Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Präsident
des Deutschen Bundestages
16. Dezember 1966
An den
Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei Herrn Bundesminister a. D. Dr. Erich Mende
53 Bonn
Sehr geehrter Herr Kollege!
Zu meinem Bedauern sehe ich aus dem Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 8. November 1966, daß nach der Verlesung des Briefes des Herrn Bundeskanzlers übersehen wurde, den damals aus der Bundesregierung ausgeschiedenen Ministern den üblichen Dank des Hauses auszusprechen. Ich möchte das hiermit ausdrücklich nachholen und spreche deshalb Ihnen in Ihrer Eigenschaft als ehemaligem Stellvertreter des Bundeskanzlers und Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herrn Dr. Rolf Dahlgrün als ehemaligem Bundesminister der Finanzen, Herrn Dr. Ewald Bucher als ehemaligem Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau und Herrn Walter Scheel als ehemaligem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit den Dank des Hauses aus.
Mit kollegialer Begrüßung
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 15. Dezember 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hubert, Frau Klee, Dr. Hellige und Genossen betr. europäischen Kodex für Soziale Sicherheit - Drucksache V/1173 -beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/1211 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat am 13. Dezember 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Stingl, Benda, Hahn ({0}), Frau Blohm, Frau Schroeder ({1}) und Genossen betr. Betrugs- und Wirtschaftskriminalität - Drucksache V/1065 -beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/1214 verteilt.
Der Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 14. Dezember 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gewandt, Burgemeister, Porten, Riedel ({2}), Wieninger, Schlager und Genossen betr. Förderung des Leistungswettbewerbs - Drucksache V/1142 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/1238 verteilt.
Zu den in der Fragestunde der 81. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. Dezember 1966 gestellten Fragen des Abgeordneten Dr. Giulini, Drucksache V/1217 Nrn. IV/ 2, IV /3 und IV/ 4 *), ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers Dr. h. c. Strauß vom 13. Dezember 1966 eingegangen:
Zu 1. und 2.:
Sie denken bei Ihren Fragen sicherlich an das früher unter der Bezeichnung Märzfieber bekanntgewordene Ausgabegebaren einiger Behörden im letzten Monat des Rechnungsjahres. Ich gebe zu, daß man auch heute - nach Umstellung des Rechnungsjahres auf das Kalenderjahr - noch gelegentlich von einem „Dezemberfieber" sprechen kann. Die Bundesregierung hat jedoch ausreichende Möglichkeiten, um Mißbräuchen in dieser Hinsicht vorzubeugen. Auf Grund der Ermächtigungen in § 26 Abs. 5 RHO in Verbindung mit §§ 47 bis 50 RWB hat der Bundesfinanzminister die Möglichkeit, im Rahmen der Betriebsmittelbewirtschaftung zu verhindern, daß Behörden die für ein Rechnungsjahr veranschlagten Mittel nur deshalb voll ausschöpfen, um einen entsprechenden Bedarf auch für das folgende Rechnungsjahr nachweisen zu können. In diesem Jahr ist von der eben genannten Möglichkeit schon wegen der Kassenlage in besonders hohem Maße Gebrauch gemacht worden.
Ein verstärkter Mittelabfluß zum Ende des Rechnungsjahres bedeutet aber nicht ohne weiteres und nicht immer, daß die Ressorts unwirtschaftliche Ausgaben vornehmen. Dahinter steht in großem Umfang das Bestreben der Dienststellen, abgeschlossene Vorhaben vor Jahresende auch rechnungsmäßig abzuwickeln sowie der berechtigte Wunsch der Wirtschaft, rechtzeitig vor Jahresende zu ihrem Geld zu kommen. In geringem Umfang ist das auch eine Folge der verspäteten Verabschiedung des Haushaltsplans sowie einer vorsichtigen Wirtschaftsführung einzelner Behörden, die im Laufe des Jahres noch Ausgaben zurückhalten, die sie erst zum Ende des Rechnungsjahres tätigen. Bei der Vielzahl der Bundesbehörden hat die Bundesregierung nicht immer die Möglichkeit, derartige Ausgaben zu verhindern. Dabei handelt es sich nach bisherigen Erfahrungen jedoch nicht um Beträge van Bedeutung.
Da die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Bundesorgane und Bundesverwaltungen laufend auch von dem Bundesrechnungshof überwacht wird, ist die Gewähr dafür gegeben, daß Verstöße gegen haushaltsrechtliche Bestimmungen in vertretbaren Grenzen bleiben. Soweit Verstöße gegen die Grundsätze einer wirtschaftlichen Ausgabengebarung festzustellen sind, werden die notwendigen Folgerungen gezogen.
Zu 3.:
Die Ansätze für ein Rechnungsjahr werden entsprechend dem jeweiligen echten Bedarf in den Haushaltsplan eingesetzt. Der Bundesminister der Finanzen verwendet bei der Bedarfsprüfung der Anforderungen zum Bundeshaushaltsplan für jedes Rechnungsjahr die neuesten Erkenntnisse. Dabei findet selbstverständlich neben anderen Faktoren auch die Entwicklung der IstAusgaben in den vorangegangenen Rechnungsjahren Berücksichtigung.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes ({3}). - Das Haus ist damit einverstanden.
*) Siehe 81. Sitzung Seite 3671 C
Vizepräsident Frau Dr. Probst
Ich schlage vor, diesen Punkt sofort zu behandeln, und rufe damit auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes ({4})
a) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) Zweiter Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
- Drucksachen V/1231, zu V/1231 -Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Stecker Wünschen die Herren Berichterstatter das Wort?
({6})
- Auf mündliche Berichterstattung wird verzichtet.
Ich eröffne die Beratung. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Lesung. Wer den Artikeln 1, 2 und 3 sowie der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen einige Stimmen bei mehreren Enthaltungen in zweiter Lesung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. - Das Wort zu einer Erklärung hat Herr Dr. Stecker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der CDU/CSU erkläre ich folgendes:
Mit dem zur Beratung anstehenden Gesetz liegt dem Hohen Hause ein wesentliches, bisher noch ausstehendes Teilstück zum Steueränderungsgesetz 1966 vor.
Die Tabaksteuer wird in den verschiedenen Bereichen so erhöht, daß die zur Zeit billigste Zigarette statt 81/3 Pf künftig 91/11 Pf kosten wird - die bisherige 12 er Packung wird also nur noch 11 Zigaretten enthalten - und der Preis für die 83/4-Pf-Zigarette auf 10 Pf angehoben wird. Die Zigarre bleibt, da der Verbrauch im Abnehmen begriffen ist, von einer Mehrbelastung verschont bis auf den 10-PfZigarillo, der in einem gewissen Substitutionswettbewerb zur Zigarette steht. Das gleiche gilt mutatis mutandis für den steuerbegünstigten Feinschnitt.
Der Finanzausschuß ist damit von der Regierungsvorlage wesentlich abgewichen. Er hat die Steuersätze niedriger angesetzt und elastischer den Verbrauchsgewohnheiten und den Erfordernissen des Marktes angepaßt. Dadurch ist die technische Umstellung für die Industrie erleichtert und das Risiko der Umstellung auch für den Fiskus wesentlich geringer geworden. Die erleichterte Umstellung ermöglicht die Einführung der neuen Steuersätze bereits zum 1. März 1967 statt zum 1. Juli, wie es die Regierungsvorlage vorsah, so daß mit dem vollen veranschlagten Mehrsteueraufkommen von 500 Millionen DM schon im Jahre 1967 gerechnet werden kann. Auch das erwartete nachhaltige Mehraufkommen von jährlich etwa 1 Milliarde DM ist mit der vom ,Finanzausschuß gewählten Gestaltung des Steuersatzes gewährleistet, und zwar auch dort mit größerer Sicherheit, als es die ursprüngliche Vorlage erwarten ließ.
So glaube ich sagen zu dürfen, daß wir ein technisch, wirtschaftlich und fiskalisch abgerundetes Gesetz vorgelegt haben.
Lassen Sie mich nun noch ein grundsätzliches Wort zu der vorgesehenen Steuerhöhung sagen. Hier ist schon zu oft erklärt worden, als daß ich es , noch breit ausführen müßte, daß niemand in diesem Hause voreilig oder gar leichtfertig Steuererhöhungen das Wort redet. Aber wenn die Etatschwierigkeiten so groß sind wie wir es gerade in den letzten Tagen verschiedentlich gehört haben, und wenn die Erfüllung wichtiger Staatsaufgaben gefährdet ist, erscheint die Erhöhung der Verbrauchsteuer auf ein Genußmittel wie die Zigarette noch am ehesten gerechtfertigt. Das gilt ganz besonders deshalb, weil die Tabakwaren in Deutschland in den letzten Jahren eine Insel der Preisstabilität gewesen sind. Während der Preisindex in den Jahren 1954 bis 1965 allgemein um 23,7 °/o gestiegen ist, hat der Preisindex für Tabakwaren im selben Zeitraum um 2,4 °/o abgenommen. Damit stehen wir in Europa völlig allein. In allen anderen Ländern ist der Preis für Tabakwaren erheblich gestiegen, in den meisten Ländern stärker als der allgemeine Preisindex.
Ich glaube deshalb, daß sich gerade diese Steuererhöhung am wenigsten eignet, ihr ein grundsätzliches quod non entgegenzusetzen. Die CDU/CSU- Fraktion sieht in ihr vielmehr einen integrierenden Bestandteil eines ausgewogenen Steuersystems.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Zoglmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tabaksteuererhöhung geistert seit Jahren nicht nur durch dieses Haus, sondern eigentlich noch mehr durch das Palais Schaumburg und natürlich auch durch das Bundesfinanzministerium. Kein Wunder; denn es handelt sich bei der Tabaksteuer um ein Gesamtaufkommen von 5 Milliarden DM, und der Blick auf diese 5 Milliarden DM macht natürlich sehr begehrlich, weil jede Überlegung, diese Steuer zu erhöhen, sofort mit Wunschvorstellungen von Hunderten, vielleicht sogar von Tausenden von Millionen verbunden ist. Daher sind uns in all den vergangenen Jahren immer wieder solche Wünsche begegnet. Wir sind ihnen stets entgegengetreten, weil wir meinten, dafür gute Gründe zu haben.
Zoglmann
Die Vorstellungen, diese Steuer erhöhen zu können, klangen auch jetzt wieder bei dem Kollegen Stecker an, und zwar in der Richtung, daß er sagte, diese Steuer könne man am einfachsten erhöhen, weil die Tabakwaren in den Ländern um uns herum sowieso teurer geworden seien und wir etwas günstiger als die anderen Länder lägen, und außerdem merke es der Verbraucher kaum.
Hinzu kommen die Überlegungen missionarischer Art. Es gibt Leute, die meinen, man müsse den Tabakwarenkonsum etwas teurer machen, damit weniger geraucht werde. Allerdings bleibt dann offen, wie sich damit die Vorstellung verbinden läßt, daß man zugleich mehr Steuern einnimmt. Die beiden Dinge sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Gleichzeitig missionarische Vorstellungen realisieren, d. h. den Konsum verkleinern zu wollen, und den Steueranfall erhöhen sind Dinge, die wirklich nicht unter einen Hut zu bringen sind.
Meine Damen und Herren, der Hinweis darauf, daß wir hier in einer ganz besonders günstigen Lage sind - Herr Kollege Stecker hat das gesagt -, muß natürlich durch eine Aussage ergänzt werden, die dem Verbraucher im allgemeinen nicht bekannt ist, aber von dieser Stelle aus einmal deutlich gemacht werden sollte. Wir haben bereits bisher bei der Konsumzigarette mehr als 50 % des Verkaufspreises weggesteuert. Wir liegen nunmehr bei fast 60 % Versteuerung eines Produktes, eine Situation, von der Sie mir doch zugeben werden, daß sie sehr, sehr ungewöhnlich ist und eigentlich keine wünschbare Situation.
Nun kommt noch ein Weiteres hinzu: Bei dieser Steuer betrug der Zuwachs jährlich rund 300 Millionen DM durch den erhöhten Konsum. Wer hier etwas tut, wer hier an der Schraube dreht, muß sich darüber im klaren sein, daß er den normalen Zuwachs, der 300 Millionen DM im Jahr beträgt, gefährdet und daß möglicherweise eine jetzt vorgenommene Steuererhöhung am Ende sogar das Gegenteil dessen bewirkt, was sich der eine oder andere davon erwartet.
Der Regierungsentwurf, der uns im Ausschuß vorgelegen hat, war ganz und gar untauglich, weil er zu schnell gemacht werden mußte. Die Verwaltung wurde vor eine Aufgabe gestellt, mit der sie einfach nicht fertig werden konnte, weil man ihr keine Zeit ließ, die Dinge sinnvoll durchzudenken und entsprechend Vorschläge zu machen. Der Finanzausschuß hat daher den Regierungsentwurf nicht zur Grundlage dessen gemacht, was Ihnen heute zur Verabschiedung vorliegt, sondern hat gemeinsam mit der Zigarettenindustrie einen neuen Entwurf erstellt, der die vorgesehene Anhebung der Steuer auf ursprünglich 61 DM pro 1000 auf nunmehr 54 DM pro 1000 zurückschraubt. Leider, meine Damen und Herren, war es nicht möglich, eine entsprechende Ausarbeitung im Einvernehmen mit dem Verband der Zigarrenindustrie und dem Verband der Rauchtabakindustrie zu erstellen; aber hier ist es im Ausschuß gelungen, die Steuererhöhungen wenigstens im allgemeinen von der Zigarrenindustrie, die ja ohnehin notleidend ist, abzuwenden und auch beim Rauchtabak - mit einem kleinen Schönheitsfehler - die Dinge am Ende so zu belassen, wie sie bisher waren. Die Mehrerwartung beträgt für 1967 507 Millionen DM, für 1968 930 Millionen DM. Wir werden sehen, ob sich diese Erwartung erfüllt. Die FDP hat im Ausschuß Änderungsanträge gestellt; sie ist unterlegen. Sie lehnt den Gesetzentwurf über die Erhöhung der Tabaksteuer auch in dritter Lesung ab, und zwar deshalb, weil sie Verbrauchsteuererhöhungen als unsozial ansieht. Sie treffen den kleinen Mann härter als den Mann, der über ein großes Einkommen verfügt. Wir halten das für ein untaugliches Mittel, und eine Koalition, die in ihrem Etikett gern das Wort sozial führt, sollte es sich besonders angelegen sein lassen, keine unsozialen Verbrauchsteuererhöhungen - und alle Verbrauchsteuererhöhungen haben dieses unsoziale Etikett - vorzunehmen.
({0})
Darüber hinaus lehnen wir diese Steuererhöhung deshalb ab, weil uns Steuererhöhungen insgesamt untauglich erscheinen, die Probleme, vor denen der Haushalt der Bundesregierung in diesem und im nächsten Jahr steht, zu lösen. Der Bundesfinanzminister wird weder mit dieser Verbrauchsteuererhöhung noch mit der ins Auge gefaßten Umsatzsteuererhöhung am Ende daran vorbeikommen, auch noch die Lohn- und die Einkommensteuer zu erhöhen. Sämtliche Steuererhöhungen werden aber nicht in der Lage sein, die Probleme des Haushalts zu lösen, wenn nicht das gemacht wird, was unsere Fraktion von Anbeginn an vorgeschlagen hat, nämlich diesen Haushalt mit Einsparungen zum Ausgleich zu bringen.
Das sind die Gedanken, die uns bei der Ablehnung dieses Gesetzes bewegen. Ich durfte sie im Namen meiner Fraktion hier vortragen; ich danke Ihnen.
({1})
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich komme zur Schlußabstimmung in dritter Lesung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, der erhebe sich bitte von seinem Platz. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einigen Gegenstimmen und einer Enthaltung angenommen.
Damit, meine Damen und Herren, kommen wir zurück zur gestrigen Tagesordnung:
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Wir fahren fort in der Beratung der Regierungserklärung. Als erster hat das Wort Herr Abgeordneter Dichgans.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gegen Ende der Regierungserklärung kamen mit einer leicht vorangesetzten Betonung die Worte Nation und Vaterland. Ich habe das mit dankbarer Zustimmung registriert. Ein Staat ist mehr als ein Verein zur Förderung der wirtschaftlichen Wohlfahrt
seiner Mitglieder. Ein Staat ist ein Gebilde aus dem geistigen Bereich. Ein vitaler Staat gibt seinen Bürgern Leitziele, Idealvorstellungen, für die es sich lohnt, Opfer zu bringen und für die der Bürger auch bereit ist, Opfer zu bringen. Ein vitaler Staat gibt seinen Bürgern Leitbilder persönlicher Art, indem er Persönlichkeiten herausstellt, die von der Jugend als Vorbilder akzeptiert werden. Wir stehen am Beginn einer neuen politischen Phase der Bundesrepublik. Wir sollten uns mit diesen langfristigen Aufgaben ernsthaft beschäftigen.
Die Leitziele: Im Jahre 1948 ging es zunächst darum, die materielle Not zu beseitigen. Damals war die Formel „Wohlstand für alle" ein durchaus zutreffender Ausdruck eines richtigen politischen Ziels. Diese Formel reicht aber heute nicht mehr. In einer Welt, in der der Fernsehapparat, in vielen Fällen auch das Auto zur Normalausstattung des Bürgers gehören, ist eine solche Zielvorstellung nicht mehr ausreichend, unsere Jugend dazu zu bringen, ihr Leben dafür einzusetzen.
Der preußische Staat, dessen Schätzung überall, auch in Amerika, ständig wächst, hatte das Leitbild des Dienstes am Staat, ein Leitbild, das ja über Hegel auch in den Kommunismus hineingewirkt hat. Wenn wir die großen Nationen unserer Zeit ansehen, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, so haben sie Leitbilder weit jenseits materieller Zielvorstellungen. In Amerika gilt die Formel von „new frontier", von der neuen Grenze, einer neuen Grenze zu neuen geistigen Bereichen. Die Russen wollen die Räume Asiens erschließen, die Zelina, die jungfräuliche Erde, und offensichtlich antwortet die Jugend mit Opferbereitschaft. Es ist sehr charakteristisch, daß diese beiden Nationen daneben Ziele haben, die beinahe im transzendentalen Bereich liegen, nämlich die Eroberung des Mondes.
Was die persönlichen Leitbilder anlangt, so haben die Franzosen die Académie Française und die Ehrenlegion. In anderen Ländern gibt es andere Einrichtungen. Der amerikanische Senat hat über seine politische Funktion hinaus auch die Funktion eines persönlichen Leitbildes. Auch die Bundesrepublik hat sich mit diesen Fragen beschäftigt, aber weder der Bundesverdienstorden noch der Orden Pour le mérite, so wichtig sie sind, können diese Funktion erfüllen.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen hier nicht in einer Fünfminutenrede neue Grundlagen einer geistigen Entwicklung der Bundesrepublik vorschlagen. Ich möchte nur anregen, daß wir uns mit diesen Fragen beschäftigen. Dazu möchte ich eine Anregung zur Sache und eine Anregung zum Verfahren geben.
Zur Sache: Wir sollten uns überlegen, ob wir nicht etwa 200 Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit herausheben sollten, nicht durch Verleihung einer neuen Art von Orden, sondern dadurch, daß ihnen etwa der Bundespräsident zum Ausdruck bringt, daß sie sich um Deutschland verdient gemacht haben. Wir wollen nicht ein neues konstitutionelles Organ schaffen, sondern einen Kreis, der vorbildliche menschliche Substanz in sich vereinigt, einen Kreis, der etwa die Bedeutung haben könnte, daß man seinem Sohn sagt: „Du magst werden, was du willst, aber du solltest dich bemühen, in deinen fachlichen Leistungen und deiner menschlichen Entwicklung einen Stand zu erreichen, der dich der Mitgliedschaft in einem solchen Kreise würdig machen könnte.
Eine Anregung zum Verfahren. Ich würde vorschlagen, Herr Bundeskanzler, daß wir fünf Persönlichkeiten beauftragen, je einen Bericht über die Probleme Leitbilder und Leitziele zu schreiben. Das soll nicht in Form einer Kommission geschehen - Kommissionsberichte sind notwendigerweise das Ergebnis eines Kompromisses und daher oft blaß und unverbindlich -, sondern es sollen fünf Berichte unabhängig voneinander erstellt werden. Zu dem Kreis dieser Persönlichkeiten sollten, meine ich, zwei Abgeordnete gehören, also Politiker, die später die Überlegungen in Maßnahmen verwandeln müssen. Es sollte auch eine Frau dazu gehören. Es sollte überlegt werden, ob man nicht wegen der Wichtigkeit dieser Aufgabe jenseits von Bund und Ländern die Aufgabe durch den Herrn Bundespräsidenten in Gang setzen sollte.
Herr Bundeskanzler, wenn die Bundesregierung sich dieser Aufgabe annimmt, wäre das, glaube ich, ein wichtiger Beitrag auch zum Thema Nation und Vaterland.
({0})
Das Wort hat Frau Dr. Diemer-Nicolaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute in dieser ersten Morgenstunde werden Themen angesprochen, die in der Regierungserklärung nicht behandelt worden sind. Wenn ich mich zu Wort gemeldet habe, dann aus einer ernsten Sorge heraus. In der Regierungserklärung sind wohl zwei Schwerpunkte gesetzt und dazu Antworten gegeben worden, und zwar in bezug auf unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik und in bezug auf die Frage, wie sich unsere Außenpolitik gestalten soll. Wir Freien Demokraten vermissen aber in dieser Regierungserklärung etwas ganz Wesentliches: daß auf die geistigen Grundlagen unseres Staates hingewiesen wird, daß seitens der Regierung klargestellt wird, was sie unter einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat versteht. Wenn ich überlege, was zur Zeit an wichtigen Reformen im Bundestag behandelt wird, so muß ich feststellen, daß die Auffassungen der jetzigen Koalitionspartner in der Vergangenheit sehr weit auseinandergegangen sind. Uns als Freie Demokraten interessiert es aber gerade aus diesem Grunde, zu erfahren, wie sich denn die jetzige Bundesregierung zu diesen Problemen stellt. Ich will nicht auf das vielschichtige Gebiet der Strafrechtsreform kommen; Herr Kollege Schmidt hat gehofft, daß sie in diesem Bundestag abgeschlossen wird;
({0}) ich hoffe es gleichfalls.
Es geht aber auch um drei weitere Gesetze: erstens um die Frage des Zeugnisverweigerungsrechts der Presse, zweitens um die Frage, wie unser Staatsschutzrecht gestaltet werden soll, und drittens um die Frage: Wie ist das Zeitungsaustauschgesetz zu behandeln? Sie stehen im Zusammenhang mit wichtigen außenpolitischen Fragen.
Zum Zeugnisverweigerungsrecht, Herr Bundeskanzler, liegen dem Hohen Haus zwei Gesetzentwürfe vor, einmal der Entwurf der SPD und zum anderen der der Freien Demokratischen Partei. Beide gehen davon aus - und zwar in Übereinstimmung auch mit den letzten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel-Urteil -, daß der Presse eine ganz wesentliche Aufgabe zukommt und daß das Informationsgeheimnis der Presse gewahrt werden muß. Wie war denn die Haltung der Bundesregierung bisher? Sie sagte: reformbedürftig ja, machte aber dann so viele Einschränkungen, daß aus dem Zeugnisverweigerungsrecht der Presse praktisch eine Pflicht zur Zeugenaussage würde. Es handelt sich um eine wichtige Frage. Deswegen muß auch eine Antwort der jetzigen Bundesregierung gegeben werden. Es interessiert uns, zu erfahren, wie sich denn die Koalitionspartner geeinigt haben.
Und wie ist es mit der wichtigen Frage des Staatsschutzrechts? Es liegen ebenfalls zwei Entwürfe vor, auf der einen Seite der Entwurf der SPD und auf der anderen Seite der Entwurf der Bundesregierung. Beide unterscheiden sich ganz wesentlich voneinander. Ich habe bedauert, daß der Regierungsentwurf ohne Aussprache in den Sonderausschuß verwiesen wurde. Ich hätte mich gefreut, wenn hier bei der ersten Lesung des Regierungsentwurfs die Unterschiede klar hätten herausgestellt werden können. Wir als Freie Demokraten haben unsere Auffassung zu diesem wichtigen politischen Problem geäußert. Es konnte gar nicht anders sein, als daß wir uns sehr entschieden für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgesprochen haben, daß wir uns sehr entschieden dafür ausgesprochen haben, daß eine Einschränkung der Straftatbestände erfolgt und daß die Vielzahl oft unnötiger und politisch unkluger Prozesse vermieden wird.
Wie war denn die Stellungnahme bei der ersten Lesung des Entwurfs der SPD? Der damalige Justizminister hat sich mit aller Eindeutigkeit gegen diesen Entwurf ausgesprochen; er hat sich dagegen gewendet, daß eine ganze Reihe von Staatsgefährdungsdelikten wegfallen sollen. Das kam ganz klar zum Ausdruck.
Wie sieht der Regierungsentwurf aus? Er sieht nicht eine Beschränkung der Straftatbestände, sondern eine Ausweitung vor. Wenn er den Begriff des Staatsgeheimnisses auch einschränkt, so erweitert er aber ausgerechnet ,die Staatsgefährdungsdelikte in einem Umfang, der für uns als Freie Demokraten unerträglich ist.
Eine andere wichtige Frage in diesem Zusammenhang: Wir waren der Auffassung, daß wir auf Grund der politischen Verhältnisse zu einer Lockerung des Verfolgungszwanges kommen müßten. Diese Auffassung wird in dem Regierungsentwurf geteilt. Die SPD hat sich nicht nur einmal, sondern wiederholt mit aller Entschiedenheit dagegen ausgesprochen. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung jetzt dazu ein?
Und weiter: Wird die Bundesregierung dem Wunsche folgen, den wir wiederholt zum Ausdruck gebracht haben, daß im Zusammenhang mit der Reform des Staatsschutzrechts auch eine Reform des Verbringungsgesetzes erfolgt? Wie steht es mit dem berühmten § 93, der doch zu der außerordentlich weitgehenden Beschlagnahme von Sendungen aus der Ostzone nach Westdeutschland führt? Ein Hamburger Gericht hat es jetzt in einer ausgezeichneten Art und Weise abgelehnt, 'die SED-Zeitung zu beschlagnahmen; das Landgericht Hamburg verneint die staatsgefährdende Wirkung der Zonenpresse - eine Auffassung, die von der SPD geteilt wurde und die von uns als Freien Demokraten selbstverständlich auch immer geteilt wurde, weshalb wir für den Wegfall des § 93 sind. Die vorige Bundesregierung, der vorige Bundesjustizminister hat gerade diese Bestimmung für unbedingt erforderlich erachtet. Wie stellt sich die jetzige Bundesregierung zu dieser Frage? Ist sie auch bereit, das Verbringungsgesetz zu überprüfen und modern zu gestalten, so daß die Kontakte, die von den Deutschen in unserer Bundesrepublik zur Ostzone bestehen sollen, nicht weiter behindert werden und die geistige Auseinandersetzung erfolgen kann?
Noch wenige Worte zu dem Zeitungsaustauschgesetz! Einer der Vorredner hat gestern von uns als „Koalitionsgelähmten" gesprochen. Ich muß sagen, auch wenn wir damals in der Koalition gewesen sind, so habe ich mich deshalb doch nicht als Koalitionsgelähmte empfunden. Aber natürlich ist man, wenn man zu einem Gesetz Stellung nimmt, das einem nicht gefällt, in der Sprache etwas zurückhaltender, wenn man in der Regierung ist. In meiner Kritik kann ich deshalb als „Koalitionsbefreite" jetzt natürlich um so offener sprechen und kann in aller Eindeutigkeit sagen: Mir gefällt die gesamte Konzeption dieses Zeitungsaustauschgesetzes überhaupt nicht. Mir gefällt es nicht, daß mir eine Regierung, ob mit oder ohne parlamentarische Kontrolle, durch Rechtsverordnungen vorschreiben will, was ich lesen darf und was ich nicht lesen darf. Die Informationsfreiheit, die ein Grundrecht ist, erfordert ein von Grund auf anderes Gesetz. Wie ist die Haltung der jetzigen Bundesregierung? Der jetzige Bundesjustizminister hat doch diesen Gesetzentwurf auch sehr eindeutig abgelehnt. Es handelt sich doch um ein sehr wichtiges Gesetz, das mit den außenpolitischen Problemen, die nachher noch behandelt werden, in einem engen Zusammenhang steht.
Wir als Freie Demokraten fragen die Bundesregierung: Wird sie an diesem Gesetzentwurf festhalten? Ist sie bereit, insofern einen anderen Gesetzentwurf, der wirklich auch dem Artikel 5 des Grundgesetzes entspricht, vorzulegen?
Das eine kann ich Ihnen sagen: Wir als Freie Demokraten haben, auch wenn wir als der kleinere Juniorpartner in einer Koalition waren, unsere Liebe zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
aufechterhalten und uns auch nicht gescheut, als Koalitionspartner in diesem Fall offene Worte zu sprechen. Als Oppositionspartei werden wir natürlich um so weniger müde werden in unserem Bemühen, die geistigen Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuzeichnen und zu fordern. Daß in der gesamten Regierungserklärung zu diesen so wichtigen Fragen, welche zum geistigen Grundgehalt unseres Staates gehören, nicht ein Wort gesagt worden ist,
({1})
läßt uns doch befürchten, daß bei der Auslegung des Begriffes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht die liberalen Kräfte dominiert haben, sondern die konservativen, gegen die wir allerdings nach wie vor in einer heftigen Opposition stehen werden.
({2})
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, ich will auf die eben gestellten Fragen sofort antworten und möchte folgendes sagen. Die von Ihnen angeschnittenen Materien - Sie nannten das Strafrecht im Ganzen, den Staatsschutz im besonderen, Zeitungsaustausch, Zeugnisverweigerungsrechte - werden in den Ausschüssen auf Grund der früher durch dieses Plenum gegangenen Vorlagen behandelt. An diesen Vorlagen gedenkt die Regierung nichts zu ändern, sondern sie will die Arbeit in den Ausschüssen vorangehen lassen auf der Basis der alten Vorlagen. Die Ausschüsse haben die Freiheit, diese Vorlagen umzugestalten, Neues hinzuzutun oder etwas herauszunehmen. Wenn wir nämlich die Vorlagen änderten, gäbe es riesige Verzögerungen. Uns liegt aber allen daran, daß gerade die von Ihnen angeschnittenen Materien zügig vorankommen und zu Ende gebracht werden.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Geißler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal eine Bemerkung zum Ablauf der gestrigen Diskussion machen. Ich glaube, es ist unnötig zu wiederholen, daß jedes Parlament mit der geistigen Auseinandersetzung und mit der Freiheit der Diskussion steht und fällt und lebt. Aus diesem Grunde wäre ich außerordentlich dankbar gewesen, wenn gestern auf wichtige politische Fragen hier vom Parlament aus unmittelbar geantwortet worden wäre.
Um eine solche politische Frage ging es z. B. in der Rede von Thomas Dehler. Es war keine Vorlesung, Herr Moersch, das ist vollkommen richtig. Es war eine politische Rede. Allerdings war es - und jetzt nehme ich ein Wort von ihm auf - eine tückische und in vielen geistesgeschichtlichen Bereichen falsche Rede.
({0})
Ich möchte im Laufe meiner Ausführungen noch kurz darauf zurückkommen.
Ich habe mich allerdings zunächst zu Wort gemeldet, weil ich einiges zu dem ausführen wollte, was in der Regierungserklärung einen ganz bestimmten Akzent bekommen hat: zu dem, was die geistige Grundlage unserer ganzen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in der Zukunft darstellt, der Förderung von Wissenschaft und Forschung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Dr. Geißler, wollen Sie diese Kritik auf das Parlament beschränken oder wollen Sie diese Kritik nicht vielmehr an den Regierungschef und die Minister richten, die gestern auf die gestellten Fragen nicht geantwortet haben?
Sehr geehrter Herr Moersch, ich rede vom Parlament und für das Parlament. Ich meine, daß dieses Parlament die Aufgabe hat,
({0})
die Diskussion untereinander zu führen. Das ist die primäre Aufgabe. Wenn Sie mich so fragen, dann will ich Ihnen auch eine ganz klare Antwort geben. Selbstverständlich würde auch ich es begrüßen, wenn bei der Debatte über eine Regierungserklärung der unmittelbare Kontakt und die unmittelbare Diskussion mit den Regierungsmitgliedern möglich wäre.
({1})
- Ich nehme dieses Stichwort auf. Sie wissen, meine verehrten Kollegen von der FDP, daß die Debatte noch nicht zu Ende ist; und das werden Sie noch merken.
({2})
Es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn wir sagen, daß gerade, was Wissenschaft und Forschung anlangt, in der Regierungserklärung die Dimension Zukunft klar angesprochen worden ist. Die Priorität auch gegenüber anderen Interessenlagen in diesem Staate kam klar zum Ausdruck.
Ich bin auch der Meinung, die große Mehrheit dieses Parlaments freut sich insbesondere darüber, daß in der neuen Bundesregierung Herr Minister Stoltenberg wieder mit dieser wichtigen Aufgabe betraut worden ist.
({3})
Ich darf ihm an dieser Stelle den Dank und die Gratulation dafür aussprechen, daß es ihm gestern gelungen ist, in schwierigen Verhandlungen in Paris den Abschluß des Abkommens über den
Höchstflußreaktor in Grenoble zustande zu bringen. Ich meine, der Dank und der Glückwunsch des Parlaments ist hier angebracht.
({4})
Aber auch von dem Herrn Bundeskanzler, unter dessen Ministerpräsidentenschaft das Land Baden-Württemberg zum hochschulreichsten Land der Bundesrepublik geworden ist,
({5})
können wir nach meiner Meinung sagen, daß die Politik zur Förderung von Wissenschaft und Forschung gerade bei ihm in ausgezeichneten Händen liegen wird.
Lassen Sie mich kurz einige Punkte ansprechen, die für die Zukunft wichtig sind. Am meisten beschäftigt uns auf dem Gebiete der Förderung von Wissenschaft und Forschung, daß der langfristige Investitionsbedarf für dieses Gebiet noch nicht gesichert ist. Uns fehlt ein Forschungsförderungsgesetz. Außerdem läuft das Abkommen über die Finanzierung der alten Hochschulen am 31. Dezember aus, und ab 1. Januar entsteht ein vertragsloser Zustand. Die Regierung sollte mit allen Kräften und Mitteln darauf drängen - darin sollten wir sie unterstützen -, daß dieser vertragslose Zustand ab 1. Januar nicht eintritt. Wenn er eintritt, sollte er möglichst rasch dadurch beseitigt werden, daß dieses Abkommen neu abgeschlossen wird.
Insbesondere sollte die in dem Brief des Herrn Bundeskanzlers vom Juni oder Juli dieses Jahres an Ministerpräsident Goppel gegebene Zusage eingelöst werden, für den Hochschulausbau für 1967 Mittel in Höhe von 530 Millionen DM, für 1968 in Höhe von 630 Millionen DM und für 1969 in Höhe von 730 Millionen DM zur Verfügung zu stellen. Die Verwirklichung dieser Zusage hängt selbstverständlich auch von uns, vom Parlament ab.
Das Junktim - das ist ein Appell an den Bundesfinanzminister - zwischen der Bereitstellung von Mitteln für den Hochschulausbau und der Einigung zwischen Bund und Ländern über den Anteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer sollte nicht aufrechterhalten werden. Ich bin der Auffassung - ich spreche hier wohl für viele Freunde in meiner Fraktion -, daß die Förderung der Forschung und der technischen Entwicklung, daß diese Zukunftsaufgaben von fiskalischen und finanzpolitischen Junktims freigehalten werden sollten. Ich glaube, das ist der Bedeutung dieser Sache angemessen. Ich meine auch, daß der Bund, wenn es zu einem Kompromiß auf der Höhe von 37 °/o kommt, mehr oder weniger in der Lage sein wird, diese Zusagen einzuhalten.
({6})
Meine Damen und Herren, es liegt an uns, an diesem Parlament, auch den Haushaltsansatz des Wissenschaftsministeriums zu beschließen. Die Erhöhung der Mittel von 1,3 auf 1,6 Milliarden DM bedeutet eine Steigerungsrate von 21,5 %. Die neue Regierung kann auf der erfolgreichen Wissenschaftspolitik der alten Regierung aufbauen, die bereits bei der Haushaltsgestaltung des letzten Jahres eine erheblich größere Zuwachsrate für die Wissenschaft vorgesehen hatte, als es in anderen Bereichen des Haushalts der Fall war.
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie es mit der Finanzierung der neuen Hochschulen aussehen soll. Ich möchte hierzu nur eine Bemerkung machen. Wenn die finanzielle Lage des Bundes es eines Tages ermöglichte, hier einen Schritt zu tun, sollte meiner Ansicht nach die Finanzierung der alten und der neuen Hochschulen im Rahmen einer Gesamtplanung des Wissenschaftsrates vorgenommen werden. Im übrigen muß als Leitlinie der gesamten Förderung von Wissenschaft und Forschung eingehalten werden, was im Bundesforschungsbericht I vorgesehen ist, daß nämlich das Gesamtvolumen der Wissenschaftsförderung durch Wirtschaft und öffentliche Hand bis zum Jahre 1970 3 % des Bruttosozialprodukts erreichen sollte.
Eine wichtige Frage ist, was wir unter der technologischen Lücke im Verhältnis Europa-Deutschland -Amerika verstehen. Ich möchte dazu nur ganz kurz einige Punkte nennen. Wir hoffen, Herr Minister Stoltenberg, daß die Arbeitsgruppe, die dazu vom Wissenschaftskabinett eingesetzt worden ist und die die Möglichkeiten der europäischen Zusammenarbeit überprüfen soll, weiterarbeitet und uns möglichst bald ihre Ergebnisse vorlegt. Ich glaube, ich kann Sie der Unterstützung meiner Freunde versichern, wenn Sie von Ihrem Hause aus darauf hinarbeiten, zu einer engen Zusammenarbeit zu kommen, wenn Sie den Versuch machen, ESRO und ELDO und die Fernmeldesatelliten-Organisation zusammenzuschließen und zu einer engeren Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Datenverarbeitung zu kommen. Ich denke hier insbesondere an die Franzosen mit ihrem plan calcul oder an andere Möglichkeiten, etwa an das, was die Franzosen jetzt auf dem Gebiet der Ozeanographie machen.
Ich komme jetzt noch zu einem wichtigen Komplex der Wissenschaftsförderung. Ich glaube, es wäre falsch, wenn wir die staatliche Förderung von Wissenschaft und Forschung ausschließlich auf die technologischen Sektoren beschränkten. Meines Erachtens ist es genauso notwendig, daß die Geisteswissenschaften in diesem Bereich gefördert werden. Die Geisteswissenschaften haben in diesem Zusammenhang eine ganz bedeutende Funktion. Sie haben einmal das Ziel, jede menschliche Erfahrung als Teil des Ganzen begreifbar werden zu lassen, und zum anderen jede menschliche Erfahrung mit der Sonde der Qualität und auch der moralischen Bewertung zu prüfen.
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Die ganze Entwicklung in der Vergangenheit zeigt wohl, daß es wichtig ist, auch hier etwas zu tun. Der Nobelpreisträger Isidor Rabi hat einmal gesagt, daß sich z. B. die gesamte Physik, Plasmaphysik, Feldphysik, dispersionstheoretische Physik, Kernphysik und alle anderen möglichen Arten der Physik in einem Zustand der Balkanisierung befänden und
man aus den Teilen heraus das Ganze nicht mehr sehen könne. Wenn wir uns eine andere Komponente, die ethische Bedeutung bestimmter medizinischer, biochemischer und biotechnischer Vorgänge, vor Augen halten, so zeigt sich, daß die Bedeutung der Geisteswissenschaften einen ganz besonderen Rang hat. Denken Sie daran, daß man vielleicht in einigen Jahren in der Lage sein wird, wichtige Organe zu verpflanzen, daß man zur Prothetik wichtiger Organe kommen wird, denken Sie weiter an die chemischen und chirurgischen Eingriffsmöglichkeiten in das Gehirn, in die Erbanlagen des Menschen. Diese Probleme stehen vor uns, und ich glaube, daß wir deswegen gerade die Geisteswissenschaften ganz besonders unterstützen müssen. Eine geistige Standortbestimmung in diesem rasenden Fortschritt scheint mir notwendig zu sein.
Meine Damen und Herren, bevor ich schließe, lassen Sie mich noch ein ganz bestimmtes Problem ansprechen. Ich habe von einer geistigen Standortbestimmung gesprochen. Ich glaube, daß diese geistige Standortbestimmung auch für manchen Politiker notwendig ist. Ich zähle zu diesen Politikern gerade unseren Kollegen Thomas Dehler.
Gestern ist hier im Saale gesagt worden, daß der deutsche Liberalismus in der Weimarer Republik vom politischen Katholizismus und vom politischen Sozialismus in die Zange genommen, zerstört worden sei und daß dadurch überhaupt erst der Boden für die Diktatur bereitet worden sei. Es ist gesagt worden, die wichtigen geistigen Impulse nach dem Kriege seien im wesentlichen vom politischen Liberalismus ausgegangen. Ich glaube, es ist notwendig, hier einer Legendenbildung geistesgeschichtlicher Art entgegenzutreten.
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Ich bin der Letzte, meine Kollegen von der Freien Demokratischen Partei, der die große Bedeutung des politischen Liberalismus unterschätzen wollte. Aber ich will Ihnen offen meine Meinung in dieser freien und offenen Diskussion sagen. Ich bin der Auffasfung, daß der politische Liberalismus heute sich selber bereits überlebt hat, und zwar deswegen, weil die Ursache für seine Gründung, die Ursache für seine Entwicklung inzwischen weggefallen ist; denn der politische Liberalismus ist aus dem Kampf gegen den Absolutismus entstanden, aus dem Kampf gegen den Machtanspruch des Staates in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Es kann doch wohl nicht bestritten werden, daß diese freiheitliche und mit dem Parlament verbundene Komponente seit langem Geistesgut, Gedankengut jeder politischen Partei geworden ist.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Herr Abgeordneter Dr. Mende, bitte!
Will der Herr Kollege ernsthaft behaupten, daß Artikel 1 des Grundgesetzes bereits selbstverständlicher Bestandteil unserer demokratischen Ordnung in allen Lebensbereichen geworden ist? Sieht der Herr Kollege nicht, welche neuen Gefahren der Würde, der Freiheit und dem Recht des Menschen von neu aufkommenden totalitären und kollektiven Kräften drohen?
Herr Kollege Mende, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, daß Sie dieses Beispiel angeführt haben. Deswegen will ich auf einen Punkt zurückkommen, den Herr Dehler gestern in seiner Rede angeführt hat, nämlich die Weimarer Republik.
Es ist doch wohl unbestritten, daß der Rechtspositivismus, der die gesamte staatsrechtliche, staatspolitische Landschaft während der Weimarer Republik geprägt hat, ein legitimes Kind des damals schon fast zusammengebrochenen Liberalismus des letzten Jahrhunderts gewesen ist.
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Die Eigenart des Rechtspositivismus muß doch dahin charakterisiert werden, daß er explizite davon absieht, daß in den rechtlichen, in den politischen Bereichen der Staat, die Politik vorgegebene Werte anzuerkennen habe. Gerade die Nichtanerkennung dieser vorgegebenen Werte ist Inhalt der Weimarer Verfassung geworden, in der die Grundwerte, die wir heute auch im Grundgesetz haben, eben nicht rechtsverbindlich gewesen sind, sondern rein plakative Artikel waren und gerade dadurch erst das Aufkommen und die Machtübernahme der totalitären Diktatur gewährleistet haben.
({1})
Das war doch die Geschichte.
Meine Damen und Herren, es ist doch wohl nicht zu bestreiten, daß die Existenz des Artikels 79 Abs. 3 GG, der die Unabänderlichkeit der Grundrechte, der Grundwerte in dieser Verfassung vorsieht, haarscharf das Gegenteil der rechtspositivistischen Auslegung und Gestaltung der Weimarer Verfassung ist. Und das ist mit Sicherheit kein Kind des politischen Liberalismus.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus?
Bitte schön.
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, ob Sie auch die Begründung zu dem Entwurf für die Änderung des Staatsschutzrechts gelesen haben und ob daraus nicht ganz eindeutig hervorgeht, daß von dem damaligen Justizminister eine absolut obrigkeitliche Staatsauffassung vertreten wurde und daß sie jetzt gegebenenfalls noch fortbesteht?
({0})
Frau Kollegin, ich kann Ihnen dazu folgendes sagen: Ich habe hier von der geistesgeschichtlichen Entwicklung gesprochen, von
der Bedeutung des politischen Liberalismus für die politische Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Staat.
({0})
- Natürlich ist es notwendig!
({1})
Und wenn ich etwas sagen darf: ich habe vorhin Ihrer Rede sehr genau zugehört. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Frage des Zeitungsaustausches bei uns in diesem Land in Ihrem Sinne geregelt werden sollte.
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Meine Damen und Herren, das sage ich Ihnen ganz offen. Aber wir reden jetzt hier nicht über die konkrete politische Ausgestaltung der einen oder anderen politischen Frage,
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sondern wir reden darüber, was an falschen geistesgeschichtlichen Auffassungen oder Legenden gestern von Thomas Dehler hier in diesem Parlament eingeführt worden ist.
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Ich habe vorhin davon gesprochen, der Rechtspositivismus sei ein legitimes Kind eines schon gealterten und auseinanderfallenden Liberalismus. Das hat Ihren Unwillen erregt. Sie wissen aus der geschichtlichen Entwicklung ganz genau, daß der politische Liberalismus spätestens an dem Tage sein Genick gebrochen hatte, als nach der Verfassungsauseinandersetzung unter Bismarck über das Militärbudget nach dem siegreichen Krieg Bismarcks gegen Österreich die Nationalliberalen im preußischen Landtag zu Kreuze gekrochen sind und das, was sie an parlamentarischer Freiheit damals für uns alle emporgehalten haben, verraten haben. Und von diesem historischen Zeitpunkt aus, meine Damen und Herren, hat der Zerfall des Liberalismus seinen Anfang genommen. Das wissen Sie ganz genau, und deshalb sollte man nicht so tun, als ob die geistesgeschichtliche Wirksamkeit des politischen Liberalismus sich bis in die Zeit nach 1945 hinübergerettet habe.
Meine Damen und Herren, was waren die entscheidenden Fragen nach 1945? Was hat dieses Land, was hat Europa, was hat dieser Staat nach 1945 erwartet? Deutschland hat 400 Jahre darunter gelitten, daß die Christen der evangelischen und der katholischen Konfession nicht nur in der geistigen Auseinandersetzung gegeneinander standen, sondern daß sie sich auch politisch gegeneinander formierten. Darunter hat dieses Land gelitten. Und nach 1945 war es die geschichtliche Leistung der Union, der Christlich-Demokratischen-Union, die Basis dafür zu schaffen, daß das politische Gegeneinander in einem neuen Deutschland aufhören sollte. Meine Damen und Herren, ,das war der Gedanke, der Gründungsgedanke der Christlich-DemokratischenUnion, und es waren nicht die etwas maliziösen und fast schäbigen Begründungen, die Herr Thomas Dehler gestern für die Gründung der CDU gegeben hat.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl?
Bitte schön.
Herr Kollege Geißler, ist das Eintreten der christlichen Parteien für die Konfessionsschulen ein Zeichen der besonderen Liberalität dieser Parteien und des Zusammengehörigkeitsgefühls in unserem Volk?
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Sehr verehrter Herr Ertl, es ist gut, daß Sie mich jetzt provoziert haben.
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Ich habe, seit ich in der politischen Arbeit tätig bin, immer die Auffassung vertreten, daß für mich die Schulfrage und auch das Elternrecht eine Frage der Gewissensfreiheit ist. Jetzt können wir in diese Auseinandersetzung eintreten. Sie wissen doch, daß dieses Land im Art. 4 des Grundgesetzes jedem das Recht gibt, den Kriegsdienst zu verweigern, wenn er gegen den Kriegsdienst Gewissensbedenken hat? Das heißt, der Staat gibt jedem das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern, wenn sein Gewissen sich dagegen wehrt, einen anderen Menschen an seinem Leben, seinem Körper oder seiner Gesundheit zu gefährden oder zu schädigen. Soviel Freiheit haben wir. Und jetzt möchte ich die Frage stellen: Ist, wenn sich Eltern in einem Land unter Umständen genötigt fühlen, aus Gewissensgründen heraus gegen eine Monopolanspruch des Staates auf dem Gebiet des Unterrichts z. B. anzugehen, diese Gewissensfreiheit nicht genauso schützenswert?
({1})
Nur darum geht es, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen für die praktische Politik eine Aussage machen. Ich hielte es für richtig, wenn sich alle Eltern - in dieser Situation, weil vom Staat keine Gefährdung in dieser Hinsicht ausgeht - für die christliche Gemeinschaftsschule entschieden. Aber ich bin der Auffassung, daß die Entscheidungsfreiheit der Eltern prinzipiell erhalten werden sollte.
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Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl?
Herr Kollege Geißler, wie erklären Sie es sich dann, daß Verfassungen, die unter der Federführung christlicher Parteien, beispielsweise unter der der CSU in Bayern, zustande gekommen sind, eine geheime Abstimmung über die Gleich3808
berechtigung der Gemeinschaftsschule gar nicht zulassen?
Meine Damen und Herren, ich habe hier das Prinzip aufgestellt. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß dieses Prinzip selbstverständlich in der jeweiligen politischen Aktualisierung sehr verschiedene Ausformungen hat, die in der aktuellen Politik durchaus eine Überprüfung nötig machen können. Da will ich gar nicht widersprechen. Aber über das Prinzip sollten wir uns doch gerade mit Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie den Liberalismus, die Freiheit des Geistes immer hochhalten wollen, einig werden können.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ollesch?
Ja, bitte schön, selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie haben gerade die Gewissensfreiheit so gepriesen. Ist Ihnen nicht bekannt, wie gerade in Schulfragen die Gewissensfreiheit in der Praxis aussieht, daß aus dieser Gewissensfreiheit in der Regel ein Druck auf das Gewissen wird?
Sehr verehrter Herr Kollege Ollesch, das ist nicht unsere Frage hier.
({0})
Unsere Frage ist die, ob der Staat die Freiheit des geistigen Bereichs in der Politik gewährleistet. Das ist unsere Frage.
({1})
Wir müssen hier die Ebenen unterscheiden. Wenn im Einzelfall in der politischen Praxis die Geistesfreiheit, die Gewissensfreiheit verletzt wird, dann muß auch hier der Grundrechtsschutz eintreten. Das ist gar keine Frage. Dafür können wir alle miteinander im Parlament sorgen.
Meine Damen und Herren, Sie haben hier von der geistesgeschichtlichen Basis dieses Staates geredet. Dieser Staat steht und fällt mit der Freiheit. Aber diese Freiheit ist ungeteilt, und sie sieht nicht so aus, wie Sie wollen.
({2})
Herr Abgeordneter Dr. Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mühlhan?
Ja, bitte schön, Herr Mühlhan.
Herr Kollege Geißler, sind Sie nicht der Ansicht, daß die konfessionalisierte Volksschule die Chancengleichheit der Bildung in der Bundesrepublik gefährdet? Die Mittelschule, die höhere Schule, die Universität sind nicht konfessionsgebunden. Nur die Volksschule ist konfessionalisiert. Hier wird das Grundgesetz verletzt. Die Gemeinschaftsschule ist eine Forderung des Grundgesetzes!
({0})
Herr Kollege, wir wollen diese Frage vielleicht an einer anderen Stelle behandeln. Uns geht es hier in diesem Parlament und an diesem Tage darum, über die geistigen Grundlagen dieses Staates zu reden. Ich habe den Eindruck, daß - wenn wir gerade auf diesen Punkt zu sprechen kommen - all das, was von der Freien Demokratischen Partei an geistiger Freiheit, an Mobilisierung des Liberalismus ins Feld geführt wird, aus Gründen, die ich nicht näher untersuchen möchte, die aber nahe beim Parteitaktischen liegen, nicht mehr wahrgenommen wird.
({0})
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen anderen Punkt. Dieses Land hat nach dem Kriege ebenfalls erwartet, daß das, was Europa in den vergangenen vier Jahrhunderten auseinandergerissen hat, nämlich das Gegeneinander der Nationalstaaten, aufhört. Das war die Idee der europäischen Einigung. Ich möchte einmal fragen: welche Seite in diesem Hause hat die Einigung Europas in diesem Parlament und in diesem Lande durchgesetzt? Das war die neue Idee. Ich möchte Sie nicht an die Saarfrage erinnern, wo Sie eine europäische Lösung abgelehnt
({1})
und dadurch unter Umständen ein Modell für die deutsche Wiedervereinigung verhindert haben.
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- Auch wenn Sie das nicht hören wollen, sage ich es hier.
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ich bin der Meinung, daß die deutsche Einheit auf dem Boden der europäischen Einigung zustande kommt und nicht durch eine nationalstaatliche Lösung.
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Den Vorwurf mache ich Ihnen.
Herr Geißler, so geht das nicht.
Heute gehen Sie und Ihre Leute her und befürworten - wie es Ihr Justizminister Leverenz in Berlin getan hat - die Anerkennung der sogenannten DDR. Sie machen genau
das Gegenteil von dem, was wir hier zu tun haben, nämlich für die Einheit in diesem Lande zu wirken.
({0})
Meine Damen und Herren, hier haben sich drei weitere Zwischenfrager gemeldet. Ich mache darauf aufmerksam - Dr. Geißler ({0}) : Ich möchte jetzt zu Ende kommen.
Herr Dr. Geißler, ich habe jetzt das Wort.
Die Deutschlandpolitik -
Herr Dr. Geißler, ich habe jetzt das Wort.
Entschuldigung.
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Es haben sich drei weitere Abgeordnete zu einer Zwischenfrage gemeldet. Wir haben 16 Wortmeldungen vorliegen. Das Hohe Haus war sich auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung darüber einig, daß die Wortmeldungen in Kürze abgewickelt werden sollen.
({0})
Ich bitte Sie, jetzt zu Ende zu kommen. Weitere Zwischenfragen lasse ich in diesem Augenblick nicht mehr zu. Bitte, fahren Sie fort.
Wenn die Zwischenfragen nicht gekommen wären, wäre ich bereits am Ende angelangt.
({0})
Ein letztes Wort. Die Gründung der Christlich-Demokratischen Union hat nach dem Ende des Krieges im Jahre 1945 ein Drittes in Deutschland hervorgebracht, nämlich eine völlige Veränderung der Parteienstruktur in diesem Lande, die Gründung einer großen Volkspartei, die mit ihren Leistungen und ihren Erfolgen einmal dazu geführt hat, daß das 4- und 5-Parteien-System, wie es von 1871 bis zum Jahre 1933 bestanden hat, eliminiert worden ist. Im übrigen hat diese große Volkspartei durch ihre Erfolge und ihre Leistungen - das kann man hier einmal ganz klar sagen - die Sozialdemokratische Partei nach Godesberg gezwungen.
Wir mögen uns heute über viele außerordentlich wichtige finanzpolitische Fragen unterhalten. Aber das mag vielleicht für einige Minuten oder auch für eine Stunde vor dem Hintergrund verblassen, auf dem sich diese große geistesgeschichtliche Leistung meiner Partei, der Christlich-Demokratischen Union, abzeichnet.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Geißler waren in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal dadurch, daß er offensichtlich die geschichtlichen Grundlagen unseres Staates verkennt, indem er aus Vergangenem falsche Schlüsse zieht. Wenn er hier von Gewissensfreiheit spricht und den Monopolanspruch des Staates in der Schule charakterisiert, des Staates nämlich, der die staatliche Konfessionsschule nicht zulassen wolle, dann befindet er sich in einem entscheidenden Irrtum. Wir Liberalen sind im Gegensatz zu ihm der Meinung, daß wir in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, aber nicht in einem Kirchenstaat leben,
({0})
und wenn wir nicht in einem Kirchenstaat leben, kann es für uns Liberale keine staatliche Konfessionsschule geben, sondern nur eine christliche Gemeinschaftsschule, die allen Konfessionen gleichmäßig offensteht.
({1})
Wer Konfessionsschulen staatlicher Art will, der zeigt in Wahrheit, daß er von seiner Konfession her einen Monopolanspruch an den Staat stellt, und das ist das Gegenteil von Gewissensfreiheit.
({2})
Wir Liberalen sind jederzeit für die Privatschule eingetreten.
({3})
- Ob Sie das nun gerne hören oder nicht, es ist nun einmal so, und ich werde Ihnen gleich noch ein paar Dinge' dazusagen. - Wir sind für die Privatschule eingetreten, weil wir für die Gewissensfreiheit eintreten. Aber seit Luther ist in Deutschland die Tradition, daß es eine Schulpflicht gibt, die der Staat aufstellt, weil der Staat für die Bildung der Kinder verantwortlich gemacht wird. Wenn es Luther und die staatliche Schule nicht gegeben hätte, säßen Sie alle nicht hier, sondern wären alle noch Analphabeten!
({4})
Wenn man Herrn Dr. Geißler in der Vergangenheit gefolgt wäre, wie sähe es dann aus? Wenn man die Reformation richtig verstanden hätte, dann wäre es allerdings so, wie wir es hier charakterisieren. In Wahrheit sind die Eltern vom Staat immer wieder verpflichtet worden, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Sie können doch die Wehrpflicht - Sie sprachen von Kriegsdienstverweigerung - nicht mit der Schulpflicht vergleichen! Das ist doch ein völlig unzulässiger Vergleich zwischen der Entscheidungsfreiheit eines Erwachsenen, eine mündigen Bürgers,
L) und der Entscheidungsfreiheit eines Kindes bzw. der Erziehungspflicht der Eltern für ihre Kinder.
