolitik der Bundesrepublik unterstellt, sondern ich habe allgemein festgestellt, daß das meine Auffassung für eine Normierung bzw. für eine Fixierung von Agrarpreisfestsetzungsdaten ist. Ich muß noch den zweiten Teil beantworten: Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Konjunkturdämpfung darf ich bei einem so versierten Kollegen wie dem Kollegen Höcherl als bekannt voraussetzen. Sie greifen im Augenblick offensichtlich so, daß ein so bedeutender Verband, wie es der DIHT, wie Sie wissen, ist - ich bin gar nicht seiner Meinung -, vor kurzem z. B. gefordert hat, den Konjunkturzuschlag sofort zurückzuzahlen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Hermann Höcherl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, warum haben Sie der Pressemeldung nicht widersprochen, wenn Sie jetzt behaupten, Sie hätten das überhaupt nicht auf Deutschland bezogen, sondern es wären die fünf schlechten Partner, die inflationäre Politik machten, während der chemisch reinen Preispolitik der Bundesregierung so etwas natürlich überhaupt nicht passieren könne.

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Höcherl, ich brauchte gar nicht zu dementieren, weil jeder Mensch und damit auch jeder Journalist das Bulletin der Bundesregierung lesen kann. Dort ist das wortwörtlich veröffentlicht. Ich kann mir nicht die Mühe machen, dann auch noch für Falschleser Dementis zu erlassen. Die Rede ist in vollem Wortlaut veröffentlicht.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine letzte Zusatzfrage.

Hermann Höcherl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will nicht von dem Geheimblatt, dem Bulletin der Bundesregierung, sprechen, das nicht jeder liest, aber eine Frage: Sie halten also die Preisentwicklung in der Bundesrepublik nicht für inflationär, sondern glauben, daß sie sich im Rahmen einer ganz ordentlichen Stabilitätsentwicklung halte?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Höcherl, ich will Ihnen die Frage sehr gern beantworten. Ich halte die Preisentwicklung für nicht gut, und ich bin der Meinung, die Bundesregierung hat gut daran getan, durch Konjunkturdämpfungsmaßnahmen dazu beizutragen, daß sich die Preise wieder normalisieren, wie zur Zeit alle Wirtschaftsredaktionen und alle Fachleute bestätigen. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Wir treten wieder in die Beratung der Punkte 2 bis 6 der Tagesordnung ein. Das Wort hat Herr Bundesminister Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Minister:in)

Politiker ID: 11000440

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Hause bestand und besteht Einigkeit darüber, daß das Haus vor einer der wichtigsten Entscheidungen steht, die es in seiner Geschichte zu treffen hat. Gemessen an dieser Bedeutung ist mir aufgefallen, daß in den Beiträgen der Opposition eigentlich wenig von dem geschichtlichen Atem zu spüren ist, der diese Frage begleitet. ({0}) Das gilt auch für die Rede von Herrn Kollegen Schröder, so sehr ich deren meisterhafte Form bewundert habe; denn diese Rede hat sich ja zur Substanz, nicht nur zu Berlin, sondern zur Substanz der Verträge überhaupt nicht geäußert, sondern sich auf verfahrensmäßige und methodologische Bemerkungen beschränkt. Sie war darin allerdings weit qualifizierter als die ausgewählten Erzählungen von Herrn Kollegen Marx. Herr Kollege Marx, die Rede, die Sie hier gehalten haben, war eine Rede, die in Weimar manche Deutschnationale gehalten haben. ({1}) Ich sage manche Deutschnationale, weil zu sagen alle Deutschnationalen den Deutschnationalen der Weimarer Republik Unrecht tun würde. ({2}) Auf die Rolle der Deutschnationalen in Weimar komme ich noch zurück. ({3}) Ich war eigentlich der Meinung, Herr Kollege Barzel, wir könnten uns und diese Debatte selbst insofern nicht geschichtslos betrachten, als wir darin übereinstimmen könnten, daß heute hier in diesem Hause nicht mehr das gesagt werden kann, was Herr Kol9886 lege von Merkatz am 19. März 1953 hier gesagt hat: bei der Frage der Wiedervereinigung gehe es - Zitat nicht um einen im Wege des Verhandelns und des Brückenbaus zu schaffenden Ausgleich, sondern um die Befreiung der besetzten deutschen Gebiete. Ich glaube, davon, daß diese Töne vorbei sind, können wir und sollten wir gemeinsam ausgehen, und nicht von den Tönen, die wir damals gehört haben und die wir zum Teil heute wieder hören. Ich möchte vielmehr bei aller notwendigen Auseinandersetzung festhalten, Herr Kollege Barzel, daß Sie - und das war in dieser Form neu - gestern mit der Bundesregierung darin übereingestimmt haben, daß die Lösung der deutschen Frage ein geschichtlicher Prozeß sei, dessen einzelne Stationen man heute noch nicht absehen könne. ({4}) - Vielleicht können Sie es ergänzen; ich habe es nicht hier. ({5}) - In dieser Zielsetzung sind wir einig; in Ihrer Behauptung sind wir nicht einig. Darauf gehe ich noch ein. Aber, Herr Kollege Barzel, ich wollte hier noch einmal mehr Gemeinsamkeiten festhalten. Ich glaube, wir sind uns auch darin einig: ({6})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Horst Ehmke (Minister:in)

Politiker ID: 11000440

Nein. Herr Kollege Barzel hat mir gestern keine gestattet, und ich möchte heute genauso verfahren. ({0}) Ich darf davon ausgehen, Herr Kollege Barzel, daß wir uns auch darin einig sind, daß es heute nicht darum geht, die deutsche Einheit zu erreichen oder aufzugeben. Um diesen Prozeß in die Zukunft hinein im Sinne unserer Interessen zu gestalten, Herr Kollege Barzel - auch darin werden wir uns einig sein -, muß man doch den unheilvollen geschichtlichen Prozeß mit im Auge behalten, der zur Teilung unseres Vaterlandes geführt hat. Dieser Prozeß, meine Damen und Herren, hatte mit dem Linksradikalismus, der in dieser Debatte so oft erwähnt worden ist, nichts zu tun, er war das Werk des Rechtsradikalismus in Deutschland und seiner deutschnationalen Mitläufer. ({1}) Aber gerade weil wir trotz der uns aufgezwungenen staatlichen Teilung an der durch die Jahrhunderte gewachsenen nationalen Einheit festhalten wollen, sind wir uns doch auch, Herr Kollege von Weizsäcker, sicher darin einig, daß man aus der Geschichte dieser Nation nicht beliebig aussteigen kann. Ich muß sagen, ich habe mit Erstaunen gehört, daß Sie die Geschichte und die Bedeutung der deutschen Nation im wesentlichen auf das Jahr 1871 reduzieren wollen, und das in einer Zeit der abnehmenden Bedeutung des Nationalstaates und seiner Souveränität. ({2}) Ich habe auch mit Interesse vernommen, daß die Bemerkungen des Bundeskanzlers über die Bemühungen in beiden Teilen Deutschlands um das Erbe der klassischen deutschen Literatur bei Herrn Marx offenbar nur Unverständnis hervorrufen können; ich muß allerdings hinzufügen: ich hatte es nicht anders erwartet. ({3}) Meine Damen und Herren von der Opposition, bei der Politik, die diesen Ostverträgen zugrunde liegt, bei der Friedenspolitik, bei der Entspannung auch gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn und bei dem Ausgehen vom territorialen Status quo, auch bei der Erstreckung des Gewaltverzichts auf diese Frage muß man doch diese historische Dimension sehen. Ich habe, offen gestanden, Herrn Kollegen Schröder gestern nicht verstanden, als er von den sogenannten Ergebnissen des zweiten Weltkrieges sprach, denn diese Ergebnisse sind doch wohl real genug. Herr Kollege Barzel, wenn Sie gestern die berechtigte Frage aufgeworfen haben, wer denn heute den Frieden in Europa störe, so fürchte ich, daß, so berechtigt die Frage ist, diese geschichtliche Dimension in ihr fehlt. Denn sehen Sie: die Frage von Krieg und Frieden in Europa, insbesondere zwischen unserem Volk und den osteuropäischen Völkern, ist eine Frage, die viel älter und sehr viel geschichtsträchtiger ist als die Frage, mit der wir es heute zu tun haben, nämlich die sie überdeckende Frage der Auseinandersetzung zwischen parlamentarischer Demokratie und Kommunismus. Da hat es noch ganz andere Faktoren gegeben. In meiner Heimat z. B. war es einer der wesentlichen Gründe für die Härte der Grenze, daß sich die nationale Grenze fast völlig deckte mit der konfessionellen Grenze. Das sollte gerade Ihnen doch zu denken geben. Ich habe für mich als Danziger aus der wechselvollen Geschichte des Miteinanders und Gegeneinanders und schließlich des blanken Hasses, der Vernichtung und der Vertreibung den Schluß gezogen, daß wir nicht mit dem Blick in die Vergangenheit und auch nicht mit dem Blick auf uns geschehenes Unrecht -- denn auch das hat es gegeben - in Bitterkeit verharren dürfen, sondern daß im Interesse unserer Kinder, der deutschen Kinder wie der polnischen Kinder, endlich Schluß sein muß mit alten Rechnungen; und zwar keineswegs nur darum, weil - so lautet ja bei manchem die Begründung - heute die modernen Massenvernichtungswaffen einen Krieg zum gemeinsamen Selbstmord machen würden. In dieser Haltung weiß ich mich einig mit der ganz überwiegenden Mehrheit unserer Vertriebenen. Ich akzeptiere also als jemand, der seine Heimat im Osten verloren hat, nicht nur die Friedenspolitik der Bundesregierung, sondern als deren konkreten Bestandteil auch das Ausgehen vom territorialen Status quo für die weitere Politik. Wir alle wissen: die alte Ordnung ist von Hitler und seinem Wahnsinn zerstört worden. ({4}) Wir meinen, daß es eine solidere Ordnung für den Frieden in Europa geben kann und geben muß, als sie heute besteht. Aber für eine gemeinsame europäische Politik in dieser Richtung gehen wir von dem aus, was ist. Herr Kollege Marx, um noch einmal auf Sie zurückzukommen: Sie haben heute eine frühere Rede des Bundeskanzlers zitiert und dann gesagt, er sei von dieser Rede abgewichen. Ich bin der Meinung, auch für unsere Zuschauer und Zuhörer draußen im Lande ist es doch wichtig, einmal an einem Beispiel zu zeigen, wie hier von der Opposition mit dem Wort des Kanzlers dieses Staates umgegangen wird. Der Bundeskanzler hat gerade gestern gesagt - gestern -: Mir wird vorgehalten - so erst kürzlich, ich glaube in der vergangenen Woche, von dem Kollegen Strauß -, ich hätte 1962 gesagt, man könne einem Volk zwar die Teilung auferlegen, aber nicht verlangen, daß sie von diesem akzeptiert und unterschrieben werde. Also der gleiche Vorwurf, den Herr Marx heute hier in großen Tönen wiederholt. Der Kanzler hat gestern gesagt: Bei dieser Meinung beibe ich. Heute unterstellt man ihm hier in schamloser Weise das Gegenteil. ({5}) Der Kanzler hat gestern gesagt - ich darf zitieren -: Ich weise es auch heute als unzumutbar zurück, nachträglich die Zustimmung zur Teilung Deutschlands zu geben. Dies wäre ein Verstoß gegen unsere Würde, gegen unsere Geschichte, gegen unsere Interessen. Niemand kann das von uns verlangen. ({6}) Ich wäre dankbar, Herr Marx, wenn Sie das wenigstens jetzt zur Kenntnis nähmen. Herr Kollege Barzel, Gewaltverzicht in bezug auf die in Europa besthenden Grenzen einschließlich der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und dann - neben dem allgemeinen Gewaltverzicht - die Hinnahme der Oder-NeißeGrenze als Westgrenze Polens durch die Bundesrepublik ohne Vorgriff auf den Friedensvertrag eines gesamtdeutschen Souveräns, sind zwei der wichtigsten Bestandteile dieses Vertrages und unserer zukünftigen Politik. Herr Kollege Barzel, ich muß sagen, ich kann es nicht verstehen - aber vielleicht können Sie es mir erklären -, wenn Sie sagen, dieses Ausgehen von den bestehenden Grenzen sei ein Ausflug in „Großmannssucht". ({7}) - Ja, Herr Kollege Barzel, ich fürchte, das einen Ausflug in Großmannssucht zu nennen verrät einen mangelnden Sinn nicht nur für die geschichtlichen, sondern auch für die psychologischen und politischen Dimensionen dieser Frage. ({8}) Herr Kollege Schröder, Sie haben völlig recht: die Vorwegnahme eines Friedensvertrages - darin sind wir uns völlig einig - wäre uns auch rechtlich gar nicht möglich gewesen. Wir stimmen darin völlig überein. Nur, Herr Kollege Schröder, die Tatsache, daß das so ist, schmälert doch nicht das Verdienst unseres Außenministers, mit Polen einen Vertrag abgeschlossen zu haben, der den deutschen Rechtsgegebenheiten Rechnung trägt. ({9}) Schließlich sind ja die Polen nicht an unser Grundgesetz gebunden, und das gleiche gilt für den Moskauer Vertrag und ,die sowjetische Führung. Doch lassen Sie mich bei diesem Grundsatz verweilen, denn, Herr Kollege Barzel - und da hätte ich gern eine Antwort von Ihnen -, ich bin mir nach der bisherigen Debatte nicht klar über die Stellung der Opposition zu der Frage des Erstreckens des Gewaltverzichts auf den bestehenden territorialen Status quo und des Ausgehens von diesem Status quo für die weitere Politik. ({10}) - Ja, ich komme noch dazu. Herr Kollege Schröder hat gestern dankenswerterweise hervorgehoben, welche Gemeinsamkeiten noch zwischen uns bestehen. Er hat das im einzelnen aufgezählt, aber, Herr Kollege Schröder, der Grundsatz, daß sich der Gewaltverzicht auf den territorialen Status quo erstreckt, der Grundsatz des Ausgehens vom territorialen Status quo fehlt bei Ihnen unter den Gemeinsamkeiten. Sie dagegen, Herr Kollege Barzel, haben erklärt, die Verträge von Moskau und Warschau - also offenbar auch der zu ihnen gehörende Grundsatz des Ausgehens vom territorialen Status quo - könnten für die CDU zustimmungsfähig werden, wenn drei Bedingungen erfüllt seien, auf die ich nachher noch im einzelnen eingehe: EWG, Selbstbestimmungsrecht, Freizügigkeit. Wenn das so ist - und mir liegt hier wirklich an einer Klarstellung, Herr Kollege Barzel -, dann ist es doch offenbar so: das Nein der Opposition zu diesen Verträgen bezieht sich gar nicht auf deren Kernbereich, jedenfalls nicht auf das Ausgehen der deutschen Politik vom territorialen Status quo. Diese Frage ist eminent wichtig, und ich bin der Meinung, die Opposition sollte Verständnis haben für unsere Bitte, von ihr in diesem Punkte die Klarheit zu bekommen, die Herr Kollege Schröder gestern in diesen Fragen mit Recht auch von der Regierung gefordert hat. Ich bin der Meinung, diese Klarheit ist aus einer Reihe von Gründen erforderlich. Herr Kollege Barzel, sie ist erforderlich einmal gegenüber unseren westlichen Alliierten, die wissen müssen, ob audi bei einem wie immer begründeten Nein die Opposition diesen realistischen Ausgangspunkt und Ansatzpunkt der Ostpolitik dieser Bundesregierung akzeptiert oder nicht. ({11}) Und wir sollten doch die Frage der Zustimmung unserer Verbündeten zur deutschen Politik nicht so herunterspielen, wie das zum Teil getan worden ist. Herr Kollege Schröder, ich muß sagen, daß Sie gestern gemeint haben, dies sei eine Politik, die die westliche Einheit schwäche, das war eine wenig solide Äußerung, denn Sie können sich doch jeden Tag vom Gegenteil überzeugen. ({12}) - Herr Kollege Schröder, Sie weichen doch sonst nicht gern in die Zukunft aus. Halten Sie sich doch nun auch hier einmal an Tatsachen. Sie können sich jeden Tag von der wachsenden Einheit überzeugen. ({13}) Herr Kollege Barzel, ich muß leider noch einmal 1 auf Ihre gestrige Auseinandersetzung mit dem Kollegen Wehner zurückkommen. Zunächst einmal muß ich betonen, der Herr Kollege Wehner hatte nicht das gesagt, was Sie behauptet haben, sondern er hatte das Kommuniqué über die Gespräche zwischen dem Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten dahin zusammengefaßt, daß zwischen beiden Regierungen völlige Übereinkunft bestehe. ({14}) - So hat er das zusammengefaßt. Und Sie haben gemeint, er habe gesagt, das stünde gewissermaßen als Satz in dem Kommuniqué. Das hat er gar nicht behauptet. Dies ist die Quintessenz des Kommuniqués. Das hat der amerikanische Präsident an anderer Stelle selbst gesagt. ({15}) - Das hat er, Herr Kollege Barzel, an anderer Stelle selbst gesagt, und nun kann man es doch nicht so trennen, daß man sagt: der amerikanische Präsident hat recht, wenn er es sagt, aber wenn Wehner es zitiert, ist es falsch. - So kann man hier weder mit uns noch mit unseren Verbündeten draußen umgehen. ({16}) Ich danke für die Klarstellung, die Sie gestern gegeben haben, aber ich kann midi nach wie vor nicht mit der Vorstellung befreunden, es sei irgendwie vorwerfbar, oder Sie dürften hier deswegen Belehrungen erteilen, wenn sich der Fraktionsführer der SPD für diese deutsche Politik auf die völlige Übereinstimmung mit unseren Hauptverbündeten beruft. Das ist doch eine der wesentlichen Voraussetzungen für jede deutsche Politik! ({17}) - Dann habe ich Sie immer noch nicht verstanden, aber die Sache ist nicht klargestellt, Herr Barzel. Ich bitte Sie, dann noch einmal zu sagen, was damit gemeint war. ({18}) Klarheit darüber, wie es die CDU denn eigentlich mit dieser territorialen Frage hält, ist zweitens erforderlich 'gegenüber unseren Vertragspartnern, und zwar nicht nur hinsichtlich der Frage, vor der Sie ja bald stehen werden - denn die Verträge werden in Kraft treten -, wie Sie sich nach Inkrafttreten der Verträge verhalten. ({19}) Drittens ist diese Klarstellung erforderlich gegenüber den Wählern, und zwar vor allem gegenüber den Vertriebenen, die dieser Debatte doch mit besonderem Interesse zuhören werden. Verehrte Kollegen von der Opposition, es wäre nach meiner Meinung verhängnisvoll für die weitere innenpolitische Auseinandersetzung, wenn Sie etwa wegen der in dieser Beziehung in Ihren Reihen bestehender Meinungsverschiedenheiten - die kann ich sehr gut verstehen, ({20}) Herr Kollege Hupka und ich sind hier auch verschiedener Meinung - durch ein allgemeines Nein die Frage offenlassen oder verschleiern, wie die Union dazu steht, bei der weiteren deutschen Politik vom bestehenden territorialen Status quo auszugehen, ob sie das akzeptiert oder nicht. Für die Menschen draußen, meine Herren, ist das eine der wesentlichsten Fragen, mehr als die juristischen Auslegungsfragen, die hier zum Teil behandelt werden. ({21}) Das gilt besonders für meine vertriebenen Landsleute. Für die steht ja audi der Polen-Vertrag im Vordergrund und nicht der Moskauer Vertrag, während es bei Ihnen genau umgekehrt ist. Ich möchte da nicht mißverstanden werden. Ich meine nicht die Frage, wie sich die CDU/CSU nach der Ratifizierung der Verträge verhalten werden. Denn daß sie dann die Verträge respektieren, ist in einem demokratischen Verfassungsstaat eine Selbstverständlichkeit. Darüber braucht man nicht zu reden. Die Frage ist vielmehr, wie sie sich politisch einstellen werden und ob sie gerade diesen zentralen Grundsatz akzeptieren werden. ({22}) Darüber muß der Wähler Klarheit haben. Sie sehen, daß ich den Wähler als mündigen Wahlbürger ernster nehme, als das gestern Herr Kollege Kiesinger getan hat, der dem Wähler einen beschränkten Tageshorizont bescheinigt hat, übrigens eine Bemerkung, die mir manche seiner Äußerungen im baden-württembergischen Wahlkampf erst recht verständlich macht, ({23}) einschließlich eines - entschuldigen Sie - ebenso banalen wie schlimmen Mißbrauchs eines Bibelwortes. ({24}) - Sie wissen, worum es geht. ({25}) - Ich könnte es anders ausdrücken, dann hätte ich Blasphemie gesagt, aber das habe ich nicht getan, Herr Lenz. ({26}) Doch zurück zu den wichtigen Dingen. Klarheit ist auch für die Einschätzung der deutschen Politik erforderlich. Wenn ich deutsche Politik sage, meine ich die Politik der Opposition und der Regierung in dieser Frage. Herr Barzel, darf ich mich auch hier wieder an Sie wenden. Auch Sie sind aus der kalten Heimat, und wir gehören beide zu einer Generation. ({27}) - Einverstanden! - Für die Einschätzung der deutschen Politik draußen, Herr Barzel - und da stimmen wir sicher überein -, ist es eine zentrale Frage, wieviel Realitätssinn die deutsche Politik aufbringt und wieviel Realitätssinn man uns draußen zutraut. Das kommt nicht von ungefähr. Mangelnder Realitätssinn ist ja oft eines der negativen Kennzeichen deutscher Politik gewesen, nicht erst im Wilhelminismus. ({28}) Wir sollten uns diese längerfristige Tendenz nicht durch die Greuel des Nationalsozialismus, die dann noch ganz andere Probleme aufgeworfen haben, verdecken lassen. Mein verehrter Lehrer Rudolf Smend, einer unserer großen konservativen Köpfe - konservativ im guten Sinne des Wortes verstanden -, hat in der Auseinandersetzung der Weimarer Zeit einmal gesagt, unser Volk schwanke in unglücklicher Weise zwischen Staatsverneinung und Staatsvergötzung, zwischen Machtenthaltung und Machtanbetung hin und her. Dies hängt nicht unbedingt mit negativen Zügen unseres Volkscharakters zusammen, wie ja auch oft bei einer Einzelperson Licht- und Schattenseiten eng beieinander liegen. Ich glaube vielmehr, es hängt mit sehr positiven Seiten unserer Entwicklung zusammen, mit den Zügen unserer Entwicklung, die uns einmal den Beinamen des Volks der Dichter und Denker eingetragen haben - lang ist es her -, mit den Zügen einer Geschichte, die man einmal die Geschichte einer „verspäteten Nation" genannt hat. Nun bin ich doch sicher, meine Herren von der Opposition, daß wir uns auch heute noch alle darin einig sind, daß nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes die gemeinsame Aufgabe der Demokraten darin bestand und besteht, gegenüber dieser grenzenlose Machtanbetung und diesem grenzenlosen Machtmißbrauch, gegenüber diesem völligen Verlust an Realitätssinn wieder Maß und Mitte in der Politik unseres Volkes zu finden. ({29}) Gestatten Sie mir dazu ein persönliches Wort. Wenn ich und viele meiner Generation in der Frage der Ostpolitik so entschieden auf der Seite von Willy Brandt stehen, so ist das weit über Parteipolitik hinaus ({30}) ein Stück unseres Bewußtseins, dadurch an der Erfüllung des Auftrags mitzuarbeiten, den, so meine ich jedenfalls, die Geschichte unseres Volkes gerade unserer Generation gestellt hat. Denn, meine Damen und Herren von der Opposition, zu behaupten, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch, nach dem Ende des Hitler-Krieges, sei noch alles offen und mit diesen Verträgen würde nun unter anderem etwa das Land jenseits der Oder und Neiße fortgegeben oder preisgegeben, ist juristisch unrichtig und ist politisch bar jeden Realitätssinns. ({31}) Das heißt, entweder den Kopf in den Sand zu stekken oder aber, noch schlimmer, Heuchelei zu betreiben. ({32}) - Ich komme noch zur Kontinuität! Ich wäre daher dankbar, deutlich die Meinung der Union und der Opposition zu hören zu dieser Frage des Ausgehens vom territorialen Status quo. Sie ist in den wesentlichen Stellungnahmen bisher offengeblieben. ({33}) - Beide fragen in der Demokratie! Sie sollten nicht dieses obrigkeitsstaatliche Verhältnis zur Regierung haben, daß sie immer nur antwortet, sondern die Demokratie ist ein Dialog zwischen beiden Seiten dieses Hauses. ({34}) Schließlich ist diese fehlende Klarheit auch wichtig für die Frage der Ernsthaftigkeit unseres Friedenswillens und Ihres Friedenswillens. Niemand, Herr Kollege Barzel, bestreitet der Opposition, daß auch sie den Frieden will. Das ist aber gar nicht die Frage. ({35}) - Könnten Sie einmal ruhig zuhören? Ich komme ja dazu! Ich komme zu allem! Ich versuche doch meinerseits hier wirklich, zu einer Diskussion zu kommen. ({36}) - Vielleicht wollen sie es doch! Ich gehe jedenfalls einmal davon aus. Die Frage, Herr Kollege Stücklen, ist nicht die, ob Sie allgemein und abstrakt für den Frieden sind, sondern die Frage ist, ob Sie wie wir bereit sind, das von unserer Seite Notwendige heute für den Frieden zu tun. Das ist die Frage! ({37}) Für den Frieden zu sein, ist doch sehr einfach, ebenso gut, wie gegen die Sünde zu sein. Die konkrete Frage ist: Sind wir bereit, das in unserer Macht Liegende und Notwendige zu tun, auch dann, wenn es schmerzlich ist? Diese Frage, Richard Stücklen, sollten wir nicht immer überdecken mit dieser allgemeinen Frage nach der Friedenspolitik. ({38}) Es ist doch nicht so, daß man sagt - wie es hier zum Teil getan wird -: Jeder einigermaßen konservative Mensch muß zu dem Ergebnis kommen, diese Verträge seien gar nicht zu verantworten, und welche starken Vokabeln Sie alle gewählt haben. ({39}) Sehen Sie, Klaus Mehnert ist sicherlich ein sehr konservativer Mann, und sicherlich ein Mann, der mehr Sachverstand in Ostfragen hat als viele von uns hier im Hause. Er hat gesagt: Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist ein Optimum minus zehn. Er hat Ihnen geraten - aber darüber haben Sie offenbar noch nicht diskutiert -, es sei wohl das Richtige, die Abstimmung in dieser Frage, die auch eine Gewissensfrage ist, freizugeben, so wie wir das tun. ({40}) Ich wäre dankbar zu hören - - Verehrte Damen und Herren, ich verstehe Ihre Unruhe, aber die ist leicht zu beseitigen, indem Sie mir eine einfache Antwort auf eine einfache Frage geben. Ihr Parteifreund Simpfendörfer, meine Damen und Herren, Ihr guter, alter Parteifreund Simpfendörfer ({41}) hat zur Frage des Friedenswillens etwas sehr Richtiges gesagt. ({42}) -- Sie sollten doch noch wenigstens die Zitate Ihrer eigenen Veteranen anhören, Herr Kollege! Er hat gesagt, er unterstelle auch Herrn Kollegen Barzel und Herrn Strauß, daß sie den Frieden wollten, aber er fährt dann fort: Aber das Wollen genügt schon lange nicht mehr. Unsere Politik muß den Frieden aktiv organisieren. Wir müssen für die anderen, die - wie z. B. die DDR - so Simpfendörfer noch ein Brett vor dem Kopf haben, mitdenken und mithandeln, und genau das tut Brandt. So weit Simpfendörfer! Für uns ist es beruhigend zu sehen, daß sich die Stimme der Vernunft doch auch in Ihren Reihen noch Platz schaffen kann. ({43}) Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Meine dringende Bitte aus allen diesen Gründen ist, uns zu sagen, wie die Haltung der Opposition zu dieser Frage ist. Sagen Sie auch nein zum Grundsatz des Ausgehens vom territorialen Status quo, oder liegt das Nein auf anderen Gebieten? Sie haben ja eine etwas schwierige Fahrt in der Begründung Ihres Neins hinter sich. Die Begründung hat oft gewechselt. Das spricht nicht für die innere Stärke Ihres Neins. Sie haben einmal gesagt, eine befriedigende Berlin-Regelung wäre der Testfall. ({44}) Als sie dann erreicht war, haben Sie gesamtdeutsche Fragen in den Vordergrund gestellt. Dann haben Sie die heutigen drei Punkte nachgeschoben. Ich wende mich jetzt diesen drei Punkten zu, die Herr Kollege Barzel gestern genannt hat. Er sagte: Bei Erfüllung dieser Punkte - ich sage noch einmal: Sie liegen nicht im Kernbereich der Verträge, nicht im Bereich der territorialen Fragen -, könnten die Verträge - mit gewissen Änderungen, wie Herr Barzel wohl meint - für die Opposition „zustimmungsfähig" werden. - Dies nehme ich nicht als eine nur verbale Pflichtübung Ihrerseits, Herr Kollege Barzel. Ich will einmal auszuloten versuchen, was in den drei Punkten steckt. Sie haben gesagt, das erste wäre eine positivere Einstellung der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinschaft. Dazu ist in der Debatte das Wichtigste schon gesagt worden. Dies ist kein Gegenstand des Vertrages, Herr Kollege Barzel. Sie wissen, daß wir eine Interpretation der sowjetischen Seite haben, die ausdrücklich klarstellt, ({45}) daß die Vertragsformel über die Unverletztlichkeit der Grenzen einer Teilnahme der Bundesrepublik an dem politischen Zusammenschluß Europas nicht entgegensteht. Im übrigen ist es so, daß die EWG nicht der Anerkennung der Sowjetunion bedarf. Es ist vielmehr umgekehrt, so, daß die Sowjetunion diese EWG als eine der Realitäten, die wir alle zu respektieren haben, zu respektieren haben wird. Ich glaube, man kann hier ohne große Gefahr die Voraussage wagen, daß sie das tun wird. Herr Kollege Barzel, die Europapolitik dieser Regierung macht jedenfalls genauso gute Fortschritte wie die Ostpolitik dieser Regierung, so daß ihr erster Punkt, von mir aus gesehen, neben der Sache liegt. ({46}) Der zweite Punkt ist die Frage der Aufnahme, wie Sie es nennen, des Selbstbestimmungsrechts in das Vertragswerk. ({47}) - Ich will es Ihnen sagen, Herr Kollege Barzel. Es ist ganz friedlich gemeint. Ich meine, daß diese Forderung erfüllt ist, und ich möchte das auch begründen. ({48}) - Es freut mich, Herr Lenz, daß selbst Sie dann zuhören. Ich glaube, wir müssen uns zunächst einmal über folgendes einig werden. Herrn von Weizsäcker glaubte ich heute so verstehen zu müssen, daß wir mit der Wiedervereinigung die Wiederherstellung des alten Nationalstaates meinen. Ich meine das nicht. Herr Kollege Strauß, ich habe es immer als eines Ihrer Verdienste - Ihrer wenigen Verdienste in meinen Augen - angesehen, daß Sie frühzeitig auf diesen Punkt hingewiesen haben, wobei ich es dahingestellt sein lasse, ob es Ihr Bayerntum oder Ihr Katholizismus war, der Sie vor Verengung der nationalen - ({49}) - Entschuldigen Sie! Schreien Sie doch nicht „pfui", bevor ich mein Kompliment zu Ende gesprochen habe. ({50}) - Sie schreien hier „Unverschämtheit", ohne zuzuhören. So ist das in der ganzen Diskussion. Sie können nicht mehr zuhören. ({51}) Ich sage es noch einmal: Ich habe es immer als ein Verdienst - das ist nicht ironisch gemeint von Herrn Kollegen Strauß angesehen, daß er in der Debatte frühzeitig darauf hingewiesen, daß ,es sehr ungeschichtlich wäre, die deutsche Frage nur als Frage dier Rückkehr zu einem deutschen Nationalstaat zu verstehen. Ich habe hinzugefügt, daß ich es dahingestellt sein lasse - und diese Bemerkung war absolut positiv gemeint -, ob es mehr die bayerische oder die katholische Komponente in seinem Denken ist, die ihn davor bewahrt hat, das zu tun, was Herr von Weizsäcker heute getan hat, nämlich die Frage dieser Nation allein mit dem Jahre 1871 zu verbinden. ({52}) Nun sagen Sie mir, was dagegen zu sagen sein soll, es sei denn, Sie hätten etwas gegen die Bayern oder gegen die Katholiken. Wir sind uns also einig: Man darf die Frage des Selbstbestimmungsrechtes nicht so beschränken. Herr Kollege Barzel, ich nehme an, wir sind uns darüber einig. Wir sind der Meinung, - es gibt auch Äußerungen von Konrad Adenauer aus früherer Zeit hierzu -: Selbstbestimmungsrecht heißt: Dieses Volk soll selbst frei entscheiden können, in welcher Form es leben will. Es braucht nicht die alte Form des Nationalstaates zu sein. Sie nicken mir zu. ({53}) - Diese Herren der CDU nicken mir zu. Wenn Sie anderer Meinung sind, liegt der Dissens bei Ihnen, jedenfalls nicht zwischen mir und den Herren, die mir eben zugenickt haben. Lassen Sie uns das doch mal in Ruhe diskutieren. Es ist doch nicht so, als ob dies alle wissen. - Ja, weil Sie gleich abwiegeln, wenn da einer zustimmt. Nun kommt die Frage: Herr Kollege Barzel, wie war das mit dem Briefwechsel Adenauer/Bulganin von 1955? Diesen Punkt möchte ich aufklären, aufzuklären versuchen, und zwar darum, Herr Kollege Barzel, weil ich doch hoffe, daß Sie Ihre Behauptung von gestern dann zurücknehmen können, der Moskauer Vertrag beende die Verpflichtungen, die sich aus diesem Briefwechsel ergeben. Lassen Sie mich aber zunächst einmal etwas zu dem Inhalt des Briefwechsels sagen. Der Briefwechsel Adenauer/Bulganin war ja eigentlich der Vertrag von damals, und dann gab es noch einen einseitigen Brief von Adenauer, der Vorbehalte enthielt. Nun, in diesem Briefwechsel, in diesem beiderseitigen Brief vom 13. September kommt weder das Wort „Selbstbestimmungsrecht" vor, auf das Sie ja so großen Wert legen; es kommt da gar nicht drin vor, Herr Kollege Barzel, wenn Sie's bitte mal nachlesen. Es kommt auch nicht das Wort „Friedensvertrag" vor, und von Viermächteverantwortung ist schon gar nicht die Rede. Der Vorbehalt für den Friedensvertrag und für den Rechtsstandpunkt stand 1955 - wie heute - in dem einseitigen Brief Adenauers. ({54}) Lesen Sie es bitte genau nach! Unser Brief zur deutschen Einheit geht im Gegensatz zu dem, was Herr Kollege Marx hier behauptet hat, inhaltlich weit über den Briefwechsel hinaus. ({55}) --- Also schön, Herr Kollege Barzel, Herr Kollege Marx, ich bitte um Entschuldigung, weil das Zeit kostet - sie schütteln den Kopf -: ich lese das jetzt mal vor. Wir haben Texte in diesem Buch, ({56}) es ist Seite 109, Entschuldigung, Seite 110, da heißt es: Die Bundesregierung geht hierbei davon aus, -- bei der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird. ({57}) - Das ist der Ausdruck einer Hoffnung, verehrter Herr Kollege, der Ausdruck einer Hoffnung, daß die ) Aufnahme diplomatischer Beziehungen genauso, wie wir es von diesem Vertrag erhoffen, beitragen wird zu einer Lösung auch der deutschen Frage, wobei die sowjetischen und die deutschen Vorstellungen über die Art der Lösung dieser Frage damals so unterschiedlich waren, wie sie es heute sind. Der eigentliche Rechtsvorbehalt steht auch in diesem Buch, er ist auf den Seiten 110 und 111 zu finden, in dem einseitigen Brief von Herrn Bundeskanzler Adenauer. ({58}) - Ich habe ihn ja gelesen. Nun gibt es eine zweite Geschichte - - ({59}) - Also lesen Sie bitte nach! Ich brauche es Ihnen nicht - - Alles, was der verehrte Kollege Marx hierzu gesagt hat, ist grundfalsch. Herr Marx, ich würde mich wirklich wundern, daß Sie nicht in der Lage sind, das für sich selbst auseinanderzunehmen. ({60}) Zunächst haben wir also diesen Briefwechsel, über den ich gerade gesprochen habe. Dann haben wir den einseitigen Vorbehalt. Herr Kollege Barzel, dieser Briefwechsel, von dem Sie behaupten, die Verpflichtung daraus - ({61}) - Herr Lenz, auch Sie sollten zuhören können. Ich wäre wirklich dankbar dafür. - Gut, dann lassen Sie es. - Herr Kollege Barzel, auf die Verpflichtung aus diesem Briefwechsel, von der Sie sagen, sie werde durch den Moskauer Vertrag „beendet", nimmt der Moskauer Vertrag in dreierlei Form Bezug - erstens durch die Präambel, zweitens durch Art. 4, der besagt, daß die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen nicht berührt werden, und drittens dadurch, daß Art. 2 sich auf die Grundsätze der UNO-Satzung beruft, zu der das Selbstbestimmungsrecht gehört. Dreimal genäht! Und dann noch der Brief zur deutschen Einheit, in dem nun im Gegensatz zum Briefwechsel Adenauer/Bulganin diesmal drinsteht: „... in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Herr Kollege Marx, daß hier von politischen Zielen und nicht von Rechten die Rede ist, das ist sehr leicht zu erklären. ({62}) -- Und ich will Ihnen erklären, warum es gerade hier ging, - ({63}) -- Entschuldigen Sie, lassen Sie doch jetzt die Große Anfrage, bleiben Sie doch einmal bei einem Punkt! Sie haben hier etwas behauptet, was nicht stimmt, und bei dem Punkt bleibe ich jetzt. ({64}) Das machen wir seit Monaten, daß in Ausschüssen und in Diskussionen Punkt um Punkt ihrer Behauptungen widerlegt wird, und dann kommt man in die nächste Runde, und alles hat gar nichts genützt; die alten Kamellen kommen wieder. Diesen Punkt möchte ich jetzt klären. ({65}) Also in diesem Brief zur deutschen Einheit kommt das Wort „Selbstbestimmung" vor. Jetzt sagen Sie: Warum war das ein einseitiger Brief und warum ist er nicht richtig angenommen worden? - Herr Kollege Marx, dieser Brief unterscheidet sich von dem einseitigen Brief, den seinerzeit Konrad Adenauer übergeben ließ - unter sehr merkwürdigen Begleitumständen, wie Sie wissen - dadurch, ({66}) daß er von der Sowjetunion vorbehaltlos entgegengenommen worden ist. ({67}) Der Brief Adenauers ist nicht vorbehaltlos entgegengenommen worden. Vielmehr hat die sowjetische Regierung seinerzeit zwei Tage nach diesem Brief in einer autorisierten TASS-Erklärung festgestellt, daß die Frage der Grenzen Deutschlands bereits durch Potsdam gelöst sei. Das war 1955. Die Regelung, die wir jetzt haben, nimmt erstens einmal das, was damals erreicht wurde, in den Vertrag auf und geht zweitens noch über den damaligen Vertrag hinaus.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Entschuldigung, Herr Bundesminister Ehmke, Frau Abgeordnete Kalinke wollte sich noch einmal vergewissern, ob Ihre Ablehnung von Zwischenfragen - Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Aufgaben: Meine Ablehnung bleibt nach wie vor bestehen. ({0}) Herr Kollege Marx, Sie haben dann hier - auch wieder mit ganz düsteren Unterstellungen - gesagt: Ja, nun erklären Sie uns doch einmal, ob das eigentlich zum Vertrag gehört und was das bedeutet. Nun, Herr Kollege Marx, inzwischen haben Sie sich ja in die juristische Problematik eingearbeitet. Der einseitige Brief Adenauers von 1955 wie der einseitige Brief der Bundesregierung von 1970 gehören im Sinne der Wiener Vertragskonvention zu dem, was man den „Kontext" des Vertrages nennt. Wenn Sie da Sorgen haben, so darf ich Ihnen jetzt zitieren, was Bundeskanzler Adenauer 1955, als er aus Moskau zurückkam, in diesem Hause gesagt hat. Damals hat natürlich die damalige Opposition gefragt: Warum war das denn einseitig, und wie ist das dann gegangen? Darauf hat Adenauer etwas gesagt, was ich hier nicht nur zu Ihrem Vergnügen vorlesen will, sondern ich will es mir auch voll zu eigen machen. Sie finden es auf Seite 112 dieser vorzüglichen Broschüre. Adenauer sagte damals: Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine deutsche Rechtsverwahrung. Für solche ist eine einseitige Erklärung der Bundesregierung ausreichend. Diese Erklärung muß nur der anderen Seite zugegangen sein. Dies ist geschehen, und die deutschen Vorbehalte sind damit völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklärung muß nicht etwa, - so Adenauer, Herr Kollege Marx um völkerrechtlich wirksam zu sein, von der Gegenseite angenommen werden. Ich freue mich, daß sich die Bundesregierung bei ihrer Interpretation der Verträge auf die bei Ihnen unbestrittene Autorität dieses Bundeskanzlers berufen kann. ({1}) Herr Marx, ich stelle fest: was Sie über den Inhalt des Briefwechsels und der einseitigen Vorbehalte gesagt haben, war unrichtig. Was Sie über die damalige Aufteilung der Dinge gesagt haben, war unrichtig, und was Sie über die juristische Wertung gesagt haben, war auch unrichtig. Darin stimmen wir mit dem früheren Bundeskanzler überein. Ich habe schon gesagt, Herr Kollege Marx, daß heute wie damals die Vorstellungen, wie die deutsche Einheit denn verwirklicht werden könnte, in Moskau und in Bonn unterschiedlich sind. Das ist nichts Neues. Aber wie damals ging es 1970 darum, die Frage juristisch offenzuhalten und gleichzeitig den Versuch zu machen, den Weg zu Verhandlungen über eine Friedensordnung in Europa zu eröffnen, in deren Rahmen allein - darin stimmen wir, glaube ich, überein - die deutsche Frage gelöst werden kann. ({2}) Also, Herr Kollege Barzel, auch hinsichtlich Ihres zweiten Vorbehalts muß ich Fehlanzeige feststellen. Ich komme jetzt zum dritten Vorbehalt, den Sie gemacht haben. Er heißt: es müßte die verbindlich vereinbarte Absicht hinzukommen, in Deutschland Freizügigkeit stufenweise herzustellen. Herr Kollege Barzel, ich nehme an, ich kann in Übereinstimmung mit Ihnen ergänzen, daß Sie bei „verbindlich vereinbart" meinen: „mit der DDR vereinbart". ({3}) - Dann bitte ich, klarzustellen, ob Sie meinen, wir sollten das mit Moskau aushandeln. Für mich ist das eine Frage - ich stelle es meinerseits klar -der Verhandlungen mit der DDR. Vielleicht sind Sie so gut und sagen uns noch, was Sie meinen. Sie haben der Bundesregierung den Vorwurf gemacht - wir haben uns schon darüber geeinigt, daß Sie Punkt 5 der Erklärung der Bundesregierung vom 6. Juni 1970 meinten -, sie habe früher gesagt, zuerst komme die Regelung des innerdeutschen Verhältnisses, und dann kämen die Ostverträge. Herr Kollege Barzel, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich durch nochmaliges Lesen des Punktes 5 davon überzeugen würden, daß das Kabinett das keineswegs gesagt hat. - Nein? - Dann muß ich es vorlesen. Das Kabinett hat gesagt - ich darf das mit freundlicher Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren - : Die Bundesregierung geht davon aus, daß die von ihr erstrebten Abkommen mit der Sowjetunion, mit Polen und anderen Staaten des Warschauer Paktes, insbesondere die Regelung der Beziehungen zur DDR auf der Grundlage der von ihr in Kassel vorgelegten 20 Punkte, zur Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen führen und betrachtet diese Politik für ein besseres Zusammenleben der Völker, zur Sicherung des Friedens in Europa als eine Einheit. Dies tun wir nach wie vor. Die einzige Folgerung, die Sie ziehen könnten - und die wäre völlig richtig -, wäre die, daß die Ratifizierung der Ostverträge, des Moskauer und des Warschauer Vertrags, natürlich nicht das Ende der Friedenspolitik dieser Regierung darstellt. ({4}) Es müssen z. B. Verträge mit Prag und mit Ost-Berlin noch hinzukommen. Aber zunächst zur Sache, Herr Kollege Barzel. Auch hier ist mir nicht klargeworden, was Ihre Position ist. Ich wäre im Interesse auch der Klarheit draußen dankbar, wenn wir endlich einmal ein Stück weiterkämen und sie nicht immer wieder die alten Argumente brächten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir helfen könnten, mehr Klarheit zu gewinnen. Sie sagen: stufenweise Freizügigkeit. Nun nehme ich an, Herr Kollege Barzel, daß Sie mit Freizügigkeit die Ausweitung des freien Verkehrs von Personen und Gütern meinen, wie wir sie etwa für Berlin in einem ersten Schritt erreicht haben. Meine Damen und Herren, ich möchte in unserem und im Interesse Berlins dringend davor warnen, diesen großen Erfolg für Berlin aus taktischen oder sonstigen Gründen zu verkleinern. ({5}) Ich mache kein Hehl daraus, Herr Kollege Schröder: auch mich hat es geschmerzt, daß die Berlin-Regelung in Ihrer Rede nicht vorkam. Herr Kollege Barzel, ich frage mich angesichts der Ausführungen auf den Manuskriptseiten 5 und 8 Ihrer Rede, ob Sie mit Freizügigkeit nicht mehr meinen. Dort sagen Sie, Sie wollten - offenbar meinen Sie, im Gegensatz zur Bundesregierung - nicht nur Gewaltverzicht, sondern Gewaltverzicht und Menschenrechte, und Sie fügen noch hinzu: Menschenrechte und deren soziale Basis. Herr Barzel, ich I möchte hier Klarheit haben. Soll das heißen, daß Sie zu der Forderung zurückkehren, daß die DDR zuerst ihr System ändern müsse, bevor man mit ihr Verträge schließen könne? ({6}) - Ich frage Sie ja, weil das mehr ist als Freizügigkeit. Ich will nur Klarheit. Meinen Sie, daß sich das System ändern muß, vielleicht sogar noch bevor wir die Ostverträge ratifiziert haben? Das kann eigentlich nicht gut sein, denn eine solche Politik haben wir ja lange genug gemacht, und zwar ohne jeden Erfolg. Ich glaube auch nicht, Herr Kollege Barzel, daß Sie das meinen, denn Sie haben in Ihrer Rede gleichzeitig gesagt, daß Sie die Realität der DDR und die wirkliche Lage anerkennen, und Sie haben hinzugefügt - und das ist eine der wichtigsten ({7}) - Entschuldigen Sie, ein falsches Wort! Sie haben gesagt, daß Sie die Realität der DDR und die wirkliche Lage sehen. ({8}) - Gut, Augenblick, ich komme gleich zu dem Punkt! Das ist einer der wichtigsten Punkte Ihrer Rede. Ich halte ihn für weitere Auseinandersetzungen fest. ({9}) - Nein, Herr Kollege Barzel, das war ein Versprecher. Ich versuche, jetzt wirklich dahinterzukommen, was Sie eigentlich meinen; das ist mir nämlich auch in diesem Punkt nicht klar. Sie sagen: Wir, die Opposition, wollen im anderen Teil Deutschlands keine Hoheitsrechte in Anspruch nehmen. Herr Kollege Barzel, dies ist sehr wichtig. Das heißt, nunmehr stimmen Opposition und Regierung darin überein, daß wir zwar die innere Staatsgewalt der DDR in ihrem System und in ihrer Form nicht billigen, daß wir sie aber hinnehmen und uns keine Hoheitsrechte dort anmaßen. Das ist eine wichtige Erklärung von seiten der Opposition. ({10}) - Gut, für mich war das eine wesentliche Klarstellung. ({11}) - Aber, Herr Kollege Barzel, Sie selbst haben mir einmal vorgehalten - ich glaube, Sie waren es; ich will es nicht beschwören, es kann auch Herr Kollege Gradl gewesen sein -, daß wir in den Kasseler Punkten gesagt haben: Wir respektieren die inneren Hoheitsrechte der DDR. ({12}) - Aber nein! Wen Sie keine Hoheitsrechte dort in Anspruch nehmen, wer soll sie dann haben? Wir wollen doch hier nicht neue Phänomene begründen. ({13}) - Das liegt aber daran, daß Ihre Argumentation unklar ist. ({14}) - Frau Kollegin Kalinke, entschuldigen Sie - ich habe Herrn Gradl persönlich zitiert -, daß ich eine Ausnahme von meinem Nein mache. Herr Kollege Gradl!

