Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich bekannt, daß mir der Herr Bundesminister der Finanzen am 17. September 1965 gemäß § 33 Abs. 1 der Reichshaushaltsordnung die Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Haushaltsausgaben im zweiten Vierteljahr des Rechnungsjahres 1965 zugeleitet hat, die den Betrag von 10 000 DM übersteigen - Drucksache V/2 -. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird diese Vorlage dem Haushaltsausschuß überwiesen. Das Haus ist damit einverstanden? - Kein Widerspruch;
es ist so beschlossen.
Es folgt eine zweite Mitteilung. Die Tagesordnung wird nach einer interfraktionellen Vereinbarung erweitert um die
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll vom 17. September 1965 zur Änderung des Abkommens vom 22. Juli 1954 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen ({0}).
Das Haus ist einverstanden, daß dieser Punkt noch auf die Tagesordnung kommt? - Kein Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich schlage vor, daß diese Vorlage zusammen mit den unter Punkt 7 bis 11 der Tagesordnung stehenden Abkommen nach Punkt 6 aufgerufen wird. - Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Die folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat am 25. November 1965 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD hetr. Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung - Drucksache V/33 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/56 verteilt.
Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde ({1}).
Nun noch eine Bemerkung zur Geschäftslage hinsichtlich der Fragestunde. Wir haben jetzt noch
110 Fragen als Rest aus dem alten Bestand. Wir haben aber auf Grund einer Erörterung im Ältestenrat beschlossen, daß für die Fragestunden am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche neue Fragen gestellt werden können. Wir können ja nicht einfach stoppen, bis wir die alten 110 Fragen erledigt haben, und bis dahin das Recht auf neue Fragen nicht gewähren. Wir müssen also neue Fragen zulassen. Sie werden jedoch erst aufgerufen, wenn die Fragen in der vorliegenden Liste beantwortet sind. In der letzten Besprechung im Ältestenrat wurde vereinbart, daß die zur Zeit vorliegenden Fragen in dieser Woche weiter mündlich beantwortet werden, so daß alte und neu eingereichte Fragen nicht zusammengelegt werden können.
Der langen Rede kurzer Sinn: Kürzer fassen! Kurz, präzis fragen! Wenn Zusatzfragen sein müssen, muß nicht jeder, der drei Fragen gestellt hat, auch noch seine sechs Zusatzfragen loswerden. Kurz, knapp und präzise fragen, möglichst auch entsprechend antworten!
Damit, meine Damen und Herren, fangen wir an. Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen, Fortsetzung!
Frage VI /9 - des Herrn Abgeordneten Biechele -
Liegen verbindliche Ergebnisse über jene Versuche zur Vermeidung von Gesundheitsschäden durch Auspuffgase vor, die beim Zollamt Konstanz- Kreuzlinger Tor mit Absaugeeinrichtungen im Sommer 1965 durchgeführt worden sind?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen.
Zur Kontrolle der Wirkung der Absauganlage beim Zollamt Konstanz- Kreuzlinger Tor ist bekanntlich ein Meßgerät installiert worden, das den Kohlenmonoxyd-, also den CO-Gehalt der Luft an sechs Meßstellen laufend feststellt und auf einem Kontrollstreifen niederschreibt. Die während mehrerer Monate durchgeführten Messungen haben ergeben, daß die Absauganlage ein brauchbares Hilfsmittel ist, um die Luft an den beiden Einreisefahrbahnen des Zollamtes Konstanz- Kreuzlinger Tor zu verbessern. Die vorher von den Zollbeamten geäußerten Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Übelkeit, die die Beamten auf die Kraftfahrzeugabgase zurückführten, sind seit Inbetriebnahme der Anlage ausgeblieben. Das anfangs zu laute Exhaustergeräusch ist inzwischen durch den Einbau von Schalldämpfern so weit ein-
) gedämmt worden, daß es weder die Abfertigungsbeamten noch die Reisenden oder die Anwohner stört.
Zusatzfrage!
Haben Sie, Herr Staatssekretär, eine Ubersicht darüber, bei welchen Grenzübergangsstellen eine ähnliche Gesundheitsgefährdung der Bediensteten durch Auspuffgase entsteht wie beim Zollamt Konstanz- Kreuzlinger Tor, und erwägen Sie, an diesen Grenzübergangsstellen ähnliche Einrichtungen zu installieren?
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt keine bis ins einzelne gehende Ubersicht, an welchen Stellen eine ähnliche Absauganlage in Betracht käme. Aber es gibt einige solcher Stellen, z. B. in Aachen und an einigen anderen Orten. Wir sind gern bereit, die Absauganlage, die sich beim Zollamt Konstanz- Kreuzlinger Tor bewährt hat, auch an anderen Stellen aufzubauen. Wir werden das schon deshalb in Kürze tun können, weil wir zwei Absauganlagen beim Zollamt Konstanz- Kreuzlinger Tor als zuviel angesehen haben. Es genügte die Hälfte, so daß zwei Anlagen auf Lager liegen und anderweitig verwandt werden können.
Zweite Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, gibt es eine Aufstellung darüber, welche Maßnahmen von anderen Staaten zum Schutze ihrer Bediensteten vor Gesundheitsschäden durch Auspuffgase durchgeführt werden?
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen diese Frage vielleicht im Zusammenhang mit Ihrer nächsten Frage beantworten. In der Tat befassen sich das Innenministerium und das Gesundheitsministerium mit derselben Frage. Denn es ist eine Frage, die nicht nur die Zollbeamten, sondern auch die Polizeibeamten und den Einzeldienst beim Bundesgrenzschutz betrifft. Unsere Nachbarstaaten beschäftigen sich ebenfalls mit dem gleichen Problem.
Ich rufe die von dem Abgeordneten Biechele gestellte Frage VI /10 auf:
Welche Ergebnisse sind bei der Erprobung der Kohlenmonoxyd- Kontrollplaketten bei den Landstraßenzollämtern festgestellt worden ({0})?
Seit Mitte Mai 1965 sind bei einzelnen Landstraßenzollämtern Versuche mit CO- Kontrollplaketten gemacht worden, die von den Beamten am Rockaufschlag getragen wurden. Leider haben diese Versuche kein befriedigendes Ergebnis gezeitigt. Der Gehalt der Luft an Kohlenmonoxyd wird ungenau angezeigt. Die Plaketten können auch nur einmal verwandt werden, weil sie entgegen der ursprünglichen Annahme an der frischen Luft nicht regenerieren. Die Spürsubstanz löste sich außerdem nach längerem Tragen von der Plakette und wurde bereits bei leichtem Regen ausgewaschen. Diese Kontrollplättchen mögen sonst ein durchaus brauchbares Mittel sein, um ohne große Unkosten festzustellen, ob 'CO in der Luft enthalten ist. Die Zollverwaltung muß aber feststellen können, wann der Gehalt der Luft an Kohlenmonoxyd bei einem Zollamt ein bedenkliches und gesundheitsschädliches Maß erreicht. Da die Plaketten hierfür nicht geeignet sind, werden sie für die Zollverwaltung nicht beschafft werden. Die Messungen werden wie bisher mit dem Gasprüfgerät der Firma Dräger durchgeführt werden.
Eine ZusatzFrage!
Herr Staatssekretär, wie steht die Bundesregierung der Forderung des Landes Nordrhein-Westfalen gegenüber, ein Bundesgesetz vorzulegen, das die Grenzwerte der giftigen Gase in Autoabgasen - zuerst wohl Kohlenmonoxyd - festlegen soll, also ein Bundesgesetz, das der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Grundmann als unbedingt erforderlich bezeichnet hat und das sich sicher auch im Sinne der Bemühungen auswirken würde, die Gefährdung der Gesundheit der Bediensteten an Grenzübergangsstellen zu vermindern?
Herr Abgeordneter, ich habe Zweifel, ob ein Gesetz dieser Art wirklich notwendig ist, wenn sich das gleiche auf dem Verwaltungswege erreichen läßt.
Frage VI /11 - des Abgeordneten Dr. Kliesing ({0}) -:
Ist die Bundesregierung bereit, die Regelung des § 14 Kraftfahrzeugsteuergesetz zu ändern, wonach bei Besitzwechsel oder Stillegung des Kraftfahrzeuges die überzahlte Kraftfahrzeugsteuer nur für volle Monate erstattet, in jedem Falle aber ein Betrag von 5 DM einbehalten wird?
Die Frage wird von Herrn Abgeordneten Draeger übernommen. Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Herr Präsident, darf ich die Beantwortung der beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Dr. Kliesing zusammenfassen?
Bitte sehr! Ich rufe auch die Frage VI /12 - des Abgeordneten Dr. Kliesing ({0}) - auf:
Trifft es zu, daß die Berechnung der Steuer für den gesamten überzahlten Zeitraum und die Erstattung dieses Betrages bei dem heute weitgehend üblichen maschinellen Verfahren gegenüber der Regelung des § 14 Kraftfahrzeugsteuergesetz keine Mehraufwendungen der Verwaltung und auch keine höheren Kosten verursacht?
Die Erstattungsregelung in § 14 Abs. 1 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes wird von den Steuerschuldnern - wohl mit Recht - als unbillig empfunden. Bund und Länder untersuchen deshalb, ob man allgemein zu einer tageweisen Erstattung übergehen kann, wie das übrigens - entgegen der Annahme des Herrn Abgeordneten Dr. Kliesing - beim Besitzwechsel schon heute geschieht, nämlich dann, wenn ein zugelassenes Fahrzeug auf einen anderen Steuerschuldner übergeht. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.
Die zweite Frage bejahe ich, allerdings nur für die Fälle, in denen schon nach geltendem Recht eine Erstattung vorzunehmen ist. Es würde sich in der Tat arbeits- und kostenmäßig kaum auswirken, wenn außer dem Betrag für volle Monate auch noch der Betrag für einen Restzeitraum von weniger als einem Monat berechnet und erstattet würde. Die jetzige Regelung hat aber den Vorteil, daß eine Erstattung überhaupt entfällt, wenn der Erstattungszeitraum insgesamt kürzer als ein Monat ist. In diesen Fällen würde der Übergang zur tageweisen Erstattung zusätzlichen Verwaltungsaufwand bedeuten.
Keine Zusatzfrage. Frage VI /13 - des Abgeordneten Ertl -:
Treffen Meldungen zu, wonach bei der letzten Ministerratssitzung der Fünf in Brüssel eine Einigung über die Agrarfinanzierung erzielt wurde?
Die Antwort lautet nein, Herr Abgeordneter. Auf der letzten Ministerratstagung der Fünf in Brüssel am 25. und 26. Oktober 1965 wurde lediglich eine Einigung _über bestimmte Leitlinien für die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik erzielt. Eine abschließende Einigung über die Agrarfinanzierung ist nur zu sechst möglich.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Anwort entnehmen, daß sich die Fünf dann im wesentlichen einig geworden sind?
Nein, Herr Abgeordneter; auch das ist nicht richtig. Die Fünf haben sich nur über gewisse Grundprinzipien geeinigt, andererseits sind eine Reihe wesentlicher Fragen gerade der Agrarfinanzierung offengeblieben. Es sind ungefähr vier oder fünf Punkte, und das sind gerade die wichtigsten, sowohl auf der Ausgabeseite wie auf der Einnahmeseite; auf der Einnahmeseite insbesondere die Höhe der finanziellen Beiträge und hier wiederum vor allem die Höchstbegrenzung des deutschen Beitrages.
Eine zweite Zusatzfrage!
Hat die Bundesregierung ihre Wünsche bei diesen Verhandlungen weitgehend durchgesetzt?
Diese Frage kann ich nicht eindeutig bejahen. Durchgesetzt werden können sie nur im Rahmen der Sechs. Die Fragen, die das deutsche Interesse im wesentlichen betreffen, sind offengeblieben; sie sind in dem Dokument der Kommission ausdrücklich als solche gekennzeichnet und der Entscheidung zu sechst vorbehalten geblieben.
Frage VI /14 - des Herrn Abgeordneten Dr. Schmidt ({0}) -:
Ist es mit recht verstandener Mittelstandspolitik noch ver- einbar, die mehr oder weniger im Schatten der Wirtschaftsentwicklung stehenden Hausgewerbetreibenden der Bandweberei, die arbeits- und versicherungsrechtlich als arbeitnehmerähnliche Personen behandelt werden, steuerrechtlich als Gewerbetreibende anzusehen, insbesondere sie mit dem Einzelnachweis der Betriebsausgaben zu belasten mit dem Ergebnis, daß die Aufrechterhaltung eines bescheidenen Grades von Selbständigkeit gegenüber dem reinen Arbeitnehmer nicht mehr sinnvoll erscheint?
Hausgewerbetreibende können nach dem Heimarbeitsgesetz vom 14. März 1951 in begrenztem Umfang fremde Hilfskräfte beschäftigen und vorübergehend auch unmittelbar für den Absatzmarkt arbeiten. Sie tragen damit ein gewisses unternehmerisches Risiko und sind deshalb nach steuerrechtlichen Grundsätzen als selbständige Gewerbetreibende anzusehen. Das gilt auch für die als Hausgewerbetreibende tätigen Bandweber.
Gewerbetreibende müssen grundsätzlich ihre Betriebsausgaben einzeln nachweisen oder glaubhaft machen. Die für die Verwaltung der Einkommensteuer zuständigen Landesbehörden haben jedoch aus Vereinfachungs- und Billigkeitsgründen den selbständigen Bandwebern eine weitgehende Pauschalierung ihrer Betriebsausgaben gestattet. Im Land Nordrhein-Westfalen, in dessen Gebiet die Bandweberei vorwiegend ansässig ist, verlangen die Finanzämter auf Grund besonderer Anforderungen von den Bandwebern nur dann den Einzelnachweis ihrer Betriebsausgaben, wenn sie einen Gewinn von mehr als 15 000 DM haben und die Pauschalierung der Betriebsausgaben zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen würde. Das wird nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Bandweber mit einem Gewinn von mehr als 15 000 DM können wohl nicht mehr als im „Schatten der wirtschaftlichen Entwicklung stehend" bezeichnet werden. Die Forderung nach dem Einzelnachweis der Betriebsausgaben, der sonst von jedem selbständigen Gewerbetreibenden zu erbringen ist, kann in diesen Ausnahmefällen auch nicht als unbillig angesehen werden.
Da die Bandweber hiernach keineswegs allgemein mit dem Einzelnachweis der Betriebsausgaben belastet werden, erscheint mir die Aufrechterhaltung ihrer steuerrechtlichen bescheidenen Selbständigkeit immerhin doch noch sinnvoll und auch noch im Rahmen einer wohlverstandenen Mittelstandspolitik vertretbar.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wenn auf der anderen Seite ein großer Teil der Bandweber ein Arbeiterverhältnis vorzieht, weil angesichts einer Pauschale von 40 '0/° bei 15 000 DM Gewinn tatsächlich der Lohn eines Arbeiters schon höher ist, halten Sie es dann für sinnvoll, hier noch von angemessener Mittelstandspolitik zu sprechen?
Auch das würde ich bejahen, Herr Abgeordneter. Nach dem, was mir seitens des Landes auf Rückfrage berichtet worden ist, sind bisher nur seltene Ausnahmefälle aufgetreten, die zu Schwierigkeiten geführt haben. Ich glaube, sogar nur ein einziger Fall. Alle anderen haben sich mit der bestehenden Regelung offenbar einverstanden erklärt.
Aber wenn Sie, Herr Abgeordneter, etwa die arbeitnehmerähnliche Lösung auch im Steuerrecht vorziehen wollen, würde den Betreffenden ein Nachweis ihrer dann vorliegenden Werbungskosten nicht erspart bleiben. Auch hier würde es zwar eine Pauschalierung geben, die den größten Teil der Fälle lösen würde; aber in wenigen extremen Ausnahmefällen würde es auch da zu einem Einzelnachweis kommen müssen.
Frage VI /15 - des Herrn Abgeordneten Folger -:
Ist die Bundesregierung sicher, daß die Erhebung der Sektsteuer in der bisherigen Form lückenlos möglich ist?
Die Frage wird von Herrn Abgeordneten Felder übernommen.
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, darf ich auch diese beiden Fragen zusammen beantworten?
Bitte sehr! Dann rufe ich auch auf die Frage VI /16 - des Herrn Abgeordneten Folger -:
Würde bei einer Erhebung der Sektsteuer durch Banderolen, wie bei Tabakwaren, mit einem besseren Ergebnis zu rechnen sein?
Die Bundesregierung ist sicher, daß die Erhebung der Schaumweinsteuer in der bisherigen Weise zwar nicht absolut lückenlos, aber mit einem solchen Maß an Sicherheit gewährleistet ist, daß zu Befürchtungen kein Anlaß besteht. Bei einer Entrichtung der Steuer durch Anbringung von Steuerzeichen würde mit einem Mehraufkommen nicht zu rechnen sein. Das beweisen die Erfahrungen aus einer Zeit, als die Schaumweinsteuer noch mittels Steuerzeichen zu entrichten war.
Zusatzfrage!
Glauben Sie nicht, Herr Staatssekretär, daß bei gemischten Sendungen unter Umständen der Inhalt von Sektflaschen als Wein deklariert wird und daß da eine Prüfung nicht möglich ist?
Nein, Herr Abgeordneter, auch da wird eine Prüfung, wenn auch erschwert, sicherlich durchführbar sein, ohne daß ein allzu großer Verwaltungsaufwand dafür erforderlich ist.
Ich rufe auf die Fragen VI /17 und VI /18 - des Herrn Abgeordneten Genscher -:
Hält es die Bundesregierung für richtig, daß auf Grund eines Ländererlasses in Zukunft bei der Bewertung von Halb- und Fertigfabrikaten nicht nur die Herstellungskosten, sondern auch Verwaltungskosten, Pensions- und Sozialleistungen, Vertriebskosten, Fremdkapitalzinsen und Eigenkapitalzinsen berücksichtigt werden sollen?
Ist die Bundesregierung bereit, durch eine Ergänzung der Einkommensteuer- und Lohnsteuerdurchführungsverordnung dafür zu sorgen, daß die Unterstellkosten für Kraftfahrzeuge in Parkhäusern etc. in, der Nähe des Arbeitsplatzes als Werbungskosten anerkannt werden können?
Die Fragen werden mit Zustimmung des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort liegt noch nicht vor, Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe auf die Fragen VI /19 und VI /20 - des Herrn Abgeordneten Dr. Marx ({0}) Wie weit sind die Verhandlungen zur Feststellung der Kosten, die bei einer Verlegung des amerikanischen Schießplatzes in Landstuhl, Kreis Kaiserslautern, entstehen würden, gediehen?
Wann ist mit der dringend erforderlichen Verlegung des amerikanischen Schießplatzes in Landstuhl, Kreis Kaiserslautern, zu rechnen?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär!
Der Kostenvoranschlag für den Ersatzbau liegt bereits dem Bundesministerium der Verteidigung vor. Er schließt mit Gesamtkosten in Höhe von 1 333 000 DM ab.
Sobald der Kostenvoranschlag genehmigt ist - ich hoffe, daß dies bald geschieht -, kann der Bauauftrag erteilt werden. Hierbei gehe ich davon aus, daß bis dahin erstens der Grunderwerb des Bundes hinsichtlich des Ersatzgeländes in Spesbach sichergestellt ist, zweitens die Stadt Landstuhl den Vertrag mit dem Bund über die Finanzierung der Ersatzanlage abgeschlossen hat und drittens die amerikanischen Streitkräfte dem Baubeginn zugestimmt haben. Ein fester Termin für die endgültige Verlegung des Schießplatzes läßt sich leider noch nicht nennen. Mit dem Baubeginn kann aber wohl Anfang nächsten Jahres gerechnet werden.
Keine Zusatzfragen.
Ich rufe auf die Frage VI /21 - des Herrn Abgeordneten Dr. Marx ({0}) -:
Bis wann ist mit dem endgültigen Abschluß der schon sehr lange Zeit laufenden Vertragsverhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland ({1}) und den Gemeinden
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Elschbach, Kübelberg, Miesau, Sand und Schönenberg im Kreise Kusel über die jährliche Entschädigung für Nutzungen von Forstflächen durch alliierte Streitkräfte zu rechnen?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe auf die Frage VI /22 - des Herrn Abgeordneten Dr. Wuermeling -:
Sind die Familien mit in weiterführender Ausbildung befindlichen Kindern der einzige gesellschaftliche Bereich, für den die Sparvorschläge der Bundesregierung eine - zudem mit steigender Kinderzahl stärkere - Kürzung ihres jetzigen regelmäßigen Einkommens vorsehen?
Darf ich vielleicht die Antworten auf die drei Fragen des Herrn Abgeordneten Dr. Wuermeling verbinden?
Bitte sehr. Dann rufe ich weiter auf die Fragen VI /23 und VI /24 - des Herrn Abgeordneten Dr. Wuermeling Warum sollen die Haushalte mit in Ausbildung befindlichen Kindern nicht ebenso wie alle anderen nur von den sonstigen Sparmaßnahmen betroffen werden, sondern darüber hinaus durch eine zusätzliche direkte Kürzung ihres jetzigen Einkommens doppelt belastet werden?
Was veranlaßt die Bundesregierung zu der in Frage VI /23 gekennzeichneten Wendung der Familienpolitik gegen die Familien, deren große eigene wirtschaftliche Opfer für weiterführende Ausbildung ihrer Kinder entscheidend sind für die Entwicklung des Bildungsstandes unseres Volkes?
Im Entwurf des Haushaltssicherungsgesetzes ist eine Herabsetzung der ab 1. April 1965 neu eingeführten Ausbildungszulage von 40 DM auf 30 DM monatlich je zulageberechtiges Kind vorgesehen. Es ist nicht der einzige Fall, alber sicherlich der wichtigste Fall, ,daß ein bereits laufendes, allerdings erst seit einem dreiviertel Jahr laufendes Leistungsgesetz von den gesetzlich festgelegten Sparmaßnahmen betroffen wird. Die Bundesregierung hat gerade deshalb ganz besonders sorgfältig geprüft, ob sie dem. Hohen Hause diese Kürzung vorschlagen sollte oder nicht. Sie ist zu dem Ergebnis gelangt, daß eine vorübergehende Kürzung angesichts des harten Zwanges zu Sparmaßnahmen nicht zu vermeiden ist. Die Sicherung des Haushaltsausgleichs ist eine Lebensfrage des ganzen Volkes und damit auch der Familien. Nur die besonders vorrangigen Investitionen für die Zukunftsvorsorge, zu denen vor allem die Förderung der Wissenschaft und Forschung, der Ausbau der Verkehrswege sowie die Umstrukturierung der Landwirtschaft gehören, konnten von eingreifenden Kürzungen ausgenommen werden.
Durch die Sparmaßnahmen des Haushaltssicherungsgesetzes werden im übrigen weite Personenkreise aus fast allen Bereichen unmittelbar betroffen. Es ist meines Erachtens kein wesentlicher oder entscheidender Unterschied darin zu sehen, daß im Falle der Ausbildungszulage bereits seit kurzer Zeit Leistungen gewährt werden, während das Haushaltssicherungsgesetz sonst in aller Regel nur solche vom Gesetzgeber beschlossene Leistungsverbesserungen hinausschiebt, die mit Rücksicht auf die Haushaltslage bisher noch nicht in Kraft getreten sind.
Auch nach der Herabsetzung der erst kürzlich neu eingeführten Ausbildungszulage um 10 DM bleibt den Familien immerhin noch ein Mehr gegenüber dem Rechtszustand vor dem 1. April 1965, nämlich ein Betrag von 30 DM je Kind. Von einer echten Doppelbelastung der Familien mit in der Ausbildung befindlichen Kindern durch das Haushaltssicherungsgesetz kann deshalb wohl nicht gesprochen werden. Richtiger wäre es wohl zu sagen, daß hier eine zeitlich begrenzte Einschränkung der erst kürzlich im Jahre 1965 gewährten Vergünstigung vorgesehen ist.
Die Bundesregierung hat die Kürzung der Ausbildungszulagen, wie eben erwähnt, nur für eine vorübergehende Zeit als eine der Maßnahmen zur Sicherung des Haushalts vorgeschlagen. Eine grundsätzliche Änderung der Familienpolitik ist damit nicht beabsichtigt. In seiner Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler betont, daß es zu den Aufgaben der kommenden Jahre gehöre, die Familienpolitik und den Familienlastenausgleich fortzuentwickeln.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß die Familien mit in weiterführender Ausbildung befindlichen Kindern nicht der einzige gesellschaftliche Bereich seien, für den die Sparvorschläge eine Kürzung des gegenwärtigen regelmäßigen Einkommens vorsähen, darf ich einmal fragen, in welchen anderen Bereichen noch das gegenwärtige regelmäßige Einkommen gekürzt wird?
Herr Abgeordneter, es ist sicherlich nur ein kleiner Bereich. Deswegen konnte ich sagen: Die Beschränkung der Ausbildungszulage ist nicht der einzige Fall, wenn es auch der wichtigste Fall ist. Im Haushaltssicherungsgesetz ist noch ein Fall vorgesehen, nämlich die Beseitigung der Altöl-Subventionen. Diese Altöl-Subventionen haben durchaus den Charakter einer Mittelstandspolitik, nämlich zugunsten mittlerer Betriebe, denen seit Jahr und Tag Zuschüsse zugeflossen sind. Diese sollen nach dem Haushaltssicherungsgesetz halbiert werden und auslaufen. Das Haushaltssicherungsgesetz ist - und das scheint mir der gewichtigste Grund für meine Behauptung zu sein, Herr Abgeordneter - nicht isoliert zu betrachten. Neben den Sparmaßnahmen, die im Haushaltssicherungsgesetz vorgesehen sind, gibt es ja noch weitere Kürzungsvorschläge und Beschlüsse des Bundeskabinetts, die durchaus auch in andere gesellschaftliche Bereiche hineingehen. Ich nenne Ihnen hier nur einen: das ist die Landwirtschaft.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie die Aufbereitungsprämien für Altöl für ein regelmäßiges monatliches Familieneinkommen? Damit darf ich die letzte Zusatzfrage verbinden: Liegt denn nicht eben doch eine Doppelbelastung der Haushaltungen mit Kindern insofern vor, als diese Altöl-Prämien auch die Familien treffen, die daneben in der horizontalen Belastung der Familien nochmals getroffen werden?
