Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich ein Schreiben des Herrn Bundespräsidenten bekannt:
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident!
Der Bundeskanzler, Herr Professor Dr. Ludwig Erhard, hat mir mit Schreiben vom 30. November 1966 seinen Rücktritt erklärt. Ich habe seinen Rücktritt angenommen und ihm die Urkunde, durch die sein Amtsverhältnis beendigt wird, heute um neun Uhr ausgehändigt.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Lübke
Meine Damen und Herren, damit treten wir in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Wahl des Bundeskanzlers
Ich gebe dem Hause von folgendem weiterem Schreiben des Herrn Bundespräsidenten Kenntnis:
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident!
Gemäß Artikel 63 Absatz 1 des Grundgesetzes schlage ich dem Bundestag vor, Herrn Ministerpräsidenten Dr. h. c. Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler zu wählen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Lübke
Meine Damen und Herren, nach § 4 der Geschäftsordnung dieses Hauses wird der Bundeskanzler mit verdeckten Stimmzetteln gewählt. Zur Wahl steht nur der von dem Herrn Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat. Stimmkarten, die mit anderen Namen beschrieben werden, sind ungültig.
Ich darf Sie bitten, meine Damen und Herren, die weißen Stimmkarten zu benutzen und darauf entweder „Ja" oder „Nein" zu schreiben. Wer dem Vorschlag des Herrn Bundespräsidenten zustimmt, schreibt „Ja", wer ihn ablehnt, schreibt „Nein".
Aus alter Erfahrung weiß ich, daß gelegentlich auch der Name des vorgeschlagenen Kandidaten auf dem Stimmzettel steht. Ich unterstelle, daß das Haus auch heute damit einverstanden ist, daß solche Stimmkarten als gültig angesehen werden.
Unbeschriebene Karten gelten hingegen als Stimmenthaltung. Die Stimmkarten und die dazu gehörenden Umschläge finden Sie in Ihren Pulten.
Unsere Berliner Mitglieder sind weiterhin - was ich lebhaft bedauere - einem Sonderstatus unterworfen, der ihnen das volle Stimmrecht vorenthält. Das hat zur Folge, daß auch bei dieser Bundeskanzlerwahl die Stimmen der Berliner Mitglieder des Hauses nicht berücksichtigt werden können.
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Dem seitherigen Brauche folgend, werden ihre Stimmen jedoch gesondert gezählt. Ich muß unsere Berliner Kolleginnen und Kollegen deshalb bitten, ihre Stimmkarten in die links von mir stehende, kleinere Urne zu werfen, die die Aufschrift „Berliner Abgeordnete" trägt.
Die Schriftführer werden die Namen nach dem Alphabet aufrufen. Auf Ihren Plätzen, meine Damen und Herren, liegt eine Namensliste. Ich bitte Sie, an Hand dieser Liste die Abstimmung zu verfolgen und sich an die Urne zu bemühen, sobald Sie an der Reihe sind.
Vier Schriftführer bitte ich, sich an die Urnen zu begeben. - Vier Schriftführer sind da.
Damit eröffne ich die Abstimmung. Ich bitte den Schriftführer zu meiner Rechten, mit dem Namensaufruf zu beginnen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich frage, ob alle Namen aufgerufen sind. Ist noch jemand im Saal, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? Ich frage zum zweiten Male: Sind alle Namen aufgerufen? -Zum dritten und letzten Male: Hat jedes Mitglied des Hauses seine Stimmkarte abgegeben? - Ich höre nichts Gegenteiliges; die Abstimmung ist geschlossen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 11 Uhr.
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Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das Ergebnis der Bundeskanzlerwahl bekannt. Zahl der abgegebenen Stimmkarten: 473 und 22 von Berliner Abgeordneten, insgesamt also 495; eine ungültige Stimmkarte. Mit Ja haben gestimmt 340 und 16 Berliner Abgeordnete, insgesamt also 356 Mitglieder des Hauses. Mit Nein haben gestimmt 109 und 3 Berliner Abgeordnete, insgesamt also 112 Mitglieder des Hauses. Weiße Stimmkarten haben abgegeben 23 und 3 Berliner Abgeordnete, insgesamt 26 Mitglieder des Hauses. Mithin sind für Herrn Dr. Kiesinger, wenn ich die Berliner Stimmen mitzähle, 356 Stimmkarten abgegeben worden. Auch wenn man die Berliner Stimmen wegläßt, ändert das an dem Ergebnis der Wahl insofern nichts, als die Zahl von 340 Stimmen das Quorum von 249 Stimmen ebenfalls weit übersteigt.