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Gradl!

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur eine Klarstellung, Herr Kollege Ehmke: In der Tat spielte dieser Punkt 5 der 20 Punkte an dem Tage, ehe der Bun-Stoph hatte, in unserer Unterhaltung eine Rolle. deskanzler in Kassel seine Begegnung mit Herrn Aber wir haben es aus einem ganz anderen Grunde beanstandet, und Sie haben damals zugestimmt. So wie er formuliert war, mußte er den Eindruck erwecken, als ob mit der Aussage der Ziffer 5 auch gedeckt würde, was auf der anderen Seite an der Mauer und ansonsten geschieht. Sie haben damals zugestimmt, und der Herr Bundeskanzler hat das nach seiner Rückkehr hier in seinem ersten Bericht klargestellt.

Dr. Horst Ehmke (Minister:in)

Politiker ID: 11000440

Herr Kollege Gradl, ich bestätige Ihnen das. Wir sind uns doppelt einig. Weder die Regierung noch die Opposition meint, daß mit dieser Formulierung hingenommen werden soll, was dort geschieht, daß es im Sinne von Billigung anerkannt werden soll. Aber wir sind uns beide einig: wir wollen dort keine Hoheitsrechte in Anspruch nehmen. ({0}) - Gut, Herr Kollege Barzel, dann wäre ich dankbar, wenn Sie nachher sagten, was Sie meinen. - Wenn das so ist, Herr Kollege Barzel, dann gibt es für uns keinen Zugriff auf den einzelnen Menschen drüben, und die beste Berufung und bestgemeinte Berufung auf Menschenrechte muß eine leere Geste bleiben. Wenn es so ist, daß wir drüben keine Hoheitsrechte in Anspruch nehmen - ausüben können wir sie sowieso nicht -, dann heißt, etwas für die Menschen drüben zu tun - nicht die Menschen an sich, die konkreten Menschen, die dort heute leben, so wie wir im Berlin-Vertrag etwas für die heutigen Berliner getan haben -, mit der DDR zu reden und zu verhandeln trotz ihrer von uns allen abgelehnten Gesellschaftsordnung, und zwar auch über den Schießbefehl. Herr Kollege von Weizsäcker und Herr Kollege Marx, wir sollten diese Frage, daß wir in der bitteBundesminister Dr. Ehmke ren Situation sind, auf dem eigenen Boden unseres Volkes mit einem solchen System um mehr Menschlichkeit ringen zu müssen, doch nicht dauernd mit der Unterstellung belasten: Wer jetzt verhandelt, verhält sich im Grunde in irgendeiner politischen Nähe zu diesem Regime. Gestern klang es an. Richard Stücklen - ({1}) Wir sollten es damit nicht belasten. Richard Stücklen hat jedenfalls noch nicht erklärt, was der Vergleich mit der Emigration des Bundeskanzlers in der Nazizeit eigentlich sollte. ({2}) Ich sage Ihnen eins, Herr von Weizsäcker: zu warten mit Verhandlungen und mit dem, was wir tun wollen unter dem Stichwort Freizügigkeit, in der Meinung: erst Änderung des Systems - Herr Marx ist da schon sehr viel weitergegangen, aber ich halte mich an Sie, Herr Kollege Barzel -, das hieße, die Pflicht zu verletzen, die wir den Menschen drüben gegenüber haben. ({3}) Herr Kollege von Weizsäcker, Ihre - entschuldigen Sie - schneidige, sich realistisch gebende, in Wirklichkeit aber resignierte Durchhalteparole ist eine Parole auf Kosten der Menschen drüben. ({4}) Wenn wir für die Menschen drüben etwas tun wollen - - Das ist die bittere Erfahrung einer langjährigen und gescheiterten Politik, einer Politik, in der wir lange Strecken zusammen gegangen sind. Das heißt, nichts zu erreichen für die Menschen drüben. Herr Kollege Schröder, Sie haben gestern gesagt, diese Verträge hätten Sie jederzeit haben können - offenbar also einschließlich auch der Berlin-Vereinbarung -, Sie hätten sie aber gar nicht haben wollen. Das war makabrer, als Ihnen vielleicht bewußt gewesen ist. ({5}) Meine verehrten Herren von der Opposition, die Regierung muß sich natürlich der Frage stellen - darin haben Sie völlig recht; wir tun das auch -: Wenn das so ist, die Meinung der Bundesregierung einmal unterstellt, sind dann die Verträge, die ihr unterzeichnet habt und zur Ratifizierung bringt, wirklich ein Weg, in der Frage der Freizügigkeit der Menschen im geteilten Deutschland weiterzukommen? Natürlich müssen wir diese Frage beantworten. Ich sage Ihnen: es ist der einzige Weg, den ich sehe. Auf Ihre sogenannten Alternativen komme ich noch. Ich sage noch einmal auch in dieser Beziehung: man sollte den Erfolg, den wir in Berlin erreicht haben, nicht bagatellisieren. Ich halte es übrigens politisch auch für falsch, die Geste, die, aus welchen Gründen immer, die DDR mit dem Vorziehen der Besuchsregelung gemacht hat, von uns aus herunterzuspielen. Wir sollten über alles froh sein, was wir für die Menschen im geteilten Deutschland erreichen. ({6}) Herr Kollege Barzel hat nämlich völlig recht: die Frage der deutschen Einheit ist ein langer historischer Prozeß, den keiner von uns heute übersieht. ({7}) - Er geht weiter und geht auch von uns weiter. ({8}) - Gut, das habe ich schon gesagt. Akzeptiert! - Mir kommt es auf das Wort „Prozeß" an. Wir sind uns einig, die Frage der deutsche Einheit ist nicht ein Geschäft oder gar ein Tagesgeschäft, das man morgen abschließen könnte. Darum kann man nur schrittweise vorgehen, wie wir es tun, wenn man für die Menschen drüben etwas erreichen will. Die Frage, die bleibt, Herr Kollege Barzel, ist dann die Frage der Reihenfolge. Wir sagen: jetzt erst die Verträge, dann weitere Schritte mit der DDR. Sie sind der Meinung, wie Sie es schon bei Berlin in bezug auf die Unterschrift waren: jetzt erst noch weitere Verhandlungen mit der DDR und dann erst die Ratifizierung der Verträge. Ich möchte einmal wissen, Herr Kollege Barzel, worauf Sie eigentlich Ihre Meinung gründen, die Ablehnung des Moskauer und des Warschauer Vertrages, in deren Gesamtkontext die erste Einigung der Großmächte über Berlin und unsere Berlin-Vereinbarung mit der DDR möglich geworden sind, würde weiterhelfen, die Chancen, weiterzukommen, würden verbessert, wenn man diese Verträge nicht ratifizierte. Herr Kollege Barzel, gerade wenn die DDR so stur ist, wie Sie meinen und wie sie zum großen Teil ist - wir sehen es ja -, dann dürfen wir doch von unserer Seite auf keinen Fall eine Politik treiben, in der wir die Regierung in Ost-Berlin zum Herrn der Entscheidung über den Vertrag von Moskau und den Vertrag von Warschau machen. ({9}) Im übrigen, Herr Kollege Barzel, haben wir beide - auch persönlich - in der Frage der Reihenfolge schon eine Erfahrung. Ich entsinne mich an ein sehr langes und sachliches Gespräch über die Frage: Soll die Bundesregierung den Moskauer Vertrag unterschreiben, oder soll sie erst versuchen, eine Berlin-Regelung zu bekommen, und erst dann unterschreiben? Unsere Meinung war die: wir kommen gar nicht zu einer Berlin-Regelung, wenn wir nicht unterschreiben. Ihre Meinung war anders. Wir haben recht behalten, wobei es uns freut - auch Sie freut es sicher -, daß wir die Berlin-Regelung erreicht haben. Das heißt nicht, daß wir auch diesmal recht behalten müssen. Aber ich bin der Meinung, auch hier sehen wir die Reihenfolge richtig. In allen drei zusätzlichen Punkten, Herr Kollege Barzel, die - ich sage es noch einmal - nicht die für unsere Menschen draußen zentrale Frage des territorialen Status quo berühren, ist Ihr Nein nicht begründet. Aber, Herr Kollege Barzel, ist es überhaupt ein Nein? Sie haben die Frage, was Sie zu den Verträgen sagen werden - ja oder nein oder gar nichts -, lange offengehalten. Sie haben gesagt - ich fand das auch richtig -: wir wollen erst einmal sehen und uns dann ein Bild machen. Sie haben dann gesagt: wir wollen einmal sehen, was in Berlin herauskommt. Als das kam, haben Sie andere Dinge nachgeschoben. Sie haben dann allerdings neulich gesagt - ich glaube, in einer Äußerung Ihres Präsidiums -, Sie würden gegen die Verträge stimmen, noch vor der Debatte offenbar, noch vor den Ausschußsitzungen und natürlich alle ganz geschlossen: nein. Nun ist es offenbar doch wieder offen. Denn wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Kollege Barzel, haben Sie gestern nicht nein gesagt, sondern Sie haben gesagt: so nicht und jetzt nicht. Da frage ich nun, Herr Kollege Barzel: Was ist die Alternative? Ich sehe als einziges, was hier ernsthaft als Alternative angeboten wird, die Ablehnung, das Nein. Nun sagen Herr Kollege Kiesinger und Herr Kollege Schröder: Regt euch nicht auf, das Leben geht auch dann weiter. Das ist richtig, meine Herren, aber die Frage ist: wie? Mit dem gleichen Stillstand wie gehabt, nur durch Durchhalteparolen veredelt, oder wie? Sie glauben doch nicht, daß Sie mit der Ablehnung dieser Verträge, die - ich sage es noch einmal - die Vorbedingung zur ersten Einigung der Großmächte in Mitteleuropa gewesen sind, den Schießbefehl wegbekommen oder den Menschen im anderen Teil Deutschlands helfen. Das glauben Sie doch nicht im Ernst! ({10}) Die Frage, vor der wir bei der Interpretation Ihrer Politik stehen, ist die: sagen Sie nur ,ein formales, mit Nebenpunkten begründetes Nein, um die Regierung die Verantwortung allein tragen zu lassen? Oder ist Ihr Nein getragen von der Hoffnung - ja, Herr Kollege Schröder, die CDU hat keineswegs nur, wie Sie meinten, Befürchtungen, sie hat auch Hoffnungen -, Sie würden nach einer Ablehnung dieser Verträge bessere Verträge aushandeln? Ich habe mich schon dazu geäußert, was ich von Ihrer Bemerkung halte, Sie hätten die gleichen Verträge haben können. Herr Kollege Schröder, ich sage Ihnen noch mehr. Früher einmal, z. B. 1952, hätten Sie vielleicht noch viel bessere Verträge haben können, ({11}) als irgendeine deutsche Regierung sie heute bekommen kann. Aber damals hat es Ihre Regierung nicht einmal versucht. Seit dieser Zeit hat die von Ihnen geführte Regierung in der Deutschlandfrage zu unser aller Schmerz nichts, aber auch nichts bewegt; die Spaltung Deutschlands ist tiefer geworden. Ich weiß nicht, Herr Kollege Schröder, ob Sie diese Politik in Ihrem Sinne als solide ansehen; erfolgreich war diese Politik jedenfalls nicht, und den Menschen im anderen Teil Deutschlands hat sie ganz sicher auch nicht geholfen. ({12}) Das sage ich Ihnen hier ganz offen, Herr Kollege Barzel: an der Kontinuität dieser Erfolglosigkeit ist diese Bundesregierung nicht interessiert; ({13}) denn das hieße ja, sich zum Gefangenen der hirnrissigen Parole zu machen, deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Ihre Hoffnung, nach einer Ablehnung der Verträge bessere Verträge aushandeln zu können, ist doch angesichts unserer geschichtlichen Erfahrung und der Beurteilung der heutigen politischen Situation eitel. Dagegen, Herr Kollege Schröder, zeigt unsere Politik erste Erfolge wie in Berlin. Vor zwei Jahren hat doch noch keiner geglaubt, daß man ein solches Berlin-Abkommen bekommen kann - seien wir doch ehrlich! ({14}) Dagegen eröffnet unsere Politik wirklich Perspektiven. ({15}) Ja, Sie haben recht, Herr Kollege Schröder, auch wir verbinden mit dieser Politik Hoffnung, bei aller Nüchternheit in der Abwägung der natürlichen auch mit dieser Politik verbundenen Risiken. Es ist doch gar nicht bestritten, daß es da auch Risiken gibt. Aber, Herr Kollege Schröder, eine Politik ohne Hoffnung wäre eine unmenschliche Politik, die nur entweder in Resignation oder in Zynismus enden könnte. ({16}) Wir versuchen im Gestrüpp der Nachkriegszeit und einer gescheiterten Politik früherer Regierungen - so gut diese Politik auch gemeint war, das ist doch kein moralisches Urteil -, der politischen Vernunft in unserem Lande und in Europa einen Weg zu bahnen. Ihnen ist dieser Weg offenbar zu beschwerlich oder zu ungewiß. Sie wollen - Herr von Weizsäcker hat das heute geradezu klassisch formuliert: stillhalten, durchhalten, warten. Sagen Sie: warten, worauf eigentlich? Offenbar darauf, daß die Geschichte mehr Phantasie haben möge, als Sie gehabt haben, als Sie die Regierung geführt haben. ({17}) Ich will hier nicht sagen, was ich von dieser Politik des Wartens, solide und edel natürlich, halte, aber ich will Ihnen ein Wort unseres Dichters Emanuel Geibel zurufen, das er geradezu für Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, geschrieben haben könnte. Es heißt: Die Zeit zum Handeln jedesmal verpassen, nennt Ihr die Dinge sich entwickeln lassen! ({18}) Und Geibel fährt fort: Was hat sich denn entwickelt, sagt mir an, was man zur rechten Stunde nicht getan? Meine Damen und Herren der Opposition, dies, das Richtige zur rechten Stunde tun, ist nicht nur eine Frage des Friedens in Europa und der Chance, die weitere Vertiefung der Spaltung Deutschlands zu verhindern und die Spaltung dann langsam abBundesminister Dr. Ehmke zubauen, es ist auch eine Frage der Entscheidungsfähigkeit und damit der Glaubwürdigkeit unserer parlamentarischen Demokratie. ({19}) Einer der intellektuellen Gegner der parlamentarischen Demokratie in Weimar, Carl Schmitt, hat einmal gesagt, die parlamentarische Demokratie sei die Regierungsform, die auf den Ruf „Christus oder Barabbas?" mit einem Vertagungsantrag antworte. Glücklicherweise haben wir hier nicht über die Frage Christus oder Barabbas zu entscheiden, ({20}) aber die Frage, über die wir zu entscheiden haben, wiegt schwer genug, und sie duldet keine Vertagung. Darum können wir auf die halb abwiegelnde, halb aufschiebende Parole des Herrn Kollegen Barzel „so nicht" und „jetzt nicht" nur antworten: so und jetzt! ({21})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Das Wort hat der Abgeordnete Windelen.