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt nicht auf das Familieneinkommen abgestellt. Ihre erste Frage lautete ja, ob es noch andere Gesellschaftsschichten gibt, die auch doppelt getroffen werden. Daß der Mittelstand eine der sozialen Schichten ist, scheint mir unbestreitbar zu sein. Einige Ihrer Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion betrachten die Altöl-Prämien durchaus als eine Angelegenheit mit mittelstandspolitischem Aspekt. Darüber hinaus habe ich aber auch noch die Landwirtschaft genannt, die im Rahmen der Kabinettsbeschlüsse noch eine Kürzung hinnehmen soll, z. B. soweit es um die Anschaffung von Maschinen im landwirtschaftlichen Haushalt geht, eine Hilfsmaßnahme, die bisher gewährt wurde und die jetzt eingeschränkt werden soll.
Zusatzfrage.
Gerade Ihr letztes Beispiel zeigt eindeutig die doppelte Belastung der Familien, deren Kinder sich in der Ausbildung befinden. Die Kürzungen der Landwirtschaftshilfen treffen auf der einen Seite die Familien vertikal in der Landwirtschaft, und auf der anderen Seite kommt horizontal für die Familien mit Kindern die Zusatzbelastung noch hinzu.
Ich habe Ihren Darlegungen keine Frage entnommen, Herr Abgeordneter.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn es zutrifft, daß diese Ausbildungshilfe gegeben worden ist, damit eine Art Ausgleich zwischen den Familien, die mit der Bildung eine Investition für die Zukunft betreiben, und den anderen Familien erfolgt, trifft es dann nicht auch zu, daß in der Tat eine Doppelbelastung gerade dieser Familien eintritt, und zwar nicht nur durch Wegnahme z. B. bei einem fünfköpfigen Haushalt mit drei Kindern im entsprechenden Alter von monatlich 30 DM auf Grund dieser Maßnahmen, sondern auch indem sich gleichzeitig eine höhere Belastung aus der Preissteigerung ergibt, die die Lebenshaltungskosten verteuert?
Da es Familien mit ausbildungspflichtigen Kindern in allen sozialen Schichten gibt, Herr Abgeordneter, ist es leider nicht zu vermeiden, daß von der Bundesregierung beschlossene Kürzungen in der Tat den einen oder anderen mehrfach treffen werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Überlegungen darüber angestellt worden, um wieviel Prozent etwa die jetzt getroffenen Maßnahmen den vorher erzielbaren und erreichten Effekt in der Ausbildung wieder rückgängig machen werden?
Es sind Erwägungen angestellt worden, wie man Härten vermeiden könnte, die durch die vorgesehene Kürzung um 10 DM entstehen könnten. Hier war die Frage aufgetaucht, ob man vielleicht eine Einkommensgrenze statt der Kürzung einführen sollte, eine Anregung, die auch der Bundesrat übernommen hat. Es wird Aufgabe des Hohen Hauses sein, bei der Beratung dieses Punktes des Haushaltssicherungsgesetzes auch diese Fragen noch einmal eingehend zu erörtern.
Herr Abgeordneter Westphal!
Herr Staatssekretär, hat sich die Bundesregierung bei ihrem Kürzungsvorschlag auf dem Gebiet der Ausbildungszulage auch davon leiten lassen, daß diese Ausbildungszulage bisher die beabsichtigten bildungspolitischen Wirkungen nicht gehabt hat?
Keineswegs.
ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, zunächst die Frage VII /1 - des Herrn Abgeordneten Sänger -:
Treffen Informationen zu, nach denen der Bericht über die Konzentration in der Wirtschaft, der dem 4. Deutschen Bundestag vorgelegt wurde ({0}), ursprünglich auch einen Abschnitt über die Konzentration im deutschen Pressewesen enthielt oder daß dieser Abschnitt vorbereitet worden war?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Der Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft enthielt niemals einen Abschnitt über die Konzentration im deutschen Pressewesen. Es war auch kein entsprechender Abschnitt vorbereitet worden. Allerdings hatte man bei Beginn der Konzentrationsenquete zunächst beabsichtigt, auch die Konzentration im Pressewesen zu untersuchen. Nachdem man sich aber in einem ersten Überblick über die besonderen Schwierigkeiten, die einer solchen Untersuchung entgegenstanden, informiert hatte, entschloß sich die Enqueteabteilung des Bundesamtes, wegen Zeit- und Personalmangels von einer Untersuchung der Konzentration im Pressewesen abzusehen,
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sänger.
Herr Staatssekretär, muß ich daraus entnehmen, daß die Bundesregierung auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, dem Bundestag Tatsachenmaterial über mögliche Konzentrationsvorgänge in der deutschen Presse bereitzustellen?
Herr Abgeordneter, ich möchte die Frage nicht bejahen; aber ich darf darauf aufmerksam machen, daß die Konzentrationsenquete ja auf Beschlüsse des Deutschen Bundestages zurückging. Die Bundesregierung wurde vom Deutschen Bundestag - und zwar nicht durch einen einfachen Beschluß, sondern durch das bekannte Gesetz über die Untersuchung der Konzentration - aufgefordert, diese Untersuchung durchzuführen.
Im übrigen, Herr Abgeordneter, mache ich darauf aufmerksam, daß die Bundesregierung im Dezember 1964 auf Initiative des Deutschen Bundestages eine Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk, Fernsehen und Film eingesetzt hat. Sie wissen, Herr Abgeordneter, daß diese Untersuchungskommission mit ihrer Arbeit begonnen hat. Ich möchte aber durchaus betonen, daß der Fragenkreis der Konzentrationsenquete natürlich nicht voll identisch ist mit dem Fragenkreis dieser Enquete über die Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit, auch wenn sich die Themenkreise berühren.
Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, die beiden Themenkreise berühren sich zweifellos. Glauben Sie nicht, daß man, wenn man die Gesamtstruktur des deutschen Rundfunk- und Fernsehwesens auf der einen Seite und der Presse auf der anderen Seite bewerten will, notwendigerweise auch mögliche Konzentrationsvorgänge kennen muß?
Herr Abgeordneter, ich will der Kommission über die Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk, Fernsehen und Film in dem nächsten Gespräch, das wir haben werden, sehr gern Ihre Ansicht unterbreiten; aber Sie wissen, daß diese Kommission unabhängig arbeitet. Ich persönlich bin der Auffassung, daß die Frage der Konzentration bei diesen Meinungsträgern durchaus auch Bedeutung für die Frage der Wettbewerbsgleichheit hat; aber ich kann hier nur betonen, daß das die Meinung des Staatssekretärs des BMWi ist, aber nicht die Meinung der Kommission, die selbständig arbeitet. Ich werde bei unserer nächsten Sitzung aber ausdrücklich auf diesen Punkt aufmerksam machen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen,
Herr Staatssekretär, welcher Art waren die Schwierigkeiten, von denen Sie hier gesprochen haben, die sich einer Untersuchung über die Konzentrationsvorgänge in der Presse entgegengestellt haben?
Herr Abgeordneter Schmitt, ich möchte darauf aufmerksam machen, daß wir im Februar 1963 - ich glaube, es war drüben im Raum O 1 P - ein eingehendes Gespräch mit Vertretern der Fraktionen des Deutschen Bundestages gehabt haben. In diesem Gespräch, an dem auch Herren Ihres Fraktionsvorstandes teilgenommen haben, haben wir die vorhandenen Schwierigkeiten ausführlich dargelegt. Ich will sie ganz kurz wiederholen. In der Anlaufzeit hatten wir die ganz große Sorge um die Heranziehung geeigneter Persönlichkeiten. Wir hatten ja das große Dilemma, daß es sich um eine auf zwei Jahre begrenzte Aufgabe handelte. Bei der allgemeinen Arbeitsmarktsituation, insbesondere bei der Tatsache, daß auch junge Akademiker - verzeihen Sie das Wort - wie warme Semmeln weggehen, war es ungeheuer schwer, einen solchen Apparat von hochqualifizierten Menschen aufzubauen.
Eine zweite Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, wenn die Anregung - auf die Zusatzfrage des Herrn Kollegen Sänger haben Sie zugesagt, diese Anregung zu geben - bei der Kommission nicht auf fruchtbaren Boden fällt, den Fragenkomplex in Ihrem Hause weiter zu verfolgen?
Wir nehmen gern zur Kenntnis, daß an dieser Frage hohes Interesse besteht. Ich kann Ihnen allerdings nicht zusagen, daß wir im Rahmen des Apparates des Bundeswirtschaftsministeriums in der Lage sind, eine Spezialuntersuchung dieser Art vorzunehmen. Wenn freilich die Unterhaltungen hier zeigen, daß wir in dieser Frage nicht weiterkommen, werden wir gern überlegen, ob wir im Wege von Gutachteraufträgen etwas mehr Aufklärung in die Sache hineinbringen können. Aber Sie, Herr Abgeordneter, wissen genau - das zeigt Ihre Frage -, wie ungeheuer schwierig gerade dieser Komplex ist.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn wir so weitermachen, ist es hoffnungslos, den Schluß zu erreichen; mit den neuen Fragen, die mir jetzt wieder auf den Tisch gelegt werden, ist das völlig ausgeschlossen. Ich werde jetzt von der Vollmacht des Abschnitts 15 der Richtlinien für die Fragestunde Gebrauch machen: „Der Präsident kann weitere Zusatzfragen durch andere Mitglieder des Hauses zulassen." Das. heißt: er muß
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
nicht. Auf die beiden Zusatzfragen der Fragesteller besteht ein Rechtsanspruch. Wenn Sie davon nicht Gebrauch machen, um so besser. Ich werde jetzt keine weiteren Fragen durch andere Mitglieder des Hauses mehr zulassen.
Ich rufe die Frage VII /2 - des Herrn Abgeordneten Flämig - auf:
Welche Maßnahmen wurden in der Bundesrepublik Deutschland getroffen, um zu verhindern, daß durch mehrstündigen Stromausfall Millionen von Menschen in ein unbeschreibliches Chaos geraten, wie dies im Nordosten der USA in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1965 geschehen ist?
Die Frage des Herrn Abgeordneten Flämig beantworte ich wie folgt. Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen haben für den Fall von Netzzusammenbrüchen technische und organisatorische Maßnahmen getroffen und dem Personal alle erforderlichen Anweisungen erteilt, um den Umfang etwaiger Stromausfälle so eng wie möglich zu begrenzen und die Versorgung möglichst umgehend wiederaufzunehmen. Als vorbeugende Maßnahme gegen Stromausfälle überlokalen Ausmaßes wurde von den großen Verbundunternehmen vor drei Jahren in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ein Stufenplan ausgearbeitet, der die Lehren aus der Störung des Jahres 1960 zieht. Gemäß diesem Plan werden bei kleineren Störungen zunächst sämtliche Kraftwerksreserven automatisch mobilisiert, sodann werden, falls nötig, bestimmte Verbraucher mit denen bereits Absprachen getroffen worden sind, abgeschaltet. Sollten diese Maßnahmen zur Behebung der Störung nicht ausreichen, wird das Verbundnetz in einzelne Inselnetze aufgetrennt, so daß die Störung auf das enge Gebiet beschränkt bleibt, in dem sie aufgetreten ist. Die für die Stromversorgung verantwortlichen Versorgungsunternehmen haben damit wirksame Maßnahmen vorbereitet, um Stromausfälle schnellstens zu lokalisieren und zu beheben.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, können Sie zufällig sagen, ob derartige technische und organisatorische Vorkehrungen auch in bezug auf die geregelte Versorgung der Bevölkerung mit Koch-, Heiz- und Industriegas getroffen sind?
Herr Abgeordneter, wenn Sie gestatten, würde ich diese Frage gern schriftlich beantworten. Ich bin im Moment nicht in der Lage, darüber eine klare und verbindliche Auskunft - und nur darauf legen Sie Wert - zu geben.
Ich rufe die Fragen VII/3 und VII/4 des Herrn Abgeordneten Dr. Tamblé - auf:
Wäre auch in der Bundesrepublik ein ähnlicher totaler Zusammenbruch der Stromversorgung möglich, wie er sich Anfang November im Osten der USA ereignet hat?
Stehen dem deutschen Verbundnetz zur Zeit ausreichende Mengen an Ersatzenergie zur Verfügung, falls es zu größeren Ausfällen bei wichtigen Kraftwerken kommen sollte?
Ein Zusamenbruch der Elektrizitätsversorgung in der Bundesrepublik in ähnlichem Ausmaß und von ähnlicher Zeitdauer wie in den USA wird von allen Fachleuten für unmöglich gehalten. Die deutsche Elektrizitätsversorgung verfügt im Gegensatz zu der der USA über ein engmaschiges, auf höchste Sicherheit ausgebautes Versorgungsnetz, in das zahlreiche leistungsfähige Wärme- und Wasserkraftwerke über verschiedene Leitungen einspeisen. Selbst wenn Störungen in großen Kraftwerken oder wichtigen Leitungen zu erheblichen Leistungsausfällen führen, kann die Versorgung durch Ausgleichslieferungen über das Verbundnetz, das außerdem mit dem benachbarten Ausland, mit Frankreich, der Schweiz, Österreich, den Benelux-Staaten und neuerdings über die Konti -Skan -Leitung auch mit Schweden, in Verbindung steht, aufrechterhalten werden. Selbstverständlich kann der Ausfall von Kraftwerken und Leitungen zum Stromausfall in räumlich begrenzten Gebieten führen. Durch Umschaltungen auf andere vorhandene Leitungen werden solche Stromausfälle jedoch in relativ kurzer Zeit behoben werden können.
Keine Zusatzfrage. - Bitte Frage 4, Herr Staatssekretär!
Im deutschen Verbundnetz sind ausreichende Reserven an Kraftwerksleistung vorhanden. Sie betrugen beispielsweise im letzten Winter, und zwar zur Zeit der Höchstbelastung des Netzes, noch rund 14 °/o. Das heißt, die Stromabgabe hätte während der höchsten Beanspruchung des vergangenen Winters noch wesentlich gesteigert werden können. Damit hätten Ausfälle einzelner wichtiger Kraftwerke ohne weiteres ausgeglichen werden können.
Ich rufe auf die Fragen VII /5 und VII /6 - der Frau Abgeordneten Schanzenbach -:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Industrieansiedlung im badischen Grenzland vor allem deshalb Schwierigkeiten bereitet, weil das Energieangebot auf der elsässischen Seite erheblich günstiger ist?
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, darauf hinzuwirken, daß die geplanten neuen Stromkraftwerke am Oberrhein die elektrische Energie zu gleichen Bedingungen nach Frankreich und in die Bundesrepublik abgeben, also nicht mehr einseitig in das Netz der Electricité de France?
Frau Abgeordnete Schanzenbach ist nicht im Saal; die Fragen werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, zunächst zur Frage VII /7 - des Herrn Abgeordneter Dr. Müller-Hermann -:
Glaubt die Bundesregierung, daß die Verordnung Nr. 156/65 der EWG-Kommission vom 10. November 1965 betr. Referenzpreise für Orangen, die praktisch eine kleine Erzeugergruppe durch erhebliche Zusatzbelastungen für breite Verbraucherschichten zu schützen versucht, sich im Einklang mit dem Geist des EWG-Vertrages befindet?
Nach Art. 39 Abs. 1 Lit. a
und b des Römischen Vertrages ist es das Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik, die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern und das Pro-Kopf-Einkommen der Landwirtschaft zu erhöhen. Mit dieser Forderung des Vertrages ist die von der Kommission vorgelegte Verordnung vereinbar, und zwar sowohl nach dem Wortlaut wie nach dem Sinn des Vertrages. Unter Lit. e dieser Bestimmung findet sich aber eine Vorschrift, daß auch den Verbrauchern eine angemessene und preisgünstige Versorgung zugestanden werden muß. Weil diese beiden Forderungen in Einklang zu bringen sind, hat die Bundesregierung dem Vorschlag der Kommission nicht zugestimmt, sondern schon im Verwaltungsausschuß andere Vorschläge gemacht, die den Verbraucher nicht in dem Maße belasten sollten. Sie befand sich dabei in Übereinstimmung mit den vier anderen Ländern der Gemeinschaft.
Zusatzfrage.
Wird die Bundesregierung ihre Bemühungen darauf konzentrieren, Herr Minister, daß man den Orangen-Anbauern in Süditalien zweckmäßigerweise direkte Subventionen anbietet, statt über Referenzpreise eine Erhöhung des Preisniveaus in der gesamten Gemeinschaft herbeizuführen?
Auch das war eine Überlegung. Eine Subvention würde aber eine Änderung der Grundverordnungen erfordern, was die einstimmige Mitwirkung aller Mitglieder voraussetzen würde. Es gibt eine Reihe von anderen Lösungsversuchen, die heute oder morgen zu einem Ergebnis führen könnten. Wir rechnen damit, daß die Vorlage an ein Spezialkomitee zurückverwiesen wird, das sich noch in den nächsten Tagen um eine Lösung bemühen sollte.
Eine zweite Zusatzfrage.
Würden Sie im Rahmen Ihrer Bemühungen um einen Kompromiß auch in Erwägung ziehen, saisonabhängige Referenzpreise einzuführen, damit nicht unbedingt Preiserhöhungen die Folge sein müssen, selbst wenn man den Orangenproduzenten in Süditalien helfen will?
Das war ein Bestandteil unserer Vorschläge, und dieser Bestandteil wird aufrechterhalten.
Ich rufe auf die Frage VIII /1 - des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen -:
Hält die Bundesregierung eine Ergänzung der Vorschriften zur Bekämpfung von Tierseuchen hinsichtlich der Nutzfische - wie sie von Professor Liebmann in Weilheim angeregt wurde - für angebracht?
Bei der Anregung von Professor Dr. Liebmann handelt es sich um sehr beachtenswerte Vorschläge, die zur Zeit vom Veterinärausschuß geprüft werden, der einen Unterausschuß mit der genauen Prüfung beauftragt hat. Das Ergebnis liegt noch nicht vor. Aber ich halte den ganzen Vorschlag für interessant und bedeutsam.
Ich rufe auf die Fragen VIII /2, VIII /3 und VIII /4 - des Herrn Abgeordneten Schwabe -:
Trifft es zu, daß Roggenmischbrot nicht als Einpfünder gebacken werden darf?
Trifft es bei Bejahung der Frage VIII /2 zu, daß hierdurch von vielen Verbrauchern Roggenmischbrot in größeren Einheiten gekauft, jedoch häufig nicht aufgebraucht wird?
Sieht sich die Bundesregierung bei Bejahung der Frage VIII /2 in der Lage, diesen Zustand zu ändern?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe auf Frage VIII /5 - des Herrn Abgeordneten Dröscher -:
Wie erklärt es sich die Bundesregierung, daß aus der im Jahre 1965 zur Verfügung stehenden 1. Tranche der Mittel aus dem Ausrichtungs- und Garantiefonds der EWG für das Jahr 1962/63 das Land Rheinland-Pfalz mit seiner stark benachteiligten, schlecht strukturierten Mittelgebirgslandschaft keinen Anteil an den verteilten i10,2 Millionen DM erhalten hat, sondern diese ausschließlich nach Bayern, Württemberg und Schleswig-Holstein geflossen sind?
Aus dem Lande Rheinland-Pfalz lagen bei der Kommission der EWG zur Endauswahl der Projekte für die Bewilligung von Zuschüssen aus der ersten Tranche der Mittel aus dem Ausrichtungs- und Garantiefonds - Abteilung Ausrichtung - keine bewilligungsreifen Anträge vor. Dagegen sind für die zweite und die dritte Tranche genügend Anträge auch aus diesem Lande eingereicht worden, und ich bin überzeugt, daß ein Teil davon berücksichtigt wird.
Ich rufe auf die Frage VIII /6 - des Herrn Abgeordneten Schmidt ({0}) -:
Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung die Einfuhr von Zuckerschnitzeln gestattet, obwohl sicher ist, daß in der gegenwärtigen Zuckerrübenkampagne genügend Zuckerschnitzel gewonnen werden?
Ist Herr Abgeordneter Schmidt ({1}) im Saal? - Die Frage wird von Herrn Abgeordneten Hauck übernommen.
Herr Kollege Hauck, selbst in dem sehr günstigen Erntejahr 1964/65 mußten Zuckerschnitzel eingeführt werden. Sie wissen genau, daß das heurige Erntejahr erheblich ungünstiger ist, so daß schon aus diesem Grunde ein Einfuhrbedarf entstehen wird. Das war auch der Grund für die Ausschreibung. Außerdem sind noch weitere Umstände vorhanden. Es ist nämlich noch ein verringer78
ter Anfall von Trockenschnitzeln zu erwarten. Ferner liegt die Ernte der übrigen Hackfrüchte sowie des Futtergetreides erheblich unter dem Mehrjahresdurchschnitt, also nicht nur unter dem Ergebnis des letzten Jahres. Dazu kommt infolge der starken Niederschläge vielfach schlechte Rauhfutterqualität, die in verstärktem Umfange eine Ergänzung der Fütterung durch Zusatzfuttermittel erfordert.
Das allgemein knappere Angebot hat sich auch in entsprechenden Preisen niedergeschlagen, die Ihnen zweifellos bekannt sind, so daß diese Ausschreibung sachlich gerechtfertigt ist.
Fragen VIII /7 und VIII /8 - .der Abgeordneten Frau Dr. Krips -:
Trifft es zu, daß die Apfelsinen zu Weihnachten wegen der Referenzpreise um 10 bis 20 % teurer werden sollen?
Beabsichtigt die Bundesregierung, Schritte gegen die von der EWG geplanten Referenzpreise für Apfelsinen in die Wege zu leiten?
Die Fragen hängen mit der Frage zusammen, die der Kollege Dr. Müller-Hermann gestellt hat. Die Preise selbst werden, wie Ihnen ja bekannt ist, durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Wenn ich davon ausgehe, daß die Abschöpfungsbeträge weitergegeben und nicht durch die Spanne aufgefangen werden, müßte mit einer Preisanhebung gerechnet werden, es sei denn, daß bis zum ,12. Dezember der Rat die Beschlüsse der Kommission aufhebt.
Zusatzfrage.
Handelt es sich bei den Plänen für die Erhöhung der Orangenpreise um eine Gegenleistung für die Zustimmung Italiens in Fragen des europäischen Getreidepreises?
Es ist richtig, daß solche Zusammenhänge bestehen. Trotzdem waren wir der Meinung, daß es andere Lösungen gäbe, die den Verbraucher nicht belasten würden. Das war die Meinung von fünf Ländern. Die Kommission hat sich aber hierzu nicht entschließen können, sondern hat aus ihrer Kompetenz heraus eigene Vorschläge gemacht, die zur Zeit dem Rat vorliegen. Wir werden die bisherige Haltung weiterhin einnehmen.
Zweite Zusatzfrage!
Frau Dr. Krips: ({0}): Trifft es zu, daß nach den Plänen der EWG-Kommission auch die Referenzpreise für Äpfel um 40 % ihres derzeitigen Wertes erhöht werden sollen?
Davon ist mir bisher nichts bekannt.
Frage VIII /9 - des Abgeordneten Ertl -:
Trifft es zu, daß zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe wegen der verspätet erschienenen Richtlinien für die Anpassungshilfe nicht fristgerecht ihre Anträge einreichen konnten?
Es ist richtig, daß eine ganze Reihe von landwirtschaftlichen Betrieben die Anpassungshilfe nicht mehr fristgerecht beantragt hat. Der Grund dafür ist, daß die Richtlinien erst sehr spät erlassen werden konnten, und zwar deswegen, weil das Gesetz erst am 19. August 1965 in Kraft getreten ist. Die Richtlinien sind dann am 25. August 1965 erlassen worden.
Sie kennen die Verhältnisse hinsichtlich der Fristen. Die Frist lief zunächst - einschließlich Nachfristgewährung - bis zum 31. Oktober; sie ist dann bis zum 15. November verlängert worden. Ich nehme an, daß diese Verlängerung ausreichen wird, um alle Versäumnisse nachholen zu können.
Zusatzfrage.
Herr Minister, sind Sie bereit, die Frist nochmals zu verlängern, wenn sich herausstellen sollte - ich nehme hier auf eine Beschwerde des Bayerischen Bauernverbandes Bezug -, daß auch die jetzige Frist nicht restlos ausgenutzt werden konnte?
Aber es müßten schon ganz besondere Umstände nachgewiesen werden, warum diese jetzt schon in die Monate gehende Frist versäumt wurde.
Frage VIII /10 - des Abgeordneten Ertl -:
Trifft es zu, daß bereits jetzt keine Mittel mehr für bauliche Maßnahmen in der Landwirtschaft, Aussiedlung und Aufstockung, zur Verfügung stehen?
Die ungewöhnlich starke Zunahme an Anträgen auf Förderungmittel des Bundes für Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur gegenüber den vergangenen Haushaltsjahren hat dazu geführt, daß die Bewilligungen vorübergehend gestoppt werden mußten. Inzwischen sind die zentralen Bankinstitute ermächtigt, wieder Bewilligungen auszusprechen, allerdings mit der Maßgabe, daß die bewilligten Mittel erst im Haushaltsjahr 1966 zur Auszahlung kommen dürfen. Bei der angespannten Haushaltslage des Bundes und der ungewöhnlich hohen Inanspruchnahme der hierfür veranschlagten Mittel - Kap. 10 02 Tit. 573 - war eine andere Regelung nicht möglich.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, trifft es zu, daß etliche tausend Anträge auf Zinsverbilligungsmaßnahmen, sei es für Althofsanierung, sei es für andere bauliche
Maßnahmen, zur Zeit bei der Rentenbank vorliegen und wegen Mittelknappheit nicht bearbeitet werden können?