Gewählt ist nach Art. 63 des Grundgesetzes und § 4 der Geschäftsordnung, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages beträgt 249 Stimmen. Herr Dr. h. c. Kiesinger ist gewählt. Herr Ministerpräsident, ich frage Sie, ob Sie diese Wahl annehmen.
Dr. h. c. Kiesinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Wüttemberg: Ich nehme die Wahl an.
({0})
Herr Dr. Kiesinger, ich danke Ihnen. Ich werde dem Herrn Bundespräsidenten von dem Ergebnis dieser Wahl unverzüglich Mitteilung machen.
Ich unterbreche die Sitzung bis 12.30 Uhr. Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, daß er nach Art. 63 des Grundgesetzes den heute vom Bundestag gewählten Herrn Dr. Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler ernannt hat.
Herr Bundeskanzler, ich darf Sie bitten, zur
Eidesleistung
zu mir heranzutreten.
({0})
Herr Bundeskanzler, nach Art. 64 des Grundgesetzes leistet der Bundeskanzler bei der Amtsübernahme vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes festgelegten Eid. Ich überreiche Ihnen hiermit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und bitte, den Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß der Herr Bundeskanzler den nach der Verfassung vorgeschriebenen Eid vor dem Bundestag geleistet hat. Herr Bundeskanzler, ich spreche Ihnen die Glückwünsche des Hauses für Ihre Amtsführung aus.
({0})
Die Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung und die Eidesleistung der Bundesminister sollen noch heute vor dem Hause stattfinden. Ich unterbreche deshalb die Sitzung bis 16 Uhr.
Die Präsenzpflicht für morgen, Freitag, hebe ich auf.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen. Ich rufe auf - ({0})
-- Einen Augenblick! Das Forum des Bundestages darf nicht betreten werden. Ich bitte die Diener, darauf zu achten.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung
Der Herr Bundespräsident hat mir folgendes Schreiben übersandt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes habe ich auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers zu Bundesministern ernannt:
Herrn Willy Brandt zum Bundesminister des Auswärtigen
Herrn Paul Lücke zum Bundesminister des Innern
Herrn Dr. Dr. Gustav Heinemann zum Bundesminister der Justiz
Herrn Dr. h. c. Franz Josef Strauß zum Bundesminister der Finanzen
Herrn Prof. Dr. Karl Schiller zum Bundesminister für Wirtschaft
Herrn Hermann Höcherl zum Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Herrn Hans Katzer zum Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung
Herrn Dr. Gerhard Schröder zum Bundesminister der Verteidigung
Herrn Georg Leber zum Bundesminister für Verkehr
Herrn Dr. Werner Dollinger zum Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen
Herrn Dr. Lauritz Lauritzen zum Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau
Herrn Kai-Uwe von Hassel zum Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte
Herrn Herbert Wehner zum Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen
Herrn Prof. Dr. Carlo Schmid zum Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder
Herrn Dr. Bruno Heck zum Bundesminister für Familie und Jugend
Herrn Dr. Gerhard St o l t e n b er g zum Bundesminister für wissenschaftliche Forschung
Herrn Kurt Schmücker zum Bundesschatzminister
Herrn Hans-Jürgen Wischnewski zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Frau Käte Strobel zum Bundesminister für Gesundheitswesen.
Meine Damen und Herren, nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Ich rufe daher Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Eidesleistung der Bundesminister
Ich bitte die Bundesminister, einzeln zu mir heranzutreten und den nach Art. 64 in Verbindung mit Art. 56 des Grundgesetzes bei der Übernahme ihres Amtes vorgeschriebenen Eid zu leisten.
({1})
Ich werde den Eid vorsprechen und bitte die Mitglieder der Bundesregierung, ihn mit den Worten „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe" zu bekräftigen.
Der Eid lautet:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister des Auswärtigen, sind Sie bereit, diesen Eid zu schwören?
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister des Innern, Herr Paul Lücke.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Herr Bundesminister der Justiz.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Herr Bundesminister der Finanzen, Dr. Franz Josef Strauß.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Professor Dr. Schiller.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Katzer.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister der Verteidigung, Herr Dr. Gerhard Schröder.
Ich schwöre es, so wahr mit Gott helfe.
Der Bundesminister für Verkehr, Herr Georg Leber.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, Herr Dr. Werner Dollinger.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau, Herr Dr. Lauritzen.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Herr Kai-Uwe von Hassel.
von Hassel, Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herr Herbert Wehner.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder, Herr Professor Dr. Carlo Schmid.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Familie und Jugend, Herr Dr. Bruno Heck.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Herr Dr. Gerhard Stoltenberg.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesschatzminister, Herr Kurt Schmücker.