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kollege Minister Ehmke hat damit begonnen, sich auf die gestrige Debatte, die Kontroverse zwischen den Kollegen Barzel und Ehmke, zu beziehen und einiges Klarstellende dazu zu sagen. Wir hätten es begrüßt und gewünscht, wenn er gleichzeitig einiges zu der Kontroverse zwischen dem Kollegen Dr. Marx und dem Kollegen Wehner von heute vormittag gesagt hätte. Ich meine, es nützt nichts, wenn wir hier von Zeit zu Zeit Lippenbekenntnisse ablegen, daß wir uns gegenseitig den guten Willen nicht bestreiten, aber das Gegenteil von dem hier praktizieren. Ich fürchte, daß einiges von dem, was heute vormittag hier gesagt wurde, untergegangen ist. Ich darf es deswegen in der Hoffnung, daß vielleicht doch noch ein klärendes Wort kommt, wiederholen. Der Kollege Dr. Marx hat am Ende seiner Rede auf ein Zitat von Ernst Reuter Bezug genommen und hat sich zu diesem Zitat bekannt. Darauf kam es, wie das unkorrigierte Protokoll verzeichnet, zu Tumulten, zu Zurufen „Aufhören"! usw. Der Kollege Marx hat dann seine Ausführungen zusammengefaßt, indem er sagte, die entscheidenden Fragen, um die es bei uns und bei ihm gehe, seien die Kategorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens, die sich für uns nicht verändert haben, daß wir an diesen Kategorien die Verträge messen und daß sie vor diesen Kategorien unserer politischen Verantwortung nicht bestehen können. Darauf kam der Zuruf des Kollegen Wehner: „Sportpalast!" - „Anhaltender Beifall der CDU/ CSU", so verzeichnet es das Protokoll, und dann folgt der Zuruf des Abgeordneten Wehner: „Hier fehlt nur noch die Frage: Wollt Ihr den totalen Krieg?" ({0}) Meine Damen und Herren, das ist die Redlichkeit und Verantwortlichkeit, mit der hier von der Koalition diskutiert und argumentiert wird! Ich werde mich diesem Stil nicht anschließen. ({1})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich gestatte jetzt keine Zwischenfrage. Ich möchte zunächst auf das eingehen, was noch zu beantworten bleibt. Der Kollege Minister Ehmke hat, statt sich für diese Entgleisung des Abgeordneten Wehner zu entschuldigen, dem Kollegen Marx unterstellt, hier seien deutschnationale Töne aufgeklungen. ({0}) Deutschnationale Töne, wenn in diesem Hause von den Kategorien des Rechtes, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens gesprochen wird, meine Damen und Herren! ({1}) Nun, das entspricht genau dem Tenor einer Veröffentlichung des SPD-Pressedienstes vom heutigen Tage, der das Ergebnis einer dreitägigen Bundestagsdebatte schon vorwegnimmt und der folgendes dazu schreibt: Sie beschwören die Erinnerung an die Weimarer Republik herauf. Damals stemmten sich die Deutschnationalen und ihre radikalen Rechtsanleger dagegen, die Konsequenzen des verlorenen Ersten Weltkrieges zur Kenntnis zu nehmen. Männer wie Fritz Ebert wurden zu Tode gehetzt, und andere wie Erzberger und Rathenau fielen Mörderkugeln zum Opfer. Verblendete sahen in diesen Männern, die ein schweres Erbe angetreten hatten, Verräter und Verzichtspolitiker. Nähert sich nicht ein Vorwurf der Unionsparteien, die deutschen Interessen wären von dieser Bundesregierung nicht kraftvoll genug, ja, sogar schlapp vertreten worden, nicht an die Denkkategorien der Deutschnationalen unseligen Angedenkens? Meine Damen und Herren, ich weise diesen Vergleich mit Nachdruck und mit Empörung zurück. ({2}) Hier wird doch berechtigte und notwendige Kritik mit nationaler Hetze gleichgesetzt und diffamiert. Auf diesen Boden sollten sich Demokraten nicht begeben. ({3}) Lassen Sie mich Weniges zu Ausführungen von Minister Ehmke sagen, mit denen er versuchte, von den Prämissen der Politik, die diese Regierung selbst gesetzt hat und die in vielen Zeugnissen niedergelegt worden sind, nun wieder abzurücken. Minister Ehmke hat bestritten, daß es einen Zusammenhang, ja, sogar ein Junktim zwischen der Lösung der innerdeutschen Fragen und diesen Verträgen gegeben habe. Er folgt damit eigentlich nur der Feststellung, die Kollege Wehner schon vor längerer Zeit getroffen hat: Wer dies tue, gebe Herrn Ulbricht nur ein Vetorecht in die Hand. Nun, meine Damen und Herren, wie sehen denn die Fakten aus, von denen Herr Ehmke und die Bundesregierung jetzt offenbar wieder abrücken möchten? Herr Bundeskanzler, es waren doch Sie er ist nicht mehr da, aber er wird es sicher nachlesen -, der am 14. Januar 1970 das war der erste Bericht zur Lage der Nation - ausgeführt hat, daß die DDR den Nachholbedarf an wechselseitigem Austausch wie an Zusammenarbeit erfüllen müsse, bevor es ({4}) zu engeren Beziehungen komme. ({5}) In der gleichen Rede am gleichen 14. Januar 1970: daß die Bundesregierung nur dann über vieles mit sich reden lassen werde, wenn dabei gleichzeitig - nicht nachher in einem geschichtlichen Prozeß, sondern gleichzeitig - auch Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland herauskämen. Am 28. Januar 1971 sagte wieder der Bundeskanzler, daß die Entspannung Deutschland nicht ausklammern dürfe, und es gehöre zur Normalisierung, daß die Menschen hüben und drüben etwas davon hätten. Oder der Herr Bundesaußenminister - er ist ja noch da - in der Antwort auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion in der Fragestunde am 27. Mai 1970: ... wir haben mehrfach deutlich gemacht, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion und Vertragsabschlüsse mit ,der Sowjetunion, Vertragsabschlüsse mit Polen, Vertragsabschlüsse auch mit der DDR und daß die Regelung der Fragen, die mit Berlin zusammenhängen, ein einheitliches politisches Ganzes bilden. Nur wenn alle Fragen zu unserer Zufriedenheit geregelt sind, können sie politisch wirksam werden. Das ist unsere Meinung, und ich glaube, da stimmen wir hier im ganzen Hause überein. Nun, meine Damen und Herren, wir stimmten darin im ganzen Hause überein. Jetzt soll das alles nicht mehr wahr sein. ({6}) Herr Dr. Barzel fragte damals, weil er nicht ganz sicher war, noch einmal nach, und, Herr Außenminister, Sie erklärten dann: Ich darf noch einmal erläutern. Meine Antwort, Kollege Barzel, war die, daß die Probleme, die ich eben genannt habe, in einem engen Sachzusammenhang stehen. In Kraft gesetzt werden kann das eine nur, wenn das andere geregelt ist. Ich glaube, meine Damen und Herren, noch klarer, noch eindeutiger kann man das wohl nicht ausdrücken. ({7}) Minister Ehmke ist auf den Briefwechsel anläßlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion im Jahre 1955 zurückgekommen. Und er glaubte, daß es einen Qualitätsunterschied gebe, und zwar zu Lasten jenes Briefwechsels der ein Briefwechsel war - gegenüber dem einseitigen „Brief zur deutschen Einheit". Der wesentliche Unterschied liegt wohl vor allem darin, daß es sich damals bei den ersten Briefen um einen Bleichlautenden und zweiseitigen Briefwechsel handelte. Zum zweiten haben Sie, Herr Minister Ehmke, diesen Brief nicht ganz zu Ende zitiert, und ich darf das deswegen nachholen. Der ganze Passus heißt: Die Bundesregierung geht hierbei davon aus, daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen ({8}) - Nun, meine Damen und Herren, ich gebe es dann eben zu Protokoll. Ich glaube, daß dies zu wissen für unser Volk wichtiger ist als für Herrn Ehmke, der es ja ohnehin weiß, es aber nicht wahrhaben will. ({9}) Ich darf also zu Ende führen: ... zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und damit auch zur Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes - der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates verhelfen wird. ({10}) Das, meine Damen und Herren, ist der entscheidende Passus: zur „Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates", nicht nur zur Wahrung der Einheit der Nation in ihrer kulturellen Bindung. ({11}) In der Bestätigung des sowjetischen Ministerpräsidenten ist der gleiche Wortlaut enthalten. Darüber bestand also offensichtlich damals Einvernehmen. Minister Ehmke hat bedauert, daß in der bisherigen Diskussion die historischen Dimensionen gefehlt haben.

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Moersch?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Herr Moersch!

Karl Moersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001526, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Windelen, vielleicht ist es möglich, daß Sie einen der Zeugen, die dabei waren - der amtierende Präsident ist allerdings gerade nicht in der Lage, dieser Zeuge zu sein -, fragen, warum denn damals ein zweiter Brief an die Sowjetunion geschickt werden mußte, ob es denn nicht so war - ich bitte Sie, das zu überlegen , daß gerade der Doppelsinn des Wortes, das Sie eben zitiert haben, dazu geführt hat, daß Bundeskanzler Adenauer das noch einmal klarstellen wollte, daß er „deutscher demokratischer Staat" nicht im Sinne der DDR verstanden wissen wollte?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Moersch, Ihre Frage gibt mir Anlaß zu einer ganz anderen Feststellung, vor allem zu der, daß verbal gleiche Aussagen dieser Regierung und früherer Regierungen inhaltlich etwas völlig anderes darstellen, ({0}) weil diese Bundesregierung ja die gemeinsame Rechtsauffassung durch die Anerkennung eines zweiten deutschen Staates und die Feststellung, daß sich Deutschland nunmehr in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 verstünde, inzwischen verlassen hat. Das, meine Damen und Herren, ist der entscheidende Unterschied. Deswegen sind selbst verbal gleiche Aussagen dieser Regierung von einer völlig anderen rechtlichen, nämlich minderen Qualität als Aussagen früherer Regierungen. ({1}) Ein Letztes in Erwiderung auf das, was Minister Ehmke hier gefragt hat. Wie alle Ihre Redner hier haben Sie uns nach unserer Alternative gefragt. Nun, meine Damen und Herren, Ihnen liegt, und auf der Tagesordnung verzeichnet, der Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Beratung und Beschlußfassung vor. Das ist unsere Antwort und unsere Alternative zur Lösung dieses Problems. Darin heißt es - und das war die entscheidende Frage von Minister Ehmke , ein solcher Vertrag solle ausgehend von der Oder-Neiße-Linie und vorbehaltlich der friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts einen Modus vivendi schaffen. Darum also geht es uns. Einen Vertrag - und Sie sagen ja, dieser Vertrag sei nur ein Modus vivendi, ohne daß Sie in der Lage sind, diesen Nachweis zu führen -, der diesen Voraussetzungen entspräche, könnten wir unterstützen. Das also ist unsere Alternative. Herr Ehmke hat Kollegen Kiesinger vorgeworfen, er habe im Wahlkampf von Baden-Württemberg, der hier offenbar für einige Leute eine sehr große Rolle spielt, was ich verstehe, die Bibel mißbraucht. Ich frage mich, wo Herr Minister Ehmke den traurigen Mut hernimmt, anderen den Mißbrauch der Bibel ({2}) oder christlicher Überzeugungen vorzuwerfen, wo doch seine Partei im Wahlkampf immer noch mit diesen Dingen wirbt. Nun, ich bin davon überzeugt, es wird für Sie keine Werbung werden, meine Damen und Herren. ({3}) Lassen Sie mich zum eigentlichen Gegenstand, zu dem ich hier sprechen wollte, übergehen, zum deutsch-polnischen Vertrag. Der Herr Bundeskanzler hat am 7. Dezember 1970 in Warschau einen Vertrag unterschrieben, der in seinem Kern feststellt, daß die Oder-Neiße-Linie die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Meine Damen und Herren, nach Wirksamwerden dieses Vertrages werden Ostpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg, Oberschlesien und Schlesien im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung der obersten Gerichte nicht mehr als Inland, sondern als Hoheitsgebiet eines anderen Staates angesehen werden müssen. Der Bundesaußenminister hat gestern erklärt, daß die Oder-Neiße-Gebiete nunmehr als polnisches Staatsgebiet, also als Ausland, zu betrachten sind. Meine Damen und Herren, für eine so weitreichende Entscheidung hatte die Bundesregierung, hatte der Bundeskanzler weder einen Auftrag noch hat er dafür eine überzeugende Mehrheit. ({4}) Diese Entscheidung über ein Viertel Deutschlands hängt vielleicht von einer einzigen Stimme ab. Die Moskauer Zeitung „Neue Zeit" spricht davon, daß schon ein schlichter Zufall die Entscheidung gefährden könnte. ({5}) - Das vergleiche ich nicht mit der Wahl eines Bundeskanzlers, meine Damen und Herren! ({6}) Wir hatten Ihnen zu einem sehr frühen Zeitpunkt vertraulich eine gemeinsame Polen-Politik angeboten. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler glaubten auf eine breite Basis in dieser so schwierigen Frage verzichten zu können. Das war, wie sich heute in aller Deutlichkeit zeigt, eine verhängnisvolle Entscheidung, verhängnisvoll nicht für uns, verhängnisvoll vor allem für die künftigen deutschpolnischen Beziehungen. Sie mögen zwar sagen - das ist in diesem Hause mehr als einmal gesagt worden -: Mehrheit ist Mehrheit! Aber, meine Damen und Herren, hier geht es doch um weit mehr! Hier geht es doch um die Glaubwürdigkeit und um die Tragfähigkeit unserer Entscheidung gegenüber der Geschichte und gegenüber dem polnischen Volk. Herr Bundeskanzler, für diese Politik hatten Sie keinen Auftrag! Im Gegenteil, Ihre Partei hatte noch wenige Tage vor der 'Bundestagswahl alle Vermutungen über einen beabsichtigten Kurswechsel mit scharfen Worten zurückgewiesen. ({7}) Noch sechs Tage vor der Wahl wurde im Namen des Parteivorstandes der SPD auf zweifelnde Fragen festgestellt, die Behauptung, daß die SPD die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie fordere, sei eine Diffamierung, ({8}) eine böswillige Verleumdung; ({9}) sie müsse auffordern, diese Behauptung zurückzunehmen, da sie wissentlich falsch sei. Heute wissen wir, daß diese Behauptung zutreffend war. Es ist deswegen sicher richtig, wenn man unterstellt, daß die schmale Mehrheit, über die diese Regierung noch verfügt, nur mit der Versicherung erreicht werden konnte, ({10}) daß die damals noch gemeinsame, wenigstens verbal noch gemeinsame Ostpolitik - so hieß es doch - kontinuierlich weiterentwickelt werde. ({11}) Dieser Vertrag aber, das gilt es hier festzustellen, zerbricht diese Gemeinsamkeit. Wenn Sie das, was Sie jetzt machen, vor der Wahl gesagt hätten, dann sähen, dessen bin ich gewiß, die Mehrheiten in diesem Hause ganz anders aus. ({12}) Warum steht der Bundeskanzler, warum steht die Bundesregierung nicht mehr zu den feierlichen, teilweise geradezu pathetischen Erklärungen zur Oder-Neiße-Linie früherer Jahre? Es sind einige zitiert worden. Ich könnte seitenlang weiter zitieren; das würde uns hier nicht weiterführen und würde auch nichts ändern. Aber, meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was hat sich denn seit 1969, seit dem Wahltag also, geändert, wenn es sechs Tage vorher noch hieß, es sei eine Verleumdung und Diffamierung, zu behaupten, die Oder-Neiße-Linie solle anerkannt werden? Wir hören dann immer, daß es zu dieser Ostpolitik - das ist ja auch jetzt wieder gesagt worden - keine Alternative gebe, und deswegen, deswegen sei sie richtig. Ich verstehe das nicht. Der Bundeskanzler hat doch selbst als Außenminister der Großen Koalition diese Alternative wenigstens verbal oder, wie Herbert Wehner gestern sagte, unter der Zucht des Kabinetts vertreten. Herr Kollege Wehner, Sie haben diese Broschüre unter eigener Verantwortung herausgegeben, die Dr. Kiesinger gestern zitiert hat, nicht unter Zucht des Kabinetts; Sie hätten sie nicht herauszugeben brauchen. ({13}) - Nein, Herr Kollege Arndt: Jeder Minister führt - das sollten Sie wissen sein Ressort selbstverantwortlich. Publikationen konnte selbstverständlich der gesamtdeutsche Minister, den es damals noch gab, in eigener Verantwortung herausgeben. Sie zweifeln daran? Dann lesen Sie die Geschäftsordnung der Bundesregierung. Niemand hatte Sie also dazu gezwungen. Es gab damals - wenigstens verbal - noch eine gemeinsame Politik und eine Alternative. Wenn Sie jetzt seit Herbst 1969 sagen, es gebe keine Alternative mehr, muß ich doch fragen: Hat uns etwa diese Politik dahin gebracht, daß wir jetzt auf einmal keine Alternative mehr haben? Davon muß man doch ausgehen. ({14}) Der Herr Bundeskanzler hat es für richtig gehalten, deutsch-polnische Grenzfragen nicht zwischen Deutschen und Polen, sondern zunächst zwischen Deutschen und Russen zu regeln. Meine Damen und Herren, das entspricht einer unheilvollen Tradition, die in Polen unvergessen ist. ({15}) Vor genau 200 Jahren wurde die erste polnische Teilung zwischen Österreich, Preußen und Rußland besiegelt. Exilpolnische Zeitungen wissen zu berichten: in eben jenem Katharinensaal des Kreml, in dem später der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister und vor Ihnen, Herr Bundesaußenminister, Herr Ribbentrop einen Vertrag über polnische Grenzen unterzeichneten. Doch das ist leider nicht der einzige Zusammenhang zwischen den Verträgen von 1939 und dem von 1970. ({16}) Herr Bundeskanzler, Sie haben - so wenigstens sehen es die Völker des Ostens - in Moskau alle heutigen Grenzen in Europa als unerschütterlich und unveränderlich bestätigt - und damit auch jene polnisch-sowjetische Grenze des Hitler-Stalin-Paktes, die die Polen Wilna und Lemberg kostete. ({17}) - Ja, natürlich, noch einiges mehr. Ich spreche hier über das deutsch-polnische Verhältnis. Sie wissen, was das für jeden national- und geschichtsbewußten Polen auch heute noch bedeutet. Unter solchen Begleitumständen ist die Hoffnung auf einen deutschpolnischen Ausgleich nicht sehr wahrscheinlich. Der Herr Bundeskanzler hat den Warschauer Vertrag zum Bestandteil des übergeordneten Moskauer Vertrages, des Generalvertrages gemacht. ({18}) Die in Moskau paraphierte Absichtserklärung unterstreicht das ganz eindeutig, denn sie spricht von einem einheitlichen Ganzen aller Verträge. ({19}) - Ich habe Ihnen eben die Interpretation des Bundesaußenministers gebracht, wie er dieses einheitliche Ganze versteht oder mindestens verstand. Sie wissen, daß selbst kommunistische Politiker darum ringen, die zuletzt in der CSSR blutig bestätigte Brechnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten abzuschwächen. Der Herr Bundeskanzler hat mit der Regelung der deutsch-polnischen Grenzfragen über die Köpfe der Polen hinweg diese Doktrin de facto hingenommen und bestätigt. Wie können wir glauben, das trage zur Ausöhnung bei? Auch hier war der BunWindelen deskanzler gewarnt. Auch hier hat er sich über diese Warnungen hinweggesetzt. ({20}) - Das ist kein Unsinn. ({21}) Darüber wird, wenn einmal die Dokumente zugänglich sind, auch die Öffentlichkeit mehr erfahren. ({22}) Was die Polen selbst, soweit sie sich frei äußern können, zu dieser Politik sagen, kann man täglich der polnischen Exilpresse entnehmen. So schreibt z. B. „Narodowicz" am 13. August 1970, der Moskauer Vertrag erwecke schmerzliche Erinnerungen an den sowjetisch-deutschen Vertrag direkt vor dem letzten Krieg, oder die angesehene Pariser „Kultura" im November 1970 - wörtliches Zitat -: Obwohl es natürlich gewesen wäre, daß die Garantien der Unantastbarkeit der Westgrenzen Polens vor allem in Warschau deponiert würden, hat Brandt diese Garantien an Moskau überwiesen. Das Ergebnis dieser Operation: wie früher der Gehorsam gegenüber der UdSSR mit der Gefahr der deutschen Revanchisten motiviert wurde, so wird er jetzt mit der Tatsache begründet, daß die Garantien in der Hand der sowjetischen Regierung liegen. Das waren nur zwei Stimmen aus der Fülle ähnlicher Kommentare. Der Herr Bundeskanzler und viele mit ihm, die das harte Los der Emigration geteilt haben, werden die Bedeutung derartiger Meinungsäußerungen besonders zu würdigen wissen. Auch jene waren mit dem Herrn Bundeskanzler damals vor einer Diktatur geflohen. Sie haben auf ihre Weise damals auch als Emigranten gegen die Gewaltherrschaft in ihrem Heimatland gekämpft, genauso wie es Polen heute im freien Westen versuchen. Ich bin überzeugt, in diesem Haus gibt es niemanden, der nicht Verständigung, der nicht Aussöhnung mit dem polnischen Volk will. Aber bisher waren wir uns doch, meine ich, darüber einig, daß wir unseren Frieden mit dem polnischen Volk suchten und nicht mit denen, die es unterdrücken. ({23}) Wir alle wissen um die Opfer von Auschwitz, und wir schämen uns dessen, was dort im Namen von Deutschen geschehen ist. Wir wissen aber auch, was später mit den Überlebenden von Auschwitz geschah und was heute noch mit ihnen in Polen geschieht. Wir wünschten, daß auch dazu ein Wort gesagt worden wäre. Wir hoffen, daß der Herr Bundeskanzler demnächst bei seinem Besuch in Israel dazu ein Wort sagen wird. Aber noch etwas anderes gehört zur ganzen Wahrheit. Es gab nicht nur die Verbrechen von Auschwitz, es gab nicht nur Verbrechen von Deutschen, sondern es gab auch Verbrechen an Deutschen. Es gab auch Lamsdorf, wo Polen Schreckliches an Deutschen taten, und es gab auch Katyn, wo Stalin Tausende von polnischen Offizieren ermorden ließ. Die Namen Auschwitz, Lamsdorf und Katyn stehen für viele. Sie stehen für eine europäische Tragödie ohnegleichen, die sich nie wiederholen darf. ({24}) Wer aber Aussöhnung anstrebt, der muß die ganze Wahrheit sagen und die ganze Wahrheit ertragen können. Nun kann es natürlich sein, daß man mir entgegenhält, ich verwechsele Ursache mit Wirkung. Nein, meine Damen und Herren! Kollege Wehner hat gestern völlig zu Recht gesagt: in der Geschichte gibt es keine Stunde Null. Deswegen fängt eben auch die deutsch-polnische Geschichte nicht mit dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen an. Wenn man schon über Ursachen und Wirkungen sprechen will, dann muß man auch jene Ursachen und Wirkungen mit bedenken, die nach dem ersten Weltkrieg das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen unheilvoll vergifteten. Volksabstimmungen, an die man sich nicht hielt, willkürlich gezogene Grenzen auf Landkarten, die Frieden schaffen sollten, Versuche auch damals schon -, das Selbstbestimmungsrecht durch Gewalt zu ersetzen, eine nationalistische Minderheitenpolitik, die natürlich nationalistische Gegenreaktionen auslöste, - das alles gehört mit zu dieser Vorgeschichte. Herr Kollege Wehner hat gestern vor unbilligen Vergleichen gewarnt, vor allem vor einem Vergleich mit Versailles. Ich glaube, er hat recht. Man kann hier keine unmittelbaren Vergleiche ziehen. Aber man sollte wenigstens aus Fehlern lernen dürfen. Schließlich war es Theodor Heuss, der schon 1932 sagte: „Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles." ({25}) Herr Bundesaußenminister, es war Ihr Vorgänger im Amt des Vorsitzenden der FDP, Thomas Dehler, der 1950 bestätigte, daß der Aufstieg Hitlers weitgehend eine Folge des Versailler Vertrages gewesen sei. Insoweit gehört dieses Problem mit in unsere Betrachtung, ({26}) eben weil die Geschichte keine Stunde Null kennt. Heute stehen wir vor der Frage, ob wir diesmal ohne Zwang eine ähnliche Lage - das Selbstbestimmungsrecht ignorieren, Striche auf Landkarten machen und Menschen aussiedeln oder vertreiben - hinnehmen wollen. Ich meine, die Erfahrungen der Vergangenheit sollten uns schrecken. Recht muß Recht bleiben. Wer aus Unrecht Recht werden läßt, der schafft böse Beispiele für die Zukunft, ({27}) auf die sich dann auch andere berufen können - nein: inzwischen ja schon berufen. Denken Sie an Israel oder an Irland. Wann je in der Geschichte hat das Ziehen von Strichen auf Landkarten und das Wegschaffen von Menschen Frieden, Entspannung und Versöhnung gebracht? Betrachten wir doch alle Brand- und Krisenherde, die die Politiker heute beschäftigen! Sie sind alle die Folge von ungelösten Problemen, von Problemen, die man nur auf die nächste Generation verschoben hat, statt sie in Geduld einer Lösung des Ausgleichs zuzuführen. ({28}) Nachdem wir diese geschichtlichen Erfahrungen haben, ist es uns, glaube ich, nicht mehr erlaubt, die Probleme von heute wieder einmal auf die nächste Generation zu verschieben, weil wir nicht die Kraft und nicht die Geduld haben, ({29}) eine Lösung des echten Ausgleichs zu schaffen, ({30}) nicht nur - das geschieht doch mit diesen Verträgen - eine Sanktionierung von Gewalt und Annektion. Ein Frieden, der nicht auf dem Recht, sondern auf dem Unrecht beruht, kann nach unseren geschichtlichen Erfahrungen nicht von Dauer sein, und die bloße Aufrechnung von Schuld hilft uns bestimmt nicht weiter. ({31}) Schuld gibt es auf beiden Seiten, wenn auch das Ausmaß unterschiedlich ist und wir den geringsten Anlaß haben, unseren Teil von Schuld zu verkleinern oder zu bagatellisieren. Aber Aussöhnung kann es doch nur dann geben, wenn alle Beteiligten ihr Maß an Schuld erkennen ({32}) I und wenn alle Beteiligten zu einem Neubeginn bereit sind. Auch dazu hätten wir vom Herrn Bundeskanzler ein offenes Wort erwartet. Vielleicht kommt es noch. Die polnischen Bischöfe, an ihrer Spitze Kardinal Wyszyinski, wagten dies, obschon sie wußten, wie die polnische Regierung reagieren würde. Sie schrieben in ihrer Botschaft an die deutschen Bischöfe im Jahre 1965 wörtlich: Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland eine äußerst bittere Frucht des letzten Massenvernichtungskrieges zusammen mit dem Leid von Millionen von Flüchtlingen und vertrieben Deutschen. Sie erwähnten dann die Vertreibung auch der Polen aus den polnischen Ostgebieten, und sie schlossen mit dem bewegenden Satz von der gegenseitigen Vergebung: gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." Die scharfe Reaktion der Warschauer Regierung formulierte der damalige Ministerpräsident Cyrankiewicz: eine solche Bitte um Vergebung, so sagt er, sei für das polnische Volk beleidigend und für seine Würde erniedrigend; das polnische Volk habe nicht um Vergebung zu bitten. Noch bedeutungsvoller ist ein anderer Satz in derselben polnischen Bischofsbotschaft. Darin wird uns Deutschen - ganz bestimmt nicht ohne Absicht - mitgeteilt, daß in allen Freiheitskämpfen während der polnischen Unterdrückungszeit die Devise der Polen war: „Für eure und unsere Freiheit". Meine Damen und Herren, es stünde uns wohl an, dieses Wort genau zu bedenken und zu prüfen, was heute damit gemeint ist: „Für eure und unsere Freiheit." ({33})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte!

Hellmut Sieglerschmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002171, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Windelen, stimmen Sie mit den Vorstellungen der polnischen Bischöfe, mit denen Sie sich hier so solidarisiert haben, auch hinsichtlich der polnischen Westgrenze überein?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sieglerschmidt, ich habe Ihnen vorhin schon die Antwort auf die Frage nach unserer Alternative gegeben. Die deutschen Vertriebenen haben auf diese Botschaft der polnischen Bischöfe positiv reagiert, und sie waren zu Gesprächen auf dieser Ebene bereit. Das ist auch meine Antwort. ({0}) - Herr Kollege Wischnewski, ich muß meine Antwort an die Mehrheit dieses Hauses richten. Wenn einzelne sie nicht verstehen, bin ich bereit, sie einzeln zu informieren. ({1}) Ich meine, daß die Forderung der polnischen Bischöfe, nicht nur für die eigene, sondern auch für die Freiheit der anderen einzutreten, nicht nur eine Forderung von Christen, sondern auch eine Forderung von Demokraten sein müßte. ({2}) Es ist vor allem eine Mahnung an uns, die wir diese Freiheit noch haben. Die Warschauer Regierung erklärte zur Bischofsbotschaft, es gehe nicht um Vergebung und Versöhnung, sondern es gehe - so wörtlich - um die wiedergewonnenen polnischen Westgebiete. Die Absicht ist klar. Wenn es sich nur um wiedergewonnene polnische Gebiete handelt, dann wäre ein deutscher Verzicht kein Opfer und könnte nicht zum Ausgleich führen. Es wäre dann zusammen mit der Vertreibung nur die Wiedergutmachung eines historischen Unrechts, mehr nicht. Ich will mich hier mit dieser These nicht auseinandersetzen. Sie ist historisch falsch, unhaltbar, auch für ernsthafte polnische Historiker kein Gegenstand der Auseinandersetzung. Ich habe diese Aussagen hier erwähnen müssen, weil an ihnen der unüberbrückbare Gegensatz zwischen der Auffassung der polnischen Regierung und der Auffassung der polnischen Bischöfe ganz deutlich wird. Man wird sagen: Die polnischen Bischöfe haben wohl kaum eine Legitimation. Meine Damen und Herren, jeder Kenner Polens und der polnischen Geschichte weiß, daß die katholische Kirche und die Bischöfe in Polen mit weit größerem Recht für das polnische Volk sprechen können als die derzeitige polnische Regierung. ({3}) Ministerpräsident Cyrankiewicz, Parteichef Gomulka und Außenminister Jedrychowski wurden trotz des Warschauer Vertrages ihrer Posten enthoben. Wenige Tage nach ihrem größten Triumph brach ein Aufstand polnischer Arbeiter aus, ein Auf- stand, von dem der „Spiegel" unter der Überschrift berichtete: „Die Volksregierung mordet ihr Volk." Die wirtschaftlichen Sorgen in Polen waren also weit größer für die Menschen dort als die Befriedigung über die Granzgarantie des Warschauer Vertrages. Ich meine, auch das sollte uns zu denken geben. Nun, meine Damen und Herren, zur Auslegung des Grenzartikels des Warschauer Vertrages. Der Herr Bundeskanzler hat uns hier und an anderer Stelle wohl mit Blick auf Karlsruhe erklärt, es handle sich bei der Grenzanerkennung um einen Modus vivendi. Aber in aller Welt wird der Eindruck erweckt - das ist hier im Laufe der Debatte oft genug betont worden -, wir meinten in Wirklichkeit doch Anerkennung. Mit Blick auf Polen spricht der Bundeskanzler wieder von Anerkennung. Aber er läßt sich den Rückweg offen, es sei in Wirklichkeit doch ein Modus vivendi gemeint. Genau das ist es, meine Damen und Herren, was wir eine zwiespältige und unglaubwürdige Politik nennen, die besonders bei den Polen Mißtrauen und Zweifel auslösen muß. ({4}) Der Herr Bundeskanzler hat vor seiner Unterschrift gewußt - und die Polen haben es immer wieder mit Nachdruck betont -, daß in den Augen Warschaus die Teilung Deutschlands damit endgültig besiegelt sei. Dennoch ist unterzeichnet worden und erklärt worden, der Friedensvertragsvorbehalt sei selbstverständlich gewahrt und der Vertrag beinhalte keine endgültige Grenzanerkennung. Eine solche Politik kann weder den inneren noch den äußeren Frieden sicherer machen. Die Polen befürchten natürlich, wir meinten es nicht ehrlich. Bei den Vertriebenen umgekehrt wird ein Funken und ,ein Rest von Hoffnung genährt, von der doch jeder weiß, daß sie bei Fortsetzung dieser Politik völlig unrealistisch wäre. Warum sagt man nicht offen, was das politische Ziel in Wirklichkeit ist? Nur mit Rücksicht auf Karlsruhe? Warum werden Spekulationen weiter Tür und Tor geöffnet? Jeder kennt doch die vielen ablehnenden Äußerungen des Bundeskanzlers und vieler Kabinettsmitglieder zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie noch vor wenigen Jahren. Sie sind doch noch gar nicht so alt. Manche wissen, daß der Herr Bundeskanzler dennoch gleichzeitig im Ausland ganz anderes sprach und eben jene Anerkennung, die er im Innern so hart ablehnte, im Ausland in Aussicht stellte. Meine Damen und Herren, was damals unvereinbar nebeneinander stand, das kennzeichnet leider auch heute noch die Interpretation des Warschauer Vertrages. So wird man nicht Verständigung, so kann man nicht Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen schaffen. Eine solche Polenpolitik ist deswegen zwiespältig und fragwürdig. Sie täuscht entweder die Polen oder die Deutschen. Es ist eine Politik, die eher den Keim zu neuen Konflikten legt, statt endlich alte Konflikte zu beseitigen. ({5}) Das, meine Damen und Herren, ist genau keine Politik, die den Frieden sicherer macht. Der Herr Bundeskanzler sagt - und der Herr Außenminister hat es bestätigt , eine gesamtdeutsche Regierung sei an diesen Vertrag nicht gebunden. Damit steht doch fest: Wenn ein wiedervereinigtes Deutschland mit einer gesamtdeutschen Regierung die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in Frage stellen kann, dann wird selbst ein freies Polen diese Wiedervereinigung zu verhindern suchen. Damit aber würde das deutsch-polnische Verhältnis erneut belastet. Deswegen ist der Warschauer Vertrag weit mehr als ein Grenzvertrag. Er ist zugleich auch ein Vertrag zur Erschwerung der deutschen Wiedervereinigung. ({6}) Auch das gilt es in aller Deutlichkeit zu erkennen, wenn man zu diesem Vertrag votieren soll. Der Herr Bundeskanzler sagt immer, er möchte den Frieden sicherer machen. Aber hier muß man doch fragen, meine Damen und Herren: Wer stört denn eigentlich den Frieden? Das sind doch nicht wir, die wir längst auf Gewalt und auf Drohung mit Gewalt verzichtet haben. Das sind doch nicht wir, die wir uns nur auf das in der UNO-Charta verbriefte Recht berufen. Den Frieden gefährdet doch, wer die Weltherrschaft mit allen Mitteln anstrebt und das jeden Monat und jede Woche erneut offen ankündigt. ({7}) Man braucht doch nur nachzulesen, was Herr Breschnew sagt und was das „Neue Deutschland" täglich schreibt, meine Damen und Herren. Mit welchem Recht verlangt eigentlich Moskau von uns, daß wir sein gewaltsam gebildetes Imperium nunmehr als unabänderlich garantieren? Das wäre doch nichts anderes als eine späte Rechtfertigung auch der Eroberungspolitik Hitlers, der 1939 gemeinsam mit Stalin Polen überfiel und damit Recht durch Macht ersetzte. ({8}) Der Bundeskanzler hat selber auf diesen unleugbaren Zusammenhang in einem Aufsatz vom 22. Januar 1940 hingewiesen. Er schrieb damals: Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg in Gang zu setzen. ({9}) Durch diese Politik ist die Sowjetunion ein Bundesgenosse des Nazismus geworden. 9904 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24 Februar 1972

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schlaga?