Das werde ich nachprüfen.
Frage VIII /11 - des Abgeordneten Bading -:
Wie hoch ist die Zahl der landwirtschaftlichen, nicht zur Alterskasse beitragspflichtigen Betriebsinhaber, die keine sogenannte Anpassungsbeihilfe beantragt haben?
Nach Angaben der landwirtschaftlichen Alterskassen sind rund 150 000 Anträge auf Gewährung der Anpassungshilfe von Personen eingegangen, die mindestens 1 ha landwirtschaftliche Nutzfläche bewirtschaften, aber nicht Unternehmer im Sinne des §1 des Altershilfegesetzes sind. Die Zahl der Personen, die nach den Voraussetzungen der Ziffer II 2 b der Richtlinien für die Gewährung einer Anpassungshilfe empfangsberechtigt sind, aber keine Anträge gestellt haben, ist nicht bekannt; sie läßt sich auch nicht feststellen. Bei den Vorausschätzungen für die Verteilung der Anpassungshilfe wurden 233 000 Empfangsberechtigte angenommen.
Ich rufe auf die Frage VIII /12 - des Abgeordneten Bading -:
Welcher Betrag ist von den 380 Millionen DM, die für die sogenannte Anpassungshilfe insgesamt bereitgestellt wurden, dadurch gespart worden, daß sie von den in Frage VIII /11 erwähnten Betriebsinhabern nicht beantragt wurde?
Da weder die Zahl der Berechtigten, wie soeben dargelegt, noch die Höhe der auf sie entfallenden Anpassungshilfe festgestellt werden kann, ist auch nicht bekannt, welcher Betrag durch einen etwaigen Verzicht auf Anpassungshilfe eingespart wurde. Auch hier gibt es einen gewissen Anhaltspunkt in Schätzungen, und zwar waren bei den Vorausschätzungen 20 Millionen für diesen empfangsberechtigten Kreis angesetzt worden, und dieser Betrag wird bisher um 6 Millionen unterschritten werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bading.
Herr Minister, sind Sie nicht mit mir der Ansicht, daß aus der relativ kleinen Zahl von Antragstellern - Sie nannten die Zahl 150 000 - hervorgeht, daß diese sogenannte Anpassungsbeihilfe in Höhe von 50 bzw. 100 DM je Betriebsinhaber reichlich überflüssig gewesen ist?
Wir haben uns auch darüber Gedanken gemacht. Nachdem das Hohe Haus dieses Gesetz beschlossen hat, möchte ich nicht so weit gehen wie Sie und das als überflüssig bezeichnen; aber es gibt einen anderen, viel interessanteren
Grund, nämlich, daß wahrscheinlich diese vielen kleinen Betriebsinhaber ein höheres Einkommen als 7800 DM aus ihrem Haupterwerb haben. Das ist eine erfreuliche Tatsache, und ich glaube, das war der eigentliche Grund.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bading.
Herr Minister, wenn Sie es nicht als reichlich überflüssig bezeichnen, können Sie mir dann verraten, wie auch ein Kleinbetrieb mit 50 bzw. 100 DM Anpassungsbeihilfe diese Anpassung an veränderte EWG-Verhältnisse durchführen soll?
Das ist alles erst ein Anfang. Man kann auch mit kleinen Schritten anfangen. Es gibt ganze Bereiche, in denen Sie fortgesetzt kleine Schritte empfehlen.
({0})
Ich rufe auf die Fragen VIII /13, 14 und 15 - des Herrn Abgeordneten Leukert -:
Ist es richtig, daß auf Grund des Kabinettsbeschlusses vom 3. August 1965 dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die restliche Bindungsermächtigung in Höhe von 120 Millionen DM zur Verfügung gestellt wurde, die für die ländliche Siedlung ({0}) im Bundeshaushalt 1965 vorgesehen war?
Ist es - bei Bejahung der Frage VIII /13 - richtig, daß trotz der erteilten Bndungsermächtigung die Mittel für die Eingliederung der heimatvertriebenen Bauern nicht zur Verfügung gestellt wurden?
Was gedenkt die Bundesregierung gegebenenfalls zu tun, um die Schäden, die durch die Nichtauszahlung der Darlehen und Beihilfen bei den heimatvertriebenen Bauern entstanden sind, zu beheben?
Ich glaube, Herr Kollege Leukert, Ihre drei Fragen in einem einzigen Satz beantworten zu können: In der Zwischenzeit war es möglich, die 50 Millionen DM zu beschaffen, und zwar auf dem Kapitalmarkt, der uns bisher diese 50 Millionen DM nicht gewährt hatte, so daß die Maßnahmen nachgeholt werden können, soweit sie nicht vor der Kürzung in Höhe von 7 % und 3 % betroffen sind.
Damit sind die Fragen VIII /13, 14 und 15 beantwortet. Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Leukert.
Herr Bundesminister, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit sich dieser Vorfall nicht im Jahre 1966 wiederholt?
Über den Kapitalmarkt haben wir kein absolutes Verfügungsrecht. Sie wissen ganz genau, daß hier viele Kräfte zusammenwirken müssen, um ihn leistungsfähig zu
machen. Wir werden auch im kommenden Jahr darauf angewiesen sein, Teile aus dem Kapitalmarkt zu holen. Wir werden alle Anstrengungen machen, aber: ultra posse nemo obligatur.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Leukert.
Herr Bundesminister, darf ich fragen, ob Sie sich nicht bemühen wollten, gleich am Anfang des Jahres die Kapitalmarktmittel zu beschaffen?
Ob das am Anfang so ohne weiteres möglich ist, noch bevor im Haushalt festgelegt ist, welche Beträge in Betracht kommen, weiß ich nicht. Außerdem befinden wir uns am Kapitalmarkt in Konkurrenz, und zwar mit anderen Bundesansprüchen. Ich kann dazu heute noch keine genaue und fixierte Antwort geben.
Ich rufe auf die Fragen VIII /16 und VIII /17 - des Abgeordneten Reichmann -:
Ist es zutreffend, daß ab 1. November 1965 nur für die deutsche Butter die Ausformdaten offen auszuweisen sind - aber nicht für ausländische Butter?
Auf welche Weise hat die Bundesregierung die in Frage VIII /16 genannte gesetzliche Maßnahme, welche dem Verbraucher die Gewähr gibt, mit bester frischer deutscher Butter versorgt zu werden, der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht?
Zur ersten Frage darf ich sagen, daß eis nicht zutrifft. Nicht nur inländische, sondern auch ausländische Butter ist genauso zu kennzeichnen, und zwar nach § 19 Abs. 5 Satz i in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Nr. 6 der Butterverordnung vom 2. Juni 1951 in der Fassung vom 4. Mai 1965. Also auch ausländische Butter unterliegt denselben Deklarationsbestimmungen.
Zu Ihrer zweiten Frage möchte ich sagen, daß diese Verpflichtung durch die- üblichen Mitteilungen, und zwar durch die Verkündung im Bundesanzeiger, bekanntgemacht worden ist. Daran haben sich die Mitteilungen der Fachpresse, die ja auf diese Fragen sehr eingehend reagiert, angeschlossen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reichmann.
Reichmann ({0}) Herr Minister sind schon besondere Auswirkungen dieser Maßnahmen festgestellt worden und gegebenenfalls welche?
Es sind keine Auswirkungen festgestellt worden. Ich habe nur gehört, daß die Öffentlichkeit das als einen erfreulichen Anfang in dem Deklarationsprozeß ansieht.
Ich rufe die Fragen VIII /18, 19 und 20 - des Herrn Abgeordneten Wächter - auf:
Zeichnen sich bei den Verhandlungen der Bundesregierung mit den Länderregierungen auf Grund der Änderung des Viehseuchengesetzes vom 20. Juli 1965 Ergebnisse ab, um im innerdeutschen Viehverkehr möglichst schnell eine einheitliche Regelung hinsichtlich der Attestierung des Freiseins von Maul- und Klauenseuche bei der Einfuhr von Zucht- und Nutzvieh von einem Bundesland in das andere zu erreichen?
Wird die Bundesregierung bei den in Frage VIII /18 genannten Verhandlungen darauf dringen, daß die anstehende Verordnung hinsichtlich der Vorschriften der Maul- und Klauenseuche gegenüber der gemäß der EWG-Richtlinien erlassenen Verordnung vom 3. August 1965 im innerdeutschen Viehverkehr Erleichterungen schafft, besonders aber gegenüber den derzeitigen Vorschriften einzelner Bundesländer?
Sind Fälle bekannt, in denen bei den zur Zeit in den meisten Bundesländern gültigen Bestimmungen trivalent gegen Maul-und Klauenseuche geimpfte Rinder die Maul- und Klauenseuche im innerdeutschen Viehverkehr verschleppt haben?
Ich darf die beiden ersten Fragen zusammen beantworten. Bereits seit einigen Wochen steht das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Verhandlungen mit den für das Veterinärwesen zuständigen obersten Landesbehörden, um die verschiedenen landesrechtlichen Vorschriften, die zum Schutze gegen eine Verschleppung von Tierseuchen beim Handelsverkehr mit Klauentieren innerhalb des Bundesgebietes erlassen sind, durch eine bundeseinheitliche Regelung zu ersetzen. Diese Verhandlungen sind inzwischen so weit vorangeschritten, daß alsbald dem Bundesrat eine Bundesverordnung vorgelegt werken kann, in der entsprechende bundeseinheitliche Vorschriften enthalten sind. Die Bestimmungen, die zum Schutze gegen Tierseuchenverschleppungen beim Handelsverkehr mit Klauentieren innerhalb des Bundesgebiets notwendig sind, werden gegenüber den Vorschriften, die für den Handelsverkehr innerhalb der EWG gelten, geringere Anforderungen stellen.
Für den Fall besonderer Seuchengefahren muß der Verordnungsentwurf auch strengere Maßnahmen vorsehen.
Zu der dritten Frage darf ich folgendes sagen: Nach den bisherigen Erfahrungen verleiht eine trivalente Maul- und Klauenseuche-Vakzination gegenüber einer Infektion mit den zur Zeit auftretenden Typen des Maul- und Klauenseuche-Virus für einen Zeitraum von 8 Monaten einen durchaus als sicher und ausreichend anzusehenden Impfschutz. Seuchenverschleppungen durch trivalent gegen Maul- und Klauenseuche vakzinierte Rinder sind bislang nicht bekannt geworden. Infolge der hohen Kontagiosität des einschlägigen Virus kann jedoch die Maul- und Klauenseuche sehr leicht mit minimalen Erregermengen, die an toten Gegenständen oder lebenden Zwischenträgern wie Mensch und Tier haften können, auch passiv durch vakzinierte Rinder verschleppt werden. Diese indirekte Übertragung der Seuche hat angesichts der Widerstandsfähigkeit des Virus gegenüber chemischen und _physikalischen Einflüssen besondere Bedeutung. Darüber hinaus läßt sich nach wissenschaftlicher Auffassung auch
) nicht ganz ausschließen, daß auch vakzinierte Rinder in Einzelfällen Virusträger sein können, die gegebenenfalls das Virus auf ungeimpfte Rinder übertragen.
Zusatzfrage?
Herr Minister, ist Ihre Antwort so zu verstehen, daß nach dem Erlaß dieser neuen Verordnung MKS-schutzgeimpfte Zucht- und Nutzrinder für die Zukunft im innerdeutschen Viehverkehr nur dann Beschränkungen unterworfen sind, wenn sie aus Sperr- und Beobachtungsgebieten kommen?
Das trifft zu, soweit nicht im Falle einer besonderen Seuchengefahr Möglichkeiten der Seuchenverschleppung - wie ich sie in meiner Antwort dargelegt habe - berücksichtigt werden müssen. Im allgemeinen trifft das zu.
Ist es deswegen für die Zukunft nicht empfehlenswert, im gesamten Bundesgebiet, wie es in einigen Kreisen einzelner Bundesländer bereits praktiziert wird, periodisch obligatorische Schutzimpfungen gegen MKS durchzuführen?
Diese Frage wird zur Zeit geprüft. Ich halte dieses Problem für sehr beachtlich. Ich beabsichtige, diesen Vorschlag bereits bei der nächsten Sitzung des Veterinärausschusses, dem leitende Veterinärbeamte der Länder angehören, im Januar 1966 zu erörtern.
Ich rufe die Frage VIII /21 - des Herrn Abgeordneten Büttner - auf :
Sind der Bundesregierung die modernen Mastmethoden bei Hühnern, Kälbern und Schweinen bekannt?
Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Landwirtschaft in ihrem Bemühen, das dringende Problem der ausreichenden Versorgung einer ständig wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln tierischer Herkunft auf engstem Raum zu lösen, dazu übergegangen ist, die Nutztierhaltung zu intensivieren. Hierbei bedient sie sich auch moderner Methoden der Geflügel-, Kälber- und Schweinemast, wie sie in allen Ländern mit einem vergleichsweise ähnlichen Entwicklungsstand ihrer Landwirtschaft bereits angewandt werden.
Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß die z. B. vom dritten Tage an auf Holzrosten stehenden Kälbchen .vornehmlich flüssig gefüttert werden, um einen besseren Aufzuchteffekt zu erzielen?
Das ist mir bekannt. Aber diese Methode hat im Bundesgebiet nicht die Verbreitung oder das Ausmaß, wie das in anderen Ländern der Fall ist. Sie zielen hier offenbar auf das Gutachten der Engländerin Harrison über Tiermaschinen, das aber vor allem auf angelsächsische Praktiken abstellt.
Zweite Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, ist Ihnen auch noch die andere Methode bekannt, daß Kälber dadurch zur flüssigen Nahrungsaufnahme vorbereitet werden sollen, daß sie durch Schwitzen in engster Kiste unnatürlich durstig werden, daß z. B. ein 12 Wochen altes Kalb, das bei normalem Aufwuchs 13 Liter pro Tag zu sich nimmt, 23 Liter säuft?
Auch solche Einzelheiten sind mir bekannt. Ich habe eine Umfrage bei den Ländern veranstaltet, um das Ausmaß solcher Vorgänge festzustellen, weil die Länder hier die ausschließliche Kompetenz haben. Soweit ich heute schon weiß, hat das in Deutschland keinen entscheidenden Umfang.
Nächste Frage, Frage VIII /22 - des Herrn Abgeordneten Büttner -:
Sind die in Frage VIII/ 21 genannten Methoden nicht Tierquälerei?
Die Frage, ob die modernen Mastmethoden als ein Verstoß gegen die Haltungsvorschriften des Tierschutzgesetzes oder gar als Tierquälerei gewertet werden müssen, wird in einschlägigen Fachkreisen unterschiedlich beurteilt. Von Befürwortern dieser modernen Mastmethoden wird unter anderem darauf hingewiesen, daß die Leistung der Tiere als entscheidendes Kriterium ihres Wohlbefindens nicht negativ beeinflußt werde und daß somit von Verstößen gegen die tierschutzrechtlichen Bestimmungen nicht die Rede sein könne. Um aber den Belangen des Tierschutzes in jeder Weise gerecht zu werden, habe ich den Deutschen Veterinärmedizinischen Fakultätentag gebeten, mehrere Professoren mit der Erstattung eines Gutachtens zu beauftragen, aus dem hervorgeht, ob z. B. die Mästung von Kälbern in sogenannten Mastboxen aus Tierschutzgründen abzulehnen ist oder ob sie geduldet werden könnte.
Gleichzeitig habe ich bei den für das Veterinärwesen zuständigen obersten Landesbehörden, wie ich gerade gesagt habe, angefragt, in welchem Umfange diese Kälberhaltung in den einzelnen Bundesländern bereits angewendet wird und ob von den Vollzugsbehörden Ermittlungs- bzw. Strafverfahren
wegen Verstoßes gegen die tierschutzrechtlichen Vorschriften eingeleitet wurden. Die Berichte stehen noch aus.
Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, Sie haben namhafte Wissenschaftler beauftragt, ein Gutachten zu erstatten. Würden Sie dann auch einmal die Frage untersuchen lassen, ob es richtig und nützlich ist, den flüssigen Nahrungsmitteln auch Antibiotica zusetzen zu lassen, die in der flüssigen Nahrung zwar Wasser und Fett, nicht aber wertvolles Eiweiß bilden lassen, und zwar zugunsten der angeblich begehrten weißen Farbe, aber zum Schaden der Nährwertkalorien?
Ich bin gern bereit, die Untersuchung auch auf dieses Thema ausdehnen zu lassen.
Frage VIII /23 - letzte Frage des Abgeordneten Büttner -:
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um z. B. das Mästen von Kälbern und Schweinen in engen Kisten über ein schärferes Tierschutzgesetz zu verhindern?
Oder ist die Frage VIII /23 durch die Beantwortung der anderen Fragen erledigt?
Offenbar.
Frage VIII /24 - des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen -:
Ist die Bundesregierung bereit, eine Prüfung anzuregen, ob einige Methoden der fabrikmäßigen Aufzucht von Tieren ({0}) unter den Begriff der Tierquälerei fallen?
Die Aufzucht von Tieren in intensivgehaltenen und intensivgenutzten Betrieben mit großen Tierzahlen ist uns bekannt, wie in den Antworten auf die vorausgegangenen Fragen schon mitgeteilt worden ist. Ob diese Methoden bei intensiver Haltung und bei Mast unserer nutzbaren Haustiere als Tierquälerei zu werten sind, wird in einschlägigen Fachkreisen aus den Gründen, die ich schon dargelegt habe, unterschiedlich beurteilt. Ich habe deshalb bereits vor mehreren Wochen Schritte eingeleitet, von kompetenter wissenschaftlicher Seite diese Frage nachprüfen und eine Klärung herbeiführen zu lassen.
Zusatzfrage.
Herr Minister, würden Sie mir darin zustimmen, daß es im Gegensatz zu Ihren Antworten auf die Fragen des Kollegen Büttner weniger auf den Umfang ankommt, also ob das in sehr starkem Maße vorkommt, sondern nur auf die Tatsache, ob es Tierquälerei ist oder nicht?
Ja.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Fragestunde. Die Beantwortung der Fragen wird morgen nachmittag fortgesetzt.
Ich rufe auf die Punkte 2 und.3 der Tagesordnung:
2. Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des Haushaltsausgleichs ({0}) ({1}).
Ich gebe das Wort dem Herrn Abgeordneten Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Zum fünften Male beginnen wir hier unsere Arbeit, - wieder und immer noch in Bonn, nicht in Berlin, der deutschen Hauptstadt. So gilt unser erstes Wort dem deutschen Volk, das auf die Wiederherstellung seiner Einheit wartet. Für alle Deutsche handelnd, haben die Wähler in der Bundesrepublik Deutschland zum fünften Male uns die Führung in die Hand gegeben. Wir danken für dieses Vertrauen. Wir werden auch künftig alles tun, um den Pflichten zu entsprechen, die die Wähler uns übertragen haben.
({0})
Unser zweites Wort gilt dem ganzen Deutschen Bundestag. Uns allen hier, Koalition wie Opposition, wünschen wir den Geist möglichst weitgehender prinzipieller Übereinkunft und eine Praxis der Toleranz und loyaler Zusammenarbeit. Wir alle, Koalition wie Opposition, tragen Verantwortung für unser Volk.
Wir haben eine Koalition mit der FDP gebildet. Meine Damen und Herren von der FDP: Wir wollen mit Ihnen zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit kommen, zu gemeinsamer Arbeit auf der Basis der Regierungserklärung und aus dem Geist des Vertrauens, der wechselseitigen Rücksicht und des Verstehens. Zu solcher Zusammenarbeit gehört die Bereitschaft zum Kompromiß wie auch die zum Klügerwerden nach gemeinsamer Beratung.
({1})
- Ich danke herzlich für den Beifall von der linken Seite.
Meine Damen und Herren von der Opposition: „Wir alle haben ein Mandat der Wähler. Wir zusammen vertreten das Volk." So formulierte Heinrich von Brentano vor vier Jahren in der gleichen Debatte an eben dieser Stelle. Das gilt weiter. Die Kooperation aller in den großen Lebensfragen bleibt eine Notwendigkeit.
Wir wünschen der Opposition den Mut zu Alternativen. Wir erwarten, daß sie uns kritisiert. Wir
Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - 7 Sitzung. Bonn, Montag, den 29. November 1965 87
erwarten zugleich, daß sie hier ihr Konzept für diese Periode dartut.
({2})
Daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, gegen Erhard sind, wissen wir ohnehin. Uns interessiert mehr, wofür Sie sind. Nicht von uns, aus Ihren Reihen kam der kritische Zuruf - den wir nicht einmal überhören konnten, obwohl wir lautstark miteinander beschäftigt waren -, der Zuruf, die SPD-Politik richte sich zu sehr nach demoskopischen Erkenntnissen, wie auch der, einige in der SPD hielten das Godesberger Programm mehr für eine taktische Maxime.
Hier ist der verantwortliche Ort des politischen, auch kontroversen Gesprächs.
({3})
- Ich freue mich, daß in diesen ersten Minuten des parlamentarischen Gesprächs Gemeinsamkeit in den parlamentarischen Grundauffassungen herrscht. - Permanenter Wahlkampf wäre ebenso abträglich wie die Verwechslung parlamentarischer Kontrolle mit der ständigen Anklage der Bundesregierung.
Unser drittes Wort gilt der Bundesregierung. Wir freuen uns, Herr Bundeskanzler, daß Sie, so schnell wiederhergestellt, wieder ganz unter uns sind, und freuen uns über Ihre Teilnahme an der Debatte.
({4})
Wir wünschen Ihnen und allen Mitgliedern der Regierung bei Ihrer Arbeit für Deutschland, für Europa und für den Frieden der Welt Glück, Segen und Erfolg.
Unser Dank gilt den Kollegen, die in Ihrer letzten Regierung mitgearbeitet haben und nun ausgeschieden sind.
Herr Bundeskanzler, wir werden Sie, Ihre Regierung und Ihre Politik nach Kräften unterstützen. Wir stimmen Ihrer Regierungserklärung zu. Wir bitten Sie, die Belebung des Parlaments sowie die - unabhängig von der Koalition notwendige - Kooperation aller in den großen Fragen zu erleichtern. Sie haben unsere volle Unterstützung, Herr Bundeskanzler, wenn Sie die Deutschlandfrage, die Finanzverfassungsreform und die Notstandsgesetzgebung - um nur diese drei Dinge zu nennen - von Anfang an so beraten und betreiben, daß die notwendigen breiten Mehrheiten auch durch die Methode der Beratung leichter erreichbar werden.
Die Periode des Wiederaufbaus geht zu Ende. Diese Zeit hatte eigene Prioritäten. Solange es vorwiegend galt, Hunger und Wohnungsnot zu beseitigen, Arbeitsplätze zu schaffen, Vertriebene und Flüchtlinge einzugliedern, Anschluß an die freie Welt zu gewinnen, den kommunistischen Ansturm abzuwehren - ebensolange mußte manche Entscheidung getroffen werden ohne die volle Rücksicht auf Gebote normaler Zeiten.
Im Ganzen ist der Wiederaufbau beendet. Nun müssen wir das Erreichte bewahren und weiterentwickeln. Vor uns steht, wie wir meinen, die Phase des sozialen Ausbaus, der kulturellen Gestaltung und der Stabilisierung bei stetigem Wachstum.
Das sprunghafte wirtschaftliche Wachstum der Wiederaufbauphase wird sich wohl kaum wiederholen lassen. So werden wir alle miteinander mit spitzerem Bleistift rechnen, noch mehr Rücksicht aufeinander, auf das Ganze wie auf die Grenzen nehmen müssen, die das Mögliche setzt.
Auch außenpolitisch wird es kaum leichter werden. Die großen Atommächte haben eigene Probleme gegen- wie miteinander. Die Welt beginnt, sich an Kommunismus, deutsche Spaltung, schwindende Solidarität der freien Welt zu gewöhnen, und mit dieser Ermüdung gegenüber der Wirklichkeit geht einher eine Erneuerung der Erinnerung an gestern. Wir gäben uns Illusionen hin, wenn wir dies nicht sähen.
In fünf Punkten möchte ich unsere Auffassung dartun, wobei diese erste parlamentarische Stunde naturgemäß mehr dem Grundsätzlichen als dem Detail gewidmet ist; das kommt im Laufe der Debatte.
Es gilt nach unserer Meinung, den Frieden zu erstreben, die Stabilität zu stärken, die Einheit der Deutschen zu erreichen, die Vereinigung Europas zu fördern und den sozialen Rechtsstaat auszubauen.
Erstens: Es gilt, den Frieden zu erstreben. In unserer Hauptstadt trennt eine Mauer Deutsche von Deutschen. Quer durch unser Land gehen Todesstreifen und Stacheldraht. In einem Teil unseres Landes wird - 20 Jahre nach Kriegsende - Fremdherrschaft ausgeübt. Also haben wir keinen Frieden; also gilt es, Frieden zu erstreben.
Der einzige Weg - und wir bekräftigen dies ganz vorn in der Debatte -, dauernden Frieden in Mitteleuropa zu gewährleisten, ist und bleibt die Einheit Deutschlands durch Selbstbestimmung.
({5})
Dies bleibt unser Ziel. Dieses Ziel wird nur erreicht werden, wenn die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland gesichert ist.
Die Sicherung unserer Freiheit bleibt - auch morgen - aus eigener Kraft nicht möglich. Nur zusammen mit Freunden, durch Bündnisse und ein hohes Maß an Gemeinsamkeit des Risikos, der Planung, der Ausrüstung, der Kommando-Strukturen wird es - auch morgen - gelingen, Sicherheit zu erhalten.
Da 1969 die NATO zur Disposition steht, gebührt diesen Fragen besondere Aufmerksamkeit. Wir brauchen weiterhin unsere Bundeswehr, der unser Dank gilt.