({5})
- Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu, sonst dauert es zu lange.
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Die Frau Präsidentin hat vorhin gebeten, von Zwischenfragen Abstand zu nehmen. Aber, bitte, Herr Dr. Stark, wenn Sie es wünschen. Mir kommt es nicht darauf an. Ich werde Ihnen die Antwort geben.
Diese Bernerkung ist insofern nicht richtig interpretiert, als ich sie nicht generell gemacht habe. Ich darf aber nochmals daran erinnern, daß das Haus sich zeitlich beschränken wollte.
Es ist doch höchst bezeichnend für die Ansprüche eines Mannes wie . Dr. Geißler, daß in dem Gebiet, aus dem er kommt, nämlich in Südwürttemberg, zwischen Theorie und Praxis ein ganz erheblicher Unterschied besteht. Wir Liberalen haben doch dafür kämpfen müssen, daß dort eine bessere Schule möglich wird, als sie bisher vorhanden ist. Denn unter der Alleinherrschaft einer Partei, die sich CDU nennt, ist in Südwürttemberg damals das Schulwesen in Konfessionsschulen zersplittert worden. Deswegen hat man in diesem Gebiet einen relativ schlechten Schulerfolg.
Aber wie es mit den geistigen Grundlagen der CDU und ihrer Überzeugungskraft in solchen Fragen in Wahrheit steht, haben wir vor wenigen Tagen in Stuttgart erleben können.
({0})
Zwanzig Jahre lang hat diese Partei der Öffentlichkeit in Südwürttemberg mit Vehemenz erzählt -
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, im Moment nicht.
Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, daß wir uns in der Aussprache über die Regierungserklärung befinden und daß wir hier nicht in einem Landtag sind.
({0})
Frau Präsidentin, ich muß mir erlauben, beim Thema Wissenschaftsförderung bei der Wurzel anzufangen. Denn hier liegen die Gründe für viele Miseren in Deutschland. Dort, wo immer Sie von der CDU die Macht gehabt haben, haben Sie die Konfessionsschule eingeführt, das Schulwesen zersplittert. Deswegen ist in den Gebieten, in denen ein besonders hoher Anteil an
CDU-Stimmen vorhanden ist, ein besonders geringer Schulerfolg zu verzeichnen. Das ist eine Tatsache.
({0})
Die Relation zwischen CDU-Stimmenanteil und mangelndem Schulerfolg ist auf der süddeutschen Landkarte offensichtlich; das können Sie doch nicht bestreiten!
({1})
Ihre Partei, die sich auf ihre Konfessionsschule in Südwürttemberg so viel zugute gehalten hat, hat am vergangenen Montag, weil sie die Gefahr sah, aus der Regierung ausgebootet zu werden, innerhalb von genau fünf Minuten all das über Bord geworfen, was bisher angeblich zu ihren geheiligten Grundsätze gehörte. Das ist Opportunismus und keine Gewissensfreiheit.
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- Herr Dr. Wörner, Sie müssen noch einen Moment zuhören. Dort, wo Sie die absolute Mehrheit gehabt haben, haben Sie die Gesetze keineswegs nach liberalen Grundsätzen gestaltet. Sie werden das auch in Zukunft nicht tun; da kenne ich Sie zu gut. Dort haben Sie nämlich jederzeit den Obrigkeitsstaat hervorgekehrt; denken Sie nur an die Notstandsregelungen, die Sie hier unterbreitet haben.
({3})
Die Notstandsregelung, die Sie vorbereitet haben, das war die Vorbereitung des perfekten Polizeistaates.
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Nur der Tatsache, daß die Liberalen und die Sozialdemokraten zusammenstanden und daß eine Minderheit in Ihrer Fraktion das ebenfalls ablehnt, verdanken wir es, daß wir in diesem Parlament noch eine zweifelsfrei demokratische Mehrheit in dieser Frage haben.
({5})
Herr Abgeordneter Moersch, ich erinnere unter Bezugnahme auf § 40 der Geschäftsordnung daran, daß Sie vom Verhandlungsgegenstand abweichen, und ich möchte Sie bitten, zum Verhandlungsgegenstand zurückzukehren.
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Ich bin gern bereit, das zu tun. - Ich möchte Ihre Taten in der Frage des Obrigkeitsstaates und der Gewissensfreiheit, wie Sie sie praktizieren, an dem messen, was sie künftig für Bildung und Forschung tun wollen. Das ist nämlich hier die Frage. - Man kann nicht auf der einen Seite für die Konfessionsschule eintreten und auf
der anderen Seite der Öffentlichkeit erzählen wollen, daß man an der Freiheit der Forschung und Bildung gans besonders interessiert sei. Hier klafft ein Widerspruch, den Sie erst einmal auflösen müssen.
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- Ob das unverschämt ist, Herr Rasner?! Es kann ja sein, daß Sie das so beurteilen, aber Sie haben in diesem Hause in den vergangenen Jahren wiederholt Beispiele dafür gegeben, was parlamentarisch schlechter Stil ist; deshalb sind Sie nicht der geeignete Zensor.
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Ich danke der Frau Präsidentin für den Hinweis. Ich bin von dem Kollegen Dr. Geißler hier herausgefordert worden, für meinen Freund Thomas Dehler zu sprechen. Ich finde, Thomas Dehler vorzuwerfen, wir würden nicht genügend für die Gewissensfreiheit eintreten, wie Herr Dr. Geißler das meinte, ist meiner Ansicht nach mehr als ein starkes Stück.
Nun aber zu dem Thema, um das es hier geht. Die Regierungserklärung geht mit drei Sätzen auf die Frage der wissenschaftlichen Forschung und auf die Förderung ein. Weil sie so kurz und so allgemein ist, kann sie natürlich hier auch gar nicht falsch sein. Das ist ein großer Vorzug bei solchen Formulierungen. Ich bekenne voll, daß wir, die Freien Demokraten, genau wie die Regierung die Schwerpunkte der Förderung der Forschung beispielsweise auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der Atomkernenergie und der elektronischen Datenverarbeitung sehen.
Wir glauben aber, daß es jetzt an der Zeit ist, Herr Minister Stoltenberg, daß diese Bundesregierung ein Programm vorlegt, ein umfassendes Programm für die Förderung der Forschung und der Entwicklung auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung. Dieses Gebiet ist in einem Umfange im Wachsen, daß die neuen Aufgaben auch neue Methoden der Förderung und Entwicklung notwendig machen. Wir müssen hier zwischen den beiden Bereichen unterscheiden, nämlich dem wirtschaftlichen und dem wissenschaftlichen Bereich. Ich glaube, daß in der Art, wie man bisher vorgegangen ist, kein System in die Sache kommt und auch nicht kommen wird. Ich bin der Meinung, Herr Minister, Sie sollten uns die Frage beantworten, ob Sie beabsichtigen, etwa eine ähnliche Beratungskommission wie damals bei der Förderung der Atomkernenergie und der Atomforschung einzurichten und neue Förderungsmethoden insgesamt zu entwickeln. Sie müssen sich auch darüber im klaren sein, Herr Minister, zusammen mit der Bundesregierung, daß ohne eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Verteidigungsressort, der Verteidigungsforschung und dem Ministerium für wissenschaftliche Forschung und dem gesamten Wissenschaftskabinett die Aufgabe, Anschluß zu finden an den Weltstandard der elektronischen Datenverarbeitung, bei uns in der Bundserepublik Deutschland nicht befriedigend gelöst werden kann. Wenn Sie weiterhin davon absehen, die Verteidigungsforschung mit in den Dienst dieser Entwicklung zu stellen, dann werden Sie meiner Ansicht nach nicht die Mittel bekommen, die Sie eigentlich dafür brauchen würden und gebraucht hätten.
Wenn der Staat Aufträge gibt, dann muß er meiner Ansicht nach davon absehen, einzelne davon auszuschließen. Diese Aufträge müssen offen ausgeschrieben werden; sie müssen denen zur Verfügung stehen, die in Deutschland tätig sind und die hier in Deutschland nachher Patente anmelden. Es hat keinen Sinn, hier enge nationalstaatliche Politik machen zu wollen. Die Wissenschaft ist nun einmal international, und so wie in der Atomkernenergie die Zusammenarbeit mit Amerika, mit anderen Staaten, mit Euratom fruchtbar für alle geworden ist, so sollte es auch auf diesem neuen Gebiet sein.
Einige Fragen, die Sie kürzlich hier im Parlament beantwortet haben, geben mir Anlaß, diese Hinweise zu geben. Ich bin sicher, daß Sie hier im besten Willen arbeiten und auch daran festhalten wollen, daß hier Objektivität herrscht. Aber dann muß ich Ihnen sagen, daß einige Antworten, die hier gegeben wurden, den Tatsachen nach meinen Recherchen jedenfalls nicht in vollem Umfang entsprechen. Wir alle in diesem Parlament sind überfordert, wenn wir Verantwortung für technische, wissenschaftliche Entscheidungen übernehmen müssen. Aber wichtig bleibt dabei, daß wir uns so umfassend wie möglich beraten lassen und daß die Regierung sich so umfassend wie möglich beraten läßt und jede einseitige Beratung hierbei vermeidet.
Wir hören, daß gestern entgegen dem Willen der Bundesregierung - wenn ich das recht sehe - die Mittel für die Forschungsförderung gegenüber der Deutschen Forschungsgemeinschaft und wahrscheinlich auch der Max-Planck-Gesellschaft durch einen Beschluß der Länderkonferenzen gekürzt worden sind. Das ist ein bedauerlicher Auftakt auch für diese neue Bundesregierung. Ich kann nur hoffen, daß der Bundeskanzler als bisheriger Ministerpräsident eines Bundeslandes nun dafür sorgt, daß nicht nur ein bundesfreundlicheres Verhalten insgesamt eintritt, sondern daß auch in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern die Mittel bereitgestellt werden können, die wirklich notwendig sind.
Wir sind gern bereit, mitzuarbeiten, wenn es darum geht, die Mittelverwendung ökonomisch zu gestalten. Das war bisher nicht immer der Fall. Aber es war nicht Schuld und Aufgabe des Bundes, hier regulierend einzugreifen, sondern es war doch so, daß ein gewisser Partikularismus in den Ländern dazu beigetragen hat, daß mehr Mittel verstreut worden sind - ich denke hier an die Atomforschung in einzelnen Bereichen -, als es sachlich geboten gewesen wäre. Meiner Ansicht nach ist es für den Bund nicht nur möglich, sondern vom Grundgesetz geradezu gefordert, daß der Bund hier seine Aufgaben künftig besser in die Hand nimmt.
Ein weiteres möchte ich als kurze Bemerkung noch anfügen. Bitte sehen Sie auch darauf - das habe
ich in der Regierungserklärung vermißt; vielleicht habe ich es überhört oder übersehen -, daß die Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland den Rang erhält, den sie notwendigerweise haben muß, wenn wir als Kulturnation angesehen sein wollen. Den Kollegen von der CDU/CSU, die sich vorhin so ereifert haben, sage ich: Unser Ansehen in der Welt hängt davon ab, ob Sie bereit sind, die Geistesfreiheit zu achten, ob Sie bereit sind, die Geistesfreiheit zu respektieren, und ob Sie bereit sind, auf Manipulationen zur Ausschaltung der liberalen Kräfte in Deutschland zu verzichten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lohmar.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eben in der Kontroverse zwischen den Kollegen Geißler und Moersch einer temperamentvollen Auseinandersetzung zwischen zwei geschiedenen Partnern beiwohnen können, und das hat, wie man so sieht, auch in der Politik seine Probleme.
Ich möchte die Diskussion wieder in etwas verfassungskonforme Bahnen im Zusammenhang mit unserem Thema der Wissenschaftspolitik lenken und mich dabei bewußt auf einige Fragen an den Herrn Bundeskanzler konzentrieren, weil meine Fraktion im Januar nächsten Jahres Gelegenheit nehmen wird, anläßlich der Vorlage einer Reihe von Berichten zu einigen wichtigen Themen aus dem Bereich der Wissenschaftspolitik hier eine fachlich orientierte Debatte zu führen. Mir geht es heute darum, einige politische Voraussetzungen eindeutiger zu klären, die mit der Wissenschaftspolitik zusammenhängen.
Die erste Frage, Herr Bundeskanzler, bezieht sich auf einen guten Brauch, den Ihr Herr Vorgänger eingeführt, aber leider nur ein einziges Mal praktiziert hat, nämlich einen Runden Tisch zwischen Bund und Ländern über die Frage der Bildungs- und Wissenschaftspolitik einzuberufen. Wir hielten es damals für eine gute Sache, sich in einem mehr informellen Kreis von Zeit zu Zeit einmal über die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten im Bereich von Wissenschaft, Bildung und Forschung zu unterhalten.
Zwei Dinge stehen dabei im Vordergrund. Wir müssen uns, glaube ich, damit vertraut machen, daß die finanziellen Bedürfnisse unserer Hochschulen und der Großforschung in den nächsten Jahren außerordentlich steigen werden und daß damit die Belastung der Länderhaushalte und des Bundeshaushalts erheblich wachsen wird. Das rechtzeitig in den Möglichkeiten der Sicherung solcher Anforderungen zu diskutieren, wäre vielleicht in einem solchen Gespräch am Runden Tisch am ehesten möglich.
Bund und Länder schieben sich seit beinahe einem Jahr wechselseitig die Verantwortung dafür zu, daß das Abkommen über die gemeinsame Finanzierung neuer Hochschulen in der Beratung immer noch nicht weitergekommen ist. Der Bundeskanzler Erhard, Ihr Amtsvorgänger, Herr Kiesinger, hat den Ländern Bedingungen gestellt, unter denen die Bundesregierung bereit sei zu erwägen, diesem Abkommen beizutreten. Die Länder haben darauf bisher nicht geantwortet. Insoweit kann die Bundesregierung darauf verweisen, sie könne nichts tun. Aber wem hilft es, wenn wir uns hier wechselseitig den Schwarzen Peter zuschieben? Ihre Verbindungen zur Universität Konstanz, Herr Bundeskanzler, könnten vielleicht ein zusätzlicher Anreiz für Sie sein, diese Frage mit etwas mehr Aufmerksamkeit zu bedenken, als das bisher von seiten des Regierungschefs geschehen ist.
Die zweite Frage bezieht sich auf die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft im anderen Teil Deutschlands; um vielleicht eine Brücke zu schlagen zwischen der Formulierung von Herrn Barzel und der anderen von Herrn Minister Wehner: in der sowjetisch besetzten DDR. Herr Bundeskanzler, in der Bundesregierung fehlt bis heute eine Institution, die systematisch die Entwicklung des Bildungswesens und der Wissenschaft in Mitteldeutschland beobachtete und auswertete und darauf aus wäre, eine mit 'der Entwicklung in der Bundesrepublik vergleichende Darstellung zu versuchen. Ich glaube, eine solche Synopse ist eine wichtige Voraussetzung dafür, im Bereich der Wissenschafts- und der Bildungspolitik die Chancen einer gesprächsweisen Kooperation mit Partnern aus dem anderen Teil Deutschlands zu prüfen, zu vertiefen, zu nutzen. Meine Frage an Sie: Was beabsichtigt die Bundesregierung hier zu tun? Soll im Wissenschaftsministerium eine solche Institution eingerichtet werden, oder in welcher anderen Weise gedenkt die Bundesregierung die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft in beiden Teilen Deutschlands in einem Zusammenhang zu sehen?
Die dritte Bemerkung bezieht sich darauf, daß in unserem Lande die Wissenschaftspolitik bisher allzu einseitig als eine Förderung der Wissenschaft durch den Staat verstanden worden ist, weniger aber als eine Förderung des Staates durch die Wissenschaft, etwa in der Form der Beratung des Staates, der politischen Führung des Staates, durch Wissenschaftler. Nun haben wir natürlich in der Bundesregierung, rein quantitativ gesehen, dafür auch eine Reihe von Einrichtungen vorgesehen. Eine Berechnung der Westdeutschen Rektorenkonferenz z. B. gab vor einigen Monaten Auskunft darüber, daß die Bundesregierung von insgesamt mehr als 800 Professoren gelegentlich oder ständig beraten wird. Die verwaltungsbezogene Forschung der einzelnen Ressorts der Bundesregierung bedenkt mehr als 2000 Empfänger mit mehr oder weniger großen Mitteln für irgendwelche Vorhaben. Aber - und dies ist wiederum eine Bemerkung an den Regierungschef - in der Regierung gibt es außer einer Registrierungsstelle formaler Art beim Bundesfinanzministerium keine Institution, die diese wissenschaftliche Beratung zur Regierung hin und die Auftragsvergabe von der Regierung an die Wissenschaft umgekehrt systematisch auf ihre Resultate, auf die Fragestellungen, auf die möglichen Ergebnisse für die Politik der Bundesregierung im ganzen auswerDr. Lohmar
tet. Ich meine, die Bundesregierung täte gut daran, die Einrichtung einer Clearingstelle zu erwägen, in der die systematische Sichtung und Auswertung solcher Beratungsergebnisse für die Gesamtpolitik der Bundesregierung, nicht nur für einzelne Ressorts der Regierung, versucht wird.
Kurzum, die Entscheidung, vor der die Bundesregierung und ihr Regierungschef wohl vor allem stehen, ist nicht nur die Ausweitung der Wissenschaftsförderung im bisherigen Sinne, sondern ist ihre Ausweitung zu einer Wissenschaftspolitik im eigentlichen, umfassenderen Sinne des Wortes, einer Wissenschaftspolitik, die dann ein Kernstück der Staatspolitik sein kann und sein muß.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schober.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung der neuen Bundesregierung enthält eine Passage, die, wie ich glaube, den Beifall des Hauses finden wird und sicherlich auch in der Öffentlichkeit weite Beachtung erwarten kann. Ich meine die Stelle, an der es heißt, daß für Sozialinvestitionen aller Bereiche, besonders für Wissenschaft und Forschung, erheblich größere Mittel bereitgestellt werden müssen, und daß die Förderung der Forschung in Schlüsselbereichen der technischen Entwicklung wie der Elektronik, der Atomenergie und der Weltraumforschung für die Zukunft ertragreicher ist als Subventionen, die nur der Erhaltung stagnierender Bereiche dienen. Bei diesem Punkt sollten wir einen Augenblick verweilen, weil hier ganz klar ausgesprochen ist, daß die Wissenschaft und die Forschung von heute der Wohlstand von morgen sind. Das ist ein richtiger Satz. Wir sollten die Frage aufwerfen, ob es nicht in der Zukunft - wie bisher - besonders wichtig ist, daß wir hier mit der richtigen Dosierung vorgehen und vor allen Dingen die Mittel an der richtigen Stelle einsetzen.
Zunächst zur Kernenergie! Ich glaube, wir sind uns alle darüber im klaren, daß seit 1955 auf diesem Gebiet eine ganze Menge geleistet worden ist. Dank der wissenschaftlichen Vorarbeiten, die stark durch die Bundesregierung gefördert worden sind, sind wie heute in der Lage, Kernkraftwerke mit Reaktoren erprobter Konstruktion zu bauen, und diese Kernkraftwerke haben schon den Konkurrenzkampf mit herkömmlichen Kraftwerken bestanden. Das ist deswegen wichtig, weil Kernkraftwerke für die Deckung des zukünftigen Bedarfs an elektrischer Energie unerläßlich sind.
Wir werden mit einer Verdoppelung des Verbrauchs an elektrischer Energie in den nächsten zehn Jahren rechnen müssen, und wir dürfen von der Annahme einer Veracht- bis Verzehnfachung des Verbrauchs an elektrischer Energie bis zum Jahre 2000 ausgehen. Darin mag ein spekulatives Moment liegen. Aber es sollte doch zu denken geben, daß in den Vereinigten Staaten heute bereits 50 % aller neuen Kraftwerke Kernkraftwerke sind.
Es wird sicher möglich und auch nötig sein, wie es in der Erklärung der Bundesregierung heißt, den Steinkohlenabsatz bei der Elektrizitätswirtschaft zu stabilisieren. Selbst wenn der Absatz der Steinkohle bei der Elektrizitätswirtschaft konstant bleibt, wird nicht zu vermeiden sein, daß ihr Anteil dort auf die Dauer fällt. Das Ö1 und das Erdgas sind im Augenblick noch im Vordringen; aber wir dürfen davon ausgehen, daß in Zukunft der Kernenergie ein ständig wachsender Anteil an der Deckung unseres Energiebedarfs zukommen wird. Man spricht davon - und ich glaube, daß das richtig ist -, daß bis zum Jahre 2000 etwa die Hälfte des Verbrauchs an elektrischer Energie aus der Kernenergie wird gedeckt werden können.
In Deutschland ist zwar noch kein großes Kernkraftwerk in Auftrag gegeben worden. Diese Tatsache darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier um eine Situation handelt, die durch unsere augenblickliche Konjunkturdämpfung herbeigeführt worden ist und die vielleicht auch darauf zurückzuführen ist, ,daß die Verstromungsgesetze - und sicherlich mit Recht - der Kohle in den nächsten Jahren eine bessere Chance zur Beteiligung an der Elektrizitätswirtschaft geben. Die Entwicklung wird aber nicht aufzuhalten sein. Wir müssen und werden - und ich glaube, da dürfen wir der Bundesregierung zustimmen - die Forschung auf dem Gebiete der Kernenergie energisch weitertreiben. Die Forschung der vergangenen Jahre kommt jetzt bereits der wirtschaftlichen Nutzung zugute.
Ich darf darauf hinweisen, daß wir im Jahre 1966 die Inbetriebnahme der Demonstrationsanlage in Gundremmingen zu verzeichnen hatten und daß wir gute Fortschritte bei den Demonstrationskraftwerken in Lingen und Obrigheim feststellen durften. Ich möchte hier als Beispiel auch die kompakte natriumgekühlte Kernreaktoranlage in Karlsruhe erwähnen.
Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß bei erprobten Reaktoren nur noch in Ausnahmefällen eine staatliche Förderung notwendig sein wird. Ich möchte betonen - und ich glaube, daß ich mich da auch in Übereinstimmung mit dem Hohen Hause befinde -, daß wir bei den erprobten Reaktoren vor allen Dingen die Exportbemühungen unserer Industrie fördern sollten. Weiter kommt es aber sehr stark darauf an, daß wir die Uranprospektierung im In- und Ausland weiterführen. Wir müssen ferner das Augenmerk der Forschung auf die Beseitigung radioaktiver Rückstände richten. Hier hat es in der Öffentlichkeit in der letzten Zeit erhebliche Diskussionen gegeben, und ich möchte diesem Hohen Hause einmal vortragen, wie der Stand der Forschung auf diesem Gebiete jetzt ist.
Auf Grund eingehender wissenschaftlicher Untersuchungen im In- und Ausland empfiehlt sich vor allem die zeitlich unbegrenzte Einlagerung der radioaktiven Rückstände in geeignete, d. h. mit der Biosphäre nicht in Verbindung stehende geologische Schichten des tiefen Untergrundes, insbesondere in wirtschaftlich sonst nicht zu nutzende Salzvorkommen. Bei 'der Einlagerung radioaktiver Rückstände in tief gelegenen und mächtigen Salzschichten be3814
steht keine Gefahr einer radioaktiven Verunreinigung des Grundwassers, da diese Schichten seit Millionen von Jahren von der Biosphäre abgetrennt sind. Die Offentlichkeit sollte auch einmal davon Notiz nehmen, daß unsere Forschung auf diesem Gebiete erhebliche Fortschritte gemacht hat. Wir können hoffen, daß die radioaktiven Rückstände auf diese Weise auf unabsehbare Zeit in ungefährlicher Weise deponiert werden können.
Noch ein Wort zur Forschung auf dem Gebiete der Kernenergie selbst.
Ich habe mit Befriedigung gelesen, daß der Herr Bundesforschungsminister die Atomkommission ermuntert hat, ein neues Fünfjahresprogramm für die Weiterentwicklung der Kernenergie in der Bundesrepublik zu entwerfen. Dafür sollten wir dankbar sein. Der Schwerpunkt sollte, wie ich meine, bei der Förderung der sogenannten schnellen Brüder liegen, die eine besonders rationelle Verwertung des Uranerzes gewährleisten.
Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zur internationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiete sagen. Dort haben wir doch einige erhebliche Sorgen. Ich meine hier besonders die Europäische Atomgemeinschaft. Als am 8. April 1965 der Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der europäischen Gemeinschaften beschlossen wurde, konnte man hoffen, daß diese gemeinsame Arbeit bald aufgenommen würde. Zu dieser Verschmelzung ist es bedauerlicherweise noch nicht gekommen. Die Europäische Atomgemeinschaft hat leider nicht alle die Hoffnungen erfüllt, die man in sie gesetzt hat. Wir wollen nicht verkennen, daß Euratom auch gewisse Erfolge, ja erhebliche Erfolge zu verzeichnen hat. Ich möchte hier die Mitwirkung bei der Entwicklung schneller Brutreaktoren, die Mitarbeit bei der Schiffsreaktorentwicklung und auch die Arbeit des Forschungszentrums Ispra nennen. Hier scheint mir aber für die künftige Forschung besonders wichtig zu sein, daß wir Ispra neue Aufgaben geben. Besonders entscheidend aber ist es, daß Euratom insgesamt einen Schritt weiterkommt, daß wir wieder zur Formulierung mehrjähriger Programme dieser wichtigen europäischen Einrichtung kommen, und daß die nationalen Belange mit dieser großen Forschungsgemeinschaft koordiniert werden.
Meine Damen und Herren, die Kernforschung ist eine der wichtigen Forschungsaufgaben unserer Zeit. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß uns darüber hinaus in den nächsten Jahren die Grundlagenforschung schlechthin eingehend beschäftigen muß. Der Bund kann sich der Verantwortung auf diesem Gebiet nicht entziehen, und er hat sich ihr bisher auch nicht entzogen. Wir hoffen nur, daß es verstärkt weitergeht.
Grundlagenforschung kann heute nur unter Einsatz ganz großer Mittel betrieben werden. Wir sollten die Forschung, soweit der Bund sie trägt, in den kommenden Jahren so einrichten, daß wir uns vor allen Dingen für die sogenannte Großforschung zuständig fühlen. Das ist die legitime Aufgabe des Bundes. Mit dem Elektronenbeschleuniger DESY bei
Hamburg und mit den CERN-Anlagen in Genf ist ein guter Anfang gemacht worden. Aber das ist nur ein erster Schritt, dem weitere folgen sollten.
Wichtig scheint mir vor allen Dingen zu sein, daß wir nicht die ganze Breite der physikalischen Grundlagenforschung in Deutschland betreiben. Dazu sind wir einfach ein zu kleines Land. Es kommt entscheidend darauf an, daß Schwerpunkte gebildet werden, daß wir in Zusammenarbeit mit befreundeten Nationen Probleme heraussuchen müssen, für die wir besonders günstige Voraussetzungen bieten.
Nun noch ein Wort zur Weltraumforschung, die in der Erklärung der Bundesregierung erfreulicherweise besonders erwähnt worden ist. Hier sind wir auf eine besonders enge Zusammenarbeit mit unseren Freunden in der Welt angewiesen. Ich weise in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, daß die Organisationen ELDO, ESRO und CETS schon in den letzten Jahren befriedigend gearbeitet haben. Aber auch hier ist nur ein Anfang gemacht worden. Herr Bundesforschungsminister, wir müssen dazu kommen, ein ELDO-Programm zu entwickeln, das zum Bau hochenergetischer Antriebssysteme führt und über das jetzige Anschlußprogramm zur Leistungssteigerung der ersten ELDO-Rakete hinausführt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Mittel, hat ihre Anstrengungen für die ELDO in den letzten Jahren verstärken können. Hoffen wir und sorgen wir dafür, daß der Anteil unserer Forschung an diesem System auch den steigenden Mitteln entspricht, die wir in die Arbeit hineingesteckt haben.
In der Europäischen Weltraumforschungsorganisation - ESRO - sind ebenfalls bemerkenswerte Fortschritte gemacht worden. Hier scheint es mir besonders wichtig zu sein, daß wir eng mit der amerikanischen Weltraumbehörde NASA zusammenarbeiten, weil uns Europäern auf dem Gebiete der Weltraumforschung noch die notwendigen Erfahrungen fehlen.
Ein letzter Punkt meiner Ausführungen über die Weltraumfahrt betrifft die Europäische Konferenz für Fernmeldeverbindungen - CETS -. Meine Damen und Herren, ich habe selbstverständlich vorausgesetzt, daß wir Europäer nicht den Ehrgeiz haben, uns am Wettlauf zum Mond zu beteiligen. Es gibt aber neben der bemannten Weltraumfahrt die nicht bemannte Weltraumfahrt. Hier ist die Entwicklung von Fernmeldesatelliten besonders wichtig. In den kommenden Jahrzehnten wird eine befriedigende Nachrichtenvermittlung von Kontinent zu Kontinent nur durch den Einsatz solcher modernen Satelliten möglich sein. Es gibt schon den recht wirkungsvollen Zusammenschluß der CETS, die ein eigenes Programm für einen experimentellen Fernmeldesatelliten entwickelt. Diese Entwicklungsarbeit der CETS muß aber in enger Zusammenarbeit mit dem großen Internationalen Fernmeldesatelliten-Konsortium - INTELSAT - stehen. Nur wenn wir auch auf diesem Gebiete die großen amerikanischen Erfahrungen werden für uns nutzen können, werden wir für uns brauchbare, in die Zukunft weisende Ergebnisse erzielen können.
Besonders wichtig scheint es mir zu sein, daß wir neben CETS und INTELSAT auf dem Gebiete der Weltraumfahrt die direkte Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten pflegen. Das Projekt eines deutschen Forschungssatelliten, der 1968 mit Hilfe einer amerikanischen Trägerrakete gestartet werden soll, macht gute Fortschritte.
Fahren wir auf diesem Wege fort, meine Damen und Herren, dann braucht uns um die technische Zukunft unseres Volkes nicht bange zu sein. Ich glaube, die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie den Weg der bisherigen Bundesregierung auf dem Gebiet der Förderung naturwissenschaftlicher Forschungen weiterginge. Jetzt kommt es vor allem darauf an, daß wir uns Gedanken darüber machen, wo Schwerpunkte zu bilden sind. Wir müssen alle Kräfte zusammenfassen und sollten nicht versuchen, auf allen Gebieten etwas zu tun, sondern unsere Stärke da einsetzen, wo wir am besten gerüstet sind. Dann werden wir in der Bundesrepublik Deutschland auf die Dauer einen technischen Stand erzielen, der zur Wohlfahrt aller ausschlagen wird.
({0})
Das Wort hat Herr Dr. Mühlhan.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, mich mit den nebulosen Vorstellungen des Geschichtsbildes unseres Kollegen Geißler auseinanderzusetzen.
({0})
Sie entbehren jeglicher wissenschaftlichen Substanz.
({1})
Ich habe aber auf etwas Besonderes hinzuweisen.
({2})
Er hat Vorstellungen über die geistige Entwicklung unseres Volkes zur Sprache gebracht, indem er auf das Unheil der geistigen Auseinandersetzung der verschiedenen Konfessionen unseres Volkes hinwies.
({3})
Diese Auseinandersetzungen der verschiedenen Konfessionen, die das deutsche Volk jahrhundertelang zur gegenseitigen Duldung, zur Toleranz gezwungen haben, sind eines der wesentlichsten Elemente unserer geistigen Entwicklung, die dem deutschen Volk den Namen des Volkes der Dichter und Denker eingebracht hat. Diese Vorstellung ist zu korrigieren.
Ich habe noch auf etwas anderes hinzuweisen. Herr Kollege Geißler hat unserem ehrwürdigen Freund Thomas Dehler
({4}) Schäbigkeit der Motive vorgeworfen.
({5})
Ich stelle fest, daß die Reformbedürftigkeit des deutschen Bildungswesens schon aus diesem Grunde sehr, sehr notwendig ist.
({6})
Ich wende mich nunmehr den Sachfragen der Wissenschaftspolitik zu.
({7})
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den kulturpolitischen Aufgaben des Bundes zu wenig Aufmerksamkeit und Worte gewidmet, als daß man daraus eine in der Sache befriedigende Stellungnahme zu der künftigen Kulturpolitik der Bundesregierung entwickeln könnte. Darum erscheint es mir zweckmäßig, in diesem Augenblick. Problemkreise anzusprechen, deren Lösung ohne Rücksicht darauf, ob sie von der jetzigen oderfrüheren Opposition, von der früheren oder jetzigen Regierung betrieben wurde, von jedermann und von jeder Seite der Legislative und Exekutive des Bundes heute und für die Zukunft im Interesse des deutschen Geisteslebens erstrebt und verwirklicht werden muß.
Ich stelle in diesem Zusammenhang eine konkrete Frage: Welche Absichten bestehen in bezug auf die künftige Aufgabenverteilung der Bildungs- und Forschungsangelegenheiten im Rahmen der Bundesregierung? Im Rahmen der Bundesregierung besteht ein Kabinettsausschuß für wissenschaftliche Forschung, Bildungs- und Ausbildungsplanung, dem zehn Bundesminister angehören. Schon der Name beweist, daß für diesen Aufgabenbereich allein der Bundeswissenschaftsminister zuständig ist. Er allein hat in diesem Bereich die Verantwortung für den Erfolg oder Mißerfolg der Arbeit zu tragen. Keiner der übrigen neun Minister, die diesem Kabinettsausschuß angehören, vermag ihm diese Verantwortung abzunehmen, am wenigsten der Innenminister. Dieser Kabinettsausschuß bewirkt eine Zerstückelung der Bundeskompetenz in Forschungs- und Bildungsangelegenheiten.
Der Herr Bundesinnenminister betreut weite und wichtige Gebiete der Kulturkompetenz der Bundesregierung. Jeder Eingeweihte weiß, daß in den Jahren, seit diese Zuständigkeit des Innenministeriums gegeben ist, schwere Versäumnisse vorgekommen sind. Der Innenminister ist zuständig für den preußischen Kulturbesitz, u. a. für die Preußische Staatsbibliothek. Die Preußische Staatsbibliothek ist bekanntlich eines der gewaltigsten und mächtigsten Arbeitsinstrumente der Welt für Wissenschaft, Bildung und Kunst aller Arbeitsbereiche, für alle Gebiete des geistigen Bemühens der Menschheit in ihrer Vor-, Früh-, mittleren, neueren und neuesten Geschichte gewesen. Sie liegt seit 20 Jahren in einem unwürdigen Zustande in unwürdigen Behausungen darnieder. Ihr weiterer Aufbau, ihre Fortentwicklung, die täglich mit einer Vielzahl qualifizierter wissenschaftlicher Kräfte betrieben werden muß, hat unendlich gelitten. Dieser Tatbestand allein beweist, daß das Interesse der Exekutive und der Legislative der Bundesrepublik an den Angelegen3816
heitere der Wissenschaft, Kunst und Bildung nicht ausreichte, um das Notwendige und Angemessene zu tun.
Der museale Nachlaß des preußischen Staates, der Kulturbesitz einer ehemaligen geistigen Großmacht Europas, verkümmerte in ähnlicher Weise. Zahllose andere Einrichtungen, Institute der Kunst und Wissenschaft, der Musik unterstehen ebenfalls dem Innenministerium. Desgleichen fällt die Studentenförderung im Aufgabenkreis des Honnefer Modells in den Bereich des Innenministeriums. Außerdem ist das Innenministerium zuständig für den Bildungsrat, der Bedarfs- und Entwicklungspläne, Empfehlungen für langfristige Planungen für das deutsche Bildungswesen ausarbeiten soll. Seit einem Jahr ist er in Funktion, ohne zu funktionieren. Die Suche nach einem Generalsekretär hat offenbar alle Kräfte dieser Institution verbraucht. Auch der Wissenschaftsrat arbeitete unter der Kompetenz des Innenministeriums. Erst als er von Lenz ins Wissenschaftsministerium hineingezogen wurde, konnte er sich zu dem entfalten, was er heute ist, das Ministerium aber zu einem wahrhaften Forschungs- und Wissenschaftsministerium werden.
({8})
Ich frage die Bundesregierung, den Wissenschaftsminister, aber auch den Bundeskanzler, der ja als Ministerpräsident diesem Kulturbereich seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat: Weshalb verwaltet der Innenminister solch wichtige Bereiche des Wissenschaftsministeriums? Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland ist der einzige Innenminister unter allen Innenministern der Welt, der Kulturzuständigkeiten besitzt.
({9})
Seit Jahrhunderten gilt unter den Regierungen der modernen Staatenwelt der Grundsatz der Sachbezogenheit der Ressorts. Warum wird dieser Grundsatz nicht beim Wissenschafts- und beim Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt? Wir richten an den Herrn Bundeskanzler, an den Herrn Wissenschafts- und an den Herrn Innenminister die Aufforderung, die Sachbezogenheit der Ressorts herzustellen, damit sich diese hier berührten Dinge nicht zu einem öffentlichen Ärgernis auswachsen.
Die Konzentration der kulturpolitischen Zuständigkeiten der Bundesregierung im Wissenschaftsministerium ist deswegen nötig, weil erst dann eine fruchtbare Behandlung der kulturpolitischen Fragen möglich ist, die das Bund-Länder-Verhältnis berühren. Der Bund hat nach Art. 74 Nr. 13 des Grundgesetzes das Recht und die Pflicht zu einer konkurrierenden Gesetzgebung in der Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Die Stätten der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland sind in der Hauptsache die Universitäten. Nach dem Grundgesetz kann der Bund, wenn er das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung besitzt, ein Gesetz erlassen, wenn die Wahrnehmung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines
Landes hinaus eine bundesgesetzliche Regelung erfordert.
Diese Einheitlichkeit . der Lebensverhältnisse ist seit der Abtrennung Ostdeutschlands von Westdeutschland in bezug auf die Ausstattung der Länder mit Universitäten gestört. Der größere Teil des preußischen Kulturapparates befindet sich jenseits der Elbe, allein acht Universitäten. Die Nachfolgeländer des preußischen Staates in Westdeutschland, die früher im gesamten preußischen Staat ausreichend versorgt waren, verfügen daher über weniger Universitäten als die nicht preußischen Länder, so daß vier Flächenstaaten über insgesamt 16 Universitäten, drei Flächenstaaten insgesamt über drei Universitäten verfügen. Wann wird das Bildungsgefälle zwischen diesen Ländern, das die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gewährleistet, beseitigt?
({10})
Der Bund ist durch das Grundgesetz verpflichtet,
einzuschreiten. Wann wird er die notwendigen
Schritte unternehmen, und welche werden das sein?
({11})
Niedersachsen besitzt mit seinen 7 Millionen Einwohnern als zweitgrößter Flächenstaat Westdeutschlands eine einzige Universität. Es lehnt offenbar den Bau einer zweiten Universität ab und erstellt einen Umbau der Göttinger Universität, der keinen zusätzlichen Studienplatz schafft, der aber ebensoviel kostet wie der Neubau einer zweiten Universität. Nach langjährigem, unfruchtbarem, erfolglosem aber kostenreichem Bemühen soll der Bau der Universität der Baugesellschaft „Neue Heimat" übertragen werden. Hier liegt doch offenbar ein spektakulärer Fall vor, wo ein Land den Anforderungen, die sich aus der von ihm beanspruchten Kulturhoheit ergeben, nicht gerecht werden kann. Was wäre wohl aus dem Wissenschaftsapparat Preußens geworden, das 14 Universitäten zu betreuen hatte, wenn es die gleichen gekonnten Methoden der Betreuung angewandt hätte wie Niedersachsen beim Umbau seiner einzigen Landesuniversität Göttingen?
({12})
Tatsache ist, daß die Bundesrepublik Deutschland die durch den Ausgang des Krieges bewirkten Zerstörungen unserer Kulturverwaltung und unserer Bildungsmittel nicht so hat ausgleichen können wie die Vermögensverluste beim Neuaufbau unseres Wirtschaftskörpers und Wirtschaftslebens. Verantwortlich für diesen Tatbestand ist die kulturpolitische Krähwinkelei der Kulturhoheit der Länder und die geringe Bereitschaft des Bundes, von seiner Kompetenz in der Forschungsförderung Gebrauch zu machen und die Zerstückelung seiner Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsressorts zu beseitigen.
Sie, Herr Bundesminister Stoltenberg, haben die Fahrbahn Ihres Ministeriums, die Ihnen Ihr Vorgänger, Herr Bundesminister Lenz, hinterlassen hat,
in den eineinviertel Jahren Ihrer Tätigkeit nicht verbreitern können. Beseitigen Sie darum endlich den Ressortimperialismus, die Ressortwütigkeit Ihres Kollegen im Innenministerium, die keine politische Angelegenheit mehr ist.
Ich hoffe, daß von den 84 geplanten Grundgesetzänderungen sich auch einige mit der Kompetenz von Bund und Ländern in der Kulturpolitik Westdeutschlands befassen werden. Nichts wäre für das künftige Wohlergehen der Bundesrepublik notwendiger.
({13})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für wissenschaftliche Forschung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar, daß die Sprecher aller Fraktionen wie die Regierungserklärung selbst nicht nur den besonderen Rang von Wissenschaft und Forschung nachdrücklich betont haben, sondern zum Teil auch präzise Vorschläge zu den Einzelfragen hier formulierten. Ich glaube, daß es wohl begründet ist, wenn die Fragen von Wissenschaft und Forschung auch im Rahmen einer Generaldebatte ausführlich behandelt werden. Andererseits kenne ich die Geschäftslage des Hauses und werde mich deshalb - nicht aus mangelnder Würdigung für alle vorgetragenen Gedanken - auf einige große Probleme in meiner kurzen Stellungnahme beschränken. Ich möchte deshalb auch davon absehen, auf mehr propagandistische oder polemische Behauptungen hier näher einzugehen. Man kann nach meiner Überzeugung in einer wissenschafts- und kulturpolitischen Debatte nicht mit dem Anspruch, sehr ernst genommen zu werden, sagen, daß die Relation der Stimmen für die CDU kongruent sei mit der mangelnden Schulbildung. Ich kann dem Kollegen Moersch nur empfehlen, einmal mein Heimatland Schleswig-Holstein zu besuchen, in dem die CDU seit 1950 Regierungspartei ist und das gerade auf dem Gebiet der Leistungen für die Schule und der Schulerfolge einen Spitzenstand in der ganzen Bundesrepublik hat.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, wir wollen darauf verzichten, diese Art der Debatte fortzuführen. Manches, was wir hier gehört haben, zeugt eben davon, daß die Erschütterung und die Verbitterung über den Mißerfolg der Politik einer Partei in den letzten Wochen noch nicht überwunden ist.
({1})
Es geht, glaube ich, um drei Hauptprobleme, die auch in den sachlichen Beiträgen der Sprecher aller drei Fraktionen - und ich darf dankbar auch diesen Teil der Äußerungen der Opposition einbeziehen - behandelt wurden.
Erstens ist mit Recht unterstrichen worden, daß wir Wissenschaftspolitik nur als Teil der Gesamtpolitik verstehen können und daß ihre Einordnung insbesondere in die mittelfristige Finanzpolitik und
Finanzprogrammatik entscheidend ist, wenn gute Grundsätze realisiert werden sollen.
({2})
Zweitens ist hier mit Recht in vielen Einzelüberlegungen die dringende Notwendigkeit der Fortsetzung und der weiteren Verstärkung der guten Zusammenarbeit von Bund und Ländern herausgestellt worden. Wir können in der vor uns liegenden Zeit eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik weder vom Bund noch von den Ländern, deren starke verfassungsrechtliche Stellung wir respektieren, konzipieren und verwirklichen, wenn nicht beide Seiten entschlossen sind, diese Zusammenarbeit weiter zu intensivieren.
({3})
Wir haben von dem Kollegen Geißler und dem Kollegen Lohmar ernste Sorgen darüber gehört, daß bisher keine Entscheidung über die Neufassung und Verlängerung des Verwaltungsabkommens erzielt wurde. Ich verstehe und teile diese Sorge. Die Bundesregierung hat bereits im Juni konkrete Vorschläge gemacht. Ich darf aber doch sagen, daß nach gewissen Vorgesprächen auch innerhalb der Länder, etwa in den Konferenzen der Kultus- und der Finanzminister, die Notwendigkeit der Weiterführung dieser Zusammenarbeit prinzipiell positiv beurteilt und bejaht wurde. Ich hoffe, daß wir jetzt im Januar schnell zu den konkreten Verhandlungen und dann zu einem Abschluß kommen.
Diese aktuellen Überlegungen in den Ländern und im Bund sind teilweise überschattet von den ernsten finanziellen Sorgen, die auch die Diskussion in den Landesregierungen und Landtagen bestimmen. Wir hören sogar gewisse Zweifel von einigen Regierungen, ob sie noch in der Lage sind, die zugrunde gelegten 50 % der Investitionen für ihre eigenen primären Aufgaben, etwa die Finanzierung der Hochschulen, zu leisten. Wir haben auch mit Sorge den hier schon mehrfach erwähnten Beschluß der Finanz- und der Kultusminister der Länder gehört, die im gemeinsamen Verwaltungsausschuß von Bund und Ländern beschlossenen Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht in vollem Umfang zur Verfügung zu stellen. Dies unterstreicht die Dringlichkeit neuer konkreter Vereinbarungen ebenso wie die Notwendigkeit, in der Finanzpolitik selbst die Schwerpunkte zu setzen.
Es ist dann auch über den dritten Komplex, die neuen großen Aufgaben im technisch-wissenschaftlichen Bereich, die Probleme der Elektronik, der Atomenergie, der Weltraumforschung, vieles gesagt worden, was ich nur nachdrücklich unterstreichen kann. Die Bundesregierung, Herr Kollege Moersch, wird sich auch in diesen neuen Bereichen, etwa auf dem Gebiet der Datenverarbeitung, des sachverständigen Rats berufener Wissenschaftler und Männer der Praxis bedienen, genauso wie sie es in der Atomforschung und der Weltraumforschung mit Erfolg tut. Sie wird dabei für eine ausgewogene
und unabhängige Beratung sorgen.
Ich unterstreiche, daß wir wesentlich verstärkte Formen der internationalen Zusammenarbeit brau3818
chen. Die Großforschung, die Technologie sprengen zum Teil den Rahmen der Staaten, und sie überschreiten vom Zwang der Sache her die Grenzen. So ist nach meiner Überzeugung die moderne Wissenschaftspolitik eine in ihrer Bedeutung schnell wachsende Komponente der modernen Außenpolitik. Wir haben in den letzten Monaten viele Initiativen und viele Debatten im europäischen Bereich gehabt, im Europarat ebenso wie in der Westeuropäischen Union, die Diskussion in den europäischen Gemeinschaften, die Reden bedeutender europäischer Politiker wie des britischen Premiers Wilson und des italienischen Außenministers Fanfani, um nur einige Beispiele der jüngsten Zeit zu nennen.
Wir brauchen 'derartige prinzipielle Debatten. Wir brauchen aber auch konkrete Einzelentscheidungen. Ich darf hier im Anschluß an die Ausführungen des Kollegen Geißler meiner Genugtuung darüber Ausdruck geben, daß wir die schon von meinem Amtsvorgänger, Herrn Minister Lenz, begonnenen Gespräche über den deutsch-französischen Höchstflußreaktor gestern in einer Ministerkonferenz in Paris zu einem endgültigen Abschluß bringen konnten, so daß wir im Januar den Vertrag unterzeichnen können und der gemeinsame deutsch-französische Lenkungsausschuß für diesen Höchstflußreaktor am 5. Januar in Bonn zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten kann.
({4})
Sowohl im Rahmen der europäischen Weltraumkonferenz als auch bei den zweiseitigen deutschfranzösischen Gesprächen haben sich darüber hinaus sehr wesentliche und erfreuliche Möglichkeiten für weitere Gemeinschaftsprojekte eröffnet, die wir genauer darstellen wollen, wenn sie konkreter zu formulieren sind. Ich glaube, daß wir die von den früheren Bundesregierungen, gerade auch von meinem verehrten Amtsvorgänger, Herrn Lenz, eingeschlagene Bahn erfolgreich und zielstrebig weitergeführt haben. Insoweit unterstreiche ich den Dank, den Herr Mühlhan ihm ausgesprochen hat. Man sollte das aber ohne jeden parteipolitischen Nebenton tun. Seitdem ich das Amt des Bundesforschungsministers übernommen habe, haben wir durch Entscheidungen des Kabinetts und des Bundestages das Etatvolumen von knapp 1 Milliarde auf über 1,6 Milliarden DM im Regierungsentwurf 1967 erhöht. Dies zeigt doch, daß wir auf einer richtigen Fahrbahn zu einer breiteren Spur gekommen sind, als wie sie vorgezeichnet fanden.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß diese Anstrengungen - so wie wir es in der Regierungserklärung klar formuliert haben und wie es alle Parteien hier unterstützt und mit Nachdruck gefordert haben- durch Taten im harten Spannungsfeld des Tages und vor allem auch der Finanzpolitik realisiert werden.
,({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Orgaß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es scheint mir nach einer so unstrukturierten Debatte schier unmöglich zu sein, hier noch einen Gedanken zur Strukturpolitik vorzubringen. Ich will mich nicht den Zornesblicken der Frau Präsidentin und anderer aussetzen und werde deshalb auf diesen Teil meiner Rede verzichten.
Gegen eins möchte ich mich aber doch wenden. Der Gedanke der Großen Koalition und auch die Regierungserklärung haben die Meinung hochkommen lassen: Nun ist endlich Schluß mit der Sozialpolitik; nun kommt die Wirtschaft dran! Dieser Gedanke ist falsch. Man muß ihm energisch widersprechen.
Lassen Sie mich ,das begründen. Wirtschafts- und Sozialpolitik sind keine Gegensätze. Sie stellen zusammen mit der Fiskalpolitik wichtige Teilbereiche einer umfassenden gesellschaftspolitischen Konzeption dar.
({0})
Das ist also in einer Gesamtschau zu betrachten.
Wir brauchen Stabilität, wir brauchen Fortschritt. Das können wir aber nur durch stärkere Mobilität der einzelnen Produktionsfaktoren und bessere Kombinationen erreichen. Uns geht es um die größere Mobilität des Faktors Arbeit, der Arbeitskräfte. Das ist unsere Sorge. In dieser Situation sollte die staatliche Politik einen Beitrag zur Milderung der Härten leisten, die bei notwendigen Strukturwandlungen für die Arbeitnehmerschaft auftreten.
Ich bin sehr froh darüber, daß der Bundeskanzler, wie er in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht hat, die Gießkanne offenbar nur in seinem Tübinger Gartenheim verwenden will, nicht aber als ein Instrument eines Regierungschefs ansieht. Das ist gut so.
Aber andererseits möchte ich mich gegen eine Verketzerung wenden, die fast zu einer Manie geworden ist, nämlich gegen die Verteufelung der Subventionen schlechthin. Subventionen als Erhaltungssubventionen, also als Privilegien sind schlecht. Aber in einer sich notwendig wandelnden Wirtschaft wird es immer Anpassungssubventionen geben und geben müssen. Sie sind aber so einzurichten, daß sie sich durch den Vollzug der Maßnahmen von selbst überflüssig machen.
Uns geht es darum, nicht nur den sektoralen Strukturwandel, sondern ebenfalls den regionalen Strukturwandel zu fördern, weil wir der Meinung sind, daß Raumordnungspolitik letztlich immer angewandte Gesellschaftspolitik ist. Darüber hat mein Kollege Müller-Hermann bereits gestern einige kurze Andeutungen gemacht. Ich erwähne das nur deshalb, weil ich daran anknüpfen möchte, daß aus diesen Gründen, die jetzt nicht mehr im einzelnen dargelegt werden können, auch der soziale Wohnungsbau in Zukunft fortgeführt werden muß; denn wir müssen in den einzelnen Bereichen, wo wir ansiedeln und den Raum ordnen müssen, auch den Wohnraum für die breite Bevölkerung haben, und zwar zu gesellschaftspolitisch erträglichen Preisen.
Ein letztes. Die Probleme der beruflichen Aus- und Fortbildung werden wir ganz groß schreiben; denn an ihrer Lösung wird uns eine künftige Generation messen. Die Kosten dieser Bildung sind nicht nur Kostenfaktoren der Wirtschaft, sondern sie verbessern durch eine höhere Qualifikation auch die Struktur, die Produktivität sowie die Chance des einzelnen zum Leistungsaufstieg.
Deswegen können wir dem Minister Katzer nur sehr dankbar sein, daß er in seinem Ministerium die Novelle zum AVAVG vorbereitet. Wir sollten dies als eine ernste und für uns im Bundestag zwingend notwendige Aufgabe ansehen; denn Stabilität und Fortschritt sind für uns zwei untrennbare Bereiche. Es geht uns darum, in einer partnerschaftlichen Ordnung den Gegensatz zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu überwinden und die wirtschaftliche Notwendigkeit mit sozialer Gerechtigkeit in einer gesellschaftspolitischen Gesamtkonzeption zu paaren, die nicht eine einmalige Konstruktion, sondern ein sich ständig vollziehender Prozeß ist.
({1})
(Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kubitza.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Regierungserklärung ist nach den Worten des Herrn Bundeskanzlers die bisher wohl gründlichste Bestandsaufnahme der Möglichkeiten und Notwendigkeiten der deutschen Politik vorangegangen.
Ich glaube, daß zu dieser Bestandsaufnahme auch die Frage der vorbeugenden Gesundheitspflege gehört, die sich im Rahmen des Bundeshaushalts in der Spitzenfinanzierung des Turn- und Sportstättenbaues manifestiert. Ich frage deshalb die Bundesregierung: Ist sie bereit, die 1960 eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich des Goldenen Plans besser als bisher zu erfüllen? Oder stimmen die Gerüchte, daß im Innenministerium erwogen wird, die Mittel für den Goldenen Plan überhaupt zu streichen und diese Aufgabe gänzlich den Ländern zuzuweisen?
Meine Damen und Herren, Gesundheit, Leistungsfähigkeit des einzelnen und die wirtschaftliche Produktivität stehen in einem engen Zusammenhang. Wir haben uns gestern stundenlang über die wirtschaftliche Konzeption dieser neuen Bundesregierung unterhalten. Was nützt uns aber die beste Wirtschaftspolitik, wenn wir feststellen müssen, daß die Belastbarkeit unserer arbeitenden Menschen zunehmend abnimmt, daß sie früh, zu früh invalid werden?! Gesundheit und Produktivität stehen miteinander in Beziehung. Die Größenordnungen zeigen sich nach einer Untersuchung der Professoren Jahn und Schäfer über „Die Belastung der Volkswirtschaft durch das Phänomen Krankheit im weiteren Sinne" in folgenden Zahlen: 1961 haben wir für gesundheitsprophylaktische und für heilende Maßnahmen direkt 35 Milliarden DM ausgegeben. Die fiktiven volkswirtschaftlichen Verluste durch
Krankheit, durch Unfall, durch Frühinvalidität und vorzeitigen Tod erbringen für 1961 eine Summe von 86,5 Milliarden DM. Es ist klar, daß Krankheit, Invalidität und Unfall nicht gänzlich ausgeschaltet werden können. Wenn es uns gelänge, diese Ziffern nur um etwa 10 % zu senken, dann wären wir die blühendste Volkswirtschaft der Welt.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch ein Zweites ansprechen, und zwar die Vorgänge um die Errichtung einer Zentralstelle für die internationale Jugendarbeit. Hier ist ja schon vor einem halben Jahr nach der Masche „zwei links, zwei rechts" eine Einrichtung gestrickt worden, bevor die Gründung der Großen Koalition erfolgte. Ich hatte am Dienstag dem Bundesminister für Familie und Jugend eine Frage gestellt: Welche Schlußfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Entschließung der 33. Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendringes zur Frage der Errichtung einer Zentralstelle für internationale Jugendarbeit?" Die Antwort des Ministers ist insofern interessant, als er sagte, daß diese Entschließung seinem Hause vom Bundesjugendring noch nicht zugeleitet worden sei. Nun, Herr Minister, Ihnen wie mir liegt ein Schreiben des Bundesjugendringes vom 14. Dezember vor, wonach Ihrem Hause diese Entschließung bereits am 19. November 1966 zugeleitet wurde. Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Ungereimtheit - wenn ich mich vorsichtig ausdrücken will - erklären könnten.
Insgesamt darf man zu der Frage der Errichtung einer Zentralstelle für internationale Jugendarbeit folgendes sagen. Die Methoden des Bundesministers für Familie und Jugend, die er bei der Durchsetzung jugendpolitischer Maßnahmen seines Hauses anwendet, entsprechen nicht immer dem im Jugendwohlfahrtsgesetz verankerten Subsidiaritätsprinzip, und sie sind auch nicht immer ein gutes Beispiel partnerschaftlicher Zusammenarbeit, zu der gerade in der Jugendarbeit Repräsentanten des freien Raumes und des Staates verpflichtet sind. Obrigkeitsstaatliche Praktiken sind insbesondere dort fehl am Platze, wo man für die politische Bildung der Jugend verantwortlich mitentscheidet.
({0})
Meine Damen und Herren, damit scheinen wir uns in unserer Diskussion einem anderen Punkt zuwenden zu können: Wahlrechtsreform. Dazu hat sich der Herr Abgeordnete Dr. Even gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dem Teil der Regierungserklärung Stellung nehmen, den man mit dem Stichwort „Wahlrechtsreform" zusammenfassen kann. Ich glaube, daß dieses Thema in allen Fraktionen dieses Hohen Hauses zu lebhaften Diskussionen geführt hat, und damit hat sich ja bereits auch ein Teil der Debatte zur Regierungserklärung in diesem Saale befaßt.