Georg Schlaga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001974, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Windelen, Sie erwähnten jetzt zum wiederholten Mal die Beteiligung der Sowjetunion oder, besser gesagt, Stalins an der Okkupation Polens im Jahre 1939. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir diese Dinge, obwohl sie seinerzeit im Namen des deutschen Volkes geschehen sind, überhaupt nicht zu vertreten haben, auch nicht im Sinne der Identitätstheorie? Und halten Sie es nicht wirklich für ein bißchen armselig und moralisch und politisch unzulässig, die Schandtaten, die seinerzeit begangen worden sind, dadurch relativieren oder verniedlichen zu wollen, daß man ständig auf Komplicen verweist?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schlaga, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie diese Frage nicht zu stellen brauchen. ({0}) - Lesen Sie doch das Protokoll nach! Das ist keine Anmaßung! Meine Damen und Herren, es hat doch wirklich keinen Sinn, hier dauernd zu sprechen und sehen zu müssen, daß all die Erklärungen„ die man hier abgibt, noch in der gleichen Rede wieder in Frage gestellt werden. Es hat doch keinen Sinn, so zu diskutieren. Das zweite: Setzen Sie sich doch mit Ihrem Bundeskanzler selber auseinander, der diesen Satz, den ich wiederholen möchte, im Jahre 1940 völlig zutreffend geschrieben hat. Es ist Willy Brandt, nicht Heinrich Windelen, der schrieb: Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg in Gang zu setzen. Durch diese Politik ist die Sowjetunion ein Bundesgenosse des Nazismus geworden. Dies und nichts anderes wollte ich hier festgestellt haben, ({1}) Nun, meine Damen und Herren, sagt man uns immer - und das war ja auch wesentlicher Inhalt der Ausführungen von Minister Ehmke vorhin -, hier gehe es um Realitäten. Nun, Hitler war genauso eine Realität, wie es Stalin war und wie es Breschnew heute ist. Hätten wir uns und, so frage ich Sie, hätte sich die freie Welt denn auch mit Hitler abfinden sollen? Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zitieren, was der Erlanger Ordinarius und Schweizer Staatsbürger Professor Ernst Heuss schon 1965 im Zusammenhang mit der evangelischen Denkschrift zum Thema „Relitäten" sagte: Damit nämlich etwas zur vollen Realität werden kann, muß es vor allem von den Mitmenschen akzeptiert werden. Wird es das nicht, dann hat das Geschaffene keine Chance, eigentliche Realität zu werden, sondern stellt bestenfalls eine Episode dar. Was also erst Realität ausmacht, ist das Akzeptieren und Anerkennen. ... Nur so besteht z. B. die Hoffnung, daß das Grauenhafte, das mit dem Wort Auschwitz verbunden ist, gleichsam eingemauert wird, nachdem die Menschheit deutlich genug gezeigt hat, daß sie so etwas nicht akzeptiert. Er fährt dann fort: „Grenzveränderungen hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Bis 1939 aber waren solche Grenzverlegungen nicht mit entsprechenden Transplantationen der Bevölkerung verbunden." Hier liegt der eigentliche Bruch mit dem christlichabendländischen Denken, also nicht in der Oder-Neiße-Linie, sondern darin, daß man die Menschen wie Kühe von einer Weide auf die andere treibt. ({2}) Diese Realität ist es, mit der sich Menschen nicht abfinden können und nicht abfinden dürfen. Unter dem Vorzeichen des Kommunismus, meine Damen und Herren, können wir den Warschauer Vertrag nicht als Beitrag zum Frieden ansehen. Er dient lediglich dazu, den gewaltsamen Vormarsch des Kommunismus bis an die Elbe nachträglich zu sanktionieren und festzuschreiben. Weshalb nach Auffassung von Honecker der Frieden durch die Ostverträge sicherer wird, das sagte der SED-Chef am 6. Januar dieses Jahres. Er sagte: „Der Frieden ist also sicherer geworden, weil der Sozialismus an Stärke gewonnen hat. Mit einem Wort, das internationale Kräfteverhältnis hat sich weiter zu unseren Gunsten verändert." Meine Damen und Herren, wir befürchten, genauso wird es sein. Der Kommunismus wird mit den Ostverträgen noch eine Handhabe bekommen, daß diese Art von Frieden künftig für ihn noch sicherer werden könnte. Das aber liegt weder im Interesse der Polen noch im Interesse der Deutschen. -- Ich möchte eigentlich jetzt zum Ende kommen, auch im Interesse der Zeitökonomie Der Bundeskanzler hat sich in der Emigration bitter beklagt, daß die schwächliche Politik der Westmächte eine der entscheidenden Ursachen dafür ist, daß es heute in Deutschland keine aktive politische Opposition gibt. Das ist sicher völlig richtig. Aber muß er diesen Satz nicht heute auch gegen seine Politik gelten lassen? ({3}) Die Politik des Nachgebens kann doch nur einer Festigung der Einparteienherrschaft jenseits des Eisernen Vorhangs dienen, und sie muß doch jede freiheitliche Regung, jede Opposition jenseits des Eisernen Vorhangs zutiefst entmutigen. Können wir das wollen, meine Damen und Herren? Ich war, Herr Kollege Mattick, sehr bestürzt über Ihren Beitrag und das Zitat, das Sie kürzlich schon einmal in einem gemeinsamen Podiumsgespräch gebracht haben, das Zitat von Winston Churchill aus dem Kriegsjahr 1944, ein Zitat des Kriegspremiers Churchill zur Stützung Ihrer These, hier in diesem Saal und zu dieser Politik. Ich möchte es wenigstens durch ein Zitat des gleichen Churchill ergänzen dürfen, aus einer Zeit, als es darum ging, zum Frieden zu kommen und nicht mehr Krieg zu führen. Er erklärte am 16. August im britischen Unterhaus folgendes wörtlich: Ich muß meine Meinung zu Protokoll bringen, daß die provisorische Westgrenze, die Polen zugebilligt worden ist und die ein Viertel des pflügbaren Landes von Deutschland in sich schließt, keine gute Vorbedeutung für die Zukunft Europas hat. ({4}) Hier ist, glaube ich, ein Fehler gemacht worden, wobei die provisorische polnische Regierung weit über das hinausging, was Notwendigkeit und Gleichwertigkeit erfordern. Meine Damen und Herren, ich weiß wirklich nicht, ob es für einen deutschen verantwortlichen Politiker vertretbar ist, zur Stützung seiner Politik auf extrem negative Äußerungen ausländischer Staatsmänner zurückzugreifen, die während des Krieges gemacht wurden, und die positiveren Äußerungen im Zusammenhang mit der Friedensregelung hier zu unterschlagen. ({5}) Wenn es um den Frieden geht, dann bekenne ich mich zu dem Kommentar der hier schon einmal zitierten exilpolnischen Zeitung „Narodowiec" vom 17. Dezember 1970. Die Zeitung schrieb zum Aufstand in Polen kurz nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages wörtlich folgendes. ({6}) - Sagen Sie das doch bitte Ihren Freunden, die hier lange Passagen mit Zitaten bestritten haben! Und das zweite: Ich glaube, in diesem Hause sollte jeder frei sein, das zu sagen, was er für richtig hält, und nicht das, was Sie für richtig halten. ({7}) Diese Zeitung schrieb: Gut an dieser großen Tragödie - des Aufstandes in Polen ist, daß sie Polen, ... Europa und die Welt daran erinnert, daß ein solcher Friede dem europäischen Kontinent keine Sicherheit bringen würde. Es muß all denen unangenehm auffallen, die im Westen bereit sind, die Unfreiheit halb Europas zu billigen, um auf der anderen Seite Ruhe und Sicherheit zu haben. Es zeigt sich, daß die Sicherheit ganz Europas sehr eng damit verbunden ist, ob ganz Europa frei ist oder nicht, ... weil sie nicht vom Schicksal und den Verkehrsmöglichkeiten einer Million Einwohner von halb Berlin abhängt, sondern von der Freiheit von 100 Millionen Europäern aus dem östlichen Teil dieses Kontinents. Das, meine Damen und Herren, ist auch unsere Meinung. Deswegen lehnen wir Verträge ab, die weder Frieden noch Aussöhnung bringen, die Unrecht und Gewaltherrschaft sanktionieren und den Menschen drüben nichts, aber auch gar nichts bringen.

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie, verehrter Herr Kollege Windelen, mir sagen, ob Sie die Auffassung, die ich im folgenden zitiere, auch als die Ihre ansehen? Sie beginnt mit der Feststellung: Ich möchte einige Friedensaufgaben nennen, die mir innerhalb der katholischen Kirche der Bundesrepublik besonders dringlich zu sein scheinen: 1. An die erste Stelle gehört zweifellos, und zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständigung und Versöhnung mit Polen. Wie immer man zu dem Vertrag stehen mag, über den gegenwärtig verhandelt wird, - diese Aufgabe ist und bleibt gestellt. Ich freue mich in diesem Zusammenhang, daß aus dem Kreis der polnischen katholischen ZNAK-Gruppe eine Einladung an das Präsidium von Pax Christi zu einem Besuch in Polen ergangen ist, und möchte an dieser Stelle herzlich dafür danken. ({0}) - Da Sie sich so freuen: Das sind Worte von Kardinal Döpfner - wörtlich zitiert. Ich wollte, weil sich Herr Windelen jetzt - wozu ich ihm das Recht nicht bestreite - auf ein polnisches Emigrationsblatt berief, nur fragen, wie er sich zu dieser Auffassung von Julius Kardinal Döpfner stellt.

Heinrich Windelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, daß es auf dieser Grundlage keine Schwierigkeiten und keine Probleme gibt, zu einer Verständigung zu kommen. Herr Kollege Wehner, wenn Sie sich ebenfalls - und davon muß ich doch ausgehen, wenn Sie das hier zitieren - mit dieser Auffassung identifizieren, dann jedenfalls sollten wir uns in der Polenfrage auf eine gemeinsame Linie einigen können. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat am 4. Dezember 1970 einstimmig einen Entschließungsantrag eingebracht, der unsere Alternative zum Warschauer Vertrag deutlich macht. Er geht von den Grundpositionen aus, die bis vor wenigen Jahren noch von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam vertreten wurden. Die Diskussion und Abstimmung darüber werden zeigen, wieviel von dieser Gemeinsamkeit noch verblieben ist. Wir sind überzeugt, daß eine Politik auf der Grundlage dieser Entschließung dem inneren und äußeren Frieden dienen würde. ({1})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Das Wort hat der Bundesminister des Innern.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Windelen hat im Verlaufe seiner Rede die Forderung an uns alle erhoben, die ganze Wahrheit zu sagen und auch die ganze Wahrheit ertragen zu können. Ich glaube, daß kein Thema für diesen Appell besser geeignet ist als das Verhältnis des deutschen zum polnischen Volk. Der Kollege Windelen wird sich mit dem, was er hier ausgeführt hat, an dieser von ihm aufgestellten Regel messen lassen müssen. Herr Kollege Windelen, Sie haben gesagt, daß diese Verträge das Unrecht und die Gewaltherrschaft sanktionieren, was doch wohl heißen soll, daß sie die Gewaltherrschaft in Polen sanktionieren, weil dort eine kommunistische Regierung die Verantwortung trägt. Wenn das so ist, dann müssen Sie fairerweise sagen, daß Sie auf Ostpolitik mit allen kommunistischen Staaten so lange verzichten wollen, wie dort kommunistische Regierungen sind. ({0}) Ich finde auch, daß es ein unzulässiger Vergleich war, ein Verhältnis zwischen den Verhandlungen des Außenministers des „Dritten Reiches" Ribbentrop und den Verhandlungen herzustellen, die der Außenminister des demokratischen Nachkriegsstaates Bundesrepublik Deutschland geführt hat. ({1}) Jene Verhandlungen, meine Damen und Herren, waren ein Meilenstein auf dem Weg, der dazu führte, daß Millionen deutscher Menschen am Ende ) dieses Krieges ihre Heimat verloren haben, ({2}) und die Verhandlungen, die der heutige Außenminister geführt hat, sollen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich so etwas in Europa nicht mehr wiederholt. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir scheint, daß in dieser Debatte, die ja auch die Lage der Nation behandeln soll, zuwenig für die Menschen gesagt worden ist, die eigentlich diesen Krieg zweimal verloren haben, nämlich für jene, die für diesen Krieg mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen mußten, für jene, die etwas bewirkt haben, was viel mehr als das andere, worauf wir auch stolz sind, die Bezeichnung „deutsches Wunder" verdient, das deutsche Wunder nämlich, das darin bestand, daß in einem Land, zerbombt, ausgehungert und mit Millionen von Flüchtlingen überflutet, nicht ein neuer Nationalismus entstand, sondern daß die Vertriebenen und die Flüchtlinge mit an die Arbeit gegangen sind und dieses demokratische Deutschland aufgebaut haben. ({4}) Ich sage das hier, weil manchmal mit einer gewissen Leichtigkeit auch über das hinweggegangen wird, was diese Menschen bewegt und was sie bewegen wird, gerade angesichts einer Debatte über das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen. Nur finde ich, daß diese staatspolitische Leistung und Haltung, die die Vertriebenen gezeigt haben, ihnen auch das moralische Recht gibt, von jeder Fraktion des Deutschen Bundestages zu erfahren, ob sie jetzt oder in Zukunft eine reale Chance dafür sieht, daß diese Gebiete jemals zu Deutschland zurückkommen. Ich glaube, daß das ein Gebot der Ehrlichkeit ist, und ich will diese Frage für mich an dieser Stelle beantworten. Meine Damen und Herren, sowenig es in den Jahren seit 1945 vergangenen Regierungen, solchen, an denen wir beteiligt waren, und solchen, zu denen wir in Opposition standen, möglich war, diese Gebiete zu Deutschland zurückzubringen, so wenig wird es auch künftigen Regierungen möglich sein. Das gehört bei einer Diskussion über die Lage der Nation mit dazu, wenn man sagt: Wir wollen die ganze Wahrheit sagen, und wir wollen auch die ganze Wahrheit ertragen können. So gesehen ist nichts verschenkt, und so gesehen ist auch nichts vergeben worden. Zur ganzen Wahrheit, meine Damen und Herren, gehört auch etwas anderes. Herr Kollege Windelen hat davon gesprochen, daß wir den Frieden mit dem polnischen Volk suchen. Ich denke, das können wir alle für uns in Anspruch nehmen. Ich denke, ich kann hier auch feststellen, daß es uns allen lieber wäre, wenn wir diese Verhandlungen mit einer demokratischen Regierung in Polen hätten führen können. Aber in einem Punkte, meine Damen und Herren, wollen wir auch jede Illusion fallenlassen: Im polnischen Volk wie in anderen Völkern, die unter kommunistischer Regierung leben müssen, gibt es Menschen, die sich zu dieser Regierung bekennen, und - wie wir meinen - viel mehr Menschen, die in Opposition zu dieser kommunistischen Regierung stehen. Aber in einer Frage sind sich alle Polen einig: sie sind sich darin einig, daß sie nicht bereit sind, diese Gebiete wieder aufzugeben. ({5}) Das wissen wir aus den Erklärungen nicht nur der Exilpolitiker, die ja auch zitiert worden sind; wir wissen es nicht nur z. B. von den Verantwortlichen der katholischen Kirche in Polen; wir wissen es auch aus den Erklärungen nichtkommunistischer Politiker, die sich unmittelbar nach Kriegsende oder auch in den letzten Kriegsjahren dazu in Freiheit haben äußern können. Ich glaube also, daß es nicht die ganze Realität, nicht die ganze Not der Nation, die sich in diesem Verlust der Heimat für Millionen unserer Mitbürger widerspiegelt, erschöpft, wenn man nur sagt: es gibt draußen unter unseren Verbündeten nicht einen einzigen, der diese Ansprüche unterstützen würde; nein, es gehört auch dazu, zu sagen, daß es - doch ganz unabhängig davon, wie Polen regiert wird und regiert sein wird - darüber keine Meinungsverschiedenheit gibt.

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Bitte schön!

Peter Petersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Genscher, würden Sie mir vielleicht helfen: Wie würden Sie eine Frage beantworten, die von Menschen, die heute in Polen leben, wiederholt an mich gestellt wurde, .die Frage, was eigentlich Oder und Neiße zu suchen hätten in einem Vertrag, der von der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion in Moskau abgeschlossen worden ist?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich will Ihnen dazu auch ein Wort sagen, weil dies ja auch in der Kritik des Kollegen Windelen angeklungen ist. Ich wundere mich eigentlich, daß diese Frage und auch die Kritik aus Ihren Reihen kommt. Denn ich habe über viele Jahre, in denen meine Partei dafür eingetreten war, man solle z. B. Verhandlungen mit Ost-Berlin suchen, man solle versuchen, Kontakte mit Warschau aufzunehmen, gerade aus Ihrem Lager immer gehört, das sei alles ganz unsinnig; nicht mit Schmidtchen müsse man reden, sondern mit Schmidt, und das sei Moskau. ({0}) Aber ich will mir diese Argumentation nicht zu eigen machen. Nur wundert es mich, daß die Frage von Ihnen so gestellt wird. Dem Vertrag mit der Sowjetunion lag der politische Wille zugrunde, daß wir einen Beitrag zum Frieden in Europa leisten wollen, indem wir die Grenzen in Europa nicht in Frage stellen, indem wir auf diese Weise einen Punkt, der doch in der Vergangenheit durch Aufrechnung und Gegenaufrechnung immer wieder Ursache von Konflikten gewesen ist, aus dem Wege räumen. Und es wäre eine Illusion gewesen, über Grenzen in Europa und über ihr Nichtinfragestellen mit der Sowjetunion eine Vereinbarung abschließen zu wollen und dabei jene uns Deutsche doch bis ins Innerste berührende Frage aus einem solchen Abkommen auszuklammern. Das allein ist der Grund dafür. ({1}) Nun hat der Kollege Windelen an die Adresse des Bundeskanzlers die Kritik gerichtet oder die Frage gestellt, wann er denn etwas sagen wolle zu zu den Fragen des Rechts, zu dem Unrecht, das in diesem Bereich geschehen sei. Herr Kollege Windelen, ich will für alle, die es vergessen haben, hier etwas wiederholen, was der Bundeskanzler vor einiger Zeit gesagt hat: Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause - das war an die Bürger in unserem Lande gerichtet auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte. Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht. anerkennen oder rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren. Meine Damen und Herren, das hat er nicht irgendwo gesagt, auch nicht in einer Wahlversammlung, sondern er hat es in einer Fernsehansprache aus Warschau am 7. Dezember 1970 gesagt. Ich kann mir keinen Ort in Europa denken, wo er deutlicher, glaubwürdiger und eindrucksvoller das hätte sagen können, was wir zur Rechtsfrage zu sagen haben. ({2}) Nein, meine Damen und Herren, hier wird nicht das Recht verleugnet, und hier ist auch das nicht angebracht, was Herr Kollege Marx heute morgen in einer sehr indirekten Form, die der Klarstellung bedarf - vielleicht war sie auch sehr direkt -, zum Ausdruck gebracht hat. Er hatte Ernst Reuter zitiert. Ich wiederhole das Zitat: Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen. Dann hat er ein Stück weiter gesagt, für die CDU/ CSU hätten sich die Kategorien des Rechts und der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens nicht verändert. Meine Damen und Herren, hätte es dem Kollegen Marx nicht gut angestanden, das als eine gemeinsame Haltung aller Fraktionen des Bundestages zu sagen, oder sollte das heißen, daß es hier welche gibt, für die das nicht mehr gilt? Wir möchten für die Bundesregierung und für die sie tragenden Fraktionen in Anspruch nehmen, daß die Kategorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens, gegründet auf das Grundgesetz dieses freiheitlichen Staates, unverändert gelten und daß das auch die Grundlage dieser Politik ist, die heute hier zur Diskussion steht. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, von uns sind Alternativen gefordert worden, und einige Redner haben natürlich mit Recht auch eingewandt, daß es nicht immer Aufgabe der Opposition sei, Alternativen aufzuzeigen. Auf der anderen Seite sind auch Vertragsentwürfe als Alternativen genannt worden. Ich finde nur, daß eine Opposition eines nicht darf: sie kann nicht sagen, daß eigentlich gar nichts geht, also auch nichts anderes geht. Da nehme ich Bezug auf das, was der Kollege Windelen gesagt hat, was doch heißen soll, daß man am Ende mit kommunistischen Staaten zu solchen vertraglichen Vereinbarungen nicht kommen kann, weil man sonst das Unrecht sanktioniert. Ich muß auf etwas Bezug nehmen, was der Kollege Schröder geschrieben hat und was der Kollege Achenbach heute schon zitierte. Kollege Schröder hat geschrieben: So ist das Nein zu den Verträgen nicht nur eine außenpolitische Aussage, sondern es unterstreicht auch eine notwendige innenpolitische Haltung. Meine Damen und Herren, ist das nicht eine Selbstblockade in der Außenpolitik? Muß man nicht vielmehr wissen, daß es gerade für demokratisch verfaßte Staaten eine Notwendigkeit ist, deutlich zwischen Innen- und Außenpolitik zu scheiden? Das ist doch die Grundlage dafür, daß die Bundesregierung bei einer klaren Absage an den Kommunismus im Inneren bereit ist, auch mit kommunistisch regierten Staaten in der Welt, wie sie ist, vertragliche Regelungen anzustreben. Das scheint ja auch die Meinung der CSU zu sein, denn wie anders könnte ich es verstehen, daß sie einen Vertragsentwurf vorgelegt hat, der doch wohl nicht für die Zeit gedacht ist, in der in der Sowjetunion die Kommunisten nicht mehr das Sagen haben. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in dieser Debatte einen großen Komplex noch nicht erörtert. Vielleicht wird er in den Ausschüssen erörtert. Es spricht eine Menge dafür, dieses Thema auf die zweite Lesung zu vertagen. Es ist ein Gebiet, das aber doch von eminenter Bedeutung ist, vor allen Dingen nach der vorangegangenen Diskussion in der Öffentlichkeit. Ich meine die Fragestellung, in welchem Verhältnis denn diese Politik der Bundesregierung zu unserer Verfassung steht. Herr Kollege Schröder hat eigentlich schon in seiner gestrigen Rede die Verfassungskonformität dieser Politik attestiert, weil er nämlich sagte, weiter hätte ja die Regierung nicht zurückweichen können, dann wäre sie an die Grenzen des Grundgesetzes gestoßen, was doch wohl nur heißen kann, daß sich diese Verträge jedenfalls im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Ich denke, daß das eine wichtige Feststellung ist. Wir werden wie im Bundesrat auch in den Ausschüssen des Bundestages über diese tiefgehenden verfassungsrechtlichen Fragen eingehend zu sprechen haben. Dabei werden Sie alle Fragen und alle Argumente beantwortet bekommen, und da braucht auch niemand Sorge zu haben, daß Expertisen unterschlagen werden, wie das irgendwelche Leute behaupten. ({5}) - Ja, das haben Sie eben gesagt! Sehen Sie: Das ist typisch für Sie! Jetzt kann ich Ihnen etwas sagen, mein verehrter Herr Kollege. In Übereinstimmung mit dem Beamten, von dem behauptet wird, daß er ein Rechtsgutachten erstellt habe, das die Verfassungswidrigkeit der Verträge feststelle, kann ich sagen: Jeder sagt die Unwahrheit, der das behauptet! ({6}) Dieser Beamte hat aber etwas anderes getan, und das ist seine Pflicht: ({7}) Er hat nämlich in verschiedenen Phasen dieser Verhandlungen immer wieder auf die Grenzen, die die Verfassung uns setzt, hingewiesen. Er hat darauf hingewiesen, wie diese oder jene Regelung und Formulierung bei einer Anrufung des Verfassungsgerichts auch ein Risiko bedeuten könnte. Das ist die Aufgabe der Verfassungsjuristen in einer Demokratie. Die Bundesregierung hat das nicht nur zur Kenntnis genommen. Sie hat das gewürdigt und hat sogar in einer Reihe von Fragen nach den Lösungsvorschlägen dieses Beamten gehandelt. Aber lassen Sie mich ein Wort mehr sagen. Ich finde es nicht sehr fair, wenn in eine solche Diskussion, und sei es auch nur außerhalb des Parlaments durch Presseerklärungen und in anderer Weise, ein Beamter, der sich nicht dagegen wehren kann, einbezogen wird. ({8}) Deshalb möchte ich diesem Beamten seine unbedingte Qualifikation und Loyalität bestätigen. Er hat sie in besonderem Maße bekräftigt, meine sehr geehrten Damen und Herren, in einer bestimmten Situation, als man an ihn -wie ich feststelle, nicht aus diesem Hause, aber von anderer Seite - herantrat, um ihn zu veranlassen, geheime Papiere des Innenministeriums auszuhändigen. ({9}) - Ich stelle fest: Nicht aus diesem Hause! ({10}) - Ich habe gesagt: Nicht aus diesem Hause! Keine Fraktion dieses Hauses! Deutlicher kann ich das nicht sagen! Vizpräsident Dr. Schmid: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Barzel?

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Genscher, würden Sie dann sagen, ob es eine der in diesem Haus vertretenen Parteien war?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Nein! Dr. Barzel ({0}): Danke!

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das war doch deutlich! Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir scheint, daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland für diese Verträge und für diese Verhandlungen sehr viel hergibt. Wir sollten uns in jeder Phase unserer Beratungen an das erinnern, was die Präambel des Grundgesetzes sagt: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen .. . Was nämlich diese Verfassung über viele andere erhöht, ist, daß sie diese drei Postulate aufstellt: Gleichberechtigtes Glied in Europa zu werden, dem Frieden zu dienen und die Einheit der Nation, meine Damen und Herren, ({0}) zu wahren. - Herr Kollege Kiesinger, ich stimme Ihnen voll zu, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, 'daß die Rede, die der Kollege von Weizsäcker heute morgen zur Einheit der Nation gehalten hat, sich an die Adresse des Kollegen von Guttenberg gewandt hat, der bekanntlich gesagt hat, man sei bereit, auch die staatliche Einheit zur Diskussion zu stellen. Die Bundesregierung nimmt für sich in Anspruch, daß sie in keiner Phase der Verhandlungen bereit gewesen ist, die staatliche Einheit der Nation zur Diskussion zu stellen. ({1}) Wenn Sie, Herr Kollege Czaja, dazu zweifelnd mit dem Kopf schütteln, dann will ich Ihnen vorlesen, welchen Brief der Außenminister am 12. August 1970 an den sowjetischen Außenminister gerichtet hat: Im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Meine Damen und Herren, dieses Bekenntnis der frei gewählten deutschen Regierung sollte niemand in seiner Ernsthaftigkeit in Zweifel stellen. ({2})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, können Sie mir die Tatsache widerlegen, daß in keinem Interview des Herrn Bundeskanzlers seit dem 12. Oktober letzten Jahres mehr der Begriff „Einheit und Freiheit Deutschlands", sondern immer nur der Begriff „nationale Einheit" wiederkehrt? Können Sie mir bestätigen, daß Herr Staatssekretär Frank in dem uns zugesandten Buch ebenfalls nur noch von der nationalen Einheit, aber nicht mehr von der Einheit Deutschlands spricht? Können Sie schließlich drittens bestätigen, daß im Brief zur deutschen Einheit das Wort „Deutschland" nicht vorkommt?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Kollege Czaja, ich kann Ihnen nicht zu allen Reden etwas sagen, die alle Politiker, auch der Bundeskanzler, gehalten haben. Ich meine den Begriff, dessen Verwendung Sie hier bestreiten, noch in den letzten Tagen von ihm gehört zu haben. Ich frage mich aber, was jemanden in diesem Hause veranlassen kann, in Zweifel zu ziehen, daß dann, wenn der Begriff „nationale Einheit" verwendet wird, auch die staatliche Einheit gemeint sei. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese drei Postulate aus der Präambel des Grundgesetzes stehen gleichwertig nebeneinander. Sie unterliegen keinem Zielkonflikt. Wir sind gehalten, dem Frieden zu dienen. Dazu haben wir mit diesem Vertrag einen Beitrag geleistet. Wir gehen davon aus - hier brauche ich nicht nur auf das Berlin-Abkommen hinzuweisen -, daß diese Politik uns auch in den anderen Fragen weiterführen wird. Alle diejenigen, die uns auf die Grenzen des Grundgesetzes hinweisen, haben recht. Dieses Grundgesetz setzt Grenzen für die Politik jeder demokratischen Regierung. Aber dieses Grundgesetz setzt nicht nur Grenzen. Die Präambel gibt auch Pflichten auf, zu handeln. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht einer Regierung angehören, die sich einmal sagen lassen muß, sie habe, als es zu handeln galt, vor dieser verfassungsrechtlichen Pflicht versagt. ({1})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Das Wort hat der Abgeordnete Strauß.