({6})
Wir sind bereit zu militärischer Arbeitsteilung im Bündnis. Wir sind nicht bereit zur Aufteilung des Risikos. Dies Bündnis ist so wirksam wie das wechselseitige Vertrauen, die Nicht-Diskriminierung aller Partner und die gemeinsame Abschreckung. Alle militärischen Fragen - auch die atomaren - sind für uns allein und ausschließlich Fragen der
Sicherheit, nicht solche des Prestiges oder des Eigennutzes.
Viele Probleme stellen sich zudem für das gespaltene Deutschland anders, als sie sich für ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland stellen könnten. So kann die Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion, solange diese uns bedroht und unser Land spaltet, keine Verzichte erklären.
({7})
Wir haben - aus eigenem Entschluß - bedeutende militärische Beschränkungen auf uns genommen; und das gilt. Wir haben damit mehr getan als irgendein Land. Darüber hinaus werden wir nur gehen, wenn dies vereinbart und allgemein geschieht, wenn dies geschieht für eine Ordnung, die dem Frieden und der Menschlichkeit dient. Es liegt nicht an uns, daß die Hoffnung der Völker auf eine allgemeine kontrollierte Abrüstung ihrer Erfüllung so fern ist.
Unsere Sicherheit erfordert - unbeschadet der besonderen Rechte der USA - die Teilhabe am nuklearen Entscheidungsprozeß und dessen Voraussetzungen. Wir bleiben bereit und interessiert, uns an einer relevanten atlantischen nuklearen Organisation zu beteiligen.
Vieles wäre leichter, wenn die NATO-Staaten sich zu einer wirksamen Koordination ihrer Außenpolitik entschlössen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Rüstungskontrollverhandlungen und für die Politik des Bündnisses in akuten Krisen. Die Regelung dieser Fragen sollte offen sein für Fortschritte der europäischen Einigung. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten sollten wir auch hierüber mit unserem Nachbarn Frankreich sprechen.
Wir Deutschen könnten zudem einen besonderen uns gemäßen Beitrag zur Stärkung der atlantischen Gemeinschaft leisten. Als ein gespaltenes Land, als ein Land ohne eigene Atomwaffen, als ein Land mit einer besonders qualifizierten Arbeiterschaft und mit einer für die Welt bedeutenden Wirtschaftskraft sollten wir unseren nationalen Ehrgeiz darin sehen, bedeutsam zu werden für die Menschheit durch Werke des Friedens! Indem wir durch konstruktive Taten helfen, den Frieden in aller Welt aufzubauen, wächst zugleich unserem Anspruch auf Frieden durch Menschenrechte in Deutschland moralisches Gewicht und damit mehr Durchsetzbarkeit zu.
Das heißt praktisch: Militärisches Engagement außerhalb der NATO kann nicht unsere Sache sein; wir sind weder Groß- noch Atommacht. Dagegen darf keiner uns übertreffen im Engagement für die Menschenrechte und für Humanität.
Auswärtige Kulturpolitik, Entwicklungshilfe und der freiwillige Dienst unserer jungen Menschen als Entwicklungshelfer bleiben besonders wichtig.
Bisher sind mehr als 1000 freiwillige Entwicklungshelfer aus unserem Lande in aller Welt tätig geworden. Wir schulden, wie wir meinen, diesen jungen Menschen Dank und diesem Werk unseren Zuspruch.
({8}) Die humanitäre wie die politische Wirkung solcher Taten geht über die Zahl weit hinaus. Auch hier hat unsere Jugend ein Feld der Bewährung - der Bewährung vor sich und für dieses neue Deutschland.
Nicht genug damit! Wir, die Deutschen, müssen drängen, aus der NATO mehr zu machen als einen militärischen Verband. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der atlantischen Gemeinschaft kann noch intensiver werden.
Wir können aber noch mehr tun: Die einigende Klammer der gemeinsamen Angst ist durch Gewöhnung und Abschreckung gewichen. Wir brauchen eine neue Klammer, und wir meinen, es könnte sein die des konstruktiven, friedlichen, fortschrittlichen, gemeinsamen Tuns.
Die Völker der atlantischen Gemeinschaft stehen doch alle vor ähnlichen gesellschaftspolitischen Problemen: vor Fragen der Bildung, der Ballung, des Verkehrs, des Städtebaus, der optimalen Sozial- und Wirtschaftsstruktur, vor Fragen des ökonomischen Wachstums, des verschmutzten Wassers, der unreinen Luft, des Lärms. Kurzum, wir alle stehen nicht nur gemeinsam vor der Frage, wie wir unsere Freiheit auch morgen miteinander sichern können; wir alle stehen zugleich vor der Chance, durch Gemeinsamkeit der Forschung, durch Austausch von Erfahrungen, durch Austausch auch von Menschen und Ideen enger zueinander und damit zugleich in unseren Ländern zu einem Mehr an Menschlichkeit und Rücksicht kommen zu können.
Über die grundsätzliche Seite solcher Pläne haben Gespräche schon stattgefunden. Der Präsident der USA hat in einer Rede im September, die vielleicht der eine oder andere bei uns des Wahlkampfs wegen überhört hat, auch öffentlich erklärt, wie sehr er und sein Land bereit seien, durch praktisches Zusammenwirken die atlantische Gemeinschaft immer mehr zu einer Großen Gesellschaft zusammenwachsen zu lassen.
Wir meinen, die Bundesregierung sollte diesen Faden aufnehmen und praktische Vorschläge entwickeln. Dies, meine Damen und Herren, täte der atlantischen Gemeinschaft gut, dies stünde uns Deutschen wohl an, und dies würde von Pankow bis Moskau auch verstanden und einiges Interesse wecken. Wir meinen, daß wir hier einen Beitrag leisten könnten für den Frieden ebenso wie für die Auflockerung von Fronten.
Denn, meine Damen und Herren, wir werden Fortschritte an Humanität und Freiheit in ganz Deutschland und in ganz Europa nur erringen, wenn im Westen die Risse sichtbar verschwinden.
({9})
Da ebendies zuerst unser Interesse ist, tun gerade uns Einfallsreichtum und Bereitschaft zu Gemeinsamkeit not!
Mit unserem Nachbarn Frankreich verbindet uns vieles, vor allem die Unteilbarkeit unseres Schicksals. So ist uns weder Resignation noch enttäuschte Liebe erlaubt. Wir müssen weiter ringen um Gemeinsamkeit mit unserem Nachbarn. FrankDr. Barzel
reich wird immer, auch in einer europäischen Friedensordnung, unser Nachbar bleiben. Aber eben dies gilt auch umgekehrt. Wir, Deutsche und Franzosen, brauchen uns gegenseitig. Dies so zu sehen ist einfach vernünftig.
Gerade weil in vielem Dissonanzen entstanden sind - Meinungsverschiedenheiten, die sich weder verfestigen noch tiefer und breiter werden dürfen -, müssen wir noch intensiver miteinander sprechen. Ich weigere mich, denen zuzustimmen, die glauben sagen zu müssen, der deutsch-französische Vertrag sei tot. Auch Frankreich sollte ein Zeichen erneuter Bereitschaft geben. Auch Frankreich braucht Europa. Auch Frankreich kann weder ohne den atlantischen Rückhalt noch ohne ein sich einigendes Europa seine Existenz verteidigen und seine künftigen Ziele erreichen. Auch Frankreich braucht den deutschen Nachbarn.
Wir wollen Freundschaft ebenso und zugleich mit allen Nachbarn, mit den USA und mit Großbritannien. Wir stehen gemeinsam in und für Berlin, und wir sind dankbar für diese Gemeinsamkeit und froh, mehr als einen Freund zu haben. Wir wollen die Aussöhnung auch mit dem jüdischen Volk.
Die USA und uns verbindet so viel, daß es überflüssig ist, darüber weitere Worte zu machen. Wir sind Freunde. Die Rücksicht aufeinander wird diese Freundschaft ebenso festigen wie die Selbstverständlichkeit des Vertrauens und die Offenheit der Diskussion zweier mündiger, einander wichtiger Partner.
Wir haben auch nie vergessen, daß Großbritannien mit uns in Berlin steht. Die Beziehungen haben sich wesentlich verbessert. Sie werden weiter verdichtet. Wir werden jeden Gedanken freundlich aufnehmen, der Großbritannien auch politisch-organisatorisch näher an das sich zusammenschließende Europa heranzubringen imstande ist. Die Verstärkung des Jugendaustausches war ein lebendiger Gedanke in der Zeit des Besuches der britischen Königin. Wir sind interessiert zu hören, wie es sich damit praktisch verhält.
Unsere Politik des Friedens macht nicht halt vor der Sowjetunion - trotz der unbestreitbaren Fortdauer der sowjetischen Aggressivität gegen Deutschland. Wir wissen, daß Moskau ein Platz Europas ist, wir wissen, daß wir mit dem russischen Volk noch einiges zu begleichen haben. Natürlich haben wir nicht vergessen, was der Kommunismus ist und was er bedeutet, daß wir es nicht mit Rußland, sondern mit der Sowjetunion zu tun haben. Gleichwohl, die Moskauer sollten sich einmal vorbehaltlos fragen - und unsere Diplomaten sollten sie dabei unterstützen und sie dazu ermuntern -, ob ihre bisherige Deutschland-Politik wirklich ihren Interessen dient. Was wiegt mehr: Fortdauer der Fremdherrschaft in der SBZ oder friedliche Ordnung Mitteleuropas durch Selbstbestimmung für Deutschland? Dies ist die Frage.
Die ideologischen Vulgär-Marxisten in Moskau werden sagen, die siegreiche Rote Armee habe die Weltrevolution bis an die Elbe gebracht, und das sei irreversibel. Aber sicher gibt es auch in Moskau einige, die ihren Marxismus besser kennen und bei Lenin auch über prinzipielle Taktik mehr gelesen haben. Die Lage in der SBZ ist doch so, daß es den Sowjets in diesen zwanzig Jahren weder gelang, die Arbeiter noch die Bauern auf ihre Seite zu ziehen. Die Lage in ganz Deutschland ist so, daß die Fortdauer der Besetzung durch die Rote Armee immer erneut die Fortdauer eines strengen Antikommunismus in ganz Deutschland begründet. Und das wirkt über Deutschland hinaus.
Was also wiegt mehr, so ist zu fragen: die zu kostspielige Fremdherrschaft über einen Teil Deutschlands durch 400 000 sowjetrussische Soldaten oder Frieden und Sicherheit in Mitteleuropa durch Selbstbestimmung Deutschlands? Uns scheint, die Moskauer Deutschland-Politik basiert auf einem Irrtum. Auch Moskau hat Anlaß zu neuem Nachdenken.
Wir sind bereit, über Deutschland als Ganzes zu sprechen, allen Nachbarn Sicherheit zu geben, den östlichen Völkern ökonomisch zu helfen und über vieles mit uns reden zu lassen. Die jüngere Generation, die allmählich in allen Bereichen Sowjetrußlands und in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas in die Verantwortung hineinwächst, muß wissen, daß nichts im Wege steht, wenn sie das Gespräch mit den Deutschen über Deutschland sucht. Wir wollen Selbstbestimmung, meine Damen und Herren, weil wir den Frieden wollen.
({10})
Zum zweiten: Es gilt, die Stabilität zu stärken. Die deutschen Wähler haben durch ihre Wahlentscheidung zur Stärkung der politischen Stabilität wesentlich beigetragen, indem sie allen extremen Gruppen wie allen Splittergruppen eine eindeutige Absage erteilten. So können wir uns heute gleich der wirtschaftlichen Stabilität zuwenden.
Meine Damen und Herren, ich nehme an, niemand in diesem Hause wird bestreiten, daß die Politik bisher wie das, was wir für morgen vorhaben, zwingend voraussetzt, daß unsere Wirtschaftskraft wächst. Unsere sozialen Leistungen, unsere kulturellen Vorhaben, unsere an der Selbstbestimmung Deutschlands orientiert, Außen- und VerteidigungsPolitik, unser Mühen um Erleichterungen in der Zone, - dies und vieles mehr erfordert eine dynamische Wirtschaft, verlangt überschüssige wirtschaftliche Kraft. Dieses Wachstum wollen wir bei Stabilität. Unser gutes deutsches Geld muß bleiben, was es ist: eine der stabilsten Währungen der Welt.
Die Regierungserklärung hat unsere seit dem Sommer gewandelte wirtschaftliche Situation geschildert. Wir stimmen den Maßnahmen zu, die der Herr Bundeskanzler gefordert hat. Was wir brauchen - überall brauchen -, ist Besinnung auf das jetzt Mögliche.
Die Haushaltspolitik der Bundesregierung stützt sich auf die Analyse der in diesem Jahr rasch gewandelten, veränderten ökonomischen Lage. Zugleich bemüht sie sich - und wir unterstützen und begrüßen dies -, den Einfluß zu nutzen, welchen der Bundeshaushalt auf das wirtschaftliche Gesamt86
geschehen nehmen kann. Diese Haushaltspolitik kann nur ein Beginn, kann nur Teil einer Politik sein, welche der konstruktiven Stärkung unserer Wirtschaftskraft dient. Hierzu sollte die Bundesregierung ihre Gesamtpolitik sichtbar machen. Hierzu erwarten wir mit einiger Spannung auch die Vorschläge der Opposition.
Die Lage der Bahn, der Post und der Kohle, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und das Anwachsen des Anteiles der Dienstleistungen insgesamt an unserer Volkswirtschaft erfordern zwingend eine längerfristige Haushaltspolitik, Zurückhaltung der öffentlichen Hand, Durchforstung aller Subventionen und mehr Reverenz vor Kosten und Zusammenhängen. Bei aller Differenzierung in den Steuerzahler, den Verbraucher, den Sparer, den Sozialversicherten und so fort bleibt doch festzuhalten, daß am Schluß derselbe Mensch und dasselbe Volk stehen wie auch die Notwendigkeit, eben doch irgendwann und irgendwie den Kosten entsprechend zu zahlen.
Herr Bundeskanzler, das deutsche Volk ist jeder vernünftigen Einsicht aufgeschlossen; sein Gemeinsinn ist ungebrochen. Und ich meine, Sie werden viel gutwillige Bereitschaft überall im Lande finden, wenn Sie - zu klaren Zielen - die Einsicht wecken und die Pflichten beleben. Unsere Fraktion ist bereit, mit Ihnen auch Durststrecken - scheinbare Durststrecken - zu einem noch besseren Morgen zu durchwandern.
({11})
Wir wissen, daß morgen nur dann noch Besseres möglich sein wird, wenn wir uns heute auf das Mögliche bescheiden, wenn wir alle - Bund, Länder, Gemeinden, Tarifpartner - uns objektiv orientieren, wenn wir ganz klar machen, daß nirgendwo die Bäume unbegrenzt in den Himmel wachsen, auch nicht bei uns.
Unser Volk ist nicht von Natur aus reich. Was wir erreicht haben, ist durch gute Arbeit geschaffen, und deshalb unterstützen wir Ihren Appell, Herr Bundeskanzler, in einem Gespräch aller Verantwortlichen zu prüfen, ob nicht durch vermehrte Arbeit eine stärker wachsende Wohlfahrt aller möglich werden kann.
({12})
Wir müssen pfleglich umgehen mit der Quelle unseres Fortschritts, der menschlichen Arbeit. Zugleich müssen wir sorgsam behandeln das Wenige, was uns von Natur gegeben ist: die heimische Landwirtschaft, die Kohle und die Küsten. Es wäre töricht, etwas anderes zu tun, als die Ertragskraft wie die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der bäuerlichen Familienbetriebe zu stärken. Es wäre ebenso töricht, etwas anders zu tun, als der Kohle einen vernünftigen Anteil unseres Energieverbrauchs zu sichern, als Küsten und Schiffahrt zu fördern. Niemand soll uns mißverstehen. Wir haben nicht zu tun mit Sorgen aus Armut, sondern mit Sorgen um gesunden Fortschritt, mit Begleiterscheinungen der Wohlstandsgesellschaft und mit Strukturfragen, die aus der modernen Technik wie aus
dem europäischen Zusammenschluß und der atlantischen Zusammenarbeit erwachsen und noch erwachsen werden. Vor allem aber, meine Damen und Herren - und dies geht das ganze Haus an -: Alle diese Sorgen sind überwindbar durch uns selbst.
({13})
Ich spreche offen aus: Es gehört mehr moralische und politische Führungskraft dazu, einzuhalten, erkannte Fehler nicht zu vollenden und den Kurs zu verbessern
({14})
- sehen Sie, Herr Kollege Erler, Sie haben den Text meiner Rede vorliegen; deshalb bin ich in einer gewissen Schwierigkeit, wenn Sie einen Zwischenruf machen; ich kenne den Text ganz, Sie kennen nur den einen Halbsatz -, als - aus falschem Prestige - das weniger Gute wider bessere Erkenntnis fortzusetzen.
({15})
Meine Damen und Herren, auch Sie sind hier angesprochen; denn sicher werden auch Ihre verschiedenen Finanzierungspläne und Erklärungen vor den Wahlen in dieser Debatte eine Rolle spielen.
Ich will hier eine Frage herausgreifen: Bei Bahn und Post wird deutlich, was Dienstleistung für alle bedeutet, was sie kostet und wie Bereiche dastehen, für die die Formel Lohnzuwachs im Rahmen der Produktivitätsfortschritte erhält Stabilität fragwürdig ist. Hier wächst ein Strukturproblem heran, das über Bahn und Post hinaus bedeutsam ist.
Meine Damen und Herren, hier stellt sich auch die Frage nach dem öffentlichen Dienst insgesamt. Wir verschließen uns nicht der Mahnung der Beamtenschaft, daß sie nicht hat Schritt halten können. Man hört es zwar nicht überall gern, wenn davon gesprochen wird. Aber hier geht es doch nicht nur um die Verpflichtung des Staates gegenüber den Beamten, sondern auch um die Sicherstellung einer hochqualifizierten Staatsverwaltung, wie sie das allgemeine Wohl zwingend erfordert.
Meine Damen und Herren, wir wollen der Bundesbahn helfen, und wir hörten, Herr Kollege Schiller, daß Sie uns da unterstützen wollen. Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung. Diese Bundesbahn verdient das, denn unsere Eisenbahner leisten gute Arbeit und sind nicht etwa die Produzenten des Defizits.
({16})
Die nötigen Umstellungen sind möglich ohne soziale Härten.
Neben der Gesundung der Bundesbahn werden wir gleichrangig die Probleme des innerstädtischen Verkehrs behandeln.
Auch wir selbst - unsere parlamentarische Arbeitsweise - können zur besseren Lösung der anstehenden ökonomischen Probleme beitragen. Wir sind deshalb bereit - und freuen uns insoweit, in der Koalition eine Übereinstimmung zu haben, und vielleicht wird die Opposition sich hier anschließen -, erstens ausgabewirksame Beschlüsse prinzipiell nur einmal im Jahre und zusammen mit dem
Haushalt zu fassen; zweitens den Haushaltsausschuß einzuschalten v o r Beendigung der Sachberatungen in den Fachausschüssen und drittens einen Finanzplan für die Kriegsfolgeleistungen in dieser Periode aufzustellen und einzuhalten.
Meine Damen und Herren, diese ökonomische Besinnung scheint uns auch nötig, weil wir im Ringen um Deutschland - das ich an den Anfang dieser Rede gestellt habe - dieses zu verzeichnen haben: Die Kommunisten haben die SBZ als einen Faktor in die Weltpolitik eingeführt; das wurde z. B. in Kairo sichtbar. Unsere Landsleute in der SBZ sind nicht unbegabter als wir, und sie haben - trotz Kommunismus - einiges geleistet. Die Machthaber drüben enthalten aber unseren Landsleuten den verdienten Lohn wie den erarbeiteten Lebensstandard vor. Und alle diese durch erzwungenen Konsumverzicht verstärkte Kraft setzen die Kommunisten weltweit ein zum Kampf gegen uns, gegen die Wiedervereinigung, für die Anerkennung der Spaltung.
Meine Damen und Herren, so stellt sich die Frage nach dem Grad unseres Gemeinsinns und unserer Opferbereitschaft auch im Interesse Deutschlands. Diese Frage wird sich doch nicht erst stellen, wenn der Tag der Einheit anbricht; sondern: um zu diesem Tag zu kommen, müssen wir heute eine Runde machen, die unsere Wirtschaftskraft stärkt.
({17})
Meine Damen und Herren, wir brauchen ausreichende Mittel, um den weltweiten Kampf um unsere Selbstbestimmung zu gewinnen. Wir sollten darüber mit allen, die es angeht, ganz offen sprechen. Ich scheue mich nicht zu sagen: das freie Deutschland braucht Geld für Politik, sonst wird es nie zur Einheit des Landes kommen. Wenn unsere Wirtschaftskraft nachließe, würde zum Traum, was Möglichkeit bleibt, wenn wir alle den Blick auf das Maß und das Mögliche richten.
Wegen dieser veränderten ökonomischen Daten unterstützen wir diese Haushaltspolitik; denn ohne diese veränderten Daten - z. B. der Außenhandels- und der Zahlungsbilanz - wäre auch eine andere Haushaltspolitik möglich gewesen. Wir erwarten auch hierzu eine Antwort der Opposition.
({18})
- Sie freuen sich auf Ihre Antwort. Wir sind gespannt. Wir kennen sie noch nicht. Hoffentlich haben wir hinterher gemeinsam etwas zu lachen, wenn Sie sie vorgetragen haben. Es gilt zum dritten: Die Einheit der Deutschen zu erreichen. Zunächst einige Worte zur Lage in Deutschland. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Wille zur Einheit lebendig und stark. Die Bereitschaft, hierfür Opfer zu bringen, wächst.
Die Abneigung der mitteldeutschen Bevölkerung gegenüber den Zonenmachthabern ist nicht gesunken, sie ist gestiegen. Die Fluchtzahlen haben sich trotz verschärfter Sperrmaßnahmen gegenüber 1964 erhöht. 1964 flüchteten z. B. uniformierte Grenzwächter in Stärke von mehr als zwei Kompanien in die Bundesrepublik. Diese Zahl ist in den ersten neun Monaten dieses Jahres bereits übertroffen worden. Die Zahl der Zwischenfälle an der Mauer hat sich in diesem Jahr erhöht. Die Spalterpolitik des Zonenregimes hat sich verschärft. Die Sperrmaßnahmen durch Stacheldraht und Minenfelder wurden in den letzten Monaten durch die Errichtung von 500 Betonbunkern an der Demarkationslinie weiter verstärkt. Derartige Bunker gab es bisher nicht. Wir verzeichnen weiter: Schikanen im Berlin-Verkehr, Aufkündigung gesamtdeutscher Eisenbahntarife, Abschaffung der Schiffspermits im Berlin-Verkehr, Bruch der Vereinbarung über den Wiederaufbau der Autobahnbrücke bei Hof und so fort.
Der Zusammenhalt unseres Volkes ist nicht geschwächt. So ist - um nur noch dieses hier zu nennen - die Zahl der im ersten Halbjahr 1965 in die Zone geschickten Päckchen und Pakete erheblich über die entsprechende Zahl des ersten Halbjahres 1964 gestiegen.
Die Isolierung der SBZ nimmt zu mit dem sichtbar wachsenden Willen der osteuropäischen Völker, sich innerhalb der gegebenen Möglichkeiten im eigenen nationalen Interesse „freizuschwimmen". In dieser Lage sucht die SBZ ihr Heil in einer noch festeren Verklammerung der mitteldeutschen Wirtschaft mit der Sowjetunion - und dies, obwohl der Handel der SBZ mit der Sowjetunion für das Zonenregime keineswegs ein vorteilhaftes Geschäft ist. Alles dies kann auf die Dauer nicht gut gehen. Nichts ist so provisorisch wie diese SBZ.
({19})
In dem Gebiet entlang der Zonengrenze sind durch die Spaltung unseres Landes besondere Probleme entstanden. Seit einiger Zeit wird diesen Problemen, für die der Bund nur zum Teil zuständig ist, vermehrte Aufmerksamkeit zugewendet. Wir werden mit dafür sorgen, daß das so bleibt.
Unsere Wiedervereingungspolitik muß weiter die rechtlichen, moralischen und historischen Positionen verteidigen und halten, aber sie muß zugleich bemüht sein, in den Realitäten die Dinge aufzulockern und durch Einwirken zu unseren Gunsten zu verändern. Ohne Geschaftlhuberei und ohne Preisgabe von Positionen sollten wir uns bemühen, ein Mehr an Menschlichkeit in der Zone zu erreichen, menschliche Begegnungen zu ermöglichen und so fort. Dies wird um so leichter gelingen, je weniger wir alles an die große Glocke hängen.
Zugleich sollten wir uns noch stärker um die Länder Mittel- und Osteuropas kümmern. Die Sowjetunion braucht schon jetzt die Verleumdung des freien Deutschland, um die Staaten Mittel- und Osteuropas von der übrigen europäischen Entwicklung fernzuhalten. Auch das sollte uns im eigenen Interesse veranlassen, ohne Beeinträchtigung unserer prinzipiellen Position in diesen Ländern präsent zu sein; es sollte uns veranlassen, diesen Völkern ein Bild des wirklichen Deutschland zu geben und ihnen unsere Friedfertigkeit wie unsere Humanität nahezubringen. Es sollte uns auch veranlassen - nicht laut -, nach Formen europäischer Zusammenarbeit zu suchen, die auch den Neutralen und den Unfreien zumindest Möglichkeiten der Anlehnung eröffnen.
Hierher gehört ein Wort über den Osthandel. Er kann sehr nützlich sein. Aber wir sollten darauf achten, daß er nicht zu sehr an der Politik vorbei sich abspielt und eben deshalb bei steigendem Handel sinkende politische Beziehungen zu verzeichnen sind.