Schmücker, Bundesschatzminister: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Hans-Jürgen Wischnewski.
Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe.
Der Bundesminister für Gesundheitswesen, Frau Käte Strobel.
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß die Mitglieder der Bundesregierung damit den im Grundgesetz für die Übernahme ihres Amtes vorgeschriebenen Eid vor dem Bundestag geleistet haben. Ich spreche Ihnen, Herr Bundeskanzler, und den Mitgliedern der Bundesregierung die Wünsche des Hauses aus.
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Meine Damen und Herren, dieser Glückwunsch gehört zur Tradition des Hauses. Aber es gehört auch zur Tradition des Hauses, den Mitgliedern der bisherigen Bundesregierung, die nicht in sie zurückkehren, den Dank des Hauses auszusprechen.
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Ich möchte das auch heute tun, und ich danke Ihnen dafür, daß Sie mich dabei unterstützen.
Ich verbinde damit den Dank des Hauses zunächst an den bisherigen Bundesverkehrsminister, Herrn Dr. Seebohm.
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Sie, Herr Dr. Seebohm, sind nächst dem scheidenden Bundeskanzler das dienstälteste Mitglied der Bundesregierung. Sie haben ihr seit dem Beginn der Arbeit des Bundestages im Herbst 1949 ununterbrochen bis heute angehört. Wer noch etwas davon weiß, wie es in jenen Jahren nach dem Krieg auf den deutschen Straßen aussah, der hat wenigstens eine Ahnung davon, wieviel Fleiß, Mühe und Hingabe in der großen Leistung stecken, die Sie in diesen 17 Jahren als Bundesverkehrsminister vollbracht haben.
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Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, daß ich neben diesem dienstältesten Bundesminister hier auch das an Jahren älteste Mitglied der bisherigen Bundesregierung namentlich erwähne, nämlich den bisherigen Vorsitzenden des Bundesverteidigungsrates, Herrn Dr. Heinrich Krone.
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Ich sehe ihn zwar im Augenblick nicht,
({5})
aber das erklärt sich wahrscheinlich aus dem, was ich gleich zu sagen habe und was ich sage, auch wenn er nicht da ist. Mein lieber und verehrter Freund, Sie nehmen heute an Ihrem 71. Geburtstag Abschied von einem Amt, das Sie mit gewissenhafter Sorgfalt, ganz Ihrer Art entsprechend, geführt haben. Sie gehören zu den wenigen Parlamentariern des Reichstages der Weimarer Zeit, die noch unter uns sind. Sie haben im parlamentarischen Leben dieses Hauses viele Jahre hindurch eine bedeutende Rolle gespielt. Wir gratulieren Ihnen zu Ihrem Geburtstag und hoffen, daß Sie uns als der, der Sie sind, noch lange erhalten bleiben.
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Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Der besondere Dank des Hauses gilt in dieser Stunde jedoch Ihnen, Herr Professor Erhard.
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Es gab Jahre, in denen uns die Führungsschicht vieler Völker der Welt um Sie beneidet hat. Sie galten und Sie gelten weit über Deutschlands Grenzen hinaus als der Architekt des deutschen Wirtschaftswunders. Das Wort ist keine deutsche Erfindung, es stammt nicht von uns Deutschen. In ihm aber hat sich schlagwortartig das Erstaunen und da und dort wohl doch auch die Bewunderung der Welt für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des schwer geschlagenen deutschen Volkes ausgedrückt. Ohne diesen wirtschaftlichen Aufstieg wäre auch der politische Wiederaufstieg des freien Teiles Deutschlands kaum vorstellbar gewesen. Es ist wahr, daß unser sogenanntes Wirtschaftswunder nicht das Werk eines Einzelnen oder einer Partei war. In ihm verbanden sich der Fleiß, die Arbeitskraft, der Leistungswille, ja das Ingenium des deutschen Volkes, soweit es frei ist, in allen seinen Schichten und Gruppen. Ich glaube jedoch, daß nichts davon eingeschränkt wird, wenn man sagt, daß der zündende Funke jener geschichtlichen Leistung der Glaube an die produktive Kraft der Freiheit war.