Nun haben eine Reihe von Sprechern der freien demokratischen Fraktion dazu Erklärungen abgegeben, von denen ich glaube, daß sie nicht unwider3820 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - 83. Sitzung. Bonn, Freitag, .den 16. Dezember 1966
sprochen bleiben dürfen, weil sie nach meiner Auffassung in geradezu leidenschaftlicher Form mehr emotional zu argumentieren versuchten und dabei zwei Fehler gemacht haben, nämlich erstens den Versuch einer gefährlichen Legendenbildung und zweitens den Fehler, daß sie am eigentlichen staatspolitischen Kern des Problems vorbeigegangen sind.
({0})
Daher möchte ich mich zunächst mit aller Schärfe gegen diesen Versuch der Legendenbildung zur Wehr setzen.
Erstens. Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Wahlrechtsreform bedeutet keine Ausschaltung des politischen Liberalismus in Deutschland.
({1})
Es zeugt von maßloser Selbstüberschätzung, wenn behauptet wird, daß die FDP alleiniger oder auch nur vorrangiger Träger des politischen Liberalismus sei.
({2})
Die positiven Errungenschaften des Liberalismus haben längst ihren Eingang ins Grundgesetz und in die Landesverfassungen gefunden.
({3})
Die konstruktiven Seiten des Liberalismus sind, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung und verschiedenartigen Konsequenzen, in das Ideengut ) der beiden großen Parteien aufgenommen worden.
({4})
Es ist eine absurde Vorstellung, daß eine freiheitliche Politik nur mit der FDP betrieben werden könne.
({5})
Tatsächlich bewegt sich das Schicksal der im engeren Sinne liberalen Parteien bereits seit hundert Jahren - darin liegt eine Tragik - innerhalb eines verhängnisvollen magischen Dreiecks, nämlich zwischen Rechtsliberalismus, Linksliberalismus und einem extrem unberechenbaren Individualismus.
({6})
Das ist die Sachlage, und in dieser inneren Widersprüchlichkeit liegt das unkalkulierbare Risiko jeder Koalition mit der FDP
({7})
und damit zugleich das unberechenbare Wagnis für jeden Wähler der FDP.
Zweitens. Es kann daher von einem Anschlag auf den politischen Liberalismus schlechthin überhaupt nicht die Rede sein, wobei ich mich gleichzeitig gegen eine unangemessene Verherrlichung des Liberalismus wenden muß. Letzten Endes war es doch der Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, der zu unerträglichen sozialen Verhältnissen geführt hat.
({8})
Bei allem Respekt vor der liebenswerten Persönlichkeit unseres Kollegen Dr. Thomas Dehler kann doch nicht so getan werden, als ob alle guten Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert nur auf Konto des Liberalismus gegangen wären und als ob es nicht auch Fehlentwicklungen schrecklichster Art gegeben hätte.
({9})
Das Hochkommen der marxistischen Bewegung, meine Damen und Herren, war doch die gequälte und verzweifelte Antwort des ausgebeuteten Proletariats gegen den Manchester-Liberalismus,
({10})
und dadurch wurde doch neben der sozialistischen Alternative auch die christlich-soziale Alternative dem gegenübergestellt.
({11})
Drittens. Die erstrebte Wahlrechtsreform bezweckt keine manipulierte Ausschaltung oder gar Bestrafung der FDP.
({12})
Bei einer Wahlrechtsreform würde jede Partei ein Risiko laufen. Deswegen gehen die Meinungen ja auch quer durch die Parteien auseinander. Ich bin nicht hierhin gekommen, um etwa eine festgefügte Auffassung der CDU/CSU-Fraktion dazu mitzuteilen. Wir sind vielmehr der Meinung, daß dieses Problem noch gründlich diskutiert werden muß. Aber wenn die FDP von vornherein ihren hartnäckigsten Widerstand ankündigt, so kann daraus nur ein zwingender Schluß gezogen werden, nämlich: sie fürchtet offenbar, daß bei einem mehrheitsbildenden Wahlrecht die Wähler die FDP-Kandidaten auf der ganzen Linie ablehnen würde.
({13})
Viertens. Erst recht ist keine Ausschaltung der Opposition dadurch in Aussicht genommen. Das Gegenteil ist richtig. Durch ein klares mehrheitsbildendes Wahlrecht würde die dauerhafte Voraussetzung für ein ständiges Wechselspiel zwischen einer starken Regierung und einer starken Opposition geschaffen.
({14})
Worum geht es in Wahrheit bei der erstrebten Wahlrechtsreform?
({15})
- Sie sollten es sich nicht so einfach machen!
({16}) So einfach sollten Sie es sich nicht machen.
Die Nachteile und Dauerfolgen des Verhältniswahlrechts - auf das unser geltendes Wahlrecht praktisch hinausläuft - müssen jeden staatspolitisch Weitblickenden beunruhigen. Es kann nicht die entscheidende Aufgabe des Wahlaktes sein, in dem das Volk frei seinen Willen äußert, ein mikroskopisch
genaues Spiegelbild aller politischen Gruppen und Grüppchen zu ermitteln und es ins Parlament zu übertragen. Darin würde sich höchstens eine rein formale Gerechtigkeit äußern. Ausschlaggebender Zweck der Wahl ist vielmehr, im Interesse der Gesamtheit ein funktionsfähiges Parlament und damit eine handlungsfähige Regierung nach dem Willen der Mehrheit des Volkes zu bilden.
({17})
Der Wähler braucht klare Alternativen, damit er klar die Verantwortlichkeit für Regierung und Opposition verteilen kann. Das Verhältniswahlrecht erschwert die Erfüllung dieser Notwendigkeit und macht sie oft unmöglich. Das ergibt sich aus folgendem.
Erstens. Bei der Verhältniswahl besitzt der Wähler keine Klarheit darüber, welche Regierung nach der Wahl gebildet wird. Der Wähler kleiner Parteien weiß nicht, wem er letzten Endes überhaupt seine Stimme gibt.
Zweitens. Der Zwang zur Koalition ist dem Verhältniswahlrecht eigen und führt notwendig zur Verwässerung der Parteiprogramme. Keine Partei ist in der Lage, ihr Programm, mit dem sie vor die Wähler getreten ist, konsequent zu verwirklichen. Die bei der Verhältniswahl unvermeidlichen Koalitionsverhandlungen erscheinen vielen Wählern abstoßend. Dadurch wird oft das Ansehen der parlamentarischen Demokratie schlechthin herabgesetzt.
Drittens. Die Verhältniswahl wirkt zersplitternd, fördert den Vielparteienstaat und übt dadurch eine desintegrierende Funktion aus. Vor allem bewirkt sie in kritischen Zeiten das Hochkommen reiner Interessenparteien und radikaler Gruppen. Ich meine, die Erfahrungen der letzten Monate sollten uns nachdenklich stimmen.
({18})
Viertens. Die Verhältniswahl führt zu einer krassen Ungerechtigkeit, indem sie den kleinen Parteien einen unangemessen hohen und von der großen Mehrheit der Wähler nicht gewollten Einfluß verschafft.
({19})
Dadurch wird eine völlige Verzerrung des Wählerwillens herbeigeführt. Das hat z. B. in den letzten fünfzehn Jahren dazu geführt, daß die FDP über lange Zeit hinweg in mehr Länderregierungen vertreten war und mehr Minister stellte als CDU/CSU und SPD. Die beiden großen Parteien wurden oft unter Druck gesetzt und gegeneinander ausgespielt. Diese ständige Schaukelpolitik des „Züngleins an der Waage" ist die letzte Ursache dafür, daß die Wähler zunehmend der FDP die entsprechende Quittung gegeben haben.
({20})
Fünftens. Der Zwang zu Koalitionen beim Verhältniswahlrecht bewirkt häufige Regierungskrisen, die leicht zur mindestens zeitweisen Handlungsunfähigkeit der Parlamente und der Regierungen führen können. Die Erfahrungen der Weimarer Republik schrecken, aber auch diejenigen der letzten Monate. Vergleichbare ausländische Staaten erleben und erleiden dasselbe. Im angelsächsischen Bereich hat sich die Demokratie am stabilsten gezeigt. Der enge Zusammenhang - es ist nicht die ausschließliche Ursache, aber es besteht ein enger Zusammenhang - mit dem dort bestehenden Mehrheitswahlrecht kann ernsthaft nicht geleugnet werden.
Meine Damen und Herren, diese Nachteile der Verhältniswahl und ihre negativen Auswirkungen müssen uns zu Überlegungen veranlassen, wie unser Wahlrecht verbessert werden kann. Auch die Bundesregierung hat sich in der Regierungserklärung nicht in den Einzelheiten auf ein bestimmtes Mehrheitswahlrecht festgelegt. Sie setzt sich für ein neues Wahlrecht ein, das für künftige Wahlen nach 1969 klare Mehrheiten ermöglichen soll.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Ertl.
Herr Kollege Even, glauben Sie, daß in den angelsächsischen Ländern eine Partei mit der Programmatik und von der Art der CDU überhaupt möglich wäre?
({0})
Daß die Parteistrukturierung in den angelsächsischen Ländern anders ist als bei uns, liegt in erster Linie daran, daß die Grundwerte, für die wir christlichen Demokraten und christlichen Sozialen zwei Jahrzehnte kämpfen mußten, dort in den beiden großen Parteien unbestritten sind.
({0})
Im Interesse unseres ganzen Volkes und zur Festigung der Domokratie müssen wir solche Reformüberlegungen anstellen, und wir sollten dies nicht unter parteitaktischen Gesichtspunkten tun, sondern aus staatspolitischer Verantwortung.
({1})
Die Meinungen in den Einzelheiten gehen quer durch die Fraktionen hindurch noch auseinander. Daher bedarf es einer sehr gründlichen, unter keinem Zeitdruck stehenden sorgfältigen Diskussion. Diese Diskussion muß von der Sorge getragen werden, die deutsche Demokratie nicht nur in Schönwetterperioden, sondern auch in Gewitterfronten und vor allen Dingen auf Dauer lebenskräftig und handlungsfähig zu erhalten. Es geht darum, dem neuen deutschen Rechtsstaat das Schicksal der Weimarer Republik zu ersparen.
({2})
Es gilt, dasjenige Wahlrecht zu erarbeiten, das die bestmögliche Festigung unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung für die Zukunft gewährleistet.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitt-Vockenhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein engagierter Gesprächspartner in unserer heutigen Debatte über Wahlrechtsfragen wäre Herr Bundesinnenminister Lücke gewesen. Leider ist er erkrankt. Ich möchte ihm, auch im Namen der sozialdemokratischen Fraktion, von dieser Stelle aus baldige völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit wünschen.
({0})
Herr Kollege Dehler hat hier gestern die Debatte über das Wahlrecht eröffnet. Mit Recht erfreut sich Herr Dehler über die Grenzen seiner Partei hinaus großer persönlicher Sympathien. Seine politischen Aussagen allerdings finden nicht nur bei seinen politischen Gegnern, sondern sehr oft auch im Kreise seiner Freunde Widerspruch. Wunschvorstellungen und Emotionen tragen ihn in seinen Betrachtungen oft weit über das hinaus, was er sich auch selbst zu sagen vorgenommen hatte.
({1})
Das war auch gestern so. Wir alle wissen das, und niemand wird dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, unserem geschätzten Kollegen Dehler, seine persönliche Sympathie deswegen versagen.
Aber, meine Damen und Herren, Sie werden verstehen, daß es notwendig ist, einiges zu dem zu sagen, was Herr Dr. Dehler über den Weg der deutschen Politik hier vorgetragen hat. Ich hätte es für richtiger gehalten, wenn wir gestern und auch heute bei der Erörterung dieser Fragen vor allem nach vorn gesehen und uns darauf konzentriert hätten, was getan werden muß, um unsere demokratische Ordnung auszugestalten und zu erhalten, d. h. ihre Grundlagen zu sichern. Aber nachdem in dieser Debatte Vergangenheit und Geschichte beschworen wurden, sind noch einige Bemerkungen notwendig, obwohl der Herr Kollege Even hier schon einige sehr wesentliche und entscheidende Hinweise für den gesamten Fragenkomplex gegeben hat.
Lassen Sie mich zunächst mit einer ganz einfachen Feststellung beginnen. Thomas Dehler gehört zu dem großen Kreis von Menschen, die zunächst einmal davon ausgehen, daß sie das Richtige erkannt haben und durchsetzen wollen und daß man den Menschen - vor allem denen, die das nicht einsehen wollen - die Entscheidung erleichtern, ja sie ihnen notfalls sogar abnehmen wollen.
Am Anfang jeder Demokratie steht die Respektierung der Gewissensentscheidung des Staatsbürgers, auch wenn man sie für falsch hält. Lassen Sie mich dazu eine Bemerkung machen, die für uns alle und im Hinblick auf die gestrige Debatte besonders wichtig ist, weil Herr Dr. Dehler glaubte, mehrmals die Katholische Kirche in seine Kritik einbeziehen zu müssen. Zu den entscheidenden Beschlüssen des Konzils gehört auch derjenige, der die Gewissensentscheidung des einzelnen in den Vordergrund der katholischen Glaubens- und Sittenlehre gestellt hat. Die Zeit, in der die Geistlichkeit vielfach das Maß des Gewissens darstellte, ist mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil endgültig vorbei, wenn der Geist des Konzils auch noch nicht überall weht.
({2})
Das muß auch für den Liberalismus in der Politik gelten. Auch ein Liberaler sollte doch nicht ernstlich bestreiten, daß Karl Marx' Kampf die Antwort auf die schlimmen Auswüchse des Frühkapitalismus war. Ich bedaure, daß die moderne Literatur über Karl Marx, nicht zuletzt auch die aus dem Kreis der beiden großen Kirchen, offensichtlich an Herrn Dr. Dehler und an den Freien Demokraten völlig vorbeigegangen ist.
({3})
Ich will unsere Debatte damit nicht aufhalten. Aber von Professor v. Nell-Breuning über Steinbüchel gibt es doch in der Literatur hier eine klare und geschlossene Meinung.
Auch Ihre Ausführungen über die Geschichte der Weimarer Republik und das Schicksal der Demokratischen Partei sind sehr subjektiv gesehen. Hochverehrter Herr Kollege Dehler, die Demokratische Partei ist in Weimar nicht an der Zangenbewegung von Zentrum und Sozialdemokraten zugrunde gegangen, sondern sie hat sich, wie der Herr Kollege Even hier richtig gesagt hat, im kaiserlichen Deutschland und in der Weimarer Republik durch immerwährende innere Auseinandersetzungen zwischen der Mitte und Rechts die Basis für eine breite Wirksamkeit selbst genommen. Vor allem jener Teil des Liberalismus, der in der Deutschen Volkspartei organisiert war, hatte das rechte Verhältnis zur Republik doch schnell verloren; auch die hervorragende Gestalt eines Gustav Stresemann konnte nicht verhindern, daß die Deutsche Volkspartei kein standfestes Bollwerk gegen den Radikalismus in der Weimarer Republik war.
({4})
- Nicht na, na, das können Sie nachlesen. Das wissen Sie zum Teil doch auch selbst.
Die großen Koalitionen der Weimarer Zeit waren ja auch keine Koalitionen von Zentrum und Sozialdemokraten, sondern waren Koalitionen mit den Demokraten, vor allem aber auch mit der Deutschen Volkspartei. Diese Koalitionen hatten immer eine offene Flanke, nämlich die offene Flanke zu den Deutschnationalen und zu der radikalen Rechten,
({5})
die von dort aus immer wieder die Regierungen zur Auflösung brachten. So waren es die Liberalen selbst, die in der Weimarer Republik nicht standfest genug waren, bis auf ein Häuflein Getreuer, zu denen auch Sie, Herr Dr. Dehler, gehören und von denen im übrigen viele nach 1945 aus dieser Erkenntnis den Weg zur Sozialdemokratischen Partei und auch zur Christlich-Demokratischen Union gefunden haben. Denken Sie nur an einen Mann wie Senator Landahl und den früheren Bundesminister Lemmer.
({6})
Erlauben Sie mir noch einen anderen Hinweis. Die deutsche Demokratie in Weimar war überall
dort stabil, wo Sozialdemokraten und Zentrum gemeinsam Verantwortung getragen haben. Von Preußen bis Baden gibt es hier überzeugende Beispiele.
({7})
Das kam auch nicht von ungefähr. Im Bismarck-Reich waren diese politischen Kräfte, .der katholische Volksteil und die deutsche Arbeiterschaft, von der Verantwortung im Staat bewußt ferngehalten worden,
({8})
eine Entscheidung, die sich noch 1918 zum großen Nachteil des Ganzen ausgewirkt hat,
({9})
weil den beiden Parteien die Integration mit dem Staat gefehlt hat.
Sie haben nun gemeint, die Freien Demokraten seien die Hüter der richtigen Gedanken und ihre Leitlinien seien die einzige Hoffnung des Staates. Herr Dr. Dehler, Sie können gewiß große liberale Persönlichkeiten als Zeugen nennen, die diese Leitlinien verkörpert haben und noch verkörpern. Aber, Herr Dr. Dehler, Sie können auch nicht bestreiten, daß Ihre Partei und Ihre Fraktion beim besten Willen dieses Leitbild nicht darstellen.
({10})
Hier scheint ,die große Tragik der Freien Demokratischen Partei überhaupt zu liegen.
Sie haben nach unseren Leitbildern gefragt. Leitbilder dieser Koalition sind die des Grundgesetzes, wie sie in Artikel 20, in Artikel 19 usw. enthalten sind.
({11})
In der Regierungserklärung und im Programm spiegeln sich diese Leitbilder wieder. Unser Grundgesetz gibt daß Maß unserer Politik. Es ist die Zusammenfassung aller geistigen Strömungen und Elemente der europäischen und deutschen Entwicklung von Jahrhunderten. Ebensowenig wie die freiheitlichen Gedanken ,des Liberalismus weggelassen werden können, können aber auch Christentum und Humanismus in dieser Entwicklung fehlen.
Nun haben Sie das Wahlrecht als eine Art Zuchtrute gegenüber den Freien Demokraten dargestellt. Die Frage einer Änderung des Wahlrechts steht weder am Anfang der Regierungserklärung noch ist sie entscheidend. Diese Regierung ist, wie der Herr Bundeskanzler mit Recht festgestellt hat, aus einer Krise entstanden, an der Sie mit Ihrem Herrn Finanzminister einen großen Anteil hatten. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß sich bei dieser Gelegenheit die neuen Koalitionsparteien darin einig sind, auch darüber nachzudenken, wie die Grundlagen dieses demokratischen Staates überprüft werden können, und daß über ein Wahlrecht nachgedacht wird, das ein Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition durch ,den Wahlentscheid möglich macht und regierungsfähige Mehrheiten im Parlament schafft, damit nicht das berühmte Zünglein
an der Waage einen unangemessenen Einfluß hat.
({12})
Die Fünf-Prozent-Klausel wird auch von Ihnen als ein entscheidender Fortschritt gegenüber Weimar anerkannt. Es ist daher auch legitim, in dieser Situation darüber nachzudenken, ob und wie eine Wahlrechtsänderung für übermorgen die Kontinuität in der parlamentarischen Demokratie sichern kann. Damit wird keine geistige Haltung erstickt, und es liegt darin auch kein Mangel an geschichtlichem und politischem Sinn, sondern wir wollen im Gegenteil gemeinsam nach einer nunmehr fast zwanzigjährigen Geschichte der Bundesrepubilk die Erfahrungen mit dem Grundgesetz überdenken.
Was nun heute und gestern über die angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Wahlrechtssysteme gesagt worden ist, hat die eigentlichen Grundfragen der Entwicklung nicht deutlich genug gemacht. Professor Fraenkel in Berlin hat mit dem klaren Satz, daß das Wahlverfahren den Erwerb von Herrschaft in der Demokratie regele, zum Ausdruck gebracht, daß die Übernahme der Verantwortung im Wechselspiel von Regierung und Opposition dem Staatsbürger die Bedeutung und Aufgabe einer Wahl verdeutlicht.
Im angelsächsischen Rechtskreis wurde das Wahlrecht auf der gewachsenen Freiheitssphäre des Staatsbürgers aufgebaut. Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung hat sich entwickelt, und das Wahlverfahren hatte und hat hier die Aufgabe, die verantwortlichen Regierungen eindeutig mit der Wahl zu bestimmen. Im kontinentaleuropäischen Bereich sind die Parteien - und das muß man historisch sehen - meist aus religiösen, politischen und wirtschaftlichen Gruppeninteressen im Kampf gegen den Obrigkeitsstaat oder auch vielfach noch gegen den konstitutionellen Staat gewachsen. Beispiele lassen sich auch in der heutigen Struktur des Parteiwesens aller kontinentaleuropäischen Länder genügend aufzeigen.
Trotz der Entwicklung und der weiteren Ausgestaltung unserer freiheitlichen Demokratie sind Rudimente und Gedankengut dieser Gruppierungen des 18. und 19. Jahrhunderts in den heutigen Parteien immer noch vorhanden. Das liegt nicht zuletzt an Personenfragen, wie man es bei der jetzigen Opposition und der Regierung in Schweden und Norwegen noch in den letzten Jahren besonders deutlich sehen konnte. Manche parlamentarischen Krisen in den kontinentaleuropäischen Ländern sind darauf zurückzuführen, daß das absolute Verhältniswahlrecht und die Parteienzersplitterung allzu stark zur Koalitionsbildung verpflichtet haben und damit ständig Unsicherheiten in der politischen Entwicklung einer Reihe von Ländern herbeigeführt haben.
Bei uns' ist durch die Zeit von 1933 bis 1945 eine Wandlung eingetreten. Die angelsächsische Entwicklung und der Wunsch nach Stabilität sind immer mehr in den Vordergrund unserer Überlegungen hinsichtlich der Bundesrepublik getreten. Die FünfProzent-Klausel hat das begünstigt. Bei der weiteren Entwicklung - und ich sage das hier ganz klar
auch für meine politischen Freunde - kann man sich nicht einfach über die nunmehr auch gewachsene innere Entwicklung von Parteien und Parlamenten hinwegsetzen. Deshalb muß das Gesamtproblem in Ruhe - wie Sie, Herr Kollege Even, gesagt haben - diskutiert und geprüft werden.
Lassen Sie mich nur wenige Grundgedanken dazu sagen. Erstens. Der Herr Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung ausdrücklich von einer Zweidrittelmehrheit gesprochen, so daß eine einzige parteipolitische Interessenlage im Parlament nicht entscheidend sein kann. Zweitens, Erst grundsätzliche Änderungen für 1973 werden die Normallage im Wechselspiel von Opposition und Regierung herstellen. Drittens. Es wird keine Veränderungen geben, die die Grundwerte des Grundgesetzes und unserer demokratischen Rechtsordnung tangieren können und dürfen. Viertens. Die bisherige Repräsentationsstruktur im Parlament, die für viele Kollegen auch aus den großen Fraktionen eine Rolle spielt, wird bei der Gestaltung des neuen Wahlrechts sicher sorgfältig geprüft werden müssen und in geeigneter Weise Ausdruck finden. Fünftens. Übereinstimmung besteht doch sicher auf allen Seiten, daß es bei allen Wahlrechtsproblemen weniger darauf ankommt, kleine und kleinste Gruppenrepräsentationen zu sichern, als Regierungsbildung und Opposition im klaren Wechselspiel der Verantwortung zu halten;
({13})
das alles gesagt unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß alle Schritte sauber getan und daß Entscheidungen nicht erzwungen oder erschlichen werden. Das ist das Entscheidende.
Lassen Sie mich nun eine letzte Bemerkung machen. Wenn das alles richtig wäre, was der Herr Kollege Dr. Dehler gestern hier gesagt hat, was hätten die Freien Demokraten in all den zurückliegenden Jahren dann tun müssen, und welche Gelegenheiten haben sie in der Politik versäumt?
({14})
Ich will Ihnen und Ihren Freunden keieswegs Fehler zurückliegender Jahre ankreiden. Wir sind aber nicht bereit, Ihre Fehler und Schwächen und deren Ergebnisse nunmehr zum Maßstab deutscher Politik machen zu lassen, an dem jetzt auch die SPD gemessen werden soll. Auch die Geschichte der SPD hat, wie die jeder Partei, Fehler und Schwächen offenbart. Aber diese Partei hat - und das hat der Herr Kollege Dr. Möller gestern hier deutlich gemacht - immer gewußt, was für das deutsche Volk wesentlich, entscheidend und gut war. Lesen Sie einmal nach, was selbst der Altbundeskanzler Adenauer über die Haltung Bebels im Jahre 1870 zur Frage der deutsch-französischen Verständigung gesagt hat! Ich erinnere an die Jahre 1918 bis 1920, in denen Deutschland im Chaos untergegangen wäre, wenn die Sozialdemokraten nicht der Republik den Weg bereitet hätten. So viele in unserem Volk haben so schnell Ursache und Wirkung vergessen.
({15}) Ich erinnere an das Jahr 1933, in dem die Haltung der SPD gegen das Ermächtigungsgesetz Hoffnung und Zuversicht für die Wahrung unserer nationalen Ehre war. Ich erinnere an den Kampf der Sozialdemokraten in Berlin und um Berlin nach dem Zusammenbruch. Ich erinnere an Kurt Schumachers entscheidenden Beitrag bei der Schaffung des Grundgesetzes.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, deswegen haben sich die Sozialdemokraten auch jetzt nicht der Verantwortung entzogen.
({16})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Echo, das die Rede unseres Kollegen Thomas Dehler in diesem Hause gefunden hat, beweist, wie sehr ein liberaler Politiker mit seinen Vorstellungen das politische Leben und die politische Diskussion in diesem Hause und in unserem Volk beeinflussen kann. Kollegen haben in diesem Hause die Diskussion über die Frage des Wahlrechts zum Anlaß genommen, Herrn Dr. Dehler zu antworten, und mindestens einer von ihnen hat diese Stunde auch dazu genutzt, sich in seiner Gesinnung und seiner politischen Haltung hier zu demaskieren. Meine Damen und Herren, wir wünschen, daß die Auseinandersetzung über so entscheidende Fragen, auch über die politische und geistesgeschichtliche Situation der einzelnen Fraktionen in diesem Hause, in Fairneß, Sauberkeit und Anstand geführt wird.
({0})
Gestern ist von Herrn Dr. Dehler auf einen Zuruf aus der Fraktion der SPD der Grund dafür dargelegt worden, daß im Jahre 1949 eine Koalition mit den Sozialdemokraten von unserer Seite nicht möglich war. Wer den Sachzusammenhang erfaßt hat, wer den Grund dieser Darlegungen kannte, wird verstanden haben, daß Thomas Dehler nicht mehr und nicht weniger sagen wollte, als daß im Jahre 1949 wegen Ihrer damaligen wirtschaftspolitischen Auffassungen eine Koalition mit Ihnen nicht möglich war; nicht mehr und nicht weniger, Herr Kollege Möller. Sowohl die Gesinnung als auch die Haltung unseres Freundes Thomas Dehler verbietet den Schluß, er habe damit der SPD die moralische oder sachliche Qualifikation, die politische oder demokratische Legitimation absprechen wollen. Ich glaube, das sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen.
({1})
Nun hat hier Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen bei der Betrachtung des politischen Weges von Politikern aus der Weimarer Zeit auch den Kollegen Lemmer aus diesem Hause erwähnt. Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie diesen Namen genannt haben. Aber ich versichere Ihnen: auch ohne diese Nennung hätte ich dazu gesprochen, denn wenn ich sage, daß wir in diesem Volk und in diesem Parlament eine saubere
Auseinandersetzung wollen, dann muß ich zu dem Stellung nehmen, was der Kollege Lemmer in den letzten Tagen über eine demokratische Regierungsbildung in einem Bundesland erklärt hat. Ich weise mit Entschiedenheit zurück, daß die Bildung einer Landesregierung aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten in Düsseldorf ein Sieg Ulbrichts sei.
({2})
- Nein, es ist unser Bundestagskollege, der sogenannte Sonderbeauftragte des Herrn Bundeskanzlers in Berlin. Vielleicht kann der Herr Bundeskanzler Gelegenheit nehmen, zu sagen, ob Herr Lemmer noch dieses Amt ausübt oder ob er demnächst abberufen wird, vielleicht nach Ende des Berliner Wahlkampfes.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Genscher, haben Sie diesen Artikel überhaupt im vollen Wortlaut gelesen oder stützen Sie Ihre Behauptung auf einen unglücklichen Presseauszug?
({0})
B)
Herr Kollege Lemmer, mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten werde ich, damit man versteht, warum ich diese Ihre Äußerungen kritisiere, aus dem mir hier vorliegenden Artikel das zitieren, was. ich nicht für vertretbar und verantwortbar halte. Die Überschrift lautet: „Bundesminister a. D. Ernst Lemmer: Ulbricht siegte in Düsseldorf".
({0})
- Sie haben geschrieben - -({1})
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß es von hohem öffentlichen Interesse ist, daß diese Sache geklärt wird.
({0})
Sie soll hier ruhig im Parlament vor den Augen der ganzen Offentlichkeit. zur Sprache kommen. Aber das muß geordnet vor sich gehen. Also bitte: Frage und Antwort.
Ich werde zunächst die Sätze zitieren, die mich zu dieser kritischen Stellungnahme veranlassen, und wenn es gewünscht ist, dann kann ich auch den ganzen Artikel verlesen. Herr Kollege Lemmer hat hier geschrieben:
Aber in der Sozialdemokratie des Düsseldorfer Parlaments zeigte sich ein solches Maß von politischer Einsichts- und Ahnungslosigkeit, daß darüber bestimmt die verantwortlichen Männer der deutschen Sozialdemokratie nicht weniger erschreckt sein werden wie die Beobachter anderer Parteien.
Und dann heißt es:
Die Bundesführung der Sozialdemokratie hat dieses Spiel durchschaut, und die verantwortlichen Männer in Bonn haben sich wie die der CDU/CSU nicht durch Emotionen verführen lassen, auf das Spiel Ostberlins einzugehen.
({0}) Und dann heißt es:
In Düsseldorf zeigten sich Kräfte, denen große Aufmerksamkeit zugewendet werden sollte, weil hier einem Wunsch nach einer selbstmörderischen Politik für unser Volk entsprochen worden ist. Ulbricht siegte in Düsseldorf.
Das ist nicht nur die Überschrift, sondern auch Teil Ihres Artikels, Herr Kollege Lemmer, und wer das sagt, hat aus Weimar nichts gelernt.
({1})
Ich würde es begrüßen, wenn ein Sprecher der CDU/CSU oder noch besser der Herr Kollege Lemmer selbst hier vor diesem Hohen Hause von diesen Ausführungen abrückte. Ich wiederhole: Wir brauchen eine saubere, klare, anständige politische Atmosphäre, in der nicht dann, wenn politisch etwas mißliebig wird, sofort mit Ulbricht, Moskau und Kreml argumentiert wird. Wie wollen wir die großen Fragen unserer Außenpolitik lösen, wenn permanent der politisch Andersdenkende in dieser Form verketzert wird?!
({2})
- Verehrter Herr Kollege, da Sie gestern wie heute im Plenarsaal waren, als Herr Kollege Dr. Dehler sprach, wissen Sie, daß das, was Sie eben gesagt haben, falsch ist. Sie haben von der Dummheit gesprochen, und Ihr Zitat war falsch. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({3})
-- Wieso ist das unanständig, Herr Kollege Barzel? Der Kollege hier hat versucht, etwas zu unterstellen, was Herr Dehler gestern nicht gesagt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Genscher, sind Sie mit mir darin einig, daß heute vormittag von einem Redner Ihrer Fraktion erklärt worden ist, daß in CDU-Ländern die Schulbildung zu schlechten Ergebnissen führt, und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
({0})
Herr Kollege, in diese Diskussion haben Sie das Wort dumm eingeführt. Der Kollege Moersch hat über die Grade des Fortschritts in den Bereichen der Schul- und Bildungspolitik gesprochen.
({0})
Das Wort dumm hat der Kollege Moersch nicht gebraucht.
({1})
Meine Damen und Herren, die Kollegen, die hier zur Position des politischen Liberalismus in Deutschland Stellung genommen haben, haben auf Irrwege, die jeder Geisteshaltung eigen sind, hingewiesen. Das ist ihr gutes Recht. Nichts anderes hat der Kollege Dehler in bezug auf Ihren politischen und geistigen Standort getan.
Kollege Geißler hat sogar von den Nationalliberalen gesprochen. Herr Kollege Geißler, wir können sehr weit in die Geschichte zurückgehen. Ich kann Ihnen das Sündenregister des Zentrums und seiner geistigen Vorläufer aufzeigen. Ich glaube, das führt nicht viel weiter.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen machen. Die Beiträge des Liberalismus für diesen Staat seit 1945 haben bestanden in der Verwirklichung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung, in der Verwirklichung einer freiheitlichen Wirtschaft, nämlich der Marktwirtschaft,
({2})
- ich habe von Beiträgen gesprochen - und in dem Versuch - der nicht in demselben Maße gelungen ist wie in den anderen Bereichen -, wie ein Liberaler es sieht, die Außenpolitik von den Scheuklappen der Ideologien zu befreien.
({3})
Daß dieser Versuch nicht vollends gelungen ist, haben die Ausführungen des Kollegen Geißler heute zur Saar-Frage bewiesen.
({4})
In einer Zeit, in der für uns alle die gemeinsame Aufgabe gestellt ist, die Frage der deutschen Einheit, der Zusammenführung der getrennten Teile unseres Landes vor der Weltöffentlichkeit zu aktualisieren und am Ende auch zu lösen, wird uns Freien Demokraten vorgeworfen, wir hätten uns zu sehr für die Rückführung der Saar eingesetzt. Wollen Sie die Rückführung der Saar rückgängig machen, Herr Kollege Geißler? Was wollen Sie? Wie
wollen Sie das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes beachten, wenn Sie diese unsere Haltung kritisieren?
({5})
Ich frage Sie schließlich: Wie wollen Sie eigentlich unsere Jugend an diesen Staat heranführen, wenn Sie schon seinen Gebietsstand in den bescheidenen Grenzen, die wir jetzt haben, mit diesen Erklärungen in Frage stellen?
({6})
Herr Kollege Genscher, ist Ihnen nicht bekannt, daß ich in meinen Ausführungen in diesem Zusammenhang von einem Modellcharakter der europäischen Lösung gesprochen und nichts anderes gemeint habe?
Sie haben gesagt, daß wir damit Möglichkeiten einer europäischen Lösung verschüttet hätten.
({0})
Ich sage Ihnen: wir wollen Europa wie Sie. Aber Europa wird nur aus den Nationen werden, und zwar aus den ungeteilten Nationen.
({1})
Sie kommen- Europa keinen Schritt näher, wenn Sie glauben, auf dem Opfertisch von Modellösungen deutsche Provinzen preisgeben zu können.
({2})
Herr Abgeordneter Genscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte, Herr Dr. Althammer!
Herr Kollege Genscher, ist Ihnen nicht bekannt, daß die CDU des Saarlandes Seite an Seite mit anderen Parteien für diese Lösung gekämpft hat?
Herr Kollege, ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe mich mit Ihrem Kollegen Geißler auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu manchen anderen in diesem Hause gehöre ich nicht zu denjenigen, die eine Art geistiger Kollektivhaftung von diesem Rednerpult verkünden.
({0})
Aber vielleicht kann ein Sprecher Ihrer Fraktion sich noch offiziell von dieser Erklärung distanzieren. Das wäre eine gute Klärung, auch für die politische Auseinandersetzung hier.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? - Bitte sehr!
Herr Kollege Genscher, ist Ihnen wie mir bekannt, daß die CSU in Bayern mit Herrn Hoffmann ({0}) bei früheren Bundestagswahlen kollaboriert hat?
({1})
Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Kollege.
Wenn wir uns als Oppositionspartei um Klarheit und Sauberkeit in der politischen Diskussion bemühen, dann wollen Sie daran erkennen, daß wir unsere Oppositionsrolle gleichwertig der Arbeit in einer Regierung auffassen. Das ist auch eine liberale Betrachtung dieser Funktion.
Hier haben einige Vorredner darauf verwiesen, daß die liberale Partei in der Vergangenheit sehr häufig in ihrer Aktionsfähigkeit durch eine innere Zerrissenheit geschwächt worden sei. Es wurde auf Weimar hingewiesen. Sehen Sie, heute ist das gänzlich anders. Diese liberale Fraktion in diesem Hause wird eine geschlossene, überzeugende Opposition betreiben, und keine Legenden werden das hinwegdiskutieren. Vielleicht will deshalb mancher über das Wahlrecht einen anderen Weg zur Ausschaltung des Liberalismus anstreben.
({0})
- Herr Kollege, ich bin sehr gespannt auf das, was kommt. Offensichtlich gibt es da ganz verschiedene Meinungen. Der Herr Kollege Schmidt ({1}) hat gestern gesagt, die sozialdemokratische Fraktion sei in dieser Frage noch frei. Im Manuskript des Kollegen Schmitt-Vockenhausen lese ich: Es ist eigentlich selbstverständlich, daß sich bei dieser Gelegenheit die neuen Koalitionsparteien darüber einig sind, ein neues Wahlrecht zu schaffen.
({2})
Es wird auch behauptet, die Frage des Mehrheitswahlrechts sei eine Grundsatzfrage. Sie wird von ihren Befürwortern - ich sage gar nicht, daß das die vollständige Fraktion der CDU/CSU oder der SPD ist; ich meine jetzt die einzelnen Befürworter - als eine Grundsatzfrage dargestellt. Lassen Sie mich bitte an zwei Beispielen erläutern, wie grundsätzlich das gemeint ist. Bei den Koalitionsverhandlungen haben wir die Vorsitzenden der Verhandlungskommission sowohl der CDU/CSU als auch der SPD gefragt: Wie halten Sie es mit dem Wahlrecht? In beiden Fällen ist uns gesagt worden: Wenn wir zusammen eine Koalition bilden, wird es nicht geändert. Das ist die grundsätzliche Betrachtung.
({3})
Hier ist davon gesprochen worden, es solle ein mehrheitsbildendes Wahlrecht geschaffen werden, das klare Mehrheiten ermögliche. Sie wissen so gut wie wir, daß sowohl in England als auch in Kanada mit dem Mehrheitswahlrecht sehr problematische Mehrheitsverhältnisse entstanden sind.
({4})
- Weil wir uns mit Ihren Argumenten auseinandersetzen! So ernst nehmen wir sie!
({5})
Sie wissen so gut wie wir, daß die Übertragung des Mehrheitswahlrechts z. B. auf die Landtagswahlen in der Bundesrepublik das Ende des von Ihnen so gepriesenen machtkontrollierenden Föderalismus wäre; denn mit Sicherheit werden in vier Landtagen der Bundesrepublik nur Abgeordnete einer Fraktion sitzen, wenn Sie das wollen. Auch dazu müssen Sie etwas sagen.
Sie sprechen davon, daß durch das Mehrheitswahlrecht stabile Verhältnisse herbeigeführt würden. Sie wissen, welche Probleme in anderen Ländern vorhanden waren.
Dann hat hier der Kollege Even von den großen Problemen gesprochen, die sich aus Koalitionsverhandlungen über eine Regierungsbildung ergeben. Er sagte, sie schadeten am Ende gar dem Ansehen der Demokratie. Ich möchte in Ihre Erinnerung zurückrufen, Herr Kollege Even: Die zeitlich längste Regierungsbildung gab es im Jahre 1957, als Sie die absolute Mehrheit hatten und als die Frage der Regierungsbildung wegen der einzelnen Gruppen in Ihrer Fraktion so schwer zu lösen war, daß Konrad Adenauer über viele Wochen hinweg diskutieren mußte, bis er eine neue Regierung zusammengestellt hatte.
({6})
Sie wollen radikale Gruppen mit einem neuen Wahlrecht bekämpfen. Ich sage Ihnen: Wenn diese Demokratie und die demokratischen Parteien nicht stark genug sind, diese Gruppen in der geistigen Auseinandersetzung zurückzuweisen, dann hilft Ihnen auch kein Wahlrecht.
({7})
Sie haben hier auf die Beispiele England und USA hingewiesen. Wie Sie wissen, sind dort andere geschichtliche Voraussetzungen und andere staatsrechtliche Verhältnisse vorhanden, als sie bei uns möglich sind. Ich könnte Ihnen sagen, daß es auf dem europäischen Kontinent hervorragend funktionierende parlamentarische Demokratien gibt, die das Verhältniswahlrecht haben und vor denen wir auch Achtung haben sollten.
Aber, ich glaube, primär ist, daß es hier nicht um ein Wahlrecht nach ausländischen Vorbildern geht, sondern um ein Wahlrecht für unsere Bedürfnisse, so wie die Parteienstruktur in diesem deutschen Land gewachsen ist.
({8})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Darf ich Sie bitten, Herr Kollege, auf die anderen staatsrechtlichen und geschichtlichen Voraussetzungen, von denen Sie sprachen, kurz etwas näher einzugehen?
Ich werde meine Rede nach meinen Vorstellungen halten. Ihre Bitte werde ich bei anderer Gelegenheit gern erfüllen. Sie wollten ja nur eine Frage stellen und keine Anregung an mich richten.
Im Zusammenhang mit dem deutschen Wahlrecht komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der in dieser Diskussion des Hohen Hauses noch nicht beachtet worden ist. Die Frage des Wahlrechts können Sie in einem geteilten Land auch nicht ohne Berücksichtigung der an uns alle gerichteten und uns alle verpflichtenden gesamtdeutschen Verantwortung sehen. Wie wollen Sie es eigentlich begründen, daß Sie nicht nur den Wählern der Freien Demokratischen Partei in diesem Land, das sich Bundesrepublik nennt, ihre Alternative und ihre politische Vertretung nehmen wollen? Wie wollen Sie es begründen, daß Sie jenen nahezu 25% Wählern der Liberalen Partei aus dem Jahre 1946 in der sowjetischen Besatzungszone ihre politische Heimat hier in der Bundesrepublik wegnehmen wollen?
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Even?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Genscher, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß im Falle der Wiedervereinigung viele Teile des Grundgesetzes und noch mehr Gesetze zur freien Disposition gestellt werden, daß darunter z. B. auch das heutige Verbot der Kommunistischen Partei fällt und daß das erst recht naturgemäß für ein Wahlgesetz gelten muß?
({0})
Selbstverständlich werde ich im Laufe meiner Ausführungen auch auf diese Frage zurückkommen.
Wir sollten uns zunächst einmal daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag im Jahre 1952 über die Grundsätze für eine freie Wahl einer verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung mit der Verankerung des Verhältniswahlrechts Beschluß gefaßt hat. Soll das heute nicht mehr gelten? Wissen Sie nicht, meine Damen und Herren, daß in den wenigen Erklärungen, die die Machthaber in Ostberlin und die Machthaber . in Moskau zur Frage gesamtdeutscher Wahlen abgegeben haben, mindestens formal die Verhältniswahl genannt ist? Wollen
Sie von unserer Seite dieses Problem anrühren und diese wenigstens formale Übereinstimmung auflösen?
({0})
Und ich sage Ihnen noch ein Wort mehr: Sie wissen wie wir, und Sie haben es durch Ihre Fragestellung eben noch einmal unterstrichen, daß es mit dem Mehrheitswahlrecht auf keinen Fall gesamtdeutsche freie Wahlen geben wird.
({1})
Ich frage Sie: Wie wollen Sie angesichts dieses Wissens - Sie reden doch sogar von der Wiederzulassung der Kommunistischen Partei - Ihrer gesamtdeutschen Verantwortung gerecht werden, wenn Sie sagen: Jetzt führen wir erst einmal das Mehrheitswahlrecht ein, aber irgendwann geben wir das wieder auf. ? Wann, denken Sie denn, wollen wir an die Lösung der deutschen Frage herangehen?
({2})
Was für Zeitvorstellungen für die Lösung der deutschen Frage wollen wir denn in die Welt setzen? Ich sage Ihnen: Wenn Sie für das Jahr 1973 das Mehrheitswahlrecht in die Verfassung einbauen wollen, aber sagen: „Für den Fall freier gesamtdeutscher Wahlen werden wir das in einer sehr fernen Zukunft selbstverständlich wieder ändern", dann ist das die steingewordene gesamtdeutsche Resignation.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir können doch hier nicht den Eindruck erwecken, als wollten wir die Lösung dieser Frage auf die unendlich lange Bank schieben. Errichten wir doch nicht zusätzliche Hindernisse, von denen wir wissen, wir müssen sie beseitigen, wenn wir zu Gesamtdeutschland kommen wollen!
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sprechen Sie von einer so grundsätzlichen Reform unserer Demokratie und des Staates in dem Augenblick, in dem alle Deutschen in Freiheit mitwirken können!
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident! - Und Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, möchte ich das in Erinnerung zurückrufen, was Ihr amtierender
Fraktionsvorsitzender hier gesagt hat. Er hat erklärt, Sie seien in der Frage des Wahlrechts frei. Machen Sie von dieser Freiheit den richtigen Gebrauch!
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lemmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne die vorausgegangenen Ausführungen hätte ich mich nicht zu Wort gemeldet. Die Ausführungen waren so - wenn ich jetzt mal in Ihrem Ton, Herr Kollege Genscher, sprechen darf, der sonst nicht meiner ist -, als ob Sie sich im politischen Zustand der Panik befänden;
({0})
denn anders ist das, was Sie hier ausgeführt haben, nicht zu erklären.
Zunächst eine historische Richtigstellung, wegen der Sie sich bei Ihrem von mir sehr verehrten Herrn Kollegen Thomas Dehler erkundigen können. Die liberale Fraktion in Weimar war nicht uneinig. Sie ist an der gesamten Politik gescheitert. In sich selbst hatte sie eine große Kameradschaft, an die ich auch heute noch nach über 40 Jahren gern zurückdenke.
({1})
- Sie können mich durch Zwischenrufe nicht stören.
Nun haben Sie Ausführungen gemacht, die einfach unrichtig sind. Wir müssen uns vorstellen, in welcher Situation sich die Bundesrepublik nach dem Auszug der FDP-Minister aus dem Kabinett befand. Wir haben gestern in der Debatte zur Kenntnis nehmen müssen, in welch einer gefährlichen Situation
- mehr als viele von uns vorher wußten - sich unsere Finanzen, sich unser Haushalt und andere Fragen befinden. Da habe ich nach Ihrem mir unverständlichen Auszug aus der Verantwortung die eine Konsequenz gezogen: Dieses Land braucht schnell eine handlungsfähige Regierung, um nicht von einer Regierungskrise in eine Staatskrise zu geraten. Von diesem Ausgangspunkt aus schrieb ich den von Ihnen erwähnten Artikel im „Echo der Zeit", den Sie genauso tendenziös wie eine Nachrichtenagentur auszugsweise hier erwähnt haben.
({2})
- Ich kann es dem Hause nicht zumuten, es sei denn, Sie wünschten es und der Präsident erlaubte es.
Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche. Bei allem Respekt, aber Zeitungsartikel in toto können in diesem Hause nicht verlesen werden.
Das ist auch mein Gefühl für Parlamentarismus. Darum habe ich diese Frage nur gestellt.
Ich habe beobachtet, daß seit dem Austritt der FDP-Minister aus dem Kabinett die kommunistische
Propaganda sich sehr massiv in den Wirrwarr eingeschaltet hat, der zunächst entstand, wie eine neue tragfähige Regierung gebildet werden könne. Fragen Sie die Herren von der Sozialdemokratie, ob ihnen nicht bekannt ist, daß beispielsweise der SED-Chef Ulbricht unter dem 22. November den Versuch machte, durch einen Brief an den sozialdemokratischen Parteivorstand die Sozialdemokratie davor zu warnen, mit der CDU/CSU eine Koalition einzugehen.
({0})
Das ist der rote Faden in der kommunistischen Propaganda seit dem Bruch dieser früheren Regierung: ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten und CDU/CSU mit allen Mitteln zu verhindern. Daß wir in der Bundesrepublik eine kommunistische Fünfte Kolonne haben - gegen die habe ich geschrieben -, das kann wohl niemand in diesem Hause bestreiten. Von dieser Fünften Kolonne wurde über Demonstrationen in Betrieben, wo sie in Betriebsräten entsprechende Positionen hat, wie außerhalb der Betriebe der Versuch gemacht, die Arbeiterschaft vor einer Koalition mit der CDU/ CSU zu warnen, weil die Strategen in Ostberlin natürlich wissen, daß wir jetzt eine wirklich stabile Regierung haben. Ich bin sicher - das habe ich in meinem Artikel gesagt -, sie wird bis zum Jahre 1969 und vielleicht auch weiter Bestand haben, um angesichts der drohenden Krisenerscheinungen auf dem Gebiet der Wirtschaft und Finanzen Stetigkeit in die Bundesrepublik zu bringen.
Ich habe in meinem Artikel keine Partei angegriffen.
({1})
- Ich habe keine Partei angegriffen, es sei denn, daß ich die Führung der Sozialdemokratie lobte. Das darf ich als ein Mann langer politischer Erfahrung, und ich greife das auf, was Kollege Schmitt-Vockenhausen gesagt hat - und ich sage es als Gegner der Sozialdemokratie -: Seit dem 1. August 1914, wenn unser Volk und Land in Gefahr war, hat sich die deutsche Sozialdemokratie der Verantwortung nicht entzogen.
({2})
Herr Abgeordneter Lemmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Lemmer, sollte es uns allen in diesem Hause nicht völlig gleichgültig sein, welche Regierungskoalition Herr Ulbricht für stabil hält und welche Parteien in der Bundesrepublik ihm angenehm sind?
({0})
Da muß ich Ihnen, als Politiker in Berlin, der mit dem Kommunismus nun 21 Jahre in Auseinandersetzung steht, die Antwort geben: Was Herr Ulbricht wünscht, ist für unsere Bevölkerung auf jeden Fall gefährlich und schädlich. Das ist meine Antwort.
({0})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: ich habe mich in diesem Artikel gegen keine Partei gewandt; und wenn Herr Kollege Genscher wünscht, daß ich klarstelle, daß seine Fraktion nicht etwa ein Instrument Ulbrichtscher Politik ist, dann tue ich das selbstverständlich. Ganz selbstverständlich!
({1})
Ich würde den Freien Demokraten niemals - weil ich auf Faineß Wert lege - einen solch niederträchtigen Vorwurf machen. Aber es kommt ja objektiv auf die Situation an, die Herrn Ulbricht veranlaßte, diese Koalitionsbildung zu verhindern. Ich lese mit einigen Kollegen dieses Hauses täglich die kommunistische Presse in Ostberlin. Wer das ebenso tut wie ich, der weiß, daß nichts mehr bekämpft wurde als diese Koalitionsbildung; bis zu letzten Stunde; und über Düsseldorf, so hat ganz bestimmt Herr Ulbricht gehofft, würde es hier in der CDU/CSU-Fraktion in ihrer Enttäuschung Emotionen geben, die die kurz bevorstehende Bildung der Koalition mit der SPD im Bundestag verhindern.
({2})
Da habe ich mich ebenfalls dagegen ausgesprochen.
({3}) - Nein, nicht umgekehrt!
({4})
Ich kann auch erwähnen, daß kein Mann seit Monaten, Wochen und Tagen in den kommunstischen Blättern so verleumdet wird wie der jetzige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Herbert Wehner, weil man von seiner Rolle weiß, daß er aus ähnlichen Überlegungen wie ich - um der Sicherheit unserer freiheitlichen Existenz und der Ordnung von Wirtschaft und Finanzen willen - diese Koalition für unvermeidlich gehalten hat.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Dehler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es war gut, daß ich diese Aussprache angeregt habe. Ich bin nicht dankbar für die Sympathieerklärungen, die ich ausgelöst habe. Hinter diesen schönen Blumenblättern war ja immer ein Giftstachel zu spüren: Zwar ein netter Kerl, aber - -. Na, immerhin.
Es war ein etwas tragischer Auftritt, daß Ernst Lemmer vor mir sprach, mit dem ich durch Jahrzehnte verbunden war. Ich nehme für mich in Anspruch, daß ich 50 Jahre lang - ich bin im ersten Weltkrieg politisch bewußt geworden - konsequent die liberale Sache erkannt und durch die Zeiten durchgehalten habe und legitimiert bin, sie zu vertreten.
Herr Dr. Möller, es ist eine bittere Sache für mich gewesen, daß Sie - ausgerechnet Sie - glaubten, mich an dem Maß von Max Weber messen und abwerten zu können. Herr Möller, der Vortrag „Politik als Beruf" von Max Weber in München ist von mir und meinem Freundeskreis herbeigeführt worden, und ich habe daraus gelernt, was Verpflichtung des Politikers ist. Bei einem Neujahrsempfang hat Theodor Heuß einmal dem versammelten Kabinett den Rat oder die Mahnung gegeben, in jedem Jahr einmal Politik als Beruf zu lesen. Ich tue es, und ich lasse mir keine Qualität für eine politische Verantwortung von irgend jemandem absprechen oder mich in meinem Werte vermindern.
Es ist Wertvolles gesagt worden, besonders die eine Erkenntnis, daß es bei der Politik um eine geistige Sache geht. Viele haben das eindrucksvoll gesagt, selbst Herr Dr. Geißler. Selbstverständlich geht es darum - um ein geistiges Ringen, um die Erkenntnis des rechten Geistes in der Politik unseres Volkes. Schiller läßt es so schön seinen Wallenstein sagen: Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Und die CDU/CSU weiß, daß in der Heiligen Schrift etwas Ähnliches steht: Es ist der Geist, der da lebendig macht.
({0})
Sie sollten es lesen, es wäre das richtige Wort für Sie.
({1})
Wer da meint, unser Volk könnte politisch existieren, wenn es in den Grundfragen seiner staatlichen, politischen, wirtschaftlichen, am Ende auch geistigen Existenz nicht einig ist, dem sei gesagt: Es gilt für den Staat das gleiche Gesetz wie für den einzelnen Menschen: wer in seinem Wesen gespalten, wer schizophren ist, der ist nicht lebenstauglich, der wird untergehen. Das wird auch für uns gelten.
Wenn ich harte Worte gefunden habe gegenüber meiner bayerischen ({2})
- gegenüber der in Bayern herrschenden Partei, so am Ende doch aus der Sorge um den rechten Geist und auf Grund der bitteren Erfahrungen, die ich selbst gesammelt habe. Ich kam gerade aus dem bayerischen Wahlkampf. Ich hatte das ganze Land durchzogen. Ich bin ja auch ein fleißiger Abgeordneter, niemand kann mir das absprechen. Ich glaube, ich habe mehr gesprochen als irgend jemand, und ich bin dort auf ein erschreckendes politisches Unwissen gestoßen, auf eine böse Verwirrung der Begriffe. Was weiß denn unser. Volk von dem, worauf es ankommt? Vielleicht nur eine kleine Erfahrung: Irgendwo in der Oberpfalz hielt mir ein Akademiker vor: Herr Dehler, Sie sprechen immer von „liberal" und „sozial" und sozialistisch, und wenn „liberalistisch" hochkommt, dann werden Sie ungnädig. Ich versuchte, ihm zu erklären, daß das Sozialistische eine bestimmte Wirtschaftsform darstellt, den Gedanken, die Wirtschaft vom Staate her zu lenken und zu formen, daß das Liberale das Gegenteil darstellt, daß das Soziale eine christliche Kategorie ist, nämlich die Vorstellung der christlichen Barmherzigkeit, daß in einem Volke keine Schicht und kein einzelner Schaden nehmen und Not leiden darf, daß liberalistisch aber ein Schimpfwort ist, mit dem immer noch der Herr Pater Leppich durch
das Land zieht, das aber auch schon vorher in den politischen Auseinandersetzungen hochgekommen war, gebraucht von Menschen, die glaubten, in dem Liberalen stecke irgend etwas Atheistisches, und von den imprägnierten Sozialisten, die mit aller Kraft das bekämpften, was wir für richtig hielten.
Meine Damen und Herren, wir werden zu keinen Lösungen kommen; aber ich glaube, es war notwendig, über diese Fragen zu sprechen, wenn in einer Regierungserklärung ein Weg des Wahlrechts angekündigt wird, der einer geistigen Grundhaltung den politischen Tod androht. Herr Schmitt-Vockenhausen, es geht nicht um die Zuchtrute, es geht um die Garotte, die man uns um den Hals legen will. Die Dinge haben ihre große, ihre größte aktuelle Bedeutung, und das müssen Sie mir zugestehen, daß ich eine spezifische Anschauung von diesen Dingen habe.
Wenn Herr Dr. Geißler meint, das Liberale habe sich doch längst überholt, habe sich erfüllt, habe sich gewissermaßen konsumiert, es sei der Kampf gegen den Absolutismus gewesen, und dieser Kampf sei geführt - ({3})
- Ach, Herr Dr. Geißler, das Liberale ist etwas viel Größeres, etwas viel Weiteres. Das Liberale ist der Geist der Menschheit, entstanden in der Stoa, dargestellt durch Sokrates, Befreiung der Vernunft; dargestellt durch Jesus Christus, Befreiung des Gewissens; hindurchgeführt durch Absolutismus und Reaktion darauf, durch Irrtümer, die dann erst wieder überwunden werden müssen: Aufklärung. Sie wissen, sie entstand im angelsächsischen Bereich und wurde erst sehr zaghaft in Deutschland verwirklicht. Sie ist und bleibt die Frage unserer Zeit.