({20})
Unsere Freunde, insbesondere jene, die mit uns in und für Berlin stehen, sollten bereit sein zu einem prinzipiellen Gespräch mit uns wenigstens in Sachen Handel mit der SBZ. In dem Ausmaß, in dem die SBZ von westdeutschen Lieferungen unabhängig wird, schrumpfen die deutschen ökonomischen Möglichkeiten auch im Kampf um Berlin, und in eben diesem Ausmaß muß dann - früher und häufiger, als uns lieb ist - bei Krisen nach Konvois, nach Panzern, nach Flugzeugen gerufen werden. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung, der Herr Außenminister vor der Tagung der WEU hierzu klar und gut Stellung genommen. Eine falsche westliche Handels- und Kreditpolitik hilft der SBZ. Das Interesse der. freien Welt insgesamt verlangt, daß die SBZ nicht weltweit ein falsches Spiel mit dem deutschen Namen im Interesse der Kommunisten machen kann!
({21})
Die Idee, der deutschen Einheit wegen einen Friedensvertragsentwurf auszuarbeiten, ist von ihren Autoren fallengelassen worden. Es geht nämlich zunächst darum - entsprechend dem Art. 7 des Deutschlandvertrages -, den für diese Dinge zuständigen deutschen Sprecher zu legitimieren. Unter Führung der Bundesregierung sollten wir deshalb vertraulich unter uns wie mit den Alliierten sprechen über ein stetiges, gemeinsames Initiativ-Sein unserer Gesamtpolitik wie auch über eine besondere gemeinsame Initiative in der deutschen Frage. Indem wir dies tun, können wir zugleich die Gemeinsamkeit im Westen fördern. Das Dokument der Bundesregierung vom Februar 1962, die Vorschläge vom September 1963 und die Bereitschaft zu wirtschaftlichen Leistungen wie zu Sicherheitsgarantien, dies alles gibt Rahmen und Richtung für eine solche Initiative. Weil wir Vertrauen zu unseren Freunden haben, brauchen wir keine verbalen Pflichtübungen. Wir brauchen ein stetiges Bemühen, und wir brauchen dies: eine Initiative, die nach der Gemeinsamkeit der Beteiligten, nach ihrem Inhalt und nach der Wahl des Zeitpunktes das Mögliche versucht; eine Initiative, die Moskau, Peking und die Welt wenigstens zum Hinhören veranlaßt.
({22})
Dieses Vorhaben wird uns bestimmt kaum den Ruf eintragen, besonders bequeme Partner zu sein. Das können wir auch nicht, solange wir geteilt sind. Niemand kann erwarten, daß wir uns durch Gewöhnung mit der Spaltung abfänden.
Das alles heißt aber nun nicht, daß wir die verschiedenen Fäden, die zwischen Westen und Osten, zwischen Osten und Westen gesponnen werden, ständig mit unfruchtbarem Mißtrauen zu beobachten hätten. Damit kämen auch wir nicht weiter. Es liefe letzten Endes doch darauf hinaus, daß wir selbst die deutsche Position abwerteten und in Frage stellten. Besonders hier benötigen wir das politische Selbstbewußtsein, von dem der Herr Bundeskanzler gesprochen hat. Auch sollten wir nicht anderen verübeln, was wir selbst gerne täten.
Indem wir uns weiter so verhalten, setzen wir ein weltpolitisch dringend nötiges dynamisches Element wider den Status quo; erinnern wir zugleich daran, daß Europa gespalten ist; machen wir deutlich, daß wir aus unserer Geschichte gelernt haben und uns nicht einfach mit Gewalt und Unrecht arrangieren. Wer seine Hoffnung darauf setzt, daß die Freiheit dem Kommunismus überlegen bleiben wird - ja wer auch nur hofft, daß hier ein Modus vivendi zu erreichen ist, der muß uns zustimmen, wenn wir sagen: Zuerst in unserer Hauptstadt Berlin wird ebendies möglich und sichtbar werden können.
In diesen Zusammenhang gehört die entstandene Diskussion über die sogenannte Oder-Neiße-Linie. Wir wollen uns mit Freimut und in aller Ruhe dazu äußern. Wir wissen, daß wir die Erben des zweiten Weltkrieges sind. Wir wollen dessen Wunden für eine bessere Zukunft heilen. Wir wollen Frieden mit allen Völkern, gute Nachbarschaft mit allen Nachbarn, - auch mit denen im Osten. Unter guten Nachbarn darf nichts dem Grunde nach strittig sein. Weil wir dies wissen, impliziert unser Angebot die Bereitschaft zum Ausgleich.
Eben dies muß aber auch beim anderen vorhanden sein. Unser Freund kann nicht sein, wer ja sagt zur Mauer in Berlin.
({23})
Unser Freund kann nicht sein, wer gegen die Selbstbestimmung aller Deutschen und für die Fremdherrschaft der Sowjetunion in einem Teil Deutschlands ist.
({24})
Wer sich näherkommen will, muß den anderen verstehen: Wir kennen das Leid, das über Polen im Kriege kam, wie das, welches die Sowjetunion durch Vertreibung und neue östliche Grenzen unserem Nachbarn Polen zufügte. Andere müssen zeigen, daß sie das Leid und die Not unserer vertriebenen und geflüchteten deutschen Landsleute kennen.
({25})
Wer seine Heimat liebt, wird den anderen verstehen. Ohne diese Gesinnung wächst keine Nachbarschaft. Auch hier gilt: unsere Welt ist zu klein, unsere Welt ist zu gefährdet, als daß sie sich Inseln des Hasses leisten könnte!
Wir sind weder Utopisten noch Fanatiker. Wir haben nicht vergessen, was alles nötig war, um geduldig zur Aussöhnung mit der freien Welt zu kommen. Ohne bescheidenen Beginn kommt man nie zum Ziel. Deshalb suchen wir Wege, Ansätze, besseres Klima. Aber einiges an wechselseitiger Bereitschaft muß eben doch schon am Anfang stehen, wenn es ein Weg zum richtigen Ziel sein soll. Polen kann nicht zugleich die SBZ als „DDR" anerkennen, mit dieser - wissend, daß die SBZ nicht für Deutschland sprechen kann - über GrenzDr. Barzel
fragen Abmachungen treffen und von uns ähnliche Erklärungen verlangen.
,({26})
Wer, meine Damen und Herren, Grenzprobleme in Ordnung bringen will, muß zunächst einmal mithelfen, in Europa eine Ordnung zu schaffen, welche die Lösung auch von Grenzproblemen dauerhaft zu tragen vermag. Auf Spaltung und Unordnung kann man keine Ordnung von Grenzen aufrichten. Jeder, der uns mahnt, zu Grenzfragen Erklärungen abzugeben, anerkennt dem Grunde nach ein Stück unseres Alleinvertretungsrechts, unserer Befugnis, für alle Deutschen zu sprechen.
Dies vorausgesetzt, stellen wir nachdrücklich fest - wie die Bundesregierung -: Nicht nur nach dem Willen der Deutschen, sondern auch nach internationalem Recht besteht Deutschland juristisch in den Grenzen von 1937 fort. Nur ein Friedensvertrag kann neues Recht schaffen. Der Weg zum Friedensvertrag ist in Art. 7 des Deutschlandvertrages verbindlich festgelegt: Erst eine aus gesamtdeutschen freien Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung wird hierfür handlungsberechtigt sein.
Aber dies ist nicht nur ein juristisches Problem, und darum sage ich noch dies: Glaubt jemand, wir würden durch Verletzung dieser Vorschriften ein Stück weiterkommen? Glaubt jemand, wir würden den runden Tisch von Friedensverhandlungen je durch Verzichte erreichen, welche das Interesse anderer am Zustandekommen dieses runden Tisches beseitigten? Glaubt jemand, wir würden unsere demokratische, rechtsstaatliche und humanitäre Gesinnung, diese Gesinnung des neuen Deutschland, beweisen, indem wir uns mit dem Unrecht abfänden oder arrangierten, wir würden unsere Pflicht zu historischer Wiedergutmachung an Mittel- und Osteuropa erfüllen, indem wir - statt die dynamischen Kräfte wider den Status quo zu stärken - durch eigenes Tun den Status quo verfestigten? Glaubt sich gar jemand berechtigt, unsere Wohlfahrt hier zu erkaufen, indem wir aus fremder Tasche zahlten? Eben dies täten wir, wenn wir hier uns durch Preisgabe von Rechten unserer Landsleute abfänden.
({27})
Wir sind die Sachwalter der Menschenrechte aller Deutschen und bekennen uns erneut zu den vom Bundestag festgelegten Obhutspflichten. Unsere Freunde haben sich mit uns im Art. 7 des Deutschlandvertrages gebunden. Da wir aber auch die Dokumente von 1945 kennen, könnte es sein, daß sich unsere Freunde auf einer Friedenskonferenz in dieser Frage nicht ganz unseren Standpunkt zu eigen machen. Gleichwohl bleibt es hilfreich, wenn sie nicht v o r dem Friedensvertrag Festlegungen treffen, wenn wir miteinander an diesem Art. 7 und seinem Geist festhalten, und wir danken all denen, die sich so hilfreich verhielten.
({28})
Meine Damen und Herren, wir sind weder Revisionisten noch Revanchisten. Wir haben feierlich auf Gewalt verzichtet. Dies gilt ebenso wie unser Wille nach Frieden durch Menschenrechte.
Zum Vierten gilt es, die Vereinigung Europas zu fördern. Wenn wir von Europa sprechen - und es ist wichtig, das zum Eingang dieser vierjährigen Zusammenarbeit erneut zu betonen -, dann meinen wir dieses Europa nicht als eine „dritte Kraft", sondern als einen Partner unserer atlantischen Freunde wie auch aller Staaten, denen Freiheit etwas bedeutet. Wir Europäer enthalten uns den Rang, der uns in der Welt zukommt, allein selbst vor durch mangelnde Vereinigung.
({29})
Auch aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, werden wir weiterhin unseren Beitrag zur guten Entwicklung der europäischen Gemeinschaft leisten. Wir wollen dieses Europa auf dem begonnenen Wege vereinigen. Unsere Kraft sollte sich mehr dem zielstrebigen Fortschritt zuwenden und sich dort engagieren als in der Diskussion immer neuer Methoden und immer neuer Projekte. Es kann im ganzen Europa durchaus verschiedene Grade der Integration, sich nicht deckende Kreise von Kooperation und auch unterschiedliche Formen des Miteinander geben wie auch abgestufte Zahlen von Mitgliedschaften einzelner Staaten in europäischen Gremien. Kurzum, wir müssen mehr darauf achten, daß wir weitere Fakten der Gemeinsamkeit, möglichst nicht mehr auflösbare Fakten der Gemeinsamkeit schaffen, als darauf, daß für alle alle Überschriften systemgerecht stimmen.
Bedauerlicherweise ist die EWG in einer Krise. Wir möchten niemand darüber im unklaren lassen, daß wir enttäuscht sind; denn wir haben unseren Bauern wie unseren Steuerzahlern durch die Politik in der Getreidepreisfrage einiges zugemutet. Wir taten das für Europa. Aber auch wir haben Interessen und Wünsche. Wir ermuntern die Bundesregierung, auf gerechtem Ausgleich der Lasten wie der Vorteile des Gemeinsamen Marktes zu bestehen. Nur durch Geben und Nehmen, nur durch Miteinanderreden, nicht durch Befehlen und Gehorchen, wird Europa weiterkommen.
({30})
Der EWG-Vertrag selbst enthält alle Möglichkeiten, die EWG-Krise zu überwinden. Wir wissen, warum es für alle gut ist, Verträge getreulich zu erfüllen, und werden das unsere tun. Der Vorschlag der Gemeinschaft an Frankreich vom Oktober zeigt einen Weg, auf dem weitergekommen werden könnte.
Es bleibt unser Wunsch wie unsere Bereitschaft zu einem großen europäischen Gespräch der Sechs. Es könnte in geziemenden Abstand von der Präsidentenwahl in Frankreich stattfinden, die Regierungschefs zusammenführen, die europäische Lage erörtern, keine Frage ausklammern und nach gemeinsamen Wegen für die Zukunft suchen. Ganz sicher, meine Damen und meine Herren, besteht ein Zusammenhang zwischen der Überwindung der EWG-Krise, dem Fortschritt Europas und den Aussichten auf eine gute NATO-Reform. Wer die Lage Europas in der Welt und vor dem Hintergrund der kommunistischen Realitäten sieht, der wird uns zustimmen, wenn wir sagen: Es ist immer höchste
Zeit, Europa weiter . zu vereinigen. Unser europäischer Wille bleibt ungebrochen.
({31})
Zum Fünften, meine Damen und Herren, gilt es, den Sozialen Rechtsstaat auszubauen. Wir können uns nicht einfach damit zufrieden geben, daß wir in den sozialen Leistungen an der Spitze der Welt stehen. Gewiß, wir können auf das Erreichte stolz sein, auch darauf, daß es hier Proletarität nicht mehr gibt, daß mit dem Erfolg der sozialen Marktwirtschaft die Demokratisierung unserer Gesellschaft einherging. Gleichwohl gibt es auch bei uns soziale Fragen, zum Teil neue und andere als früher, aber es gibt sie. Es ist einfach nicht wahr, wenn man sagt, daß bei uns die soziale Frage zu einer Art „Parkplatzfrage" zusammengeschrumpft sei.
Die Lage der sozialen Berufe, der sozialen und karitativen Einrichtungen, der Hausfrauen, der Jugend, mancher Alleinstehenden und Alten wie das. Problem, das die Wissenschaft die „seelische Entproletarisierung" nennt, die Fragen der breiteren Eigentumsstreuung, des Familienlastenausgleichs, besserer Gesundheitsvorsorge, die besonderen Erfordernisse des Mittelstandes und der Landwirtschaft sowie die materiellen und auch die seelischen Probleme aller durch 'den Krieg in Mitleidenschaft Gezogenen, die Fragen des Wohnungsbaus, der Raumordnung und der regionalen Strukturpolitik, dies alles verpflichtet uns, den sozialen Rechtsstaat auszubauen.
Wir sprachen bereits davon, aber hier gehört noch einmal die Feststellung hin, daß die Quelle allen Fortschritts, aller Wohlfahrt und aller Sicherheit heißt: Arbeit. Und die Sicherung aller Wohlfahrt bedingt: Verteidigungsbereitschaft. So gehört für uns die Notstandsverfassung eben auch zum Programm des Ausbaues unseres freiheitlichen, sozialen Rechtsstaates.
Die Sozialenquete wird uns, wie wir zuversichtlich hoffen, nicht nur bessere Einblicke und Durchblicke vermitteln, sondern auch Wege zeigen, mit unserem Sozialaufwand zur höchstmöglichen Effizienz beim einzelnen zu kommen. Sie ist so rechtzeitig vom Herrn Bundeskanzler eingeleitet worden, daß wir im kommenden Jahr die Basis für eine längerfristige Planung erhalten werden. Dabei muß uns nicht nur aus finanziellen Gründen daran gelegen sein, daß die staatlichen Leistungen noch wirkungsvoller für den Empfänger werden und so noch besser der sozialen Gerechtigkeit dienen.
Der Sachverständigenbericht zur Reform der Finanzverfassung wird uns auch vor Fragen der Neuverteilung der Kompetenzen, der Scheidung der Aufgaben wie vor Fragen verbesserter Durchsetzung der für die Gesamtheit und die Währung wesentlichen Gesichtspunkte in allen staatlichen Ebenen stellen. Darum wäre es gut, Herr Bundeskanzler, wenn Sie in naher Zukunft einige grundsätzliche Gespräche mit den Herren Ministerpräsidenten der Länder sowie mit den Sozialpartnern führten.
({32}) Die Enge einiger Kompetenzen des Bundes - die Enge, verglichen mit den Erwartungen der Öffentlichkeit und den Ansprüchen unserer Zeit - legt diesen Weg nahe.
Wir müssen, meine Damen, meine Herren, -zu einem ständigen Dialog kommen zwischen Bund und Ländern wie zu dem zwischen uns, den Gewerkschaften und der Wirtschaft. Denn nur durch Zusammenwirken wird eis eine gute Entwicklung geben. Ich bin sicher, daß der Herr Bundesminister für Wirtschaft seine guten Vorstellungen hierzu in dieser Debatte entwickeln und konkretisieren wird.
Mit den Herren Ministerpräsidenten, Herr Bundeskanzler, wären vor allem wohl die Fragen der Bildung, der Haushaltslage der öffentlichen Hand insgesamt, die Finanzverfassungsreform, die Verkehrspolitik und die Sorge um die Gesundheit unserer Bevölkerung zu erörtern.
Zu dem zuerst genannten Punkt, den Fragen der Bildung, meinen wir, daß zwischen Bund und Ländern ein Mehr an Zusammenordnung in allen Fragen
der Kulturpolitik nötig ist.
({33})
Man sollte hier zuvor miteinander sprechen, zunächst die Fakten und die Pläne auf den Tisch legen, nicht aber an den Beginn die Forderung nach Revision der Verfassung oder neuen Behörden stellen. Dieses Gespräch ist auch nötig, um unser Ziel, die Steigerung des Anteils Bildung am Sozialprodukt, zu erreichen, wie es in den Gutachten vorgesehen ist.
Mit den Tarifpartnern, Herr Bundeskanzler, müßte wohl - unabhängig von aktuellen Tarifverhandlungen, also grundsätzlich - gesprochen werden über die wirtschaftliche und soziale Gesamtlage, auch über das Problem der Arbeitszeit und die Frage der Gastarbeiter.
Uns scheint es wesentlich, die Sparkraft des deutschen Volkes verstärkt auch in dem Sinne zu nutzen, daß weiteste Schichten der Bevölkerung für die finanzielle Beteiligung auch an der Industrie gewonnen werden. Auf diese Weise könnte die Eigentumsstreuung verbreitert und die finanzielle Basis des ökonomischen Fortschritts verstärkt werden. Wir haben nicht den Eindruck, daß die insoweit in der hohen Sparrate unseres Volkes zum Ausdruck kommende Kraft schon voll ins Spiel gebracht wäre. Alles dies, meine Damen und Herren, verlangt, daß wir festhalten an den beiden prinzipiellen Entscheidungen, die uns bisher geleitet haben: der sozialen Marktwirtschaft und der sozialen Partnerschaft. Wir sehen - weiterhin - beides zugleich.
Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft spricht für sich selbst. Unser partnerschaftliches Denken hat mit dazu beigetragen, den Klassenkampf in unserem Land zu überwinden, den Wiederaufbau zu beschleunigen und Streiks sehr weitgehend zu vermeiden. Dieses partnerschaftliche Denken hat in unserer Rechtsordnung mannigfach Niederschlag gefunden, von der Tarifvertragshoheit bis zu den Regelungen über Betriebsverfassung und Mitbestimmung.
Als wir dies alles vor vielen Jahren - und wir waren es - grundsätzlich konzipierten - ich erinnere mich lebhaft der Gespräche mit Karl Arnold hierzu -, war uns klar, ein Stück Mitbestimmung durch Gesetz zu antizipieren, das im Laufe der Jahre durch Miteigentum zuwachsen sollte.
Nun stehen wir vor dem Punkt, wo einem der Vorrang gebührt: Erweiterung der Mitbestimmung aus Gesetz oder Erweiterung von Mitbestimmung aus Miteigentum. Wir geben dem letzteren den Vorrang, meine Damen und meine Herren.
({34})
- Endlich habe ich also einen Punkt erreicht, wo die Opposition schon durch Gemurmel zum Ausdruck bringt, daß sie anderer Meinung ist. Ich nehme an, Herr Kollege Erler, Sie werden das gleich artikulieren, damit wir darauf etwas sagen können.
({35})
Meine Damen und Herren, wir wollen Anreize schaffen, auch das Miteigentum breiter zu streuen und die Sparkraft unseres Volkes wirksamer werden zu lassen. Eine Ausdehnung der Mitbestimmung würde dem im Wege stehen. Ebenso würde eine etwaige Aushölung der Mitbestimmung dem Ganzen nicht dienen. Wir erstreben weiter Partnerschaft. Wir erstreben weiter Anerkennung der Arbeit und des Privateigentums. Da wir dieses Privateigentum immer breiter allen Bürgern zuteil werden lassen, hat dies Vorrang, auch in dieser
Frage.
Das Grundanliegen unserer Gesellschaftspolitik ist die Erhaltung der Selbstverantwortung und der Freiheit des Bürgers im Schutze der unentbehrlichen Institutionen: der Familie und des Privateigentums. Der sittliche Schutz und die materielle Förderung der Familie bleiben uns vorrangig wie die breite Streuung des Privateigentums.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
({36})
- Ich freue mich, daß Sie sich auch freuen, den Kollegen Erler zu hören. Ich werde sicher Gelegenheit haben, mich dann noch ein bißchen an der Debatte zu beteiligen.
Die Väter des Grundgesetzes haben in der Präambel das Bewußtsein der „Verantwortung vor Gott und den Menschen" als erstes Motiv der verfassunggebenden Arbeit bezeichnet. In Art. 2 haben sie das hohe Gut der freien Entfaltung der Persönlichkeit an das Grundgesetz gebunden. So sind in unsere Verfassung die religiösen und sittlichen Überzeugungen eingegangen und haben den Wiederaufbau unseres Staates mitbestimmt. Gerade in der Zeit des Zusammenbruchs wie des Wiederaufbaus der staatlichen Ordnung sind Religion und Gewissen eine aktive Kraft in unserem Volk gewesen. Wer für die Zukunft unseres Volkes arbeitet, wird darauf achten, daß diese Kraft wirksam bleibt, daß unsere Jugend nicht nur körperlich gesund heranwächst.
Der Geist weht, wo er will. Das soll so bleiben. Indem wir alle aber zugleich dem Gebot der Rücksicht, der Rücksicht vor dem, was dem anderen essentiell ist, was dem anderen heilig ist, als einem zwingenden Erfordernis mitbürgerlicher Bewährung entsprechen, werden wir auch insoweit zu einem Mehr an Menschlichkeit kommen.
Vor uns stehen schwere Aufgaben. Vor uns steht die Notwendigkeit, uns zu bewähren, uns zu bewähren aneinander als demokratisch Verantwortliche, uns zu bewähren vor den Wählern, die uns hierher geschickt haben; uns zu bewähren vor der deutschen Geschichte, vor allem aber uns zu bewähren vor dem ganzen deutschen Vaterland.
({37})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Barzel erwartet Kritik, kontroverses Gespräch und - da das lückenhafte Konzept der Regierungserklärung nicht Diskussionsstoff genug bietet - das Konzept der Opposition für diese Periode. Dem Manne wird geholfen werden.
({0})
Aber zur Debatte steht doch wohl zunächst die Erklärung der Regierung.
({1}) S i e hat sich zu stellen.
Die Bundesregierung behauptet, bei der Wahl ein überzeugendes Mandat erhalten zu haben.
({2})
Dieses Mandat geht natürlich zu einem guten Teil auf eben jene Wahlgeschenke zurück, die Sie jetzt rückgängig machen.
({3})
Nach dem Eingeständnis des Kollegen Lemmer wollten Sie erstmal die Wahl gewinnen und dann sehen, wie es aussieht.
({4})
Dennoch hat die Koalition 15 Mandate verloren, während die sozialdemokratische Opposition deren 13 gewonnen hat.
({5})
Auch wenn uns eine größere Stärkung lieber gewesen wäre, ging die Regierungskoalition geschwächt aus der Wahl hervor, die Opposition dagegen gestärkt.
({6})
Das wird sich politisch auswirken - neben all den Problemen, die dem Kanzler durch die Opposition in den eigenen Reihen und seine eigene unklare Führung ohnehin gestellt sind.
({7})
Wir danken den 13,8 Millionen Wählern im freien Teil Deutschlands, die uns 217 sozialdemokratische Abgeordnete durch ihr Vertrauen hierher entsandt haben. Wir wollen und werden es nicht enttäuschen. Wir werden uns in unserer Arbeit leiten lassen von dem, was wir für unser ganzes deutsches Volk für notwendig halten - also auch zum Wohle derer, die uns ihre Stimme noch nicht gegeben haben, wie zum Wohle derer, die durch fremde Gewalt daran gehindert sind, überhaupt an einer freien Wahl zur deutschen Volksvertretung teilzunehmen.
({8})
Die Regierungserklärung fällt - und darin unterscheidet sie sich insbesondere zu ihrem Nachteil von der soeben gehörten Rede unseres Kollegen Barzel - gegen die des Jahres 1963 ab. Zahlreiche Ankündigungen von damals sind nicht wiederzufinden, obwohl sie nicht verwirklicht wurden. Offenbar kann und will man diese Ankündigungen nicht mehr verwirklichen. Die guten Vorsätze über das Verhältnis zu den geistigen Kräften unseres Volkes oder zur demokratischen Opposition sind vom Kanzler selbst in der Hitze des Wahlkampfs verbrannt worden. Mit ein paar dürftigen Lippenbekenntnissen kann das nicht glaubwürdig wiederhergestellt werden.
({9})
Der Nimbus vom Volkskanzler ist dahin.
({10})
Diese Regierung hat keinen Anspruch auf eine neue Bewährungsprobe.
({11})
Es ist ja die alte!
({12})
Wir haben zwei Jahre Zeit gehabt, zu sehen, was die Regierung Erhards an Wahlgeschenken einzubringen fähig war und was sie an Notwendigem unterließ. Und schließlich war der jetzige Kanzler ja auch vor zwei Jahren kein Neuling in der Regierung. Daß wir ihm dennoch eine faire Chance boten, wurde schlecht gelohnt. Die Zerstrittenheit der Koalition und die mangelnde Entschlußkraft des Kanzlers spiegeln sich in seiner schwunglosen Erklärung wider.
({13})
Wo Übelstände gegeißelt werden, fehlt die Angabe von Roß und Reiter. Welche verzünftelten sogenannten Besitzstände z. B. sind eigentlich gemeint? Welche partiellen Interessen bedrohen unsere Leistungsgemeinschaft von innen? Welche Subventionen sind zu großzügig, und wo gibt es Nachsicht gegenüber protektionistischen Forderungen? Welche Unternehmen oder Branchen sollen nicht mehr künstlich erhalten werden? Oder sind etwa die
Kollegen Strauß und Guttenberg jene Einzelgänger, deren illusionäre Aussagen nicht mehr verantwortbar seien, oder wer sonst?