Dr. h. c. Franz Josef Strauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002270, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre eine nicht ganz reizlose, aber trotzdem undankbare Aufgabe, auf alles zu antworten, was der Bundeskanzleramtsminister, Horst Ehmke, hier in seiner ausführlichen Rede vorgebracht hat. Er hat aber leider das, was er hätte tun sollen, nicht getan. Er hat leider die Fragen nicht ganz klar und deutlich beantwortet, die heute morgen von meinem Kollegen Werner Marx gestellt worden sind. ({0}) Selbtsverständlich ist es das Recht eines Mitglieds der Regierung, hier in die Debatte einzugreifen - auch polemisch und aggressiv einzugreifen. Dieses Recht bestreite ich in keiner Weise. Es würde aber dem Zweck der Debatte, nämlich über Fragen, in denen Unklarheit herrscht, verbindliche Auskunft zu erhalten, wesentlich besser gedient haben, wenn hier die sehr klar und präzis gestellten Fragen des Kollegen Marx ebenso klar und präzis beantwortet worden wären. ({1}) Das wäre nämlich ein Stück mehr Demokratie gewesen, gerade in einer Sitzung des Bundestages, an der - das ist selten genug - die Öffentlichkeit unmittelbar teilnehmen kann. Der Kollege Ehmke hat sich in Geschichtsdeutung und Geschichtsauslegung ergangen. Er sagte, der Rechtsradikalismus habe Deutschland gespalten. Der Rechtsradikalismus hat Deutschland zerstört, aber kommunistischer Linksradikalismus und kommunistisches Weltmachtstreben haben Deutschland nach der Zerstörung geteilt. ({2}) Ich wäre der letzte, der hier den Rechtsradikalismus von seiner Rolle als Totengräber der deutschen Nation freisprechen würde. Aber - ich darf gerade hier die Kollegen aus Berlin daran erinnern - was hat sich denn damals in jenen Jahren in Berlin vollzogen? Sitzt denn nicht heute - ich sage beinahe: leider, weil er zu uns überwechseln mußte - in unseren Reihen ein Kol9910 lege, der lange Jahre ihrer Fraktion angehört hat, der seinerzeit die Volksabstimmung als Gehilfe Dr. Schumachers gegen die Machtergreifungsversuche der SED in Berlin organisiert hat? ({3}) - Notfalls ja, Herr Kollege. Bei dieser Debatte geht es um die Deutung der Verträge im Koordinatensystem der Geographie und im Koordinatensystem der Geschichte. Wir haben mannigfache Argumente, mannigfache Rechtfertigungen für diese Verträge gehört. Die Argumente reichten vom Erhabenen bis zum Lächerlichen, sie reichten vom Ernsten bis zum Gefährlichen. Meistens ist, wie bekannt, nur ein kleiner Schritt zwischen beiden. Wir haben eine moralische Begründung gehört, und man soll diese Begründung da ernst nehmen, wo sie angebracht ist. Wer den Krieg begonnen, wer den Krieg verloren hat, der muß Buße für das Unrecht zahlen, der muß den Preis der Niederlage erlegen, der muß die Kosten der Versöhnung auf sich nehmen. Ich komme darauf noch zurück. Wir haben eine humanitäre Begründung gehört: man müsse etwas für die Menschen tun, man müsse ihr Los verbessern. Ich glaube, der Vertragspartner hört das nicht gern, weil er der Meinung ist, daß bei ihm die Menschen besser aufgehoben seien als bei uns, weshalb er sie vor der Versuchung bewahren müsse, sich aus dem besseren Schicksal in das schlechtere zu begeben. Wir haben das Friedensmotiv gehört - mit einem Ausdruck, über dessen Sinn man noch einmal nachdenken sollte, bevor man ihn immer wieder in den Mund nimmt -, nämlich: den Frieden sicherer zu machen. Hier scheint das Bessere der Feind des Guten zu sein. Es würde uns genügen, daß der Frieden sicher ist. ({4}) Er war in den letzten 25 Jahren, vor allen Dingen in den Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik, gesichert. Ich möchte hier gar nicht auf die bekannte Thematik zurückkommen, wodurch der Friede gesichert war; ich werde es heute noch in wenigen Worten sagen müssen. Den Frieden sicher zu machen, ist ein edles Motiv. Die Frage ist nur, ob das hier geschieht. Schließlich gibt es noch die ewig bequeme politische Rechtfertigung, man müsse die Realitäten anerkennen, d. h. sich an den Gegebenheiten orientieren, wobei „Gegebenheiten" mit „Machtverhältnissen" gleichzusetzen sind. Das eine, den Frieden sicher machen, reicht in den Bereich des Friedenspreises hinein. Das andere, sich an den Realitäten orientieren, reicht in den Bereich des Bismarckischen hinein. Alle diese Motive -- ich sage das ausdrücklich - lassen sich anführen und sind gerechtfertigt. Aber darum geht es nicht, jedenfalls nicht in dieser Form. Es ist nämlich ein Zeichen schwacher Position oder schlechten Gewissens, jeweils auf ein anderes Motiv auszuweichen, wenn das eine sich nicht nachweisbar aufrechterhalten läßt; ({5}) wenn nicht Versöhnung mit den Völkern, dann Frieden; wenn keine humanitären Erleichterungen, dann jedenfalls realistische Anpassung, oder umgekehrt. In Wirklichkeit geht es darum, daß alle diese Motive zusammen in angemessener Weise zum Zuge kommen, sich aber nicht als gegenseitiges Alibi dienen dürfen. Bezeichnend ist das Schweigen oder Ausweichen des Bundeskanzlers zu einigen hier immer wieder gestellten Fragen. Zum Beispiel: Warum ist das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, das wir auch für unsere Nation - ich sage ausdrücklich: auch für unsere Nation - wie für alle Nationen fordern und vertreten, nicht in den Vertragstext, wenigstens als einseitige deutsche Erklärung, aufgenommen worden? ({6}) Ich könnte es ironisch sagen: Wenn das, was der andere Vertragspartner anders auslegen will wie er es seit Monaten mit wachsender Lautstärke und Heftigkeit tut -, nur durch Briefe außerhalb der Verträge erklärt werden kann, würde es ja in Zukunft genügen, bei Verträgen zu schreiben: Der Inhalt des Vertrages wird durch die außerhalb des Vertragswerks laufenden Briefe geregelt, und im übrigen werden die Ratifikationsurkunden ausgetauscht. ({7}) Ich stelle aber eine andere Frage, Herr Bundeskanzler: Wo wird denn die Erkenntnis ausgesprochen - ich weiß, sie ist nicht bequem und nicht gefällig -, daß Koexistenz und Entspannung - für uns hohe Werte beim Vertragspartner auch heute noch Intsrumente zur Durchsetzung seiner Interessen und Mittel des ideologischen Kampfes ebenso wie Waffen imperialistischer Politik sind? Ich glaube, es stünde uns gut an, bei der jederzeit bekundeten Bereitschaft zu einem echten Gewaltverzicht und zur friedlichen Zusammenarbeit in der Öffentlichkeit auch zu bekunden, daß wir uns über Wesen und Hintergründe der Politik der anderen Seite keinerlei Täuschungen hingeben. ({8}) Wo bleibt die offene Aussage, was denn die Ursachen der Spannung sind? Man soll doch einmal in aller Offenheit auf den Tisch legen, was man auf unserer Seite für die Ursachen der Spannung hält. Was ist denn eigentlich die Ratio, was ist denn der Sinn dieser Verträge? Was sind die hinter ihnen liegenden und ihnen zu Grunde liegenden Gedankengänge, wenn man einmal von der Oberfläche in die Tiefe geht? Schließlich: was ist die Einordnung dieser Verträge in den geschichtlichen Ablauf und in die Ereignisse der Weltpolitik 1972? Zu diesen oft wechselweise verwandten Motiven - wie oben geschildert - und zu den soeben geStrauß stellten Fragen gilt es im Zusammenhang mit den Verträgen in aller Kühle und Objektivität einige Feststellungen zu treffen. Versöhnung und Frieden sind Herzensanliegen unseres Volkes, der heutigen Generation, der nachwachsenden Generation und der kommenden Generationen. Darüber ist von unserer Seite alles bekundet und alles getan worden, um Aussage und Wirklichkeit zu identifizieren. Der Bundeskanzler spricht in seiner Rede vom zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte. Der Außenminister beschwört - sicherlich mit Recht - die Schrecken des ,dritten Weltkrieges als mögliche Folge der Ablehnung der Verträge - das nicht mehr mit Recht - und bezeichnet die Verträge als die einzig mögliche Friedenspolitik. Hier geht es aber nicht darum, alte Klischees aufzuwärmen oder neue Klischees zu drucken. Es geht um den historischen Tatbestand und um die Schlußfolgerungen, die ebenso politisch vernünftig wie moralisch vertretbar sein müssen. Nach dem, was von deutscher Seite geschehen ist zur Vernichtung des Selbstbestimmungsrechts, in Zwischeneuropa, in dem Raum zwischen der damaligen Sowjetunion und dem damaligen Deutschen Reiche, und nach dem, was geschehen ist zur Unterdrückung der menschlichen Freiheit in diesem Bereiche, muß jede deutsche Politik ihre Rechtfertigung legitimieren durch ihren Beitrag zur Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und der Freiheit der Menschen in diesem Bereiche, ({9}) auch wenn diese Politik unbequem und in den Augen der Bundesgenossen nicht immer und nicht unbedingt gefällig ist, auch wenn sie von seiten der kommunistischen Diktatoren als „aggressiv" verschrien wird, und daran scheiden sich eben die Geister. Deshalb stellen wir die Frage: Dienen diese Verträge der Versöhnung, dem Selbstbestimmungsrecht, der Freiheit? Ich sage das hier nicht als rhetorische Floskel, etwa nur um nein zu sagen, weil die Regierung ja sagt, oder umgekehrt. Ich sage aus meiner tiefsten inneren Überzeugung heraus - und darüber sollte man nicht lachen, Herr Kollege -, daß diese Verträge weder der Versöhnung noch dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen noch der Freiheit des Individuums dienen. ({10}) Wer sich auf die Verbrechen der Machthaber des Dritten Reiches auch an Deutschland und an anderen beruft, kann Verträge mit kommunistischen Regierungen nicht automatisch als Akte der Versöhnung mit den von ihnen beherrschten Völkern in Anspruch nehmen. Mit diesem Satz möchte ich allerdings einen weiteren Satz verbinden. Es ist ein törichtes Gerede, dann die Frage zu stellen: Also wollt ihr überhaupt nicht verhandeln und keine Verträge schließen? Selbstverständlich haben CDU/CSU-Regierungen Verträge mit kommunistischen Regierungen geschlossen und werden es auch in Zukunft tun, ({11}) und zwar Verträge, die der Regelung konkret umschriebener Fragen dienen, Verträge, die selbstverständlich dem Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt auf der Basis der Gegenseitigkeit dienen. Die vorliegenden Verträge festigen die Herrschaft der Sowjetunion über den militärischen Bereich hinaus. Sie festigen den Herrschaftsstand der Sowjetunion auch im politisch-psychologischen Bereich. Sie dienen darum dem Ausgleich mit den Machthabern, nicht der Versöhnung mit den Völkern. ({12}) Ich gehöre nicht ins Land „Utopia" und huldige nicht etwa der Vorstellung, daß im Falle einer Friedenskonferenz, an der ein deutscher Staat, vertreten durch eine legitimierte deutsche Regierung, als gleichberechtigter Partner teilnehmen kann, die anderen uns fragen werden, wo wir die deutsche Ostgrenze haben wollen, um dann gefälligst unsere Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Zu diesen Utopisten gehören wir nicht. Aber die Frage der Versöhnung mit den Polen, mit unseren polnischen Nachbarn, an der uns sehr liegt, reicht tiefer als die Frage der auf der Oberfläche liegenden Unterstützung ihrer gegenwärtigen Machthaber, die die Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung als Mittel zur Stärkung ihres Systems haben wollen. Darin liegt der Unterschied. ({13}) Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes über kurz oder lang zu mehr Freiheit für die Menschen und mehr Selbstbestimmungsrecht für die Nationen führen wird? Das ist doch die Frage, die als ein Motiv immer mit diesen Verträgen verbunden wird. Der Bundeskanzler mußte in seiner Rede - und es war klug von ihm, es zu sagen - verschämt zugeben: In Ost-Berlin hat man es für erforderlich gehalten, sich von uns in der Bundesrepublik politisch und ideologisch noch schärfer abzugrenzen. Man konnte ihn nur so verstehen: nach der Unterschrift unter die Verträge noch schärfer abzugrenzen. Er verbindet damit die durch nichts begründete Hoffnung, daß es die Machthaber der DDR in der weiteren Entwicklung, wie er sagt, doch für möglich halten, einem Abbau der physischen Schranken zwischen den Menschen weniger furchtsam zu begegnen. Ich finde das Motiv rührend, daß wir - Ulbricht ist gegangen - die Herren Honecker und Stoph, die offensichtlich etwas verstört und verschreckt sind, nunmehr allmählich von ihren Furchtkomplexen befreien sollten. Aber wie ist denn die Wirklichkeit? Nach der Unterschrift unter die Verträge ist die Wache an der Demarkationslinie verschärft worden. Es sind neue Minenfelder angelegt worden, es sind neue Stacheldrahtsperren errichtet worden, es sind neuerdings sogar unübersteigbare Betonhindernisse angelegt worden. Herr von Schnitzler ist sicherlich nicht der Gestalter der staatlichen Politik auf der anderen Seite, aber er ist ihr zuverlässiger Interpret. Und was er in der berüchtigten Fernsehsendung von sich gegeben hat, hat er mit größter Offenheit und mit allerhöchster Rückendeckung gesagt. Hier in diesem Hause war die Rede, mit vielen bewegten Worten ausgesprochen, von dem Fortschritt, der in der Liberalisierung im Reiseverkehr zwischen der DDR, Polen und der Tschechoslowakei eingetreten sei. Vor einigen Tagen hat Herr Stefanowicz in Radio Warschau darauf hingewiesen, daß es 22 Jahre nach Abschluß des Görlitzer Abkommens gedauert habe, bis diese Erleichterungen im Reiseverkehr eingetreten seien. Die Annäherung der Menschen, sagte er, sei ein langwieriger Prozeß. Auch die Bundesrepublik müsse diesen Prozeß für eine Reihe von Jahren glaubhaft und erfolgreich durchführen, wenn sie in den Genuß des gleichen Vorteils kommen wolle. Aber - so hat Herr von Schnitzler allen, die es hören wollten, auch wenn sie es nicht gern hören wollten, unmißverständlich dargelegt - zwischen der Bundesrepublik und der DDR sei und bleibe eine Grenze besonderer Art, eine Grenze zwischen zwei ganz verschiedenen Welten, und an der Grenze sei der freie Reiseverkehr unmöglich. Darum sei die Liberalisierung an den Grenzen zwischen Angehörigen des sozialistischen Lagers und die Liberalisierung an der deutschen Demarkationslinie leider etwas Grundverschiedenes, total anderes. ({14}) Die Schlußfolgerung, die man daraus ziehen konnte, kann nur heißen: Erst wenn gesellschaftliche Umwandlung eintritt, besteht Aussicht, zu einer normalen Grenze zu kommen, besteht Aussicht, zu Reiseerleichterungen wie jetzt zwischen den drei Mitgliedstaaten des sozialistischen Lagers zu kommen. Hand in Hand damit geht eine Verschärfung des Kurses jetzt in diesen Monaten und Wochen. Ich rede nicht von der Zeit Stalins, ich rede nicht von der Zeit vor den Verträgen, nein, jetzt in diesen Monaten und Wochen. Es ist eine Verschärfung des Kurses in allen Staaten des Warschauer Paktes gegenüber nichtkonformistischen Kräften. Diese Verschärfung ist in vollem Gange. Wir lesen von Berichten über eine Generaloffensive der Polizei und der Justiz in der Sowjetunion gegen die Liberalisierungstendenzen und ihre Träger. Siehe Schriftstellerprozesse und die Urteile dabei, die Verhaftungswelle in der Ukraine, ähnliche Aktionen in den baltischen Republiken, im Kaukasus und in Zentralasien, Aktionen ähnlicher Art in der Tschechoslowakei, in Polen, sogar in Rumänien. In der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 4. Februar dieses Jahres liest man am Ende eines Berichts nach der Zwischenüberschrift „Enttäuschung über den Westen": Unter den Oppositionellen, die von diesen Repressalien betroffen werden, herrscht, wie man aus einigen zuverlässigen Berichten vernimmt, große Enttäuschung über die Passivität des Westens, vor allem ich zitiere wörtlich -der westlichen Kommunisten und Sozialdemokraten, von denen man im Sinne der sozialistischen Solidarität Hilfe erwartete. Aber auch von Linksintellektuellen und verschiedenen Institutionen, die sich zum Protest eignen würden, hat man mehr erwartet. In diesen osteuropäischen Kreisen wächst eine Verachtung gegenüber dem satten und selbstzufriedenen Westen. Wird diese Verachtung durch diese Verträge abgebaut werden? Die Frage möge jeder selbst stellen und nach Maßgabe der Umstände für sich selbst beantworten. Darf ich eine andere Frage stellen, nicht an die Regierung, eine Frage an uns alle: Warum lobt die Sowjetunion die Politik Brandts und denunziert die Politik Kiesingers als aggressiv, wenn die Politik Brandts die kontinuierliche Weiterentwicklung der Politik Kiesingers ist? ({15}) Warum war die eine aggressiv - Sie kennen sie so genau, daß wir sie hier nicht im einzelnen zu erörtern brauchen -, und warum wird die andere mit einem lobenden Prädikat bedacht? Hier liegt die Grenze, wo die Gemeinsamkeit von der heutigen Bundesregierung und den sie tragenden politischen Kräften leider verlassen worden ist. ({16}) Die Sowjetunion zieht aber auch insgesamt die Zügel innerhalb ihres Machtbereiches straffer. Kontakt und Zusammenarbeit nach außen als Gegenleistung für die Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes werden verbunden mit verschärfter Unterdrückung im Innern. Das ist kein Widerspruch, wie manche glauben, sondern das ist in sich für die sowjetische Machtdoktrin logisch und konsequent. Den Einwohnern des Machtbereichs der BreschnewDoktrin wird somit doppelt vor Augen geführt, daß die Außenwelt Selbstbestimmungsrecht und Freiheit für sie abgeschrieben hat und gleichzeitig der Druck der Herrschaft im Innern verschärft wird. Gerade angesichts dieser Vorgeschichte muß jede deutsche Ostpolitik daraufhin geprüft werden, ob sie geeignet ist, das Unrecht wiedergutzumachen, das deutsche Politik am Selbstbestimmungsrecht der Völker und an der Freiheit der Menschen begangen hat. Politik der Verträge allein ist nicht Versöhnung mit den Völkern, sondern Befriedigung der Wünsche ihrer kommunistischen Regime nach ungestörter Herrschaftsausübung, ({17}) ungestört auf Grund politischer Besitzstandsgarantie und erleichtert durch. wirtschaftliche Ergänzung von seiten der kapitalistischen Außenwelt. Es ist und bleibt ein Mysterium der Bundesregierung - nicht ein Minsterium, sondern ein Mysterium , wie bei diesem unbestreitbaren Sachverhalt ihre Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen, mit denen sie diese Verträge begründet, in Erfüllung gehen sollen. Von Nutzen und Bedeutung ist es aber, zu wissen, was man bei unseren östlichen Nachbarn über diese Bundesregierung und ihre Ostpolitik im Volk denkt. Ein knappes Jahr nach Unterzeichnung des deutschsowjetischen Vertrages, nämlich im Juni 1971, wurde von offizieller tschechoslowakischer Seite eine Umfrage durchgeführt. Ihr Ergebnis ist aus verständlichen Gründen nicht veröffentlicht worden. Bei den Antworten auf die Frage „Welche Nationen sind Ihnen am umsympathischsten?" rangierten die Sowjetunion mit 74 % an erster, Polen an zweiter und Ost-Berlin an dritter Stelle. Bei den Antworten auf die Frage ,;Welche Nationen sind Ihnen am sympathischsten?" dagegen lag die Bundesrepublik Deutschland mit 25% an erster Stelle vor den Vereinigten Staaten und Frankreich. Die Umfrage wurde bei 1600 Personen durchgeführt. Auf die Frage „Sind Sie mit der derzeitigen Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den sozialistischen Staaten einverstanden?" antworteten lediglich 16 % mit Ja, dagegen 31 % mit einem glatten Nein, und 53% machten Vorbehalte, ({18}) d. h. nur 16 % der tschechoslowakischen Bevölkerung billigen die derzeitige Ostpolitik ohne Vorbehalte, während 84 °/o ihr ablehnend oder mit Vorbehalten gegenüberstehen. ({19}) Hier wird erschreckend deutlich, daß diese Ostpolitik das Gegenteil von dem bewirkt, was sie vorgibt, sie bewirkt nämlich keine Versöhnung. Versöhnt werden nur die Machthaber im Kreml und ihre Satrapen. Die Völker unserer östlichen Nachbarn aber werden enttäuscht. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie meiner Meinung, daß es im Hinblick darauf, daß die deutsche Öffentlichkeit draußen an den Fernsehapparaten sitzt, ganz gut wäre, wenn die linke Seite dieses Hauses, da man sich draußen dauernd mit Ihnen auseinandersetzt und Sie beschimpft, sich wenigstens einmal die Argumente anhören würde? ({0})

Dr. h. c. Franz Josef Strauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002270, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bevölkerung kann aus dem Verhalten der Regierungsparteien in diesem Hause den Grad der Ernsthaftigkeit und des Verantwortungsbewußtseins ablesen, mit dem die Reden eines Sprechers der Opposition hier behandelt werden. ({0}) Diese Ostpolitik hat für die Menschen nichts erbracht, nichts für die Landsleute hinter Mauer und Stacheldraht, nichts als Enttäuschungen für die Völker Osteuropas, nicht die erhofften Erleichterungen für die aussiedlungswilligen Deutschen in Polen. Und wie steht es mit den 40 000 Anträgen von Menschen in der Sowjetunion, die auf Übersiedlung nach Deutschland warten? Wie steht es mit den 250 Härtefällen, die Sie, Herr Bundesaußenminister, dem sowjetischen Außenminister Gromyko persönlich vorgetragen haben? Die Menschen müssen zählen bei der Ostpolitik, wenn sie so motiviert wird, wie es hier geschieht. ({1}) Aber wo bleiben die Menschen bei Verträgen, wenn der größere und stärkere Vertragspartner als Geschäftsgundlage die Anerkennung der BreschnewDoktrin durch den Kleineren und Schwächeren zur Voraussetzung macht? ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auch denjenigen, die gerne in emotionalen Kategorien denken ({3}) - ich kann laut und temperamentvoll reden, aber ich denke sehr, sehr kühl -, ({4}) die Bitte ans Herz legen, zu verstehen, daß man bei einer Würdigung des zeitlichen Ablaufes der deutschen Ostpolitik die Vergangenheit und die Gegenwart miteinbeziehen muß, ohne daß moralische Identifizierungen zwischen den Verhandlungspartnern auf deutscher Seite damals und auf deutscher Seite heute damit gemeint sind. Wenn wir das nicht mehr können, können wir nicht mehr historisch diskutieren und uns historisch auseinandersetzen. ({5}) Ich meine damit zwei Ereignisse in der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges. Churchill sagte am 28. Februar 1938 im Unterhaus in einer Grundsatzdebatte auf die Frage, wie ein demokratischer Staat gegenüber einer totalitären Macht Politik machen soll: Die Regierung hat eine neue Politik eingeleitet. Die alte Politik beruhte auf dem Bemühen, in Europa die Herrschaft des Rechtes aufzurichten, um so den Frieden zu begründen. Die neue Politik lebt aus der Hoffnung, durch weitgehende Zugeständnisse zur Entspannung und so zum Frieden zu gelangen. Das war im Februar 1938, vor dem Münchener Abkommen. Der Bundeskanzler hat mit Befriedigung darauf hingewiesen, daß der Abbau des Feindbildes gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist. Ich muß ihm leider 'entgegenhalten: das ist eine halbe Wahrheit. Gerade in den letzten Tagen sind wieder heftige Presseangriffe aus den Moskauer Lautsprechern gegen die Deutschen in der Bundesrepublik zu vernehmen, so in der „Komsomlskaja Prawda" vom 20. Februar. Ohne Zweifel hat sich die Art der Angriffe geändert und ist im allgemeinen der Ton etwas gedämpfter. Die Bundesregierung, heißt es, sei zwar auf dem rechten Wege, schreite aber nicht schnell genug voran. - Früher war Rainer Barzel ein Offizier, der in der Nazi-Wehrmacht gedient hat. Heute heißt es erfreulicherweise von Walter Scheel, er sei Flieger in der Wehrmacht gewesen. ({6}) Das neue Deutschlandbild ist ohne Zweifel von dem Wunsch geprägt, die Bundesrepublik von einem früheren außenpolitischen Widerpart zu einem potentiellen Freund und Helfer umzufunktionieren. Gleichzeitig wird die Gesellschaft in ihrer Struktur angegriffen und in zwei Lager geteilt, in die guten und in die schlechten Deutschen. Die guten Deutschen sind die geschätzten Helfer ihrer politischen Strategie; andere sagten auch, die nützlichen Idioten. Die schlechten Deutschen sind die Gegner der Verträge, die angeblich nicht die Realitäten wahrnehmen und sie zur Leitlinie ihrer politischen Einstellung machen lassen wollen. Es hat keinen Sinn, die Dinge in diesem Hause zu beschönigen. Darum muß ich folgendes sagen - ich würde gern das Gegenteil sagen, weil ich dem Gegenteil über 20 Jahre als Parlamentarier und Minister in diesem Hause gedient habe: leider hat die Bundesregierung durch den Bruch der Gemeinsamkeit den Politstrategen im Kreml geholfen, die Spaltung der demokratischen Parteien in der Bundesrepublik einzuleiten. ({7}) Breschnew hat auf dem 24. Parteitag in Moskau als Folge dieser Verträge eine Polarisierung der politischen Kräfte in der Bundesrepublik angekündigt; Einheit und Macht im eigenen Bereich und Spaltung im Lager des Vertragspartners. Das ist eine in sich logische und geschlossene Politik: Unterdrückung zu Hause, Entspannung gegen Besitzstandsanerkennung, Spaltung der nicht kommunistischen Welt, besonders im eigenen Vorfeld. Ich behaupte nicht, daß die Bundesregierung das gewollt hat, wie ich ausdrücklich sage. Dafür halte ich sie für zu klug. Aber falsche Lagebeurteilung, Ungeduld, selbstgesetzter Erfolgszwang, euphorische Chancenbeurteilung haben sie zu einem Gehilfen dieser Spaltungspolitik werden lassen. ({8}) Golo Mann meinte, Brandt betreibe eine realistische Politik wie Bismarck. Er hat dann das Kompliment, weil es ihm zu gefährlich und unheimlich erschien, wieder etwas abgeschwächt. Aber ich glaube, in einem Punkt dürfen wir hier auch Bismarck wieder einmal strapazieren, mit einem berühmt gewordenen Wort: Wir müssen uns in dem europäischen Kartenspiel die Hinterhand wahren und dürfen uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provokation vor der Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen. Wenn doch Brandt insoweit wenigstens Bismarck geworden wäre! ({9}) Hegel behauptete in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die geschichtliche Erfahrung lehre, daß Völker und Regierungen niemals aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen wären, gehandelt hätten. Die Bundesregierung scheint sich sehr zu bemühen, Hegels abfällige, pessimistische Beurteilung zu rechtfertigen. Die vorliegenden Verträge sind nämlich nicht eine Bewältigung der Vergangenheit, sondern eher eine Flucht vor ihren Lehren. Eine noch so idealistische Begründung, mit Ermahnungen und Beschwörungen wiederholt, rechtfertigt bei denen, die politisch zu urteilen und zu handeln haben, nicht die aus den Verträgen hervorleuchtende Geschichtsfremdheit. Hier ist kein Kompromiß erreicht, aber der Versuch unternommen worden, sich das Wohlwollen der anderen Seite durch Konzessionen zu erkaufen in der Hoffnung, daß guter Wille mit gutem Willen belohnt werden würde. ({10}) Diese Verhandlungsmaxime war richtig gegenüber dem Westen, weil sich dort Partner mit gleichem moralischem Violinschlüssel, obwohl ehemalige Kriegsgegner, gegenübersaßen. Diese Verhandlungsmaxime ist falsch gegenüber Diktaturen, vor allen Dingen Diktaturen mit expansiver Ideologie. ({11}) Die Architekten der Verträge sagen: diese Verträge werden den Frieden sicherer machen. Glaubhaft ist die Absicht der Befürworter. Auch hier bezweifle ich keine Sekunde ihre Absicht und habe das unzählige Male auch in der Öffentlichkeit gesagt. Glaubhaft ist sogar die Beteuerung der Vertragspartner auf der anderen Seite, daß sie den militärischen Frieden wollen. George Ball hat vor einigen Tagen in Zürich eine bemerkenswerte Rede gehalten, die Winston-Churchill-Gedenkrede. Er hat Dinge gesagt, die von uns keiner sagen könnte, die auch in diesem Hause nicht gesagt werden könnten, ohne daß der eine oder andere sich beleidigt und entrüstet gegen diese Äußerungen zur Wehr setzen würde. Er sagte, die sowjetische Führung wolle nicht in brutaler militärischer Machtentfaltung nach Westeuropa losmarschieren, um nicht Amerika herauszufordern, langsame Infiltration und psychologische Umgarnung des Gegners heiße vielmehr im Moment ihre Devise. Ist denn diese Behauptung nicht durch gewisse Vorgänge im Innern unseres Landes, die man nicht verharmlosen sollte, täglich gerechtfertigt? ({12}) Was ist Friedenspolitik in unserer Zeit? - Lassen Sie es mich in vier Punkten sagen: Erstens Erhaltung und Stärkung des atlantischen Bündnisses, zweitens politische und militärische Einheit der Westeuropäer auf der Grundlage freiwilligen Zusammenschlusses, drittens Gewaltverzicht gegenüber dem Osten, aber nicht politische Besitzstandsgarantie, viertens Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und technischem Gebiet. Das ist Friedenspolitik in unserer Zeit, und alle vier Punkte gehören zusammen. ({13}) Die Probleme des Friedens sind heute nicht anders, als sie je in der Geschichte waren. Nur die Folgen eines Scheiterns der Friedenspolitik sind heute schrecklicher, als sie jemals in der Geschichte hätten sein können. Zwei Beispiele aus der von uns erlebten Zeitgeschichte: Heute steht die Forderung nach Ungültigkeitserklärung des Münchner Abkommens ex tune auf der Liste der sowjetischen Bedingungen für dauerhafte Entspannung. Altere Zeitgenossen können sich erinnern, jüngere können es nachlesen: Seinerzeit herrschte nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens große Freude und gewaltiger Jubel; denn nun ist der Friede für lange Zeit gesichert, ({14}) in Deutschland, in Italien, bei den Diktatoren und bei den Völkern, aber auch in Frankreich und in England. Daladier erwartete, bei Rückkehr in Paris ausgepfiffen und niedergeschlagen zu werden. Er wurde von einer jubelnden Menge empfangen und sagte: „Ich komme aus Deutschland, wo die Verhandlungen selbstverständlich schwierig waren; ich kehre mit der tiefen Überzeugung heim, daß das unterzeichnete Abkommen unumgänglich nötig war, um den Frieden in Europa aufrechtzuerhalten." Léon Blum schrieb damals Léon Blum -!: „Man kann wieder an seine Arbeit gehen, man kann wieder ruhig schlafen, man kann die Schönheit der herbstlichen Sonne genießen." Chamberlain brachte das Münchener Abkommen vor das Unterhaus mit dem Antrag auf Billigung. Er stand noch unter dem Eindruck des riesigen Jubels einer unübersehbaren Masse auf dem Londoner Flughafen. Das Unterhaus billigte das Abkommen mit 369 gegen 150 Stimmen. Die Labour Party stimmte damals, im Herbst 1938, geschlossen gegen das Abkommen, obwohl ihr Vorsitzender, Lansbury, zwei Jahre vorher als überzeugter Pazifist nach Rückkehr von Hitler ihn als Mann der ehrlichen Friedensüberzeugung öffentlich herausgestellt hatte. Erschütternd ist die Rede Churchills, heute noch nachzulesen, in deren Mittelpunkt eine Wertung stand: gewogen und zu leicht befunden. Das ist die Wertung, die ich diesen Verträgen und ihren Architekten als politische Aussage hier ebenfalls zuschreibe. ({15}) Die Frage ist: Hat München den Frieden gebracht, wie sich die begeisterten Zeitgenossen damals erhofften, oder hat München den Krieg näher gebracht? Die geschichtliche Wahrheit gilt auch für den Besiegten. Wir wissen, daß ein verschuldeter und verlorener Krieg bezahlt werden muß. Wir haben einen großen Teil bezahlt. Aber das Recht auf Selbstbestimmung der Nation und Freiheit der Menschen ist und darf nie ein Teil des Kaufpreises sein. ({16}) Ich muß hier noch eine andere Frage stellen, die gerade den vorher aufgezeigten Unterschied hinsichtlich der Wertung klarmachen soll. Bei uns hat die deutsche Politik im Jahre 1945 einen moralischen Neubau vollzogen, der sich, ohne von der Tradition der deutschen Geschichte, von der wir uns im Guten und im Schlechten nicht einfach davondrücken können, abzufallen, nach grundlegend neuen Zielpunkten orientiert hat: Schluß mit dem Denken in nationalistischen Hegemonievorstellungen, eine Absage an die Ersatzreligion des Nationalismus, die Anprangerung des Nationalismus als des Totengräbers der europäischen Freiheit und unseres Selbstbestimmungsrechtes, die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht und die Entschlossenheit zum Eintritt in eine europäische Staatengemeinschaft unter Überwindung des nationalstaatlichen Prinzips, - damit sind wir hier in diesem Hause angetreten. Ich sehe hier meinen Freund Kurt Georg Kiesinger, ich sehe auch Sie, Herbert Wehner, und ich sehe noch manche aus der ersten Stunde, die noch hier sitzen. Das war der Neubau der deutschen Politik, gleichgültig in welchem Lager wir damals zu diesem Neubau angetreten sind. Warum stelle ich diese Frage? Man wird sagen: Das bestreitet doch niemand. Man wird den Sinn der Frage ermessen, wenn ich eine zweite Frage stelle: Hat derselbe Neubau auch bei unserem Verhandlungspartner nach dem zweiten Weltkrieg stattgefunden? Wir haben unsere hegemoniale, imperialistische Tradition endgültig begraben. In der Sowjetunion sind ungebrochene Machtpolitik und ungeschmälerte Machttradition auch heute noch verbindliche Maximen ihrer Politik. ({17}) Ich habe vom zweiten Beispiel in unserer Zeit gesprochen, und mich hat das damals tief erschüttert. Der Hitler-Stalin-Pakt wurde mit der Formulierung eingeleitet: Die deutsche Reichsregierung und die Regierung der UdSSR, beide geleitet von dem Wunsch, die Sache des Friedens zwischen Deutschland und der UdSSR zu festigen, und ausgehend von den grundlegenden Bestimmungen des Neutralitätsvertrages, der im April 1926 zwischen Deutschland und der Sowjetunion geschlossen wurde, sind zu nachstehenden Vereinbarungen gelangt .. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war nicht allein die Torheit Hitlers oder die Schurkerei Stalins; es war ein geschichtlicher Ablauf mit verhängnisvoller Verkettung von Ursache und Wirkung, die wieder neue Ursachen und mit den neuen Ursachen wieder neue Wirkungen geschaffen haben. Wir stehen heute in der zweiten und dritten Lesung der vorliegenden Verträge vor einer historischen Entscheidung. Wenn man sich die Konsequenz der Zusammenhänge frei von Gefühlserregungen, frei von Hoffnungen, frei von optimistischen Überlegungen oder pessimistischem Zwangsdenken vor Augen hält, dann überkommen einen beklemmende Erinnerungen. Heute heißt der Hitler-Stalin-Pakt der „Teufelspakt". Damals sagte man „genialer Schachzug des Führers" auf der einen Seite, „Meisterstück Stalins" auf der anderen Seite. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um einen Nichtangriffsvertrag, sondern um einen Vertrag zur Teilung Polens ({18}) und zur Aufteilung des Gebietes zwischen Rußland und Deutschland in Interessensphären mit der beiderseits vorhandenen Absicht, dort das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Freiheit der Menschen zu unterdrücken. ({19}) Das ist in unserer Lebenszeit, in der noch frischen Vergangenheit abgeschlossen worden, und darum die Frage: Hat sich die sowjetrussische Politik heute so von Stalin abgewandt, wie sich die Politik der Bundesrepublik von Hitler abgewandt hat? Diese Frage muß man auch heute noch stellen dürfen. ({20}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist beklemmend, wenn man die Zeugnisse der damaligen Zeit noch einmal nachliest, wie ich es in Vorbereitung dieser Debatte tun mußte, wenn man liest, daß Stalin am 25. Oktober die Weigerung der Westmächte, Frieden zu schließen, scharf angegriffen hat, indem er sagte, sie seien die eigentlichen Aggressoren, und das nicht erst jetzt; schon der Kriegsausbruch gehe auf ihr Konto, denn Hitler habe ja den Frieden gewollt. Das Telegramm Stalins an Hitler lautete: „Unsere Freundschaft ist mit Blut besiegelt". Der „Erfolgsbericht" Molotows am 31. Oktober 1939 war gerechtfertigt: um 196 000 Quadratkilometer und 13 Millionen Menschen war die Sowjetunion gewachsen; 737 Tote und 1862 Verwundete wurden angegeben. Die Grenze zwischen Stalins und Hitlers Machtbereich in Polen entspricht auch noch dem heutigen Grenzverlauf. Der Historiker Fabry hat in seinem Buch „Die Sowjetunion und das Dritte Reich" Hitlers Rassenwahn und Amoralität angeprangert, und dann schreibt er etwas, was ich lieber wörtlich zitiere: Über dem gerät allerdings in Vergessenheit, daß Stalin während des Zweiten Weltkrieges vor Hitlers Überfall eine Aggressionspolitik getrieben hat, die der Hitlers nicht nachstand. Die Neigung, darüber hinwegzusehen, wächst in dem gleichen Maße, in dem die Bundesregierung sich aufrichtig darum bemüht, mit der Sowjetunion und den anderen Völkern im Osten zu einem Ausgleich zu kommen, der die Gegensätze zugunsten einer Zusammenarbeit beseitigen soll. So verständlich es auch ist, daß man kein Interesse daran haben kann, die Außenpolitik der Sowjetunion allzu kritisch zu durchleuchten: nichts wäre für eine echte Aussöhnung zwischen den Völkern gefährlicher als eine Geschichtsbetrachtung, die aus Gründen der Opportunität den Schleier des Vergessens über eine ganze Ara bolschewistischer Expansionspolitik zu breiten wünscht ({21}) oder, schlimmer noch, die Ereignisse selbst zu verfälschen sucht. Erst wenn die Wurzeln der Konflikte klargelegt sind, kann die politische Arbeit beginnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich brauche die lange Liste der brutalen Aktionen in der Fortsetzung dieser Machttradition nach dem Zweiten Weltkrieg hier im einzelnen nicht vorzutragen. Aber sind diese Ereignisse schon so unbedeutend, schon so nebensächlich, schon so lächerlich geworden, daß sie mit der Gleichgültigkeit und Uninteressiertheit behandelt werden können, wie wir sie heute weitgehend auch in diesem Hohen Hause antreffen? ({22}) Wie ist die Rolle der Sowjetunion bei den jüngsten Vorgängen auf dem indischen Subkontinent gewesen, die Rolle im Nahostkonflikt? Und vielleicht kann sich der Herr Verteidigungsminister dazu äußern: Wie waren Anlage, Durchführung und Ergebnis der letzten Manöver in Jugoslawien? Welche Lage wurde hier zugrunde gelegt? Bestimmt nicht die Sicherung gegen eine Aggression oder Invasion von seiten der Bundeswehr. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Würdigung der vorliegenden Verträge ist besorgniserregend, aber sie ist nicht ausreichend, denn diese Verträge sind ein Baustein im Gebäude der sowjetischen Weststrategie, auch wenn das als neue deutsche Ostpolitik bei uns ausgelegt wird. ({23}) Die Unterschrift der Bundesrepublik Deutschland unter den Besitzstand ist nur Vorläufer. Das nächste Ziel ist die Europäische Sicherheitskonferenz, die von der Sowjetunion mit größtem Nachdruck betrieben, von ihrer staatlichen Propaganda wie von der gleichgeschalteten Propaganda der Verbündeten mit größter Lautstärke propagiert wird, eine Sicherheitskonferenz, für die auch unser Bundeskanzler Förderung und beschleunigte Durchführung sowohl in den Zusatzpapieren zum Vertrag wie beim Treffen in Oreanda zugesagt hat. Die Europäische Sicherheitskonferenz ist der nächste Schritt auf diesem Wege der sowjetischen Weststrategie. Das Ergebnis soll eine europäische Friedensordnung werden, Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes durch alle Konferenzpartner nach dem Muster des Moskauer Vertrags, militärische und politisch-psychologische Totalkontrolle über den eigenen Machtbereich, Nutzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten der einzelnen europäischen Partner, Verhinderung der westeuropäischen Einigung durch die trügerische Alernative: „Wollt ihr großeuropäische Zusammenarbeit oder westeuropäische Blockbildung?", politisch-psychologische Hilfestellung für den Abzug der amerikanischen Truppen und Rückenfreiheit für eine Konzentration gegenüber China bei gleichzeitiger Ausdehnung des eigenen Einflusses in Richtung Westen. Man sollte sich doch einmal die einzelnen Elemente und Ziele dieser Politik, die in sich logisch und geschlossen ist und in der die Ostverträge nur die Rolle eines Vorläusers oder Büchsenöffners für weitere Schritte spielen, in aller Offenheit bei uns klarmachen und erst danach das Urteil bilden, ob ein Ja oder Nein zu diesen Verträgen gerechtfertigt ist. ({24}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte aus Zeitmangel nicht auf das hier oft verwandte Argument zurückkommen, daß die Westmächte zustimmten. Erstens ist es zwischen verbündeten Regierungen nicht üblich, sich offen zu kritisieren, zweitens haben die Westmächte gar kein Interesse daran, sich zu beklagen, wenn ihnen die Deutschen Pflichten von den Schultern nehmen, die sie sich ursprünglich von den Deutschen haben aufladen lassen, ({25}) und drittens gibt es eine vordergründige Zustimmung und dahinter eine Schwelle, und hinter der Schwelle beginnt die Sorge und die Kritik, nämlich dort, wo die Furcht beginnt, daß diese Ostpolitik eigenständig werden könnte. Die Bundesregierung hat nach ihren mißglückten Ansätzen siehe die Brandt-Reise nach Oreanda - alles getan, um diese aufkeimende Furcht wieder zu zerstreuen. Daß sie aber angesichts der europäischen Vorgeschichte, auch angesichts der Vorgeschichte dieses Jahrhunderts im Keime, latent immer vorhanden ist, wird wohl niemand bestreiten. So ist auch die Haltung unserer Bundesgenossen zur Sicherheitskonferenz sehr, sehr verschieden. Die Anmerikaner: ja, wenn die Europäer sie unbedingt wollen; die Briten: erst nach gründlicher Vorbereitung und lieber nicht so früh; und die Franzosen verbinden mit ihr auch ihre eigenen Vorstellungen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was uns in dieser Sicherheitskonferenz nicht unterlaufen darf - darum sagen wir es heute -, ist, daß die Europäer diese Gefahr zieht sicher herauf - zum Zwecke der Spaltung vor dieselbe Alternative gestellt werden, wie wir hier mit diesen Verträgen vor eine Alternative gestellt werden, daß Anhänger der Verträge als Freunde der Friedenpolitik und Gegner der Verträge als Gegner der Friedenspolitik diffamiert werden. ({26}) Diese Europäische Sicherheitskonferenz darf nicht zu der Alternative führen, daß man uns großeuropäische Zusammenarbeit als Friedenspolitik anbietet und demgegenüber westeuropäische Integration als friedensstörende Blockbildung, die Kriegsrisiko und Spannung von neuem hervorrufe und die Rückkehr in den kalten Krieg bedeute. ({27}) Ich sage das hier und rechtzeitig, weil die Architektur dieser Sicherheitskonferenz und die Architektur der europäischen Friedensordnung darauf hinausläuft, die westeuropäischen Einigungsbestrebungen rechtzeitig zu unterlaufen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ohne Zweifel können wir heute bereits aus einer Vielfalt politischer Äußerungen von maßgeblichen Staatsmännern, von offiziellen Propagandafunktionären und ihren Hilfsorganen diese Alternative vernehmen. Diese Alternative kommt auf uns zu. Gerade deshalb bedaure ich so sehr, daß der Herr Bundeskanzler auf die von seinem Vorgänger in diesem Hause hier mehrmals gestellte Frage nach der Priorität sich einer klaren Festlegung entzogen hat. ({28}) Ich frage das auch deshalb, Herr Bundeskanzler, weil aus Ihrem Munde Äußerungen gekommen sind, die zu dieser Frage nicht nur Anlaß geben, die geradezu zu dieser Frage zwingen. Was verstehen Sie unter „Friedenspakt" oder „Friedensbund" in diesem Zusammenhang, wenn Sie davon sprechen, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu keiner neuen Blockbildung führen darf, sondern daß sie ein Ordnungselement in einem größeren europäischen Friedensbund oder Friedenspakt darstellen soll? ({29}) Hier wollen wir wissen: Was ist mit diesem Friedensbund und mit diesem Friedenspakt gemeint? Denn die Politik der westeuropäischen Einigung und die von der Sowjetunion angestrebte Politik der paneuropäischen Zusammenarbeit, d. h. Erhaltung der westeuropäischen Kleinstaaterei, sind auf die Dauer der Zeit miteinander unvereinbar. ({30}) Eines Tages kommt die Stunde der Wahrheit! ({31}) Es kommt die Stunde der Wahrheit, wo man sich für das eine oder für das andere entscheiden muß. In diesem Zusammenhang stellt sich die letzte Frage, die hier zunächst zu behandeln ist. Die Verträge entsprechen einer Politik, die von gestern stammt und aus der Lage und Sicht von vorgestern begründet wird; ich begründe auch, warum. Die Verträge entsprechen einer politischen Philosophie, die sich einerseits an das Machtzentrum Washington anlehnt, solange man glaubt, es nicht entbehren zu können, und andererseits auf das Machtzentrum Moskau starrt, dessen Besitzstand und dessen politische Zielsetzungen man als mehr oder minder legitim in das Kalkül einsetzt. Die Welt von heute ist nicht mehr bipolar. Sie ist bereits seit geraumer Zeit auf dem Wege zu einer multipolaren Konstellation, d. h. zu einem Machtfeld, das von mehreren Zentren bestimmt wird. Ich denke dabei nicht an die früheren Vorstellungen des einen oder anderen europäischen Landes, mit seiner mittelstaatlichen Dimension sich zwischen Washington und Moskau schieben zu können. Nun höre ich schon das, was Herrn Barzel vor und während seiner Rede höhnisch, hämisch entgegengeklungen ist. Ich sage es noch in der harmlosesten Form: Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Was hier als Erwiderung auf Herrn Barzels Vorschlag immer wieder gesagt worden ist, ist eine plumpe und naive Verzerrung unserer Vorstellungen auf diesem Gebiet. ({32}) Niemand glaubt oder denkt daran, Moskau und China gegeneinander von Deutschland her ausspielen zu können, mit dem chinesischen Prügel den russischen Bären kompromißbereit zu machen, und - jetzt kommt das erste harte Wort bei dieser Rede - ähnlicher Blödsinn; anders kann ich das nicht bezeichnen, was man uns hier unterstellt. ({33}) Aber es ist legitim, in den großen Epochen der geschichtlichen Abläufe und in den Weiten der großen geographischen Zusammenhänge zu denken. Keine Fernostpolitik als Ersatz für Ostpolitik oder als Ausrede für fehlende Ostpolitik, wohl aber Überlegungen, daß der große Nachbar an der anderen Grenze unseres großen Partners im Hinblick auf das gesamte Spiel der Kräfte auch in unserem Kalkül seinen Platz haben muß! ({34}) In das Kalkül dieser multipolaren Konstellation ist nicht nur das große Dreieck „Washington, Moskau und Peking" einzusetzen. Auch der vierte Schwerpunkt ist einzusetzen, der als Folge der amerikanischen Annäherung an Peking auf den Plan gerufen worden ist: das ist Tokio und die große japanische Wirtschaftsmacht. Als fünftes steht zur Diskussion: Japan wird kommen, und Europa muß kommen. Das ist der fünfte Schwerpunkt in einer multipolaren Konstellation. Darauf muß jede deutsche Ostpolitik in ihrem Kalkül auch heute schon abgestellt sein. ({35}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit schließt sich der Ring dieser Überlegungen. Es ergibt sich mit einer geradezu plastischen Greifbar-keit, warum die Sowjetunion sich als nächstes Ziel in ihrer Westpolitik, in ihrer Weststrategie die Erhaltung der westeuropäischen Kleinstaaterei an ihrer Westgrenze unter dem Vorwand paneuropäischer Zusammenarbeit gesetzt hat. Ein großer Nachbar sind die USA, ein zweiter ist die Volksrepublik China. Tokio ordnet seine Politik neu. Aber an der Westflanke muß der bisherige Zustand der europäischen Kleinstaaterei bewahrt werden, damit bei gesicherter Rückendeckung die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Vorgänge an der Ostgrenze dieses Bereiches erfolgen kann. Es war George Ball, der sagte - ich sage es in seinen Worten , daß wir mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß diese Politik der Rückendeckung gegenüber dem Westen auch den Zweck verfolgt, die Voraussetzungen zu schaffen, um mit konventionellen Waffen die nuklearen Raketeneinrichtungen der Chinesen als potentielle Bedrohung auszuschalten. Hier stellt sich für uns - ich sage dies nicht in einer phantasievollen, weitschweifenden Betrachtungsweise - die Frage, ob diese Rückendeckung in Europa gewährt werden kann, damit anderswo eine aggressive Politik in den Bereich des Möglichen treten kann. Auch das ist in das Gesamtkalkül unserer Überlegungen einzubeziehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme nun zum Schluß. Diese Verträge dienen nicht der Versöhnung mit den Völkern, sondern der Befriedigung der Wünsche ihrer Machthaber. Zweitens. Sie bieten keine humanitären Erleichterungen, sondern bringen zunächst eine Verschärfung der Unterdrückung. Drittens. Die Verträge dienen nicht der Entspannung, wenn man unter „Entspannung" die Beseitigung der Spannungsursachen versteht. Viertens. Die Verträge bedeuten eine Festigung des sowjetischen Besitzstandes. Fünftens. Diese Verträge sind auch eine Ermutigung für die Linksradikalen, die diese Politik seit 20 Jahren in unserem Lande gefordert haben. ({36}) Sechstens. Diese Verträge stehen nicht für sich allein da. Sie sind Bausteine einer sowjetischen Weststrategie. Siebtens. Die europäische Friedensordnung sowjetischer Vorstellung steht in unauflöslichem Gegensatz zur Bildung einer westeuropäischen politischen Gemeinschaft. Achtens. Diese Verträge sollen nach der Vorstellung der Sowjets die Bundesrepublik Deutschland stärker in ihr Machtsystem und dessen Zielsetzungen einbinden. Neuntens. Diese Verträge sollen verhindern, daß sich die Entwicklung vom Dreieck zum Fünfeck in der Weltpolitik weiter vollzieht. Diese Verträge machen nicht den Frieden sicherer, sondern sie sichern den Sowjets die Rückenfreiheit in der globalen Konstellation, von der ich in der Kürze der Zeit nur kurz sprechen konnte. Nach diesen Kriterien ist das Ja oder Nein zu diesen Verträgen zu ermessen. Ich komme zu folgender Schlußfolgerung: Das Ja ist ein Übel, und das Nein bringt neue schwere Belastungen und Aufgaben mit sich. Wenn ich aber zwischen dem Ja und dem Nein zu wählen habe, entscheide ich mich für das Nein als das kleinere Übel. Die Bundesregierung hat uns und die deutsche Politik in diese Lage manövriert. ({37}) Ein Ja zu diesen Verträgen bedeutet einen Bruchpunkt auf der Straße ins Unheil. Außenpolitische Fehler werden in dem Zeitpunkt, in dem sie begangen werden, nie erkannt. Sie werden oft erst nach Ablauf einer Generation oder eines halben Jahrhunderts rückwirkend als Bruchpunkt auf der Straße zum Unheil erkannt. Meine politischen Freunde und ich sind der Überzeugung, daß diese Verträge in der vorliegenden Fassung, die über den militärischen Gewaltverzicht und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit hinausgeht, einen Bruchpunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte bedeuten auf einer Straße, an deren Ende nur Unheil stehen kann. ({38})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung.