Und wer das Wort Zünglein an der Waage gebraucht, der weiß ja noch nicht einmal etwas von den primitivsten physikalischen Gesetzen. Ein Zünglein an der Waage wird bewegt. Wir waren immer die Kraft, die bewegt hat. Fragen Sie doch einmal, was im Wirtschaftsrat in Frankfurt geschehen wäre, wenn wir nicht gewesen wären - schwarz und rot im Gleichgewicht. Wir haben die Entscheidung zur Marktwirtschaft gegeben. Fragen Sie, was im Parlamentarischen Rat in Bonn geschehen wäre, wenn wir nicht gewesen wären - schwarz und rot im Gleichgewicht. Wir haben den Durchbruch zur freiheitlichen Ordnung gemacht, auf jeden Fall durch Männer wie Theodor Heuss, durch Männer wie Höpker-Aschoff, die später zur Zierde dieser Bundesrepublik gewirkt haben, der eine doch wirklich demonstrativ als der erste Präsident der Bundesrepublik, der andere als der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Wir haben die Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufstieg und die Grundlagen für die rechtsstaatliche Ordnung gelegt, und das soll mit einemmal nichts mehr bedeuten, das soll ausgelöscht werden?!
Ich will doch einmal fragen, aus welcher Haltung sich fehlerhafte Entwicklungen gezeigt haben. Warum sind wir denn jetzt in wirtschaftlicher Not? Warum haben wir Schwierigkeiten in der Wirtschaft, in der Währung? Doch durch das Handeln gegen die marktwirtschaftliche Grundordnung, durch Abweichung von dem, was wir gewollt haben.
({4})
- Diese Primitivität steht Ihnen schlecht zu Gesicht. Diese Primitivität der Argumentation, Herr Schmidt, ist doch unter Ihrer Linie. Lassen Sie sich einmal entwickeln, wie die Dinge waren.
({5})
Die großen Abweichungen von dem Gesetz der Wirtschaft sind doch schon von Anfang an geschehen! Warum? Meine Damen und Herren, zur Politik gehört eben zweierlei. Zur richtigen Politik gehört zum einen die richtige Einsicht. Wer Politik betreiben will - ich glaube, das haben wir auch in den Stunden dieser Auseinandersetzung gefühlt -,
({6})
muß ein Höchstmaß von Wissen, von Einsicht in die Lebensgesetze eines Volkes haben.
({7})
- Ich antworte auf Fragen, die mir in der Aussprache gestellt worden sind. Ich werde Ihnen, Herr Dr. Schäfer, und anderen gern am Ende meiner Ausführungen Rede und Antwort stehen. Sonst verstehen Sie ja nicht, was ich sagen will.
({8})
Ich sage, zur Politik gehört ein Doppeltes; zunächst ein Höchstmaß an Einsicht. Da muß man die Geschichte kennen, da muß man sich auch mit dem, was Herr Dr. Geißler vertritt - wenngleich ich seine Anschauung für falsch halte - auseinandersetzen.
Zur Politik gehört noch etwas anderes, was wichtig ist, nämlich auch der Mut, im richtigen Augenblick das Richtige oder Notwendige zu tun. Das ist in der Grundentscheidung in Frankfurt - ({9})
- Bitte, Herr Dr. Schäfer, lassen Sie mich das sagen. Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, mich zu fragen, solange Sie wollen, wenn ich das, was ich für richtig halte, in Antwort auf Fragen, die in der Diskussion aufgeworfen worden sind, gesagt habe.
Die mutige Entscheidung der Junitage 1948 hat nicht die Konsequenzen auf allen Gebieten gehabt Man hat doch weitgehend - Herr Schoettle, vielleicht äußern Sie sich dazu - vor dem Sprung ins kühle Wasser Angst gehabt, den die Liberalen, zu denen damals auf jeden Fall Ludwig Erhard gehörte, wagten. Man hat den Mut nicht für das Gebiet der Landwirtschaft gehabt. Man hat die Landwirtschaft aus den Gesetzen des Marktes herausgehalten, hat das im Bundestag fortgesetzt, hat die Marktordnungsgesetze beschlossen: Bis heute ist die Landwirtschaft unser Sorgenkind.
Wir haben das gleiche für die Kohle, den anderen Grundstoff, gemacht. Wir haben nicht den Mut ge3832
habt, die Kohle dem Gesetz des Marktes zu unterstellen. Sie wissen, welche Opfer die Allgemeinheit,
({10})
welche Opfer die Steuerzahler
({11})
in jedem Jahre bringen müssen, weil der Mut fehlte, auf diesem Gebiete das Notwendige zu tun.
({12})
Das galt doch für den Kapitalmarkt, das galt für den Wohnungsmarkt, ja, das galt für viele andere Gebiete.
({13})
Der Mut hat gefehlt, und das war die Ursache für Fehlentwicklungen.
Wenn diese neue Regierung, zusammengesetzt aus zwei Parteien, die in den marktwirtschaftlichen Grundsätzen mindestens labil sind, ohne Opposition handeln könnte, welche Fehlentwicklungen müßten - ({14})
- Ach, geben Sie zu, in Düsseldorf trifft man keine wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Wirtschaftspolitik wird hier betrieben, und hier kommt es auf die richtige Haltung, auch auf die richtige Zusammenarbeit an.
({15})
- Ach, ach, lieber Herr Schmidt, - ({16})
Ich weiß nicht, ob das - ({17})
Einen Augengenblick, Herr Abgeordneter Schmidt. Ich habe so etwas aufgefangen, aber nicht ganz sicher: dummes Zeug?
({0})
- Ich hatte aufgefangen: dummes Zeug. Das höre ich nicht gern. Aber bitte fahren Sie fort.
Lassen Sie sich einmal sagen, wo ich gesprochen habe, wo ich meine Grundsätze vertreten habe. Ach, da gibt es Leute im Hause, gegen deren Widersprüche ich das vertreten habe, was ich für richtig hielt. Ich war in Solingen, als ich damals das Verhalten der Gewerkschaften kritisierte.
({0})
Ich habe mich doch nicht gefürchtet. Ich habe die Sache durchgestanden. Herr Schmidt, ich werde meine Meinung in Bochum sagen und lade Sie ein, dabei zu sein.
Noch einmal in ganz-kurzen Worten die grundsätzliche Entwicklungslinie. Die Annahme, die liberalen Ideen seien überholt, seien verbraucht, - welche ein Irrtum! Es wird darauf hingewiesen, daß der sogenannte Kapitalismus, in Wirklichkeit die Marktwirtschaft, zu sozialen Nöten geführt habe. Wer das sagt, der wiederholt den Fehler von Friedrich Engels, der im Jahre 1847 die Not der Bergarbeiter in Wales beschrieben hat, nicht gewußt hat, daß die Not dieser Bergarbeiter nicht mit der viel größeren Not der Landarbeiter zu vergleichen war. Das waren Irländer, die nach Wales gekommen und dankbar waren, daß sie überhaupt Arbeit gefunden hatten.
({1})
Man kann doch die Richtigkeit einer wirtschaftlichen Anschauung nur im weiten Überblick beurteilen. Wenn der mechanische Webstuhl den Handwebstuhl überflüssig macht, dann entsteht natürlich vorübergehend eine soziale Not genau wie heute möglicherweise durch die zunehmende Automation.
({2})
Widerlegt das die Richtigkeit der Marktwirtschaft?
Der Marktwirtschaft ist es in weniger als zweihundert Jahren gelungen, die Lebenslage aller Schichten und gerade der Arbeitnehmer doch in einer Art zu verbessern, die niemand auch nur zu erträumen wagte.
({3})
- Es war ausschließlich sein Verdienst, ausschließlich!
({4})
Es war ausschließlich die Folge der Marktwirtschaft.
({5})
Oder glauben Sie, daß der Sozialismus zum Fortschritt geführt hat?
({6})
Der Sozialismus hat höchstens geholfen, soziale Härten zu beseitigen. Er hat gerechte Impulse ausgelöst. Der große Aufstieg unserer Wirtschaft ist aber ausschließlich die . Leistung der Marktwirtschaft. Wenn das von einem Volk wie dem unseren, das 1947, 1948 in bitterster Not lebte und jetzt einen Aufstieg erfahren hat, den die Welt bewundert, nicht erkannt wird, wenn man in der BundesrepuDr. Dehler
blik glaubt, dieses Wunder sei durch den Sozialismus erfolgt - ({7})
- Na also, wodurch denn sonst, durch die Marktwirtschaft!
({8})
Ich habe vor fünfzehn Jahren den Mut gehabt, in Versammlungen zu sagen - schade, Herr Schmidt, daß Sie das nicht gehört haben -: Wenn wir unsere Wirtschaftspolitik konsequent weiterbetreiben, wenn wir alle Gebiete der Wirtschaft in die Ordnung des Marktes aufnehmen, wenn wir dadurch die Ansprüche des Staates nicht übersteigern, sondern im Gegenteil mindern, dann wird - so sagte ich damals - in 10, 20 Jahren jeder deutsche Arbeiter sein Auto und jeder deutsche Arbeiter sein Eigenheim haben. Ich bin ausgelacht worden. Nun, Sie wissen doch, was sich erfüllt hat.
Es erhebt sich die Frage: Was ist die bestimmende Kraft unserer Politik, unseres Volkes? Fragen wir doch einmal, was durch christliche, durch angeblich christliche Politik und durch christliche Demokratie auch in der Vergangenheit entstanden ist. Sagen Sie mir, antworten Sie mir, wo der Versuch der christlichen Demokratie Erfolg gehabt hat!
({9})
- Das ist noch die Frage! Wo denn sonst noch? Christliche Demokratie gefährdet die Demokratie.
({10})
Die Demokratie des Herrn Franco in Spanien, die Demokratie des Herrn Salazar in Portugal
({11}) sind zweifelhafte Demokratien.
({12})
- Von dem Versuch, vom Christentum her Politik zu betreiben, führt der Weg leicht zum autoritären System. Denken Sie an die Zwischenzeit! Denken Sie an die Zeit, in der hier der Nationalsozialismus entstanden ist! Vorausgegangen war der Faschismus in dem Land, in dem man christliche Demokratie versucht hat, in Italien. Denken Sie daran, was in Österreich, was in Kroatien, was in der Slowakei entstanden ist!
({13})
- Das sind keine Unterstellungen; das sind doch historische Tatsachen.
({14})
Es ist kein Zufall, daß überall dort, wo es autoritäre
Systeme und auch faschistische Systeme in den 20er
und 30er Jahren gegeben hat, der Versuch der
christlichen Demokratie gemacht wurde, daß überall dort christliche Parteien geschaffen wurden;
({15})
Pétain und seine Vichy-Regierung haben zur MRP,
zur katholischen Partei in Frankreich, geführt; in
Italien entstand die Democrazia Christiana - ({16})
- Natürlich auch bei uns! Glauben Sie doch nicht, daß Sie etwas Exzeptionelles sind!
({17})
Sie unterstehen den gleichen, nach meiner Meinung gefährlichen Gesetzen.
Es ist interessant, was Herr Dr. Geißler als Aufgaben, die sich einer christlichen Partei nach 1945 gestellt haben, hier genannt 'hat. Dazu habe zunächst einmal der Versuch gehört, die Gegensätze zwischen den Konfessionen zu überwinden. Welch merkwürdiger Gedanke, daß sich Staatsbürger zunächst einmal konfessionell scheiden und daß sie dann wieder miteinander verbunden werden müssen. Dazu ist Richtiges schon gesagt worden.
({18})
- Ja, ich verstehe auch von anderen Dingen etwas. Ich könnte natürlich viel von der Konfessionsschule erzählen. Auch hierzu hat Herr Dr. Geißler ja völlig unzutreffende Anschauungen geäußert. Selbstverständlich besteht das Elternrecht, das Recht der Eltern, die Erziehung der Kinder zu bestimmen. Aber wo ist geschrieben, daß das Elternrecht den Anspruch der Eltern an den Staat einschließt, auf staatliche Kosten konfessionelle Schulen zu errichten? Wo steht das geschrieben?
({19})
Das steht z. B. noch nicht einmal im Konkordat; es steht auch nicht im Reichskonkordat.
Aber die Dinge haben ja einen tieferen Grund, und das war besonders der Anlaß - schade, daß Sie gehen, Herr Schmidt, es ist so animierend -,
({20})
das war ein besonderer Grund, warum ich versuche, die Aussprache mit der Sozialdemokratie noch zu führen. Ich habe nämlich das Gefühl, sie ist auf einem gefährlichen Weg, und sie sieht die Gefahren noch nicht.
({21})
Außenpolitische Fragen - darüber werden wir uns noch unterhalten - liegen uns besonders am Herzen. Ich habe schon einmal Bitternis ausgelöst, weil ich, nicht mit eigenen Worten, sondern mit den Worten eines Journalisten, der seinerseits Äußerungen wiedergab, an alte Wunden gerührt habe. Walter Lippmann, dieser ausgezeichnete große amerikanische Journalist, hat im letzten Jahr der Kanzlerschaft Adenauers - Lippmann ist damals durch
die Bundesrepublik gereist - berichtet. Er hat an eine sehr hochgestellte Persönlichkeit in Bonn die Frage nach der Wiedervereinigung gestellt und erhielt die Antwort: „Ja, das müssen Sie wissen, wir haben eben zwei Deutschland. Da ist der Süden und der Westen; der ist überwiegend katholisch und konservativ."
({22})
- Ich gebe ja nur wieder. Da ist der Osten
- gemeint ist Mitteldeutschland -, der ist überwiegend evangelisch und sozialistisch, und die beiden kommen niemals mehr zusammen. Die „Welt" hat damals in Kürze diese Äußerung wiedergegeben. Ich habe mich dagegen aufgelehnt. Es ist niemals ein Widerspruch erfolgt. Wenn es so ware - ich kann es ja nur potentiell sagen Welch ein Unglück konfessionell gesehener Politik!
Aber wie sehr ist auch die Europa-Politik am Ende aus konfessionell-politischer Sicht bestimmt worden.
({23})
- Ich gehe damit auch nur auf das ein, was Herr Dr. Geißler angeschnitten hat. Wie war die Situation nach 1945: Unsere Hoffnung - wir haben es ja im Grundgesetz niedergelegt; es steht im Vorspruch - auf Eintritt der Bundesrepublik und eines wiedervereinigten Deutschlands in eine große europäische Gemeinschaft. Carlo Schmid hat das damals entscheidend mitgeformt. Warum ist das nicht Wirklichkeit geworden?
({24})
- Leider! Natürlich! Das ist der entscheidende Grund! Weil unser Geist, den Sie erwürgen wollen
- so ist es doch -, nicht stark genug war.
({25})
Sie wissen ja, welch entscheidende Rolle Wiston Churchill in dem Gedanken, ein einiges Europa zu schaffen, gespielt hat. Er hat im Mai 1948 ({26})
- Er hat zumindest eine große liberale Jugend gehabt.
({27})
- Er ist am Ende ein Liberaler geblieben. Winston Churchill wäre niemals zu einer christlichen Partei gegangen, auch nicht zu einer sozialistischen.
({28})
Er hat im Mai 1948 zu einem großen europäischen Kongreß in Den Haag eingeladen. Viele Politiker haben sich dort damals zum erstenmal getroffen, Konrad Adenauer und ich auf jeden Fall, Heinemann, Arnold und manche andere. Der endgültige Beschluß war das große einige Europa. Natürlich stritt man über seinen politischen Charakter. Da gab es betont christliche Politiker, besonders auch aus den Benelux-Staaten, da gab es Sozialisten, Gewerkschaftler, und da gab es Liberale. Aber man hat sich
geeinigt, zum Beginn den Europarat in Straßburg zu schaffen, den Europarat, der doch alle freien europäischen Staaten umfaßte. Jeder von uns weiß, wieviel dieser Europarat für die europäische Idee und für uns bedeutet hat. Dort fanden die ersten großen Zusammenkünfte deutscher und europäischer Politiker statt, dort wurden Vorurteile gegen uns abgebaut, dort wuchs eine europäische Gesinnung. Man war auf dem besten Wege zum ganzen Europa - Herr Springorum, ich weiß nicht, ob Sie das mit erlebt haben -, auf dem besten Wege, unterstützt auch von seiten der Alliierten, die damals nicht mehr mitanschauen wollten, daß die Milliarden ihrer Marshallhilfe im Morast der sozialistischen Planwirtschaft versickerten und die OEEC, die Organisation zur europäischen Zusammenarbeit, schufen.
Noch einmal meine Bitte: Lassen Sie mich entwickeln, ich werde Ihnen am Ende antworten. Wir können uns noch ausreichend auseinandersetzen.
Der Erfolg war erstaunlich. Die OEEC umfaßte die meisten europäischen Staaten, am Ende, glaube ich, 17 oder 18. Bis zu 95 % wurde der europäische Handel liberalisiert. Man war auf dem Wege zu Europa. Und dann kam doch mit einem Male die Gegenwirkung des Römischen Vertrages - Sie wissen, schon vorbereitet in der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in der Montanunion, aber gipfelnd in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und in Euratom -: Bildung eines kleinen Europas. Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt, daß am Ende doch bestimmte katholische Vorstellungen am Werke waren und daß auf jeden Fall die Folge die Aufspaltung Europas in einen katholisch bestimmten Teil und in einen evangelisch bestimmten Teil war.
({29})
- Was ist da unerhört?! Das sind doch geschichtliche Tatsachen, die Sie nicht bestreiten können.
({30})
Ich sage Ihnen das nur, damit sie wissen, daß liberale Politik etwas ganz anderes bedeutet, als Sie vertreten.
Meine Überzeugung deswegen: Angesichts der Androhung eines Wahlrechts, das den Liberalen die Wirkungsmöglichkeit nehmen würde, geht es um das Ganze, geht es um die Möglichkeit geistiger Auseinandersetzung überhaupt. Und trösten Sie sich nicht mit der Idee, es gebe auch Liberale in anderen Parteien. Auch dazu habe ich gestern schon meine Meinung gesagt. Sehen Sie das bittere Schicksal meines Freundes Ernst Lemmer
({31})
- Na, es ist doch kein Glück! Ich habe es bis heute noch nicht verwunden. Ich meine, es ist ein wesentlicher Grund des bitteren politischen Endes des Liberalen Ludwig Erhard - er hatte lange gezögert, ehe er, ich habe einmal gesagt: sein stolzes
fränkisches liberales Haupt unter das schwarze Joch gebeugt hat - -
({32})
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß Sie mit mir einig gehen, wenn ich diese Vokabel schwarzes Joch" nicht ausdrücklich rüge.
({0})
Man muß es auch im Kontext, in der Stimmung der Stunde sehen. Wenn Sie es allerdings im Protokoll lesen, dann kann sich natürlich mancher fragen: Warum hat das der Präsident nicht gerügt? Aber Sie müssen es verstehen aus der Stimmung der Stunde.
Ich habe mich ja nur zitiert; das habe ich vor langer Zeit gesagt.
({0})
Auch Ihnen gebe ich noch Bescheid, Herr Dr. Even. Wenn ich Ihnen Bescheid gebe, dann muß ich mich auseinandersetzen mit Dolf Sternberger und Hermens und all denen - die kenne ich viel länger als Sie, Herr Dr. Even, viel länger -, mit all diesen Scheinargumenten für ein angebliches Mehrheitswahlrecht.
({1})
- Das zitieren Sie oft und immer ein bißchen schief, Herr Dr. Schäfer.
({2})
Ich will Ihnen nur eines sagen. Wenn wir 1931 ein relatives Mehrheitswahlrecht gehabt hätten, wäre die NSDAP schon 1931 legal zur Macht gekommen, hätte sie die Mehrheit der Stimmen bekommen.
Ein Anliegen noch einmal: Ich will doch die geschichtliche Leistung der Sozialdemokratie nicht mindern, besonders auch nicht das, was 1918 im Zusammenbruch und was 1945 von Sozialdemokraten geleistet worden ist. Ich habe Ihnen gestern bekundet, daß ich mit Ihnen in der außenpolitischen Sicht - es gab leider die Wende, als am 30. Juni 1960 Herr Wehner hier allem abschwor - viel mehr verbunden war als mit dem, was damals von der Regierung vertreten wurde. Ich habe Ihnen erklärt, daß ich auf Sie staatspolitisch hoffe. Ich bin der Überzeugung, mit Ihnen läßt sich ein Staat aufbauen, der nicht von Krisen und der nicht von Skandalen erschüttert wird.
({3})
Das ist meine tiefe Überzeugung.
({4})
Aber das hindert mich doch nicht, zu sagen, daß Sie lange Zeit, durch das ganze 19. Jahrhundert bis tief in die fünfziger Jahre hinein - denken Sie an die Reden, die Professor Dr. Nölting hier an dieser
Stelle gehalten hat -, wirtschaftspolitisch nicht die
richtige Einsicht hatten. Um mehr ging es mir nicht.
Daß damals Wels am Tage des Ermächtigungsgesetzes eine für die deutsche Geschichte wertvolle Rede gehalten hat - welche Leistung! -, das werden wir nicht vergessen. Aber eines dürfen Sie nicht übersehen. Für die Entwicklung der Weimarer Demokratie ist es schließlich weder auf die SPD noch auf die damaligen konfessionellen Parteien, das Zentrum oder die Bayerische Volkspartei, angekommen.
({5})
Die blieben im großen stabil, die haben sich nicht geändert. Entscheidend war das liberale Schicksal. Es ist nicht veranlaßt, hier von Schuld zu sprechen, von eigener Schuld, von dem Einwirken von außen in schlimmer Weise. Daß die liberale Substanz zugrunde ging, hat den Boden für den Sieg der Rechtlosen, der Maßlosen bereitet. Darum geht es mir doch.
Vielleicht auch noch einmal ein Blick auf die Bayern, die mir so böse sind, wenn wir schon Geschichte auspacken.
({6})
Im März 1920 wurde die junge Republik des Deutschen Reiches durch den Kapp-Putsch erschüttert. In Berlin brach er zusammen, nicht zuletzt auch durch das Verhalten der Gewerkschaften, durch die Androhung des Generalstreiks. In Bayern hatte er vollen Erfolg. In Bayern wurde die damalige Regierung Hoffmann durch die Reaktionäre - wie hießen sie alle? Escherich, von Kahr, General von Möhl und viele andere; na, Herr Memmel, dafür sind Sie zu jung, um das zu wissen - zum Rücktritt gezwungen. Vom März 1920 an gab es bis 1933 in der bayerischen Regierung keinen sozialdemokratischen Minister mehr
({7})
und von 1924, 1925 an auch keinen liberalen Minister mehr.
Am Ende stand der Nationalsozialismus. Er muß nicht wiederkommen, meine Damen und Herren. Aber erkennen Sie doch die Gefahren, die drohen! Aus der Geschichte lernen heißt nicht sklavisch übernehmen wollen, aber doch wissen, was geistige Kräfte bedeuten. Wir zeugen für die Freiheit, und wir glauben an die Freiheit.
({8})
Meine Damen und Herren, ich werde den beiden folgenden Rednern, Herrn Schoettle und dann Herrn Dr. Barzel, noch das Wort geben. Darauf werden wir in eine Mittagspause eintreten, die, je nachdem, wielange die beiden Herren sprechen werden, um 14.30 Uhr oder um 15 Uhr beendet sein wird. Dann geht es weiter mit der Sozialpolitik. Wann wir zur Außenpolitik kommen werden, kann ich jetzt nicht beurtei3836 Deutscher. Bundestag - 5. Wahlperiode Präsident D. Dr. Gerstenmaier
len. Ich bitte das Haus, sich darauf einzurichten, daß morgen noch getagt wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schoettle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte an sich die Absicht, zu einem ganz anderen Thema etwas zu sagen; aber die vorhergegangenen Reden veranlassen mich zu einigen Bemerkungen. Sie werden sehr kurz sein.
Zunächst zu Herrn D r. Dehler : Wie immer: angefangen mit guten Vorsätzen, aber im Laufe der Rede in einen Bereich abgeglitten, von dem man nur sagen kann: es hat eigentlich wenig Sinn, sich mit dem Versuch auseinanderzusetzen, in einer genialischen Art eine Legende zu bilden,
({0})
die die Rolle der FDP sozusagen von den Anfängen der Bundesrepublik an ins Überdimensionale heben soll.
({1})
Was die weiteren Ausflüge in die Geschichte der vergangenen 50 Jahre angeht, so muß ich Ihnen sagen, Herr Kollege Dehler: das war doch schlicht Geschichtsklitterung, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.
({2})
Auf diese Weise tragen Sie nicht dazu bei, die Rolle der demokratischen Opposition in diesem Parlament und im Bewußtsein der Öffentlichkeit so zu etablieren, daß uns allen damit weitergeholfen wird.
({3})
Im übrigen, Herr Kollege Dehler, darf ich Sie in diesem Zusammenhang angesichts Ihrer Darlegungen doch fragen: Wo sind Sie denn gewesen - Sie und Ihre Partei -, als die Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren immer wieder die Versäumnisse auf finanzpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet von Regierungen angeprangert hat, an denen Sie und Ihre Partei selber beteiligt waren?
({4})
Mehr möchte ich im Augenblick zu diesem Thema nicht sagen. Sicher wird noch eine ganze Menge dazu gesagt werden müssen.
Ich möchte mich einem anderen Punkt zuwenden, nämlich der Äußerung des Herrn Kollegen Lemmer. Er hat hier sehr, sehr lange darum herumgeredet,
({5})
und doch bleibt die Formulierung stehen, die Herr Genscher mit Recht angegriffen hat. Ich möchte meinerseits und im Namen meiner politischen Freunde dazu sagen: Wir verwahren uns gegen eine solche Äußerung. Wir verwahren uns auch im Namen unserer Freunde in Düsseldorf dagegen, daß ihre politischen Entscheidungen auf eine solche sehr, sehr gefährliche Weise apostrophiert werden.
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Herr Kollege Lemmer, journalistische Freiheit in allen Ehren, aber es gibt Grenzen, die auch Sie nicht überschreiten dürfen!
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der mitgebrachten dicken Bücher hoffe ich, daß wir um 14.30 Uhr fortfahren können. Ich möchte im Anschluß an das, was Kollege Dehler hier gesagt hat, auf drei Punkte eingehen.
Herr Kollege Dehler hat ausgeführt, die Weimarer Verfassung sei von dem Geist ausgezeichneter liberaler Männer und Frauen erfüllt gewesen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es auch fairer gewesen wäre, auch auf die anderen hinzuweisen.
Ich möchte hier von einem dieser ausgezeichneten Männer Weimars sprechen, und ich habe ein Ihnen gewiß nicht unbekanntes Buch mitgebracht: Friedrich Naumann - der Mann, das Werk, die Zeit. Verfasser ist Theodor Heuss. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten will ich daraus ein paar Sätze zitieren. Herr Kollege Dehler, Sie kennen es ganz sicher, aber ich möchte dem Hause den Genuß nicht vorenthalten. Es heißt dort:
Schon in der Berliner Wahlbewegung hatte es
manchen überrascht, wie ausführlich der Redner
- Naumann gegen das eben verkündete Verhältniswahlsystem sprach, das doch um seiner Gerechtigkeit willen als eine Errungenschaft der Revolution galt. Daß es unzweifelhaft das äußerlich gerechteste Wahlsystem sei, bestritt er nicht, als er im Ausschuß am 4. April seinen Einspruch meldete, als Einzelner und Einziger. Doch ließ er die deutliche Formulierung folgen: „Die Folge des Verhältniswahlsystems ist die Unmöglichkeit des parlamentarischen Regierungssystems; parlamentarisches System und Proporz schließen sich gegenseitig aus." Die mit starken Gründen belegten Ausführungen fanden den Widerspruch des Staatssekretärs, der Redner von Sozialdemokratie und Zentrum; der deutschnationale Sprecher meinte, sie seien „theoretisch" und darum überflüssig. Naumann verteidigte seine These, die äußerst praktisch" sei: meine Ansicht ist, daß der Proporz - für kleinere Verhältnisse sehr geeignet - zur Feststellung der politischen Führerschaft im großen ungeeignet ist".
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Meine Damen und Herren, hierüber sollte man einmal nachdenken. Aus solcher Geistigkeit in dieser Debatte Argumente zu hören und nicht nur Worte wie Manipulieren und Würgen, wäre uns in der Tat sehr viel angenehmer.
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Da wir noch sehr oft über die Frage sprechen werden, möchte ich aus Naumanns Originalzitat in einet späteren Debatte weitere Stellen vorlesen. Ich möchte Ihnen gleich die Quelle angeben, damit wir uns darauf vorbereiten können. Es sind sehr ausführliche Schriften, in denen er dartut, daß Demokratie nur bei Zwei Parteiensystem funktionieren könne. Das kommt aber später.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, ich möchte im Augenblick keine Zwischenfragen erlauben, weil ich die Debatte jetzt nicht verlängern, sondern in ruhiger Weise zu Ende kommen möchte. Ich möchte nicht diese heftigen Szenen. Das ist nicht die Art der größten Gruppe dieses Hauses, meine Damen und Herren.
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- Hören Sie gut zu, dann kann ich eine Frage an Sie richten. Da wir noch lange über Wahlrecht sprechen werden und auch in den Fraktionen, untereinander, miteinander, in der Offentlichkeit, mit der Wissenschaft und in den Ministerien debattieren werden, habe ich eine Bitte - ohne Naumann, sondern von uns aus -, nämlich die: Ich hätte gern von Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, ein liberales Argument gegen ein Wahlrecht, das eine klare Situation schafft. Ist es etwa unliberal, ein Wahlrecht mit einer stärkeren Tendenz der Individualisierung zu schaffen? Ist es etwa unliberal, die Überschaubarkeit und damit die direkte Mitwirkung des Bürgers, des Wählers zu stärken? Ist dies unliberal? Ist es unliberal, den personalen Akzent in der Demokratie zu verstärken?
({1})
In einem Kreis ein Mann, meine Damen und Herren! Ist das unliberal?
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- Dazu muß erst einmal argumentiert werden. Wenn Sie die Partei der Persönlichkeiten sind, müssen Sie doch immer für dieses Wahlrecht sein. Das ist doch gar keine Frage.
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Nun zum zweiten Punkt. Dieser Punkt hat mich vor allem veranlaßt, hier heraufzukommen; das andere habe ich kurz gemacht. Herr Kollege Dehler, ich möchte hier die Ehre und die rechte Erinnerung des früheren Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer verteidigen. Sie haben ihm gestern etwas unterstellt, was schon zu früheren Zeitpunkten Gelegenheit zu Briefwechseln und Besuchen - und Sie wissen, was alles folgte - gegeben hat. Erlauben Sie mir, das an dieser Stelle abzubrechen.
Aber, Herr Dehler, Sie sagten gestern - ich zitiere -:
... was Herr Dr. Adenauer erstrebte ... auch keinesfalls das Ziel der deutschen Einheit ins Auge faßte, sondern daß alle Dinge in eine ganz andere Richtung gingen: Bindung dieser Bundesrepublik an westliche Organisationen und damit zwangsläufig Verzicht auf die deutsche Einheit.
Dies ist eine Unterstellung, die bös ist, die dem Rang und dem Werk dieses großen Christlichen Demokraten Konrad Adenauer, dem wir hier alle miteinander gedankt haben, nicht gerecht wird, Herr Kollege Dehler.
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Und nebenbei - da wir bei der Abteilung Lektüre sind - bin ich ganz sicher, daß es Ihnen, da Sie ja nicht nur ein heimlicher Freund und Verehrer Konrad Adenauers sind, sondern ein wirklicher, möglich sein wird, den zweiten Band der Memoiren Konrad Adenauers mit einem persönlichen Kommentar dieses großen Mannes zu bekommen, und ich bin sicher, daß Sie irgendeinen Weg finden werden, diese Sache in Ordnung zu bringen.
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Dritter Punkt, meine Damen und Herren. Es geht ganz schnell. Herr Kollege Dehler, ich glaube, Sie haben in Ihrer Fraktion - und vielleicht ist das eine Ehre, wenn ich das sage - so etwas gefunden wie - das Beispiel paßt nicht ganz, aber ich glaube, der Herr wird sich sehr freuen, wenn ich das sage - einen liberalen Ministranten, nämlich Herrn Moersch. Diese beiden Reden, meine Damen und Herren, waren - für meinen Geschmack von Toleranz und politischem Stil - ein bißchen zu durchtränkt von allen möglichen antikonfessionellen Aspekten.
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Es war Ihnen, Herr Kollege Dehler, doch beinahe unmöglich, als Sie zweimal von den Römischen Verträgen - gemeint waren die, die zur EWG geführt haben - sprachen, allein das Wort „römisch" zu sagen. Man sah Ihnen doch die Bindestriche und das folgende Wort an. Und dies ist mehr Abteilung „Gift und Galle" als konstruktive Opposition, meine Damen und Herren.
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Als Letztes: Ich habe nicht ganz genau mitbekommen, was Sie - Sie werden es sicher nachlesen und wir werden es miteinander im Protokoll nachlesen - über die Christliche Demokratie insgesamt gesagt haben. Herr Kollege Dehler, nehmen Sie in allem Ernst zur Kenntnis: Da haben wir einen Punkt, wo auch wir empfindlich und verletzbar sind. Wir nehmen für uns in Anspruch, als Christliche Demokraten einen Karren aus dem Dreck gezogen zu haben, mit anderen zusammen, den wir dort nicht abgestellt hatten. Und wir nehmen für uns in Anspruch, daß die längste Zeit, die erfolgreichste Zeit in der demokratischen Geschichte unseres Landes unter der Führung von Christlichen Demokraten gestanden hat.
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Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 14.30 Uhr. Erster Redner am Nachmittag ist Herr Abgeordneter Stingl.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Das Wort hat Herr Abgeordneter Stingl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einer unserer Kollegen, der in der Sozialpolitik und der Gesellschaftspolitik einen großen Namen hat, und zwar unser Kollege Theo Blank, hat einmal gesagt, es gehe nicht an, daß man die Sozialpolitik als Wurmfortsatz der Wirtschaftspolitik betrachte. So will ich meine Ausführungen anfangen. Denn wer die Debatte um die Regierungserklärung verfolgt hat, könnte den Eindruck haben, daß auch dieses Hohe Haus der Sozial- und Gesellschaftspolitik recht wenig Bedeutung zumißt. Sie ist immer etwas weiter zurückgeschoben worden. Ich muß auch das wiederholen, was ich unlängst in diesem Hause gesagt habe: auch die Pressetribüne ist, wenn die Sozialpolitiker sprechen, immer ziemlich sanft besetzt.
({0})
- Ja, Herr Rasner, wir kommen immerhin noch vor der Außenpolitik dran.
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- Nun, da haben genug gesprochen, Herr Kollege Schoettle. - Ich erinnere mich auch mit Vergnügen des Ausspruchs des damaligen Präsidenten unseres Hohen Hauses, Ehlers, der sagte, wenn die Politiker sich bis zum Jüngsten Tage streiten, würden sich die Sozialpolitiker noch fünf Minuten länger auseinandersetzen.
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- Ja, aber das war ein Theologe, der das gesagt hat, Herr Kollege Barzel; ich war es nicht, ich habe nur daran erinnert.
Ich möchte dazu nur sagen, daß die Sozialpolitiker dieses Hauses - vielleicht auch im Hinblick darauf, daß ihnen oft vorgeworfen wird, sie sprächen hier Sozialchinesisch und sie diskutierten zu sehr im Detail - sich immer wieder sehr zurückgehalten haben. Ich glaube, es ist uns sogar übel genommen worden, daß wir Sozialpolitiker anläßlich der Verabschiedung des Neunten Rentenanpassungsgesetzes nicht ein paar Worte zu diesem Gesetzeswerk gesagt haben. Ich glaube aber, wir können es rechtfertigen, daß wir nicht immer und zu allen etwas sagen, weil inzwischen überall klargeworden ist, daß die Gesellschafts- und Sozialpolitik nicht mehr ein Anhängsel der Wirtschafts- und der Finanzpolitik ist, nicht etwas Sekundäres, sondern daß sie gleichwertig und gleichberechtigt danebensteht. Wenn heute in der Regierungserklärung nicht so sehr viel davon gesprochen wurde und auch wir selber nicht so viel davon sprechen, so bedeutet das nicht, daß wir sie in die Ecke gestellt hätten.
Meine Damen und Herren, das Hohe Haus weiß, daß wir, die wir jetzt die neue Koalition bilden, schon seit geraumer Zeit häufiger gemeinsam abgestimmt haben. Es wird hier im Hause nicht nach Motiven abgestimmt, sondern am Ende geben wir das Stimmzeichen zu einer konkreten Entscheidung. Darum ist es angebracht, gerade bei einer solch grundsätzlichen Aussprache über die neue Koalition auch einmal zu sagen, welchen Ausgangspunkt man selber und die eigenen Freunde haben, wenn sie von Gesellschafts- und Sozialpolitik sprechen.
Im übrigen scheint mir in diesem Zusammenhang auch etwas anderes bei der Diskussion um die Re- gierungserklärung bemerkenswert. Wir diskutieren heute die Regierungserklärung einer neuen Koalition, haben aber schon vorher praktische Gesetzesarbeit als neue Koalition getan; wir haben das Finanzplanungsgesetz und das Dritte Neuordnungsgesetz zur Kriegsopferversorgung verabschiedet. Insofern also muß ich korrigieren, was ich vorhin sagte, daß etwa das Haus kein Verständnis für Gesellschafts- und Sozialpolitik habe. Der Herr Bundesarbeitsminister hat vorgestern anläßlich der Verabschiedung des Dritten Neuordnungsgesetzes zur Kriegsopferversorgung darauf hingewiesen, daß die gesellschaftliche Einordnung der Geschädigten des zweiten Weltkrieges nicht ein Blicken nach rückwärts sei, sondern daß es zur Gesellschaftspolitik gehöre, den rechten Platz für jeden einzelnen in unserer Gesellschaftsordnung zu finden. Damit ist zugleich auch der Rang der Sozial- und Gesellschaftspolitik zu suchen. Wir müssen sagen, wie wir uns die Ordnung denken, in der sich der Mensch am besten voll entfalten kann.
Niemand kann fürchten, daß nun in diesem Hause die Diskussionen fade würden, wenn man gemeinsam und pragmatisch viele Dinge regeln kann. Man wird dennoch immer wieder nach den Motiven forschen müssen, man wird die Motive darlegen und wird dann sehen müssen, wie der Zug weitergefahren werden soll.
Für uns, die Christlich-Demokratische und Christlich-Soziale Union, liegt der Ausgangspunkt vom Bild des Menschen in dem, was uns durch den Namen, den wir tragen, aufgegeben ist: in unserem Christlichsein. Für uns ist das nicht ein Anspruch, daß jemand uns wählen müsse; für uns ist es eine Pflicht, aus dieser Überzeugung Gesellschafts- und Sozialpolitik zu treiben.
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Jeder hat - wir wissen es - eine unverlierbare. personale Würde. Zu dieser personalen Würde gehört seine Freiheit zur Entscheidung, aber auch die mit seiner Entscheidung verbundene Verantwortung. Gesellschaftspolitik hat also, wenn sie auf den Menschen bezogen ist, die Aufgabe, diesen Raum der Freiheit zu vergrößern.
Wir wissen vom Menschen, daß er für diese Entscheidungen Verantwortung zu tragen hat. Dabei wissen wir, daß dieser Mensch so, wie wir ihn als geschaffenes Wesen kennen, nie allein ist, daß er immer auch Verantwortung für seinen Nächsten trägt. Es ist dem Menschen immanent, daß er an seine Mitmenschen gebunden ist. Für uns ist das, was wir unter Nächstenliebe verstehen, eben nicht nur eine Sache des Wohlwollens und der SozialfürStingl
sorge, sondern es ist uns göttliches Gebot. Gesellschaftspolitik ist nicht Wohlwollen, sondern Pflicht.
Dabei müssen wir feststellen, daß, je höher der Wohlstand steigt, um so mehr die Bereitschaft abnimmt, von sich aus nicht nur wohltätig und fürsorgerisch tätig zu sein, sondern wirklich aus Liebe den anderen zu sich heranzuholen. Deshalb muß der Staat dafür die notwendigen Rahmenbestimmungen erlassen. Dieses Zugeordnetsein zueinander muß auch in seiner Politik Ausdruck finden. Warum sonst müssen wir uns jetzt damit beschäftigen, wie wir den besonders charakteristischen Liebesdienst in Krankenhäusern oder Altersheimen auch materiell reizvoll machen? Weil eben, wie wir wissen, im größeren Wohlstand die freiwillige Bereitschaft, allein aus sich heraus tätig zu sein, gemindert ist!
Sozialpolitik ist also nicht Armenfürsorge aus gutem Herzen, wie man nach der Debatte von heute morgen hätte annehmen können. Wir wissen, daß die Christlich-Sozialen - und hier auch weithin mit den Sozialdemokraten - in dieser Zeit gegen das Liberale und Liberalistische gestanden haben, daß sie gesagt haben, es ist nicht Armenfürsorge, sondern es ist Hereinholen des Menschen in die Gesellschaft. Ich würde es in der Form eines Beispiels vielleicht so sagen: Wir verstehen Gesellschafts- und Sozialpolitik nicht so, daß wir dem, der in schwieriger Lage ist, Brosamen von unserem Tische zukommen lassen, sondern wir meinen, wir müssen ihn an unseren Tisch holen, damit er an dem teilhat, was in unserer Gesellschaft Aufstieg und Vorwärtskommen ist. Da müssen wir natürlich die Solidarität aller Staatsbürger in Anspruch nehmen und - lassen Sie mich auch das sagen - nötigenfalls erzwingen, wenn es nicht von allein genügend dazu kommt. Nur darf dieser Zwang nicht soweit gehen, daß er den Freiheitsraum aushöhlt und aus unserer Gesellschaft der freien Menschen eine Gesellschaft der funktionierenden menschlichen Rädchen macht.
({4})
Das heißt also, der subsidiäre Aufbau bleibt dabei aber auch zu beachten.
Zur rechten Einordnung in die Gesellschaft, meine Damen und Herren, gehört nach unserer Überzeugung, nach der Überzeugung der Mitglieder der CDU/CSU die Familienpolitik. Wie können wir erwarten, daß unsere Gesellschaft eine heile Gesellschaft ist, wenn wir nicht dafür sorgen, daß die Familien heil sind? Dazu gehört, daß die Familien in der Lage sind, den Menschen zu bilden und auszubilden. Wo denn sonst als in einer Familie soll das Kind lernen, daß man nicht allein auf der Welt ist, daß man zu geben und zu nehmen hat, daß man in der Obsorge der Eltern ist, aber daß man auch den Geschwistern und Eltern gegenüber seine Pflicht erfüllen muß? Wo soll das Kind das sonst lernen, wenn nicht in der Familie?
Wir meinen, eine Gesellschaft täte sich einen schlechten Dienst, wenn sie nicht auch dafür sorgte, daß in einer Leistungsgesellschaft, die den Leistungslohn kennt, dieser Leistungslohn nicht bei zunehmender Kinderzahl einen sozialen Abstieg mit sich bringt. Für uns ist es eine Pflicht, diese heile Familie auch wirtschaftlich heil sein zu lassen.
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Familienpolitik und Familienlastenausgleich sind für uns eine ethische Verpflichtung. Aber wir können auch mit anderen gemeinsam einen Weg gehen, die diese ethische Verpflichtung nicht in allen Punkten teilen. Wir können selbst mit denen gehen, die nur davon ausgehen, daß die Kinder von heute später die tätigen Menschen sind, die das Sozialprodukt herstellen, das sie im Alter verzehren wollen. Natürlich wird sich dann in der Abstimmung nicht mehr zeigen, welches Motiv zu Grunde lag. Ich will nur festlegen, daß wir den Ausgangspunkt für die Familienpolitik in diesen vorhin genannten Dingen sehen. Dann sehen wir auch, daß wir heute in der Familienpolitik nicht nur das Kindergeld zu betrachten haben.
Es ist häufig so, daß man das, was der Herr Bundeskanzler vom Bedarf gesagt hat, so auslegt, als gehe es um Bedürftigkeit und Armenpflege. Nein, vom gesellschaftlichen Bedarf hat er gesprochen. Es ist nicht so, daß das Kindergeld einfach nur gegeben werden soll, wenn in der Familie die Gefahr besteht, daß jemand verhungert - ich übertreibe -, sondern so, daß die Familie adäquat, ihrer Aufgabe gerecht, wirtschaftlich gesichert sein muß. Merkwürdig ist, daß die, die so sehr dagegen schimpfen, daß man das Kindergeld angeblich nach dem Gießkannenprinzip gibt - das gibt es ja nicht einmal, weil es unterschiedlich ist -, sich nicht darüber aufregen, daß man in der Steuerpolitik eine Verteilung von Kindergeld in weit höherem Ausmaß vornimmt.
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Wer also eine Überprüfung verlangt, muß entsprechend dem Bericht der Sozialenquete-Kommission auch die beiden Dinge nebeneinander sehen und vergleichen, nämlich die Kindergelder und die Steuerermäßigung, dazu auch die Leistungen im öffentlichen Dienst und zu den Sozialversicherungseinrichtungen. Der Familienlastenausgleich ist für uns aber auch im gesellschaftspolitischen Sinn wichtig, weil wir ja von Sozialinvestitionen in Universitäten oder Höheren Schulen gar nicht reden können, wenn wir nicht den Willen der Familien stärken, daß die Kinder diese Bildungseinrichtungen auch in Anspruch nehmen.
Bildungspolitik beginnt in der Familie, in dem Bereitmachen in den Familien dafür, daß man den Wissenszuwachs, den die Menschheit ständig hat, auch wirklich zu einem Wissenszuwachs der einzelnen machen kann. Von hier aus ist unser Blick auch auf die Jugendpolitik gerichtet, weil auch die jungen Menschen immer noch Gelegenheit haben müssen, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dazu müssen ihnen auch Einrichtungen entsprechender Art zur Verfügung gestellt werden.
Wir müssen uns dabei auch darüber klar sein, daß Familienpolitik letztlich auch nüchtern dazu zu dienen hat, die Schwankungen im Bevölkerungsaufbau zu überwinden. Ich habe es bei einer anderen
Gelegenheit hier schon einmal gesagt: Wenn wir nicht dafür sorgen, daß unseren geburtenschwachen Jahrgängen, die jetzt in das heiratsfähige Alter kommen, bewußt ist, daß die Gesellschaft ihnen hilft, eine Familie zu bilden und Kinder zu erziehen, wenn uns das nicht so bewußt wird und wir es nicht tun, dann werden wir rein volkswirtschaftlich einmal eine sehr schlechte Bilanz haben, dann werden den inzwischen aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen zu wenig aktiv Tätige gegenüberstehen.
Ich habe vorhin schon von der Familie her auf ein gesellschaftspolitisches Problem hingewiesen. Ich will es in einem anderen Zusammenhang noch einmal wiederholen. Ich will sagen, daß sich der Bildungswille in der Familie herausschälen muß, daß uns dieser Bildungswille nicht nur für eine kurze Zeit beschäftigen sollte, . nicht nur so lange, bis der Entschluß gefallen ist: ich höre in der Schule auf und ergreife diesen oder jenen Beruf; sondern der Bildungswille muß auch darüber hinaus gepflegt werden, wenn die Menschen schon im Beruf stehen. Meine Fraktion hat schon vor einem Jahr einen Antrag zum AVAVG eingereicht, in dem auf diesen Bezugspunkt hingewiesen wird. Diesen Punkt werden wir nicht aus dem Auge verlieren. Auch der, der schon im Beruf steht, muß die Chancen eröffnet bekommen, den Bildungszuwachs der Menschheit für sich zu gewinnen. Er muß in die Lage versetzt werden. mobil zu werden. Die Arbeitskräfte müssen in der Lage sein, mit den neuen Ergebnissen der Technik fertig zu werden, neue Wirtschaftsformen bewältigen zu können. Das ist Gesellschaftspolitik, die auf den Menschen gerichtet ist, weil sie seine Würde vergrößert. Je mehr der Mensch seine Fähigkeiten für sich ausnützen kann, Sie aber zugleich im Interesse der Gemeinschaft anwendet, weil das, was er für die Gemeinschaft leistet, wertvoller ist, je mehr er Chancen zum Wissenserwerb bekommt, um so größer wird seine Mobilität. Mobilität der Arbeitskräfte um der Menschen willen, aber auch um der Gemeinschaft willen: so sehen wir es immer wieder im Zusammenhang.
So ist also auch das Wort von den Sozialinvestitionen doch wohl wieder extensiv auszulegen, nicht so, daß als Investition nur das verstanden wird, was in steinernen Gebäuden angelegt wird, sondern auch das, was angelegt wird, um die Menschen ihrer Vollendung näher zu bringen. Ich weiß mich mit dem Bundeskanzler einig, daß die Leistungen der Familienpolitik zu den Sozialinvestitionen gezählt werden.
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Wir müssen dabei noch einmal darauf hinweisen, daß „Bedarf" nicht mit Bedürftigkeitsprüfung nach dem fürsorgerischen Prinzip gleichzusetzen ist. Die wirtschaftliche Sicherung bei der Weiterbildung, die wirtschaftliche Sicherung bei der Rehabilitation, bei dem Ausgleich der Körperschäden, die man erlitten hat, ist notwendige Pflicht der Gemeinschaft, und wir dürfen die Betroffenen nicht dem Wohlwollen der Gesellschaft überlassen. Wir müssen dabei auch noch einmal sagen: wer bei solchen Leistungen von Einkommensgrenzen spricht, der möge die Einkommensgrenzen einmal bei Leistungen überprüfen, die zwar nicht in bar gegeben werden, die aber einen Einnahmeverzicht durch den Staat in der Steuerpolitik darstellen.
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Lassen Sie mich das auf alle Bereiche ausdehnen. Lassen Sie mich einen Diskussionsstoff für die Zukunft bei einem Punkt liefern und etwas sagen, was vielleicht nicht überall auf freundliche Aufnahme stößt: Wir müssen auch einmal überprüfen, ob es gerechtfertigt ist, die gesamte Vermögensteuer von der Einkommensteuer absetzbar zu lassen.
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Meine Damen und Herren, zur Verbreiterung des Raums der Freiheit gehört dann aber auch die Bildung von Eigentum in Arbeitnehmerhand. Niemand aus meiner Fraktion richtet den Blick nach rückwärts und sagt, man müsse durch Expropriation der Expropriateure eine neue Gesellschaft finden. Meine Fraktion bekennt aber das, was sie seit dem Parteitag von Hamburg immer wieder gesagt hat, daß die breite Streuung des Eigentums für sie eine notwendige gesellschaftspolitische Forderung ist. Diese breite Streuung des Eigentums ist für uns nicht befriedigend gelöst, wenn die Sparquote in den Sparkassen steigt. Wir wissen vielmehr, daß dazu das Eigentum am eingesetzten Kapital, so will ich es nennen, gehört. Ich meine nämlich, wir kommen sonst in eine schwere Diskrepanz zwischen Eigenkapital und Fremdkapital, wenn wir das Geld nur über die Sparkassen zur Verfügung stellen. Die Eigenkapitalbildung auch mit den Arbeitnehmern zusammen schwebt uns dabei vor. Ich darf dazu sagen, daß wir unsere Politik weiter darauf richten werden, daß der Sparwille belohnt und die Sparfähigkeit auch der Arbeitnehmer gefördert wird
Dabei können wir nicht davon sprechen, daß sich der Sparwille dadurch bekundet, daß man bei einem größeren Vermögen Beträge- von einem Konto zum anderen verlagert und einen neuen Bausparvertrag oder sonst etwas abschließt.'
({10})
Das verstehen wir gesellschaftspolitisch unter Verbreiterung des Raums der Freiheit des einzelnen.
Wir meinen zudem, daß die Freiheit des einzelnen dadurch gewährleistet ist, daß wir unser klassisches System der sozialen Sicherung weiter ausbauen. Das wichtigste dabei ist eine gerechte Alterssicherung.
Meine Damen und Herren, die Rentenreform von 1957 und die darauf folgenden neun Rentenanpassungsgesetze haben deutlich gezeigt, welche Meinung meine Fraktion und meine Freunde dazu haben. Wir haben in der Regierungserklärung gehört, daß an der Dynamik der Rente nicht gerüttelt werden soll. Wir sagen dazu, daß wir sehr wohl wissen, daß diese Dynamik in der Diskussion ist. Wer aber sagt, man müsse die Lohnbezogenheit, wie sie jetzt besteht, verändern, der muß gerechterweise dazusagen, wie er denn die Diskrepanz auflösen will, daß die Beiträge während des Lebens in der Relation zum Lohn gezahlt werden. Wenn er vielleicht sagt, dann müsse die Erstfestsetzung lohnbezogen sein, nicht aber die späteren AnpasStingl
sungen, so muß er uns dazu sagen, wie er dann verhindern will, daß die erstfestgesetzte Rente wesentlich höher als eine vorausgegangene Rente ist. Er muß zur Kenntnis nehmen, daß man ihm entgegenhalten kann, daß die Rente schon jetzt nachfolgend, nämlich nach den dann schon im volkswirtschaftlichen Bereich passierten Dingen, angepaßt wird, d. h. nach der Lohnbewegung. Wer meint, er könne über die Rentenversicherung die Tarifpolitik in den Griff bekommen, dem muß man sagen, daß er hier das Recht der aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen verletzt und das Pferd vom Schwanze her aufzäumt.
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Meine Damen und Herren, auch beim Bundeszuschuß läßt sich sicher diskutieren, ob er seiner Höhe nach und sonst gerechtfertigt ist. Jeder möge aber, wenn er an ihn heranwill, dabei prüfen, ob er denn, wenn er ihn kürzt, dem einzelnen entweder eine kleinere Rente zumessen und damit einen Teil der Rentner auf die Sozialhilfe verweisen will oder ob er eine Sondersteuer für die Arbeitnehmer durch Erhöhung der Beiträge einführen will.
Wir sind durchaus bereit, darüber zu diskutieren; aber die Art, wie ich es dargetan habe, mag schon darauf hinweisen, daß sich hier sehr schwerwiegende Probleme stellen. Die Kürzung der Rente, eine neue Bezogenheit der Rente, darf uns niemand vorschlagen, der zur gleichen Zeit bei manchen Versorgungseinrichtungen, z. B. bei der Versorgung der Beamten und bei der Versorgung der Angestellten im öffentlichen Dienst nach neuen Prinzipien, nicht davon abgeht, daß die Leistung im Alter eine Funktion des Aktiveinkommens ist. Man kann nicht dort, wo die Masse der Betroffenen mit der Rentenhöhe sowieso nur bei etwa 47 % des Arbeitsverdienstes liegt, die Schere ansetzen und kürzen, und im anderen Bereich eine Vollsicherung, die weit über das hinausgeht, was in der allgemeinen Rentenversicherung gewährt wird, verwirklichen.
Die Solidarität der Generationen kann nicht nur auf dem Sektor des öffentlichen Dienstes oder prosperierender Wirtschaftszweige gefunden werden. Die Solidarität der Generationen umfaßt schließlich und endlich das ganze Volk; denn wir sagen, daß die Würde des Greises nicht geringer ist als die Würde des aktiv Tätigen, und auch die Würde des Kindes nicht geringer ist als die des aktiv Tätigen. So haben die aktiv Tätigen für die Kinder und für die Greise, die ihnen die Voraussetzung für ihre Arbeit geschaffen haben, zu sorgen. Die Solidarität der Generationen - ich wiederhole es - ist für uns unabweisbarer Bestandteil einer christlich orientierten Gesellschaftspolitik. Wer dennoch, ohne von diesem Ausgangspunkt zu kommen, uns zustimmt, mit uns stimmt, der ist uns willkommen, und wir gehen mit ihm den Weg gemeinsam.
Wir meinen dabei auch, daß es in diesem Bereich durchaus strukturbedingte Lasten gibt. Wir wissen, daß die Entwicklung in der Wirtschaft den Beschäftigungsstand beispielsweise in der Landwirtschaft und im Bergbau wesentlich vermindert hat. Wir sind völlig der Meinung, daß denen, die dadurch aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden müssen, geholfen werden muß. Aber man kann nicht dann, wenn man einmal die Leistungen des Bundes an Zuschüssen betrachtet, sie als Sozialmaßnahme ansehen, sondern es sind Maßnahmen, die wirtschaftspolitisch bedingt sind. Wenn gesagt wird, daß es große Not auch heute noch unter den alten Menschen gibt, dann sollten wir dafür sorgen, daß ein System der sozialen Sicherung auch den Bereich erfaßt, der bisher draußen stehen blieb. Denen, die zum Sozialamt kommen und sich Sozialhilfe holen, ist es nicht in der Wiege gesungen gewesen, daß sie einmal in dieser Situation sein würden. Im Gegenteil, fast alle waren in der Mitte ihres Lebens sehr gut gestellt. Aber die Wechselfälle des Lebens haben ihnen nicht die Solidarität ihrer Generation eingebracht, weil es für sie das Sicherungssystem nicht gab. Ihr Ruf danach ist sicherlich verständlich und wird bei uns offene Ohren finden.
Die Freiheit, sagte ich, wird durch die soziale Sicherung größer. Die Freiheit wird gerade durch die Alterssicherung größer. Es ist eine merkwürdige Motivation heute morgen bei der Ablehnung der Tabaksteuererhöhung gewesen, diese Ablehnung damit zu begründen, daß die Erhöhung unsozial sei.
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Der Konsum dort ist abhängig vom eigenen Willen. Wer das sagt, der muß sagen, wo er das fehlende Geld hernimmt. Ich nehme an, nach allem, was wir bisher wissen, hätte der gleiche Politiker gesagt: Dann spart das bei der Rentenversicherung ein. Ist es unsozialer, die Tabaksteuer oder die Beiträge zu erhöhen, denen sich kein Arbeitnehmer entziehen kann?