({14})
So könnte ich weiter fragen - aber Antworten bekäme ich doch nicht. Denn Präzision ist nicht des Kanzlers starke Seite,
({15})
und außerdem könnte sie auch Händel bringen. So muß eben ein wohldosierter, etwas wolkiger Gemeinplatz jenen Mut vortäuschen, an dem es in Wahrheit fehlt.
In einer Richtung allerdings war die Regierungserklärung klar: Gegen die Arbeitnehmer.
({16})
Die einzigen ausdrücklich als kürzbar genannten Subventionen sind die Sozialaufwendungen. Die einzige klare Aussage überhaupt betrifft die Ablehnung einer Ausweitung der Mitbestimmung. Überall sonst wird wenigstens Prüfung angekündigt. Hier nicht einmal dies. Hier wird gleich verworfen. Dabei ist der Kanzler inkonsequent. Er wehrt sich nämlich gegen die Aushöhlung der Mitbestimmung. Also kann sie so schlecht nicht sein. Von Abs über Adenauer das ganze Alphabet hindurch hört man, sie habe sich bewährt, sie habe dem Arbeitsfrieden, der Steigerung der Produktivität und damit der Wettbewerbsfähigkeit gedient und ein der modernen Industriegesellschaft angemessenes Partnerverhältnis von Kapital und Arbeit geschaffen. Fremdes Kapital ist aus den betroffenen Bereichen nicht wegen der Mitbestimmung abgeflossen, sondern nach wie vor in hohem Maße an der deutschen Montan-Industrie beteiligt. Oder hat der Kanzler etwa andere Informationen? Deshalb sollte die Regierung von den angebotenen Möglichkeiten einer unbefangenen Prüfung durch die vorgeschlagene vom Herrn Bundespräsidenten zu berufende Sachverständigenkommission Gebrauch machen, bevor sie sich festlegt. Das stünde ihr um so besser an, als das CDU-Präsidium am 18. Januar 1965
({17})
sich positiv zur Erweiterung der Mitbestimmung geäußert hat.
({18})
Würde die Regierung ohne Prüfung verwerfen, dann würde es sich wieder schlicht um einen der zahlreichen Wortbrüche der Wählerschaft gegenüber handeln.
({19})
Vielleicht kann der Herr Bundeskanzler seine Parteifreunde Katzer, Grundmann und Dufhues einmal nach ihren Erfahrungen als Aufsichtsräte in mitbestimmten Industrieunternehmen befragen.
({20})
Nach den seinerzeit von dem Gewerkschaftsführer
Böckler vertretenen Grundsätzen geht es doch wohl
darum, daß die Gewerkschaften keine bloße LohnErler
und Tarifmaschine sein, sondern überall dabei sein wollten und sollten, wo an unserem Wiederaufbau mitgewirkt wird. Menschenwürde ist mehr als bloßes Konsumentendasein. Dabei war es klar, daß diese Bestrebungen - das möchte ich hier ausdrücklich betonen - nicht als Hintertreppe zur Übernahme der Unternehmen mißbraucht werden können und dürfen.
Sehr seltsam muß dem Wirtschaftsprofessor bei seiner Forderung nach Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit um eine Stunde zumute gewesen sein. So einfach geht das - als ob es im Bergbau keine Feierschichten gäbe und man ohnehin nicht weiß, wohin mit den Kohlenhalden; als ob in der Stahlindustrie nicht Überkapazitäten und verkürzte Arbeitszeit Probleme wären und als ob es nicht doch wohl auf die tatsächliche und nicht auf die tarifliche Arbeitszeit ankäme; denn deren Verlängerung allein wäre nur ein verschleierter Lohnabbau ohne volkswirtschaftliche Mehrleistung.
({21})
Um diese Mehrleistung aber geht es - zu Recht. Das ist aber nicht einfach eine Frage der Länge der Arbeitszeit, sondern eine Frage des wirtschaftlichen Ergebnisses. Wie sehr das auseinanderfallen kann, sehen wir ja an der Regierungserklärung selbst: Sie war - übrigens ohne tarifliche Vereinbarung - eine Stunde länger, aber es stand weniger drin. Das war offenkundig die Buße für die vor der Wahl angekündigte 35-Stunden-Woche.
({22})
Und wenn wir an die volkswirtschaftliche Gesamtleistung denken - auf die es ankommt -, dann sollte sich der Kanzler hinsichtlich der Arbeitszeitdauer auch einmal von Arbeitsphysiologen informieren lassen. Dann kann man die betrübliche Tatsache nicht einfach übergehen, daß etwa 62 % der arbeitenden Männer und 75 % der arbeitenden Frauen vor Vollendung des 65. Lebensjahres invalide werden. Pfleglicher Umgang mit der Arbeitskraft entscheidet auch über die Lebensleistung, nicht nur über die Stundenleistung.
({23})
Die Notwendigkeit der volkswirtschaftlichen Leistungssteigerung ist unbestritten. Der Weg dahin ist nicht ganz so simpel, wie der Regierungschef es darstellt.
({24})
Eine einseitige Politik gegen die Arbeitnehmer führt bestimmt nicht zum Ziel. Ihr guter Wille ist wie beim Aufbau der Vergangenheit unentbehrlich. Aber nur dann kann eine Regierung diesen Wert nutzen, wenn sie sich nicht zum Scharfmacher der Gegenseite macht. Ohne ein Klima vertrauensvoller Zusammenarbeit auch und gerade mit den Gewerkschaften sind die Probleme der volkswirtschaftlichen Leistungssteigerung nicht zu lösen. Der Kanzler hat im Wahlkampf alles getan, um dieses Klima zu zerstören.
({25})
Es wird schwer sein, es wiederherzustellen. ({26})
Die Regierungserklärung deutet leider nicht auf Besserung hin. Der Regierungschef muß Gesprächspartner, aber nicht Partei in dem Ringen der verschiedenen sozialen Gruppen sein.
({27})
- Herr Brenner ist Partei und nicht Regierungschef. Das ist doch der Unterschied; den bitte ich sehr wohl einzusehen.
({28})
- Weder Herr Brenner noch Herr Berg können leugnen, daß sie in diesem Ringen Partei sind, und wehe dem Regierungschef, der sich dann einseitig nur auf die Seite des einen oder des anderen schlagen würde!
({29})
Schlägt der Regierungschef sich eindeutig auf eine Seite, so beraubt er sich selbst einer wichtigen ausgleichenden Funktion in der modernen Industriegesellschaft.
Oder zieht der Herr Bundeskanzler vielleicht an Stelle unserer verantwortlich am Wiederaufbau mitwirkenden Gewerkschaften die Situation der meisten anderen westlichen Länder mit wesentlich mehr Arbeitskämpfen und daraus herkommenden Produktionsausfällen vor? Dann muß er sagen, welches System er vorzieht.
({30})
Natürlich ist es für die Regierung einfacher, allgemeine Appelle an alle zu richten, statt konkret zu sagen, was sie in ihrer Zuständigkeit selber zu tun gedenkt. Sie verspricht jetzt, vor allem zu prüfen und manchmal auch zu helfen, aber sie sagt nicht, wie. Dabei ist jetzt schon der Widerspruch sichtbar zwischen Wort und Tat so, wenn etwa der Wohnungsbau fortgeführt werden soll, aber gleichzeitig die Mittel gekürzt werden, oder wenn in einem bemerkenswert ausführlichen Kapitel - dem ich zustimme - der Nutzen der auswärtigen Kulturpolitik betont wird, obwohl gerade die Regierungsparteien die Mittel hierfür erbarmungslos beschnitten haben.
Der Kanzler verlangt - wie auch früher - die Festlegung von Prioritäten, eine Rangfolge der Aufgaben. Das ist richtig. Aber er legt keine fest, obwohl er zwei Jahre Zeit dazu hatte. Die ganze Regierungserklärung liest sich wie der Ausspruch des österreichischen Generalstabschefs im Jahre 1 866 nach dem preußischen Einmarsch: Meine Herren, da muß doch was g'schehen! Er wußte nur nicht, was.
({31})
Aufschlußreich ist, was die Regierung schönfärberisch verschweigt. Zuversicht ist eine gute Sache, aber sie darf nicht in Selbsttäuschung entarten. Hier hat erfreulicherweise der Kollege Barzel heute einiges ergänzt. Nach der Regierungserklärung aber sind u. a. die folgenden Probleme überhaupt nicht vorhanden: die Krise der NATO, die Krise der EWG,
die Verschlechterung der außenpolitischen Position der Bundesrepublik Deutschland, die wachsende Neigung anderer, Probleme vorab zu unserem Nachteil zu entscheiden, deren Regelung zum Frieden für ganz Deutschland gehört, die zweite industrielle Revolution
({32})
- Sie lachen; Sie sind mitten drin! -, die Krise im Kohlenbergbau, das Zurückbleiben von Bildung und Forschung hinter den Erfordernissen unserer Zeit - das hängt nämlich mit der belachten zweiten industriellen Revolution zusammen, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten -,
({33})
'die unzureichende finanzielle Ausstattung der Gemeinden und deren dadurch entstandene Schuldenlast, das schnellere Sinken der Kaufkraft unserer 'D-Mark in den letzten beiden Jahren als je zuvor und die Verantwortung der Regierung für das von ihr selbst geschaffene finanzielle Chaos.
({34})
Über die meisten dieser Dinge wird so eisern geschwiegen, als gelte immer noch der Spruch zur Wahl: Augen zu - wählt CDU!
({35})
- Ich merke, Ihnen macht es Spaß, daß ich endlich einmal die Aufforderung des Kollegen Barzel so ernsthaft befolge.
({36})
Herr Kollege Barzel hat zu einigen dieser Fragen ein paar nachdenkliche Kapitel beigesteuert, deren Studium man der Exekutive nur empfehlen kann. Hoffentlich werden daraus auch die richtigen Nutzanwendungen gezogen. Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten das von der Regierungsbank gehört.
({37})
Aber zu einigen Punkten, Herr Kollege Barzel, z. B. zum Thema der Geldwertstabilität muß ich Ihnen sagen: etwas weniger Selbstgefälligkeit wäre der Lage gerade heute angemessener gewesen.
({38})
- Aber sicher.
Statt dessen haben wir in der Regierungserklärung den seltsamen Satz vom Ende der Nachkriegszeit gehört. Natürlich stellen sich mit dem Abschluß des wirtschaftlichen Wiederaufbaus neue Probleme. Aber die 17 Millionen unserer Landsleute als Geiseln in fremder Hand und das in den Gerichtssälen bloßgelegte Grauen einer schrecklichen Zeit mit allen Verstrickungen in Schuld und Verbrechen, die Sorgen der Opfer des Krieges und der Verfolgung zeugen davon, daß Gewaltherrschaft und zweiter Weltkrieg noch keine völlig abgeschlossenen Kapitel unserer Geschichte sind.
({39})
An ihren Folgen trägt unser deutsches Volk noch heute. Das bleibt wahr, obwohl die Welt, in der wir leben, sich unerhört rasch verändert. Alte Konzepte und Formeln reichen für diese unsere Welt nicht aus.
Das neue technische Zeitalter hat ungeahnte Möglichkeiten, aber gleichzeitig damit auch Gefahren geschaffen. Aufgabe schöpferischer Politik ist es, die Möglichkeiten zu nutzen und die Gefahren zu bannen.
({40})
Die Entwicklung der Kernenergie verändert industrielle Standorte, erweitert unsere Produktionsfähigkeiten und erschließt neue Produktionsverfahren, - sie kann aber auch das Ende der Menschheit auslösen. Die Automation steigert die Ergiebigkeit der Arbeit und damit die Lebenshaltung aller, - sie kann zum Fluche werden, wenn nicht vorausschauend gehandelt wird und die sozialen, erzieherischen und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen und Folgen rechtzeitig bedacht und vorbereitet werden. Menschlicher Forschergeist dringt in immer neue Horizonte vor. Das Zeitalter der Raumfahrt hat begonnen.
({41})
-- Das steht nun sogar in der Regierungserklärung. Ich verstehe Ihre Heiterkeit nicht ganz.
Ein hochentwickeltes Industrieland wie das unsere wird - auch ohne jeden übertriebenen Ehrgeiz - sich nicht von der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung auf diesem Gebiet fernhalten können,
({42})
wenn es nicht die zukünftige Leistung seiner Wirtschaft gefährden und seine begabtesten und wagemutigsten technischen Gehirne an andere verlieren will. Die Ergiebigkeit von Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen hat das Leben der Menschen in den modernen Industriestaaten in den letzten 20 Jahren stärker verändert als im Jahrhundert zuvor. Unsere inneren Probleme nehmen sich dennoch klein aus angesichts von Hunger und Elend dort, wo die Zahl der Esser schneller wächst als die Nahrungsmittelproduktion. Die Bevölkerungsexplosion ist zu einer brennenden Sorge geworden.
Unabhängigkeit allein stillt keinen Hunger, beseitigt keine Seuchen. Für viele junge Staaten hat eine schwere Prüfungszeit begonnen. Stolz und Leidenschaften aller Art lösen Konflikte aus und Wirren. Der uns drückende Ost-West-Konflikt wird überlagert von dem Nord-Süd-Gegensatz zwischen den entwickelten Industriestaaten der gemäßigten Zonen und den südlich davon darbenden vielen hundert Millionen Menschen der Entwicklungsländer. Mit ihrem Einzug in die Weltpolitik verändern sich die
Gewichte. Wenn wir nicht Verständnis haben für die Probleme der anderen und ihnen gegenüber unser Wort halten, werden wir bei unserem Ringen um Selbstbestimmung, Einheit und Freiheit vergeblich an jene Solidarität appellieren, die wir so bitter nötig 'brauchen.
So ist Deutschland bei dieser Umwandlung unserer Welt kein bloßer Zuschauer. Wir tragen ein Stück Verantwortung mit. Dabei geht es nicht nur um eine natürliche menschliche Solidarität und schon gar nicht nur um Almosen, sondern um eine gemeinsame Aufgabe und um wohlverstandenes eigenes Interesse. Auch wer keine Weltmacht ist, wird vom Weltgeschehen berührt. Eine weltpolitische Explosionskatastrophe könnte uns alle verschlingen. Jene Hilfe, welche andere Völker befähigt, sich später selbst zu helfen und aus eigener Kraft ein menschenwürdiges Dasein zu erarbeiten und stabile politische Verhältnisse zu schaffen, ist eine wohlangelegte Versicherungsprämie - von der wachsenden Aufnahmefähigkeit kaufkräftiger werdender Märkte für unsere Erzeugnisse einmal ganz abgesehen.
Haben wir in der Bundesrepublik Deutschland diese neuen Dimensionen der menschlichen Gesellschaft schon erkannt? Sind wir bereit, für unser eigenes Haus daraus die nötigen Folgerungen zu ziehen? Bestimmt nicht, wenn wir meinen, unsere innere Entwicklung sei ein Sonderfall oder - wie der Kanzler meint - gar ein deutsches Modell. Alle modernen Industriegesellschaften - Herr Kollege Barzel hat das mit Recht gesagt - stehen heute vor den gleichen Herausforderungen und damit vor ähnlichen Problemen. Überall geht es um neue Horizonte, auch wo man dies die neuen Grenzen nennt. Überall handelt es sich um die Modernisierung von Staat und Gesellschaft, um ihre Anpassung an die Herausforderungen unserer Zeit und um die Stellung der Menschen darin als bewußte Mitgestalter unserer freiheitlichen Ordnung.
Der soziale Rechtsstaat in einer voll entwickelten demokratischen Gesellschaft, Verfassungsgebot und Ideal zugleich, gibt hierfür den richtigen Rahmen. Darin können Konflikte am besten und ohne gewaltsame Erschütterungen gelöst werden.
Unsere reich gegliederte Gesellschaft darf nicht atomisiert werden. Die Freiheit des Bürgers geht 'verloren, wenn er nur als Einzelwesen der staatlichen Macht gegenübersteht. Deshalb müssen wir ja sagen zum machtverteilenden Prinzip unserer bundesstaatlichen Ordnung, zur Gemeindefreiheit und zu dem Wirken der vielfältigen Organisationen, in denen sich unsere Bürger zu den mannigfaltigsten Zwecken zusammenschließen. Wer - wie das leider geschieht - das freiwillige Wirken in diesen Organisationen verketzert, indem er glaubt, gegen „die Funktionäre" - damit meint er dann immer die auf der anderen Seite - ohne nähere Bezeichnung wettern zu können, der zerstört ein wichtiges Stück freiwilliger demokratischer Mitwirkung in unserem Lande.
({43})
Ohne die Mitwirkung der Wissenschaft ist kein klares Bild von den Notwendigkeiten unserer Zeit zu gewinnen. Aber die Wissenschaft kann nur Alternativen bieten. Die politische Entscheidung nimmt sie der Regierung und uns in diesem Hause nicht ab. Zusätzlich zu der hergebrachten Nutzung der Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie, der Rechtswissenschaft für unser politisches Handeln müssen wir, um die Freiheit der Menschen vor neuartigen Gefahren zu schützen, uns mit den Vorgängen bei der Bildung von Meinungen, mit den Unterschieden von Information und Propaganda, mit der wachsenden Bedeutung der Psychologie in unserer Zeit, ja mit allem befassen, was die Wissenschaft heute über den Menschen auszusagen vermag. Wer diese Probleme nicht erkennt, kann auch den daraus entspringenden Gefährdungen der Freiheit nicht wirksam begegnen.
Nur von einer umfassenden Gesamtvorstellung her erhalten die einzelnen Aufgaben und Maßnahmen ihren richtigen Platz und Sinn. Dann erst ergeben sich Prioritäten; dann erst wird klar, daß ein Regierungsprogramm mehr sein muß als die Erfüllung von Gruppenwünschen oder die Aufzählung von Ressortzuständigkeiten. Dann erst wird auch klar, daß diese großen Aufgaben unserer inneren Ordnung das Herzstück wirklicher Politik sind. Ohne ihr beherztes Anpacken hat die Bundesrepublik Deutschland auch außenpolitisch keine ausreichende Statur. Leider wird ja oft in der öffentlichen Meinung nur der Außenpolitik der Rang des Politischen zuerkannt und der Zusammenhang zwischen moderner Innenpolitik, gesunder Gesellschaftsstruktur und außenpolitischer Handlungsfähigkeit übersehen.
War nun, meine Damen und Herren, von einer solchen Gesamtbeurteilung der Lage unseres Volkes in den Umschichtungsprozessen unserer Zeit und von den daraus hergeleiteten Einzelaufgaben in der Regierungserklärung auch nur ein Hauch zu verspüren? Nein! Die vagen Andeutungen über die sogenannte formierte Gesellschaft sind hierfür kein Ersatz. Das wissen Sie alle. Geradezu erheiternd ist die Erläuterung, daß die Menschen aus Einsicht tun sollen, was sowieso ihrem eigenen Wohle dient. Das scheint mir keine taufrisch-neue Erkenntnis zu sein. Die undeutlichen Formeln des Kanzlers sind sehr reziplikativ. Sie werden fragen, was das heißt.
({44})
Das heißt gar nichts; das spricht sich nur so schön
({45})
Eine deutsche Zeitung forderte mit Recht, daß Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung präzise Auskunft darüber gebe, wie er sich diese formierte Gesellschaft in concreto vorstelle und welche praktischen Maßnahmen er dabei im Auge habe. Sie schreibt wörtlich - ich zitiere -:
Bis jetzt hat er mit seiner schillernden Vision nur Unordnung gestiftet. In seinem Interesse liegt es, allen Mißbräuchen den Boden zu entziehen, Wenn er dazu nicht in der Lage ist,
sollte er sich schleunigst von dieser merkwürdigen Vokabel trennen.
So weit das Zitat des „Industriekurier". ({46}) Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der Kanzler glaubt, Marxens so oft verlästertes Ziel der klassenlosen Gesellschaft erreicht zu haben. In einem Staat, in dem Arbeiter- und Landkinder nur einen geringen Bruchteil der Studierenden und damit der künftigen Führungsschicht stellen, scheint mir dennoch einiges nachzuholen zu sein. Für die Modernisierung der Bundesrepublik Deutschland bedarf es großer Anstrengungen bei Bildung und Forschung, bei dem Gesamtgebiet Städtebau, Verkehr, Raumordnung und Strukturpolitik, bei zeitgemäßer Gesundheitsvorsorge und bei Abrundung unseres Gebäudes der sozialen Sicherheit. Für unseren künftigen Lebensstandard wird ein gesundes Gleichgewicht von privaten Anstrengungen und den Leistungen der öffentlichen Hand entscheidend sein. Individuum und Gemeinschaft sind keine Gegensätze; sie müssen zusammenwirken.
Bei den notwendigen Investitionen auf diesen Gebieten darf man nicht nur fragen, was sie kosten, sondern auch und gerade was ihre Unterlassung kostet. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit wird abhängen von dem aus unserem Bildungswesen erwachsenden Stand der Wissenschaft und Technik. Sie wird auch abhängen von einem gesunden Wachstum unserer Wirtschaft durch eine Strukturpolitik, welche regionale Reserven erschließt, den Blutkreislauf des Güter- und Personenverkehrs den Anforderungen unserer Zeit anpaßt und es unseren Bürgern ermöglicht, ihre Kräfte an der für sie selber und für unsere Gemeinschaft ergiebigsten Stelle einzusetzen. Und schließlich wird unsere Wettbewerbsfähigkeit davon abhängen, daß die Gesundheit unserer Menschen länger erhalten bleibt als heute.
Daß eine angemessene Beteiligung künftiger Generationen an den Kosten dieser für ihr künftiges Leben wichtigen Investitionen immer schwieriger wird, ist unbestritten. Verantwortlich dafür ist jene Regierungspolitik, die unter anderem mit der Kuponsteuer den Kapitalmarkt zerrüttete
({47})
und durch die Finanzpolitik zurückliegender Jahre die Gemeinden zur Verschuldung, oft bis zur Höchstgrenze, zwang,
({48})
als der Bund noch seinen außerordentlichen Haushalt durch Überschüsse des ordentlichen Haushalts finanzierte und zusätzliches Vermögen aus Steuermitteln in der Form bildete, daß er mehr Darlehen auslieh als aufnahm.
({49})
So ist die Finanzreform, die Aufteilung der Finanzmasse auf Bund, Länder und Gemeinden entsprechend ihren wirklichen Aufgaben, der Schlüssel zur Lösung der genannten Aufgaben überhaupt.
Was sagt nun die Regierungserklärung zu diesen Aufgaben aus? Ihre klare Einordnung in ein Gesamtkonzept fehlt, und es bleibt im wesentlichen bei unbestimmten Appellen und Ankündigungen. Die Bundesregierung sagt nicht, wie sie dazu beitragen will, daß alle jungen Menschen die ihrem Bildungswillen, ihrer Begabung und Neigung entsprechende Ausbildung erhalten. Hoffentlich meint sie übrigens Bildung und Ausbildung - nicht nur Ausbildung -, denn ohne ein breites Bildungsfundament würde bloßes Spezialistentum zu geistiger Verarmung führen und der Demokratie ein Lebenselement fehlen.
({50})
Eine moderne Jugendpolitik gehört hierzu. Sie muß durch Heranführen an eigene Verantwortung die Bildungsarbeit ergänzen. Dazu braucht man alle für die Jugend tätigen staatlichen und privaten Kräfte als Partner. Ohne das Vorbild der Führenden ist das Engagement der jungen Generation für die Demokratie nur schwer zu erreichen. Gerade sie müssen demokratisches Verhalten üben und sollten nicht nur in Regierungserklärungen, sondern auch. in Wahlkämpfen der anderen Meinung wenigstens den Respekt nicht versagen, auch wenn sie sie nicht teilen.
({51})
Die Ausschöpfung der Begabungsreserven ist eine alte sozialdemokratische Forderung. Die Leistung unserer Wirtschaft wird davon abhängen. Den jungen Menschen sind wir gleiche Startchancen schuldig. Der Rang unseres Volkes unter anderen Völkern wird davon mehr bestimmt als von militärischer Kraft allein.
({52})
Wie schwer haben wir Sozialdemokraten landauf landab gegen die konservativen Kräfte um Selbstverständlichkeiten kämpfen müssen: von der Schulgeld-, Lehr- und Lernmittelfreiheit über das neunte Schuljahr bis zur leistungsfähigen Mittelpunktschule auf dem Lande; alles mußte gegen Ihren ({53}) Widerstand durchgeführt werden.
({54})
- Ich weiß, daß das weh tut. Aber das müssen Sie auch einmal ertragen.
Qualitativ ist unser Arbeitsmarkt noch nicht ausgeschöpft. Die Vorausschau darf nicht nur die materiellen Produktionsfaktoren bedenken, sondern muß auch auf die menschlichen Reserven eingehen. Die heute Schulentlassenen werden bis über das Jahr 2000 im Arbeitsleben stehen. Was heute an ihnen unterlassen wird, geht unserer Leistungsfähigkeit über Jahrzehnte verloren.
({55})
Wie steht denn die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten jetzt zur Verbesserung des Honnefer Modells? Warum sind immer noch nicht die vorhandenen kulturpolitischen Zuständigkeiten des Bundes in einem Ministerium zusammengefaßt
worden? - Ich gönn's dem Kollegen Stoltenberg; er wäre dafür der richtige Mann. - Welche anderen Wünsche will die Regierung begrenzen um des Vorranges von Bildung und Wissenschaft willen? Wird die Bundesregierung mit den Ländern eine nationale bildungspolitische Konzeption erarbeiten? Wird sie bei der Neuordnung der Finanzverfassung den Ländern und Gemeinden ermöglichen, ihre Aufgaben im Rahmen einer solchen anerkannten nationalen Bildungspolitik voll zu erfüllen?