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Hauch von Vilshofen, den wir eben erlebt haben - ({1}) - Ich habe wirklich nicht die Absicht, zu polemisieren, und verstehe nicht, daß Sie bei dem Wort „Vilshofen" in Feindschaft geraten können. ({2}) Wie dem auch sei, meine Damen und Herren, mindestens die letzte Rede hat gezeigt, wie viele andere vorher auch, daß die Debatte hüben und drüben offensichtlich nicht so sehr den Zweck hat, das Haus zu überzeugen, sondern den Zweck, die eigenen Motive für die Öffentlichkeit klarzustellen. Fragen, die gestellt werden, werden von Fragenden gestellt, die im Grunde auf die Antworten nicht warten, um ihre eigene Meinungsbildung daran zu orientieren, sondern es sind rhetorische Fragen, wie wir sie eben vielfach erlebt haben. ({3}) Mir scheint, daß dies ,ein notwendiger Vorgang ist - ({4}) - Wenn das Volksgemurmel sich so fortsetzt, ist allerdings der Ausdruck „Vilshofen" vollständig gerechtfertigt. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus?

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Ich möchte heute gerne auf Zwischenfragen verzichten. Mir scheint, daß die Klarstellung der eigenen Motive der Öffentlichkeit gegenüber ein notwendiger Vorgang für alle Beteiligten ist, an dem ich mich beteiligen möchte hinsichtlich der Sicherheit Berlins, der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der Sicherheit Europas. Alle diese Sicherheiten werden nach meiner Überzeugung durch die zu ratifizierenden Verträge verbessert, wenn auch Herr Kollege Schröder sie in seiner gestrigen Rede angeblich beeinträchtigt sah. Diese sorgfältig vorbereitete Rede des Kollegen Schröder war mir in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst stellte sie, wofür man danken muß, ausdrücklich die Gemeinsamkeit der Ziele vorweg. Sodann wurde diese Rede den Forderungen nach nüchterner Sachlichkeit und nach Verzicht auf gegenseitige Verteufelung - Forderungen, die beide Dr. Schröder selbst aufgestellt hatte - voll gerecht. Zur Frage der beiden Verträge war sie gewiß eine Klasse besser als alle anderen Reden, die die Opposition bis zur gegenwärtigen Stunde in diesem Hause gehalten hat. ({0}) Trotzdem, meine Damen und Herren, ({1}) trotzdem oder gerade deswegen bedarf diese Rede einer sehr sorgfältigen Kritik. Denn Herr Kollege Schröder hat sich in seiner Rede nach meinem Urteil dreier schwerwiegender Versäumnisse schuldig gemacht. ({2}) Das erste Versäumnis: Das entscheidende Problem Berlins und seine weitgehende qualitative Veränderung im Zuge des deutsch-sowjetischen Vertrages wurden in dieser Rede völlig verschwiegen. Zweitens. Die eigene Lagebeurteilung, von der Herr Kollege Schröder in seinen Darlegungen mehrfach ausdrücklich ausging, wurde hier auch nicht andeutungsweise dargelegt. Drittens. Von dem deutsch-polnischen Vertrag war überhaupt nicht die Rede. Nach meinem Urteil enthielt seine Rede auch ansonsten mehrere Irrtümer. Infolge all dessen kam der Kollege Schröder zu einem Schlußurteil, das ich für fundamental falsch halte. Nun möge mir der Herr Kollege Strauß verzeihen, daß ich heute abend seine Darlegungen über die Moral des Neubaus in Europa nicht einbeziehen will. Ich möchte mich statt dessen im wesentlichen auf die Ausführungen des Kollegen Schröder beziehen und auf sie antworten. Ich tue das mit dem Gefühl des Respektes für einen bedeutenden Gegner jener Politik, die meine Kollegen und ich für richtig halten. Ich werde zugleich den großen sicherheitspolitischen Fortschritt darstellen, den das Vertragswerk für Berlin, für uns, für Europa und auch für die Amerikaner darstellt. Beide Zwecke verlangen, daß man den Zusammenhang herstellt. In ihrer Regierungserklärung vom Oktober 1969 hat die Bundesregierung den folgenden sicherheitspolitischen Maßstab formuliert: Welche der beiden Seiten der Sicherheitspolitik wir auch betrachten, ob es sich um unseren ernsten und nachhaltigen Versuch zur gleichzeitigen und gleichwertigen Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle handelt oder um die Gewährleistung ausreichender Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland: unter beiden Aspekten begreift die Bundesregierung ihre Sicherheitspolitik als Politik des Gleichgewichts und der Friedenssicherung. Und ebenso versteht sie unter beiden Aspekten die äußere Sicherheit unseres Staates als eine Funktion des Bündnisses, dem wir angehören und als dessen Teil wir zum Gleichgewicht der Kräfte zwischen West und Ost beitragen. Ich nehme an, daß dieser Maßstab zwischen der Opposition und den Koalitionsparteien nicht kontrovers ist: Er definiert Sicherheit so, wie es auch die Regierungserklärung der Großen Koalition am 13. Dezember 1966 tat. Es hieß dort: Der Wille zum Frieden und zur Verständigung der Völker ist das erste Wort und das Grundlegende der Außenpolitik dieser Regierung. Wie gesagt: das war Dezember 1966. Nun, vor welchem weltpolitischen Hintergrund ist dieser Maßstab gesetzt worden? Erstens. Die thermonuklearen Waffen, mit denen die Supermächte einander vernichten können, hatten diese Mächte bereits gezwungen, ihrer Gegnerschaft Schranken zu setzen. Zwar bestehen fundamentale Gegensätze der Interessen und der Ideologien fort, doch war aus der unversöhnlichen Konfrontation doch schon eine Art von Konflikt unter Kontrolle geworden, der eine Zusammenarbeit der beiden Weltmächte auf Teilgebieten nicht mehr ausschloß. Beide Supermächte waren sich klargeworden, daß ihre Interessen sich dort treffen, wo es darum geht, Zwangsläufigkeiten von Zusammenprall, Zwangsläufigkeiten von Eskalation und gegenseitiger Vernichtung zu vermeiden. Konkret: Präsident Nixon hatte als wichtigstes Ziel bei seinem Regierungsantritt den Übergang von der Konfrontation zur Kooperation verkündet. Die Aufnahme der Ver- ) handlungen über die Begrenzung nuklear-strategischer Waffen - in den Zeitungen meist „SALT" genannt - erfolgte unmittelbar anschließend. Zweitens. Zur selben Zeit, da die beiden Supermächte Konfrontation zu vermeiden wünschten und die Suche nach Feldern der Zusammenarbeit begann, wurde auch die Tendenz erkennbar, daß die bisherige Bipolarität, von der Herr Strauß soeben sprach, durch ein neues Gleichgewicht mit mehreren Pfeilern abgelöst werden konnte. In der kommunistischen Welt war die frühere Einheit im Glauben zerbrochen. Der Bruch zwischen Moskau und Peking hat die Vorstellung von der Einheit des Weltkommunismus, von der Einheitlichkeit seines Vorgehens ad absurdum geführt. Das Hegemoniebedürfnis der Sowjetunion hatte sich in einer brutalen Invasion in der Tschechoslowakei geäußert. Aber das westliche Verlangen nach einem Europa, das mehr ist als nur Westeuropa, konnte damit ebensowenig auf die Dauer erstickt werden wie das Verlangen in ganz Osteuropa, auch in der Sowjetunion, nach mehr Berührung mit dem Westen. Wer Entspannung in Europa will, der muß Zusammenarbeit suchen, und zwar ohne neue Unsicherheiten ins Spiel zu bringen. Ich habe die Darlegungen von Herrn Strauß über China soeben vielleicht nicht ganz verstanden. Aber ich wiederhole für diejenigen, die meinen, der Basis der Ostpolitik müsse der Faktor China hinzugefügt werden: Wer Entspannung in Europa will, muß Zusammenarbeit suchen, ohne neue Unsicherheitsfaktoren ins Spiel zu bringen. ({3}) Der dritte Punkt des Hintergrunds. Mit der Verabschiedung des Harmel-Berichts hatte die atlantische Allianz ein Signal für einen neuen Abschnitt der Entwicklung des Bündnisses gesetzt. Dem Grundelement Verteidigung wurde das zweite Grundelement Entspannung hinzugefügt. Die durch gemeinsame Verteidigungsanstrengungen gewonnene Sicherheit sollte von nun an, mehr als 20 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, die Grundlage für den Versuch der Verständigung mit Osteuropa werden; Entspannung und Ausgleich also auf der Basis des Gleichgewichts und ohne Sicherheitsrisiko für die Beteiligten. Dies war der Rahmen, den die gegenwärtige Bundesregierung vorfand, als sie 1969 die Verantwortung übernahm. Den Rahmen zu erkennen, genügte aber nicht. Die Kenntnis der weltpolitischen Umweltbedingungen muß für unser Land nutzlos bleiben, wenn der Versuch unterbleibt, die spezifisch deutsche Situation in diesem Rahmen zu sehen, und zwar mit all ihren Faktoren, die häufig genug im Gegensatz und in Konkurrenz zueinander stehen. Ich habe kurz nach Bildung der Großen Koalition - es war, glaube ich, im Februar 1967 - in einem Vortrag in Hamburg gesagt, eine der Hauptaufgaben der Großen Koalition liege in der Nutzung ihrer breiten innenpolitischen Basis für die Herstellung einer größeren Realitätsbereitschaft in der öffentlichen Meinung unseres Volkes hinsichtlich der Deutschland- und Außenpolitik, und ich habe hinzugefügt, „wenn es der Großen Koalition nicht gelingen sollte, unbrauchbar gewordene, ausgefahrene Gleise zu verlassen und neue Wege zu finden, so würde die Große Koalition ihre geschichtliche Legitimation verfehlen". Tatsächlich hat die Große Koalition einige neue Wege beschritten, tatsächlich ist die Realitätsbereitschaft gestiegen. Aber, Herr Dr. Kiesinger, Ihre Realitätsbereitschaft und diejenige der CSU sind am Ende schließlich kleiner gewesen als am Anfang. ({4}) - Herr Kiesinger schüttelt den Kopf. Ich darf ihn mit einem Seitenblick auf die Hallstein-Doktrin daran erinnern, daß er am Anfang bereit war, diplomatische Beziehungen zu Bukarest und zu Belgrad aufzunehmen, und daß er am Ende meinte, die Regierung solle lieber platzen, als die Beziehungen zu dem kleinen südostasiatischen Staat Kambodscha nicht abzubrechen. ({5}) 1967 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger das gestern schon von Herbert Wehner zitierte Wort von der „kritischen Größenordnung Deutschlands" gesagt, das durchaus richtig ist. Die Passage endete damals mit dem Satz: „Man kann das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Europa." Ich stimme dem zu; das war damals richtig, und es ist auch heute noch richtig. Die erste Konsequenz aus diesem Satz, Herr Dr. Kiesinger, ist die, daß wir diesen von Ihnen genannten Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts einmal realistisch betrachten. Es ist ja nicht nur ein Prozeß, der uns betrifft, sondern es ist ein Prozeß, der von vielen gemeinsam beeinflußt wird. Nun einige Tatsachen zu dem sich tatsächlich abspielenden Prozeß. Erstens. Für die Vereinigten Staaten wie für die Sowjetunion wie für unsere Nachbarn in Ost und West sind die aus der andauernden Teilung Deutschlands erwachsenden Problemen die hauptsächliche Ursache für die Sorge um den Frieden in Europa. Diese Probleme sind einerseits Folgen des von Hitler total geführten und total verlorenen Krieges, sie sind andererseits Folgen der sich von 1945 an ergebenden Konfrontation der Siegermächte. Zweitens. Gerade wir Deutschen müssen aber auch einer anderen Erkenntnis ins Auge sehen. Die Nachbarn Deutschlands in Ost und West sind weit eher geneigt, sich mit der Teilung Deutschlands abzufinden, als zuzulassen, daß derjenige Teil Deutschlands, mit dem sie durch ein Bündnis verknüpft sind, in den Bereich des anderen Bündnisses hinüberwechselt. Kollege von Weizsäcker hat von diesen Problemen gesprochen. Alle unsere Nachbarn halten zwar den jetzigen Zustand für nicht normal und womöglich für eine Bedrohung des Friedens und ihrer Sicherheit, aber ein vereinigtes Deutschland und vor allem der Prozeß bis hin zu einem vereinigten Deutschland erscheint den meisten unserer Nachbarn noch gefährlicher, weil er das Gleichgewicht der Macht in Europa und damit den Frieden gefährden könnte. Siehe Dr. Kiesingers Wort über das kritische Gewicht oder die kritische Größe. Drittens. Gleichwohl fühlen viele unserer Nachbarn auch die historische Anomalie der Trennung Deutschlands und mehr noch der Teilung Europas insgesamt. Manche wären möglicherweise bereit, dann an einer Vereinigung Europas und damit Deutschlands mitzuwirken, wenn sie eine Art Garantie dafür hätten, daß der zu diesem Ziel hinführende Prozeß unter Kontrolle gehalten und daß seine Risiken eingegrenzt und kalkulierbar gemacht werden können. Viertens. In der Bundesrepublik Deutschland hat es lange gedauert, ehe klar wurde, daß die beiden Teile der Nation nur dann wieder zueinander kommen können, wenn auch Europa wieder zusammenwächst. Vielen in unserem Lande fällt es heute noch schwer, zu begreifen, daß dies keineswegs von den Deutschen allein bewirkt werden kann, sondern daß ein Zusammenwachsen in Europa nur möglich ist, wenn beide Weltmächte u n d die ost- und westeuropäischen Staaten u n d das deutsche Volk in seinen beiden Teilen dies wollen. Mit anderen Worten und verkürzt ausgedrückt.: eine Wiederherstellung der Identität Europas ist nur möglich, wenn dies auch von Moskau, auch von Warschau, auch von Ost-Berlin gewollt wird. Fünftens. Die Kontinuität des westlichen Verteidigungsbündnisses, die Solidarität der europäischen mit den nordamerikanischen Partnern waren und bleiben Grundlage unserer Politik innerhalb dieses Prozesses. Eine manchmal aufgetretene Überbetonung unserer Sicherheit hat allerdings in manchen Phasen der Nachkriegspolitik zur Unbeweglichkeit der Regierung hier in Bonn beigetragen. Heute wissen wir, daß NATO und EWG den westlichen Teil Europas von sowjetischer Dominanz in kritischen Zeiten haben freihalten können, daß sie aber mit ihrer bis spät in die 60er Jahre verfolgten starren politischen Strategie nicht der Vereinigung Europas und unseres Landes haben dienen können. Sie werden das auch in Zukunft kaum tun können, und erst recht nicht wird ohne unsere eigene Initiative etwas bewegt. Herr Dr. Schröder hat in einer Rede, auf die mein Freund Kurt Mattick heute morgen schon zurückkam, vor dem CDU-Parteitag schon 1965 in Düsseldorf - ich komme noch mal auf die Rede zurück - öffentlich daran gezweifelt, daß die Zeit für uns arbeite. Sechstens. Je mehr aber wir in Bonn uns selbst in unserer Außenpolitik bewegen, desto mehr könnten unsere Nachbarn in Ost und West in Besorgnis geraten, nämlich dann, wenn wir versuchen wollten, uns allein zu bewegen. Deshalb unternehmen wir zu keinem Zeitpunkt dieses Prozesses einen isolierten Schritt, sondern diese Regierung achtet sehr sorgfältig darauf, daß ihre Bewegung eingebettet bleibt in das Gesamtvorhaben der Partner unseres Bündnisses. Die Beweise für diese Gemeinsamkeit, welche die Oppositionsredner nicht sehen wollen, liegen dokumentarisch in einer ganzen Kette von Ministerratsbeschlüssen der Allianz öffentlich vor. Diese Kommuniqués des Minsterrats der Allianz über zwei, drei Jahre beschreiben den wichtigsten Teil - ich benutze noch einmal Dr. Kiesingers Worte - „des Prozesses der Überwindung des Ost-West-Konfliktes". Unsere Politik verwirklicht sich im Rahmen der Möglichkeiten, die hier gegeben sind, im Rahmen der Wandlungen der internationalen Beziehungen überhaupt. Präsident Nixons Schlagwort heute vor drei Jahren „from confrontation to negotiation" bezeichnet eine Epoche, die die ganze Welt umfaßt, die zugleich auch unserem Land ermöglich hat, unseren außenpolitischen Spielraum zu erweitern und voll auszunutzen. Die Erkenntnis der Lage unseres Landes, wie sie wirklich ist, hat gewiß deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nicht leichter gemacht. Kollege Schröder hat darauf 1965 in dieser Parteitagsrede schon hingewiesen. Damals sagte er: Im Zeichen des kalten Krieges war die Wiedervereinigungspolitik eingebettet in das umfassende Anliegen der freien Welt, die Einflußsphäre des Kommunismus in Europa zurückzudrängen. Heute hat sich in der Welt das beherrschende und allgemeine Interesse der Friedenserhaltung vor das Teilinteresse der Wiedervereinigung Deutschlands geschoben. Es besteht zwar noch eine Übereinstimmung im Ziel, aber es ist für die deutsche Außenpolitik schwieriger geworden. Ich habe damals, 1965, diese Rede für bedeutsam gehalten. Sie war ein Schritt auf Ihrem Wege, meine Damen und Herren, zur sogenannten Friedensnote mit dem Gewaltverzichtsangebot im Frühjahr 1966. Die Rede enthielt übrigens auch die richtige Feststellung, es stelle sich immer wieder neu die schwierige Frage, wie wir unsere Deutschlandpolitik am besten in den ganzen Zusammenhang der allgemeinen Ost-West-Beziehungen einfügen können. Diese Frage stellt sich auch heute und morgen und übermorgen - da stimme ich Ihnen zu - immer wieder neu. Wenn sich insgesamt die Beziehungen zwischen Ost und West ändern, ändern sich damit auch Rahmen und Lage unserer Ostpolitik. Übrigens haben Sie, Herr Kollege Schröder - auch das will ich nachtragen -, schon in jener Rede, wenn auch sehr verklausuliert, festgestellt, daß die Alleinvertretungsposition à la longue nicht haltbar sein würde. Ich sage das, weil Sie gestern die von Ihnen festgestellte Diskontinuität so hervorgehoben haben. Sie selber haben heute vor sieben Jahren Diskontinuitäten vorausgesehen, ({6}) - wenn es wirklich Diskontinuitäten sind! Wenn es sich nicht um einen kontinuierlichen Wandel der Position entsprechend der jeweils sich wandelnden Gesamtlage der Beziehungen zwischen Ost und West handeln würde! ({7}) Diese Bundesregierung hat 1969 aus der vorgefundenen, nicht von ihr geschaffenen, sondern historisch gewachsenen Situation die Konsequenzen gezogen, und zwar von der Lage aus, die sie 1969 antraf. Dabei war und bleibt das Gleichgewichtsprinzip der oberste Leitsatz unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Er prägt die Haltung der Bundesregierung zum nordatlantischen Bündnis, zu den großen Nuklearmächten, zu dem notwendigen Versuch, Sicherheit bei geringerer Rüstung zu erhalten. Er prägt aber auch unsere Haltung bei dem Versuch der Bundesregierung, Verständnis und Ausgleich mit der Sowjetunion, mit den Völkern des europäischen Ostens zu erreichen. Für diese Politik muß gelten: Wer seine eigene Politik unter den Schutz des Gleichgewichts stellt, darf nicht versuchen, andere aus diesem Gleichgewicht herauszubrechen. ({8}) Das heißt für unsere Entspannungspolitik gegenüber dem Westen wie dem Osten ganz konkret: 1. Es kann im osteuropäischen Bereich nichts Wesentliches ohne die Mitwirkung Moskaus geschehen. So ist die Lage heute. 2. Die Regierungen in Warschau, Ost-Berlin, Prag und in anderen osteuropäischen Hauptstädten haben gleichwohl eigene Interessen, eigenen Willen, eigenes Gewicht. 3. Es wäre jedoch töricht und gefährlich, Keile zwischen die Staaten des Paktes treiben zu wollen, gefährlich nicht nur für uns, sondern für den Frieden überhaupt. Es wäre genauso töricht und für Entspannung und Zusammenarbeit gleichermaßen gefährlich, wenn jemand unseren Willen zum friedlichen Miteinander als ein bloß taktisches Manöver interpretieren wollte, wie das einige - ich erinnere mich genau - vor zehn Jahren gegenüber dem Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei gemacht haben. ({9}) Es ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man den ernsten Willen eines anderen in eine taktische Wendung umfälscht. Deutschland und Frieden, meine Damen und Herren, werden heute wieder in einem Atemzug genannt. Die Geschichte erlaubt nicht, diesen Sachverhalt eine Selbstverständlichkeit zu nennen, genausowenig - auch das will ich deutlich sagen - wie es etwa erlaubt wäre, dies als Verdienst allein unserer Bundesregierung zu bezeichnen. Der Frieden nach Westen ohne den Frieden nach Osten bleibt ein unvollständiger Frieden, ein gefährdeter Frieden. Hier liegt die Aufgabe, deren Erfüllung wir allerdings nähergekommen sind als jede Regierung vorher. Künftige Historiker mögen darüber befinden, warum die CDU/CSU so viel länger braucht, dies zu begreifen, als die Umwelt, in der wir leben. Mit „Umwelt" meine ich nicht nur die Bürger dieses Landes, nicht nur unsere Nachbarn. Ich hatte im Herbst Gelegenheit, festzustellen, daß einem auch in Japan, Australien, Neuseeland eine ungewöhnlich herzliche Zustimmung zu dieser Versöhnungspolitik entgegengebracht wird. ({10}) Wie aber immer die Urteile anderer lauten mögen, unsere Pflicht ist es, heute unsere Ziele, unsere Motive, unsere Kalkulationen offenzulegen, um jedermann draußen ein fundiertes Urteil zu ermöglichen. Ein solches Urteil wird sich an der tatsächlichen Entwicklung orientieren müssen, die wir einerseits als Mitglied des atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaften mit bewirkt haben und die andererseits von diesen politischen Zusammenschlüssen aus auf uns zurückgewirkt hat. Was also hat sich seit 1969 in Europa geändert? Wir haben uns daran gewähnt, darauf zu verweisen, daß die atlantische Allianz in Verteidigung und Entspannung die beiden Grundelemente ihrer politischen Strategie sehe. Mir scheint, der entscheidende Wandel des Atlantischen Bündnisses seit 1969 liegt darin, daß das Bündnis diesen Grundsatz, Verteidigung plus Entspannung, nicht nur verkündet, sondern ihn tatsächlich mit politischem Leben erfüllt und auf seiner Basis vielfältige politische Initiativen in Gang gesetzt hat. So haben sich zum einen die Partner in der „Studie über die Verteidigungsprobleme der Allianz in den 70er Jahren" geeinigt, am militärstrategischen Konzept der flexiblen Reaktion und am Prinzip der Vorne-Verteidigung festzuhalten, also an zwei Grundprinzipien, die gerade für uns wichtig sind. Sie haben es übernommen, Schwächen des Verteidigungssystems zu beseitigen und dabei nicht nur die bisher gültigen Grundsätze fortzuschreiben, sondern auch ein neues Programm für die künftige Arbeit zu entwickeln, aber andererseits hat das Bündnis 1970 und 1971 den ZusammenBundesminister Schmidt hang zwischen Verteidigung und Entspannung tatsächlich praktiziert. ({11}) Die sehr konkreten Beschlüsse des NATO-Rats von Rom, Brüssel, Lissabon und nochmals Brüssel sind Beleg und Beweis: das ganze Bündnis mit all seinen Teilnehmerstaaten hat am Zustandekommen und am erfolgreichen Abschluß der Viermächteverhandlungen über Berlin mitgewirkt. ({12}) Da muß man die Kommuniqués lesen, um das bestätigt zu finden. Das ganze Bündnis hat daran mitgewirkt, daß die Voraussetzung für ein solches Abkommen geschaffen werden konnte, nämlich der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Wer den Vorwurf erhebt, daß die Entspannungsund Vertragspolitik der Bundesregierung den Zusammenhalt des Westens gefährde und die Funktionstüchtigkeit des Bündnisses beeinträchtige, der muß wissen, daß er sich selbst zu allen Regierungen in Gegensatz setzt - ich betone: allen - der im westlichen Bündnis verbündeten Staaten. ({13}) Herr Dr. Schröder, Sie sind ein bißchen außer Kontakt geraten mit der politischen Entwicklung in den uns verbündeten Ländern. ({14}) Wenn Sie Ihre gestrige Rede statt hier in Bonn in der Ministerratstagung des Atlantischen Bündnisses gehalten hätten, wäre nicht nur augenblicks eine tiefe Konsternation eingetreten, sondern der Prozeß der Isolierung Deutschlands innerhalb dieses Bündnisses hätte am gleichen Abend seinen Anfang genommen. ({15}) - Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, genauso wie wir gestern die - ich wiederhole - bemerkenswerten Darlegungen des Kollegen Schröder angehört haben, meinen Versuch einer Antwort entgegenzunehmen. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Dr. Schröder, Sie durften sich - nach meinem Urteil - auch nicht in die Ausflucht retten, unserer Partner hätten diese Erklärung bloß abgegeben, weil sie - das hat Herr Strauß nachher wiederholt - eine lästige Verantwortung loswerden wollten, weil sie nicht deutscher als die Deutschen selbst sein wollten. ({16}) - Wer zu dieser Argumentation greift, impliziert ungewollt, daß unsere nationalen Interessen im bewußten Widerspruch zu den Interessen der Partner stünden. Sie haben in dem Zusammenhang gestern eine Drei-Mächte-Erklärung von 1964 zitiert, aber Sie hatten 1965 in der schon zitierten Rede vor dem Parteitag der CDU öffentlich ausgesprochen, daß Sie sich immer Mühe geben müßten, die drei Mächte zu solchen Erklärungen zu bringen. Sie wissen doch selbst auch aus der Erinnerung, Herr Schröder, daß damals diese Erklärung nicht dem innersten Willen und heiligsten Interesse der Beteiligten entsprach. ({17}) -- Nein, ich glaube nicht, daß darin ein Widerspruch liegt. Die sind etwas losgeworden, was ihnen lästig war; das ist richtig. Aber, Herr Schröder, Sie haben nie im Grunde glauben können, daß die auf Grund ihrer Erklärung jemals eine deutsche Wiedervereinigungsinitiative ergreifen könnten. Das hat niemand geglaubt, weder in Bonn noch anderswo. ({18})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Herrn Kollegen Barzel will ich gern eine Zwischenfrage gestatten.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, würden Sie dem Hause sagen, was die Alliierten losgeworden sind, worüber sie, wie Sie soeben sagten, Freude empfinden?