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Dieser Glaube ist, so scheint mir, das bestimmende Charakteristikum Ihrer Persönlichkeit, soweit sie sich im Verlauf der letzten zwanzig Jahre deutscher Geschichte entfaltet und zur Darstellung gebracht hat. Bei einem Mann, der so wie Sie durchdrungen ist von diesem Glauben an die produktive Kraft der Freiheit, legt es sich nahe, daß er eine Abneigung dagegen hat, durch Staatszwang herbeizuführen, was der Wohlmeinende - vielleicht etwas zu optimistisch - von der freien Einsicht verständiger Mitbürger glaubt erwarten zu können. Mit der ganzen Kraft Ihrer Beredsamkeit haben Sie diese freie Einsicht Ihrer Mitbürger zu mobilisieren versucht.
Das war der Sinn, der staatsbürgerliche und politische Sinn Ihrer sogenannten Maßhalteappelle. Sie haben sich deshalb nicht selten karikieren lassen müssen. Aber Sie haben damit doch nur auf die Prämissen gesetzt, die unserer Staatsordnung zugrunde liegen. Unsere parlamentarische Demokratie steht und fällt mit der Entscheidungsfreiheit des stimmberechtigten Mitbürgers. Sie setzt damit die Entscheidungsfähigkeit ihrer Bürger voraus, und das heißt doch wohl auch die Bereitschaft zur Einsicht in zwingende Notwendigkeiten.
Sie, Herr Dr. Erhard, haben unentwegt darauf gehofft und dafür gearbeitet, daß man sich in allen Gruppen und Parteien rechtzeitig dazu entschließen werde, aus freien Stücken auch unbequeme Konsequenzen aus solchen Einsichten zu ziehen. Wenn ich recht sehe, ist die Mobilmachung der Einsicht in die Erfordernisse der Stunde im deutschen Volk weithin geglückt. Für Sie mag es nicht ohne Bitternis sein, daß es Ihnen versagt blieb, die Früchte aus dieser Einsicht selber zu ziehen. Offenbar ist das heute nur in einer neuen Zusammenordnung starker politischer Kräfte möglich. Dieses Haus hat indessen auch in
den Reihen Ihrer Gegner ein mitfühlendes Verständnis für die Empfindungen, die Sie darüber zuweilen überkommen mögen. Dankbar ist Ihnen dieses Haus dafür, daß Sie selber den Weg geebnet haben für die Entscheidungen, die ihm in diesen Tagen abverlangt wurden. Und Dank sagt Ihnen das Haus für Ihre Hingabe an diesen Staat und Ihr Wirken für den Wiederaufstieg Deutschlands.
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In diesem Hause sind viele, die Ihre politische Leistung - wie ich glaube, zu Recht für unvergeßlich halten. Nun, dies ist nicht der Augenblick der historischen, d. h. der nach allen Seiten hin abgewogenen geschichtlichen Würdigung Ihrer Leistung. Sie bleibt dem gewissenhaften Historiker überlassen. Mit diesem Augenblick hört auch die politische Kritik an dem Mann und seinem Werk nicht auf. Aber sie verschweigt für eine Stunde, um das zu Gehör kommen zu lassen, was in der harten politischen Auseinandersetzung so selten hörbar, aber dennoch auch in ihr lebendig ist, nämlich der menschliche Respekt, das persönliche Mitgefühl und die kollegiale Verbundenheit.
Von jener Stunde im Jahre 1948, die wohl als die Geburtsstunde der Erhardschen Marktwirtschaft bezeichnet werden darf, bis zu diesem Augenblick spannt sich ein weiter Bogen über ein Stück deutscher Geschichte. Alles in allem gehört es zwar nicht zu den schönsten Epochen unserer Geschichte; aber es darf doch wohl zu ihren kräftigsten gezählt werden. Das große Wagnis der Erhardschen Marktwirtschaft mußte sich früh bewähren. Es hielt der Korea-Krise stand. Die Bundesrepublik kam, um mit den Worten eines Ihrer Schüler zu sprechen, „besser durch die Wirren dieser Jahre als jedes vergleichbare Land". Seit 1952 haben Sie die Wirtschaft der Bundesrepublik konsequent in die Weltwirtschaft eingegliedert. Schrittweise, aber mutig haben Sie die Liberalisierung des Außenhandels durchgeführt und damit die deutschen Unternehmen bewußt jenem starken außenwirtschaftlichen Wett. bewerb ausgesetzt, den Deutschlands Wirtschaft so gut bestanden hat, daß wir heute zu den führenden Industrie- und Handelsnationen der Welt gehören. Die steigenden Verteidigungslasten sind ohne die Gefahr der Inflation bewältigt worden. Die innere Wettbewerbsordnung wurde durch das Kartellgesetz geregelt und eine Bundesbank gegründet, deren Wert und Unabhängigkeit wir aus staatspolitischen Notwendigkeiten auch dann würdigen müssen, wenn ihre Maßnahmen einmal unbequem sind. Zur gleichen Zeit haben Sie die Deutsche Mark frei konvertibel gemacht und damit die so lange entbehrte Bewegungsfreiheit dem größeren Teil des deutschen Volkes voll zurückgegeben.
Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind Sie, Ihrer ganzen Orientierung entsprechend, weltoffen gegen Isolation und Autarkie in die Schranken getreten, und als Regierungschef haben Sie besonders schwer an den Schwierigkeiten getragen, die sich der Einigung der europäischen Völker entgegenstellten.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Es war nicht Ihre Schuld, sondern die Folge weltpolitischer Wandlungen, daß Ihnen und uns allen der Wind der Weltpolitik in den letzten Jahren mehr und mehr in das Gesicht blies. Sie haben sich Mühe gegeben, Deutschland für die Belastungen und Gefahren, die sich damit anzukündigen begannen, so krisenfest und standkräftig als möglich zu machen. Sie haben diesem Haus Gesetze vorgelegt, die dieser Aufgabe mit Vorrang dienen sollten. Diese Entwürfe werden dieses Haus mit Ernst beschäftigen.
Ich könnte mir vorstellen, daß Sie, verehrter Herr Dr. Erhard, bei weitem nicht der einzige sind, der sich in diesen Tagen an den resignierten Satz erinnert: Die Politik kennt keinen Dank! Nun, dem Präsidenten dieses Hauses ist es in dieser Stunde eine Freude und eine Ehre, jener Resignation zu widersprechen. Weil wir groß denken von dem, was Sie zum Wiederaufstieg Deutschlands beigetragen haben, und weil wir groß denken von Ihrer Redlichkeit, deshalb darf ich Ihnen, Herr Bundeskanzler a. D. Dr. Erhard, in dieser Stunde den Dank des Deutschen Bundestages aussprechen.
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Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, zum Schluß noch einem anderen Dank zu sagen. Er gilt dem bisherigen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Professor Carlo Schmid. Seit der ersten Sitzung des 1. Bundestages am 7. September 1949 gehörte unser Kollege Carlo Schmid zum Präsidium dieses Hauses. Er stand meinen Vorgängern in diesem Amte zur Seite und er hat mich selber freundschaftlich und hilfreich vor mehr als zwölf Jahren in dieses Amt eingeführt. Er war in all diesen Jahren ein Vorbild parlamentarischen Wirkens und Sichverhaltens. Er hat damit zugleich ein überzeugendes Beispiel geliefert, wie sich ein glänzender
Geist auch in dem glanzlosen Alltag der Politik bewähren und zur Darstellung zu bringen vermag.
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Zusammen mit nicht wenigen anderen Mitgliedern des Hauses hat der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Carlo Schmid, ohne Worte das nichtsnutzige Schema widerlegt, das da und dort noch immer in unserem Volk herumgeistert, demzufolge sich die Selbstachtung des Geistes und seine schöpferische Leistung nicht wirklich vereinen und verbinden lassen sollen mit dem Mandat des Politikers und dem Handwerk des Parlamentariers.
Nun, 17 Jahre lang haben Sie, mein verehrter Freund und Kollege, in diesem Hause zu denen gezählt, die zwar, wie es sich für Politiker gehört, Verständnis für die taktischen Notwendigkeiten des Tages haben, die darüber aber dennoch ihrer eigenen Gesamtorientierung treu blieben. Es hat seinen Sinn, daß Sie diese Ihre große orientierende Kraft, Ihre profunde Bildung und Ihre hohe Gelehrsamkeit der neuen Bundesregierung dienstbar machen. Aber erlauben Sie mir, Ihnen hier vor dem ganzen Hause zu sagen, wie ungern wir Sie dennoch aus dem Präsidium des Hauses scheiden sehen, und erlauben Sie mir, hinzuzufügen, daß ich für das ganze Haus spreche, wenn ich Ihnen in dieser Stunde für das danke, was Sie - einer der Väter unserer Verfassung - für die Selbstgestaltung und Darstellung des Deutschen Bundestages in den vergangenen 17 Jahren getan haben.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Schlusse dieser Sitzung angelangt.
Die nächste Plenarsitzung findet voraussichtlich am Donnerstag, dem 8. Dezember, um 9 Uhr statt. Der Mittwoch, der 7. Dezember, soll den Ausschüssen und den Arbeitskreisen gehören.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist geschlossen.