Ohne enge Zusammenarbeit mit den Ländern und Gemeinden, ja heute auch den Europäischen Gemeinschaften, ist auch keine Strukturpolitik, keine Raumordnung, keine Verkehrspolitik, keine Neugestaltung der Städte und Gemeinden möglich. Noch fehlt hierfür das finanzielle Fundament.
Es bleibt schleierhaft, wie der soziale Wohnungsbau vom Bund fortgeführt werden soll, wenn die Bundesmittel hierfür gestrichen werden. Solange es an Wohnungen fehlt, gibt es noch keinen Markt, muß die Fortsetzung der öffentlichen Förderung des sozialen Wohnungsbaus eine öffentliche Aufgabe bleiben. Aber der gesamte Wohnungsbau wird immer schwieriger und das Mietniveau immer unerträglicher, wenn nicht endgültig der Bodenspekulation Einhalt geboten wird.
({56})
Die Bundesregierung kündigt regionalpolitische Maßnahmen an, womit doch wohl die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Struktur in den Zonenrandgebieten, im Grenzland und in den übrigen strukturell schwach entwickelten Gebieten gemeint ist. Mit der anderen Hand wird dieses Versprechen zurückgenommen, indem es von - nicht näher präzisierten - Einsparungen an anderer Stelle abhängig gemacht wird.
Der Umstellungsprozeß der deutschen Verkehrswirtschaft ist in vollem Gange. Die Anpassung an die Marktverhältnisse der EWG wird mit dem Auslaufen der zweiten Übergangsperiode von Rom immer dringender. Diese Entwicklung verlangt klare politische Entscheidungen, die es der verladenden Wirtschaft und den Verkehrsträgern ermöglichen, langfristig zu disponieren.
Ziel einer vernünftigen Verkehrspolitik muß die Aufteilung des Verkehrsstroms nach der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Verkehrsträger sein. Voraussetzung einer solchen sinnvollen Aufgabenteilung nach Leistungsfähigkeit ist die Herbeiführung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger im deutschen und westeuropäischen Verkehrsmarkt. Die Bundesregierung hat - da hier soeben nach Detaillierung gerufen wurde - zur Verkehrspolitik einige gute Vorsätze verkündet, aber nichts über die Durchführung gesagt. Wir sind gespannt auf weitere Beiträge zur Debatte von der Regierungsbank her. Welche in ihrer Erklärung erwähnte Initiative hat denn die Regierung wirklich ergriffen, um den Gemeinden bei der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse zu helfen? Das Bundesbahndefizit ist genauso wenig neu wie die Regierung oder gar der Bundesverkehrsminister.
({57}) Warum werden wieder nur Pläne angekündigt statt vorgelegt? Über den Straßenbauanteil an der Mineralölsteuer war genauso wenig zu hören wie über das Transportpreisniveau oder die Wettbewerbsverzerrung.
Für die Erhaltung des kostbaren Gutes Gesundheit ist mehr nötig als die in der Regierungserklärung angekündigte Fortsetzung der bisherigen Politik. Gesundheitsvorsorge kommt in der Regierungserklärung nur als Teil einer Zwischenüberschrift vor, im Inhalt überhaupt nicht. Dabei ist sie der Kern dessen, was heute not tut. Neue Bundeszentralen für die Aufklärung der Bevölkerung sind neben den von der Regierung hierfür bereits finanzierten Einrichtungen auf dem Gesundheitsgebiet nicht nötig. Ein Ausbau der Arbeitsmedizin z. B. wäre sinnvoller.
Von der Förderung des Sports scheint sich die Regierung ganz zurückziehen zu wollen. Sie will die Frage erörtern, heißt es. Vom Bundesanteil am „Goldenen Plan" ist gar nicht mehr die Rede.
Kürzlich meldete dpa folgende gute Erklärung zum Sozialstaat:
Von den tragenden Grundprinzipien der Verfassung sei das Grundprinzip der Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland am wenigsten fertig und abgeschlossen. ... Der sozialstaatliche Verfassungsauftrag sei erst dann erfüllt, wenn man bei ehrlicher Prüfung sagen könne, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur ein demokratischer Staat und ein Rechtsstaat, sondern auch ein Sozialstaat im Sinne der Verfassung sei.
Dieses Zitat stammt nicht von einem sozialdemokratischen Sprecher, sondern vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers. Es steht, meine Damen und Herren, in einem direkten Gegensatz zu den seit Jahren von den Regierungsparteien vertretenen und heute vom Kollegen Barzel aufgegebenen Auffassungen über die angeblich bereits erreichten Grenzen des sozialen Rechtsstaates.
Unser bewährtes System der Alterssicherung muß abgerundet und vervollkommnet werden. Der einzige umfassende Vorschlag, der auf bewährten Grundlagen aufbaut, den bisher ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen den Zugang ermöglicht und die noch bestehenden Ungerechtigkeiten beseitigt sowie das komplizierte Recht wesentlich vereinfacht, findet sich in unserem Dokument über die Volksversicherung vom 26. April 1965.
({58})
- Ich empfehle Ihnen, es einmal zu lesen. Sie werden dann feststellen, daß es nichts mit dem vom Kanzler beschworenen Schreckgespenst eines staatlichen Totalversicherungssystems zu tun hat.
({59})
- Auch dieses Kapitel ist in unserem Dokument eingehend behandelt. Ich empfehle es dringend Ihrer Aufmerksamkeit.
Zur Reform der Krankenversicherung enthält die Regierungserklärung fast nichts, außer der Fest-,
stellung, daß nicht an eine rechtliche Gleichstellung der Arbeiter bei der Lohnfortzahlung gedacht sei. Wir meinen, daß gleiches Recht und Menschenwürde zusammengehören. Der Grundsatz eines Ausgleichs der Belastungen der Betriebe auf versicherungsrechtlicher Grundlage bleibt auch bei arbeitsrechtlicher Lohnfortzahlung unbestritten.
({60})
Die Regierungserklärung enthält kein Wort über die rechtliche Gleichstellung der Zonenflüchtlinge mit den Vertriebenen. Aber auch deren soziale und menschliche Situation erfordert unvermindert unsere Solidarität. Für sie ist nämlich die Nachkriegszeit leider auch noch nicht zu Ende.
({61})
Die bei der Ankündigung einer 19. Lastenausgleichsnovelle gemachten Vorbehalte widersprechen den Erklärungen der Regierungsparteien vor der Wahl.
({62})
Wir halten u. a. nach wie vor eine angemessene Angleichung der Hauptentschädigung, die Anpassung der Unterhaltshilfe an die allgemeine Einkommensentwicklung und die Altersversorgung der ehemals Selbständigen für dringend geboten.
({63})
Die Beseitigung ungerechter Stichtage, die Eingliederung des vertriebenen Landvolks und die Familienzusammenführung verdienen unser besonderes Augenmerk genauso wie die Pflege des kulturellen Heimaterbes unserer vertriebenen und geflüchteten Landsleute.
({64})
Es wäre übrigens ganz gut, wenn man beim Lastenausgleichsfonds endlich einmal einwandfreie und nicht lediglich zu diesem Zweck zugeschnittene Aufstellungen über die wirkliche Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der nächsten Jahre bekäme. Sie wissen genau, daß die Vorausschätzungen der Regierungen bisher nie gestimmt haben.
({65})
Wir werden darüber wachen, daß die Bundesregierung die zugesagte Neuordnung der Kriegsopferversorgung unverzüglich vorlegt und die Abschlußnovelle zum Kriegsgefangenentschädigungsgesetz einbringt,
({66})
die entgegen klaren früheren Zusagen - wir werden Sie aus diesen Ihren Zusagen nicht so leicht entlassen - in der Regierungserklärung nicht genannt ist.
({67})
Dabei wird die Bundesregierung hoffentlich das herzlose Wort des Kanzlers von den zwei Berufen korrigieren, die den Kriegsopfern vorgeworfen wurden.
({68})
Natürlich können wir nicht mehr an öffentlichen und privaten Ausgaben bestreiten, als unsere Wirtschaft hergibt.
({69}) Eine konsequente Politik des optimalen Wirtschaftswachstums und des stabilen Preisniveaus ist daher geboten.
({70})
Leider hat die Bundesregierung das oft geforderte und von ihr mehrfach angekündigte konjunkturpolitische Instrumentarium weder geschaffen noch gar genützt. Appelle an andere sind kein Ersatz für eigenes Handeln.
({71})
So kam es, daß das Preisniveau unter der Regierung Erhard schneller stieg und steigt als vorher, obwohl stabile Preise noch nach der Wahl eine Art Oberwahlversprechen bei Ihnen waren.
({72})
- Entschuldigen Sie, wer hat eigentlich in der Haushaltsdebatte für 21/2 Milliarden DM Anträge zurückgenommen oder für erledigt erklären lassen
- wir oder Sie? Wer hat nachher das Haus mit Vorlagen überschüttet - die Regierung und Sie oder wir?
({73})
Die Preisentwicklung hat sich - wie bei vergangenen Wahlen - nach der Wahl beschleunigt, weil man manches mit Rücksicht auf die Regierungsparteien und ihre Wahlaussichten vertagte. Jetzt schickt sich die Regierung an, durch Erhöhung der Verkehrstarife mit ihren Folgen eine neue Preiswelle auszulösen. Der Handel versichert uns, die Politik sei an den höheren Lebensmittelpreisen schuld. Herr von Hases Trost, man habe ja auch mehr verdient, spricht nicht für Sorge um Stabilität. Und ob man mit Kienbaum das Weihnachtsfest verlegen kann, halte ich für mehr als fraglich.
({74})
Die infolge der Regierungspolitik überdurchschnittlich gestiegenen Mieten haben das Preisniveau stark beeinflußt. Natürlich gibt es auch andere Ursachen. Aber die Regierung muß sich zunächst mit denen befassen, für die sie selbst verantwortlich ist.
({75})
Damit sind wir beim Bundeshaushalt. Zu ihm schrieb „Die Welt" kürzlich:
Durch die Erhöhung von Verbrauchsteuern sowie der Bahntarife und im Gefolge wahrscheinlich aller Verkehrstarife setzt sich eine neue Welle von Preissteigerungen in Bewegung, die auch das übrige Preisniveau nach sich ziehen kann. Die Preistendenz wird also zweifellos weiter nach oben gehen.
({76})
Das hat „Die Welt" geschrieben. Sie ist kein sozialdemokratisches Parteiorgan.
({77})
Das steht da: durch die Erhöhung der Verbrauchsteuern und Bahntarife. Das hat „Die Welt" auch geschrieben. Lesen Sie nur einmal nach. Wir SozialErler
demokraten haben uns im Gegensatz zur Regierung und ihren Parteien verantwortungsbewußt verhalten.
({78})
Wir haben rechtzeitig auf die bedrohliche Finanzentwicklung hingewiesen. Am 26. Februar 1965 haben wir Anträge mit einer Auswirkung von 1,6 Milliarden DM zurückgezogen und von 0,9 Milliarden DM für erledigt erklären lassen.
({79})
Dieses gute Beispiel wurde von der anderen Seite des Hauses nicht befolgt. - Entschuldigen Sie, Ihre schönsten Zwischenrufe können nicht aus der Welt schaffen, daß Sie nach diesem Tage der Haushaltsdebatte hier das Haus mit Ihren Vorlagen und nicht wir mit unseren überschüttet haben.
({80})
Ich gebe Ihnen die Zahlen: Von den in diesem Jahr beschlossenen 56 finanzwirksamen Gesetzen gehen 54 auf die Regierung und ihre Abgeordneten und nur zwei auf alle Fraktionen gemeinsam zurück.
({81})
Aus diesen 56 Gesetzen wird der Bundeshaushalt 1966 mit 6 Milliarden DM belastet.
({82})
Sie sind die Hauptursache für das Finanzchaos. Dafür tragen also die Regierung und ihre Mehrheit die Verantwortung. Sie haben diese Vorlagen hier eingebracht und beschlossen.
({83})
Wir waren nicht imstande, Sie bei der Durchführung Ihrer Vorlagen zu behindern.
({84})
- Natürlich! Wer hat denn hier im Haus die Mehrheit?
({85})
- Wer hat hier im Haus die Mehrheit? Sie haben nur darauf gewartet, daß Sie eine Reihe der von Ihnen beabsichtigten Geschenke gegen unseren Widerstand hätten beschließen und dann außerdem noch draußen im Lande die 'betroffene Bevölkerung gegen uns hätten aufhetzen können. So einfach geht das hier nicht, meine Damen und Herren.
({86})
So leicht kann es sich eine Regierung und eine Regierungsmehrheit nicht machen, daß sie ihr eigenes Verhalten in dieser Frage auf die Opposition abwälzen zu können glaubt.
({87})
Um es noch präziser zu sagen: Heute fordert der Bundeskanzler jene Disziplin, die er gestern vermissen ließ.
({88}) Wo war er, als die Regierungsvorlagen im Kabinett beschlossen wurden, als in seiner Fraktion die Vorlagen beraten wurden, als im Bundestag darüber entschieden wurde? Ich erinnere an die zweite Lesung einer ganzen Reihe der Gesetze, wo wir unsere Bedenken vorgetragen haben und Sie sich von uns nicht überzeugen ließen.
({89})
Damals hatte der Kanzler - denn er ist der Verantwortliche - die Pflicht zu kämpfen. Von dieser Verantwortung kann ihn niemand freisprechen.
({90})
Meine Damen und Herren: „Der Eindruck, als ob die Mehrausgaben ausschließlich oder vorrangig vom Parlament verursacht worden sind, ist falsch. Es handelt sich um Maßnahmen der Regierung oder Koalitionsbeschlüsse mit Zustimmung der Regierung oder Parlamentsbeschlüsse mit Duldung der Regierung." Das stammt nicht von mir, das hat der Kollege Strauß gesagt.
({91})
Dabei hatte der Kanzler 1963 angekündigt, den Art. 113 des Grundgesetzes anzuwenden, „um das deutsche Volk vor Schäden zu bewahren". Jetzt will er diesen Artikel nur noch ändern. Dabei ist das Problem seiner Anwendung keine Frage der juristischen Spitzfindigkeit, sondern der politischen Führungskraft.
({92})
Aufgabe des Kanzlers ist es, die ihn tragende Mehrheit vom politisch Notwendigen zu überzeugen. Wer das nicht schafft, dem hilft auch kein veränderter Art. 113.
({93})
Es ist ein Betrug an den Wählern, wenn jetzt rückgängig gemacht wird, was vor der Wahl beschlossen wurde, und wenn man jetzt nicht hält, was man vor der Wahl versprach.
({94})
Wer hat denn im. Wahlkampf bestritten, daß an ein Haushaltssicherungsgesetz gedacht sei? Wer hat denn im Wahlkampf bestritten, daß man die Mittel für den sozialen Wohnungsbau kürzen und Steuern und Tarife erhöhen wolle? Selten hatten Lügen so kurze Beine.
({95})
Die Regierungserklärung spricht wieder von langfristiger Haushaltsplanung, legt aber keine vor. Die SPD hat am 5. Juli 1965 der Öffentlichkeit detailliert die Einnahmeentwicklung und am 6. August 1965 die Ausgabeseite für eine vierjährige Legislaturperiode vorgelegt. Sie hat dabei nicht verschwiegen, daß das Jahr 1966 als Jahr der Wiederherstellung stabiler Finanzen benutzt werden muß. Der Bundeskanzler suchte wider besseres Wissen die realistische Darstellung der SPD lächerlich zu machen, und sagte am 13. August 1965: „Wenn die SPD von einer Finanzkatastrophe spricht, so nehmen Sie es nicht ernst, nehmen Sie es heiter" .
({96})
Ist ihm heute auch noch so heiter zumute? Die von der Regierung angekündigten Maßnahmen sind nicht geeignet, eine solide Finanzwirtschaft herbeizuführen. Es wird auch diesmal nicht auf buchungstechnische Tricks mit fragwürdiger ökonomischer Auswirkung verzichtet. Darüber werden wir gemeinsam noch zu reden haben.
Bemerkenswert ist die Selbstkritik eines Mannes, dér jetzt Bundeskanzler ist, ehemals Wirtschaftsminister war und laut „Bayernkurier" auch noch Honorarprofessor für Gegenwartsfragen der Wirtschaftspolitik ist, daß er sich jetzt dazu durchringt, daß der Bundeshaushalt - ich zitiere - „bewußter und wirksamer als bisher ein Instrument werden muß, um die Aufgaben der Zukunft zu meistern", und daß dies, so geht das Zitat weiter, „sowohl die Fixierung politischer Prioritäten als auch eine langfristige Haushaltsplanung" erfordert. Von all dem war bisher leider nichts zu spüren. Die SPD hat beides nicht nur gefordert, sondern sie hat für die gesamte 5. Wahlperiode ein Programm mit einer Rangordnung der Werte und zur Herbeiführung der Preisstabilität aufgestellt. Sie hat auch 1963 und 1964 Vorschläge unterbreitet, wie mit der Situation 1964 und 1965 fertig zu werden wäre. Die Bundesregierung hat sich weder diese Vorschläge noch die des Sachverständigenrates für eine den Konjunkturerfordernissen entsprechende Finanzpolitik zu eigen gemacht. Sie reagiert zu spät und mit einem Kürzungs- und Streckungsprogramm, das in seiner Dimension für den Bundeshaushalt 1965 berechtigt gewesen wäre, aber für 1966 anders zu bewerten ist. Wenn die Bundesregierung ihren Tatendrang und Offensivgeist nicht jeweils in Wahlkämpfen verschleißen würde, hätte sie vermutlich mehr Zeit und die geistige Konzentrationsfähigkeit für die Bewältigung der ungelösten Probleme.
({97})
Die dringend notwendige Finanzreform ist durch die Untätigkeit der Regierung so lange verzögert worden. Die Leidtragenden sind die Gemeinden. Das Beteiligungsverhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden an dem gesamten Steueraufkommen von 55 : 33 : 12 und an der Neuverschuldung von 28 : 15 : 57 kennzeichnet deutlich die unerträgliche Benachteiligung der Gemeinden. Vor einer Regelung dieses Problems können ihnen daher keine weiteren Belastungen zugemutet werden. Ohne den Druck der SPD gäbe es die sehr spät eingesetzte Sachverständigenkommission überhaupt nicht. Der Bundesregierung ist es aufgegeben, unverzüglich die notwendige Gesetzgebungsarbeit einzuleiten, zumal Ende 1966 die Vereinbarung mit den Ländern über die Steuerverteilung ausläuft.
Mit Skepsis sind die eigenartigen Ideen des Kanzlers über die Finanzierung des Gemeinschaftswerks zu betrachten.
({98})
Sie dürfen die organische Finanzreform nicht gefährden. Die Regierung muß präzise darlegen, wie nach ihrer Ansicht das Gemeinschaftswerk dotiert, welche Ausgaben daraus bestritten werden sollen, wer für die Verwaltung zuständig ist und wie man sich
die Zusammenarbeit mit den Ländern und Gemeinden denkt. Es kann dabei auch keine Aushöhlung der parlamentarischen Kontrolle geben.
({99})
Bei der Reform der Finanzverfassung wird darauf zu achten sein, daß die ausgewogene Verteilung der Gewichte von Bund und Ländern nicht zerstört wird. Den Versuchen, durch unklare Mischverwaltung und Mischfinanzierung die bundesstaatliche Ordnung zu verändern, muß widerstanden werden. Soweit in manchen Bereichen, in denen eine Regelung dringend erforderlich ist, die Zuständigkeit des Bundes fehlt oder umstritten ist, muß man nachdrücklich versuchen, die notwendigen Regelungen im Wege der Vereinbarung mit den Ländern zu treffen. Verfassungsänderungen dürfen stets nur die Ultima ratio, aber nicht das alltägliche Heilmittel sein. Eine Reform der Finanzverfassung mit klarer Abgrenzung der Aufgaben bedarf einer Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag. Hier wie in anderen Fällen muß die Regierung wissen, daß es Mehrheiten für Grundgesetzänderungen nur gibt, wenn zur rechten Zeit über die Prioritäten unserer Politik überhaupt, über die angestrebte neue Gesamtgestaltung des Grundgesetzes und dann über die Zweckmäßigkeit bestimmter Lösungen ausreichend auch in der Öffentlichkeit diskutiert und mit uns Übereinstimmung erzielt wird.
({100})
Die Opposition ist nicht bereit, auf Abruf zur Mehrheitsbildung immer gerade dann zur Verfügung zu stehen, wenn die Absichten der Bundesregierung dies erforderlich machen.
({101})
Ihre Entscheidung über Grundgesetzänderungen hängt vom Gesamtkurs der Politik ab.
Dies gilt auch für die Verfassungsbestimmungen über den Notstand. Über sie kann nur im Zusammenhang mit den allgemeinen politischen Prioritäten und unter Beachtung der von der Regierung bisher zu diesem Thema nicht angepackten, in der letzten Legislaturperiode offengebliebenen Fragen - alliierte Vorbehaltsrechte auf dem Gebiete des Post-und Fernmeldewesens, einwandfreier Schutz der Pressefreiheit, rechtliche Sicherung der Arbeitnehmer - ernsthaft gesprochen werden. Diese Fragen können nicht kurz vor Neuwahlen sinnvoll erörtert werden.
Zu rügen ist, daß man Änderungen des Grundgesetzes vorschlägt, aber klare Aufträge unerfüllt läßt, so die Reform des Unehelichen-Rechts und den Erlaß eines Parteiengesetzes, womit ich nicht etwa einen Zusammenhang zwischen den beiden Dingen herstellen möchte.
({102})
Ein solches Parteiengesetz muß die Parteien auch dazu zwingen, über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel öffentlich Rechnung zu legen. Die Parteien können ihre Aufgaben nur dann erfüllen, wenn sie nicht in finanzielle Abhängigkeit von eben dem Staat geraten, den zu kontrollieren sie berufen sind. Deshalb darf es öffentliche Zuwendungen nur
für Zwecke der staatsbürgerlichen Bildung in einem die Eigenmittel der Parteien nicht übersteigenden Ausmaß und unter angemessener Rechnungslegung geben. Es ist Aufgabe der Parteien, für soviel Rückhalt bei ihren Freunden zu sorgen, daß sie ihre allgemeine Arbeit aus eigenen Mitteln finanzieren können.
({103})
Nicht nur hier, sondern überhaupt fehlt es der Regierung an einer rechtspolitischen Gesamtkonzeption. Darüber wie über vieles andere wird in dieser Debatte noch im einzelnen zu sprechen sein.
Die großen Aufgaben der Modernisierung von Staat und Gesellschaft können nur gemeistert werden, wenn der öffentliche Dienst genug Anziehungskraft für fähige Menschen behält. Deshalb kommt der Neuordnung seiner Besoldung und dem Wirken einer Enquetekommission für die Fragen des öffentlichen Dienstes besondere Bedeutung zu.
Ähnliches gilt für die Würdigung der Arbeit der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr. Sie haben unter großen Belastungen eine hingebungsvolle Arbeit für unser Volk geleistet. Das stellen wir gerade nach dem zehnten Jahrestag der Bundeswehr anerkennend fest.
({104})
Wenn im Interesse des Ganzen Kritik zu üben ist, richtet sie sich an die verantwortliche politische Führung und nicht an die Ausführenden. Uns erfüllt Sorge um das Schicksal der Inneren Führung. Wird wirklich alles getan, um einer Aushölung der von diesem Hause vertretenen Prinzipien entgegenzuwirken? Die Haushaltsreste 1964 und 1965 zeugen nicht von guter Organisation und guter Arbeitsweise im Verteidigungsministerium. Wird die Bundesregierung bald einen neuen Entwurf für ein Organisationsgesetz vorlegen, und wird sie dabei auch zweckmäßige Gedanken der Opposition aufgreifen?
Die Standardisierung von Waffen und Gerät hat keine Fortschritte gemacht, weder aus deutscher Produktion noch im Bündnis. Dabei macht sich der Mangel einer langfristigen Rüstungsplanung bemerkbar, die ja nur Bestandteil einer in die volkswirtschaftliche und finanzielle Entwicklung eingebauten Gesamtkonzeption der Landesverteidigung sein kann. Dazu gehört die Territorialverteidigung genauso wie der zivile Bevölkerungsschutz. Die Gesetze hierüber bleiben Papier, wenn es an Organisation und finanziellen Mitteln fehlt. Hier klaffen Worte und Taten der Regierung weit auseinander.
Damit möchte ich diese inneren Aufgaben verlassen und bemerken, daß unser Volk nach der Bundestagswahl nicht nur in der Innenpolitik, sondern auch in der Außenpolitik vor den gleichen Problemen steht wie vorher. Keines ist leichter lösbar geworden.
Das westliche Bündnis ist in wesentlichen Fragen erschüttert. Schönfärberei kann darüber nicht hinwegtäuschen. Mit den gewohnten Bekundungen der Übereinstimmung mit jedermann sind die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr zu verdecken. Es gibt keine allen Partnern gemeinsame Verteidigungspolitik mehr. Die für unsere Sicherheit lebenswichtige Integration von Verteidigungsmitteln ist in Gefahr. Was aber nicht in normalen Zeiten vorbereitet und geübt wird, das kann im Falle einer akuten Bedrohung nicht mehr nachgeholt werden.