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Wir meinen auch, daß das System der sozialen Sicherung modernisiert werden muß, soweit es unsere Krankenversicherung angeht. Wir wissen, daß unsere Bevölkerung, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, einen Anspruch darauf hat, daß auch die Erkenntnisse der modernen Medizin auf sie angewandt werden, auch wenn es noch so viel kostet. Gerade das aber zwingt uns dazu, zu sagen: Wir müssen auch bei kleinen Fällen ein gewisses Eigeninteresse beim einzelnen wecken. Hier weiß ich nicht, ob unser neuer Koalitionspartner in allem mit uns einig sein wird. Aber wir wissen, daß wir darüber sehr ernsthaft diskutieren werden, weil es uns beiden darum geht, die wirkliche Sicherung gegen die große, schwere Krankheit zu erreichen, und weil es uns auch darum geht, so weit wie irgend möglich Vorsorgemaßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen. Dabei wissen wir, daß die Krankenhäuser Sozialinvestitionen sind und wir auch dafür zu sorgen haben, daß die Gemeinschaft Krankenhäuser bereit hält. Mit dem gewachsenen Wohlstand ist auch der Anspruch in diesem Bereich größer geworden. Wir haben nichts dagegen, daß auch moderne Krankenhäuser auf diesen modernen Wohlstand gebracht werden, obwohl wir manchmal heftige Bedenken anmelden müssen, wenn es zwar keine vergoldeten Betten dort gibt, aber doch zuweilen einen Aufwand, der nicht unbedingt nötig ist.
Unsere Gesellschaftspolitik ist - ich wiederhole es - auf den Freiheitsraum für den einzelnen und seine Bindung an den Nächsten gerichtet. Sie hat deshalb die Aufgabe, die Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken. Sie muß aber auch die Fähigkeit stärken, solidarisch handeln zu können. Vorgestern haben wir das Dritte Neuordnungsgesetz zur Kriegsopferversorgung verabschiedet. Damit haben wir die rechte Einordnung insbesondere der Witwen in unserer Wohlstandsgesellschaft angestrebt. Es gibt noch viele Bereiche, wo wir das noch nicht erreicht haben. Der Herr Bundeskanzler hat, wenn er davor warnte, rückwärtige Leistungsverpflichtungen anzumelden, nicht abgelehnt, daß wir die Entwurzelten ordentlich eingliedern, sondern er hat damit wohl mehr gemeint, daß man noch Tatbestände abfindet, die nichts mehr mit der gesellschaftlichen Einordnung der Menschen zu tun haben. Wir sind es denen schuldig, die ihre Heimat, ihren Boden, ihre Bindungen an die Umwelt verloren haben, ihnen wieder einen Start zu geben, der unserer Wohlstandsgesellschaft angemessen ist. Ich denke besonders an die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, die früher selbständig waren. Besonders ihnen muß unsere Sorge gelten. Sie müssen den rechten Platz in unserer Gesellschaft wiederbekommen. Wir richten dabei den Blick nicht nach rückwärts, sondern wir wollen ihnen helfen, in unserer Gesellschaft den rechten Platz zu finden. Ich weiß mich mit Herrn Minister von Hassel völlig einig, daß wir große Sorge darauf verwenden müssen, daß Menschen, die aus dem unfreien Teil Deutschlands oder aus den Vertreibungsgebieten als Umsiedler zu uns kommen, nicht bei Asozialen in Lagern untergebracht werden müssen, sondern daß wir sie hereinholen in unsere Gesellschaft. Unsere große Sorge wird denen gelten, die aus einem Teil kommen, den ich niemals Republik, also Staat, noch Demokratie nennen kann. Wir meinen also, daß die Flüchtlinge und Aussiedler nicht einem sozialen Abstieg überantwortet werden dürfen. Wir müssen für sie sorgen. Uns geht es gut. Es wäre eine Schande für uns als Christen, als Liberale und als Sozialdemokraten, wenn sie uns den Vorwurf machen könnten, daß sie unter dem Totalitarismus besser gelebt haben als bei uns. Sie haben ein Bekenntnis zur Freiheit abgelegt, sie sind zu uns gekommen. Wir müssen sie herausholen aus den Lagern, und wir müssen unsere große Aufmerksamkeit und Sorge gerade denen zuwenden, die in ihrer Heimat als Bauern ein Fundament unseres Staates gewesen sind.
Dabei geht es, meine Damen und Herren, nicht nur um materielle Eingliederung hier, sondern um das, was in der Obhutserklärung genannt ist und was der Herr Bundeskanzler wiederholt hat, d. h.: die Rechte wahren, die auch immaterieller Art sind, die Rechte wahren, die nicht auf wie immer benannte Abkommen gestützt werden,
({14})
sondern ihre Rechte wahren, die sich herleiten aus den allgemeinen Menschenrechten, wie sie als „ungestörter Wohnsitz" in der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen stehen oder wie sie im vierten Zusatzprotokoll zum Menschenrechtskatalog des Europarats festgelegt sind, das wir, so hoffe ich, sehr bald ratifizieren werden.
Diese immateriellen Rechte sind mit der Obhut gemeint. Die Vertretung dieser und der sonstigen Rechte, gegenüber den Staaten, die sie verletzt haben, das ist dabei gemeint. Ich bin dankbar, daß der Herr Bundeskanzler Vertreibung auch Vertreibung genannt hat. Das Recht auf den ungestörten Wohnsitz ist ein unteilbares Recht. Wir sind gewiß, wenn wir für die, die wir in Obhut genommen haben, dieses Recht vertreten, daß wir dieses Recht allen zubilligen, auch unseren Nachbarn im Osten.
Die Wirtschafts- und die Finanzpolitik sind ausreichend erörtert worden. Wir haben jetzt zur Sozialpolitik noch etwas gesagt.
Wir sagen noch einmal: Wirtschafts- und Sozialpolitik sind allein nicht die maßgebenden Faktoren unserer Politik, sondern dazu gehört die rechte Gesellschaftspolitik. Das bonum commune muß auch dadurch, daß wir den Menschen recht einordnen, gepflegt werden. Die Gesellschaftspolitik wird auch bei der neuen Koalition den Stil der Innenpolitik bestimmen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Schellenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten. Damen und Herren! Herr Kollege Stingl hat ein allgemeines gesellschaftspolitisches Programm entwickelt. Ich werde in dieser Hinsicht etwas zurückhaltender formulieren. Es ist vielleicht besser, weniger zu versprechen und sich mehr den konkreten gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten zu widmen, die sich aus unserer Lage ergeben. Aber zuvor eine vergleichende Bemerkung zum Stil der Regierungserklärung.
Der sozialpolitische Teil der Regierungserklärung hebt sich in Ton und Gesinnung wohltuend von der letzten Regierungserklärung Professor Erhards ab. In dieser letzten Regierungserklärung wurde in bezug auf die Gesellschaftspolitik von einem Hineingleiten des einzelnen in die immer stärkere Abhängigkeit vom Staat gesprochen, von einer Entwicklung, in der alle Gruppen zunehmend zum Objekt der staatlichen Fürsorge werden, von Totalversicherung als Ansatz einer sich nährenden inflationistischen Entwicklung usw.
Die jetzt vorliegende Regierungserklärung ist dagegen - ungeachtet der schwierigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme, die zu lösen sind, - in ihren gesellschaftspolitischen Zielsetzungen den vor uns liegenden großen Aufgaben angemessen. Das ist ein bedeutsamer Fortschritt. Er wurde doch wohl durch die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten erreicht.
Die Sprecher meiner Fraktion, insbesonder die Kollegen Helmut Schmidt und Alex Möller haben gestern verdeutlicht, daß es nach unserer Auffassung darauf ankommt, Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik langfristig anzulegen und aufeinander
abzustimmen. Das kann ich vom Standpunkt der Gesellschaftspolitik nur unterstreichen und betonen, daß die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaftspolitik entscheidend von der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und unserer Finanzen abhängen. Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums und Wiederherstellung der finanziellen Ordnung dürfen aber auf keinen Fall zu Lasten der sozialen Stabilität gehen., Deshalb begrüßen wir die Zusage der Regierungserklärung: Bei den Sozialleistungen, die der Lebenssicherung dienen, soll weder der Besitzstand gemindert, noch sollen sie auf die gegenwärtige Höhe festgelegt werden.
Der amtierende Vorsitzende meiner Fraktion, Helmut Schmidt, hat deutlich gemacht, daß Stabilität der Wirtschaft für uns kein Selbstzweck ist. Alex Möller hat dies finanzwirtschaftlich unterstrichen. Die Erreichung dieser Ziele soll es vielmehr ermöglichen, die großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit zu bewältigen.
In Erweiterung und Konkretisierung der Regierungserklärung möchte ich wenige Schwerpunkte der Gesellschaftspolitik aufzeigen.
1. Die Gesellschaftspolitik kann und soll nicht nur zum Wohl des einzelnen und seiner Familie, sondern auch zur Gewährleistung eines höheren Produktivitätsgrades beitragen. Das hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem letzten Jahresgutachten unterstrichen.
Auch die Sozialenquete hat mit Nachdruck die gemeinsame Zielsetzung von Wirtschafts- und Sozialpolitik betont. In der Enquete wird erklärt: Die Erfüllung sozialpolitischer Aufgaben ist eine elementare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit moderner Wirtschaftspolitik. Wir werden die Enquete zum Gegenstand eingehender Beratungen in den Ausschüssen machen. Dabei werden wir praktizieren, was der amtierende Vorsitzende meiner Fraktion erklärte, Sachverständige öffentlich zu hören. Gestützt auf einen solchen Arbeitsstil, wollen wir dann der Bundesregierung konkrete Aufträge für die weitere Gestaltung der Gesellschaftspolitik geben.
2. Helmut Schmidt und Alex Möller haben gestern aufgezeigt, wiesehr die Menschen heute nach Sicherung ihres Arbeitsplatzes fragen. Hier werden Sorgen deutlich, die gemeinsame Aktivitäten ,der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erfordern. Deshalb hat die Beschäftigungspolitik jetzt ihre besondere Bedeutung. Wir haben das Gesetz zur Anpassung des Arbeitsmarktes an die Entwicklung von Wirtschaft und Technik vorgelegt. Nun kommt es darauf an, vier Dinge anzupacken: a) Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Arbeitsmarktanalyse zu bieten, b) ein modernes Ausbildungsrecht zu schaffen, c) die Berufsausbildung und Umschulung zu intensivieren und d) auch gewisse Fragen des Kündigungsschutzes und der Arbeitsvermittlung den Erfordernissen von heute anzupassen.
3. Die Zeit ist überreif, um auch im Interesse der Bildungspolitik nunmehr zu einer gezielten Ausbildungsförderung zu kommen. Der vom Plenum am 24. November 1966 angenommene Antrag bildet hierzu eine gute Grundlage. Wir erwarten, daß die Bundesregierung bald Vorschläge zur Vereinheitlichung und Verbesserung der Ausbildungsförderung durch Neuverteilung aller zur Verfügung stehenden Mittel im Sinne einer gezielten Förderung unterbreitet. Dann können wir.- ich hoffe, gemeinsam, Herr Kollege Stingl - die Reste des Gießkannenprinzips überwinden.
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Herr Kollege Stingl, Sie haben von dem Zusammenhang zwischen Sozialinvestitionen und Sozialkonsum gesprochen. Es kommt darauf an, Sozialinvestitionen und Sozialkonsum in ein sinnvolles Verhältnis zueinander zu bringen und auch hier langfristige Vorausschau walten zu lassen.
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Die Ausbildungsförderung ist ein treffendes Beispiel dafür, wie unangemessen es ist, einen Widerspruch zwischen Sozialinvestitionen und Sozialkonsum konstruieren zu wollen.
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Zum Beispiel werden Sozialinvestitionen für wissenschaftliche Einrichtungen doch höchst fragwürdig, wenn wir nicht gleichzeitig im Rahmen des Sozialkonsums Voraussetzungen dafür schaffen, daß junge Menschen diese Einrichtungen benützen können.
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Sozialinvestitionen und Sozialkonsum sind zwei Seiten der einen Medaille, und die heißt: Moderne Gesellschaftspolitik".
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4. Herr Kollege Stingl, Sie haben von der großen Verpflichtung gegenüber der Familie gesprochen. Das erfordert Konsequenzen. Der Familienlastenausgleich muß neu geordnet werden. Schon seit. langem hat die SPD erklärt, daß das geltende Recht mit den indirekten Steuern und direkten Geldleistungen für Familien mit Kindern nicht nur unübersichtlich ist, sondern auch zu erheblichen Härten führt. Die Sozialenquete hat das bestätigt. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.
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Wir bitten die Regierung, uns durch eine Vorlage zu unterstützen.
Eine solche Regelung bringt - um es unseren Kollegen vom Haushaltsausschuß zu sagen - keine zusätzlichen Belastungen,
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aber sie trägt zu einem gerechteren Familienlastenausgleich bei, und darauf kommt es uns an.
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5. Wir haben begründete Hoffnung, daß die neue Bundesregierung die Gesundheitspolitik auch im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten des Grundgesetzes aktivieren und ihr sichtbare Impulse geben wird.
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Die Bundesregierung und insbesondere die Frau Gesundheitsministerin kann in dieser Hinsicht auf unsere volle Unterstützung rechnen.
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In der Regierungserklärung wird von der Notwendigkeit gesprochen, die Forschung zu intensivieren. Gut. Im Interesse der Menschen, aber auch der Volkswirtschaft, wird es geboten sein, auch die Forschung im Bereich des Gesundheitswesens stärker zu fördern.
Zu den großen innenpolitischen Aufgaben, von denen die Regierungserklärung gesprochen hat, gehört es, den Grundsatz des kooperativen Föderalismus zu verwirklichen. Das gilt auch für den Bereich der Gesundheitspolitik. Auf diese Weise könnte es gelingen, zu sinnvolleren Regelungen der Krankenhausfinanzierung und auch der Krankenhausplanung zu kommen.
6. Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherungen muß gesichert werden. Der Herr Bundesarbeitsminister hat, etwas vorschnell, versprochen, unmittelbar nach der Sommerpause einen neuen Gesetzentwurf zur Krankenversicherungsreform vorzulegen. Herr Minister, vor Ihnen steht diese Aufgabe. Eine Reform ist auch aus finanziellen Gründen erforderlich. Viele Krankenkassen sind an die Höchstgrenze des Beitragsatzes gelangt. Daraus ergeben sich nach dem Gesetz Verpflichtungen für die Gemeinden oder für Leistungssenkungen. Beides können wir nicht wollen. Deshalb wollen wir im Einklang mit der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit alles tun, um zu einer modernen Krankenversicherung zu kommen. Sie hat auch mehr als bisher die gesundheitlichen Aufgaben der Vorsorge zu bewältigen. Das ist eine schwierige Aufgabe, der wir uns nicht entziehen wollen.
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- Meine Rede ist zeitlich begrenzt, Herr Kollege Ruf, deshalb kann ich hier nicht über Details sprechen. Es handelt sich um komplizierte und schwierige Fragen. Zwei Legislaturperioden lang hat das Haus vergeblich darum gerungen. Ich hoffe, daß es in dieser Legislaturperiode beiden Regierungsparteien gemeinsam gelingt, dieses Werk voranzubringen.
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7. In der Regierungserklärung heißt es: „In unserem System der Sozialversicherung werden wir am Prinzip der dynamischen Rente festhalten". Das unterschreiben wir voll und ganz. Wir fügen in Übereinstimmung mit dem, was Herr Kollege Stingl gesagt hat - wenn ich ihn recht verstanden habe --hinzu: Wir werden am Prinzip der lohndynamischen Rente festhalten. Dieser Grundsatz ist für uns unumstößlich, aus sittlichen Gründen. Die Alten und Arbeitsunfähigen haben durch die Arbeit ihres Lebens die Voraussetzung für den Wohlstand von heute und morgen geschaffen. Sie haben sich dadurch ein Recht erworben, auch in Zukunft an der
Lohn- und Gehaltsentwicklung derjenigen, die aktiv im Arbeitsleben stehen, teilzuhaben.
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Diese Politik haben wir in der letzten Woche durch das Neunte Rentenanpassungsgesetz - fast automatisch - bestätigt. Das bestätigt, daß für die Koalition die Rentenanpassung zur Selbstverständlichkeit geworden ist. So soll es auch in Zukunft bleiben.
Deshalb lehnen wir nachdrücklich das ab, was Herr Kollege Mischnick für die FDP über eine Änderung der Rentenautomatik erklärt hat. Wenn ich das erkläre, dann tue ich das in voller Kenntnis der finanziellen Konsequenzen, die sich daraus und aus der steigenden Alterslast unseres Volkes ergeben. Es gibt manche Kreise, Herr Kollege Mischnick, die die finanzielle Misere der Gegenwart nutzen möchten, um das Rad der sozialpolitischen Entwicklungen wieder zurückzudrehen.
Wir haben noch gut in Erinnerung, was bei der Verabschiedung der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze der von uns persönlich sehr geschätzte Herr Kollege Becker namens der FDP vor der Schlußabstimmung erklärte: „Wir sehen uns nicht in der Lage," so sagte er, diesem dem früheren guten Ruf der deutschen Sozialversicherung in der Welt abträgliche Gesetz unsere Zustimmung zu geben. So haben Sie von der FDP das große Werk der Rentenreform beurteilt. Ich hoffe, Sie haben Ihr Urteil hierüber gewandelt. Nach dem, was Herr Kollege Stingl für die CDU/CSU erklärt hat, kann ich feststellen: Die beiden großen Parteien -1956/ 57 noch nicht in meiner Regierung vereint - haben dennoch damals gemeinsam die Rentenreform gestaltet. Wir werden dieses große Werk auch in Zukunft gemeinsam erhalten und festigen.
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Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben ein Konzept der Volksversicherung entworfen. Niemand soll meinen, wir hätten diesen Plan nun zu den Akten gelegt, um ihn für den nächsten Wahlkampf wieder herauszusuchen. Selbstverständlich können wir bei den gegebenen Verhältnissen unsere Vorstellungen von einer Volksversicherung nicht voll realisieren. Wir werden aber große Anstrengungen unternehmen, um wenigstens gewisse Teile dieser Volksversicherung zu verwirklichen. Nicht nur aus Treue zum Programm, sondern weil dies dem Bedürfnis der Menschen entspricht. Naturgemäß wird dies in Einklang mit den wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten erfolgen.
Wir stellen uns selbstverständlich der großen und schweren Aufgabe, den Altersaufbau unseres Volkes wirtschaftlich und sozial zu bewältigen. Sie wird durch die besonders schwierige allgemeine Finanzentwicklung belastet. Dennoch halten wir an unserer Verpflichtung zur wirtschaftlichen Alterssicherung in der Lohndynamik fest.
Im übrigen habe ich den Kollegen von der FDP vor allem wegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung der Rentenversicherung
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- der Rentenreform, Entschuldigung, der Ablehnung der 1956/57 geschaffenen Rentenreform folgendes zu sagen: Es liegt zur Regelung dieser finanziellen Probleme der Rentenversicherung dem Hause, nämlich dem Ausschuß, ein Gesetzentwurf vor. Wir werden ihn unter sorgfältiger Verwertung der neuesten finanzmathematischen Unterlagen und selbstverständlich auch unter Hinzuziehung von Sachverständigen gründlich beraten. Dann werden wir diese Fragen zur Entscheidung vorlegen. Wir werden sie freimütig diskutieren. Meine Fraktion ist bereit, dann alle Entscheidungen zu treffen, die notwendig sind, um die finanzielle Solidität unserer Rentenversicherung auch in Zukunft zu erhalten. Das sind wir den Rentnern und den Beitragszahlern schuldig. Auch hier gilt der Gleichklang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.
8. Zu einem letzten Problem deshalb, weil Herr Kollege Mischnick hierüber kritische Bemerkungen gemacht hat. Die Sozialdemokraten sind sich jederzeit der sozialen Verpflichtungen gegenüber denen bewußt, die durch den Krieg und seine Folgen besonders gelitten haben. Herr Kollege Mischnick, Sie haben über die Abwicklung von Kriegs- und Nachkriegsfolgen sehr schöne Worte gesprochen. Aber zur finanziellen Lösung dieser großen Aufgabe haben Sie geschwiegen. Herr Mischnick, in eine Frage gekleidet haben Sie den Verdacht ausgesprochen, daß die durch Krieg und Nachkriegszeit Betroffenen auf der Strecke bleiben sollen. Das waren böse Worte. Sie haben dann weiter, ebenfalls in Form einer Frage, die Vermutung ausgesprochen, daß die letzte Debatte über die Kriegsopferversorgung ein Vorbote dieser neuen Einstellung sei.
Meine Damen und Herren von der FDP, gemessen an der Tatsache, daß das Haus vorgestern ungeachtet der finanziellen Probleme Leistungsverbesserungen für die Kriegsopfer in einer Höhe von über 880 Millionen DM jährlich beschlossen hat, ist das eine groteske Unterstellung.
Eine Politik der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität, die wir erstreben, wird auch die Grundlage dafür schaffen, daß die Opfer des Krieges das Bewußtsein haben können, ihre für die Allgemeinheit gebrachten Opfer werden durch Staat und Gesellschaft auch in finanzieller Hinsicht angemessen gewürdigt.
Die neue Bundesregierung wird sich in ihren Bemühungen um wirtschaftliches Wachstum, finanzielle Ordnung. und soziale Stabilität auf die Unterstützung und aktive Mitarbeit der Sozialdemokraten verlassen können. Mit einer solchen Politik schafft die Bundesregierung und schaffen wir alle die Voraussetzung für eine moderne Gesellschaftspolitik. Doch die Bundesregierung wird sich wohl stets bewußt bleiben, daß eine der sie tragenden politischen Kräfte seit hundert Jahren in ihrem Parteinamen das Wort sozial führt. Das ist für meine Fraktion eine besondere Verpflichtung, auch als Regierungspartei.
Herr Kollege Stingl, Sie haben von Ihrer Grundkonzeption gesprochen. Unsere ist die: dem Menschen es durch eine moderne Gesellschaftspolitik zu ermöglichen, sein Leben in Freiheit und Würde zu gestalten.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Regierungserklärung enthält eine Reihe allgemeiner Feststellungen, denen wir durchaus zustimmen können, wenn das, was sie als Eindruck vermitteln, von den neuen Koalitionsfraktionen auch wirklich gemeint ist und im entscheidenden Moment hier im Hause bei den Abstimmungen durchgehalten werden kann. Leider ist die Regierungserklärung aber oft, wo konkrete Antworten erforderlich gewesen wären, im Unverbindlichen steckengeblieben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wir gerade die sozialpolitische Runde haben und die Sozialpolitiker in den letzten Wochen gelegentlich im Hause von den Kollegen schief angesehen wurden, so als ob die Sozialpolitiker diejenigen seien, die ein gerüttelt Maß von Schuld daran hätten, daß unsere Finanzen nicht ganz in Ordnung sind, werden Sie Verständnis dafür haben, daß ich auf einen Teil der Regierungserklärung, nämlich auf die Seiten 3659 B bis 3660 A des Stenographischen Berichts besonders eingehe. Die Regierungserklärung auf diesen Seiten ist nämlich, so empfinde ich es, eine Art Philippika gegenüber den bisherigen Regierungen und dem gesamten Parlament, insbesondere wenn man bedenkt, daß dort vorgeschlagen wird, den bisher noch nie angewandten Art. 113 des Grundgesetzes zu ändern, um - wie es in der Regierungserklärung heißt -eine am Gemeinwohl orientierte und den Rahmen den finanziellen Möglichkeiten nicht überschreitende Politik zu sichern.
Als vorwiegend im sozialpolitischen Bereich tätiger Abgeordneter frage ich mich: Was sollen diese Änderungsabsichten, und was soll der darin unausgesprochen steckende Vorwurf?
Zur Sache darf ich feststellen, daß in der Vergangenheit tatsächlich vielfach Ausgaben - fortwirkende Ausgaben - von diesem Parlament beschlossen wurden, weil die Koordinierung eines geschlossenen Programms schon innerhalb des Kabinetts kaum durchzusetzen war und weil, wie die Regierungserklärung sehr richtig bemerkt, die Durchsetzung von Sonderwünschen der Ressorts sich in den Arbeitskreisen der Fraktionen und den Ausschüssen des Bundestages fortsetzte. Aber, meine Damen und Herren, das Urheberrecht für solche Sünden liegt doch schon einige Zeit zurück.
Hat die CDU/CSU eigentlich schon vergessen, daß sie acht Jahre lang, nämlich von 1953 bis 1961, im Parlament über die absolute Mehrheit verfügte? Sie hatte damals die Möglichkeit, im Kabinett, in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in den Arbeitskreisen, im Bundestag die Politik nach sauberen, klaren Leitbildern zu prägen. Aber offensichtlich hat die CDU/CSU in der Zeit der absoluten
3846 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - _
Mehrheit diese Chance nicht genützt; sonst hätten Sie, Herr Bundeskanzler, solch ein Klagelied, wie man es aus den genannten Seiten der Regierungserklärung herauslesen kann, nicht anzustimmen brauchen. Herr Bundeskanzler Dr. Kiesinger, ich erinnere mich, daß Sie bis zum Jahre 1958 diesem Hause noch angehört haben, und ich wundere mich eigentlich über das Klagelied in der Regierungserklärung, wo Sie darauf hinweisen, daß leider in den Ausschüssen oft Leute über ihre eigenen Interessen abstimmen. Ich glaube, es hätte zu den Aufgaben der Christlich-Demokratischen Union gerade in der Zeit ihrer absoluten Mehrheit gehört, eine sachgerechte personelle Besetzung der Ausschüsse mindestens von ihr als Mehrheitspartei durchzuführen.
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Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen nur sagen: wir Freien Demokraten werden sehr genau darauf achten, ob nunmehr nach dem, was Sie auf den zitierten Seiten der Regierungserklärung ausgeführt haben, ein großes Revirement in der Besetzung der Ausschüsse durch die CDU erfolgt. Denn entweder muß ein solches Revirement erfolgen, oder aber die von Ihnen getroffenen Feststellungen haben sich im nachhinein nicht als so wichtig erwiesen, daß eine Umbesetzung vorgenommen werden sollte. Ich bitte das also doch auch zur Kenntnis zu nehmen.
Wenn wir von der schwierigen Finanzsituation und von der Ankündigung in der Regierungserklärung, daß der Art. 113 des Grundgesetzes geändert werden soll, sprechen, dann muß ich noch auf ein anderes Gremium verweisen, das Ihnen, Herr Bundeskanzler, ebenfalls nicht unbekannt ist: auf den Bundesrat. Er bekommt - mit Ausnahme von Initiativgesetzen - in der Regel alle Gesetze vor und nach der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages zur Stellungnahme vorgelegt. Es wäre sicherlich hochinteressant und reizvoll, einmal nachzuprüfen, inwieweit sich dieses Gremium gegen ausgabensteigernde Verpflichtungen nicht gewandt hat. Ja, es würde sogar zu erstaunlichen Ergebnissen führen, inwieweit dieses Gremium, der Bundesrat, zusätzlich Ausgabewünsche dem Deutschen Bundestag vorgetragen hat. In nahezu allen Fällen hat sich im Bereich der Sozialpolitik z. B. der Arbeits- und Sozialausschuß des Bundesrates gegen den Finanzausschuß des Bundesrates durchgesetzt.
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Also haben die Herren Ministerpräsidenten offensichtlich auch nicht immer die erforderliche ausgabensparende Haltung eingenommen, um „eine am Gemeinwohl orientierte und den Rahmen der finanziellen Möglichkeiten nicht überschreitende Politik zu sichern".
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Ich hielt es für notwendig, um der Objektivität willen dies hier einmal festzustellen. Ich wehre mich gegen den Eindruck, der aus den genannten Seiten der 'Regierungserklärung entsteht, als ob dieses Haus und die letzte Regierung die Alleinschuldigen wären. Ich glaube, wenn gesündigt worden ist, dann haben wir auf allen Ebenen gesündigt. Und es ist auch nicht immer so gewesen, daß die Parlamentsmehrheit darauf aus gewesen wäre, das finanzielle Volumen von Vorlagen der Bunderegierung auszuweiten. Ich erinnere mich sehr genau, wie Kollegen der CDU/CSU und der FDP im vergangenen Bundestag im Ausschuß für Wiedergutmachung monatelang die Regierungsvorlagen in ihrem finanziellen Volumen gegen sagenhafte Ausgabenwünsche der Opposition verteidigten und wie zweimal auf Wunsch des Herrn Bundeskanzlers wegen der behaupteten und befürchteten außenpolitischen Auswirkungen eine Verständigung mit der Opposition erstrebt und herbeigeführt wurde, aber eine Verständigung, die immerhin dazu führte, daß das Ausgabenvolumen um 1,5 Milliarden DM erhöht werden mußte. Es ist also nicht so, daß die Ausweitung immer nur aus dem Parlament heraus geschehen wäre.
Wir Freien Demokraten können dem neuen Bundeskanzler nur wünschen, daß er bei seiner Arbeit nicht in diese Situation gebracht wird, wie wir sie bei seinem Vorgänger bei diesen beiden Gesetzen selbst erleben durften.
Dem Versuch, den Art. 113 des Grundgesetzes durch eine Änderung zum Nothelfer für „eine am Gemeinwohl orientierte und den Rahmen der finanziellen Möglichkeiten nicht überschreitenden Politik" zu machen, muß man mit einiger Skepsis gegenüberstehen, wenn man folgendes bedenkt: Die Gefahr, daß die finanziellen Möglichkeiten über Gebühr strapaziert werden, besteht doch - seien wir ehrlich - besonders vor Wahlen. Eine nüchterne Betrachtung der Vergangenheit zeigt, daß dabei jedoch keineswegs immer die Vernunft des Kabinetts oder die Vernunft des Bundesrates der Unvernunft des Bundestages gegenübergestanden hätten. Im Jahre 1957 wurde der sogenannte Kuchenausschuß gebildet, um die angesammelten Milliarden D-Mark nach bestimmten Interessenlagen zu verteilen. Der damals verantwortliche Finanzminister Schäffer wehrte sich sehr gegen dieses Vorhaben; aber er konnte sich nicht durchsetzen. Auch bei einer anderen Fassung des Art. 113 wären die Dinge damals im Jahre 1957 nicht anders gelaufen. Die die Zukunft finanziell belastenden Beschlüsse wurden damals im Prinzip immer im Einklang zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit gefaßt; denn die CDU- Regierung konnte sich auf eine Parlamentsmehrheit von über 50 % der Abgeordneten stützen.
Der neue Finanzminister Franz Etzel, der dann Einzug hielt, versuchte durch eine Haushaltspolitik hart am Rande des Defizits die Ausgabenflut einzudämmen. Er unternahm den Versuch, den Haushalt bei 40 Milliarden DM festzuhalten. Das hatte zur Folge, daß im Parlament mit Unterstützung von Kabinettsmitgliedern Ausgabenbeschlüsse gefaßt wurden, z. B. beim Kindergeld und bei der Sozialhilfe, deren finanzielle Konsequenzen nicht durch den Bund oder zumindest nicht unmittelbar und nicht voll durch den Bund zu verantworten waren, sondern durch die Berufsgenossenschaften, durch die Arbeitgeber und durch die Gemeinden und Kommunalverbände.
Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß diese Methode, ausgabensteigernde Beschlüsse vor Wahlen zu fassen, in einer Phase eingerissen ist, in der eine einzige Partei über die absolute Mehrheit verfügte. Bei Unkenntnis der inneren Parteienstruktur sollte man eigentlich annehmen, daß unter solchen Bedingungen am ehesten eine einheitliche und übersichtliche Politik aus einem Guß möglich wäre.
Der Art, 113 ist weder in der jetzigen Fassung noch bei der vorgesehenen Änderung der Schlüssel, mit dem die Tür zu einer „am Gemeinwohl orientierten Politik" geöffnet werden könnte. Entscheidend hierfür ist nämlich, daß zuerst im Kabinett eine einheitliche Meinungsbildung nach Argumenten und nicht nach Stimmenmehrheiten erfolgt - eine Meinungsbildung und ein Beschluß, die für die Mehrheit des Bundestages akzeptabel sind. Ansonsten besteht die Gefahr - so sehen wir es -, daß der geänderte Art. 113 des Grundgesetzes zu einem billigen Alibi für das Kabinett und seine Mitglieder gemacht werden könnte.
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Meine Damen und Herren! Ich hielt es einfach für notwendig, das zu sagen, um einmal ganz klarzustellen, daß mit der einfachen Änderung des Art. 113 gar nichts gewonnen ist, sondern daß hier die Zusammenarbeit zwischen der Mehrheit des Parlaments und der Regierung besser funktionieren muß, als man das etwa seit dem Jahre 1956 feststellen kann.
Doch nun zum eigentlichen sozialpolitischen Be- reich. Sie beklagen, Herr Bundeskanzler, daß es in der Vergangenheit an einer mittelfristigen Finanzvorschau fehlte. Ich erinnere mich, daß Dr. Starke als Finanzminister im Jahre 1962 eine solche bereits angeregt hat. Es ging dann einige Zeit, aber die Finanzberichte von 1964 und 1966 haben doch dann bereits zumindest Tendenzaufzeichnungen über die Dinge enthalten, die viele in den letzten Wochen so sehr schockierten, entweder weil sie diese Finanzberichte nicht gelesen oder ihre Ergebnisse nicht ernstgenommen hatten.
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Ich kann noch auf weiter zurückliegende, wichtige nicht nur mittelfristige, sondern langfristige Vorausschauen hinweisen. Ich meine die versicherungstechnischen Bilanzen. Die erste versicherungstechnische Bilanz zum Datum 1. Januar 1959 - sie wurde, Herr Kollege Schellenberg, dem Bundestag im September 1962 mit mehrjähriger Verspätung vorgelegt zeigte doch ebenfalls auf, daß die Bundeszuschüsse für die Sozialversicherungsträger im Laufe der nächsten Jahrzehnte beachtliche Größen annehmen würden. Aber diese Tendenzen wurden vom eigenen Ministerium verniedlicht, ein bißchen heruntergespielt, und ich kann auch heute nur sagen: Die Kollegen, die nun im neuen Kabinett sitzen, sollten sich wirklich einmal mit Sozialpolitikern unterhalten und sich die Ergebnisse der vorliegenden versicherungstechnischen Bilanzen einmal erklären lassen.
Herr Kollege Strauß ist im Augenblick nicht da. Aber ich habe hier einen Zeitungsartikel vom 30. 11. 1966 - das ist also vom Tag vor seiner Ernennung zum Finanzminister -, und hier hat Herr Kollege Strauß in einem von ihm selbst geschriebenen Artikel die Behauptung aufgestellt, die Entwicklung der Bundeszuschüsse an die Träger der Rentenversicherung habe zu einer Höhe geführt - und nun wörtlich -, „die früher noch nicht übersehen wurde". Da muß ich eigentlich sagen: Über soviel Unkenntnis kann ich mich nur wundern, denn, meine Damen und Herren, die versicherungstechnische Bilanz, die diesem Bundestag am 28. September 1962 zugeleitet wurde, weist bei der Annahme einer 6%igen Lohnsteigerung vorausschauend für das Jahr 1967 bereits erforderliche Bundeszuschüsse in der Höhe zwischen 6,3 und 9,9 Milliarden DM aus.
Herr Bundesfinanzminister Schmücker hat in seiner Rede vom 23. November dieses Jahres den genauen Zuschußbedarf zur Arbeiter- und Angestelltenversicherung für das Jahr 1967 mit 6 974,5 Millionen DM beziffert. Es ist also festzustellen, daß diese Zahl nur 10 % über dem vorausgesagten Mindestzuschuß der Bilanz liegt. Selbst wenn ich die erheblich gestiegenen Zuschüsse zur Knappschaftsversicherung in Höhe von 2,8 Milliarden DM hinzuschlage, komme ich auf einen Gesamtzuschußbedarf von 9,7 Milliarden DM, und der liegt immerhin noch 200 Millionen DM unter der Höchstzahl, die uns mit dem Stichtag 1. Januar 1959 bereits im Jahre 1962 vorgelegt wurde.
Es kann also gar keine Rede davon sein, daß diese Zahlen neu waren oder unbekannt gewesen sind.
Ich muß nun auf eines hinweisen: Unter der entsprechenden Entgeltannahme - nämlich 6 % Lohnsteigerungen - weist die erste versicherungstechnische Bilanz, die wir bekommen haben, einen Zuschußbedarf von 11 bis 20 Milliarden DM im Jahre 1976 und von 18 bis 38 Milliarden DM im Jahre 1986 auf. Die Zahlen sind fortgeschrieben, und wir warten auf die überfällige dritte Bilanz.
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- Ja, wenn Sie die Prozente nehmen, Herr Kollege Schellenberg, bin ich gern bereit, das dem Hause zu bestätigen. Man muß die beiden Dinge sehen. Herr Kollege Schellenberg, ich wende mich nur gegen die Darstellung, die der Herr Finanzminister Strauß am Vorabend seiner Berufung in der Bonner Rundschau gegeben hat, als ob die sozialpolitischen Belastungen in dieser Größe noch nicht überschaubar gewesen wären. Sie waren bekannt.
Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, was hier auf den Bund, auf die Steuer- und Beitragszahler zukam, war schon im Jahre 1957 bei der Beschlußfassung in etwa bekannt. Damals dachte die Mehrheit nicht an die Finanzsituation des Jahres 1967, sondern an die Wahlen des Jahres 1957. Die Freien Demokraten wurden damals und heute wieder von Ihnen, Herr Kollege Schellenberg, gescholten, weil sie gegen diesen finanzpolitisch nicht ganz einfachen Weg Bedenken hatten. Heute muß die Bundesregierung erklären - Seite 3658 des Stenographischen Berichts -:
Wir müssen aber sehr ernsthaft die Bemessung der jährlichen Zuwachsraten der Sozialleistungen und der Bundeszuschüsse prüfen und sie mit den Möglichkeiten und Grundsätzen einer gesunden Finanzpolitik in Einklang bringen.
Wir Freien Demokraten fragen: Was bedeutet dieser Satz? Hierauf wird die neue Bundesregierung, Herr Arbeitsminister, sicherlich bald eine klare Antwort geben. Wir haben im Ausschuß für Sozialpolitik das Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz liegen. Ich frage Sie: Werden Sie zu dem Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetz auf Grund der Aussage der Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung neue Vorschläge einbringen? Oder wird nichts eingebracht werden?
Wir haben im übrigen in der Rentenversicherung ab 1. Januar 1967 einen eigenartigen gesetzeswidrigen Zustand. Dem alten Recht wird nicht mehr entsprochen, und die vorgesehenen Änderungen sind noch nicht vollzogen. Bei der Verabschiedung des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes wird sicherlich die erste Nagelprobe auf die Stichhaltigkeit der Regierungserklärung vorgenommen werden müssen.
Nun weiter zur Regierungserklärung. Auf Seite 3657 wird daraufhingewiesen, daß sich im Jahre 1965 erstmals 'die volle Übernahme des Kindergeldes auf den Bundeshaushalt mit dem vollen Jahresbetrag auswirkte. Nun, der dann folgende Satz ist etwas zweideutig. Ich stelle deshalb die Frage: Muß aus dem folgenden Satz, der davon spricht, daß eine Korrektur dieser Entscheidungen nicht gelungen sei, geschlossen werden, daß sich die neue Bundesregierung mit der Absicht trägt, die Kindergeldleistungen wieder ganz oder teilweise den berufsständischen Organisationen aufzulasten, um so im Haushalt Luft zu bekommen?
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Wir halten die im Jahre 1964 getroffene Entscheidung für richtig. Wir glauben auch, daß die SPD zu dieser von ihr selbst in langen Kämpfen mit erstrittenen Lösung aus ihrer Einstellung heraus stehen wird. Aber Sie geben doch zu, daß 'dieser Satz auslegungsfähig ist und daß wir berechtigten Grund haben, ,die Regierung zu fragen, was dieser Satz in der Auslegung zu bedeuten hat?
Im übrigen darf ich feststellen, daß diese beiden von mir angeführten Sätze die einzigen und noch dazu fragwürdigen Aussagen zur Familienpolitik sind. Wenn ich in den Saal hineinsehe, dann denke ich an zweimal W, nämlich Wuermeling und Winkelheide. Wo seid ihr angesichts dieser knappen Aussage zur Familienpolitik geblieben?
Ich darf für die Freien Demokraten feststellen, daß wir nicht nur Worte wie „Familienpolitik", Eigentumspolitik, Gesundheitspolitik, sondern auch das Wort Sozialenquete in dieser Regierungserklärung vermissen.
Mit dem Wort Sozialinvestitionen verbinde ich positive Vorstellungen. Ich bin mit dem Kollegen Stingl völlig einig, daß es sich nicht in Stahl, Glas und Beton manifestieren kann. Auch Ausbildung,
Bildung, Fortbildung und Weiterbildung sollen mit ein Bestandteil dieses Wortes sein. Meine Damen und Herren, was heißt eigentlich in der Regierungserklärung das Wörtchen müßten? Es heißt nämlich in der Regierungserklärung:
Für Sozialinvestitionen aller Bereiche ... müßten erheblich größere Geldmittel bereitgestellt werden.
Ich frage also: bleibt es bei dem „müßten" oder wird es heißen „müssen", und zwar auf irgendeinem Weg, und wenn es auch durch Kürzungen an anderer Stelle wäre?
Ich kann mir nicht denken, daß die Formel von den Sozialinvestitionen in die Regierungserklärung mit vollem Einverständnis des Bundesarbeitsministers hineingekommen ist; denn wir von der FDP waren uns mit dem Herrn Arbeitsminister darin einig, daß es zu einer modernen Aufgabengestaltung der Bundesanstalt in Nürnberg gehört, durch die Förderung der beruflichen Ausbildung, der Fortbildung und Weiterbildung und eine möglichst effektive Berufsberatung Sozialinvestitionen zu betreiben. Wir fragen den Herrn Bundesarbeitsminister, ob er glaubt, daß die Auffassungen, die wir bisher mit ihm gemeinsam hatten, auch in der neuen Koalitionsregierung vertreten werden und durchgesetzt werden können?
Meine Damen und Herren, ich möchte mich nicht über die Sozialpolitik allgemein verbreiten. Aber allein die Tatsache, daß zu weiten Bereichen der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Familienpolitik und der Eigentumspolitik und damit im wahrsten und weitesten Sinne des Wortes zur Gesellschaftspolitik in der Regierungserklärung nicht eine einzige konkrete Aussage gemacht worden ist, spricht Bände über das, was in dieser Regierung noch nicht ganz ausgegoren zu sein scheint.
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Wir wollen nicht zuviel verlangen; aber es wäre schon gut, wenn wir wenigstens auf einige Fragen Antworten bekämen.
Was bedeutet es, wenn in der Regierungserklärung - Seite 3658 des Stenographischen Berichts - von der Prüfung der „Bemessung der jährlichen Zuwachsraten der Sozialleistungen und der Bundeszuschüsse" die Rede ist? An welchen meßbaren Größen soll eine Orientierung erfolgen? Ist diese Aussage der Regierungserklärung nicht eigentlich schon durch die Ausführungen des Kollegen Schellenberg ad absurdum geführt? Denn, Herr Kollege Schellenberg, Sie haben in der Ihnen eigenen freien und offenen Art hier ganz klar gesagt, daß Sie gar nicht daran dächten, an der Lohndynamik der Renten irgend etwas rühren zu lassen, und damit ist die Ankündigung einer Überprüfung eigentlich schon ad absurdum geführt.
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- Herr Kollege Schellenberg, wir sind Ihnen auf
jeden Fall für Ihre diesbezügliche klarere Aussage
sehr dankbar; denn Ihre Aussage läßt keine Modifizierungsmöglichkeiten offen, während das bei der Regierungserklärung durchaus der Fall war.
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- Nein, nein, keine andere Brille, Herr Kollege Geiger!
In der Regierungserklärung heißt es dann weiter
- Seite 3658 des Stenographischen Berichts -:
Die Bundesrepublik wendet von ihrem Bruttosozialprodukt für soziale Leistungen so viel auf wie kein anderes Land.
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Wir knüpfen an diesen Satz die Frage: Soll diese Feststellung bedeuten, daß die Bundesregierung in Zukunft die Steuern und sozialen Abgaben an einer bestimmten Bandbreite des Bruttosozialprodukts oder der Einkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger orientieren will? Oder ist daran gedacht, das Rentenversicherungsrecht im Sinne der vorgelegten Vorstellungen und Pläne der SPD zur Alterssicherung zu ändern? Den Ausführungen des Kollegen Schellenberg entnehme ich, daß eine Hinbewegung zu Ihren vorgelegten Plänen bei Ihnen vorgesehen ist, wie ich überhaupt feststellen darf, daß aus den Ausführungen der Kollegen Schellenberg und Stingl zu dem, was die CDU und die SPD sozialpolitisch wollen, nichts Neues hervorging. Es handelte sich vielmehr um alte bekannte Vorstellungen der Sozialdemokraten und bekannte alte Vorstellungen, die der Kollege Stingl manchmal gegen heftigen Widerstand in der eigenen Fraktion vertreten und in manchen Fällen auch durchgesetzt hat. Das war aber doch irgendwie der Versuch, allgemein darzulegen, was die Regierungserklärung gemeint haben könnte. Wir haben uns jedenfalls noch kein klares Bild darüber machen können - auch die Offentlichkeit nicht -, was die Regierungskoalition auf dem weiten Gebiet der Gesellschaftspolitik nun eigentlich wirklich will, weil einiges in der Regierungserklärung eben tatsächlich auslegbar ist.
Wir fragen weiter: Um welche in der Regierungserklärung auf Seite 3658 des Stenographischen Berichts unter Ziffer 5 genannnten Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt handelt es sich, die „nicht mehr ohne Rücksicht auf die Wirtschaftslage des Empfängers, sondern nur dann gewährt werden sollen, wenn der „Bedarf gesellschaftspolitisch gerechtfertigt" ist?
Was ist unter Wirtschaftslage des Empfängers zu verstehen, und was ist „gesellschaftspolitisch gerechtfertigter Bedarf"?
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Gummibegriffe sind in der Sozialpolitik vom Übel, und gesetzestechnisch sind nur dann saubere Lösungen möglich, wenn die Begriffsinhalte klar sind.
Besteht die Absicht, so fragen wir, Einkommensgrenzen einzuführen, beispielsweise bei der Gewährung der Grundrenten der Kriegsopferversorgung, bei Bausparprämien, bei Sparprämien, bei Hilfen aus dem Grünen Plan oder bei welchen anderen denkbaren Möglichkeiten? Wir fragen, wo nach Meinung der Bundesregierung öffentliche Mittel unterschiedslos nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden. Bisher ist eigentlich das Gießkannenprinzip besonders immer dann angesprochen worden, wenn es um die Frage des Pennälergehaltes ging, das ja im Bundestag in der letzten Woche noch einmal, wenn auch mit kleinen Modifizierungen, aber zum großen Teil nach dem Gießkannenprinzip durch CDU und SPD verlängert wurde.
In diesem Zusammenhang möchten wir gern wissen, welche Leistungen außer der Sparförderung als Leistungen betrachtet werden, die „keinen Fürsorgecharakter" haben und in die Streichungserwägungen fallen. Zu den Äußerungen zur Kriegsfolgengesetzgebung wird mein Kollege Schmidt noch Stellung nehmen.
Wir haben noch zu fragen: Welche Rolle wird der Sozialenquete bei der Einbringung von Gesetzesvorlagen der neuen Regierung beigemessen? Will die neue Bundesregierung für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung den Vorstellungen der Professoren der Sozialenquete folgen oder will sie anderen, neuen Prinzipien zum Durchbruch verhelfen? Sie sehen, meine Damen und Herren, Fragen über Fragen!
Auf eines möchte ich noch eingehen, was Kollege Schellenberg bezüglich dessen angesprochen hat, was Kollege Mischnick ausgeführt hat. Herr Kollege Schellenberg, Kollege Mischnick wollte so verstanden sein - ich glaube ihn richtig zu interpretieren -: Eigentlich hatte er ein wenig die Sorge, daß auf den Gebieten, wo wir die laufende Anpassung schon haben, auf dem bisherigen Wege weitergeschritten wird, daß aber im Parlament vielleicht auf Grund der sehr schwierigen Finanzlage nicht die Bereitschaft besteht, bei anderen Gebieten, z. B. der Kriegsopferversorgung, diese, Überprüfung vorzunehmen, ob eine Anpassung notwendig ist, nachdem die Mehrheit dieses Hauses gestern nicht bereit war, unseren wiederaufgenommenen Vorschlag des Bundesrates, uns zum Oktober 1968 einen Bericht vorzulegen - ({12})
- Herr Kollege Schellenberg, das hätte nicht an den Haushaltsausschuß überwiesen werden müssen. Ich kann Ihnen sagen, das bedeutet für das Jahr 1967 keine Mehrausgaben und für das Jahr 1968 keine Mehrausgaben.
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In der Finanzvorausschau, die Finanzminister Schmücker hier am 23. November abgegeben hat, ist zur Verbesserung des Kriegsopferrechts für das Jahr 1970 - also Beschlußfassung 1969 - bereits etwas eingeplant, so daß das insgesamt keine Veränderung der Situation dargestellt hätte.
Wir haben, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und SPD, volles Verständnis für die Schwierigkeiten, die für die Beantwortung der von
uns hier reihenweise vorgelegten Fragen bestehen. Die SPD ist mitten aus der Opposition heraus in ein Kabinett eingetreten, dessen Kanzler in Würzburg erklärt hat, daß er einen Koalitionspartner suche, der bereit sei, auf Gedeih und Verderb mit der CDU zu gehen. Das bringt harte Arbeit und Schwierigkeiten. Trotzdem, so meinen wir, durfte eine Aussage über die gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Zielsetzungen der neuen Regierung nicht fehlen. Wir und die Öffentlichkeit verlangen nicht, daß Sie verkünden, was Sie erreichen werden. Aber wir erwarten, daß an Stelle von allgemeinen, unverbindlichen Äußerungen klar gesagt wird, was die neue Regierung auf gesellschaftspolitischem Gebiet erstrebt, und zwar nicht durch die Sprecher der Fraktionen, sondern durch die Verantwortlichen des Kabinetts.
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Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit diese Debatte verfolgt und habe versucht, möglichst immer anwesend zu sein. Nur da, wo höhere Gewalt, wo zwingende Termine, die ich nicht anders disponieren konnte, mich gehindert haben, war ich nicht da. Ich habe der Debatte natürlich mit einiger Erwartung - sorgen- und hoffnungsvoller Erwartung - entgegengesehen, denn es war ja auch hier ein erster Gehversuch der neuen Koalition. Man hätte in der Zeitung entweder lesen können, das ganze sei nur eine langweilige Akklamation - natürlich von der Opposition abgesehen - für die Regierungserklärung gewesen oder, wie ich es auch gelesen habe, die Koalitionsparteien übten Kritik am Regierungsprogramm. Zwischen Scylla und Charybdis mußte sich also diese Debatte hindurchsteuern, und ich glaube, sie hat schon bei diesem ersten Male den Beweis erbracht, daß es in diesem Hohen Hause auch in der Zeit 'der Großen Koalition nicht langweilig zu sein braucht.
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Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die beiden Partner, die sich in der Großen Koalition zusammengefunden haben, auch in der Zukunft über verschiedene Dinge verschiedene Auffassungen haben werden. Worauf es ankommen wird, ist nicht, Herr Kollege Spitzmüller, daß die SPD auf Gedeih und Verderb mit der CDU geht, worauf es in dieser Großen Koalition ankommt, ist, daß .die beiden Koalitionspartner auf Gedeih und Verderb bis zum Jahre 1969 zusammenhalten und in dieser Zeit das leisten, was unser Volk von ihnen erwartet.
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Es ist viel die Rede gewesen vom Hergang der Bildung der Großen Koalition, und ich will gleich einer Legendenbildung entgegentreten. Das wissen auch die Damen und Herren der Opposition: Ich bin nicht nach Bonn gekommen mit der Absicht, eine Große Koalition herbeizuführen.
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Der erste Mann, mit dem ich über die Frage einer künftigen Regierungsbildung sprach, war ein von mir trotz manchmal unterschiedlicher Auffassungen immer sehr respektierter Angehöriger der Fraktion der Freien Demokraten. Ich habe allerdings im Verlaufe der Entwicklung der Dinge hier, von einem gewissen Zeitpunkt ab, den Eindruck gewonnen, daß eine Kleine Koalition, wie wir sie bisher hatten, wohl nicht mehr möglich sein würde. Ich will nicht das Wort verwenden, das Herr Kollege Dr. Dehler im Blick auf die Sozialdemokratie im Jahre 1949 gebraucht hat, das Wort von der Koalitionsunwürdigkeit, aber ich glaube, von Koalitionsunfähigkeit zu sprechen, entspräche wohl der Wahrheit,
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und zwar einfach deshalb, weil das, was vielleicht mancher von Ihnen als eine Tugend ansehen mag, innerhalb einer Koalition ein großer Nachteil, ja eine schwere Gefahr sein kann,
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daß nämlich die sehr differenzierte Zusammensetzung Ihrer Fraktion, die eigenwilligen Individualitäten Ihrer Fraktion, wie die Geschichte der vergangenen Jahre bewiesen hat, eben immer dazu beitragen, daß ein solches Bündnis gefährdet wird und schließlich zerbricht. Und das, meine Damen und Herren, können wir uns in der ernsten und schwierigen Situation, die vor uns liegt, einfach nicht mehr leisten.
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Es ist dann in Zusammenhang mit der Gründung der großen Koalition viel von der Absichtserklärung der Verhandlungskommissionen über das künftige Wahlrecht die Rede gewesen. Natürlich habe ich nicht erwartet, daß die Freien Demokraten dazu ihre Zustimmung geben werden. Ich will jetzt die interessanten Ausführungen zur Frage des Wahlrechts nicht meinerseits durch einen ungebührlich langen Beitrag weiter ausdehnen. Aber eines darf ich doch Ihnen, verehrter Herr Dr. Dehler, sagen, und das ist wirklich sehr ernst gemeint. Von einem unwürdigen Trick kann keine Rede sein.
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Es geht nicht darum, eine Partei umzubringen oder gar eine politische Gesinnung zu ersticken.
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- Nein, meine Damen und Herren, genau darum geht es nicht. Denn das, was in dieser Debatte schon von verschiedenen Rednern gesagt worden ist, ist doch wahr: Wenn wir wirklich in diesem Hause durch eine Verfassungsänderung ein mehrheitsbildendes Wahlrecht - ich will dieses Wort noch einmal gebrauchen, das ich auch in der Regierungserklärung gebraucht habe - durchsetzen, dann wird hinterher keiner von uns, keine der Parteien dieses Hauses mehr sein, was sie war. Das erfordert von jedem, von jeder Partei einen sehr schweren Entschluß. Es ist doch ganz klar: Wenn ein solches mehrheitsbildendes Wahlrecht schließBundeskanzler Dr. h. c. Kiesinger
lich, wie gehofft wird, zwei große Parteien übriglassen wird, dann absorbieren diese beiden Parteien von allen Seiten diejenigen politischen Kräfte, die nun nicht mehr die Möglichkeit haben, in einer eigenen Partei in diesem Hause repräsentiert zu sein.
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- Ja, meine Damen und Herren, dann absorbieren sie. Ich habe gar nichts dagegen, wenn z. B. die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union in diesem Prozeß einen ganz kräftigen Zuschuß liberaler Gesinnung bekommen.
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Eine große Volkspartei heute - das gilt auch für die Sozialdemokratische Partei - kann gar nicht ohne einen solchen Zuschuß von Liberalität existieren. Liberale Gesinnung ist etwas, was in allen Parteien dieses Hohen Hauses Heimat hat.
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Ich wollte also nur sagen, es geht gar nicht nur um Sie bei diesem großen Unterfangen. Es geht um uns alle. Ich weiß genau, daß viele hier in diesem Hause vor einem solchen großen Wagnis ihre Bedenken und ihre Sorgen haben.
Im übrigen, meine Damen und Herren, hat Herr Helmut Schmidt gesagt, diese große Koalition sei nicht eine gegenseitige Liebeserklärung gewesen. Das ist wahr. Aber sie wäre nicht zustande gekommen ohne gegenseitigen Respekt und ohne die Erkenntnis - und das haben wir durch die gründlichste Bestandsaufnahme, die bisher vor einer Regierungsbildung gemacht worden ist, geklärt -, daß wir jedenfalls für das Programm, das wir uns für die nächsten drei Jahre vorgenommen haben, die notwendige Einigkeit vorfinden. Darauf kommt es an.
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Ich möchte sehr betonen, das es, wenn es sich schon nicht um eine Liebesheirat handelt, dann ganz bestimmt keine Verlegenheitsehe war, die hier geschlossen worden ist, sondern etwas, was aus nüchterner Überlegung als ein Ergebnis politischer Vernunft entschieden worden ist.
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Daher habe ich auch gesagt, daß wir, auch wenn wir bei einer Koalition auf Zeit mit Recht und mit Verantwortungsbewußtsein von den Gefahren einer großen Koalition sprechen, uns nicht davon abhalten lassen werden, das Programm, das wir uns vorgenommen haben, mit - ich wiederhole die Worte - äußerster Entschlossenheit durchzuführen.
Im Verlauf dieser Debatte sind an mich und an die Regierung viele Fragen gestellt worden, die ich jetzt nicht beantworten kann. Ich müßte sonst eine jener Reden halten, die in anderen Ländern gelegentlich üblich sind, die wir aber in diesem Hause doch noch nicht praktiziert haben. Wir haben uns in der Regierungserklärung bewußt auf die großen Schwerpunkte Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik, Außenpolitik und Deutschlandpolitik beschränkt und darauf verzichtet, nun den großen Katalog der Gesamtpolitik aufzufächern. Der Grund dafür war auch der, daß wir hier noch eine große Bestandsaufnahme vor uns haben und vor allem erkunden müssen, wieviel Mittel uns in den nächsten Jahren zur Verfügung stehen und für welche Zwecke.