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Ich bin nicht ganz sicher, ob es meine Sache ist, zu interpretieren, was Herr Schröder gemeint hat. Ich denke, er hat gemeint, sie wären die Last losgeworden, alle zwei Jahre eine große Erklärung über die erstrebte Wiedervereinigung Deutschlands abzugeben. Daß sie vertraglich daran gebunden sind, ist eine ganz andere Sache. Sie waren es leid, dauernd Bekenntnisse abgeben zu müssen zu einer Sache, für die sie aktuell und für die jeweilige Gegenwart überhaupt keine Realisationschance sahen. ({0}) Das Atlantische Bündnis heute ist politisch als Bündnis, als Gesamtheit sehr tätig. Da sind die Bemühungen um Rüstungsbegrenzung, Rüstungsverminderung und -kontrolle, z. B. die Verhandlungen zwischen den beiden Supermächten über die Begrenzung der strategischen Waffen - SALT -, da sind die Bemühungen des westlichen Bündnisses zu Verhandlungen mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Paktes über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen, in den Zeitungen meist mit den vier Buchstaben MBFR bezeichnet. Natürlich ist SALT primär eine Sache der beiden Supermächte, aber der Verhandlungserfolg müßte ganz fraglich werden, käme es etwa inzwischen zu einer neuen tiefen Berlin-Krise. Die Bemühungen um MBFR entsprechen dem gleichen Wandel. Durch rüstungsbegrenzende sta9924 bilisierende Vereinbarungen in Europa soll eine für alle Partner gleich verläßliche, weniger aufwendige Sicherheitsstruktur in Europa erreicht werden. MBFR wird zu einer Schlüsselfrage zukünftiger Entspannungspolitik werden. Man kann dabei nicht mit schnellen Ergebnissen rechnen - noch viel weniger schnell als bei SALT. Gleichwohl hat das MBFR-Projekt bereits heute einige Zwischenergebnisse gezeitigt. Auch das war nur möglich im Zusammenhang mit der deutschen Vertragspolitik. Die kontinuierliche Beharrlichkeit nämlich seit dem sogenannten Signal von Reykjavik 1968 hat es schließlich vermocht, ein allmählich entstehendes Interesse der Sowjetunion und anderer interessierter Staaten herbeizuführen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kliesing?

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Herr Kliesing ist ein alter Freund, also bitte!

Dr. Georg Kliesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001130, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidt, wenn Sie MBFR für eine Schlüsselfrage der künftigen Entspannung halten, wie werten Sie dann die Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion angesichts der Tatsache, daß sie bisher noch nicht reagiert hat auf den Wunsch 14 europäischer und nordamerikanischer Staaten - darunter auch der Bundesrepublik -, zu vorbereitenden Gesprächen über MBFR den früheren Generalsekretär Brosio zu empfangen, sich im Gegenteil bisher hartnäckig geweigert hat, überhaupt in vorbereitende Gespräche darüber einzutreten? ({0})

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Es gibt dazu nur Vermutungen. Ich würde zwei Vermutungen für zulässig halten. Erstens könnte ich mir denken, daß sich die Sowjetunion zu dem Zeitpunkt noch nicht völlige Klarheit über die Details ihrer Interessen bei MBFR verschafft hatte. Das würde dann noch kommen. Es wäre also ein vorübergehender Zustand. Zweitens würde mir die Vermutung zulässig erscheinen, daß die Sowjetunion, z. B. mit Rücksicht auf Frankreich, aber auch mit Rücksicht auf eigene Verbündete, Wert darauf legte, nicht den Eindruck von Verhandlungen zuzulassen, die zwischen Pakt und Pakt geführt würden. Das sind beides denkbare Erklärungen. Im übrigen kann ich hier nicht Auskünfte für die sowjetische Regierung geben, Herr Kliesing. Im Zusammenhang mit MBFR würde ich ganz gerne die persönliche Bemerkung machen dürfen für diejenigen, die schon 1959 hier in diesem Bundestag saßen, daß ich ganz stolz bin auf die Fortschritte, die wir darin erreicht haben. In Verbindung damit muß man auf die Frage eingehen, ob Bemühungen um Rüstungsbegrenzung, ob unsere Vertragspolitik mit dem Osten einseitige, voreilige Truppenabzüge des Westens, vor allem der USA, verursacht bzw. ob sie politische Kräfte geweckt hätten, die sich vor allen Dingen im amerikanischen Senat für eine einseitige Verminderung des amerikanischen Engagements hier in Europa stark machen. Ich denke, wir alle hier und innerhalb dies Bündnisses stimmen darin überein, daß unsere Entspannungspolitik unsere Sicherheitspolitik ergänzen, nicht aber unseren Verteidigungsbeitrag ersetzen kann oder soll. Nur für den Herrn Ministerpräsidenten Filbinger, dessen Bundesratsrede ich gestern gelesen habe, weise ich darauf hin, daß es lange, bevor deutsch-sowjetische Verhandlungen in Betracht gezogen wurden, lange vorher jenen Trend gegeben hat, der seit der Mitte der fünfziger Jahre mit dem Namen des Senators Mansfield verbunden ist. Wir haben es immer wieder mit entsprechenden Resolutionen im amerikanischen Kongreß zu tun gehabt. Tatsache ist, daß keine amerikanische Regierung darauf eingegangen ist. Herr Filbinger soll sich ein bißchen besser in der Außenpolitik umsehen, ehe er darüber spricht. Die jüngste außenpolitische Botschaft Präsident Nixons an den amerikanischen Kongreß hat dies abermals überzeugend bestätigt. Auch in der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklärung nach der Begegnung zwischen Präsident Nixon und Bundeskanzler Brandt in diesem Winter in Key Biscayne hieß es wörtlich ich darf zitieren -: Der Präsident wiederholte, daß die amerikanischen Verpflichtungen in Europa unverändert weiter gelten und daß insbesondere keine Verminderung der amerikanischen Truppenstärke in Europa erfolgen wird. Wenn Präsident Nixon heute erneut zusichern kann, daß die amerikanischen Truppen in Europa nicht einseitig abgebaut werden, sondern nur im Rahmen beiderseitiger Verringerung, dann wird deutlich, daß unsere Bereitschaft zum Realismus, daß die Verträge von Warschau und Moskau und die Bemühung um beiderseitige, ausgewogene Truppenverringerung keineswegs einseitige amerikanische Verringerungen verursachen, wie Ministerpräsident Filbinger vor ein paar Tagen im Bundesrat und andeutungsweise auch Herr Kollege Schröder gestern abend hier gemeint haben. Vielmehr hat diese unsere Politik die Entscheidung bewirkt, daß das schon mehr als 25 Jahre - das ist eine sehr lange Zeit - andauernde amerikanische Engagement erst dann verändert werden soll, wenn Gewißheit der Gegenseitigkeit besteht. ({0}) Natürlich wären meine Ausführungen über die Entwicklung und Wandlung im Bündnis unvollständig, wenn ich nicht auch auf sehr bedeutende qualitative Veränderungen hier in Westeuropa hinwiese. Ich kann aber auf den Ausbau und die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften nicht eingehen. Klar ist jedoch, daß die politische Konsolidierung Europas sicherheitspolitisch sehr bedeutsam werden kann. Das gilt um so mehr, als die Herausbildung einer westeuropäischen Verteidigungsidentität in der Eurogroup immer sichtbarer wird, in der sich die europäischen NATO-Mitglieder - freilich mit der Ausnahme Frankeichs - einstweilen ein Forum geschaffen haben, in dem sie ihre Verteidigungspolitik im Rahmen des Bündnisses miteinander abstimmen und koordinieren. So kam es zum Verstärkungsprogramm, und so kam es Ende dieses Jahre zu einem Euro-Weißbuch. Hier bleibt auch noch einiges zu tun, gewiß. Aber man kann nicht übersehen, daß es gelungen ist, im Rahmen von Verteidigung und Entspannung in Westeuropa etwas zu entwickeln, was seit dem Scheitern der EVG-Verträge niemand sonst fertiggebracht hat. ({1}) Ich habe so ausführlich über die Wandlung im Bündnis sprechen mögen, weil ich jetzt gern auf den entscheidenden sicherheitspolitischen Aspekt der beiden Verträge kommen will. Die Verträge haben dem zentralen Problem der europäischen Sicherheit, nämlich der deutschen Frage, eine neue Qualität gegeben. Sie haben es ermöglicht, eine die Abwesenheit von Drohung und Gewalt garantierende Regelung für den gefährlichsten Krisenherd der letzten 25 Jahre zu finden, für Berlin. ({2}) Mein Freund Kurt Mattick hat heute morgen sehr überzeugend dargetan, was das bedeutet. Ich will es hier nur von der sicherheitspolitischen Seite beleuchten. Die Blockade Berlins am Ende der vierziger Jahre, die Berlin-Krise von 1958 bis 1962 mit dem Bau der Mauer, mit der Ratlosigkeit der damaligen Bonner Bundesregierung und ihrem Aufruf, Ruhe sei die richtige Antwort, mit dem Aufmarsch amerikanischer Streitkräfte über den Atlantik herüber nach Deutschland, die zahlreichen Zwischenfälle auf den Zugangswegen zu Lande und in der Luft, die Panzerkonfrontation an der Sektorengrenze im Oktober 1961, alles dies wird nicht wiederkommen, ({3}) alles dies wird nicht wiederkehren. Ich will mir nicht die Zeitbestimmung des französischen Botschafters in Bonn zu eigen machen, der gesagt hat: 20 Jahre lang wird davon nichts wiederkehren, vielleicht wird es länger sein. Jedenfalls: in der Zukunft, die wir überblicken können, können wir sicher sein, daß es nicht wiederkehrt, wenn dieses Haus den Vertrag ratifiziert, der der Sache zugrunde liegt. ({4}) Unter dem Aspekt der Sicherheit auf dem ganzen Erdball ist die Befriedung des Krisenherds zwischen den beiden Supermächten, die Befriedung Berlins durch das Viermächteabkommen des an erster Stelle zu nennende Ergebnis unserer Ostpolitik. ({5}) Wenn Sie, Herr Kollege Schröder, gestern gemeint haben, die CDU hätte dieses Verhandlungsergebnis schon längst haben können, ({6}) so weiß jede Regierung innerhalb des nordatlantischen Bündnisses, daß dies - um es sehr milde auszudrücken - ein Irrtum ist. ({7}) Herr Schröder kann nicht im Ernst leugnen wollen, daß er als Außenminister schon sehr stolz gewesen wäre, wenn er Bruchteile des jetzigen Berlin-Abkommens hätte erreichen können. ({8}) Ich erinnere mich sehr genau, was der Kanzler der Großen Koalition endgültig im Tauschwege dafür hinzugeben bereit war, daß ein einziges Mal Passierscheine sollten ausgegeben werden. ({9}) - Herr Kiesinger, ich bin gewiß niemand, der wissentlich die Unwahrheit sagt. ({10}) - Wie bitte? ({11}) - Nein, nein, verehrter Herr Kollege Kiesinger, Sie haben damals gesagt, die Wahl des Bundespräsidenten könne reihum in sämtlichen deutschen Landeshauptstädten durchgeführt werden, und dann würde sie nach 50 Jahren wieder nach Berlin kommen. Ich kann mich genau erinnern. ({12}) - Ich kritisiere das ja nicht. ({13}) - Herr Kiesinger, es ist wahr. ({14}) - Doch, es ist wahr! Und das im Tausch für einmal Passierscheine! Ich kritisiere das ja nicht, ich hebe es nur hervor, um Ihnen zu zeigen, wie ungerecht Sie sind, wenn Sie das ganze Paket des jetzigen Berlin-Abkommens heute so kleinschreiben. ({15}) - Herr Kiesinger wird sich sicherlich bemühen, zu zeigen, daß ich die Unwahrheit sprach. Ich bin ganz gewiß, daß das - ({16}) - Ich war ja dabei, lieber Freund, Sie aber nicht. ({17}) Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie dem Kreßbronner Kränzchen nicht angehört. ({18}) - Ich will heute abend nicht polemisieren. ({19}) - Ich will nicht polemisieren! Ich möchte als zweites Ergebnis feststellen, daß das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa heute, 1972, fester ist als zuvor und insbesondere sehr viel fester als im Frühjahr und im Sommer und im Herbst 1966, ehe wir anfingen, diese Politik mit zu beeinflussen. ({20}) Drittens. Es haben sich in Europa stabile Elemente der Integration herausgebildet. Viertens. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Handlungspielraum gewonnen, der für unsere eigenen Interessen notwendig ist und dessen Ausnutzung dem ganzen Bündnis nützt. Die Gewinnung dieses Handlungsspielraums war nur möglich, weil die ganze internationale Politik - oder, wie Herr Kiesinger es nannte, der Prozeß der Entspannung zwischen Ost und West in Bewegung geraten war und weil wir den uns angemessenen Platz darin eingenommen haben. Fünftens. Das Engagement der Vereinigten Staaten in Europa bedeutet nicht mehr länger nur die Fortdauer und Erfüllung der durch Kriegseintritt und -ausgang übernommenen Pflichten, sondern dieses Engagement wird heute durch das Ziel der Herstellung einer stabilen europäischen Friedensordnung motiviert. Sechstens. Das Gleichgewicht der in Europa wirksamen, auf Europa von außen wirkenden Kräfte ist durch die Verträge um das Element des vereinbarten Gewaltverzichts stabiler geworden, wobei für uns gewiß der Gewaltverzicht der Sowjetunion unendlich gewichtiger ist als der Gewaltverzicht, den wir ausgesprochen haben. ({21}) Siebentens. Die deutsche Frage ist in dem Maße einer Lösung nähergekommen, wie durch die geschlossenen und durch die noch zu schließenden Verträge Unsicherheit in Europa vermindert wird. Herr Dr. Schröder hat gestern gesagt, eine Nichtratifizierung der Verträge sei keineswegs ein Desaster, sondern lediglich ein Desaster für die Bundesregierung. ({22}) Ich gehe davon aus, bin überzeugt, daß die Verträge mit der verfassungsrechtlich gebotenen Mehrheit dieses Hauses ratifiziert werden. Trotzdem bedarf Ihre Behauptung, Herr Kollege Schröder, des Gegenbeweises, damit sich niemand über das Risiko der von Ihnen verfolgten Politik des Liegenlassens täuschen kann. Die Folgen würden sein: Einbuße des gewonnenen Handlungspielraums der Bundesrepublik und Verlust der Chance für eine Vertragspolitik in Richtung Osten auf sehr lange Zeit, sodann eine Krise im Bündnis und in Westeuropa mit Auswirkung auf die politische Funktionstüchtigkeit des Bündnisses, Auswirkungen auf die Beziehungen besonders zu den Vereinigten Staaten von Amerika, für die unsere Verträge und für die insbesondere auch das Berlin-Abkommen wichtige Elemente ihrer eigenen außenpolitischen Strategie sind. Ich glaube, das hat Herr Dr. Barzel in Washington auch gespürt, denn als er zurückkam, sagte er nur, er hätte Gott sei Dank keine Pression empfunden, die Verträge ratifizieren zu sollen. Im übrigen hat er sehr gut verstanden, daß die Leute im Weißen Haus sehr wohl dafür sind, daß Deutschland die Verträge ratifiziert. ({23}) Man muß in solchem Falle eintretende Belastungen natürlich vor allem auch vor dem Hintergrund der Schutzmachtfunktionen der drei Westmächte für Berlin sehen, man muß die Einbuße sehen, die wir an Glaubwürdigkeit als Bündnispartner erleiden würden, möglicherweise mit Konsequenzen für die beginnende engere politische Zusammenarbeit in der EWG, und man muß sehen, daß es eine Torpedierung des gemeinsamen Grundsatzes der Allianz wäre, Verteidigung und Entspannung zugleich zu betreiben. Die Folge wäre auch eine tiefe Vertrauenskrise im Verhältnis zur Sowjetunion, die doch in diese Verträge sehr viel Prestige und auch sehr deutliche Positionsopfer hineingesteckt hat, ({24}) und damit die Gefahr der Auslösung einer aktuellen Berlin-Krise. Ganz sicher träte auch die Konsequenz ein, daß die ausgehandelten Verbesserungen für die Menschen in Berlin in keiner Weise verwirklicht würden, ganz gewiß auch eine verminderte Bereitschaft ,der Westmächte, bei künftigen Arrangements mit der Sowjetunion auch eine Verbindung mit den Interessen der Bundesrepublik einzugehen. Ich will nicht sprechen von der psychologischen Krise, die man in Berlin auslösen würde, aber ich will doch sagen, daß eine Verwerfung dieser Verträge in diesem Haus zu schwerwiegenden Auswirkungen im Verhältnis zu unseren Nachbarn, zu einer Einbuße des von uns mühsam angesammelten Vertrauenskapitals, ({25}) zu einer Stärkung aller Vertragsgegner in der DDR und in der Sowjetunion, zu einem Ende der Verhandlungen mit der DDR und schließlich zu einer Entmutigung aller auf die Verständigung hinarbeitenden Kräfte in Europa führen müßte. Dr. Schröder hat gesagt, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik würde durch die Verträge schwieriger. Das möge seine Meinung bleiben. Ich denke aber, jeder Unbefangene kann einsehen, daß deutsche Außen- und Sicherheitspolitik durch die AblehBundesminister Schmidt nung der Verträge, wie ich eben gezeigt habe, unendlich schwieriger würde. ({26}) Aber die Verträge werden ja nicht abgelehnt. ({27}) Ich bin ganz sicher, daß die Regierungskoalition allein für den deutsch-sowjetischen Vertrag ausreicht. Wir brauchen Ihre Mahnung nicht, daß wir uns unsere Mehrheit selbst suchen müssen. ({28}) Allerdings wäre ich betroffen wenn ich das hinzufügen darf -, wenn die CDU/CSU verkennen sollte, daß der deutsch-polnische Vertrag, der kaum sicherheitspolitische, nicht nur außenpolitische Aspekte hat, vielmehr einer moralischen Notwendigkeit entspringt. ({29}) Herr Kollege Schröder und die Opposition insgesamt haben die Hoffnung ins Feld geführt: Wenn man länger gewartet hätte, wären bessere Verträge möglich geworden. Niemand hat dargetan, wie das hätte gehen sollen. Dr. Schröder hat das Stichwort China genannt, es ist auch bei Herrn Strauß wieder vorgekommen, aber ein richtiger Kommentar war dazu nicht zu vernehmen. Wenn man das von der Opposition in Ausführlichkeit hätte kommentieren sollen, Herr Dr. Barzel, dann hätte die in den letzten Tagen von der Opposition öffentlich ausgesprochene Hoffnung auf eine bedeutende Zunahme des sowjetischen-chinesischen Konflikts hier ausgesprochen werden müssen. Das haben Sie vorsichtigerweise vermieden. Herr Strauß hat sogar so getan, als ob das -- ({30}) --- Ja, ja, Sie haben es eben nicht ausgesprochen! Sie haben sehr versteckt und doch sehr deutlich argumentiert. ({31}) Ich möchte dazu drei Sätze sagen. Niemand kann von einem den Frieden bedrohenden Konflikt zwischen den beiden kommunistischen Weltmächten einen Vorteil erwarten. Im Gegenteil! ({32}) Im Gegenteil: Dieses Risiko für die ganze Welt wäre unabsehbar! ({33}) Zweiter Punkt: Wer der Sowjetunion sagt, er werde erst dann mit ihr verhandeln, wenn sie von dritter Seite unter stärkerem Druck stehe, verkennt die Wirkung solchen Verhaltens auf eine Weltmacht. ({34}) Dritter Punkt: Wer meint, man müsse mit der Normalisierung in Richtung Osten noch ein paar Jahre warten, noch ein bißchen warten, bis die Gelegenheit günstiger sei - ({35}) - Lassen Sie mich den Satz zu Ende führen! Wer meint, man müsse noch ein paar Jahre warten - so habe ich Sie alle doch verstehen müssen ({36}) - Der Führer der Opposition hat gesagt, man solle die Verträge liegenlassen. Was bedeutet das denn anderes als Warten? ({37}) Ich will Ihnen dazu drittens nur sagen: Je länger man wartete, desto tiefer würde für manche - für manche sogar um so selbstverständlicher - die Tatsache der Spaltung. ({38}) - Bitte nicht, Herr Wörner! Nun muß ich doch noch einmal eine Fußnote machen zu der Bundesratsrede vom Herrn Ministerpräsidenten F i l b i n g e r. Herr Dr. Schröder hatte gerade rechtzeitig in seinem „Zeit"-Artikel vom 4. Februar den CDU-Ministerpräsidenten für die Bundesratssitzung am 9. Februar die vertretbaren Argumente der Opposition gegeben. Ministerpräsident Kohl ist bei der Wiedergabe ein bißchen weitergegangen als der Kollege Schröder. Aber Herr Ministerpräsident Filbinger hat Sie, Herr Kollege Schröder, offensichtlich nur teilweise verstanden. ({39}) Ich denke dabei gar nicht an Herrn Filbingers erstaunliche Formulierung, die Sowjetubnion habe zu Lasten der NATO in letzter Zeit ihr Militärpotential erhöht, sondern ich denke an den in klarem Gegensatz zu Ihren Ausführungen von gestern abend, Herr Kollege Schröder - und im klaren Gegensatz auch, wie ich denke, zu Herrn Barzel - gesprochenen Satz - er steht im Protokoll des Bundesrats -: Die Alternative zur Ostpolitik der Bundesregierung bestehe nicht im Abwarten. Worin sie aber nun wirklich bestehen sollte, das hat naturgemäß der Ministerpräsident von Baden-Württemberg nicht zu sagen gewußt. ({40}) Aber auch die Opposition insgesamt hat in diesen beiden Tagen eine Alternative zur Sache vollständig vermissen lassen. ({41}) Herr Kollege Strauß kann ja wohl seinen einseitigen Vertragsentwurf nicht ernst gemeint haben als Alternative. ({42}) Er müßte uns denn sagen, wann und mit wem er diesen Vertrag aushandeln wollte. Natürlich, Herr Strauß, sind die Verträge und das Berlin-Abkommen keine idealen Dokumente. ({43}) Sie sind ein Kompromiß. Man mag mit Recht an der einen oder anderen Stelle etwas mehr oder etwas anderes wünschen. Aber jedermann kann ganz sicher sein: In umgekehrter Weise empfindet Herr Honecker das mindestens ebenso. ({44}) Wir Deutsche müssen wissen: Wer den Frieden mit seinen Nachbarn will, der muß zum Kompromiß bereit sein. ({45}) Eine letzte Bemerkung zu Ihnen, verehrter Kollege Schröder. Ich denke, es ist dankenswert, daß Sie gestern die Bindung der Bundesregierung an die Verfassungsmäßigkeit der von ihr ausgehandelten Verträge ausdrücklich betont haben, nachdem aus anderer Himmelsrichtung auch schon ganz andere Töne hörbar geworden waren. Zum Abschluß möchte ich ein paar Worte über die vor uns liegende Zeit sagen. Niemand kann heute sagen, wie sich die Entspannungspolitik in allen ihren Einzelheiten demnächst weiterentwickelt. Entscheidend ist, daß wir Deutsche uns an den Voraussetzungen für eine realistische und mit Gelassenheit verfolgte Entspannungspolitik orientieren. Die erste Voraussetzung ist, daß unsere innere demokratische Ordnung in der Bundesrepublik festgefügt bleibt, damit wir als außenpolitischer Partner Gewicht behalten. ({46}) Die zweite Voraussetzung ist, daß unsere Außenpolitik und unsere Sicherheitspolitik so wie bisher mit Washington, mit Paris, mit London, mit all unseren Verbündeten abgestimmt wird und abgestimmt bleibt. ({47}) Die dritte Voraussetzung ist, daß die Allianz weiterhin gemeinsam die Sicherheit Europas, die Sicherheit der Bundesrepublik, die Sicherheit West-Berlins gewährleistet und daß das Kräftegleichgewicht in Europa aufrechterhalten bleibt. Das gelingt nur, wenn wir auf unserer Seite dazu wie bisher den notwendigen Beitrag leisten. Entspannung macht Verteidigung und Soldaten nicht überflüssig, sondern sie setzt sie voraus. ({48}) In diesem Zusammenhang hat der Oppositionsführer bezweifelt, daß wir diese Notwendigkeit, von der ich eben sprach, überhaupt noch aussprächen. Herr Dr. Barzel, Sie haben unrecht. Ich brauche Sie z. B. nur auf das Weißbuch des Jahres 1931/72 „Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr" hinzuweisen, in dem Sie - in zigtausendfacher Auflage - die folgenden Sätze finden: Es wäre töricht, Entspannung zu wollen und zugleich den militärischen Schutz der eigenen Existenz zu vernachlässigen. Darum ist das Gleichgewichtsprinzip auch künftig oberster Leitsatz der Sicherheitspolitik. Es bestimmt unsere Anstrengungen und die unserer Verbündeten, eine ausreichende eigene Stärke aufrechtzuerhalten, zumal die Sowjetunion und deren Verbündete ihren Militärapparat weiter vergrößern. Ich will Ihnen das restliche Zitat ersparen. Sie haben wirklich unrecht, wenn Sie den Eindruck verbreiten, diese Bundesregierung wisse nicht, daß ihre Ostpolitik das Fundament der gemeinsamen Sicherheit im Westen braucht. Was die nähere Zukunft angeht, so erscheint mir wichtig, daß Zusammenarbeit, daß mehr Zusammenarbeit in Europa nur möglich ist, wenn der Zusammenhang zwischen der erwünschten Zusammenarbeit und der Sicherheit ebenso wie mit dem gegenseitigen Vertrauen klar gesehen wird. Das Projekt einer Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wird eine wichtige Rolle spielen. Eine Konferenz über die Sicherheit und die Zusammenarbeit ist sinnvoll, wenn auf ihr wirklich über das verhandelt wird, was der Name dieser Konferenz aussagt und anspricht. Das notwendige Vertrauen kann nur dann zustande kommen, wenn zwischen Ost und West eine einvernehmliche Verständigung über die Lage in Europa erreicht und gemeinsame Prinzipien verabredet und vereinbart werden, auf denen die europäische Sicherheit beruhen soll. Deshalb wird sich eine solche Konferenz, die durch das Inkrafttreten der Verträge und durch das Inkrafttreten des Viermächteabkommens möglich wird, auch mit den politischen Grundprinzipien von Truppenverminderungen beschäftigen müssen. Erst eine solche Verständigung wird es möglich machen, allgemeine politische Regeln für die Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa zu entwickeln. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Im Kern unserer Friedens- und damit unserer Sicherheitspolitik stehen das Streben nach Gleichgewicht und das Streben nach Beseitigung von Konflikt- und Krisenherden. ({49}) Ich sage Ihnen, der deutsch-sowjetische Vertrag und auch der deutsch-polnische Vertrag verändern in keiner Weise die politische, die rechtliche, die militärische oder gar die wirtschaftspolitische GrundBundesminister Schmidt lage unserer Sicherheit. Aber diese Verträge beseitigen Unsicherheit und Verdächte, sie verringern die Gefahr von Krisen. ({50})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Nein; danke, nein. - Das Viermächteabkommen über Berlin wird aus dem bisherigen Krisenherd Berlin einen sicheren Ort machen. ({0}) Ich bitte Sie, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Washington davon zu überzeugen, was für eine Erleichterung das auch für unsere Bündnispartner ist. ({1}) Unsere Vertragspolitik ist organischer Bestandteil der sicherheitspolitischen Konzeption des gesamten westlichen Bündnisses. Die Verträge dienen unserer Sicherheit und der Sicherheit unserer Nachbarn; sie entspringen unserem festen Willen zu guter Nachbarschaft und zum Frieden. Ohne beide Verträge, ohne das Viermächteabkommen über Berlin, das als ihre erste und existentiell wichtige Frucht zur Debatte dazugehört, ohne dieses Vertragswerk werden die Interessen der Deutschen schweren Schaden nehmen. Mit diesen Verträgen - dieser Überzeugung ist mit uns die große Mehrheit unseres Volkes - dienen wir dem Frieden. ({2})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Moersch. ({0}) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminster des Auswärtigen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Strauß hat bei seiner langen Darlegung geschichtlicher und weltpolitischer Zusammenhänge einen Hinweis auf Bismarck gebracht, der der Ergänzung bedarf. Er hat erklärt: Man darf nicht vor der Zeit handeln. Herr Strauß, ich nehme an, daß Sie den ganzen Zusammenhang des Zitats gekannt haben. Ich möchte, bevor ich ihn hier vortrage, noch einmal klarlegen, daß es wohl nicht zulässig ist, und zwar in Ihrem eigenen Interesse, Herr Strauß, nicht zulässig sein kann, mit Zitaten über den Frieden aus einer Zeit zu arbeiten, in der ein Atomkrieg nicht einmal denkbar, viel weniger möglich gewesen wäre. ({1}) Was aber wirklich bei Bismarck steht - ich sage das ohne jede Wertung, weil man jeden Staatsmann aus seiner Zeit heraus zu verstehen und als geschichtliche Tatsache hinzunehmen hat -, das möchte ich Ihnen jetzt noch einmal im Original vortragen, damit man klar sieht, auf welchen Zitaten hier politische Positionen aufgebaut worden sind, Positionen, die im Grunde nicht mehr rational dargelegt werden und begründet werden können. ({2}) Unter dem Stichwort „Frieden" steht dort tatsächlich - ich zitiere -: Unser Interesse ist, den Frieden zu erhalten, während unsere kontinentalen Nachbarn ohne Ausnahme Wünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unsere Politik einrichten, d. h. den Krieg nach Möglichkeit hindern oder einschränken, uns im europäischen Kartenspiel die Hinterhand wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provokation vor der Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen. Das ist das Zitat. Nun geht es unter dem Stichwort „Erhaltung des Friedens" weiter, Herr Strauß. ({3}) - Ich sehe ein, daß es sehr schwierig ist, diese Erregung zu dämpfen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich bitte Platz zu nehmen. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Aber ich werde diese Darlegung machen, weil ich es für notwendig halte, auch die Zuhörer von den Realitäten zu unterrichten, um die es sich heute hier handelt, und nicht von den Visionen. ({0}) Ich darf dem Historiker Strauß sagen, wie es bei Bismarck heißt: Das Ziel dieser Gesamtpolitik ist vorläufig die Erhaltung des Friedens, wenigstens bis zu dem Seiner Majestät bekannten Zeitpunkte, wo wir unsere Vorbereitungen in Gewehr und Munition zum Abschluß gebracht haben werden, womöglich sogar bis zu dem Zeitpunkt, wo Englands jetzige relative Wehrlosigkeit aufgehört haben und auf Englands Mitwirkung bei eintretenden Krisen mehr als bisher zu rechnen sein wird ... Meine Damen und Herren, das hat Bismarck in diesem Zusammenhang gesagt, und ich frage mich Parlamentarischer Staatssekretär Moersch wirklich, wer eigentlich heute Politik von 1972 mit Zitaten von 1868 begründen will. ({1}) Wir haben die Aufgabe, Bismarck gegen Franz Josef Strauß in Schutz zu nehmen. ({2}) Aber lassen Sie mich noch zu den Fragen, die hier gestellt worden sind, einige Anmerkungen machen. Die Debatte hat jedenfalls deutlich gemacht, daß es der Opposition möglich ist, eine Vielzahl von Argumenten gegen diese Verträge und gegen die Politik dieser Bundesregierung ins Feld zu führen. Aber die einzelnen Sprecher der Opposition heben sich mit ihren Argumenten gegenseitig in ihrer Wirkung auf. ({3}) Gerade nach der Rede von Herrn Strauß und übrigens auch nach der Rede von Herrn Stücklen und Herrn Marx muß man wohl ein ganz ernstes Wort über das Politikverständnis sagen, das hinter diesen Reden steht. Ich glaube, daß man das - gerade wegen der Lautstärke ist es sehr bemerkenswert gewesen - in der Feststellung zusammenfassen kann, daß eigentlich Politik für Deutsche eine höchst gefährliche Sache ist, und das bedeutet im Grunde das Angebot, künftig auf deutsche Politik überhaupt zu verzichten. ({4}) Hinter den aggressiven Wendungen, die hier gebraucht worden sind, hinter dieser Verwechslung von Demokratie und Antikommunismus, die sehr oft erfolgt ist und sich wie ein roter Faden durch diese Reden gezogen hat, ({5}) hinter all dem steckt etwas ganz anderes, nämlich ein Stück abendländischer Fatalismus, ({6}) und dieser abendländische Fatalismus soll durch aggressive Redewendungen überdeckt werden. Hier gilt der Satz, daß man darauf vertraut, daß sich die Ängstlichen um den Angstmacher scharen, daß aber die Angstmacher selber laut reden, weil sie eben ihrer Sache nicht sicher sind. Das ist wohl der Kern des Problems. ({7}) In solchen Reden ist nichts anderes entwickelt worden als das, was man aus der Vergangenheit kennt, nämlich ein für die Freiheit verhängnisvolles Maginot-Denken. Dieses Maginot-Denken hat sich in diesem Lande einmal in dem Spruch niedergeschlagen: „Keine Experimente!" Meine Damen und Herren, es war das größte Experiment, das für das deutsche Volk je unternommen worden ist, diese Gesinnung zu produzieren. ({8}) Sicherheit gewinnt man nicht durch solche frommen (I Sprüche, sondern durch eine vernünftige Politik. ({9}) Daß sich gerade in dieser Zeit damals die Krisen verschärft haben, nicht zuletzt in und um Berlin, muß man, glaube ich, mit in Betracht ziehen, wenn man dem deutschen Volk heute empfehlen will, eine Politik des Abwartens zu machen oder auf Politik zu verzichten. ({10}) Von der Gesinnung, die aus diesen Reden gesprochen hat, unterscheidet sich in der Tat das, was Herr Dr. Schröder hier vorgetragen hat. ({11}) ---- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie können Störungsversuche machen, solange Sie wollen; ich stehe hier am Lautsprecher und kann in jedem Fall lauter sprechen. ({12}) Ich möchte ein paar Worte zu der Position von Dr. Schröder sagen. ({13}) Herr Dr. Schröder hat im Gegensatz zu den Sprechern der CSU in seiner bemerkenswerten Rede ein erfolgreiches politisches Agieren durchaus für möglich gehalten. Das unterscheidet ihn wesentlich von seinen Kollegen. Ich werde nachher bei einem anderen Punkt dem noch etwas hinzufügen müssen, was der Kollege Schmidt soeben schon unter Hinweis auf die Rede von Herrn Dr. Schröder im Jahre 1965 zur DDR gesagt hat. Aber ich glaube, es gibt einen weiteren Punkt, der die Szenerie erhellt und uns klargemacht hat, warum es so schwer ist, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Argumentation mit den leitenden Herren der Opposition zu finden. Dieser Punkt ist meiner Ansicht nach in einer Zwischenfrage von Herrn Kollegen Dr. Kiesinger gestern deutlich geworden. Der Kollege Kiesinger hat nämlich in einer Zwischenfrage an den Bundeskanzler ein Verständnis von Außenpolitik und Demokratie entwickelt, das im nachhinein manches Zaudern während der Zeit erklärt, in der er selbst Bundeskanzler war. Er hat da bei - deswegen muß ich das hier sagen eine Ansicht über wichtige westliche Verbündete verbreitet, die den Tatsachen eindeutig widerspricht. Er hat gesagt, es sei im Westen doch wohl so, daß man einer bestimmten Politik von Regierungsseite heute zustimmen müsse oder auch zustimmen wolle und werde, weil gewisse Volksstimmungen das nun einmal erforderten. Das heißt doch mit anderen Worten, er bezichtigt die Regierungen unserer Verbündeten, sie handelten sozusagen wider die Interessen des gesamten Westens, weil sie bestimmten Leuten in ihren Parlamenten, die die Volksstimmung verkörpern, in unzulässiger Weise nachgäben. Das ist ein Parlamentarischer Staatssekretär Moersch schwerer Vorwurf gegen unsere Verbündeten, der in dieser Darlegung des Kollegen Kiesinger steckt. ({14}) Er ist deswegen so schwerwiegend, weil er überhaupt nicht stimmt, denn das genaue Gegenteil ist richtig. Der amerikanische Präsident hat gegen eine weitverbreitete Volksstimmung die Präsenz der amerikanischen Truppen in Europa jahrelang bestätigt und gegen heftigste Attacken in seinem eigenen Kongreß durchgehalten. Dafür müssen wir ihm danken, und wir sollten ihn nicht unfair angreifen. ({15}) Zweiter Punkt. Premierminister Heath hat einer zweifellos weitverbreiteten Volksstimmung nicht nachgegeben, sondern er hat das getan, was den außenpolitischen Interessen Großbritanniens entsprach: er hat den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft gegen die anfängliche Volksstimmung durchgesetzt, und dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet. ({16}) Meine Damen und Herren, ich hatte 1966/67 die Hoffnung, daß es mit der Gründung der Großen Koalition möglich sein werde, etwas konsequent durchzuführen, was sich außenpolitisch mit dem Jahre 1961 angebahnt hatte; denn 1961 hatte die Koalition von CDU und FDP bei der Regierungsbildung durch die Berufung von Dr. Schröder zum Außenminister den ersten Schritt zu einer aktiven Ostpolitik getan. Das ist ihr Verdienst, und das kann gar nicht geschmälert werden. ({17}) - Herr Stücklen, ich würde Ihnen empfehlen: wenn Sie Zwischenrufe machen, sollten Sie das etwas geistvoller tun. Dann könnte man besser darauf antworten. ({18}) - Das ist auch wieder wahr. Ich komme gleich noch auf ein Thema, das Sie alle in diesem Zusammenhang heute sehr bewegt hat, auf China. Wir sind doch alle Irrtümern unterlegen gewesen, was unsere Möglichkeiten in der Ostpolitik betrifft. Ich erinnere mich sehr wohl - Herr Dr. Schröder, Sie werden sich vielleicht auch daran erinnern , daß wir etwa vor neun Jahren in einer Sitzung der FDP-Fraktion ein Gespräch hatten, an dem sich auch mein Freund Schollwer und Thomas Dehler beteiligt haben und in dem Sie Ihre Politik zur Gründung der Handelsmission darlegten. Nach langen Diskussionen haben wir Ihnen entgegnet, wir fürchteten, daß diese Politik nicht konsequent genug betrieben sei oder betrieben werden könne, weil in Ihrem Konzept der Faktor DDR gefehlt hat. Ich bestreite nicht, daß es damals dafür Überlegungen gab, diesen Faktor DDR auszulassen. Aber eines haben wir Ihnen damals schon gesagt: daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Interessen dieser Staaten, mit denen wir bessere Beziehungen haben wollten, es nicht zulassen würden, das Problem DDR einfach auszuklammern. Zwei Jahre später haben Sie in Ihrer Rede 'in Düsseldorf auch diesen Hinweis, meiner Ansicht nach in einer sehr realistischen Weise, allerdings in einer Formulierung, die nicht ohne weiteres für alle verständlich war - das sollte sie wohl damals auch nicht -, wiederaufgenommen. Diese Politik haben Sie aber nachher nicht mehr durchsetzen können. Ich wundere mich heute, daß Sie in Ihrer Rede von dieser Position, die sich schon 1965 angedeutet hatte, nämlich von einer realistischen Einstellung zur Tatsache des Bestehens der DDR, wieder abgegangen sind. Das scheint mir eine Art Rückmarsch und nicht eine Vorwärtsentwicklung zu sein. Aber es ist noch ein anderer Punkt dabei - deswegen muß man das erwähnen -, der zu dieser veränderten Stellung der DDR gerade in diesen Jahren geführt hat, in denen Sie, Herr Dr. Schröder, Außenminister waren. Das ist der Punkt, der von Ihren Freunden nach Al-fresco-Art mit dem Stichwort „Fernostpolitik" umschrieben wird. Was ist denn wirklich an Einflüssen aus diesem Bereich auf die deutsche Politik wirksam geworden? Doch feststellbar nur eines: In dem ideologischen Wettbewerb und Streit zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China um die Führungsposition in der kommunistischen Welt hat der Stellenwert der damals sehr umworbenen DDR erheblich zugenommen, und die Chance, man könne sozusagen ohne die DDR in einem Gespräch und in Verhandlungen mit Moskau ganz bestimmte bilaterale Probleme und deutsche Probleme lösen oder ihre Lösung in die Wege leiten, ist gerade wegen des ideologischen Konflikts oder des Wettbewerbs zwischen diesen beiden Führungsmächten dort immer geringer geworden. Das ist die wirkliche Beziehung der Chinapolitik zur deutschen Politik, eine ganz andere Beziehung, als sie hier an Stammtischen meistens dargeboten wird. ({19}) Ich möchte hinzufügen, daß es gerade nach der tschechischen Krise in allen Lagern die Frage gegeben hat, ob man diese Politik der Öffnung nach Osten fortsetzen könne und weiter den Versuch machen könne, einen Ausgleich zu schaffen. Die Frage ist hier im Bundestag damals von den jetzigen Koalitionspartnern, wie Sie wissen, verschieden beantwortet worden. Aber im Gegensatz zur CDU haben die Sozialdemokraten daraus relativ rasch die Lehre gezogen, daß es sich bei der Beurteilung im Jahre 1968, was die künftige Ostpolitik und das Verhältnis zur DDR betrifft, um eine Fehlbeurteilung gehandelt hat. Deshalb hat diese Bundesregierung Brandt-Scheel in ihrer Regierungserklärung von den beiden Staaten in Deutschland gesprochen, um deutlich zu machen, daß diese Fehleinschätzung der Lage den deutschen Interessen auf die Dauer keineswegs dienen kann, sondern für die Menschen in Deutschland insgesamt nur Schaden anrichten kann. ({20}) Parlamentarischer Staatssekretär Moersch Herr Dr. Schröder, wenn man von der Kontinuität der Deutschlandpolitik in der Bundesrepublik Deutschland spricht, dann muß ich Sie als Sprecher der CDU in diesem Zusammenhang fragen, welche Kontinuität Sie selbst für die CDU dabei im Auge hatten. Hatten Sie die Kontinuität der Politik Konrad Adenauers Anfang der 50er Jahre oder die Kontinuität der Politik Jakob Kaisers im Auge? Das ist ja wohl ein bedeutender Unterschied gewesen. Oder ist etwa das gemeint gewesen - auch das muß an dieser Stelle gesagt werden - was Heinrich von Brentano, übrigens zusammen mit meinem Freund Thomas Dehler, im Jahre 1955 bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Moskau zum Ausdruck gebracht hat? Er war - und Professor Schmid mag es uns hier als Zeuge noch einmal deutlich machen - sehr skeptisch, ob die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und der Briefwechsel mit Bulganin darüber nicht am Ende die Zementierung eines Zustandes bedeuteten, den man ja gerade mit dieser Politik überwinden wollte. Er hat jedenfalls lange davor gewarnt, weil er sagte: Man sollte nicht ohne eine eindeutige Festlegung über die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen diese Beziehungen aufnehmen, sondern lieber das Risiko in Kauf nehmen, diese Kriegsgefangenen jetzt in Moskau nicht zu bekommen. So Heinrich von Brentano und so Thomas Dehler in Moskau in langen, schwierigen und schrecklichen Gesprächen für die Betroffenen; denn diese Alternative ist eine ungeheuerliche Alternative für alle Beteiligten gewesen. Schließlich hat sich unter dem Eindruck dieser menschlichen Probleme das scharfe politische Kalkül eines Heinrich von Brentano nicht durchsetzen können. Er selbst hat nachgegeben wie alle anderen. Dafür gibt es verständliche Gründe; das darf also kein Vorwurf sein. Aber es zeigt doch, daß die Mitglieder der CDU, die heute von der Kontinuität dieser Deutschlandpolitik sprechen, gebeten werden müssen, genau zu sagen, bei wem sie in dieser Kontinuität heute anknüpfen wollen, welches ihre Ausgangspositionen sind und ob es nicht redlich ist, zu sagen, daß im Jahre 1955 schon etwas geschehen ist, was mit diesen Verträgen heute beschrieben wird, aber durch sie überhaupt nicht mehr hätte geändert werden können. Das ist doch die Realität, vor der wir stehen. ({21}) Ich will jetzt über die falschen Erwartungen für die deutsche Frage beim Abschluß der Westverträge nichts weiter sagen. Das würde die Zeit sicherlich zu sehr in Anspruch nehmen. Aber ich will doch noch einen Hinweis geben, der gerade für mich als Freien Demokraten von großer Bedeutung ist. Der Hinweis stellt eine Art Kontrast dar zu der Tonlage und dem Inhalt dessen, was der Vorsitzende der CSU gesagt hat. Karl Georg Pfleiderer hat im Bundestag wiederholt, zuerst im Jahre 1952 davor gewarnt, die östlichen Staaten, auch die kommunistisch regierten Staaten, einfach zu ignorieren. Er hat vor dieser Fehleinschätzung der politischen Lage eines Landes mitten in Europa gewarnt. Wenn hier der Zuruf kommt, das sei eine alte FDP-Platte, dann muß ich sagen - ({22}) - Wissen Sie, wir kennen es sehr wohl von Ihnen, daß tote Liberale für Sie gute Liberale sind. Als Reinhold Maier noch lebte, haben Ihre Freunde ihn einen Linksextremisten in diesem Land genannt, Herr Dr. Jenninger; das will ich Ihnen hier mal sagen. ({23}) Diese Überlegungen sind heute so neu und so gut und so beherzigenswert wie damals. Aber sie haben ja, wie gesagt, überhaupt keine Wirkung auf bestimmte Mitglieder der Opposition gehabt, wie wir in diesen beiden Tagen gehört haben. Denn Pfleiderer hat damals gesagt - ich muß es hier einmal zitieren -: Wer im Prozeß der westöstlichen Auseinandersetzung jenseits des guten oder bösen Willens und jenseits der Beweggründe des politischen Tuns ein Sicherheitsbedürfnis nicht auch der Sowjetunion anerkennt, weicht der Wirklichkeit aus und wird zu keinem Erfolg gelangen. Für das sowjetische Sicherheitsbedürfnis ist die Haltung Deutschlands von ausschlaggebender Bedeutung. Das sowjetische Sicherheitsbedürfnis ist somit ein Aktivposten in der deutschen Politik. Ich wünschte, Herr Strauß hätte das jemals in seinem Leben verstanden, was das hier heißt und was Pfleiderer schon vor 20 Jahren gesagt hat. ({24}) Meine Damen und Herren, Dr. -Schröder hat einen Satz gesagt, den ich hier zum Schluß noch einmal aufgreifen möchte. Er hat gesagt, man brauche Mut, Festigkeit und Entschlossenheit für eine solche Politik. Das ist eine sehr zutreffende Umschreibung auch für das, was uns jetzt in der politischen Entwicklung bevorsteht; denn diese Verträge sind ja am Ende noch nicht der Inhalt dieser Politik, sondern sie sollen einen Ausgangspunkt für eine vernünftige Politik, eine Politik der Entspannung und der Zusammenarbeit, darstellen. Wenn hier von dem Sprecher der CSU die ungeheurlichen Bedrohungen, die von einer Sicherheitskonferenz in Europa ausgehen, an die Wand gemalt worden sind, dann ist das eigentlich nur durch zwei Dinge zu erklären, erstens durch eine allgemeine Nichtinformiertheit über die westliche Zusammenarbeit und ihr Funktionieren und die Vorstellung des Westens, und zweitens dadurch, daß sich offensichtlich Herr Strauß nicht denken kann, daß die Bundesregierung und ihre Verbündeten sehr wohl diese Sicherheitskonferenz sorgfältig vorbereiten.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Nein, ich möchte das nicht tun, ich möchte das eben zu Ende bringen. Gestatten Sie das bitte! Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Ablauf einer Sicherheitskonferenz ja nicht darin bestehen wird und auch nicht bestehen kann, daß hier der Westen sich an einen Verhandlungstisch begibt und staunend zur Kenntnis nimmt, was die andere Seite sich ausgedacht hat, sondern daß selbstverständlich bei einer solchen Konferenz der gesamte Westen und alle unsere befreundeten Staaten sorgfältig ihre Vorstellungen von europäischer Zusammenarbeit und Sicherheit vorher miteinander besprochen haben und daß sie das zum Thema und zum Vorschlag dieser Konferenz machen werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird diese Konferenz ein Ergebnis haben, das wir als Kompromiß mit gutem Gewissen akzeptieren können, oder sie wird kein Ergebnis haben - das wäre dann das Ende dieser Konferenz. Aber daß man sich schon deswegen, weil man offensichtlich den politischen Kontrahenten für grundlegend überlegen hält - wie Herr Strauß es hier dargestellt hat -, überhaupt nicht an den Konferenztisch begibt, ist das - das sage ich noch einmal - Verzicht auf Politik, das ist abendländischer Fatalismus, auch wenn er sich in starken Worten verbirgt. ({0}) Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, was Helmut Schmidt hier noch einmal gesagt hat, daß es darum geht, die Demokratie bei uns zu stärken, ({1}) um diesem Wettbewerb, der jetzt beginnt und beginnen wird, gewachsen zu sein. Das ist eine Frage des Selbstvertrauens und des Demokratieverständnisses in diesem Lande. ({2}) Wenn ich aber dagegen sehe, wie in einem dieser Bundesländer heute geglaubt wird, daß man die Kommandogewalt des Staates oder der dortigen Staats- und Regierungspartei durch eine Veränderung des Rundfunkgesetzes stärken muß, dann allerdings wird mir angst vor einem Wettbewerb, ({3}) den wir in Freiheit bestehen wollen, den wir in Freiheit bestehen können und bestehen müssen. Meine Damen und Herren, das, was sich jetzt an Politik für die 70er und 80er Jahre entwickelt, erfordert in diesem Lande keine Antikommunisten, sondern Demokraten, überzeugte, standhafte Demokraten. ({4}) Wir brauchen keine Politiker, die Schwierigkeiten dadurch ausweichen wollen, daß sie glauben, man könne neue Kommandozentralen bilden. Wer den Wettbewerb mit Staaten und Ordnungen aufnimmt, die obrigkeitsstaatlich konstruiert sind, der wird das mit obrigkeitsstaatlichen Methoden auf die Dauer nicht erfolgreich tun können, der wird die Freiheit zur Richtschnur seines Handelns machen müssen. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Barzel. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Antwort auf verschiedene Dinge des Tages wird sicher morgen im Laufe des Tages noch einmal auch für die Opposition möglich sein. Ich möchte gerne jetzt nur das Wenige sagen, wofür ich zwischendurch ums Wort gebeten hatte. Zunächst, meine Damen und Herren, trotz allem, was anschließend zu sagen sein wird, freut sich, glaube ich, das ganze Haus, daß der Kollege Helmut Schmidt wieder gesund ist und daß er eine solche Rede - ({0}) Es war sicherlich eine Rede, wie wir sie von ihm kennen. Die letzte Rede gleicher temperamentvoller Engagements, an die ich mich erinnere, die er hier von dieser Stelle gehalten hat, ist einige Jahre her. Er hat damals mit demselben Engagement und mit derselben Gekonntheit, die ihm hier in diesem Hause keiner nachmacht, folgendes gesagt. ({1}) - Nein, das muß man doch anerkennen, meine Damen und meine Herren! ({2}) Er hat damals in der gleichen Form, die ich soeben hier mit Ihrer Billigung gelobt habe, eine Rede gehalten mit dem gleichen Engagement, am 22. März 1958, eine Rede, die er selber auch vor kurzem noch für so wichtig und bedeutend hielt, daß er sie in seinem eigenen Buch auch herausgab. Damals hat er geredet anläßlich der Frage der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Es ist 14 Jahre her. Er hat da gesagt - ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin -: Wir sagen dem deutschen Volke in voller, ernster Überzeugung, daß der Entschluß, die beiden Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, in der Geschichte einmal genauso schwerwiegend und verhängnisvoll angesehen werden wird, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war. ({3}) - Meine Damen und Herren, worüber klatschen Sie denn jetzt? Haben Sie denn etwa seit dem Beschluß über die atomare Bewaffnung, gegen die Sie so zu Felde gezogen sind, das erlebt? War das ein „Ermächtigungsgesetz"? Hat das zu „Hitler" geführt? Oder haben wir nicht 14 Jahre des Friedens und der Demokratie erlebt? Verwaltet nicht dieser Minister heute das, was er damals hier bekämpft hat? ({4}) Von demselben ernsthaften Gehalt in der Sache ist das, was der Kollege Schmidt hier soeben gesagt hat. Mit einer Ausnahme: Er hat eingeräumt - was der Bundeskanzler bestreitet -, daß die Westmächte sich gefreut haben, durch dieses Vertragswerk „etwas losgeworden" zu sein. Also kann der Bundeskanzler nicht recht haben, wenn er sagt, dieses Vertragswerk gebe nichts weg. ({5}) Das ist hier bestätigt, und für dieses Wort, meine Damen und Herren, auf das wir morgen im einzelnen zurückkommen werden, danke ich. Dritter Punkt: Herr Kollege Schmidt, Sie haben in dem Zusammenhang von den USA und von Berlin gesprochen. Meine Damen und Herren, Sie sollten hier doch einräumen - weil dies die Position in Washington ist -, daß das Abkommen über Berlin, wie wir gestern sagten, aus der Sicht der USA eine Sache der Vier Mächte ist und daß davon getrennt separat - die Verträge zu sehen seien, über die hier abgestimmt wird. Das ist die Position in Washington und keine andere. Sie werden kein Dokument beibringen, das Ihnen das Gegenteil sagt. (

Willy Brandt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11000246

Dutzende Dokumente!) Das sollte auch der Herr Bundesminister der Verteidigung hier nicht anbringen. Vierter Punkt: Herr Kollege Schmidt, ich hätte es begrüßt, wenn Sie bei dieser Debatte in einer solch langen Rede die „Lage der Nation" auch unter dem verteidigungspolitischen Aspekt erörtert hätten. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie - vielleicht werden Sie Gelegenheit haben, das morgen noch zu tun - doch etwas gesagt hätten zu einer Frage, die uns bewegt und die wir aufgeworfen haben, nämlich zu der Erklärung von Herrn Honecker, aus der ich -- der Zeit wegen - nur einen Satz zitiere: Der Frieden ist also sicherer geworden, weil der Sozialismus an Stärke gewonnen hat. Mit einem Wort: Das internationale Kräfteverhältnis hat sich weiter zu unseren Gunsten verändert. So der Satz von Honecker. ({0}) Zu dieser Behauptung, Herr Kollege Schmidt, die doch hier eine Rolle spielt, hätten Sie das Wort nehmen sollen. Sie hätten dartun sollen, wie sich dieser Vertrag im militärischen Kräftegewicht auswirkt, welche Kraft dieses Vertragswerk im politischen Bereich für die Sowjetunion frei macht, weil Positionen, um die sie bisher gekämpft hat, nun mit deutscher Unterschrift bestätigt werden. Das ist die militärpolitische Frage, auf die wir hier von Ihnen eine Antwort erwartet hätten; -- wir haben sie leider nicht bekommen. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Bundesminister Schmidt.

Helmut Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002007

Frau Präsidentin, ich habe Ihnen versprochen, mit sehr wenigen Sätzen auszukommen. Meine Damen und Herren, daran muß ich mich also halten. Wenn der Oppositionsführer Herrn Honecker zum Kronzeugen für die Lagebeurteilung macht, möchte ich ihn daran erinnern, daß Herr Honecker z. B. die CDU für eine kriegshetzerische Partei erklärt hat. Das würde ich genausowenig wichtig nehmen. ({0}) Herr Honecker ist sicherlich nicht in einer einfachen Lage. ({1}) -- Der Beifall bei der SPD, lieber Kollege Herr Schulze-Vorberg, war durchaus gerechtfertigt, weil es sich um eine sehr witzige Replik gehandelt hat. ({2}) Aber ich möchte mich bei Ihnen, Herr Dr. Barzel, für die liebenswürdigen Komplimente am Anfang bedanken. Außerdem habe ich natürlich Verständnis, daß Sie die Bilanz des heutigen Abends nach Herrn Strauß ein bißchen aufbessern wollten. ({3}) Was Sie aus jenem Buch zitieren oder aus jener Rede, die ich natürlich habe wieder abdrucken lassen, weil ich zu den Sachen stehe, die ich hier im Bundestag gesagte habe, ist aus meiner heutigen Sicht für die damalige Situation absolut angemessen und richtig gewesen. Vielleicht war das Wort vom Ermächtigungsgesetz ein bißchen scharf. Nur, Sie übersehen bei Ihrer Replik, Herr Barzel, daß wir nach dem Jahre 1958 tatsächlich nicht nuklear bewaffnet worden sind. ({4}) Ich habe nun jene Rede nicht vor mir liegen. Ich kann nicht aus dem Gedächtnis sagen, in welchem Zusammenhang das alles steht, was Herr Barzel zitiert hat. Aber ich erinnere eines gewiß. Der Schluß dieser Rede, Herr Barzel, lautete: Legen Sie endlich ihren deutschnationalen Größenwahn ab. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Darf ich fragen, ob es kurz ist? --- Dann will ich Ihnen noch das Wort geben. Das Wort hat Herr Wörner.

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit aller wortreichen Erklärung, Herr Bundesverteidigungsminister, räumen Sie eine grundlegende Tatsache nicht aus: daß Sie die Position, die Sie jetzt selber zur Grundlage Ihrer Politik erklären, die Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnis und die militärischen Akte, die daraus folgten und die standen 1958 zur Diskussion -, abgelehnt haben und damit in Gegensatz zu Ihrer jetzigen Erklärung stehen. ({0}) Das zweite die Zeit verbietet mir, näher darauf einzugehen -: ({1}) Sie haben sich über das Zitat Honeckers lustig gemacht. Nur, eines haben Sie dabei unterschlagen: daß eben jener Mann darüber befindet, was Entspannung in Deutschland wirklich sein kann und sein wird. ({2}) Wenn dieser Mann Ihnen sagt: Unser Feindbild stimmt, und wenn dieser Mann in der gleichen Rede jeden Versuch einer Annäherung scharf zurückweist, dann begründet das unsere Zweifel, die Sie heute wegzuwischen versuchten, ob Ihre Politik zu mehr Freiheit und mehr Menschlichkeit in Deutschland führt, weil es dieser Machthaber eben nicht will. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wir stehen für heute am Ende. Ich berufe das Haus für morgen, Freitag, 9.00 Uhr, zur Fortsetzung der Beratung ein. Die Sitzung ist geschlossen.