Immerhin war es mir interessant, gewisse Reaktionen, auch außerhalb dieses Hohen Hauses, zum Regierungsprogramm zu lesen und zu hören. Dazu möchte auch ich, nachdem mein Kollege Professor Schiller schon seinerseits Stellung genommen hat, etwas ganz klar sagen. Da war zu lesen, es komme jetzt eine Politik des leichten Geldes; der Geldhahn werde aufgedreht werden. Einige meiner Freunde haben sogar gefürchtet, daß ich mich vielleicht etwas zu sehr von unserem neuen Partner in dieser Frage hätte beeinflussen lassen; diese Politik der Expansion sei doch eigentlich eine ursprünglich sozialistische Idee. Nun, für diese Besorgten darf ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten einen Satz verlesen, der folgendermaßen lautet:
Wir befinden uns, wenn nicht alle Zeichen trügen, gegenwärtig in einer Phase, in der wir die Sanierung der Erfolgs- und Gewinnmöglichkeiten unserer Wirtschaft, die konjunkturelle Expansion der Märkte in den Vordergrund zu stellen haben, um auf dieser Basis spätere weitere soziale Fortschritte durch gesicherte und steigende Einkommen erreichen zu können.
Dieser Satz stammt nicht von Professor Schiller, sondern von Professor Müller-Armack, den niemand als einen Sozialisten bezeichnen würde.
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Ich behaupte nicht, daß ich mich etwa durch diesen Satz zu einer leichtfertigen Expansionspolitik verleiten ließe. Lassen Sie es mich so sagen: Ich höre zu, ich spreche mit vielen führenden Leuten der Wirtschaft. Ich weiß, daß dort die einen so denken und die anderen anders denken. Es gibt Stabilitätsdogmatiker, und es gibt Expansionsdogmatiker. Lassen Sie mich für mich und meine Position Goethe zitieren: Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten".
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Wenn schon, wie in der Debatte gesagt wurde, in den Korridoren dieses Hauses das Gerücht von einer einkalkulierten Inflation umgeht, dann kann ich darauf nur sagen: solche Überlegungen haben bei den Beratungen dieser Regierung keine Rolle gespielt. Ich würde mich mit allen Kräften dagegen wehren. Aber es gibt auch keine einkalkulierende Rezession.
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Herr Professor Schiller hat schon gesagt, daß wir diese Dinge zusammen mit der Bundesbank, die ja autonom ist, beraten und abgestimmt haben. Es waren sehr genaue, sehr sorgfältige Abstimmungen, die wir unter Respektierung der autonomen Stellung der Bundesbank vorgenommen haben. Ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen.
Zu den Sorgen, die in dieser Debatte zur Finanzpolitik geäußert worden sind, möchte ich folgendes sagen. Ich habe nicht umsonst das Bild gebraucht,
daß wir nun nicht mit der Holzaxt das Haushaltsgestrüpp des diesjährigen und der kommenden Haushalte - die mir noch viel mehr Sorgen machen - lichten könnten, denn ich meine, daß wir diese schwierige Arbeit schon mit dem Blick auf unser künftiges politisches Programm tun müssen. Denn ich habe ja den Haushalt als das Instrument für die politische Programmatik bezeichnet. Hier werden wir uns - daran habe ich nie einen Augenblick lang gezweifelt - schwer tun, denn es werden sich die Interessen melden. Bitte, ich nehme dieses Wort nicht abschätzig in den Mund. Die Interessen sind in der Welt, und diese Interessen sind auch in diesem Hause legitim vertreten. Es werden sich auch programmatisch-dogmatische Standpunkte zu Wort melden. Auch diese haben ihren legitimen Ort in diesem Hohen Hause. Das legitime Geschäft der Regierung aber ist es, das alles unter einen Hut zu bringen, soviel an ihr liegt, die Interessen aufeinander abzustimmen und die programmatischen Wünsche auszugleichen zu einem Gesamtprogramm - ich wiederhole es -, das sich an den Notwendigkeiten - und nur an den Notwendigkeiten - des Gemeinwohls orientiert und sich nach der Decke streckt, d. h. das weiß, wie viele Mittel uns wofür zur Verfügung stehen. Das müssen wir miteinander auskämpfen. Ich weiß, daß das keine leichte Aufgabe ist. Wir können das Wünschenswerte vortragen - verwirklichen können wir nur das Mögliche.
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Mit einigem Vergnügen habe ich in einer großen Zeitung gelesen, daß dem Bundeskanzler offenbar recht unbehaglich zumute gewesen sei, als er sich in seiner Regierungserklärung in den Niederungen der Finanzmisere, des Interessenschachers, der Finanzpolitik usw. bewegt habe; erst dann, als er zur Außenpolitik gekommen sei, habe er spürbar aufgeatmet. Ich möchte vor solchen Irrtümern warnen. Ich werde diese Dinge als Bundeskanzler sehr ernst nehmen, denn ich weiß, daß wir weder innenpolitisch noch außenpolitisch aktionsfähig sein werden, wenn wir nicht unsere Haushalte und unsere Finanzen ganz rasch und ganz klar in Ordnung bringen.
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Ich habe in diesem Augenblick leider keine Gelegenheit, zu einer außenpolitischen Debatte in diesem Hause - sie hat ja noch nicht stattgefunden - Stellung zu nehmen. Erlauben Sie mir aber, wenigstens ein paar Worte zu der Rosonanz zu sagen, die der außenpolitische Teil der Regierungserklärung in unserem Volke und in der Welt gefunden hat. Sie ist - soweit ich sehen kann - in unserem Volk und auch in der Welt positiv aufgenommen worden.
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Ich habe nicht erwartet, daß die Machthaber im anderen Teil Deutschlands dieser Regierungserklärung und ihre Aussagen zustimmen würden.
Es hat mich mit besonderer Freude erfüllt, daß sich während des Aufenthaltes unseres Außenministers, des Herrn Kollegen Brandt, in Paris die Gelegenheit zu einer ersten Aussprache zwischen ihm und Präsident de Gaulle ergeben hat, einer Aussprache, die mich für die Zukunft und insbesondere für unsere erste Begegnung am 13. und 14. Januar des nächsten Jahres doch sehr ermutigt hat.
Meine Damen und Herren, es gab in der letzten Zeit Stimmen in der Presse, die sagten: Jetzt zwar eine richtige Politik gegenüber Frankreich, aber wahrscheinlich zu spät. Ich sehe nicht den geringsten Grund für eine solche Skepsis, für einen solchen Pessimismus. Ich bin fest überzeugt: unsere beiden Völker sind so sehr aufeinander angewiesen, daß es eigentlich nie zu spät sein kann, zusammenzukommen.
({19})
Sicher, manche Stimmen aus dem Ausland sagen uns, sie hätten gern zu dem einen oder anderen Problem eine konkretere, eine definitivere Aussage gehabt. Dafür habe ich völliges Verständnis. Aber wer die Problematik unserer heutigen Welt, wer die Schwierigkeit der Probleme der heutigen Außenpolitik kennt, der weiß, daß man eben in vielen Dingen gerade einen großen Fehler beginge, wenn man nach Art eines Eisenbahnfahrplans Programme entwerfen wollte. Es hat mich gefreut, daß man überall gespürt hat, daß wir mit dieser Regierungserklärung in einer neuen Sprache sprechen wollten, daß wir neue Aussagen und auch neue Tendenzen brachten. Es ging mir nicht darum, nur eine liebenswürdig-verbindliche Beschwichtigungsformel zu drechseln; in dieser Regierungserklärung war jedes Wort, jede Nuance der Aussage ernst gemeint und deutete in die Zukunft.
Unser außenpolitisches Programm hatte den Kernsatz „Friede in der Welt und Verständigung unter den Völkern" und da hineingebettet das deutsche Problem, das unverzichtbare Recht unseres deutschen Volkes, das seinen eigenen Frieden mit der Welt und mit sich selbst mit den Mitteln des Friedens sucht. Das bitte ich, das bittet diese Regierung die Völker der Welt, alle, im Osten und im Westen, uns zu glauben.
({20})
Wir werden in den kommenden Monaten auch durch Taten, die den Worten folgen, beweisen, daß wir es ernst meinen.
Was ich für die Außenpolitik gesagt habe, das gilt ganz genauso für unsere Deutschlandpolitik. Wir können nicht einfach nur immer wieder Objekte von Experimenten des Regimes in dieser Frage bleiben. Wir müssen Bewegung in die Dinge bringen.
({21})
- Das werden Sie gar nicht nötig haben, Herr Kollege Mende. Nur das will ich Ihnen deutlich sagen: Das, was wir machen, ist ein gesamtdeutscher Realismus und keine leichtfertige gesamtdeutsche Romantik.
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Möge es uns, meine Damen und Herren - und dazu wird uns jede Hilfe der Opposition willkommen sein -, in diesen nächsten Jahren gelingen, gerade auf diesem steinigen und mühevollen Wege endlich ein Stück voranzukommen. Dann können wir wirklich sagen, daß diese Große Koalition nicht umsonst gebildet war.
({23})
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat mir gesagt, daß es nützlich sein könnte, in die Erläuterungen des Hauses mit einzubeziehen, was sich in den letzten zweieinhalb Tagen für mich ergeben hat, als ich mit Vertretern unserer befreundeten Mächte das zu erörtern oder ihnen zu erklären hatte, was der Bundeskanzler am Dienstag als Richtlinien dem Hause unterbreitet hat. Ich möchte, wenn ich das tue, gleichzeitig auf einige der Fragen eingehen dürfen, die gestern im Verlauf der Generaldebatte hier aufgeworfen worden sind.
Lassen Sie mich vorweg sagen: Die Bildung einer auf breiter Basis ruhenden Regierung hat im Ausland, vor allem auch bei den Verbündeten, viel Beachtung gefunden. Unsere am Generalnenner der Friedenssicherung orientierte Außenpolitik findet die starke Zustimmung unserer Freunde, und unser Bemühen um Veränderung und Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Staaten wird von unseren Verbündeten als wirklichkeitsnah und hilfreich empfunden.
Der Bundeskanzler hat eben auf die zentrale Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses hingewiesen. Aus guten Gründen war diesem deutschfranzösischen Verhältnis in der Regierungserklärung ein besonderer Rang eingeräumt worden mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß die vom Westen und vom Osten erhoffte Friedensordnung ohne ein enges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich nicht denkbar ist.
Ich konnte bei den ersten Unterhaltungen dieser Tage nicht das vorwegnehmen, was Mitte Januar zu erörtern sein wird und worüber in bezug auf Einzelheiten natürlich auch erst noch im Kabinett zu sprechen sein wird. Lassen Sie mich aber, meine Damen und Herren, der Aufzeichnung über das gestrige Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten folgendes wiedergeben - ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren -:
Der Minister fragte den General, ob er ihm einen ermutigenden Satz sagen könne, den er der Offentlichkeit mitteilen dürfe. General de Gaulle erwiderte, er tue das gern. Der Minister könne sagen, die Besprechung sei sehr herzlich gewesen. Die Orientierung der Bundesregierung, wie sie in der Regierungserklärung zum Ausdruck komme, betrachte er und gewiß ganz Frankreich als sehr gut und sehr befriedigend. In der dort zum Ausdruck gekommenen Richtung könne gewiß die deutsch-französische Zusammenarbeit auch im politischen Bereich vertieft werden. Was die Bundesregierung über ihre Politik ausgesagt habe, entspreche auch den Wünschen Frankreichs. Diese Aussage finde die vollständige und tiefgehende Zustimmung Frankreichs. Sie biete einen Ausgangspunkt für eine engere Zusammenarbeit als zuvor.
Soweit die Wiedergabe dessen, womit das Gespräch abgeschlossen wurde.
({0})
Selbst möchte ich sagen: Mir scheinen die Voraussetzungen gegeben zu sein, auf dem Gebiet der deutsch-französischen Zusammenarbeit einen neuen Anfang zu machen. Darin werden die Ost-West-Beziehungen eine besonders wichtige Rolle spielen.
Es war nützlich, daß am 13. Dezember, also am Dienstag, die deutsch-französischen Verhandlungen über das Aufenthaltsrecht und den Status der französischen Truppen in Deutschland durch die damit beauftragten Herren in Paris zum Abschluß gebracht werden konnten. Die Vereinbarung über das Aufenthaltsrecht beruht auf zwei Grundlagen, nämlich erstens auf dem wiederholt geäußerten Wunsch der deutschen Regierung, daß die französischen Streitkräfte zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung in Deutschland stationiert bleiben, und zweitens auf der die deutsche Souveränität wahrenden Erklärung der französischen Regierung, daß auch in Zukunft der Aufenthalt der französischen Streitkräfte im Bundesgebiet das Einverständnis der Bundesregierung voraussetzt.
In den Statusfragen sind die bisherigen Regelungen an die neuen Verhältnisse, die sich infolge der Herauslösung der französischen Streitkräfte aus dem militärischen Integrationsverband der NATO ergeben, angepaßt worden. Die hierfür erarbeitete Lösung soll eine enge Zusammenarbeit zwischen den französischen Streitkräften und den zuständigen deutschen Stellen gewährleisten.
Das Verhandlungsergebnis ist nun beiden Regierungen unterbreitet worden. Es ist beabsichtigt, die erzielte Vereinbarung in Kürze durch einen Briefwechsel in Kraft zu setzen.
Wir können mit Genugtuung feststellen, daß damit der Aufenthalt und Status der französischen Streitkräfte in Deutschland erneut eine, wie wir hoffen, solide Rechtsgrundlage erhalten hat. Wir haben, so meine ich, allen Anlaß, dieses Ergebnis als Zeichen der engen Verbundenheit mit Frankreich zu begrüßen.
({1})
Im Bereich der westeuropäischen Zusammenarbeit und Einigung erscheinen mir vor allem zwei Tatsachen berichtenswert.
Wir haben dieser Tage unseren britischen Verbündeten und den Vertretern anderer EFTA-Staaten, nicht zuletzt auch aus dem skandinavischen Norden, im Rahmen der WEU-Erörterungen und auch aus anderen Anlässen gesagt, wie sehr wir ihre Teilnahme am Gemeinsamen Markt bzw. an den europäischen Gemeinschaften begrüßen würden. Es ist abgespro3854
chen worden, daß der Premierminister und der Außenminister Großbritanniens uns in dieser Sache Mitte Februar hier in Bonn besuchen, nachdem sie vorher in Rom und in Paris gewesen sein werden.
Ich möchte übrigens nicht versäumen, bei dieser Gelegenheit dem britischen Außenminister, meinem Kollegen Brown, einen besonderen Dank dafür zu sagen, daß er sich in den vergangenen Wochen in der Abwehr ungerechter Angriffe auf das deutsche Volk und auf die Bundesrepublik Deutschland als ein so guter Freund bewährt hat.
({2})
Zum anderen: Der italienische Außenminister Fanfani hat - darauf hat der Kollege Stoltenberg in der Vormittagssitzung hingewiesen - in den vergangenen Tagen mit besonderem Nachdruck betont, so auch während der Sitzungen in Paris, daß wir im westlichen Europa große Anstrengungen unternehmen müssen, um das technologische Nachhinken Europas gegenüber den Weltmächten auszugleichen oder jedenfalls abzuschwächen. Diese Initiative trifft sich mit unserer eigenen Überlegung, wie sie in der Regierungserklärung ihren Niederschlag gefunden hat.
Nachdem Herr Fanfani als Mitglied des Ministerrates der WEU Anfang kommender Woche bei uns in Bonn gewesen sein wird, freut es mich, daß ich selbst Anfang Januar in Rom die Möglichkeit haben werde, mit unseren italienischen Freunden über die Weiterentwicklung unserer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu sprechen.
Die letzten Tage, meine Damen und Herren, boten auch die Gelegenheit, vor allem natürlich auch mit dem Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika, seinen Kabinettskollegen, die mit in Europa waren, und seinen Mitarbeitern über unsere Zusammenarbeit, vor allem aber auch über Ost-West-Fragen und Probleme der gemeinsamen Sicherheit zu sprechen.
Nun ist es so, daß die Diskussionen im NATO-Rat in dieser Stunde noch weitergehen und im Laufe der Abendstunden mit einem langen Kommuniqué schlossen werden. werden. Ich kann Ihnen ein solches Kommuniqué nicht vorlesen - es würde Sie auch eher langweilen -; aber ich möchte Ihnen doch meinen Eindruck von dem Verlauf der politischen Aussprache im NATO-Rat vortragen.
Die Entschlossenheit der Allianz, in gemeinsamer Anstrengung für Sicherheit und Frieden einzutreten, ist unverändert, bei allen Unterschiedlichkeiten der Einschätzung, die es sonst zwischen den Bündnispartnern geben mag. Das Bündnis hat dadurch, daß es ihm gelungen war, der Bedrohung eine wirksame Abschreckung entgegenzustellen, mit die Grundlage für den Entspannungstrend gelegt, der sich innerhalb Europas abzeichnet. Ich glaube, es bestand Einigkeit darüber, daß der Wille zur gemeinsamen Friedenssicherung nicht nachlassen darf, wenn auf dem Wege zur Entspannung Fortschritte gemacht werden sollen.
Die Verstärkung der Ost-West-Bozniehunge spielte dieser Tage in den Diskussionen des NATO-
Rats eine große Rolle. Ich habe den Eindruck, daß es auf diesem Gebiet zu einigen Initiativen kommen wird, die sich sowohl in politischer und wirtschaftlicher als auch in wissenschaftlicher und kultureller Hinsicht positiv auswirken werden.
Auch die Abrüstungsfrage und insbesondere die zur Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen erforderlichen Maßnahmen nehmen in den gegenwärtigen Diskussionen des Bündnisses einen großen Raum ein. Ich habe den Eindruck, daß die Bedeutung, die eine befriedigende Lösung dieser Fragen für eine Entspannung in Europa hat, von allen Beteiligten erkannt wird. Gleichzeitig sind sich aber auch alle darüber klar, daß diese Probleme in engem Zusammenhang mit der europäischen Sicherheit gesehen werden müssen.
In den Sitzungen der Minister wurde eine Reihe von Beschlüssen gefaßt oder vorbereitet, die für die weitere Entwicklung der Allianz von Bedeutung sein werden. Diese Beschlüsse beziehen sich insbesondere auf zukünftige - aber mit Zukunft ist hier weniger als ein Jahr gemeint, also kurzfristig-zukünftige - Studien, die dazu gedacht sind, das Bündnis den Erfordernissen der Zukunft anzupassen. Solche Studienaufträge wurden gegeben für die Untersuchung des militärischen Potentials und der politischen Absichten der Sowjetunion, der Planung in nuklearen Fragen und der Verbesserung der Konsultation insbesondere in Krisenzeiten. Dieses letzte Gebiet erweist sich als besonders schwierig, da die sogenannte Krisenbeherrschung schon im nationalen Rahmen nicht leicht zu verwirklichen ist und deshalb international noch viel mehr durchdacht werden muß. Konkrete Beschlüsse konnten auf diesem Gebiet daher jetzt noch nicht gefaßt werden.
Die Minister besprachen auch die Möglichkeiten der Nutzung von Fernmeldesatelliten und kamen überein, sich an einem vorgesehenen Projekt versuchsweise zu beteiligen.
Herr Kollege Schmidt hat in der Generaldebatte des gestrigen Tages für die sozialdemokratische Fraktion bemängelt, daß die Regierungserklärung in bezug auf die Probleme der Rüstungskontrolle, der Atompolitik und der Bündnispolitik nicht deutlich oder nicht ausführlich gewesen sei, und Herr Kollege Mischnik hat für die Freien Demokraten gemeint, es gebe in der Regierungserklärung eine zu wenig klare Aussage zur Atompolitik, und der Verzicht auf nuklearen Besitz oder Mitbesitz sei nicht deutlich genug gemacht worden. Darf ich im Zusammenhang mit den Pariser Erörterungen innerhalb der NATO dazu folgendes bemerken.
Die Regierungserklärung hat festgelegt, daß wir keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen und keinen nationalen Besitz an solchen Waffen anstreben. Auch wenn das für die meisten von uns nichts Neues war, so hat sich dies bei den Gesprächen und Verhandlungen, die der Kollege Schröder und ich dieser Tage zu führen hatten, als hilfreich erwiesen.
Soweit bemängelt worden ist, daß man es nicht nur bei dieser Festlegung hätte bewenden lassen sollen, möchte ich dreierlei dazu sagen.
Erstens. Man sollte die Festlegung - das hat sicher auch keiner tun wollen -, die in der Regierungserklärung steckt, nicht unterschätzen. Die deutsche Regierung braucht andererseits einen genügenden Handlungsspielraum, wenn sie der sich verändernden Lage gerecht werden soll.
Zweitens. Ich meine, der Sinn unserer Regierungserklärung ist, daß wir die Bemühungen um den Abschluß eines Vertrages gewiß nicht erschweren, sondern, wo es geht, eher erleichtern wollen - die Bemühungen um einen Vertrag, der die Ausbreitung von Atomwaffen in den nationalen Besitz weiterer Staaten verhindern würde. Außenminister Rusk hat mich über den aktuellen Stand der amerikanisch-sowjetischen Gespräche zum Thema der Non-Proliferation unterrichtet. Wir werden uns daraufhin und auch auf Grund der im Bündnis erörterten Möglichkeiten gemeinsamer Beratungen über die verschiedenen Aspekte der nuklearen Verteidigung unsere Meinung auf Grund des gegenwärtigen Standes zu bilden und diese dann im Bündnis zu vertreten haben. Dabei liegt auf der Hand: Wir wie andere im Bündnis sind daran interessiert, daß in einem solchen Nichtweiterverbreitungsvertrag, wenn er kommt, die schutzbedürftigen Interessen der nicht-nuklearen Mächte gebührend berücksichtigt werden. Wir wie andere müssen davon ausgehen, daß ein solcher Vertrag das natürliche und in der Charta der Vereinten Nationen verbriefte Recht auf kollektive Selbstverteidigung nicht beeinträchtigt und daß einem Vereinten Europa, von dem wir leider alle miteinander noch nicht wissen, wann es Wirklichkeit werden wird, die Entscheidungsfreiheit über seine Sicherheitspolitik nicht genommen wird.
({3})
Es gibt einen dritten Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang. Nach der konkreten Lage, mit der wir es zu tun haben, stellt sich das Problem des Mitbesitzes an einem Atomwaffensystem der Allianz in Wirklichkeit nicht. Ich sehe gerade nach den Besprechungen und Beratungen in diesen Tagen in Paris keinen Anlaß, daß wir auf diesem Gebiet Initiativen entwickelten. Falls wir es mit Initiativen anderer zu tun hätten, würde abzuwägen sein, wie sie und unser Reagieren auf diese sich zu unseren erklärten allgemeinpolitischen Interessen verhielten. Da es sich hier, soweit ich sehen kann, um ein eher theoretisches Problem handelt, erscheint es nicht lohnend und auch nicht sinnvoll, der Frage eines nuklearen Mitbesitzes weiter nachzugehen.
Daß wir an der vollen Mitwirkung an der Gesamtstrategie der Allianz und an den sich daraus für uns ergebenden Fragen interessiert sein müssen, liegt auf der Hand. Ebenso wichtig ist es, daß wir Fehldeutungen unserer Absichten und vermeidbares Mißtrauen nicht auf uns lenken.
Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit den Ost-West-Fragen hat die Regierungserklärung draußen besonderes Interesse gefunden. Ich habe dieses Thema und das des deutschen Beitrags zur Sicherung des Friedens auch gestern vor dem NATO-Rat und in gewisser Beziehung auch schon vorgestern vor der Versammlung der WEU darlegen können. Ich habe auch unseren Freunden gegenüber darauf hingewiesen, daß bekanntlich mit der Errichtung deutscher Handelsvertretungen und durch langfristige Handelsabkommen eine neue Phase der Beziehungen mit den osteuropäischen Ländern eingeleitet worden war. Die Bundesregierung will - das hat sie in ihrer Erklärung gesagt - diese Politik ausbauen. Das gilt nicht nur für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, soweit das möglich sein wird, sondern das gilt auch für die Bemühungen, der deutschen Ausfuhr wieder Erleichterung des Zugangs dieser Länder zum deutschen Markt, wo es geht, neue Wege zu ebnen. In diesem Zusammenhang wird es sich auch um Maßnahmen zur weiteren Liberalisierung handeln können. Darum ist die Initiative der deutschen Wirtschaft zu einer Kooperation mit Unternehmen Osteuropas zu fördern. Man kann nur hoffen, daß damit ein Beitrag zur Entwicklung neuer und zweckmäßiger Formen der Zusammenarbeit mit Staatshandelsländern gefunden werden kann.
Ich möchte meinen, daß es auch darauf ankommt, die mannigfaltigen bilateralen kulturellen Beziehungen zu den Ländern Südost- und Osteuropas zu entwickeln bzw. auszubauen. Damit könnten wir deutlich machen - ich meine, wir sollten es tun -, daß es uns wirklich auf eine Politik der Verständigung und des gegenseitigen Verstehens ankommt, also nicht nur auf die, wenn man so will, bloße Form normaler diplomatischer Beziehungen.
Manche Beobachter draußen haben dieser Tage die Auffassung vertreten, die deutsche Regierung sei mit ihrer Erklärung über das Münchener Abkommen der Regierung der Tschechoslowakischen Volksrepublik auf dem Wege zu_ einem tragbaren Kompromiß entgegengekommen und habe die Tür zu diplomatischen Beziehungen auch in dieser Richtung öffnen helfen. Gerade auch dieses Thema interessiert nicht nur in den Zeitungen der westlichen Welt. Leider eilt der letzte Teil - die Bemerkung über die diplomatischen Beziehungen - den Ereignissen weit voraus. Aber die Absicht dürfte klar genug geworden sein, den Weg zu einer Normalisierung auch der Tschechoslowakei gegenüber, wenn es geht, zu ebnen.
Dabei sage ich noch einmal aus gegebenem Anlaß, was der Herr Bundeskanzler am Dienstag dem Hohen Hause im Rahmen der Regierungserklärung entwickelt hat. Wir wissen - das muß man auch in der westlichen Welt verstehen -, die Gefühle unserer sudetendeutschen Landsleute zu würdigen und sind und bleiben uns unserer Obhutspflicht für sie bewußt.
({4})
Niemand wird auch nachträglich seine Zustimmung zum bitteren Unrecht der Vertreibung geben oder uns abverlangen können.
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Die eigentlichen Deutschlandfragen sind am Mittwochabend im Rahmen der jährlich und manchmal
sogar halbjährlich stattfindenden Gespräche der Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik Deutschland zu viert erörtert worden. Sie haben in der politischen Diskussion im NATO- Rat gestern eine Rolle gespielt, auch in den Einzelgesprächen. Ich konnte vor dem NATO-Rat darauf hinweisen, daß ich aus dem Mund von General de Gaulle wiederholt dessen Überzeugung vorgetragen bekommen hatte, daß es sich bei dem Wiedererlangen der Einheit des deutschen Volkes um eine historische Notwendigkeit handele. Dabei hat er freilich hinzugefügt - das ist nicht neu -, daß er seinen Standpunkt zur Frage der Grenzen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn bekanntgemacht habe und ihn nicht ändere.
Mit Bezug auf Deutschland und Berlin gibt es keinen Zweifel daran, daß sich auch heute wieder die NATO-Partner als Ergebnis ihrer Konferenz weiterhin zu den Verpflichtungen bekennen werden, die sie seit den Jahren 1954 und 1958 hinsichtlich der Wiedervereinigung Deutschlands und der Sicherheit Berlins übernommen haben. Ich habe meinerseits erklärt, daß wir uns aus menschlichen, aus humanitären, aber auch aus nationalen Gründen, aber auch aus Gründen eines innerdeutschen Beitrages zur Entspannung für eine Verstärkung der Kontakte zugunsten der Menschen in den beiden Teilen Deutschlands einsetzen werden, damit das menschliche Leid, das durch die Teilung unseres Landes verursacht wird, gemildert wird und die nationale Substanz erhalten bleibt.
Für diesen Teil dessen, was die Regierungserklärung dargelegt hat, gibt es viel Verständnis und auch viel Ermutigung durch unsere Freunde und Verbündeten, und es gibt keinen Grund zur Sorge, hierdurch könne in den Augen unserer Verbündeten unser Rechtsstandpunkt erschüttert werden.
Wer das Echo auf die Regierungserklärung aus dem Osten verfolgt hat, kann sich freilich einer bemerkenswerten Feststellung nicht entziehen. Wir sehen die Amtsstellen in Ostberlin in einer Linie mit der Volkrepublik China und mit der Volksrepublik Albanien, während es in den anderen Ländern, in den Staaten Ost- und Südosteuropas eine davon deutlich unterschiedene, wenngleich stark differenzierte Reaktion gibt. Ich meine, wir können niemanden daran hindern, uns mit Skepsis zu begegnen. Aber ich möchte doch die Hoffnung aussprechen, daß der gute Wille der Bundesregierung, die Bereitschaft zu praktischen Fortschritten, auf eine entsprechende Bereitschaft in anderen Ländern stoßen wird.
In diesem Zusammenhang erscheint auf Grund des ausländischen Echos ein unterstreichendes Wort der Erläuterung über die Frage der deutschen Grenzen angebracht, die nur mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden können. Das wiedervereinigte Deutschland - so sagen es auch unsere Verbündeten erneut - wird erst am Ende eines Prozesses stehen können, von dem wir nicht wissen, wie lange er dauert und wie er im einzelnen verläuft.
Zu unseren Bemühungen gehört - so sagt es die Regierungserklärung - gerade auch der Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen. Dieser Wunsch soll also nicht als ein bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit aufgeschobener Wunsch verstanden sein. Dementsprechend hat ja die Bundesregierung, als sie von ihrem Verhältnis zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Staaten sprach und sich auf die Friedensnote der vorigen Bundesregierung vom März dieses Jahres bezog, ihre Bereitschaft erklärt, das ungelöste Problem der deutschen Teilung und ihrer Überwindung in ihr Angebot auf Gewaltverzicht einzubeziehen. Es darf kein Zweifel daran bestehen, daß die Bundesregierung auch nicht gegenüber dem Gebiet, das heute den kommunistisch regierten Teil Deutschlands umfaßt, Gewalt anzuwenden beabsichtigt oder sich vorbehält.
Meine Damen und Herren, noch zwei Worte zu regionalen Problemen, nicht weil ich hier unbedingt loswerden will, was man in einer Regierungserklärung nicht loswerden kann, wenn man als Außenminister versucht, an all die Teile der Welt zu denken, mit denen wir gut zusammenzuarbeiten haben. Ich sage also jetzt nicht nur, weil der neugewählte brasilianische Staatspräsident in wenigen Tagen zu uns kommt und uns besuchen wird, folgendes: daß die Beziehungen Deutschlands zu den Ländern Lateinamerikas, die mit Europa kulturell und geistig eng verbunden sind, auf einer traditionsreichen und ungetrübten Freundschaft beruhen. Alle freien Länder Lateinamerikas haben sich als treue Fürsprecher für das Recht unseres Volkes auf Selbstbestimmung in Frieden und Freiheit erwiesen. Wir sind voll Zuversicht, daß sich die lateinamerikanische Völkergruppe immer stärker als mitbewegende Kraft in dieser sich wandelnden Welt fühlt und daß ihre Stimme in zunehmendem Maße die ihr gebührende Beachtung in der internationalen Politik findet. Die deutsche Regierung wird die politische und wirtschaftliche Erstarkung aller freien lateinamerikanischen Nationen nach Kräften fördern und die Beziehungen zu diesen uns so eng befreundeten Völkern mit großer Sorgfalt pflegen.
Das andere, meine Damen und Herren, ist dies: Wie schon aus der Regierungserklärung hervorgeht, betrachten wir es als eine wichtige Aufgabe, möglichst bald gute Beziehungen zu allen arabischen Staaten wiederherzustellen. Ich möchte in diesem Zusammenhang versichern, daß es auch im Nahen Osten selbstverständlich die Politik der Bundesregierung ist, sich nicht in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten oder in regionale Konflikte einzumischen.
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Dabei unterstützt die Bundesregierung alle Bemühungen, insbesondere die der Vereinten Nationen, die zu einer friedlichen und gerechten Lösung der Probleme im Nahen Osten beitragen können.
Dann noch eine Bemerkung, die vielleicht eine Kleinigkeit über meinen Verantwortungsbereich als Bundesminister des Auswärtigen hinausgeht. Über Notwendigkeiten, Chancen, Gefahren und Pflichten der jetzt auf breiter Basis gebildeten Koalition ist sowohl in der Regierungserklärung und in dem, was der Bundeskanzler hier heute gesagt hat, wie im bisBundesminister Brandt
herigen Verlauf der Debatte für meine Begriffe fast alles gesagt worden, was nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge gesagt werden kann. Lassen Sie mich einen Gesichtspunkt hinzufügen, den ich auch in Gesprächen mit den Vertretern befreundeter Staaten mit verankerter demokratischer Ordnung zu interpretieren hatte.
Die Fraktionsführer der Regierungsparteien haben in dem, was sie gestern ausgeführt haben und was ich nur nachlesen konnte, jeder auf seine Weise deutlich gemacht - auch für die, die es von draußen beobachten und die uns danach fragen -, daß die politischen Gruppierungen ihren Charakter behalten, der doch wohl - entgegen der Auffassung mancher Kritiker - auch bisher schon unverwechselbar gewesen ist. Nach den Gesprächen, die der Regierungsbildung voraufgingen, und nach Beginn der Arbeit des Kabinetts habe ich nicht den Eindruck, daß irgend jemand einen politischen Eintopf anzurichten oder einzurühren wünscht. Es wäre nicht aufrichtig, wenn man den Eindruck erwecken wollte, daß Überzeugungsunterschiede und solche der politischen Praxis zwischen den Parteien, die die Regierung tragen, und denen, die die Parteien in einer Regierung vertreten, über Nacht verschwunden wären. Einiges ist allerdings durch die mehrfach erwähnte Bestandsaufnahme ausgeräumt oder bereinigt oder reduziert worden. Diese Bestandsaufnahme hat zugleich gezeigt, wie eng in vielerlei Hinsicht unser. Handlungsspielraum ist und daß es großer Anstrengungen bedarf, diesen Handlungsspielraum zu erweitern. Das ist unsere Aufgabe.
Wenn Stabilität und Wachstum im Innern und wenn die Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung und der deutschen Politik nach außen stärker wiederhergestellt sein werden, so wird diese Regierung nicht nur einige Erfolge zu verzeichnen haben, sondern sie wird dann auch die Lage verändert haben, in der sich die Bundesrepublik Deutschland und ihre Regierung, wie immer sie gebildet wird, befinden werden. Wenn wir an die Reform der NATO, an das Fortschreiten der europäischen Einigung, aber auch an die Veränderung des Ost-West-Verhältnisses und an das Anpeilen von Grundpositionen einer friedensvertraglichen Regelung denken, dann werden wir über manches von dem hinausgelangt sein und hinausgelangen müssen, was sich uns heute erst in Ansätzen darstellt.
Wenn hier - und noch mehr draußen - in dem, was geschrieben worden ist, beispielsweise vermißt wurde, daß die Bundesregierung in einigen der eben von mir erwähnten Fragen nicht konkreter geworden ist, so hat dies seinen guten Grund. Eine Bestandsaufnahme auf diesen Gebieten, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine Sache der Bundesrepublik allein, sondern es liegt in der Natur der Sache, daß wir dazu die Auffassungen unserer Verbündeten und anderer so genau wie möglich kennen müssen. Dieser Prozeß hat begonnen. Es wäre nicht seriös gewesen, und es wäre auch heute nicht sachlich zu rechtfertigen, wenn die Bundesregierung auf diesem Gebiet mit einem fertig erscheinenden Konzept über das hinaus, was vorgetragen werden konnte, vor dieses Hohe Haus getreten wäre. Die Gespräche während und am Rande der NATO-Konferenz haben mir deutlich gemacht, daß, wie es so schön heißt, manches auf uns zukommt, was sich nicht nur in Weiterführung der Friedensnote vom März 1966 und aus den eigenen zusätzlichen Überlegungen ergibt, sondern auch aus der begonnenen sehr viel stärkeren politischen Konsultation im atlantischen Bündnis und aus den dabei mit erörterten möglichen neuen Formen internationaler Kooperation.
Bei der Durchführung der Regierungserklärung - das gilt jedenfalls für den Bereich, über den ich einige Bemerkungen hier machen durfte -, werden wir uns über Beschäftigungsmangel jedenfalls nicht zu beklagen haben. Was wir brauchen, ist die Konzentration auf die dringendsten Aufgaben der allernächsten Jahre. Und dazu brauchen wir - das sage ich ganz besonders für den Bereich, den ich zu verantworten habe -, die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Teilen und den kritischen Rat aller Teile dieses Hohen Hauses.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Mende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler, der wegen einer wichtigen Verpflichtung in der nächsten halben Stunde hier nicht anwesend sein kann und mit dem dies in loyaler Weise verabredet wurde, hat in der ihm eigenen Art und mit dem ihm eigenen Scharm festgestellt, daß die Freie Demokratische Partei nach seinem Urteil für eine Erneuerung der Koalition mit der CDU/CSU nicht koalitionsfähig gewesen sei. Das ist ein durchaus subjektiver Eindruck, den der Herr Bundeskanzler hier erlaubtermaßen bekanntgeben kann. Er wird Verständnis dafür haben, daß wir das für eine höchst subjektive Einschätzung der Freien Demokraten durch ihn halten und ihm für diese Einschätzung mildernde Umstände geben, nachdem er seit 1959 nicht mehr Gelegenheit hatte, die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei hier näher kennenzulernen.
Nach einer Regierungskrise ist es immer wie nach einem Gefecht. Jeder beurteilt die verschiedenen Phasen des Gefechtes verschieden. Wir werden sehen, ob der Herr Bundeskanzler nach zwei Jahren hier mit der gleichen Gelassenheit und mit dem gleichen Scharm argumentieren kann, wie er es heute tat.
Auf einen Zwischenruf hat der Bundeskanzler der gesamtdeutschen Romantik eine gesamtdeutsche Realistik als seine Politik gegenübergestellt. Er ist uns die Interpretation dieser gesamtdeutschen Realistik bisher schuldig geblieben. Wir werden Gelegenheit haben, näher kennenzulernen, was er darunter versteht.
Aber vielleicht kann ich zwei Gegenüberstellungen zur Begriffsklärung schon heute machen.
Gesamtdeutsche Romantik war es sicher auch nach der Meinung des heutigen Bundeskanzlers, daß der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, wenige Tage vor der Errichtungder Mauer im August 1961 sich hinstellte und den Menschen in Ostberlin und in Mitteldeutschland kundtat, daß der freie Weg in Berlin auf jeden Fall offenbleiben werde und mit einer Versperrung dieses Weges nicht zu rechnen sei, frei eben nach dem Motto Christian Morgensterns: Und so schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.
Gesamtdeutsche Realistik war es allerdings, daß sich ein gesamtdeutscher Minister zusammen mit dem Berliner Senat und gegen erhebliche Widerstände in der Fraktion der CDU/CSU um Passierscheine bemühte, um wenigstens zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten die menschliche Erschwernis der Mauer für die Berliner leichter zu machen.
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Das ist immerhin Weihnachten 1963, 1964 und 1965 möglich gewesen. Für 1966 werden wir vermutlich einen bedauerlichen Rückschlag einkalkulieren müssen.
Gesamtdeutsche Romantik war es sicher, als man von der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland die Wiedervereinigung unseres Landes in einem Automatismus erwartete.
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Gesamtdeutsche Realistik war es schon damals, daß andere darauf hinwiesen, daß es großer zusätzlicher Anstrengungen bedürfe, auch einer Verbesserung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses, um das Ja aller vier Siegermächte, auch der Sowjetunion, zur Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen.
Die Erklärung der Bundesregierung, beginnt verhältnismäßig spät mit den Grundfragen der Deutschlandpolitik, der Europa-Politik und der Sicherheitspolitik. Wie der Bundeskanzler, aber auch eben sein Stellvertreter, der Bundesaußenminister, feststellten, hat man sich bewußt mit generellen Aussagen begnügt und darauf verzichtet, in Einzelheiten und in Interpretationen einzutreten. Es ist meine Aufgabe, für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei unsere grundsätzlichen Stellungnahmen zu diesem deutschlandpolitischen, außenpolitischen und sicherheitspolitischen Teil der Regierungserklärung abzugeben.
Dieser Teil der Regierungserklärung beginnt mit einem Bekenntnis zum Frieden. Dem kann auch die Opposition, die Freie Demokratische Partei, vollinhaltlich zustimmen. Denn die Grundlage aller unserer Arbeit auf allen Bereichen ist die Erhaltung des Friedens. Aber es genügt nicht, sich mit einem pathetischen Appell zu begnügen.
Es ist die Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, über das Bekenntnis zum Frieden hinaus auch konstruktive Beiträge zur Entspannung und zur Erhaltung des Friedens zu erbringen. In einem geteilten Land ist das doppelt wichtig. Denn wir wissen, daß die drei Elemente der Lösung der deutschen
Frage untrennbar miteinander verbunden sind in den Themen kontrollierte Abrüstung, „europäische Sicherheit" und Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes.
Man hat viel von einer Bestandsaufnahme während der Verhandlungen zur Regierungsbildung gehört. Soeben ist das Wort von der Bestandsaufnahme erneut gefallen, und der Bundeskanzler spricht von einer gründlichen Bestandsaufnahme. Wir haben die Konsequenzen dieser Bestandsaufnahmen hier noch nicht zur Kenntnis nehmen können, ja nicht einmal die wesentlichen Elemente der Einschätzung der internationalen Lage und der Veränderungen im Jahre 1966 gegenüber der Vergangenheit.
Nach 1945 ist es der sowjetischen Politik gelungen, in Europa 100 Millionen Menschen auf einem Gebiet von 1 Million qkm unter kommunistische Herrschaft zu bringen. Wir kennen die Tragik der Entwicklung in Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, in der Tschechoslowakei, in Mitteldeutschland und in Ostberlin. Der Griff ging nach Westberlin: die Berliner Blockade, Schwierigkeiten in der Berliner Stadtverwaltung, alles bekannte Ereignisse.
Nach mehrjährigem Zögern hat der Westen sich im atlantischen Bündnis im April 1949 zusammengeschlossen, um ein weiteres Vordringen der kommunistischen Aggression in Europa einzudämmen. Die Bundesrepublik Deutschland ist 1955 nach harten Auseinandersetzungen, auch hier in diesem Hause, dem nordatlantischen Bündnis beigetreten, auch mit den Stimmen der heute in der Opposition befindlichen Freien Demokratischen Partei und gegen den erbitterten Widerstand der damaligen sozialdemokratischen Opposition. Wir glauben, daß dieser Schritt damals richtig war; denn es bedurfte der Eindämmung eines weiteren Vordringens des Kommunismus in Europa. Insofern hat die NATO ihre Sicherheitsfunktion erfüllt. Im anderen Bereich war die konsequente Antwort auf den Zusammenschluß die Errichtung des Warschauer Paktes. Das ganze Jahrzehnt von 1949 bis 1959 war bestimmt von der bipolaren Situation: hier NATO mit dem Zentrum Washington, hier Warschauer Pakt mit dem Zentrum Moskau.
Dank der Überlegenheit der amerikanischen Atomstrategie erhoffte der Westen von dem atlantischen Bündnis auch ein Zurückdrängen der Sowjets aus ihren vorgeschobenen Bastionen in Mitteleuropa. Roll back war das Stichwort für diese Phase der westlichen Außen- und Militärpolitik. Ein hervorragender Vertreter dieser These war der amerikanische Außenminister Foster Dulles. Nicht zuletzt war es Bundeskanzler Konrad Adenauer, der von dieser Phase des roll back, des Zurückrollens der sowjetischen Divisionen aus Mitteldeutschland, Ostdeutschland, aus Mittel- und Osteuropa, die Chance der Wiedervereinigung Deutschlands erwartete.
Die technische Entwicklung veränderte die strategische Konzeption. Die Strategie wiederum beeinflußte die Politik. Technik, Strategie und politische Entwicklung stehen in ständiger Wechselwirkung. Es gelang .den Sowjets, nicht nur atomare Waffen
in eigener Regie herzustellen, sondern sogar die Amerikaner durch erste in den Weltenraum gelenkte interkontinentale Raketen zu überrunden, wenigstens auf dem Gebiet der schweren Raketen. Der Sputnik-Schock fuhr der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit ebenso in die Glieder wie uns. Es bedurfte einer Zeit, bis durch die Polaris-Rakete wieder das Gleichgewicht hergestellt war. Seit dieser Zeit datiert das Gleichgewicht wechselseitiger Abschreckung, ob es nun heute gekennzeichnet ist durch Rakete und Antirakete oder durch die Vorstöße in den Weltraum um die Beherrschung des Mondes oder durch die Ausnutzung des Weltraums für strategische Zwecke durch Nachrichtensatelliten, Beobachtungssatelliten und dergleichen.
Auf jeden Fall ist die bipolare Weltlage - gekennzeichnet durch den Gegensatz Washington und Moskau, auf eine Kurzformel gebracht: West und Ost - längst von einer polyzentrischen Entwicklung abgelöst worden. NATO und Warschauer Pakt, rollback auf der einen und Verstoß bis zum Atlantik auf der anderen Seite, gelten heute nicht mehr. Beide Stoßrichtungen sind aufgehoben. Eine neue Weltmacht ist in der Volksrepublik China in die internationale, auch in die internationale strategische Entwicklung getreten, spätestens seit dem Oktober 1964, als die Volksrepublik China in die Lage kam, eigene atomare Waffen sprengreif zu machen. Von diesem Datum datiert der neue Schwerpunkt sowohl der amerikanischen wie der sowjetischen Außenpolitik. Er ist heute Asien.
Das hat natürlich wiederum seine Rückwirkung auf Europa gehabt. In Europa droht der Status quo einzufrieren. Beide Weltmächte sehen ihr Interesse mehr auf die dritte Weltmacht in Asien gerichtet und sind bereit, den Status quo der Teilung Deutschlands und Europas, zumindest für eine gewisse Zeit, zu akzeptieren und hier die Verhältnisse fest werden zu lassen.
Die Freie Demokratische Partei fordert von der neuen Bundesregierung eine Außenpolitik, die sich zu den Grundsätzen der nationalen Selbstbestimmung, der freiheitlichen Menschenrechte und des Rechts auf Heimat bekennt. Diese Außenpolitik, auch diese Sicherheitspolitik, muß unserer Lage in Mitteleuropa Rechnung tragen, den entspannenden Ausgleich nach allen Seiten suchen und damit der Erhaltung des Friedens dienen. Diese Politik der Entspannung ist nach unserer Überzeugung nur unter Achtung der geltenden Verträge und in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den mit uns befreundeten Völkern möglich. Wir haben die Pflicht, zu der Milderung der Gegensätze zwischen Ost und West, soweit sie auch hier in Europa noch bestehen, auf unserem eigenen Boden beizutragen. Das erfordert, daß wir neben der Verbesserung unseres Verhältnisses zu den westlichen Nachbarn uns auch um die Verbesserung des Verhältnisses zu den osteuropäischen Völkern bemühen und unsere Angelegenheiten mit ihnen friedlich regeln.
Das ist nicht neu, aber ich darf es an dieser Stelle des Neubeginns der Außen- und Sicherheitspolitik einer neuen Bundesregierung wiederholen: Die Freie Demokratische Partei unterstützt den von Ost und
West erörterten Gedanken eines europäischen Sicherheitssystems unter Einschluß der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, denen im Rahmen dieses Paktsystems die Aufgabe der Erhaltung eines friedlichen Gleichgewichts zufallen würde. Getreu der Präambel des Grundgesetzes sehen wir über das vordringliche nationale Anliegen der staatlichen Einheit hinaus die Zukunftsaufgabe einer Einigung Europas. Das Streben der Menschen jenseits des Eisernen Vorhanges nach Freiheit und Selbstbestimmung - und wir haben gerade in den letzten Monaten eindrucksvolle Beweise dafür erhalten - beweist, daß der europäische Gedanke nicht an der Elbe aufhört. Es ist deshalb notwendig, den Europagedanken aus seiner bisherigen Enge zu befreien und ihn im Sinne der geschichtlichen Verbundenheit, des kulturellen Erbes und des abendländischen Geistes zu der Idee eines größeren Europa auszuweiten.
Hier ist eben vom Bundesaußenminister eine teilweise Absage an das Streben nach multilateralen Atomkonstruktionen erteilt worden, nachdem sich die Regierungserklärung hier ausschwieg und lediglich den längst bekannten Satz zum Inhalt hat, daß wir keine Atomwaffen produzieren wollen und auch nicht in eigener Verfügungsgewalt halten wollen. Es ist bekannt, daß bereits im Sommer dieses Jahres hier eine Debatte über die Frage der Zweckmäßigkeit multilateraler atomarer Konstruktionen, mögen sie MLF oder AMF heißen, stattfand. Hier hat bereits die Mehrheit, und zwar eine andere Mehrheit, als sie heute in der Regierung vertreten ist, eine Absage erteilt: Sowohl die sozialdemokratische Fraktion wie die freie demokratische Fraktion hat die Bundesregierung aufgefordert, das Streben nach physischem atomarem Besitz und Mitbesitz aufzugeben. Wir hätten es gut gefunden, wenn in der Regierungserklärung eindeutig, noch eindeutiger, als es der Bundesaußenminister nach seinem Paris-Besuch hier eben dargelegt hat, auf jeglichen atomaren Mitbesitz verzichtet worden wäre, damit auch der kommunistischen Propaganda eindeutig der Boden für eine ständige Vergiftung der Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland um den Frieden entzogen worden wäre.
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Herr Abgeordneter, darf ich Sie einen Moment unterbrechen; ich hätte dem Hause eine Mitteilung zu machen.
Bitte schön!
Ich darf mitteilen, daß der Ältestenrat um 17.30 Uhr zusammentritt, um die Geschäftslage dieses Tages zu besprechen und die Frage zu erörtern, wie wir fortfahren wollen.
Bitte schön, Herr Abgeordneter, wollen Sie fortfahren!
Vielen Dank, Herr Präsident.
Der Verzicht auf den physischen Mitbesitz an atomaren Waffen, sich auch ergebend aus der beson3860
deren Lage eines geteilten Volkes und seiner jüngsten Geschichte, sollte uns allerdings nicht daran hindern, ein Mitspracherecht bei allen strategischen Zielplanungen des nordatlantischen Bündnisses zu fordern einschließlich eines Vetorechts der Bundesrepublik Deutschland für den Einsatz atomarer Waffen von deutschem Boden und gegen deutschen Boden. Wir wissen, daß gerade im dicht besiedelten mitteleuropäischen Raum auch der Einsatz nur taktischer Atomwaffen mit der Sprengkraft der Bomben von Hiroshima und Nagasaki oder der Einsatz atomarer Minen mit noch geringerer Sprengwirkung zu verheerenden Zerstörungen und zu Substanzverlusten führen müßte. Das Wesen jeglicher Verteidigung ist die Erhaltung der schätzenswerten und daher verteidigungswerten Substanz. Verteidigung wird schlechthin sinnlos, wenn sie mit der zwangsläufigen Vernichtung der zu schützenden Substanz des deutschen Volkes verbunden sein müßte.
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Damit kommt der Betrachtung des Einsatzes atomarer Waffen, nicht nur der großen Interkontinentalraketen und der Mittelstreckenraketen, sondern auch der kleineren taktischen Atomraketen, für unser deutsches Volk, ja für alle mitteleuropäischen Nachbarn, eine wesentlich größere Bedeutung zu, als das bisher in der Öffentlichkeit gelegentlich dargestellt wurde. Gewisse Manöver in einem gewissen Bunker erinnern mich allzusehr an Planspiele vor dem Beginn des Rußlandfeldzuges 1941. Man sollte nichts verniedlichen, sondern unserem Volk sagen, was ihm bevorstünde, wenn auf deutschem Boden taktische Atomwaffen zum Einsatz kämen.
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Nachdem wir davon ausgehen, daß die Wiedervereinigung Deutschlands zwangsläufig mit der Frage der kontrollierten Abrüstung, der europäischen Sicherheit verbunden ist, haben wir an die Bundesregierung die Frage, welche Beiträge denn die Bundesrepublik Deutschland zu der kontrollierten Abrüstung zu erbringen habe. Gewiß, einiges haben wir aus Paris vernehmen können. Einiges ist auch in der Vergangenheit schon hier, diskutiert worden, nach dem ersten Vertrag des Atomtestabkommens und vor dem zweiten, zu erwartenden, der Nichtweitergabe atomarer Waffen.
Aber, das genügt nicht. Wenn wir in unserem Bemühen um die Wiedervereinigung Deutschlands glaubhaft sein wollen, müssen wir auch jene konstruktiven Beiträge im Rahmen der Abrüstung erbringen, die die Siegermächte des zweiten Weltkrieges in die Lage bringen, ein neues europäisches Sicherheitssystem unter Einschluß der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion zu erreichen; denn nur in einem neuen europäischen Sicherheitssystem ist die Klärung des militärischen Status des wiedervereinigten Deutschlands möglich, und erst die Klärung des militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands gibt die Möglichkeit, die jetzigen Regionalpakte in einem neuen europäischen Sicherheitssystem zu überwinden.
Der Herr Bundeskanzler selbst hat noch als Sprecher seiner Fraktion hier ein sehr fortschrittliches
Bekenntnis damals abgelegt. NATO - so sagte er in einer Debatte - sei nicht Selbstzweck. Die NATO sei Mittel zum Zweck, zur Bewahrung der Sicherheit und Freiheit des westlichen, noch freien Europa. Wenn man eine neue Lösung finde, die besser sei, so werde man selbstverständlich sich auch dazu durchringen müssen. Die NATO sei kein Dogma. - Wir glauben, daß mehr denn je nach der Haltung Frankreichs die NATO heute nicht mehr das ist, was sie einmal war. Es genügt nicht, gewisse Hauptquartiere zu verlegen und allein über den Devisenausgleich zu diskutieren. Es geht jetzt um die grundlegende Reform des atlantischen Bündnisses. Da erwarten wir von unserer Bundesregierung, daß sie jedwede Chance ergreift, um im Rahmen der Umformung dieses Bündnisses und möglicher Reflexe auf den Warschauer Pakt jene europäischen Sicherheitskonstruktionen anzustreben, die allein geeignet sind, den Stillstand in der deutschen Frage zu überwinden.
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Die Freie Demokratische Partei erweitert die bisher unbestrittenen Vorschläge auf Nichtweitergabe und Nichterwerb atomarer Waffen durch den Gedanken einer Reduzierung der Truppen in beiden Teilen Deutschlands. Es muß nicht unbedingt von der Zahl der Divisionen abhängen, wie groß die Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungskraft unserer Partner in Europa und in Deutschland eingeschätzt werden muß. Wir kennen ja die Diskussionen um den Abzug dieser oder jener Division. Es ist ein rückständiges politisch-strategisches Denken, dann zu bitten und zu betteln: Laßt um Gottes willen diese oder jene Divisionen hier! Es ist vor allem ein großes Problem, etwa die Alternative dulden zu wollen Geld oder Soldaten, wie das in den letzten Wochen leider zum Teil erschien: entweder ihr erfüllt eure Devisenverpflichtungen, oder wir gehen. Welche Verkennung der Funktion eines Bündnisses und welch egozentrische Einschätzung der jeweiligen bündnispolitischen Verpflichtungen! Wir glauben, daß die Frage der Reduzierung der Truppen beider Bündnissysteme auf deutschem Boden nur noch eine Frage der Zeit ist. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien wie die Sowjetunion sind bereit - wenn man verschiedene Stimmen richtig wertet -, zu einer wechselseitigen Reduzierung der auf deutschem Boden stationierten Truppen zu gelangen. Die Bundesregierung sollte prüfen, welche Möglichkeiten dazu auch deutscherseits gegeben sind. Es ist nicht wahr, daß durch jede abgezogene Division der Amerikaner oder Briten die Verpflichtung entstünde, deutsche Divisionen in diese Lücke einzuschieben. Eines der törichtesten Worte, das sehr viel Mißdeutungen in Mitteldeutschland und Osteuropa ausgelöst hat, ist das Wort von der Vorwärtsverteidigung, die es nie gegeben hat und nie geben kann.
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Wir glauben, daß neben der Reduzierung der Truppen beider Paktsysteme auf deutschem Boden auch die Möglichkeit zu wechselseitigen Inspektionen eröffnet werden kann, zusätzlich zu dem in
der Friedensnote durch die Bundesregierung bereits gemachten Vorschlag, sich wechselseitig bei den Manövern zu besuchen. Also: Bereitschaft zu wechselseitiger Inspektion in Mitteleuropa im Rahmen der beiden Paktsysteme NATO und Warschauer Pakt.
Schließlich: Vereinbarungen innerhalb der beiden Paktsysteme über den europäischen Luftraum. Je schneller unsere Flugzeuge werden, nicht nur die Flugzeuge der Luftwaffe, sondern auch die der Verkehrsfliegerei, um so problematischer wird das alte Europa mit seinen engen Grenzen, noch dazu unser Land mit seiner strategischen Grenze zweier Bündnissysteme, NATO und Warschauer Pakt. Wenn es möglich ist, Übereinkommen zwischen Washington und Moskau über die Nutzung des Weltraums zu erreichen, sollte es möglich sein, Vereinbarungen über die Nutzung des europäischen Luftraumes mit der dazugehörigen Radarüberwachung zu treffen, um den europäischen Luftraum großzügiger nutzen zu können, als es gegenwärtig im Regionalpaktsystem denkbar ist.
Eine weitere Überlegung, die wir der Bundesregierung anheimgeben, ist, den Gedanken der atomwaffenfreien Zone neu zu diskutieren, natürlich in neuen Dimensionen. Wir wissen, daß diese atomwaffenfreien Zonen zwar theoretisch beidseitig möglich sind, für die Stationierung wie für die Zielplanung. Im praktischen Bereich wird im wesentlichen wohl nur die Frage der Lagerung atomarer Waffen in atomwaffenfreien Zonen abgeschlossen werden können. In einem - hoffentlich nie eintretenden - Weltkrieg mit interkontinentalen Wasserstoffraketen gibt es kaum Garantiefunktionen für freigehaltene nichtatomare Räume, weder für Schweden noch für die Schweiz, noch für Österreich, so stolz sie auf ihre Neutralität auch sein mögen. Aber der Beginn einer Entspannung wäre schon, wenn man für die Stationierung und Lagerung atomwaffenfreie Zonen in Mitteleuropa vereinbaren könnte.
Schließlich empfehlen wir der Bundesregierung auch, europäische Abkommen über die Nutzung von Nachrichtensatelliten, Wettersatelliten, Beobachtungssatelliten, insbesondere zur langfristigen Wettervoraussage und Katastrophenwarnung anzustreben. Was hier, ich wiederhole es, zwischen Amerika und der Sowjetunion möglich ist, sollte auch in Europa möglich werden, wenn wir jetzt aus dem Stadium der Weltraumforschung in das Stadium der Weltraumnutzung eintreten.
Die Bundesregierung hat viele Jahre ein Junktim zwischen Fragen der kontrollierten Abrüstung und der deutschen Frage für unabdingbar gehalten. Wir fragen: Gilt noch dieses Junktim? Naturlich wird man nicht jede Frage internationaler Abrüstung mit der Deutschlandfrage unabdingbar koppeln können; ich denke an Atomtestabkommen, ich denke auch an die Nichtweitergabe. Aber an irgendeiner Stelle muß doch wieder die Dreiheit erkennbar werden: kontrollierte Abrüstung, europäische Sicherheit und Wiedervereinigung Deutschland. Und hier wären wir dankbar für die Antwort - wenn nicht im Plenum, so mindestens in den Ausschüssen -, welches Junktim an welcher Stelle die Bundesregierung im
Rahmen der Abrüstungsbemühungen mit der deutschen Frage neu knüpfen will.
Wir wissen aus den Verlautbarungen Osteuropas, vor allem auch der Sowjetunion, daß es hier insbesondere um die Frage geht: Wie kann man Sicherheit vor einem wiedervereinigten Deutschland erreichen? Aus der Erfahrung, die die russische Bevölkerung nach zwei Kriegen mit Deutschland gemacht hat, ist das Sicherheitstrauma der sowjetischen Politik verständlich.
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So sehr die Umrüstung im nuklearen Zeitalter eigentlich das Sicherheitsdenken der Sowjets wesentlich verändert haben sollte, ist doch - ich sage das nicht ohne Grund - in der Bevölkerung der Sowjetunion 25 Jahre nach dem Schock durch die vor Leningrad, vor Moskau, vor Stalingrad stehenden Truppen der deutschen Wehrmacht dieses Trauma immer noch vorhanden. Man muß aber auch umgekehrt unser Trauma verstehen. Also Sicherheit nicht nur vor Deutschland - Sicherheit auch für Deutschland! Denn in Umkehrung dessen, was wir zunächst anderen zugefügt haben, ist auch uns vieles zugefügt worden, 'als, vielleicht in der Peripetie des Dramas vor Moskau, dann vier Jahre später sowjetische Verbände in Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Thüringen einmarschierten und unermäßliches Leid auch über unsere Bevölkerung brachten.
Die Regierung hat betont, daß sie ihr Verhältnis zu der Sowjetunion verbessern wolle, trotz aller Schwierigkeiten und aller Rückschläge. Wir hörten in der letzten Zeit immer wieder von dem früheren Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem Nachfolger Lugwig Erhard die Formulierung, der Schlüssel zur deutschen- Frage liege in Moskau. Mir scheint aber, daß dieser Schlüssel, wenn dem so wäre, von der früheren Bundesregierung und der vorhergehenden nicht genügend gesucht wurde. Es wird einmal für die Historiker unerfindlich bleiben, daß zwischen 1955, als Bundeskanzler Adenauer die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufnahm, und dem heutigen Datum weder ein Bundeskanzler noch ein Außenminister sich die Mühe gemacht hat, nach Moskau zu reisen, um an Ort und Stelle mit dem Schlüsselinhaber zu sprechen.
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Sie wissen, daß sich die Freie Demokratische Partei redliche Mühe gab, immer wieder darauf hinzuweisen, daß eine seit zehn Jahren auf dem Tisch liegende Einladung an den Deutschen Bundestag, nach Moskau zu kommen, nicht genutzt wurde. Die CDU sagte nein, die SPD erklärte in einer sehr loyalen Opposition: wenn die CDU nicht reist, reisen wir auch nicht, und für die Freien Demokraten war es ein Problem.
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- Wir haben in Thomas Dehler einen Kollegen, der die Möglichkeit hatte, Informationen aus erster Hand zu sammeln. Wir haben dann den Versuch gemacht, den sowjetischen Ministerpräsidenten
Chruchtschow -nach Bonn einzuladen. Was hat es in der CDU/CSU darob für eine öffentliche Diskussion gegeben! Man hat dann schließlich Adschubej als Vorreiter hier doch als Gast empfangen; aber bevor Chruschtschow kommen konnte, war es zu spät.
Wir glauben, daß Bundeskanzler Kiesinger, der 1955 mit der Delegation in Moskau war, gut beraten wäre, wenn er seine künftigen Besuche zusammen mit seinem Außenminister nicht nur nach dem Westen, nach Washington, London, Paris, lenkte, sondern sich auch Moskau als neuer Kanzler vorstellte, um zu beweisen, daß es ihm um eine Verbesserung des deutschsowjetischen Verhältnisses ernst ist.
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Was den Schlüssel anbetrifft, so glauben wir, daß diese Theorie falsch ist. Denn es gibt mindestens schon zwei Schlüssel, einen in Moskau bei der vierten Siegermacht - oder der zweiten, je nachdem, wie Sie sie einrubrizieren wollen-, die Deutschland zur Hälfte als Faustpfand in den Händen hält, und einen anderen in Ostberlin, das sich insbesondere auch dank wirtschaftlicher und industrieller Fortschritte von Jahr zu Jahr stärker als ein Partner Moskaus im Comecon erwiesen hat.
Die Bundesregierung erwähnt in der Regierungserklärung auch den Willen, das Verhältnis zu Polen zu verbessern. Das polnische Problem ist nun nicht nur unter dem Aspekt der Westgrenze, der heutigen Demarkationslinie von Oder und Neiße,
zu betrachten. Die Westgrenze Polens hängt auch untrennbar mit der Ostgrenze Polens zusammen. Es ist ein doppelseitiges Problem, das im Rahmen der Vereinbarung zwischen Hitler und Stalin 1939 entstand. Wir begrüßen die Bemühungen der Bundesregierung, das Verhältnis zum polnischen Volk unter das Motto Versöhnung zu stellen. Aber wir treten der Auffassung bei, daß endgültige Entscheidungen über die Grenzfragen erst in einem Friedensvertrag erfolgen können. Und wenn Polen eine endgültige Entscheidung über seine Westgrenze wünscht, muß es ein Interesse daran haben, dem deutschen Volk zu helfen, im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts seine staatliche Einheit und damit eine gesamtdeutsche Repräsentanz zu erreichen.
Die Frage der Grenze oder, wie wir sie sehen, der Demarkationslinie, wird von denen, die die Geschichte des deutschen Ostens zu wenig kennen, manchmal etwas leichtfertig betrachtet. Immerhin ist die alte Grenze zwischen Polen und Schlesien eine der stabilsten Grenzen in der Welt gewesen, denn seit dem Vertrag von Trentschin 1335 war die Grenze zwischen Schlesien und Polen unbestritten und auch unbeeinflußt von den polnischen Teilungen. Die Grenze in Ostpreußen zu Polen ist seit dem Vertrag von Melnosee seit 1422 unverändert und unbestritten gewesen, das heißt also 157 Jahre in dem einen Fall - Trentschin - und 70 Jahre in dem anderen Fall - Melnosee - vor der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus haben hier bereits stabile Grenzverhältnisse geherrscht. Und wenn man 21 Jahre polnischer Verwaltung als Realität einzuschätzen beliebt, dann sollte man um der Gerechtigkeit willen auch 700 Jahre Zugehörigkeit zum deutschen Siedlungs- und Kulturraum nicht mit einer Handbewegung wegwischen wollen.
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Nun wird gerade seitens der polnischen kommunistischen Regierung - nicht durch das polnische Volk - so getan, als wenn der Revanchismus in der Bundesrepublik Deutschland geradezu kultiviert werde. Mir scheint, daß es notwendig ist, auf die Charta der Vertriebenen von Stuttgart hinzuweisen, die bereits 1950 verabschiedet wurde. Die Vertriebenen haben gerade angesichts des Leides, das sie erlebt haben, auf jegliche Gewalt bei der Lösung politischer Konfliktsituationen verzichtet und auch jegliche Vertreibung der dort wieder angesiedelten Bevölkerung abgelehnt. Sie streben ein Zusammenleben unter einem neuen europäischen gemeinsamen Geist an, der vielleicht gar nicht so weit weg ist, wenn man die Entwicklung im europäischen Bereich für die nächste Zeit positiver einschätzt angesichts des starken Drucks, der im fernen Osten auf dieses Europa sichtbar zu werden beginnt. Polen hat zwischen 1772 und 1939 vielfach Teilungen erlebt.
Gestatten Sie eine Frage? - Bitte, Herr Abgeordneter Blumenfeld.
Herr Kollege Mende, darf ich Sie fragen, ob Sie das, was Sie eben zu dem sehr schwierigen und wichtigen Problem des polnisch-deutschen Verhältnisses, der Grenzfragen usw. gesagt haben, für eine klare politische Aussage Ihrer Fraktion halten?
Ich glaube, daß man nicht klarer sein kann, als ich mich hier zu sein bemüht habe, daß nämlich die Grenzen erst in einem Friedensvertrag festgelegt werden können, daß die Westverschiebung Polens, wie man es so nennt, nicht ohne die Ostverschiebung gesehen werden kann, daß Grenzprobleme mehr europäische Probleme werden sollten und daß wir nicht bereit sind, die Frage der deutschen Ostgebiete zu einer leichtfertigen Kompensation erniedrigt zu sehen,
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sondern man muß auch einschätzen und werten, was die Menschen und die Geschichte dieses Landes anbetrifft. Herr Blumenfeld, ich als Schlesier kann mir ein besseres Urteil auch über den schlesisch-polnischen Gemeinschaftsgeist unter den Piasten und Jagellonen erlauben als Sie als Hamburger. Wir verstehen die Botschaft der katholischen Bischöfe durchaus zu werten, die das Vergessen und Vergeben zum Inhalt hat. Wir wissen, daß Polen als erstes Opfer des zweiten Weltkrieges unendlich gelitten hat. Wir wissen aber auch, daß die Deutschen in den Ostgebieten und in Mitteldeutschland ein vielfaches dessen erleiden mußten, was leider anderen im deutschen Namen zugefügt wurde. Wir erwarten, daß dieser Geist der polnischen und deutschen
katholischen Bischöfe das deutsch-polnische Verhältnis mehr und mehr bestimmen möge,
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der Geist des wechselseitigen Vergebens: und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Polen sollte uns helfen, zu einer friedensvertraglichen Regelung zu kommen. Erst dann kann es Antwort auf die Frage erhalten, wo seine Westgrenze liegen wird. Herr Blumenfeld, so viel allerdings können wir hier in aller Offenheit sagen: Wir haben den zweiten Weltkrieg begonnen. Wir haben ihn verloren! Wir werden beim Friedensvertrag erfahren, was wir dafür alles zu leisten haben! Ich warne aber, vor dem Friedensvertrag durch leichtfertige Hingaben die Verhandlungsposition so zu schwächen, daß es zum Friedensvertrag gar nicht mehr kommt.
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Die Freie Demokratische Partei hat sehr früh in diesem Hause diplomatische Beziehungen zu den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten erbeten. Es war Karl Georg Pfleiderer, der von einigen verlacht, in diesem Hohen Hause den Satz aussprach: „Man hat gute diplomatische Beziehungen oder man hat schlechte; gar keine hat man nur im Krieg." Er wies auf den weißen Fleck auf der europäischen Karte hin.
Die Freie Demokratische Partei hat am 23. Januar 1958 in diesem Hohen Hause einen Antrag gestellt, volle diplomatische Beziehungen zu den ost- und südosteuropäischen Staaten aufzunehmen. In dem Bericht Drucksache 2740 vom 31. Mai 1961 ist dann dieser Antrag nach über drei Jahren positiv verabschiedet worden. Nicht mit der sofortigen Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen, sondern mit der Einrichtung von Handelsmissionen wollte man beginnen und sich insbesondere um die Pflege der kulturellen Begegnungen bemühen.
Wir sind aber mehr oder minder bei den Handelsmissionen steckengeblieben. Wir fragen die Bundesregierung, warum trotz des Besuchs des rumänischen Außenhandelsministers Cioara hier und des Bundeswirtschaftsministers Schmücker in Bukarest bis heute noch nicht die vollen diplomatischen Beziehungen zu Rumänien aufgenommen wurden und morgen vielleicht zu Ungarn aufgenommen werden.
({3})
- Nein. Warum? Weil die CSU - -({4})
- Das kann ich Ihnen sagen: weil Ihre CSU in einem Brief an den Bundeskanzler den Außenminister Schröder hinderte, das zu tun. Ihr Veto war es, das dazu geführt hat.
({5})
Wir Freien Demokraten meinen, daß es höchste Zeit ist, volle diplomatische Beziehungen zu allen ost- und südosteuropäischen Staaten aufzunehmen, mit Rumänien und Ungarn zu beginnen. Aber diese Beziehungen dürfen nicht mit irgendwelchen Bedingungen verknüpft sein. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen - das gilt für beide Seiten - kann nur ohne irgendwelche Bedingungen erfolgen.
Gestatten Sie eine Frage? - Herr Abgeordneter Barzel.
Herr Kollege Mende, wären Sie bereit zu bestätigen, daß in dem Gespräch zwischen uns die Behauptung, die CSU habe ein solches Veto eingelegt, von uns zurückgewiesen worden ist und seither keine Rolle mehr gespielt hat?
Herr Kollege Barzel, das Wort Veto ist zurückgewiesen worden.
({0})
Wohl aber hat Herr Strauß bestätigt, daß er Bedenken habe, zu diesem Zeitpunkt diplomatische Beziehungen zu Rumänien aufzunehmen. Das hat er ausdrücklich erklärt.
({1})
Vielleicht kann sich der damalige Außenminister, der jetzt Verteidigungsminister ist, dazu äußern. Irgendwie muß es doch Hemmungen gegeben haben, um nach den erfolgreichen Besuchen zweier Minister, eines rumänischen und eines deutschen, diese Frage immer noch latent zu halten.
Ich wiederhole es: Die Freie Demokratische Partei ist für die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen ohne irgendwie geartete Bedingungen, die von der einen oder anderen Seite gestellt werden dürfen; Bedingungen sind für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wesensfremd.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Bitte sehr!
Herr Kollege Mende, können Sie mir bestätigen, daß in den von Herrn Kollegen Barzel angesprochenen Koalitionsverhandlungen nicht darauf hingewiesen worden ist, daß kein Brief geschrieben worden sei?
Es ist sogar bestätigt worden, daß ein Brief geschrieben worden sei und Vorbehalte auf Grund des noch zu frühen Zeitpunkts gemacht würden. So habe ich das in Erinnerung. Aber wie gesagt: es wäre am besten, wenn wir von dem damaligen Außenminister Schröder hörten, wer eigentlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien widersprochen hat.
({0})
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Dr. Barzel. Bitte!
Können wir uns denn wie folgt verständigen, Herr Kollege Mende, daß in diesen Gesprächen völlig klargeworden ist, daß es ein Veto, einen Widerspruch, eine unüberwindbare Einrede - so haben Sie nämlich behauptet - nicht gegeben hat? Daß es Bedenken zu all diesen Fragen gibt, zu Fragen, die erörtert werden müssen, ist, glaube ich, etwas allen Mitgliedern dieses Hauses Gemeinsames.
Herr Kollege Barzel, bei der Stärke, die der Landesvorsitzende der CSU und heutige Finanzminister Franz-Josef Strauß erwiesenermaßen hat und schon immer hatte, ist ein Bedenken oder Stirnrunzeln von Strauß gleichbedeutend mit einem absoluten Veto.
({0}) Oder streiten Sie das ab?
({1})
Streiten Sie ab, daß viele Entscheidungen nicht in Bonn, sondern in München fallen und in Bonn nur nachvollzogen werden?
({2})
- München ist heute die heimliche Hauptstadt; das können Sie doch wohl nicht bestreiten!
({3})
- Herr Präsident, ich möchte jetzt den Gedanken weiterführen; ich bin dann gern bereit, Fragen zu beantworten.
Von sehr großer Bedeutung für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Es schien in letzter Zeit so, als wenn dieses deutsch-amerikanische Verhältnis etwas durch den Streit um die Offset-Verpflichtungen und gewisse Rüstungskäufe gelitten hätte. Ich glaube, daß gewisse amerikanische Stellen die finanzielle und materielle Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland falsch eingeschätzt haben. Wir wissen, was für Opfer die Amerikaner in Vietnam zu bringen haben, Opfer, die nun einmal einer Weltmacht unserer Zeit gewissermaßen zugehörig sind. Wir respektieren diese Opfer; aber die Freie Demokratische Partei hält an der Auffassung fest, daß es für die Bundesrepublik Deutschland auf Grund ihrer besonderen Lage und ihrer Geschichte kein irgendwie geartetes personelles oder materielles Engagement in Südostasien geben darf, mit Ausnahme menschlicher Hilfeleistungen.
({4})
Wir hoffen - entgegen manchen Meinungen aus amerikanischen Senatsausschüssen -, daß solches Engagement bisher nie erbeten worden ist und auch in Zukunft von uns nie gefordert wird.
Das Verhältnis zu Frankreich soll jetzt in einer besonderen Weise gepflegt werden. Sicher, Frankreich ist das Hinterland unserer Sicherheit; wir wiederum sind Vorfeld der französischen Sicherheit, zumindest was Radar-Beobachtungen, Luftkontrolle usw. anbetrifft. Wir wissen, daß ohne ein enges deutsch-französisches Verhältnis Europa nicht entstehen kann. Wir brauchen Frankreich, Frankreich braucht uns, um Europas willen. Europa braucht aber ebenso die Vereinigten Staaten von Nordamerika um seiner Freiheit willen. Denn Deutschland und Frankreich und die anderen europäischen Mächte sind kein Gegengewicht gegen die Weltmacht Sowjetunion. Das Gleichgewicht ist ohne die Verpflichtung der Amerikaner in und für Europa nicht mehr gewährleistet; wir sehen hier eine Interdependenz europäischer und amerikanischer Sicherheit.
Was nun das Problem Europa anbetrifft, so werden auch die Europa-Enthusiasten nicht mit den Fortschritten in der europäischen Entwicklung zufrieden sein können. Die Freie Demokratische Partei hat als einzige Fraktion hier den Beitritt zur EWG abgelehnt; nicht etwa, weil sie eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht wollte. Wir sahen vielmehr im Zusammenschluß der Sechs eine Gefahr für eine weitere Spaltung Europas in eine Sechser- und Siebenergruppe; das ist ja dann leider auch geschehen. Dennoch haben wir uns bemüht, in Erfüllung der Römischen Verträge Leistungen über Leistungen zu erbringen. Ich erinnere nur an die Leistungen auf dem Agrarsektor. Es war der Bundeswirtschaftsminister Schmücker, der aus Brüssel zurückkam mit der Hoffnung, nun sei ein europäischer Frühling gekommen, im Rahmen der Auseinandersetzungen um den Agrarmarkt. Die Opfer, die wir hier gebracht haben, sind bekannt. Dennoch sind die Hoffnungen, die wir an eine politische Union geknüpft haben, entstehend aus der Wirtschaftsgemeinschaft, leider nicht in Erfüllung gegangen. Wir erwarten, daß die Bundesregierung uns zu gegebener Zeit sagt, wie es weitergehen soll, wie die Stagnation in der EWG überwunden werden kann, wie insbesondere der Beitritt Großbritanniens - seinerzeit an Frankreich gescheitert - und im Verfolg dessen der Beitritt der skandinavischen Staaten zum Gemeinsamen Markt ermöglicht werden kann.
Wir sehen schließlich in einer Ausweitung des europäischen Gedankens nach Osten auch die Möglichkeit einer Auflockerung der festgefahrenen Fronten der Regionalbündnissysteme in Europa.
Die Freie Demokratische Partei hat die Grundrisse einer friedensvertraglichen Regelung im Jahre 1959 erarbeitet und der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Im Gegensatz zur Sozialdemokratischen Partei, die seinerzeit ihren Deutschland-Plan wieder zurückzog, haben wir es nicht nötig, an diesen Grundrissen einer friedensvertraglichen Regelung irgend etwas zu ändern. Wir wissen, daß 1959 in Genf die letzte Außenministerkonferenz stattfand, unter Teilnahme zweier deutscher Delegationen in beratender Funktion, aus Ostberlin unter Führung von Lothar Bolz, aus Bonn unter Führung von Heinrich von Brentano. Die damaligen Verhandlungen
fuhren sich bald fest. Die Genfer Außenministerkonferenz von 1959 vertagte sich.
Wir haben schließlich eine weitere Konzeption seitens der Bundesregierung im Jahre 1963 begrüßen können, nämlich das Memorandum zu Fragen der kontrollierten Abrüstung, europäischer Sicherheit und Wiedervereinigung, bisher noch nicht veröffentlicht. In diesem Memorandum wird der Versuch gemacht, die Stagnation, die aus der Genfer Außenministerkonferenz 1959 entstanden war, zu überwinden. Die Grundrisse einer friedensvertraglichen Regelung, wie sie die Freie Demokratische Partei sieht, bestehen aus Sicherheitskonstruktionen im mitteleuropäischen Raum und aus Grundzügen, die zur Wiedervereinigung bei Wahrung der Grundrechte bis zu den Grenzfragen führen, und schließlich aus Bestimmungen, die insbesondere die Bündnissysteme betreffen. Wir halten an diesen Grundrissen fest und bitten die Bundesregierung ihrerseits, das, was die frühere sozialdemokratische Opposition öfters gefordert hat, nämlich Grundrisse einer friedensvertraglichen Regelung mindestens in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages bekanntzugeben.
Deutschland verpflichtet sich erstens, so heißt es in den Grundrissen für eine friedensvertragliche Regelung der Freien Demokratischen Partei, entsprechend seiner Lage in der Mitte Europas eine Politik des entspannenden Ausgleichs nach allen Seiten zu verfolgen und damit der Erhaltung des Friedens der der Zusammenarbeit der Völker zu dienen. Es verzichtet auf jegliche Teilnahme an Militärbündnissen, die Bestandteil eines Systems von Blöcken und Gegenblöcken in Europa sind und deren geographische Stoßrichtung eine bündnispolitische Option entweder zugunsten des Westens oder des Ostens bedingt. Dagegen erklärt sich Deutschland bereit, auf gleichberechtigter Grundlage Vertragspartner eines Bündnissystems zu werden, dessen Ziel die Festigung der gesamteuropäischen Sicherheit ist und dem neben anderen Staaten zumindest die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Rußlands, das Königreich Großbritannien und die Republik Frankreich angehören. Der Abschluß des deutschen Friedensvertrages soll gleichzeitig mit dem Abschluß eines europäischen Sicherheitsvertrages erfolgen.
Zweitens. Nach Inkrafttreten des deutschen Friedensvertrages und des europäischen Sicherheitsvertrages entfallen die Rechte und Pflichten, die von deutscher Seite mit der Mitgliedschaft in den Organisationen des Nordatlantikpaktes sowie der Westeuropäischen Union und des Warschauer Vertrages übernommen wurden.
Drittens. Deutschland bekräftigt in diesem Friedensvertrag den Verzicht, den es in dem Vertrag über die Errichtung einer atomwaffenfreien Zone hinsichtlich des Besitzes, der Produktion, des Erwerbs und der Erprobung von Kernwaffen leistet.
Viertens. Deutschland verpflichtet sich ferner, auf den Besitz, die Produktion, den Erwerb und die
Erprobung biologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel zu verzichten.
Deutschland wird eigene nationale Streitkräfte, Land-, Luft- und Seestreitkräfte, besitzen, die eine wirksame Landesverteidigung ermöglichen. Alle ausländischen Streitkräfte, die sich auf deutschem Boden befinden, müssen in einer festzulegenden Frist nach Inkrafttreten des Friedensvertrages in Etappen aus Deutschland abgezogen sein.
Fünftens. Deutschland bekräftigt seine im europäischen Sicherheitsvertrag übernommene Verpflichtung, durch Zulassung vertraglich vereinbarter Erd-
und Luftinspektionsbehörden in seinem Hoheitsbereich einen Beitrag zur europäischen Sicherheitskontrolle zu leisten.
Das sind Grundfragen, vor die die Bundesregierung sich gestellt sehen wird, und zwar sehr bald, und es ist besser, eigene Beiträge friedensvertraglicher Regelung zu erarbeiten und dann zu erbringen, als auf die Großmächte allein zu warten. Ich wiederhole, die Bundesregierung hat zwar im Memorandum 1963 den Versuch gemacht. Dieses Memorandum ist leider im Botschafterlenkungsausschuß liegengeblieben.
Lassen Sie mich schließlich zur Deutschlandpolitik noch einige Bemerkungen machen zu dem Gebilde, das sich DDR nennt. Wir haben einen interessanten Streit um die Nomenklatur bereits feststellen können. Der neue Gesamtdeutsche Minister Wehner hat in der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts" von der DDR gesprochen und geschrieben, wahrscheinlich mit oder ohne Anführungsstriche. Jedenfalls hat das den Sprecher der Koalitionspartei CDU/CSU, Dr. Barzel, veranlaßt, wieder auf die alte Bezeichnung SBZ hinzuweisen. Ich habe diesen Streit zwischen dem Vorgänger in meinem Amt, Kollege Barzel, und meinem Nachfolger in meinem Amt versucht, durch eine mittlere Linie zu schlichten.
({5})
Ich spreche gern von Mitteldeutschland, wenn ich diesen Raum meine, und von Ostdeutschland, wenn ich an Ostpreußen, Schlesien und Pommern denke, und von Westdeutschland. Auf jeden Fall ist es gut, entweder die alte Bezeichnung beizubehalten oder von dem Gebilde zu sprechen, das sich DDR nennt.
Aber Herr Kollege Barzel, ich glaube, daß es falsch ist, wenn wir nur im vordergründigen Streit bleiben. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich vielleicht vorschlagen, das Gebilde SBMDVDR - Sowjetisch besetzte mitteldeutsche volksdemokratische Republik zu nennen. Damit ergänze ich das, was schon Herr Dr. Lohmar vorgeschlagen hat. Streiten wir hier weniger um Bezeichnungen, sondern versuchen wir vielmehr, die politischen Fortschritte zu erreichen, von denen diese Regierung in bezug auf gesamtdeutsche Begegnung so erwartungsvoll gesprochen hat!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn Sie mir zwei Fragen erlauben: Zuerst die Frage, ob es ein Unterschied ist, einen Raum zu bezeichnen oder ein politisches System, und zum zweiten, ob Sie bereit sind, zuzugeben, daß ein Wort das ausdrückt, was ist, und nicht etwas tarnbezeichnen soll.
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Ich werde unser Verhältnis zu dem Gebilde, das sich politisch DDR nennt, gleich sagen: Der mitteldeutsche Bereich, der ohne Zutun der mitteldeutschen Bevölkerung ein politisches Machtgebilde, gewissermaßen ein sowjetisches Gouvernement geworden ist, kann und wird bei den Freien Demokraten keine Anerkennung als Völkerrechtssubjekt erreichen. Wir denken gar nicht daran, den kommunistischen Zwangsstaat als Völkerrechtssubjekt anzuerkennen. Wir denken überhaupt nicht daran, in unserem Land etwas anzuerkennen, was nicht mit dem frei geäußerten Willen der Bevölkerung übereinstimmt und was die Menschenrechte verleugnet. Die Frage einer Anerkennung des kommunistischen Zwangsstaates als Völkerrechtssubjekt stellt sich also nicht und darf sich schon aus dem Grundgesetz und unserer demokratischen Grundhaltung nicht stellen.
Aber wir werden uns um eine Vielzahl von Begegnungen in diesem geteilten Deutschland bemühen müssen, um die Substanz, wie das hier schon einmal genannt wurde, um die Einheit des deutschen Volkes als Nation zu gewährleisten. Hier werden wir nicht daran vorbeikommen, mit dem politischen Machtfaktor auch über Behörden kontaktieren zu müssen, so leid es uns tut, um für die Menschen etwas erreichen zu können.
({0})
Die Regierungserklärung hat bisher eine sehr allgemeine Formulierung vorgezogen. Wir glauben, daß wir uns zumindest im Gesamtdeutschen Ausschuß und im Auswärtigen Ausschuß konkreter werden äußern müssen. Wir sehen dieses politische Gebilde, das sich „DDR" nennt und das den mitteldeutschen Bereich umfaßt, Kollege Barzel, als einen von den Sowjets eingesetzten Machtfaktor. Wenn wir, sei es über verschiedene Behörden oder Beamte, sei es vielleicht eines Tages auch über Staatssekretäre, miteinander reden müssen - wir reden bereits heute mit dem stellvertretenden Außenhandelsminister Behrend; wir stoßen uns nicht daran, daß der Gesprächspartner von Herrn Leopold und heute von Herrn Pollack im innerdeutschen Handel ein stellvertretender Außenhandelsminister namens Behrend ist -, wenn wir also an die Menschen herankommen wollen und mit solchen Leuten eben verhandeln müssen, bedeutet das keine Anerkennung.
Anerkennung ist nach der angelsächsischen Völkerrechtslehre ein klarer Willensakt, der sich in einer bestimmten Form vollziehen muß. Wen ich nicht anerkennen will, der kann von mir auch nicht anerkannt werden. So sagt es eindeutig die angelsächsische Völkerrechtslehre aus.
Ich gebe natürlich zu, in der These der De-factoAnerkennung der kontinentalen Völkerrechtslehre liegt eine gewisse Gefahr. Aber, meine Damen und Herren, ich werde in jedem Fall abwägen müssen, was mir wesentlicher ist, die Erhaltung der Unteilbarkeit des deutschen Volkes als Nation, ohne die es niemals eine Wiedervereinigung geben wird, oder diese eben genannte Gefahr. Hier wird es einer klugen Außenpolitik überlassen bleiben, auch bei Begegnungen von Behörden auszuschließen, daß das als eine Anerkennung gewertet werden kann.
Der Herr frühere Bundeskanzler Adenauer ist eben hier erschienen. Ich darf seinen damaligen Gesprächspartner Foster Dulles zitieren. Herr Altbundeskanzler, Sie hatten oft Gelegenheit, mit dem amerikanischen Außenminister Foster Dulles in Gespräche zu kommen. Foster Dulles hat im November 1958 erklärt: Wenn man miteinander redet und wenn die Deutschen miteinander reden, bedeutet das noch lange nicht Anerkennung. Es kommt darauf an, wie sie miteinander reden, worüber, über welchen Zweck. Wir reden auch - so sagte Foster Dulles - in Warschau seit zehn Jahren mit dem Botschafter Rotchinas, und niemand kam auf den Gedanken, darin eine Anerkennung Rotchinas zu sehen. Auf dieser Auffassung ,der Amerikaner, damals schon von Foster Dulles geäußert, könnten wir eine Vielzahl von Begegnungen im geteilten Deutschland erreichen, ohne die Gefahr der Anerkennung des kommunistischen Zwangsstaates als Völkerrechtsobjekt befürchten zu müssen. Es kommt hier auf die Beweglichkeit und auf die Interpretation an.
Herr Kollege Barzel, im Gegensatz zu dem, was Sie 1963 zu Weihnachten befürchteten, daß aus der Passierscheinübereinkunft eine Aufwertung, wenn nicht gar eine Anerkennung Ostberlins folgen würde, ist genau das Gegenteil eingetreten. Ostberlin ist in keinem Land unter Hinweis auf die Passierscheinvereinbareungen von 1963, 1964 und 1965 aufgewertet worden. Im Gegenteil, die Welt hat durch die Passierscheinübereinkunft überhaupt erst einmal wieder die drückende Last der Mauer zur Kenntnis nehmen können. Diese Übereinkunft hat den Menschen gedient und hat auch die wechselseitigen Positionen in der Weltöffentlichkeit markiert.
Das Gespräch auch von Behörden zu Behörden auf der jeweils notwendigen Ebene bedeutet also nicht - um wieder eine These festzusetzen - Anerkennung, auch nicht faktische Anerkennung, sondern die zeitweise Hinnahme der durch Krieg und Niederlage entstandenen politischen Machtverhältnisse mit dem Ziel, diese durch politische Mittel ohne Gewalt zu überwinden. Wir Freien Demokraten legen großen Wert auf die menschlichen Begegnungen, weil wir wissen, daß sie ,das Gegengewicht sind gegen die Isolierungspolitik der Kommunisten. Auch Berlin könnte von einer solchen Begegnungspolitik seine Vorteile haben.
Die Freie Demokratische Partei empfiehlt der Bundesregierung, den Gedanken der gemischten gesamtdeutschen Kommissionen wieder aufzunehmen. In dem Memorandum der Bundesregierung vom August 1963 war die Möglichkeit der Einsetzung paritätisch besetzter gesamtdeutscher KommissioDr. Mende
nen für den Personenverkehr, für den Wirtschafts- und Warenverkehr, für Kulturbegegnungen und Sport vermerkt. Diese gesamtdeutschen gemischten Kommissionen könnten im Einvernehmen mit den Mächten in Berlin instituiert werden, vielleicht sogar in West- und in Ostberlin. Das würde auch zu einer neuen politischen Aufgabe für Berlin führen und eine „Eindünung Westberlins ,durch den märkischen, leicht rötlichen Sand" - wie ein Schweizer Korrespondent unlängst sagte - zumindest erschweren. Berlin braucht eine politische Aufgabe, wenn es den Lebenswillen behalten soll.
({1})
Gegen diese gemischten paritätisch besetzten Kommissionen ist manches eingewendet worden. Ich halte sie nach wie vor für die beste Lösung, um unterhalb der Schwelle der Anerkennung zu einer Vielzahl von Begegnungen im geteilten Deutschland zu gelangen.
Die Regierungserklärung enthält einen vieldeutigen Satz, und ich darf vielleicht die Bundesregierung um Aufklärung bitten. In der Regierungserklärung heißt es:
Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.
Das soll doch nicht etwa ein Neckermann-Ersatzkatalog sein? Wir möchten konkreter wissen, was dieser Satz aussagen soll, wenn nicht hier, dann wenigstens im Gesamtdeutschen Ausschuß.
({2})
Wir möchten von dieser Regierung auch wissen, wie sie die Koordinierung der gesamten technischen Kontakte vollziehen will. In der Vergangenheit hat es eine Vielzahl von Reibungen und Schwierigkeiten gegeben. Werden jetzt, Herr Kollege Wehner, alle gesamtdeutschen technischen Kontakte in Ihrem Ministerium koordiniert oder, wenn nicht, im Bundeskanzleramt? Werden sie überhaupt koordiniert?
Zum zweiten: Hat man jetzt wenigstens Ihnen das zugestanden, was man mir verweigerte, nämlich für das Zonenrandgebiet die 12 Ressorts zu koordinieren und politische Impulse für eine stärkere Betreuung im Zonenrandgebiet zu erreichen? Gibt es jetzt den Beauftragten für das Zonenrandgebiet in dem neuen Gesamtdeutschen Minister, oder werden 12 Ressorts weiter zum Teil aneinander vorbei, zum Teil gegeneinander im Zonenrandgebiet Verantwortung tragen?
Es gäbe noch eine Vielzahl von Fragen, aber ich sehe, daß uns die Zeit davonrinnt.
Wir Freien Demokraten sind als Oppositionspartei bereit, zu einer fortschrittlichen Deutschlandpolitik und zu einer aktiven Ostpolitik beizutragen. Aber in der Regierungserklärung und auch in den Beiträgen der Regierungssprecher sind viele Fragen offengeblieben. Wir hoffen auf die Beantwortung dieser Fragen, sei es bei den Deutschlandgesprächen beim Bundeskanzler, sei es in den dafür zuständigen Ausschüssen,
Was Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU und der SPD, auch immer der dritten Fraktion dieses Hauses vorwerfen oder unterstellen mögen -das ist Ihr gutes Recht -, über eins haben Sie sich in der Deutschland- und Ostpolitik niemals beklagen können: über mangelnde Aktivität der Liberalen. Wir werden dafür sorgen, daß wir auch weiter die gesamtdeutsche Unruhe bleiben werden.
({3})
Meine Damen und Herren, ich habe nicht eingegriffen, aber ich mache darauf aufmerksam, daß nach § 39 der Geschäftsordnung der einzelne Redner nicht länger als eine Stunde sprechen sollte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, da dies möglicherweise der Schluß der Debatte sein kann, zunächst ein paar Worte zu der Rede zu sagen, die der Kollege Mende soeben gehalten hat. Es ist wenig anzumerken, weil man nicht viel dazu sagen kann.
Zunächst, Herr Kollege Mende, möchte ich, daß über eins Klarheit herrscht. Sie haben eingangs gesagt - ich hoffe, daß ich Sie richtig verstanden habe -, es werde 1966 keine Passierscheine geben. Ich nehme an, daß Sie dies nur als eine Tatsachenmitteilung gemacht haben, und nehme an, daß Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Die Verantwortung dafür liegt allein bei Pankow.
({0})
Ich höre dazu keinen Widerspruch und finde diesen Punkt auch wichtig für das Klima im Hause, einschließlich der Opposition.
Dann haben Sie, Herr Mende, zu den historischen Dingen gesprochen. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß sich das wohltuend von der historischen Verdrehung abhob, die Ihr Fraktionskollege Dehler heute morgen im Hinblick auf den Altbundeskanzler Adenauer gemacht hat.
({1})
Was zu den atomaren Dingen zu sagen ist, das möchte ich im Zusammenhang sehen. Wir wären besonders interessiert, Herr Kollege Mende, die Vorschläge, die Sie angedeutet haben, zu vermehrter friedlicher Zusammenarbeit zwischen Ost und West, z. B. auf dem Gebiet des Luftraumes, konkreter zu kennen, weil ich den Eindruck habe, da könnte etwas drin sein. Das war ganz interessant.
Dagegen möchte ich mich in einem anderen Punkt sehr kritisch äußern. Sie haben davon gesprochen, die Sowjetunion habe ein Sicherheitstrauma gegenüber Deutschland. Dafür haben Sie Verständnis gezeigt. Nun, gut. Aber dann haben Sie unsere Sicherheitsprobleme gleichfalls als Trauma bezeichnet. Das muß ich zurückweisen, denn dies ist Realität, meine Damen und Herren!
({2})
Auf uns sind atomare Raketen gerichtet. Die Mauer steht in Berlin. Dies ist kein Trauma, dies ist Realität!
({3})
- Ist die Mauer keine Realität, Herr Rutschke?
({4})
- Also!
Was die Reise nach Moskau betrifft, so bin ich ein bißchen über die Darstellung betrübt, die Sie, Herr Kollege Mende, über unsere Einlassung gegeben haben. Wir haben doch in der alten Koalition drei-, vier-, fünf-, sechsmal darüber gesprochen und Sie kennen unsere Position. Wir sind dafür, daß einzelne Kollegen dieses Hauses möglichst oft und möglichst viel - und viele haben davon Gebrauch gemacht - in die Länder Ost- und Mitteleuropas, einschließlich Moskau, fahren, um Kontakte zu pflegen. Wir sind dagegen, daß jetzt eine Delegation auf Grund einer Einladung reist, die uns erreicht hat, als wir davor standen, ja oder nein zur Wehrpflicht zu sagen. Dies ist unsere Position, und dies bleibt unsere Position. Wenn die Sowjetunion am Gespräch mit uns interessiert ist, dann soll sie sich zunächst auf das .Gespräch einlassen, daß diese Bundesregierung, wie jeder weiß, doch sucht. Hier braucht man niemanden zu treiben, vor allen Dingen nicht dann, wenn man die Regierungserklärung gelesen hat.
Herr Kollege Mende, ich stimme zu - wir wollen dies noch einmal sagen, und das erspart vielleicht auch manches andere -, wenn Sie an die Adresse Polens gesagt haben, daß man Grenzfragen nur in einem Friedensvertrag regeln kann. Diese Position ist bei uns unverändert. Aber wir fügen dies hinzu - ich hoffe, Sie werden mir insoweit zustimmen -: Wer Grenzfragen regeln will, der muß auch eine Ordnung schaffen, die das trägt. Eine Ordnung, die das trägt, gibt es nur mit der Zustimmung der Völker. Das ist eine wichtige Argumentation für diese Sache.
({5})
Ich will den Streit hinsichtlich der diplomatischen Beziehungen zu Bukarest, den wir durch Zwischenfragen haben klären können, hier noch einmal aufnehmen. Herr Kollege Mende, Sie wissen so gut wie jeder andere hier im Hause, daß die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ebenso wie die gemeinsame Bundesregierung die Aufnahme solcher Beziehungen -für wünschenswert hält. Sie wissen, daß wir uns eben darum bemühen und daß wir dies tun werden, falls keine unannehmbaren Bedingungen gestellt werden, falls sich keine unerwünschten Rückwirkungen ergeben. Sie wissen, daß wir den Zusammenhang dieser Dinge sehen. Wir halten es zum Beispiel für sehr klug, daß die Bundesregierung zunächst nach Paris geht, um mit dem Rückhalt von europäischen und atlantischen Partnern in solche Gespräche einzutreten. Das halten wir für eine vernünftige Sache.
({6})
Wenn man das dann noch differenziert betrachtet, dann ist die Sache in Ordnung.
Als letztes: Ich will nicht zum Anerkennungsproblem sprechen, Herr Kollege Mende. Wir unterstützen, was die Bundesregierung hierzu sagte, daß man alles vermeiden muß, was Eindrücke erwecken könnte. Aber in einem frage ich mich: Sie haben hier etwas zitiert, und ich war wegen der gleichzeitigen Besprechung im Ältestenrat nicht ganz Ohr, sondern nur halbes Ohr. Herr Kollege Mende, habe ich richtig gehört, daß Sie aus dem Papier vom Sommer 1963 vorgelesen haben?
({7})
- Es erweckte den Eindruck. - Dann brauchen wir darüber nicht zu sprechen, denn dieses Papier hat noch einen besonderen Charakter, und daß es mir besonders vertraut ist, ist Ihnen bekannt. Ich kann das Thema dann stehenlassen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe dann, daß es möglich sein wird, im Hinblick auf die Terminnot und die Planungen, die wir sonst vor uns haben, mit dieser Debatte zu Ende zu kommen. Diese Debatte kann nicht alles behandeln. Wir haben das letzte Mal vier Tage über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Erhard debattiert. Ich glaube, wenn man eine neue Regierung hat, ist es besser, sich möglichst bald den konkreten Dingen zuzuwenden, an denen es sich dann ja zeigen wird.
({8})
Deshalb, und nicht um irgend etwas abzuwürgen, sind wir bereit, diese Debatte zu Ende zu führen, falls nicht jemand das unüberwindbare Bedürfnis hat, jetzt hier noch zu sprechen. Dann kann es unsertwegen morgen weitergehen.
Nun, meine Damen und Herren, wir wissen, daß in dieser Debatte einige Bereiche nicht genügend berührt worden sind. Wenn ich jetzt zur Form dieser Debatte versuchen sollte, ein Urteil zu geben, so müßte ich sagen: Ich selbst bin meines Urteils jetzt nicht ganz gewiß.
({9})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Sofort, ich will dies nur zu Ende führen, Herr Kollege Mende. - Ich glaube nämlich, daß wir alle miteinander erneut den Vorsatz fassen sollten, kürzer zu sprechen,
({0})
prägnanter sprechen sollten, wir alle miteinander, und davon lernen sollten, daß das Wort Debatte, wie Sie zurufen, Herr Ritz, von debattieren und nicht von deklamieren komt.
({1})
Ich glaube, daß dies ein Vorsatz für uns alle ist. Bitte, Herr Kollege Mende!
Herr Kollege Barzel, ist Ihnen bewußt - um jetzt das wieder aufzugreifen -, daß ich in diesen zwei Tagen hier überhaupt zum erstenDr. Mende
mal etwas in der Debatte gesagt habe? Ist Ihnen zum zweiten bewußt, daß wir am 27. Januar 1959 als Freie Demokratische Partei Grundrisse einer friedensvertraglichen Regelung für Deutschland veröffentlicht haben? Aus diesen habe ich zitiert. Das nur, damit kein Mißverständnis bezüglich Ihrer Frage entstehen kann.
Ich bedanke mich für diese Klarstellung, Herr Kollege Mende. Mir war klar, daß Sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder als Abgeordneter hier sprachen. Weil ich das Vergnügen haben wollte, Ihnen antworten und mit Ihnen debattieren zu können, habe ich Ihnen, wie Sie wissen, den Vortritt gelassen, obwohl ich vor Ihnen auf der Rednerliste stand. Ich bedanke mich für die sachliche Klarstellung.
Man sollte zur Debatte noch ein anderes klarstellen. Nach Bildung der Großen Koalition - hierzu hat der Bundeskanzler viel Gutes gesagt, ich brauche das nicht zu wiederholen - darf man festhalten, daß es so bleibt, daß in diesem Hause jeder einzelne Abgeordnete nach wie vor nur dem Art. 38 unterworfen ist, daß jeder einzelne Abgeordnete durch die besseren Argumente und auch durch die Sachgerechtigkeit der Vorlagen überzeugt sein will. Allein dies wird der Weg sein, hier rechtzeitig Majoritätsbeschlüsse zustande zu bringen.
Nun, meine Damen und Herren, zu wenigen Sachpunkten, die wir am Schluß dieser Debatte festhalten möchten. Meinen ersten Punkt sage ich eigentlich im wesentlichen mit dem Blick auf die Bundesregierung und die Kollegen, die in der Bundesregierung auf dem ökonomischen Gebiet insgesamt tätig sind, und im Interesse dieser Bundesregierung; denn dieses Parlament tritt nun vier Wochen nicht zusammen, das Leben aber und die wirtschaftliche Entwicklung gehen weiter. Wir haben ja gestern abend auch von dem Herrn Bundeswirtschaftsminister ein paar Daten gehört und wir haben erfahren, was die Bundesbank gestern beschlossen hat. So sollte niemand, wo immer er sei, die Tatsache, daß dieses Haus vier Wochen lang keine Beschlüsse fassen wird oder wird fassen können, zum Anlaß nehmen, irgendwelche Entscheidungen nicht zu treffen; denn wenn auch immer diese Debatte zu den ökonomischen Dingen - vorsichtig gesagt - nicht ganz einheitlich und nicht ganz übersichtlich war, so ist doch die Gefahr von zwei Einbahnstraßen zwischen der Politik der Bundesregierung und der der Notenbank, die sich andeutete, offensichtlich überwunden durch das, was gestern abend der Bundeswirtschaftsminister Auflockerung nannte. Wir wollen ihm helfen, daß niemand sagen kann: Weil dieses Haus nicht tagen konnte, ist dies oder jenes nicht möglich. Deshalb erkläre ich hier in aller Form für unsere Fraktion trotz der späten Stunde - und ich tue dies nach einem Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler und auch mit dem Kollegen Schmidt, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion -:
Erstens. Wir wollen und wir werden im neuen Jahr das Stabilitätsgesetz verabschieden.
({0}) - Alle, die das interessiert, sollen zur Kenntnis nehmen, daß das ganze Haus an dieser Stelle Beifall geklatscht hat.
Zweitens. Wir sind zum konjunkturgerechten Haushaltsausgleich bereit. Wir erwarten den Vorschlag der Bundesregierung, der uns angekündigt worden ist, alsbald. Wir wünschen, die Dinge so zügig wie nur möglich zu erledigen. Wir haben gestern erklärt und sagen dies am Schluß der Debatte nochmals mit Blick auf diese Entwicklungen: Wir sind bereit, den Rotstift anzusetzen. Unsere Reihenfolge bleibt: 1. Sparen und Streichen, 2. Abbau von Vorteilen und Vergünstigungen und 3. nur notfalls Erhöhung von Verbrauchsteuern. Auch dies sollten die zur Kenntnis nehmen, die nun weiterzuarbeiten haben.
({1})
- Herr Rutschke, bleiben Sie erst mal bei dem, was wirklich passiert ist. Wir haben ja privat noch ein Hühnchen zu rupfen hinsichtlich der falschen Behauptung, die Sie draußen mit Ihrem Namen gegen mich persönlich aufgestellt haben.
Zum dritten - lassen Sie mich diese Erklärung für unsere Fraktion in aller Ruhe hier abgeben -: Wir bitten die Bundesregierung, die, wie wir hören, nächste Woche mit den Ministerpräsidenten der Länder sprechen wird, dabei nicht nur über das Beteiligungsverhältnis, sondern auch über die Volumina der Landeshaushalte und über das Problem der Zurückhaltung der öffentlichen Hände insgesamt auf dem Kapitalmarkt zu sprechen.
Wer diese drei Punkte sieht, meine Damen und Herren, und sieht, daß sie sich auf die Erklärung der stärksten Fraktion dieses Hauses gründen, wird sich nicht hinter Vorwänden verstecken können, wenn er in der einen oder in der anderen Weise versuchen wird, zu handeln oder Entwicklungen zu beeinflussen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Nein, Herrn Kollegen Rutschke kann ich eine Frage nicht erlauben, bevor nicht die Dinge persönlich bereinigt sind.
({0})
Der zweite Punkt, zu dem ich mich noch einmal äußern möchte - weil dies wichtig war -, ist die Frage des Wahlrechts. Hier sind im wesentlichen zwei Punkte zu nennen - ich will nicht die ganze Debatte aufgreifen -:
Ich habe heute morgen, wie ich inzwischen gesehen habe, versäumt, auch noch unsere Freunde in anderen christlich-demokratischen Gruppen in der Welt gegen die Angriffe des Herrn Kollegen Dehler in Schutz zu nehmen. Wenn der Kollege Dehler den Eindruck erweckt hat, daß z. B. die uns befreundete MRP aus Herrn Pétain hervorgegangen sei, dann bitte ich ihn, auch das zu überprüfen und nicht solche internationalen Beleidigungen stehenzulassen. Meine Damen und Herren, er möge sich
einmal mit Don Sturzo befassen und damit beschäftigen, wo Herr Bidault, wo Maurice Schuman und viele andere von der christlich-demokratischen Idee waren und was sie in der schweren Zeit in Europa getan haben. Sie waren damals in der Emigration und im Widerstand, meine Damen und Herren. Solche Unterstellungen wollen wir auch gegenüber unseren Freunden im Ausland und gerade gegenüber denen, die nicht mehr unter uns sind, zurücknehmen.
({1})
Zur Sache selbst: Wir legen Wert auf die Feststellung: Über die Wahlrechtsfragen, sowohl was das Übergangswahlrecht wie was die endgültige Lösung betrifft, wird noch viel diskutiert werden müssen. Es wird auch bei uns - und das ist, glaube ich, wichtig festzuhalten - nur eine Entscheidung geben können, die jeder nach seinem eigenen Gewissen trifft. Ich lege noch einmal Wert darauf, zu sagen, daß wir auch dies nicht übers Knie brechen wollen. Wir haben ja schon gestern diese Problematik in den Zusammenhang aller großen Reformen gestellt.
Ich möchte für unsere Fraktion noch einmal wiederholen, daß wir Wert darauf legen, alle diese großen Reformen, die das Grundgesetz betreffen, möglichst zusammenhängend auf einmal vorzulegen, und daß es gestern unser Wunsch hier war - ich zitiere -, an dieser Reformgesetzgebung in geeigneter Weise alle interessierten Staatsbürger zu beteiligen und bewußt die breite öffentliche Diskussion zu suchen. Dies gilt auch für die Frage des Wahlrechts; auch hier ist kein Anlaß für irgendwelche Heimlichkeiten.
Der dritte Punkt ist die atomare Frage. Ich kann mich hierzu etwas kürzer fassen im Hinblick auf das, was der Herr Bundesminister des Auswärtigen hier soeben gesagt hat. Er hat in seinem Bericht - auf den ich gleich komme - zu unserer Freude von den gemeinsamen Interessen von nichtatomaren - gemeint sind die militärisch nichtatomaren - Staaten gesprochen, und er hat von der Notwendigkeit der Optionen gesprochen. Dies war eine für uns bedeutende und wichtige Mitteilung und Klarstellung.
Wir möchten hier noch einmal eins ganz klar sagen. Wir haben uns gestern darauf beschränkt, auf frühere Erklärungen Bezug zu nehmen und zu sagen: wir stimmen weiter dem zu, was das Monnet-Komitee gesagt hat. Ürigens eine Erklärung, Herr Kollege Mende, der auch Sie im Mai vorigen Jahres zugestimmt haben; ich hoffe, das gilt fort, denn dann hätten wir insoweit in einer wichtigen Frage Einmütigkeit im ganzen Hause.
Warum legen wir solchen Wert darauf, das aufrechtzuerhalten, was man in der Fachsprache, die kaum jemand draußen im Lande übersetzen kann, europäische und atlantische Optionen nennt? Wir legen Wert darauf, damit nicht eines Tages eine Situation eintritt, in der es bei der Realisierung großer Perspektiven, sei es der europäischen Einigung, sei es der atlantischen Partnerschaft, nicht möglich ist, zu diesen Lösungen zu kommen, weil die Deutschen vorher auf Rechte verzichtet haben. Es darf keine europäische und keine atlantische Lösung daran scheitern, daß die Deutschen nicht mehr in der Lage sind, sich an solchen multilateralen Dingen zu beteiligen. Dies ist auch in der Ziffer 8 der Beschlüsse des Monnet-Komitees enthalten. Ich will der Zeit wegen darauf verzichten, sie jetzt hier vorzulesen.
Ich möchte aber noch etwas anderes in die Debatte einführen und das kurz durch ein Zitat machen. Wir legen Wert darauf, daß in dieser atomaren Debatte der wichtige Gedanke der Friedensnote der Bundesregierung nicht untergeht. Denn in dieser Friedensnote ist ein, wie wir nach wie vor glauben, vorzüglicher Vorschlag zu diesen Dingen enthalten. Ich zitiere - mit der Erlaubnis des Präsidenten - aus der Friedensnote der Bundesregierung Erhard vom März 1966:
Die Bundesregierung ist sich der Gefahren bewußt, die mit einer Weiterverbreitung der Atomwaffen verbunden sind. Wenn eine umfassende Regelung des Nichtverbreitungsproblems sich als zu schwierig erweist, hält es die Bundesregierung für ratsam, schrittweise vorzugehen. Offensichtlich gibt es für einen Staat nur zwei Möglichkeiten, in den Besitz von Kernwaffen zu kommen: entweder diese Waffen selbst zu produzieren oder sie von einer Atommacht zu erhalten. Beide Möglichkeiten sollten ausgeschlossen werden.
Was die erste Möglichkeit betrifft, so hat die Bundesrepublik Deutschland - wie erwähnt -schon im Jahre 1954 auf die Herstellung atomarer Waffen verzichtet und sich insoweit einer internationalen Kontrolle unterworfen. Darauf aufbauend appelliert die Bundesregierung an alle Nicht-Nuklear-Staaten, die Militärallianzen in Ost und West angehören, den gleichen Verzieht auszusprechen und sich einer entsprechenden internationalen Kontrolle zu unterwerfen. Weitere Schritte, die allianzfreien Staaten betreffend, sollten hinzukommen.
Um auch die zweite Möglichkeit der Verbreitung von Kernwaffen auszuschalten, regt die Bundesregierung an, daß die Nuklear-Mächte übereinkommen, keine Kernwaffen in die nationale Kontrolle anderer Länder zu geben.
Es schien uns wichtig, diesen Hinweis in die Erinnerung zu rufen, weil dies eine gute Position auch für die internationale Diskussion ist.
Erlauben Sie mir, bevor ich zum Schluß komme, ein paar Worte zu dem Bericht und der Rede zu sagen, die der Bundesminister des Auswärtigen heute, zum ersten Male in dieser Eigenschaft in diesem Hause sprechend, gegeben hat. Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Brandt, in aller Form unseren Dank sagen für diesen aktuellen Bericht, der konkret, präzise und substantiiert war.
({2})
Ich möchte für uns, damit wir auch hier gleich die Gelegenheit benutzen, zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen, zu einigen Punkten Ihres Berichts - es sind nicht sehr viele - sofort etwas sagen,
Zunächst zu Ihrem Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten: Wir finden es gut, daß Sie gleich da waren, wir finden Ihre Mitteilungen erfreulich, und wir danken für diese Mitteilungen. Bevor dieser Bundestag wieder zusammentritt, wird, wenn es so bleibt wie verabredet, auch der Herr Bundeskanzler zum erstenmal in Paris sein und dem französischen Staatspräsidenten einen Besuch machen. Der Bundeskanzler - der jetzt verhindert ist - darf davon überzeugt sein, daß ihn die besten Wünsche der Bundestagsfraktion der CDU/CSU auf dieser Reise, von der wir viel erwarten - kein Wunder, aber doch ein neues Klima und eine neue Vorbereitung für etwas mehr -, begleiten.
({3})
Ich glaube, meine Damen und Herren, es ist gut, wenn der französische Staatspräsident - ja, ich möchte hinzufügen: ganz Paris, weil es da noch ein paar andere gibt - zur Kenntnis nimmt, daß dieses ganze Haus hinter diesen erneuten Bemühungen steht und die Hoffnung unterstützt, Paris und Bonn möchten wieder aufeinander zugehen.
({4})
Zum zweiten: Wir freuen uns, Herr Außenminister, daß Sie mitteilen konnten, daß die französischen Truppen in Deutschland bleiben werden. Dies ist eine gute Nachricht.
Zum dritten: Wir begrüßen auch unsererseits, was Sie hinsichtlich der Haltung des Herrn britischen Außenministers mitgeteilt haben. Er hat sich in der Tat in den letzten Wochen in besonderer Weise in der Offentlichkeit zugunsten der deutschen Demokratie verwandt. Wir sind auch glücklich darüber, daß Sie selbst den technologischen Punkt für so wichtig hielten, daß Sie ihn hier und auch in der WEU angesprochen haben. Sie dürfen davon ausgehen, Herr Außenminister, daß dieser Punkt in der Bundestagsfraktion der CDU/CSU von besonderem Interesse ist, weil wir ihn für von hohem Rang und zukunftsträchtiger Bedeutung halten. Wir würden gern diese Fragen zusammen mit Ihnen und dem Kollegen Stoltenberg noch näher erörtern.
Was die NATO betrifft, so ist dazu, glaube ich, noch nichts zu sagen. Man muß erst die Beschlüsse lesen.
Zu einem anderen Punkt möchte ich Ihnen aber noch ausdrücklich sagen, daß wir über die Formel glücklich waren, die Sie hier gefunden haben, weil wir darin eine Aussage sahen. Sie sagten zu dem Problem Ost- und Mitteleuropa - einem Problem das wir hier eben erörtert haben -, daß die Betonung hier mehr auf der Versöhnung liege als auf der formellen Normalisierung. Das fanden wir eine sehr gute Formulierung, weil sie an die Völker denkt und weil sie die richtige Rangordnung gibt. Das ist ein wichtiger und guter Akzent. Wir glauben, daß dazu insbesondere der Ausbau der kulturellen Beziehungen führen könnte. Es ist nötig, das wirkliche, das humanitäre Deutschland in diesen Ländern zu vertreten.
Was dann zur deutschen Frage und sicher auch zu den Fragen Berlins - daß Sie auch diese Fragen dort angesprochen haben, dessen bin ich sicher - gesagt worden ist, werden wir sicherlich noch im einzelnen hören können, sei es in den Ausschüssen, sei es, wenn wir uns um neue Deutschlandgespräche bemühen.
Uns hat interessiert, auch aus Ihrem Munde zu hören - wir hatten selbst den Eindruck, aber Sie haben mehr Quellen und Informationen -, daß die Beurteilung der neuen Bundesregierung und ihrer Politik durch die Ulbricht-Gruppe in Pankow sich völlig mit der Beurteilung deckt, die Rotchina uns zuteil werden läßt. Wir wollen dies mit Ihnen festhalten und daran die Bitte knüpfen, daß Moskau auch vor diesem Hintergrund seine Mitteleuropapolitik überprüfen möge. Das wäre, glaube ich, sehr gut.
Für das, was Sie zu Lateinamerika und zur arabischen Welt gesagt haben, sind wir Ihnen dankbar.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Der Bundeskanzler hat diese Debatte zusammengefaßt. Wir fanden, daß das gut war. Wir sind froh, daß es gelang, eine Regierungserklärung abzugeben, zur Debatte zu stellen, die insgesamt hier im Hause und auch draußen im Volk wie in der Welt gut aufgenommen worden ist. Aber die wirkliche Arbeit beginnt erst jetzt. Auch unsere wirkliche Aneinandergewöhnung beginnt erst jetzt, wenn es darum geht, konkrete Dinge daraus zu machen und einen Stil der Zusammenarbeit zu finden. Meine Damen und Herren, das endgültige Urteil über das Parlament mit Großer Koalition kann man nicht heute fällen, das wird man frühestens zu Beginn der Sommerferien ahnen können, wenn wir bei der praktischen Arbeit sind.
Wir beglückwünschen den Herrn Bundeskanzler auch am Schluß dieser Debatte zu diesem Erfolg, und wir sagen der ganzen Regierung und allen ihren Mitgliedern unsere Unterstützung zu. Dies heißt aber auch, daß unser Rat, auch unser kritischer Rat erhalten bleibt, gerade dann, wenn es schwierig wird. Die neue Bundesregierung kann sich auf die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlassen.
({5})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind in diesem Teil der Debatte einige Fragen gestellt und einige Bemerkungen gemacht worden, die sich direkt an die Adresse des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen richten; diese möchte ich jetzt kurz behandeln.
Der Herr Kollege Dr. Mende hat die Frage gestellt, was denn eigentlich der Satz sagen wolle und solle, der in der Regierungserklärung lautet:
Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.
Er hat, um die Eindringlichkeit seiner Frage zu untermalen, gefragt, ob das denn ein NeckermannKatalog sei. Wer - und dafür mag natürlich eine Erklärung sein, daß die Debatte schon geraume Zeit Geduld erfordert - diesen Satz näher umschrieben wissen möchte, der möge doch bitte nicht daran vorbeigehen, daß es der abschließende Satz jenes Teiles in der Regierungserklärung ist, der beginnt:
Wir sind unseren Verbündeteten dafür dankbar, daß sie unseren Standpunkt in der Frage unseres geteilten Volkes und seines Rechtes auf Selbstbestimmung unterstützen. Die politischen Gegebenheiten
- heißt es dann haben die Wiedervereinigung unseres Volkes bisher verhindert. Und noch ist nicht abzusehen, wann sie gelingen wird. Auch in dieser für unser Volk so entscheidend wichtigen Frage geht es uns um Frieden und Verständigung. Wir sind keine leichtfertigen Unruhestifter, denn wir wollen ja gerade den Unruheherd der deutschen Teilung, die ja auch eine europäische Teilung ist, durch friedliche Verständigung beseitigen und unserem Volk seinen Frieden mit sich und mit der Welt wiedergeben.
Und dann sagen wir in dieser Regierungserklärung weiter:
Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen.
Wir betonen dazu - und wir wollen dabei auch das Ohr der Menschen in dem von uns losgelösten Teile Deutschlands finden, soweit das geht -:
Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands, die sich nicht frei entscheiden können, bevormunden wollen. Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben. Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern.
Dann kommen wir zu den Feststellungen:
Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir werden diese Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, daß in der Weltmeinung nicht der Eindruck erweckt werden kann, als rückten wir von unserem Rechtsstandpunkt ab.
Dann haben wir betont, daß die Bundesregierung
um die Ausweitung des innerdeutschen Handels,
der kein Außenhandel ist, bemüht ist, daß sie dabei auch eine Aufweitung der Kreditmöglichkeiten anstreben und gewisse organisatorische Maßnahmen zur Verstärkung der innerdeutschen Kontakte ins Auge fassen wird.
Es geht weiter:
Die Bundesregierung wird alles tun, um die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu erhalten, und gemeinsam mit dem Senat und den Schutzmächten prüfen, wie die Wirtschaft Berlins und seine Stellung in unserem Rechtsgefüge gefestigt werden können.
Nun, Herr Kollege Dr. Mende, kommt jener Satz, an dem Sie Ihre Frage aufgerankt haben, nämlich als Abschluß dieses Teils:
Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.
Ich nehme an, es ist eine gewisse Bitternis. die Sie zu diesem eigentümlichen Vergleich mit einem Neckermann-Katalog geführt hat.
({0})
Aber ich wollte Ihnen damit sagen - deshalb bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie alle genötigt habe -- ({1})
- Ich weiß, ich komme noch auf Wortspiele, Herr Kollege. Ganz so fremd sind mir die ja nicht. Ich möchte nur sagen: Dies ist kein Katalog und dies ist allerdings auch keine Aufzählung. Ich vertrete hier mit dem Herrn Bundeskanzler die Auffassung, daß es klug ist, daß es richtig und daß es notwendig ist, statt mit Aufzählungen und Ankündigungen aufzuwarten, die Tendenz deutlich und unmißverständlich zu machen und diese Tendenz geduldig in der Beharrlichkeit durchzuhalten. Ih diesem Punkt werden wir Sie nicht enttäuschen.
({2})
Dann haben Sie gefragt, Herr Kollege Dr. Mende, der Sie eine gewisse Erfahrung haben sollten, wie es mit Fragen solcher Art ist, ob denn - dann kam es sehr schnell - die gesamtdeutschen technischen Kontakte in dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen koordiniert würden und ob, und ob usw. Ich möchte Ihnen da ganz schlicht sagen,. Herr Kollege Dr. Mende: In drei Wochen kann jedenfalls ich, falls ich es wollte, nicht erreichen, was Sie in drei Jahren nicht erreicht haben,
({3})
obwohl für einiges, was Sie jetzt so feurig gefragt
haben, Ihnen die damalige parlamentarische Opposition ihre Unterstützung angeboten und angetragen
hat, von der Sie damals nicht Gebrauch gemacht haben.
({4})
Ich habe nie gehört, daß Sie sich in Unbequemlichkeiten gestürzt haben, wegen einiger der Fragen, die Sie jetzt, so frisch in der Opposition, an die, die so frisch in der Regierung sind, stellen.
({5})
Aber haben Sie da ein wenig Geduld. Wir werden ja wohl bald wieder darüber sprechen, ich denke, bald nach den Feiertagen, wenn sich dieses Haus damit befaßt haben wird, wie es mit dem sozialdemokratischen Antrag steht, daß die Bundesregierung zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Bericht über die Lage der Nation vortragen und damit Gelegenheit geben soll - nicht Kataloge und nicht Enumerationen, nicht die Frage: welche Ebene? hier zu einer Philosophie zu verdichten -, deutlich zu machen, wie wir es auffassen, daß wir auch im Sinne derer sprechen, die von uns getrennt leben müssen, und was wir tun, das heißt, was wir zu tun versuchen, um das Zusammengehören mit ihnen zu verstärken.
Hier ist dann die Frage eines Streites um Nomenklaturen hereingebracht worden.
Ich kann nicht anders als Ihnen versichern, daß ich Ihnen dafür sehr dankbar bin, nicht für das, was Sie darüber gesagt haben, wie Sie diesem Streit entgangen seien, sondern dafür, daß Sie diese Frage aufgebracht haben. Ich möchte hier ganz eindeutig sagen: Ich denke nicht daran, daß es die Aufgabe eines Ministers für gesamtdeutsche Fragen sein kann, Sprachregelungen verfügen zu wollen oder sich in Sprachregelungen oder Auslegungen zu ergehen. Die sowjetisch besetzte Seite Deutschlands, der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands, ist auch hinsichtlich dessen, wie wir mit den Gefühlen der Menschen, die dort leben, umgehen sollen, wollen und 'dürfen, ein Problem. Es ist der sowjetisch besetzte Teil. Ich habe nie zu denen gehört, Herr Kollege Dr. Mende, die wie Sie und andere im letzten Jahre plötzlich nervös geworden sind angesichts eines - wie Sie es immer gesagt haben - dort wachsenden Staatsbewußtseins und Staatsgefühls. Ich habe das immer anders gesehen, und ich denke nicht daran, mich in solche Philosophien hineinjagen und mich irritieren zu lassen.
Aber - und da haben Sie meinen Standpunkt, damit Sie wissen, wo Sie mich in Zukunft und auch jetzt zu suchen haben -: Ich bin der Meinung, daß jener Teil Deutschlands, der sowjetisch besetzt ist und in dem und auf dem - weil es so ist - ein Machgebilde hat entwickelt werden können, das sogar sein Ansehen in der Welt zu vertreten versucht, glaubt, er solle und müsse als zweiter deutscher Staat behandelt werden. Dieser sowjetisch besetzte Teil Deutschlands bedarf natürlich auch hinsichtlich dessen, wie wir in der Sprache mit ihm umgehen, unserer besonderen Aufmerksamkeit. Meine Regel ist die: Sie werden bei mir unverändert in allen meinen Darlegungen nur das finden, was die stets gleichbleibende Beharrlichkeit, den Menschen dort zu helfen - soweit wir das können -, betrifft. Bezeichnungen für den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands sind bei mir und sicher bei vielen anderen Menschen, die soviel damit zu tun haben, wie ich es leider habe, auswechselbar, nicht aus Opportunitätsgründen - das möchte ich ausdrücklich betonen - auswechselbar, weil ich vermeiden möchte, daß Bezeichnungen wie eine Abstempelung empfunden werden und daß sie selbst allmählich auch wie bloße Stempel gebraucht werden. Das ist das einzige, was ich dafür als Maßstab habe.
Ich sage: Ich beabsichtige keine Abstempelungen, weil Abstempelungen oft eine Kränkung zur Folge haben bzw. weil mit ihnen oft eine Kränkung einhergeht, nämlich die Kränkung von Menschen, die zwar gar nicht betroffen werden sollen durch eine sachgerechte Bezeichnung in diesem Falle, daß es sich also dort um die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands handelt, daß es der sowjetisch besetzte Teil ist. Diese Menschen aber sind, wie man es bemerken kann, empfindlich geworden, und zwar aus völlig anderen Gründen, als sie etwa den dortigen Machthabern gefallen oder als sie von den dortigen Machthabern entwickelt werden könnten.
Selbst Bezeichnungen aus unserem Mund, die, wie man so sagt, nur das Regime treffen sollen, führen mitunter zur Kränkung solcher, die nun nicht mit dem Regime identifiziert werden wollen. Ich weiß, daß es bestimmte Nomenklaturen gibt, und ich habe auch nichts dagegen, daß sie für gewisse Zwecke als unentbehrlich erachtet werden. Aber ich finde nicht, daß der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen sozusagen der „Nomenklatur-Einhalte-Obermeister" sein muß.
({6})
Nun hat sich dieser Streit - soweit das ein Streit genannt werden darf - an etwas entzündet, das mir in einer Zeitung sogar die Überschrift eingebracht hat: Vorstoß Wehners. Nun, soll das schon ein Vorstoß sein, wenn ich in einem Interview, in dem für den, der es mit nur ein wenig Aufmerksamkeit liest, klar sein muß, daß hier Behauptungen über unsere Absichten, die wir als Bundesrepublik mit unserer Wiedervereinigungspolitik hätten, zurückgestoßen werden, und zwar denen in den Rachen, die sie ausstoßen, damit sie sich dort selbst in ihrem Bereich damit auseinanderzusetzen haben, sage, daß wir eben nicht, wenn wir von Wiedervereinigung reden, an Annexion denken, wenn ich sage, daß wir eben nicht, wenn wir an Zusammenleben denken, darauf aus sind, anderen etwas aufzuzwingen, was wir für gut halten, daß wir aber ganz bestimmte Normen - nicht Nomenklaturen-haben, die Normen nämlich für eine freiheitlichdemokratische Ordnung, ohne die es keine - ich betone keine - Überprüfung des rechtmäßigen und zu rechtfertigenden Standpunkte gibt, daß wir dieses Regime nicht als das anerkennen können, was die dort gern wollen und für was die gern anerkannt sein wollen.
Das alles ist für den, der es lesen und nicht von vornherein anders ausdeuten will, ganz klar. Ich habe es mir vorhin zusammengerechnet: In diesem Artikel, in diesem Interview gab es siebzehnmal An3874
laß, den anderen Teil Deutschlands und seine Bewohner zu definieren. Davon wurde das Wort DDR dreimal in folgenden Verbindungen gebraucht: „die DDR-Regierung, dann noch einmal DDR-Regierung, dann in der Zusammensetzung Bundesrepublik und DDR", nämlich als Formel der sowjetzonalen Seite, die behauptet, daß die Bundesrepublik und die DDR angeblich gegeneinander den Klassenkampf zu führen haben. So dumm, meine Herren, bin ich nicht, wie ich aussehen mag.
({7})
Ich wende das Wort nur dort an, wo ich es für dumm hielte, daß man, wenn man die drüben zitiert, plötzlich unsere Nomenklatur in deren Zitate hineingibt. Da wundern sich schon viele Rundfunkhörer und Fernsehzuschauer, wie es kommt, daß plötzlich, wenn die drüben von ihrer DDR reden - sie sagen ja DDR - wir in unserer Wiedergabe von ihrer Sowjetzone reden. Aber das machen Sie bitte mit denen aus, die bei uns dirigieren. Ich jedenfalls habe das in meinem Interview so gehalten: Vierzehnmal habe ich variiert und dreimal dort, wo es auf die drüben selbst und deren Definition ankam, nicht sehr gern, aber doch der Klarheit wegen, in dieser Verbindung „DDR-Regierung" gesagt.
Sollte ich damit über Gebühr Reklame für ein Interview gemacht haben, so bitte ich um Entschuldigung. Aber weil es so wichtig genommen wurde, das hier in die Debatte über die Regierungserklärung hineinzubringen, bin ich wohl entschuldigt, wenn ich darauf geantwortet habe.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Herr Kollege Dr. Mende, Sie haben hier - ich will das nicht rügen, aber es ist wohl eine Bemerkung an die Adresse dieses Ministers und an die Adresse der Regierung gewesen, der er anzugehören die Ehre hat -, von gesamtdeutschem Realismus gesprochen und ihre Feststellung damit illustriert, daß Sie die Passierscheinregelungen in den Jahren 1963, 1964 und 1965 möglich gemacht haben wollen. Ich gebe jedem den Anteil, den er an diesem schwierigen, in vieler Hinsicht besonders schwierigen Unternehmen hatte. Ich rede über meinen Anteil gar nicht. Ich möchte nur sagen, Herr Kollege Mende, und deswegen spreche ich darüber: Wenn es 1963, 1964 und 1965 dem Senat von Berlin gelungen ist, im Einvernehmen mit der Bundesregierung diese Regelungen zu erwirken und wirksam werden zu lassen, und wenn es im Jahre 1966, was ja noch nicht letztgültig entschieden ist, zum Unterschied von den genannten drei Jahren nicht möglich sein sollte - dies wäre für niemand ein Grund zum Triumph und schon gar nicht für häßliche Auseinandersetzungen darüber, ob und warum das nun nicht möglich ist.
({8})
Natürlich kommt einmal die Zeit, in der man über alle diese Fragen - unter dem Strich der Bilanz - wird reden müssen, und in der man wird wägen müssen. Das ist unvermeidlich. Aber hier appelliere ich an nichts anderes als an das Taktgefühl, wenn hierbei schon nichts anderes etwas gilt,
({9}) daß man nicht einige Tage vor dem Zeitpunkt in dieser Art - seht mich an! - über diese noch nicht gelöste Frage spricht. Ich möchte Ihnen sagen, selbst wenn man feststellen müßte, daß es jetzt zu spät sei, noch auf etwas- zu hoffen oder etwas zu bewirken: eines ist sicher, Herr Kollege Dr. Mende: Das, was die Vorgängerin unserer Bundesregierung zu tun hatte, das hat sie doch getan, nicht wahr? Das hat sie doch getan. Und die gegenwärtige Bundesregierung ist bisher nicht befaßt worden und konnte auch nicht befaßt werden mit dem, was die Vorgängerin der Bundesregierung von heute im Benehmen mit dem Berliner Senat und nach der Kleiderordnung, die da mit Recht herrschte, getan hat. Ich würde da sehr behutsam sein, der Sache wegen, Herr Kollege Dr. Mende, das Themas wegen und der schwachen - zugegeben schwachen - Hoffnung wegen, daß vielleicht doch noch, wie auch immer, etwas geschehen könnte. Das jedenfalls hielte ich, wenn nichts anderes dabei zu sagen wäre, für zweckmäßig. Entschuldigen Sie dieses harte Wort. Das also zu den Fragen und Bemerkungen, die hier gemacht worden sind.
Ich danke für Ihre Geduld.
({10})
Meine Damen und Herren, ich darf dem Haus bekanntgeben, daß folgende Abgeordnete ihre Reden zu Protokoll geben: Dr. Gerhard Jungmann, William Borm, Dr. Staratzke, Dr. Czaja.
({0})
Ich möchte hinzufügen: der amtierende Präsident gibt selber eine Rede zu Protokoll, die er heute morgen nicht halten konnte.
({1})
Auch der Abgeordnete Dr. Jahn ({2}) gibt eine Rede zu Protokoll. Herr Dr. Bechert gibt eine Rede zu Protokoll. Herr Dr. Reinhard gibt eine Rede zu Protokoll.
({3})
Das Wort hat nunmehr Herr Abgeordneter Rehs.
In der Zwischenzeit hat auch Herr Abgeordneter Logemann seine Rede zu Protokoll gegeben.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Nach diesen zwei Tage langen Debatten
scheinen die Grenzen der Zumutbarkeit für dieses
Haus in der Tat erreicht zu sein. Ich nehme daher,
Herr Präsident, auch davon Abstand, die von mir
beabsichtigten Ausführungen zu dem in der bisherigen Debatte ganz gewiß noch nicht genügend berücksichtigten großen Komplex der Heimatvertriebenen
und der Flüchtlinge aus dem sowjetisch besetzten
Teil Deutschlands mündlich vorzutragen; ich werde
sie ebenfalls schriftlich zum Bestandteil dieser Diskussion machen, indem ich sie hiermit zu Protokoll
gebe. Ich beschränke mich auf die Bitte an den Herrn
Bundeskanzler, an die Bundesregierung und den
Bundestag, von diesen Ausführungen nachträglich
aufmerksam und wohlwollend Kenntnis zu nehmen.
({0})
Jetzt hat das Wort Herr Abgeordneter Mommer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So beliebt wie die anderen Kollegen kann ich mich nicht machen, da ich namens meiner Fraktion einige abschließende Bemerkungen machen soll. Die kann man nicht zu Protokoll geben, vor allem nicht, weil sie nicht ausgeschrieben sind.
Ich glaube, daß der Bundestag gestern einen großen Tag gehabt hat, meine Damen und Herren, und daß wir heute nachmittag wieder einen Höhepunkt erreicht haben. Leider war es heute morgen nicht immer so, daß man hätte voll befriedigt sein können. Es hat sich doch als klug erwiesen, was die Bundesregierung, was der neue Bundeskanzler getan hat, nämlich in der Regierungserklärung nicht in die Probleme der vielen Ressorts einzusteigen, sondern das Gesamtpolitische herauszustellen und damit auch den Versuch zu machen, die Debatte hier im Hause auf das politisch Relevante zu konzentrieren. Es war ein Fehler, daß einige Kollegen der Klugheit der Regierung nicht gefolgt sind.
({0})
Dabei ist dann auch ein Experiment gescheitert, dem ich grundsätzlich zugestimmt hatte, daß man nämlich einmal versuchen sollte, auch der Individualität im Hause, die nicht unbedingt für eine Gruppe spricht, hier die Möglichkeit zu geben, in einer großen Debatte aufzutreten. Dabei ging es dann querbeet, und aus angekündigten 5-MinutenReden wurden zum Teil 45-Minuten-Reden.
Das zum technischen Ablauf der Debatte. Jetzt nur wenige Bemerkungen zur Deutschland- und Außenpolitik.
Wir haben uns gefreut, eben hier zu hören, wie der Herr Bundeskanzler mit Nachdruck sagte, daß in die Deutschlandpolitik nun Bewegung hineinkommen soll, daß sie mit Leidenschaft betrieben werden soll, daß sie aber auch nicht mit Romantik, sondern mit Realismus gemacht werden soll. Ich würde ihm zustimmen und meine Freunde stimmen ihm zu, wenn er sagt: Wenn es uns gelingt, in der Deutschlandpolitik wesentlich voranzukommen, dann ist auch das schon eine Rechtfertigung für die große Koalition. Ich erinnere dabei auch an das, was man Gutes über eine große Koalition in einem Nachbarland sagen mußte, wo man auch manches Schlechte über die Große Koalition gesagt hat. In der großen Frage eines Staatsvertrages bedurfte es wohl der großen Koalition, um dieses Ziel zu erreichen.
Ein zweiter Punkt. Zwei unserer Minister waren in Paris, der Herr Bundesminister für Verteidigung und der Herr Bundesaußenminister. Sie haben dort gute Arbeit geleistet. Wir Sozialdemokraten haben uns ganz besonders gefreut - meine lieben Freunde von der Koalitionspartei, Sie werden uns das nicht übelnehmen, daß wir uns besonders gefreut haben -, daß unser Willy Brandt hier einen Bericht geben konnte, in dem doch einige höchst erfreuliche Nachrichten enthalten waren.
Bei den Koalitionsverhandlungen hatten wir Sozialdemokraten ganz zu Beginn ein 8-Punkte-Programm aufgestellt, was eine künftige Regierung zum Wohle unseres Landes tun müßte. Der erste Punkt hieß: Die Bundesregierung muß um der äußeren Stabilität und Sicherheit willen das Verhältnis zu Washington und Paris wieder in Ordnung bringen.
Nun wissen wir sehr wohl, daß auch nach diesem erfolgreichen Gespräch mit dem Präsidenten der französischen Republik das Verhältnis noch nicht in Ordnung sein kann. Aber was da herausgekommen ist, scheint doch eine Wende in der bisherigen Entwicklung der Beziehungen zu sein. Das scheint doch zumindest die Schaffung eines neuen Klimas zwischen Paris und Bonn zu bringen, und das ist erfreulich. Wir beglückwünschen unseren Außenminister, und wir bedanken uns bei ihm dafür,
({1})
daß er sich da mit Nachdruck und mit soviel Anfangserfolg für dieses große Ziel hat einsetzen können.
Ich darf einen anderen Punkt aufgreifen: die unterschiedliche Aufnahme der Regierungserklärung in den kommunistischen Ländern und in Ostberlin sowie, parallel zu Ostberlin, in China und in Albanien. Wir mußten feststellen, daß in der Berichterstattung im anderen Teil Deutschlands der Friedenswille dieser Bundesregierung unterschlagen wurde, daß von ihrer Verständigungsbereitschaft und ihrem Willen zur Versöhnung mit den Völkern im Osten nicht berichtet wurde, daß die Entspannungspolitik, die konstruktive Abrüstungspolitik, die wir betreiben wollen, nicht erwähnt wurden und daß insbesondere ein ganz wichtiger Punkt ausgelassen wurde: die Ausdehnung des Gewaltverzichts, den die frühere Bundesregierung schon gegenüber unseren Nachbarn ausgesprochen hat, auf den anderen Teil Deutschlands. Nun, man scheint dort drüben die Wahrheit über die Absichten der neuen Bundesregierung zu fürchten. Ich hoffe, daß es bei der bis heute negativen Haltung der Stellen in Ostberlin nicht die Furcht vor der Diskussion zwischen Hunderttausenden von Menschen war, die dazu geführt hat, daß Passierscheine für Weihnachten bisher nicht ausgegeben worden sind. Ich hoffe, daß das keine Rolle spielt und daß es doch noch möglich sein wird, in den nächsten Tagen das Tor wieder aufzumachen und den Menschen dort, die durch die Mauer und den Stacheldraht gequält werden, das Wiedersehen zu Weihnachten zu ermöglichen.
Sowohl in der Regierungserklärung als auch in der Debatte, die wir hier geführt haben, spielten die Fragen unserer Finanzen und der wirtschaftlichen Lage eine überragende Rolle. Das war nicht anders zu erwarten. Das ist nicht nur bei der Bundesregierung und bei uns hier im Hause so, das ist auch draußen in unserem Volke so. Erstmals seit 17 Jahren sind da die großen Sorgen aufgekommen, und wenn wir darauf das Hauptgewicht unserer Tätigkeit in den nächsten Wochen legen, können wir sicher sein, daß wir die öffentliche Meinung in unserem Lande voll und ganz hinter uns haben.
In der Debatte ist klargeworden, daß es eine Ordnung unseres Haushalts mit Streichungen und Steuern allein nicht geben kann. Ordnung kann erst wieder voll eintreten, wenn die Wachstumsquote unserer Wirtschaft wieder einen normalen Stand erreicht. Wir Sozialdemokraten meinen, daß es unsere Aufgabe Nr. 1 ist, in der Bundesregierung und im Bundestag alles zu tun, um über die Ordnung des Haushalts hinaus in unserer Wirtschaft aus der Rezession, in die wir hineingeraten sind, herauszukommen, aus der Talsohle, die wir vielleicht noch nicht erreicht haben, wieder auf die aufsteigende Linie zu kommen. Für den Bundestag heißt das, daß wir schnell - Herr Barzel hat es schon gesagt - das Stabilisierungsgesetz verabschieden müssen. Weiter müssen wir alle Maßnahmen, die sich im Januar/ Februar zum Ausgleich des Haushalts als notwendig erweisen, schnellstens beschließen. In diesen Fragen wird die SPD-Fraktion die Bundesregierung mit aller Kraft unterstützen. Ich darf hier sagen, daß die Regierungserklärung von allen Mitgliedern meiner Fraktion - auch z. B. von mir, der ich, wie die meisten von Ihnen wissen, andere Ideen darüber gehabt habe, wie man die Krise politisch lösen könnte - mit großer Genugtuung aufgenommen worden ist.
({2})
Wir sind uns bewußt, daß diese Regierung und damit auch diese Große Koalition daran gemessen werden wird, wie sie diese Aufgabe Nummer 1 der Wiederherstellung der Ordnung in den Finanzen und des Wiederaufschwungs in der Wirtschaft zu lösen verstehen wird. Wir können es nicht schaffen, wenn es nicht die Disziplin gibt, von der auch in der Regierungserklärung die Rede war; Disziplin einerseits im Kabinett und Disziplin andererseits hier in diesem Hause, insbesondere bei den Fraktionen der Koalition.
Ich kann Ihnen sagen, meine Damen und Herren, in der sozialdemokratischen Fraktion wird es die notwendige Disziplin geben. Es gibt bei uns keinen Zwang. Da geistert draußen immer so die Legende vom Fraktionszwang herum, den es angeblich bei uns allen gäbe. Nein, das gibt es nicht. Aber unsere Abgeordneten verstehen etwas von der Rangordnung und der Dringlichkeit der gestellten Aufgaben. Sie haben auch die Kraft, aus der Einsicht, was am dringlichsten und am wichtigsten ist, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und das anzustreben, was sie sich als Ziel gesetzt haben.
Wir haben das Ohr im Volke und wissen, daß man dort fürchtet, wieder in eine Situation hineinzukommen, die diese schrecklichen Ergebnisse Ende der Zwanzigerjahre und Anfang der Dreißigerjahre gehabt hat. Was wir vor allem brauchen, das ist Vollbeschäftigung und volle Beschäftigung, Vollbeschäftigung für alle Arbeitskräfte, die verfügbar sind, volle Beschäftigung für alle, die im Arbeitsprozeß stehen. Viel schlimmer als die Steuern; die wir hier beschließen mußten, werden sich für die Arbeiter in den Werken, die jetzt Kurzarbeit einlegen, die Lohnverluste auswirken, die durch Kurzarbeit entstehen. Vollbeschäftigung und volle Beschäftigung, das ist ein vordringliches Ziel, das durch Zusammenarbeit der Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik erreicht werden muß.
Wir stimmen dem Bundeskanzler zu, wenn er sagt, das sei die Voraussetzung für die Handlungsfreiheit nach innen und nach außen. Deswegen, meine Damen und Herren, wird es bei uns in der SPD-Fraktion auch keine Verschwörungen von Einzelinteressen gegen diese Hauptaufgabe geben. Wir nehmen an, daß das in der anderen Koalitionsfraktion auch so sein wird, daß auch dort die für das Gelingen des Werkes notwendige Disziplin gehalten wird. Vor allem, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU, nehmen wir an, daß es unter uns keinen unedlen Wettstreit darin geben wird, wer etwa mit populären Anträgen haushaltswirksame Beschlüsse hier herbeizuführen versuchen und dadurch die Bemühungen der Regierung um den Ausgleich des Haushalts zunichte machen würde. Es kommt hier darauf an, daß wir den Anfängen widerstehen. In den nächsten Wochen muß es sich zeigen, ob wir .da zu loyaler Zusammenarbeit bereit sind,
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ohne daß wir im mindesten unsere Selbständigkeit als Fraktion aufgeben.
Meine Damen und Herren, das Wahlrecht hat hier eine Rolle gespielt. Da es aber auch Gegenstand einer Sonderdebatte heute morgen war, brauche ich darauf nicht mehr weiter einzugehen. Mir scheint es nützlich zu sein, ein paar Worte darüber zu verlieren, wie sich nun dieser Bundestag gezeigt hat, nachdem diese Neun-Zehntel-Mehrheitskoalition zustande gekommen ist. Draußen und hier im Hause und insbesondere natürlich bei der Oppositionsfraktion hat man Befürchtungen gehabt, daß der Parlamentarismus, daß die lebendige Auseinandersetzung hier im Hause schweren Schaden leiden würden durch diese große Mehrheit. Ich muß feststellen - ,das ist eine wichtige Feststellung und eines der innenpolitisch wichtigen Ergebnisse dieser Debatte -, daß dieser Bundestag so lebendig oder noch lebendiger als eh und je gewesen ist und daß es kein Eintopfgericht gegeben hat, daß die Rolle der Opposition in dieser Debatte in keiner Weise geschmälert wurde. Im Gegenteil, es hat hier Neuerungen gegeben, die, als wir Opposition waren, uns leider nicht zuteil geworden sind. Zweimal hat die Opposition hier gleich nach der Regierung das Wort bekommen. Und in dem Gesamtablauf der Debatte - man könnte da sogar eine Statistik machen: die Zahl der Wortmeldungen, die Summe der Minuten, die hier gesprochen worden sind - hat die Opposition hier eine Rolle gespielt, die völlig unabhängig von ihrer numerischen Stärke ist. Ich bin der Meinung, daß das ein erfreuliches Ergebnis dieser Debatte ist. Nun, die Aussagekraft, in der Tat, ist beim Reden natürlich das Wichtigste, und ich hatte mir auch vorgenommen, hier diese Bemerkung zu machen, daß es ja doch manchmal so ist, daß weniger mehr bedeutet. Da ist vielleicht des Guten manchmal zuviel getan worden.
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Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - 83. Sitzung. Bonn, Freitag, .den 16. Dezember 1966 3877
Ich will auch eine Bemerkung über den Punkt machen, bei dem es auf numerische Stärke ankommen kann. Die Kontrolle der Exekutive verlangt es manchmal, daß z. B. ein Untersuchungsausschuß eingesetzt wird. Da braucht man dann, um den Ausschuß zu erzwingen, ein Viertel der Abgeordneten. Ich möchte aber die Opposition bitten, doch nicht zu unterstellen, daß sie in diesem Hause diese Zahl zur Unterstützung eines Antrags, den sie ja schon mit 15 Unterschriften einbringen kann, nicht erreichen würde. Ich kann vielmehr für meine Fraktion sagen - und ich glaube, das wird auch für die andere Koalitionsfraktion gelten -: Wenn es sich zeigen sollte, daß in der Vergangenheit oder in der Zukunft dunkle Punkte sind, die der Aufhellung durch einen Untersuchungsausschuß bedürfen, dann wird es das nicht geben, daß dieser Untersuchungsausschuß deswegen nicht zustande kommt, well die Opposition nicht über die notwendige Zahl von Abgeordneten verfügt, um den Untersuchungsausschuß zu erzwingen.
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Ich hoffe, daß bei der Bundesregierung die Anregung von Helmut Schmidt registriert worden ist und schnell befolgt wird, daß sie Vorschläge macht, um etwas zu erreichen, was bisher auch nicht möglich gewesen ist, nämlich daß es eine parlamentarische Kontrolle für den Reptilienfonds gibt. Wir sind da manchmal früher enttäuscht worden. Ich besinne mich, daß die FDP einmal mit uns gestimmt hat, als sie in der Opposition mit uns zusammen war. Da fehlten uns einige wenige Stimmen, um diese parlamentarische Kontrolle zu erzwingen. Aber bei folgenden Abstimmungen zum selben Gegenstand blieben wir dann leider allein.
Meine Damen und Herren, zum Schluß eine kleine Betrachtung. In diesen Wochen habe ich Grund gehabt, darüber nachzudenken, was so die Stärke und die Schwäche einer Partei und einer Fraktion ausmacht. In diesen Wochen wurde es mir besonders klar, daß es dabei nicht nur auf die Zahl der Mitglieder, der Wähler und der Mandate im Parlament ankommt, sondern sehr entscheidend auch auf den inneren Zusammenhalt derjenigen, die da vom Wähler in das Parlament geschickt werden, und von der demokratischen Disziplin, deren sie fähig sind, und von der Verläßlichkeit, die man ihnen nachsagt. Bei uns Sozialdemokraten weiß es jedermann: Bei uns wird gerungen um Entscheidungen, manchmal - jemand hat es gezählt - 55 Stunden lang um die Entscheidung diskutiert. Dann wird abgestimmt, und dann - so ist das unsere Art - ordnet man sich ein, wenn es nicht um Gewissensfragen geht, und Koalitionen unter demokratischen Parteien sind bekanntlich keine Gewissensfragen. Dann ordnet man sich ein, und dann geht es an die Arbeit. Dann bedeutet bei uns ein Ja nichts anderes als ja, und Absprachen werden gehalten.
Damit möchte ich hier schließen, meine Damen und Herren. In dieser großen Koalition stellt die sozialdemokratische Fraktion 217 Abgeordnete, und diese 217 Abgeordneten werden sich geschlossen und mit Kraft dafür einsetzen, daß die Ziele, die in der Regierungserklärung aufgezeigt sind, erreicht werden, bald erreicht werden zum Wohle unseres Volkes.
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Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige wenige Bemerkungen zu dem machen, was im außenpolitischen Teil der Debatte hier heute nachmittag gesagt worden ist, zunächst zu dem, was Herr Dr. Mende gesagt hat. Herr Dr. Mende, in der Regierungserklärung steht, daß wir an Vorschlägen auf den Gebieten der Rüstungskontrolle und der Rüstungsbegrenzung mitarbeiten wollen. Das gilt für die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, und für einige andere. Wir haben im Kabinett darüber gesprochen. Es ist die Politik der Regierung, hier nicht nur das auf uns zukommen zu lassen, was andere für richtig halten, sondern mit eigenen Beiträgen auf die internationale Erörterung dieser wichtigen Probleme einzuwirken.
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Zweitens. Es ist die Meinung der Regierung - und auch darüber ist gesprochen worden, noch bevor die Regierungserklärung dem Hohen Hause unterbreitet wurde -, daß wir uns bemühen sollten, mit den Verbündeten und später möglicherweise mit anderen über Bestandteile einer friedensvertraglichen Regelung für und mit Deutschland zu sprechen, d. h. dann muß man vorher etwas erarbeitet haben, worüber man mit denen spricht.
Drittens habe ich genau zugehört, als Sie Ratschläge gegeben haben, wohin der eine oder der andere reisen sollte und was man mit osteuropäischen Hauptstädten machen sollte. Nun kann ich über den Terminkalender des Bundeskanzlers überhaupt nichts sagen. Was meinen eigenen angeht, wäre es, glaube ich, unvernünftig, wenn ich darüber in diesem Augenblick öffentliche Erörterungen anstellte.
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Aber damit wir uns in der Sache nicht mißverstehen: was gerade den Punkt der osteuropäischen Staaten, der Staaten zwischen Deutschland und Rußland angeht, Herr Kollege Dr. Mende, glaube ich eben - das ist keine Polemik gegen das, was Sie gesagt haben und was sonst erörtert wird - aus meiner Verantwortung heraus, daß es jetzt wichtiger ist, mich um die Sache zu kümmern, als Mutmaßungen darüber anzustellen, wann man mit was mal so weit sein könnte. - Da verstehen wir uns.
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Herr Kollege Dr. Barzel hat mich in Versuchung geführt, denn er hat von Berlin gesprochen, wenn auch nur ganz kurz, und richtig vermutet, daß über Berlin auch mit den Alliierten in Paris gesprochen worden sei. Es ist sehr schwer für den langjährigen Berliner Bürgermeister, nun nicht dazu noch etwas zu sagen. Ich will es ganz kurz machen.
Das Treffen der Außenminister zu diesem Punkt hatte etwas Sentimentales. Denn vor genau acht Jahren - auf den Tag genau vor acht Jahren - war ich auch im Kreise der westlichen Außenminister - es war unmittelbar nach dem Chruschtschow-Ultimatum -, und ich brauche diesem Hause nicht zu beschreiben, was sich seitdem alles verändert hat.
Zu drei Punkten brauchen wir ja die Alliierten, was Berlin angeht, über das Konventionelle und unendlich Wichtige hinaus, das mit der Sicherheit in der Stadt und der Sicherung der Zugangswege zusammenhängt.
Wir brauchen den Rat und die Mitwirkung der Alliierten bei dem, was in der Regierungserklärung mit einem einzigen Satz angedeutet worden ist: die Wirtschaftskraft und die ökonomische und kulturelle Ausstrahlungskraft Berlins in der heute anders gewordenen politischen Umgebung zu verstärken;
wir brauchen die Allierten, wenn es sich darum handelt, die Stellung Berlins im Rechtsgefüge des freien Deutschland einschließlich seiner gesetzgebenden Körperschaften zu verstärken;
und wir brauchen die Alliierten in Berlin und über Berlin hinaus beim Ringen um Erleichterung für die Menschen im geteilten Deutschland.
Hierzu - gerade zu dem dritten Punkt - kann ich sagen, daß wir die uneingeschränkte Unterstützung der Außenminister dieser drei Mächte für das haben, was die Regierungserklärung das Ringen um die menschlichen Erleichterungen, um die Bewahrung der nationalen Substanz nennt.
Schließlich darf ich zu einem anderen Punkt, der in der Aussprache zu diesem wichtigen Grenzgebiet zwischen Außenpolitik und Deutschlandpolitik anklang, hier noch einmal sagen, was ich sinngemäß gestern nachmittag auf der NATO-Konferenz auch gesagt habe, nämlich folgendes:
Unsere Freunde in Europa und jenseits des Ozeans sind heute geneigt, von einer allgemeinen Entspannung und von veränderten Beziehungen zwischen West- und Osteuropa auch günstige Wirkungen für das Problem der deutschen Einheit zu erwarten. Ich befinde mich nicht im Gegensatz zu dieser Art des Denkens; aber ich bitte doch um Verständnis für unsere Haltung, die nicht allein dadurch bestimmt sein kann, daß wir auf einen zu unseren Gunsten wirkenden Automatismus warten. Wir können und werden unsere legitimen Ziele nicht aufgeben; aber wir werden sie so vertreten, daß wir uns zu keinem vernünftigen Bemühen um Entspannung in Gegensatz bringen. Dies ist keine taktische Position, sondern Ausdruck der Überzeugung, daß es auch bei unserer ungelösten nationalen Frage um Frieden und Verständigung geht.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Abschluß dieser zweitägigen Debatte - deren Abschluß wir nicht zuletzt mit zugestimmt haben, weil wir das Gefühl hatten, daß leider auch die Regierungsbank langsam zahlenmäßig einer gewissen Schwunderscheinung unterworfen war - darf ich dafür danken, daß der Opposition in diesem Hause die Möglichkeiten gegeben worden sind, die im rechten Zusammenwirken zwischen Parlament und Regierung erforderlich sind. Die Debatte hat einzelne Punkte der Regierungserklärung vertieft, allerdings mehr durch Beiträge, die aus den Reihen dieses Hauses kamen, und in vielen Bereichen leider nicht durch entsprechende Ergänzungen der Regierung. Ich erinnere daran, daß kein Wort über die Frage des Notstandsrechts, kein Wort über den Auftrag für die Bundeswehr - Dinge, die man nicht als kleine Ressortgebiete abtun kann, die doch zu den gewichten Bereichen unserer gesamten Politik gehören - hier gesprochen worden ist.
Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß diese Koalition auf Gedeih und Verderb zusammenarbeiten müsse, und in einem Interview mit dem Bulletin, Nr. 156 Seite 1258, sagt er wörtlich:
Wenn eine Große Koalition versagt, bei einem
nur kleinen oppositionellen Partner, dann ist
das schon etwas sehr viel Schlimmeres; dann
ist das doch eben schon so etwas wie eine Krise
unserer Demokratie überhaupt.
Damit wird deutlich gemacht, welch schwere Last - was wir nicht bestreiten - die Regierung und die Koalition mit dieser Form der Koalition auf sich geladen haben.
Der Hinweis darauf, daß die Debatte in diesem Hause die Befürchtungen zerstreut habe, eine Große Koalition töte die Debatte im Parlament, ist für diese zwei Tage absolut richtig gewesen. Ob es eine andauernde Erscheinung sein wird - wir hoffen, daß es so ist -, werden wir abzuwarten haben. Denn bis jetzt war natürlich die Gewöhnungszeit noch zu kurz, um all die Fragen abklären zu können, in denen unterschiedliche Auffassungen sind. Wir hoffen, daß eine solche Gewöhnung nicht eintritt, die dann das Gespräch hier im Parlament überflüssig machen oder nur zur Bestätigung degradieren würde. Der gute Wille dazu - davon sind wir überzeugt -- ist bei allen Seiten dieses Hauses vorhanden.
Wir Freien Demokraten haben bedauert, daß die Ausführungen Thomas Dehlers, in denen er sich mit geschichtlichen Entwicklungen des Liberalismus auseiandergesetzt hat, hier offensichtlich zum Teil mißverstanden worden sind, immer mit dem Hinweis: aber damals war diese oder jene Erfahrung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Diejenigen, die die Freie Demokratische Partei nach 1945, sei es hier in der Bundesrepublik, sei es in Mitteldeutschland, aufgebaut haben, waren nicht nur Anhänger von Parteien aus der Zeit vor 1933, sondern waren zu 70, zu 80 % junge Menschen, die niemals vorher einer Partei angehört hatten und die deshalb nicht mit irgendwelchen Dingen belastet werden können, wie Sie es hier zum Teil versucht haben.
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Wir sind Liberale aus Überzeugung, nicht aus Tradition.
In der Debatte ist davon gesprochen worden, daß liberale Kräfte in allen Fraktionen vorhanden seien und daß es gut sei - so hat sich der Bundeskanzler ausgedrückt -, wenn durch ein neues Wahlrecht dann auch in die anderen Parteien mehr liberaler Geist hineinkäme. Nun, er muß ja selber wissen, wie notwendig das z. B. für seine eigene Partei ist. Ich glaube aber, die Gefahr, daß weniger liberaler Geist hineinkommt, ist viel, viel größer. Solange eine Freie Demokratische Partei in diesem Hause sitzt, muß man sich mit den liberalen Ideen auseinandersetzen; wenn man sie hinausmanipuliert, kann man leicht darüber hinweggehen.
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Ich will diese Debatte über das Wahlrecht, die wir ja noch mehrfach hier zu führen haben, nicht verlängern. Ich möchte nur eines zu dem sagen, was der Kollege Even eben als Zwischenfrage gebracht hat. Es ist eine sehr gefährliche Argumentation zu sagen: Weil eines Tages ein gesamtdeutsches Wahlgesetz kommen könne und dann die KPD wieder zugelassen sei, deshalb müsse man jetzt schon mit dem Wahlrecht vorsorgen. - Eine solche Argumentation verschiebt nach meiner Überzeugung das, was politisch in unserer Situation notwendig ist, völlig. Das Umgekehrte ist notwendig: auch durch das Wahlrecht nichts zu verbauen, was wir morgen oder übermorgen tun können.
Wir sind nicht - wie es Kollege Lemmer gesagt hat - in einem Zustand einer politischen Panik. Ganz im Gegenteil! Gerade durch die Debatte sind wir darin bestätigt worden, wie richtig es ist, darum zu kämpfen, daß eben solche Grundsätze, wie sie die Regierungserklärung hier vorgesehen hat, durch die Mehrheit des Hauses verhindert werden.
Als hier über die Kulturpolitik, über Bildungspolitik diskutiert wurde und das Thema „Konfessionsschulen" eine Rolle spielte, sind ein paar Bemerkungen gefallen, zu denen ich doch noch einige Sätze sagen muß. Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber zur Klarstellung der Haltung der FDP müssen diese Worte gesagt werden.
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- Ganz gleich, ob das Ländersache ist oder nicht. Entscheidend ist hier die grundsätzliche Einstellung zu diesen Fragen.
Die christliche Gemeinschaftsschule, die die FDP für unsere freiheitliche Demokratie befürwortet, hat nichts zu tun mit einer gleichmacherischen Einheitsschule, wie man es immer hinstellen will. Der Staat tritt hier nicht als Lehrmeister, sondern nur als Garant der Freiheit und der Gerechtigkeit in Erscheinung. Der Liberale versteht den Staat in echt demokratischem Sinn als die von allen bejahte und getragene Form der Gesellschaft, welche die Freiheit des einzelnen und damit auch seine Entfaltung zur geistigen und sittlichen Persönlichkeit am besten gewährleistet. Da auch die Rechte der Privatschulen unangetastet bleiben, kann von einer beengenden Monopolisierung keine Rede sein. Und da die christliche Gemeinschaftsschule - und da bitte ich die Kollegen, die hier immer Zweifel in unsere Auffassung setzen, recht gut zuzuhören - auch den Konfessionen Raum gewährt und ihnen den Auftrag erteilt, den Religionsunterricht zu betreuen, besteht der Vorwurf der Verbreitung eines nihilistischen Gesinnungsneutralismus völlig zu Unrecht. Nach liberaler Auffassung ist die christliche Gemeinschaftsschule die Schule des gegenseitigen Verständnisses, die Schule der Demokratie, und dafür treten wir ein und werden wir auch eintreten, wenn wir die einzigen sein sollten, die noch für die christliche Gemeinschaftsschule eintreten.
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- Wir überschätzen uns nicht, Kollege Schmidt. Wir haben vielmehr feststellen müssen, daß es in Ihren Reihen einzelne gibt - ihre Zahl hat sich leider schon erheblich erhöht -, die die christliche Gemeinschaftsschule nicht mehr für das allein Richtige halten. Deshalb diese Bemerkung hier.
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Im Rahmen der Wirtschaftspolitik ist davon gesprochen worden - und heute klang es noch einmal in der Zusammenfassung des Kollegen Barzel durch -, daß eben doch die Steuererhöhung als letzter Weg notwendig sei. Man vergißt immer hinzuzufügen, daß die Frage der Steuererhöhung von Ihnen ja schon durch erste Beschlüsse dieser Koalition positiv in Ihrem Sinne gelöst worden ist. Eswar also nicht eine Frage der künftigen Prüfung, sondern Sie haben diesen Weg schon beschritten, obwohl nach unserer Meinung eben nicht alle Möglichkeiten der Einsparung nach allen Seiten hin bis zum letzten geprüft worden sind, obwohl nicht alles, was dafür in Betracht kommt, beraten worden ist.
Im Rahmen der Debatte ist mehrfach davon gesprochen worden - und in den Worten des Kollegen Mommer zum Schluß klang das an -, daß die FDP eigentlich koalitionsunfähig sei. Das hat nicht der Kollege Mommer gesagt, sondern das haben andere Redner zum Ausdruck gebracht; aber er sprach davon, daß die Geschlossenheit das Entscheidende sei. Ich erinnere Sie daran, daß hier in diesem Hause, als Ihr Antrag, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, zur Abstimmung stand, die Freien Demokraten diesem Antrag geschlossen zustimmten. Bei uns gibt es Meinungsverschiedenheiten; das ist bei Ihnen, das ist bei allen so. Aber wenn es um Grundsatzfragen geht, stehen auch die Freien Demokraten in diesem Hause genauso geschlossen wie die anderen Fraktionen da.
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- Nein, die Erfahrungen sind nicht anders, Herr
Kollege Ruf. Die Erfahrungen lehren, daß wir nicht
bereit sind, bei falschen Entscheidungen in einzelnen
Sachfragen auch noch geschlossen die falschen Entscheidungen mitzumachen; das wäre ein großer Fehler. Es geht um die Grundsatzfragen, die hier besprochen worden sind. Da sind wir immer geschlossen gewesen. Sie können keinen einzigen Fall nachweisen, in dem das nicht der Fall war.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Stellungnahme des Herrn Bundeskanzlers ist davon gesprochen worden, daß wir mehr Bewegung in die gesamtdeutsche Politik hineintragen müßten, und der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hat hierzu noch einzelne Punkte angesprochen. Wir teilen diese Meinung, und ich habe gestern hier ausdrücklich gesagt, daß man die Einzelheiten nicht bis zum Letzten im Plenum ausbreiten könne, ja, daß selbst im Gesamtdeutschen Ausschuß und im Auswärtigen Ausschuß manche Fragen nur in groben Umrissen behandelt werden könnten. Wir hoffen nur, daß das, was in der Vergangenheit - zumindest in den letzten Jahren - begonnen worden ist, jetzt auch mit der neuen Opposition fortgesetzt wird, nämlich die Unterrichtung, sei es auf außenpolitischem, sei es auf gesamtdeutschem Gebiet, immer dann zu geben, wenn gewichtige Fragen zur Entscheidung stehen und wenn wir gemeinsam der Auffassung sind, daß diese Fragen aus gesamtdeutschem Interesse nicht im einzelnen vor dem Plenum hier behandelt werden können.
Ich will aber wiederholen, was ich gestern sagte: wichtig ist, daß wir spüren, daß hinter allen Aktionen der Wille steht, hier die Dinge in Bewegung zu bringen, und daß wir spüren, daß hinter den Worten in der Regierungserklärung - natürlich in einer angemessenen Zeit; wir wissen, daß das alles nicht von heute auf morgen geht - mehr Taten stehen werden, als in der Vergangenheit stehen konnten, weil Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, immer wieder bremsten.
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- Sehr verehrter Herr Kollege Rasner, muß ich Sie daran erinnern, wie Sie und Herr Kollege Barzel dafür gesorgt haben, daß dann, wenn eine entscheidende Frage im Koalitionsgespräch behandelt war, sämtliche Papiere der Vergangenheit nachgeprüft werden mußten, ob daß nicht vielleicht um ein Komma von dem abwich, was Sie vorher gesagt haben? Nennen Sie das Bewegung? Das war Statik, aber keine Bewegung, was Sie wollten.
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Meine Damen und Herren, in dieser Debatte war kein Raum für die Agrarpolitik. Meine Kollegen haben hierzu entsprechende Ausführungen zu Protokoll gegeben. Wir werden Gelegenheit nehmen, im Rahmen des Grünen Berichts und notfalls durch Anträge hier die entsprechenden Punkte zur Diskussion zu stellen.
Wir Freien Demokraten behalten uns vor, zu all den Fragen, die in dieser Debatte um die Regierungserklärung nicht genügend geklärt werden konnten, durch Große Anfragen oder auf andere geeignete Weise hier im Plenum die entsprechende Diskussion zu führen. Ich denke dabei insbesondere an die Deutschland-, Außen- und Sicherheitspolitik.
Das, was Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD der damaligen Regierung konzediert haben, daß die Regierung nämlich eine gewisse Zeit dafür braucht, konzedieren wir selbstverständlich in der gleichen Weise.
Mit Interesse habe ich vernommen, daß Herr Kollege Mommer davon sprach: wenn die Notwendigkeit bestehe, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, weil man gemeinsam daran interessiert sei, die Dinge zu klären, werde eine entsprechende Unterstützung quer durch das ganze Haus, wie er hoffe, kommen. Wir werden anläßlich der Diskussion über den Antrag der Freien Demokraten Gelegenheit haben, zu dieser Frage im einzelnen Stellung zu nehmen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch folgendes sagen. Ich möchte es mir ersparen, noch etwas zu zitieren, was Ihnen sehr deutlich gemacht hätte, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie schwierig es oft für Sie wird, innerhalb Ihrer Koalition zu diskutieren. Lesen Sie den „Bayern-Kurier" vom 3. Dezember 1966 nach. Wie Sie da im einzelnen charakterisiert worden sind, ist sehr bedauerlich. Aber das müssen Sie mit Ihrem Koalitionspartner ausmachen.
Lassen Sie mich zum Schluß ein Zitat des jetzigen Bundesratsministers Carlo Schmid bringen, der am 24. Februar 1949 im Parlamentarischen Rat sagte: - ({9})
- Herr Kollege Möller, Sie sprechen noch einmal von dem „koalitionsunwürdig". Ich hatte gehofft, daß die Worte, die -sowohl heute wie auch gestern gesprochen worden sind, deutlich gemacht hätten, daß das Wort koalitionsunwürdig, wie es vom Kollegen Dehler gebraucht wurde, nicht im abwertenden, entehrenden Sinn, sondern in dem Sinne gemeint war: „mit Rücksicht auf die Sachfragen der Wirtschaftspolitik nicht koalitionsgeeignet". Ich hatte gehofft, daß wir uns darüber nun endlich klargeworden seien.
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Lassen Sie mich zum Schluß zitieren, was Carlo Schmid damals sagte:
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Man muß allerdings regieren wollen und regieren können; das ist das Entscheidende. Und dabei ist es nicht so sehr wichtig, welche Art von Wahlsystem angewandt ist.
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Meine Damen und Herren, ich habe noch bekanntzugeben, daß der Abgeordnete Schultz und Bundesminister Katzer ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.
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Die Rednerliste ist erschöpft.
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Herr Abgeordneter Ertl hatte mir angekündigt, daß er eine Erklärung zu Protokoll geben wolle.
Soll es eine Erklärung nach § 35 oder 36 sein? - Gut, wir nehmen die Erklärung zu Protokoll.
Damit ist die Debatte geschlossen.
Meine Damen und Herren, es ist an sich nicht Sache des Präsidenten, eine Wertung abzugeben. Aber so viel darf ich doch sagen, daß diese beiden Tage gezeigt haben, daß der Deutsche Bundestag ein Parlament ist, auf dessen Boden die Auseinandersetzung der politischen Meinungen, die Klärung der politischen Auffassungen und das Messen aneinander durchaus noch in guter Übung sind. Ich hoffe, daß das so bleibt.
Wir sind damit am Ende der heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Januar 1967, ein. Die Uhrzeit wird noch bekanntgegeben. Die Sitzung ist geschlossen.