Leider ist die Politik der Regierungsmehrheit nicht klar. Die Bundesregierung setzt sich für die Beibehaltung, ja für den Ausbau der Integration auch amerikanischer Kräfte für die europäische Sicherheit ein. Der stellvertretende Vorsitzende einer Koalitionsfraktion ist dagegen. Ist die Regierung mit Herrn Strauß für den Abzug der Hälfte der amerikanischen Truppen aus Europa, oder ist sie dagegen? Die Bundesregierung erstrebt ein gewisses deutsches Mitspracherecht über das von den USA der Verteidigung Europas gewidmete nukleare Arsenal. Der frühere Verteidigungsminister will eine unabhängige europäische Atommacht auf der Grundlage der französischen und der britischen Kernwaffen, obwohl weder die französische noch die britische Regierung die geringste Neigung dazu erkennen lassen. Es ist legitim, wenn sich die Regierung um eine angemessene Mitwirkung an allen für die Sicherheit und das Überleben unseres Landes wichtigen Verteidigungsvorkehrungen auch auf nuklearem Gebiet bemüht. Dazu gehört ein deutsches Vetorecht gegen den eventuellen Einsatz von Kernwaffen vom deutschen Gebiet aus oder auf deutsches Gebiet hin - wobei wir uns auch für das Schicksal der Deutschen jenseits der Demarkationslinie mitverantwortlich fühlen müssen. Die Bundesregierung hat diese legitimen deutschen Interessen so zu vertreten, daß unsere Absichten nicht entstellt werden können. Es darf uns auch kein Ehrgeiz nachgesagt werden können, nach eigener Verfügungsgewalt über Kernwaffen zu drängen
({105})
Es geht um ein Höchstmaß an Sicherheit durch vernünftige gemeinsame Vorkehrungen im Bündnis, nicht aber um nationales Prestige und damit um ein Status-Symbol.
Die atlantische Gemeinschaft kann nicht gesunden, wenn Europa krank ist. Unsere Anregungen auf dem Sicherheitsgebiet dürfen daher das Maß an Solidarität, das im freien Europa noch vorhanden ist, nicht gefährden.
Die europäische Gemeinschaft ist in eine schwere Krise geraten. Zauberformeln für ihre Lösung gibt es nicht. Wer das bereits Erreichte retten will - vom weiteren Ausbau ganz zu schweigen -, der darf vor allem nicht zur Aushöhlung der Gemeinschaftseinrichtungen beitragen.
({106})
Wir begrüßen die Einladung der Fünf an Frankreich, seinen Platz am Tisch der Gemeinschaft wieder einzunehmen. Es lohnt auch der Versuch, in einer Zusammenkunft der Regierungen ohne die Kommission über einen Ausweg aus der Krise zu sprechen. Nur dürfen sich die Regierungen nicht dazu verleiten lassen, dabei unter Verletzung des Vertrages
innere Angelegenheiten der Gemeinschaft zu erörtern.
({107})
Ministerbesprechungen dürfen keine Revisionsinstanz gegen Gemeinschaftsbeschlüsse werden.
({108})
Die Gemeinschaft kann man nur retten, wenn die fünf Partner Frankreichs fest zu den Römischen Verträgen stehen. Wer gegen sie handeln will, der muß dafür allein die Verantwortung tragen.
({109})
Eine Aushöhlung der Verträge würde ein großes Werk zerschlagen und Hoffnungen unserer Völker enttäuschen. Ob es dann je einen Wiederbeginn geben würde, ist mehr als fraglich. Die deutschen Interessen sind in der Gemeinschaft besser aufgehoben als in einem nationalen Alleingang mit der Gefahr der völligen Isolierung.
({110})
Wer zu den Verträgen stehen will, darf nicht selbst mit Gedanken zu ihrer Aushöhlung spielen, z. B. in der Frage von Mehrheitsbeschlüssen. Vertragstreue kann nur verlangen, wer sie selbst übt.
Man darf nicht, wie der Bundeskanzler eis tat, den mangelnden Reifegrad der Völker für den Stillstand Europas verantwortlich machen, wenn in Wahrheit eine einzige Regierung den Fortschritt blockiert, aber die Völker weiter sind.
({111})
Nur wenn die Ursachen der Schwierigkeiten erkannt sind, kann man sie beheben. Es ist richtig, unseren Partnern den ernsthaften Willen der deutschen Politik zur Fortsetzung des europäischen Einigungswerkes zu zeigen. Uns geht es um die Festigung der Gemeinschaften, um ihre Demokratisierung, um ihren Ausbau in Zuständigkeit und Mitgliederzahl und um ihr partnerschaftliches Verhältnis zu den USA.
Aber auch solange die Gemeinschaft es schwer hat, ist jede Bemühung zu begrüßen, auf praktischem Gebiet zu einer Zusammenarbeit der Mitglieder der EWG und der EFTA zu kommen. Der Graben innerhalb des freien Europa darf nicht noch tiefer werden. Ohne solche Zusammenarbeit gibt es keinen Erfolg der Kennedy-Runde, die den Weltmarkt von immer noch wirksamen Fesseln befreien soll.
Die Schwierigkeiten der europäischen Politik enthüllen aufs neue die Bedeutung politischer Entscheidungen für die Wirtschaft. Eine unklare, widerspruchsvolle Außenpolitik hat böse wirtschaftliche Auswirkungen. In der modernen weltweiten Verflechtung, der Interdependenz, der gegenseitigen Abhängigkeit aller voneinander sichert nur eine gute, ausgewogene Außenpolitik ein Klima des Vertrauens, in dem der Kapitalmarkt und die Investitionslust gedeihen, weil man langfristig disponieren kann.
Die unleugbaren Schwierigkeiten dürfen das Werk der Versöhnung zwischen den Völkern Frankreichs und Deutschlands nicht gefährden. Dies ist die Grundlage der europäischen Gemeinschaft. Die Bundesregierung sollte - ohne Beschönigung - darlegen, was wirklich aus dem deutsch-französischen Vertrag geworden ist. Die Sozialdemokraten beider Länder haben in diesem Bemühen der Aussöhnung eine alte Tradition. Für uns ging es dabei aber immer um die Zusammenarbeit von Freien und Gleichen und nicht um die Unterwerfung des einen unter den einseitig gebildeten Willen der politischen Führung des anderen.
({112})
In diesem Geist hat auch der Deutsche Bundestag die Präambel zum deutsch-französischen Vertrag beschlossen, welche diesen einbettet in die europäische Gemeinschaft und die atlantische Solidarität.
Die deutsche Politik kann nicht teilnehmen an der Aushöhlung dieser beiden Gemeinschaftswerke. Solange aber in den Gemeinschaften nicht wieder ein gemeinsamer Weg gefunden ist, müssen wir alles tun, was trotzdem möglich ist, um Dinge zwischen Frankreich und Deutschland gemeinsam zu tun, wenn dadurch die Gemeinschaften nicht angetastet werden. Das gilt für die weiten Gebiete der Jugendbegegnung, der Erziehung, der Sprache, der Kultur, der Wissenschaft und vor allem auch der Technik und Forschung. Im Rahmen des Gemeinsamen Marktes lassen sich zusätzliche privatwirtschaftliche Verflechtungen gegenseitig und nicht nur einseitig zum Nutzen beider Länder entwickeln. Was könnten z. B. Frankreich und Deutschland nicht auf dem Gebiet der Elektronik zusammen tun, um den Vorsprung anderer etwas zu verringern!
Ähnlichens gilt für das Verhältnis unserer beiden Länder zu den osteuropäischen Staaten. Das eine bringt die geographische Nachbarschaft und die daraus sich ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten mit, das andere die Tradition guter Beziehungen und kultureller Verbindungen. Beide Länder könnten hier miteinander wirken, wenn - ich sage: wenn - sie ihre Erfahrungen austauschen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. So sollte jeder seine besonderen Möglichkeiten auch zum Besten des anderen nutzen. Aber nichts auf diesen Feldern darf jene gemeinsamen Anstrengungen mit den anderen Partnern der europäischen Gemeinschaften behindern, die notwendig und möglich sind, um das Gemeinschaftswerk fortzuführen, solange - leider - der Stuhl unseres französischen Freundes leer bleibt.
In der Deutschland-Politik sind wir nicht weitergekommen - im Gegenteil. Wichtige Positionen bröckeln ab. Fragen, die in den Zusammenhang eines Friedens mit dem wiedervereinigten Deutschland gehören, werden von einem wichtigen Verbündeten als vorab entschieden behandelt. Was hat die Bundesregierung getan, um bei unseren Verbündeten einer abträglichen Meinungsbildung gegenüber der deutschen Position in den Grenzfragen entgegenzuwirken und um Verständnis dafür zu werben, daß Interzonenhandel ein Rest deutscher Einheit und kein Außenhandel ist,
({113})
so daß die Ersetzung der Bundesrepublik Deutschland durch westliche Handels- und Kreditpartner die Spaltung Deutschlands zusätzlich vertieft?
Ich stelle mit Genugtuung fest, daß einige Regierungsmitglieder befreundeter Länder bei ihren Begegnungen in Osteuropa mit Nachdruck die Bundesrepublik Deutschland und unsere Interessen verteidigt haben, obwohl im Bundestagswahlkampf jene Länder bedauerlicherweise zur Zielscheibe von Angriffen der Regierungsparteien gemacht worden sind.
({114})
Der Herr Bundespräsident hat bei der Ernennung der Minister die Vorbereitungen eines Friedensvertrages für ganz Deutschland als wichtige Aufgabe bezeichnet. Die Regierungserklärung enthält hierüber kein Wort, - wohl weil die Meinungen im Regierungslager in dieser Frage einander blockieren. Früher - 4963 noch - hat die Bundesregierungselbst solche Vorbereitungen gemeinsam mit unseren Verbündeten für notwendig erklärt. Jetzt wird offenbar dafür das etwas dramatischere Wort „Initiative" gewählt, um den anderen Ausdruck verschwinden zu lassen. Im Wahlkampf ist die Regierungspartei von den früheren Erklärungen der Regierung abgerückt. Wir hoffen, daß sie im Interesse unseres Volkes zu dieser Notwendigkeit zurückfindet. In Ermangelung eines deutschen Anstoßes wird die deutsche Frage sonst überhaupt nicht in Bewegung gebracht werden können, wobei es darum geht, zusammen mit unseren westlichen Freunden eine Verhandlungsplattform zu entwickeln, von der aus man die Sowjetunion erneut mit der deutschen Frage konfrontieren kann. Wir werden die deutsche Frage nicht lösen, wenn wir eine weltpolitische Entspannung zwischen Ost und West aufzuhalten trachten, solange Deutschland nicht wiedervereinigt ist. Dies schüfe eine Alliianz nahezu aller Völker gegen uns als den vermeintlichen Störenfried. Die Entspannung führt aber auch nicht automatisch zur deutschen Frage. Hier gibt es einen Zusammenhang wie zwischen Abrüstung und deutscher Frage. Es kommt auf unseren Einfluß an, um Entspannung und Abrüstung durch deutsche Gedanken so zu fördern, daß mit ihrer Hilfe die deutsche Frage einen Schritt vorangebracht wird und nicht etwa durch ihren Fortgang die Spaltung unseres Landes sich verfestigt. Wenn wir die Wahl haben zwischen Isolierung oder Beeinflussung eines Vorganges, müssen wir im Interesse unseres Volkes das letztere wählen.
Dies gilt auch für die Intensivierung unserer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. Wir stünden allein, wenn wir uns dort heraushalten wollten. Die Regierungserklärung ist dürftig, weil sie nicht gleichzeitig die Meinung sowohl derer wiedergeben kann, welche Beziehungen intensivieren wollen, als auch derer, die bremsen. Wir müssen unsere Interessen so wahrnehmen, wie es der Bundestag 1961 bei der Verabschiedung des sogenannten Jaksch-Berichts beschlossen hat. Es kommt auf unsere Präsenz ohne Preisgabe lebenswichtiger Interessen an. Wir müssen eine Kettenreaktion anderer Länder zugunsten des kommunisteischen Regimes auf deutschem Boden verhindern und dürfen keine Vorentscheidungen von Fragen hinnehmen, die dem Friedensvertrag vorbehalten sind. In diesem Rahmen aber geht es um einen Abbau der Furcht vor Deutschland und um die Korrektur des von der Zonenpropaganda verzerrten Deutschlandbildes. Zur Lösung der deutschen Frage müssen wir das Vertrauen des Westens bewahren, aber das Zutrauen unserer östlichen Nachbarn gewinnen. Der wirkliche Schlüssel liegt selbstverständlich in Moskau. Aber an einer Verfeindung zwischen der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten darf uns nichts liegen. Die Wiedervereinigung Deutschlands soll ja den Rest der Spannungen in Europa ausräumen und keine neuen schaffen.
Eine solche Politik - des bin ich gewiß - wird die Zustimmung unserer vertriebenen Landsleute haben, wenn sie wissen, daß nicht hinter ihrem Rücken operiert wird. Wir müssen uns dabei an die Obhutserklärung des Deutschen Bundestages vom Jahre 1950 halten. Dabei handelt es sich immer um eine Politik des ganzen deutschen Volkes und für das ganze deutsche Volk. Wer diese Frage allein in der Verantwortung einer Gruppe läßt, der entläßt den anderen Teil unseres Volkes und verhindert damit die notwendige breite Grundlage. Deshalb hat die von der Evangelischen Kirche Deutschlands publizierte Denkschrift einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der Lage der Vertriebenen und unserer Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarvölkern geleistet. Sie hat klargemacht, was 'bei der Eingliederung der Vertriebenen noch alles fehlt und wieviel menschliche und politische Solidarität vonnöten ist. Sie hat von einem Verzicht auf Rechtsansprüche abgeraten - ich hebe das hervor -, aber zu einer Erörterung aufgefordert, wie der tote Punkt überwunden werden könne. Bei allem Wissen um die Einseitigkeit mancher Gedanken und um die Lücken in der Darstellung ist eis dennoch verwunderlich, daß eine Regierung von Parteien, die sich christlich nennen, im Bundestag kein Regierungswort zu der Denkschrift der Evangelischen Kirche gefunden hat.
({115})
Die ganze Nation trägt am guten und bösen Erbe unserer Geschichte, nicht nur die Vertriebenen und auch nicht nur die 17 Millionen Mitteldeutschen. Wir dürfen vor allem die Geiseln des Zonenregimes nicht als Verlierer alleinlassen. Sie entbehren die politische Freiheit, aber sie sind stolz auf die von ihnen vollbrachten wirtschaftlichen Leistungen ohne
fremde Hilfe, nach mehrfachen brutalen Demontagen und trotz der ,ständigen Benachteiligung durch von der Sowjetunion manipulierte Außenhandelspreise. Darin zeigt sich, daß sie Glieder des gleichen Volkes sind wie wir, an dieser ihrer Leistung unter großen Schwierigkeiten, daß sie aber den härteren Teil deis gemeinsamen Schicksals erleiden.
({116})
Solange wir nicht in einem Hause in Freiheit vereint sind, müssen wir die menschliche Zusammengehörigkeit erhalten. Dazu gehören Geduld und Zähigkeit. Von den Gefängniswärtern gibt es nichts umsonst. Es kann aber jene Grenze nicht überschritten werden, welche die Stellung Berlins und die Zukunft der 'deutschen Frage gefährden würde. Jederzeit rücknehmbare Erleichterungen können
nicht mit dauerhaften Verschlechterungen unserer Zukunft bezahlt werden. Davon haben sich der Senat von Berlin und die Bundesregierung gleichermaßen leiten lassen. Aber sonst sollten wir uns an den Satz des früheren Bundeskanzlers erinnern, daß wir über vieles mit uns reden lassen, wenn die Deutschen in der Zone wieder ein vernünftiges Maß von Freiheit, Menschenwürde und materiellem Wohlstand zurückbekämen.
Dies gilt auch für den Verkehr zwischen den beiden Teilen Berlins. Er muß so gestaltet bleiben, daß kein Zweifel an dem Status Berlins im freien Deutschland besteht, aber in dem abgegrenzten Rahmen alles getan wird, um so viel wie möglich für die Menschen herauszuholen. Die Freiheit des Landes Berlin ist die Voraussetzung jeder Politik der deutschen Einheit in Freiheit. Dazu gehören nicht nur die Anwesenheit der westlichen Schutzmächte, der freie Zugang und die gewachsenen Bindungen mit der übrigen Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Lebensfähigkeit Berlins. Die Hilfe des Bundes für Berlin ist kein Almosen, sondern ein Stück Deutschland-Politik, also Zukunftssicherung für uns alle, und sollte auch :bei den Haushaltsberatungen entsprechend gewertet werden.
({117})
Uns hat es mißfallen, wie die Position des Bundesbevollmächtigten zur Erörterung gekommen ist. Man sollte mit ihr kein leichtfertiges Spiel treiben, das den Status Berlins verändert. Der Bundesbevollmächtigte muß für ein gutes Verhältnis zwischen Bundesregierung und Berliner Landesregierung sorgen und darf sich nicht als ein Vertreter der Landes-opposition fühlen. Leider hat das Amt seit der Zeit des Bundesbevollmächtigten Vockel nicht annähernd mehr so gut gewirkt.
Meine Damen und Herren, die Ubersicht über Außenpolitik, Deutschlandfrage und Berlin zeigt, wie notwendig eine nüchterne gemeinsame Bestandsaufnahme wäre, - jetzt allerdings unter noch ungünstigeren Umständen als 1960. Herr Kollege Barzel hat vor einiger Zeit eine Flurbereinigung gefordert. Es wäre nützlich, zu wissen, was er darunter präzise versteht und ob es sich dabei nicht auch um die früher abgelehnte Bestandsaufnahme als Voraussetzung handelt.
Den von mir geschilderten Notwendigkeiten nach innen und außen wird die Regierungserklärung nicht gerecht. Das liegt auch daran, daß die Regierung ja vor der Wahl gar kein Sachprogramm hatte und deshalb der Streit um Sachfragen und Personen die vorhandene Lähmung andauern läßt. Wir Sozialdemokraten sind mit einem klaren Sachprogramm zu allen wesentlichen politischen Problemen vor die Wähler getreten;
({118})
daran halten wir uns auch nach der Wahl, und dies - jetzt dürfen Sie gleich noch einmal entrüstet rufen - unterscheidet uns von den Regierungsparteien.
({119})
Weil in den meisten wichtigen politischen Fragen innerhalb der Regierungsparteien, aber auch innerhalb der Unionsparteien selbst, schwere Gegensätze bestehen, flüchtet sich die Regierungserklärung weitgehend in unverbindliche Floskeln. Damit spiegelt sie die Verworrenheit, Zerrissenheit und Schwäche der Koalition wider. Sie läßt auch den Führungswillen des Mannes vermissen, der die Richtlinien der Politik bestimmen soll. 1963 hat Professor Erhard noch erklärt - heute hat das Herr Barzel aufgenommen, aber doch wohl nur mit sehr schwerem Herzen -:
Diese Regierung ist eine Koalitionsregierung, die auf vertrauensvoller Partnerschaft beruht. Sie stützt sich auf gemeinsam erarbeitete Grundsätze, wie sie auch in dieser Erklärung ihren Ausdruck finden.
Das haben Sie auch heute gesagt; ich muß sagen, hier war der Kanzler ehrlicher.
({120})
Davon ist diesmal nämlich nach den traurigen Erfahrungen der letzten zwei Jahre ehrlicherweise nicht mehr die Rede, denn Partnerschaft gibt's gar nicht, sondern nur den gemeinsamen Gegensatz zur SPD.
({121})
Natürlich können Sie ohne und gegen uns regieren. Das ist das Recht der Mehrheit. Das Votum des Wählers verdient Respekt. Sie können aber nicht erwarten, daß die Opposition Ihnen immer dann hilft, wenn Sie sie gerade brauchen. Die Opposition wird nicht einfach einspringen, wenn sich ein Teil der Regierungsmehrheit versagt. Es ist Aufgabe des Kanzlers, seine Mehrheit zusammenzuhalten. Er muß selbst mit denen fertig werden, die Opposition in der Koalition spielen wollen oder die meinen, sich bei unbequemen Entscheidungen drücken zu können. Wer die Minister stellt, muß auch die unbequeme Seite der Regierungstätigkeit mitverantworten.
({122})
Wie sieht es in einer Fraktion aus, deren stellvertretender Vorsitzender einen persönlichen Referenten anstellen wollte, gerade weil dieser als Beamter des Auswärtigen Amts die Politik des der gleichen Fraktion angehörenden Außenministers zu durchkreuzen sucht! Wie sieht es in einer Fraktion aus, deren bayerischer Teil in seinem Hausorgan Politik und Person des Bundeskanzlers in einer Weise attackiert, die, wenn ich sie hier gebrauchte, Entrüstungsstürme hervorrufen würde. Wie steht eigentlich die CSU zur Außenpolitik der Bundesregierung und ihres Außenministers? Ist Opposition in der Koalition eine gute Grundlage für unser Verhältnis zur Umwelt - z. B. zu Großbritannien? Das alles bleibt auch dann wahr, wenn nachträglich abgeschwächt wird. Wie sieht es denn auch im krausen Gemüt jener aus, die erst mit Professor Erhard ihren Wahlkampf bestreiten und ihm nach der Wahl dann auf die eben geschilderte Weise die Qualifikation absprechen! Was soll man von einem Kanzler sagen, der Entschlossenheit im Munde führt, aber dem jeweils jüngsten Druck nur allzu bereitwillig nachErler
gibt, wie die Tragikomödie der Regierungsbildung gezeigt hat! Mende: Erst nein, dann ja. Aber wenn schon, dann zum Ausgleich fünf CSU-Minister.
({123})
Oder der dem früheren Verteidigungsminister mit dem Innenministerium ausgerechnet die Zuständigkeiten für den Verfassungsschutz anbot.
({124})
Anscheinend hat er vergessen, wie großzügig jener Minister Zuständigkeiten auslegt.
({125})
Die Sache wird dadurch nicht besser, daß das Angebot nicht ernst gemeint gewesen ist, weil die Ablehnung feststand.
({126})
Der Klarheit des Regierungskurses hat es auch nicht gedient, dem Abgeordneten Dr. Jaeger das Justizressort anzuvertrauen. Als außenpolitischer Aufpasser der CSU wird er offensichtlich nicht für voll genommen, denn diese fühlt sich immer noch nicht außenpolitisch vertreten - zumal seit dem Weggang von Graf Huyn. Und trotz seiner überraschend maßvollen Erklärungen nach der Amtsübernahme dürfte es Dr. Jaeger schwerfallen, von einigen - milde gesagt - ultrakonservativen und autoritären Neigungen Abschied zu nehmen. Wem Gott ein Amt gegeben, dem gibt er auch Verstand - daran besteht gar kein Zweifel -, aber doch kein anderes Herz.
({127})
Im In- und Ausland hat gerade diese Ernennung Befremden ausgelöst. Es hätte sich doch wohl ein Ressort finden lassen, in dem Herr Dr. Jaeger weniger Gewissenkonflikten ausgesetzt gewesen wäre.
Eine andere Ernennung wirft diffizile Fragen auf. Herr Dr. Krone ist nicht mehr Sonderminister, sondern ausdrücklich Minister für den Verteidigungsrat. Will sich der Bundeskanzler auf diesem wichtigen Gebiet seiner Richtlinienkompetenz begeben? Soll Herr Dr. Krone nunmehr eine Art Überaußen- und Überverteidigungsminister sein, oder welchen Sinn hat diese Änderung? Hängt sie vielleicht auch mit dem Proporz der verschiedenen Lehrmeinungen in der CDU zusammen?
({128})
Es wäre ganz interessant, das einmal zu erfahren.
Die Freien Demokraten schließlich haben gar nicht um Meinungen, sondern nur um Posten gekämpft.
({129})
Von den Dingen, die sie im Wahlkampf vor allem in der Ost- und Deutschland-Politik von der CDU unterschieden, findet sich in der Regierungserklärung überhaupt nichts mehr. Nach dem FDP-Persil-Schein für den CSU-Vorsitzenden war das ja auch nicht anders zu erwarten.
({130})
Ich komme zum Schluß. Noch einige Worte zur Stellung des Bundestages in der parlamentarischen
Demokratie. Alles Gerede von Parlamentsreform ist sinnlos, wenn die Bundesregierung nicht das Parlament als den ersten Ort der Bekanntgabe von wichtigen Informationen, Absichten und Meinungen behandelt.
({131})
Es war ungehörig, daß die Regierungserklärung vor dem Bundestag verschoben wurde und man statt dessen ans Fernsehen und dann vor die Presse ging. Nach dem Inhalt der Erklärung hätte sie am vorgesehenen Tag wahrscheinlich ohne jede Änderung abgegeben werden können.
Es wird der Wunsch nach einer Zwischenfrage geäußert. Sind Sie bereit, diese Frage zuzulassen, Herr Kollege Erler?
Ich bin jetzt gleich zu Ende, Herr Kollege Schulze-Vorberg; wir haben nachher ohnehin ein Gespräch miteinander.
({0}) - Nein, nein, also bitte.
({1})
- Gut, also Ihre Jungfernfrage; kommen Sie.
({2})
Herr Erler, nach Ihrer Kritik an der Regierung darf ich fragen: ist es richtig, daß Ihre Rede bereits vor Stunden, also bevor sie hier gehalten wurde, im Wortlaut verteilt worden und über die Agenturen gelaufen ist?
({0})
Herr Kollege Schulze-Vorberg, da Sie von der Presse sind, möchte ich Ihnen sagen, daß ich normalerweise in diesem Hause frei spreche. Ich habe aber eines gelernt: Wenn ich nicht die Grundzüge meiner Rede - so, wie es die Regierung auch tut und wie es Herr Kollege Barzel getan hat - der Presse gebe, dann findet sich leider bei Ihren Kollegen in der Presse nachher so gut wie nichts. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei Ihren Kollegen für eine einwandfreie Berichterstattung auch dann einsetzen würden,
({0})
wenn der Text den Zeitungen nicht vorher übergeben worden ist. Im übrigen halte ich es nicht für eine Schande, wenn 14 Tage nach Abgabe der Regierungserklärung der Oppositionsführer, wenn er hier antritt, ungefähr weiß, was er zu sagen hat, Herr Kollege Schulze-Vorberg. Aber warten wir es ab. Ich bin gespannt auf den ersten Beitrag in völlig freier Rede, den wir vom Kollegen Schulze-Vorberg hier hören werden.
({1})
- Natürlich geht es darum.
({2})
- Zeitpunkt der Bekanntgabe - nicht vor der Presse, nicht vor der Öffentlichkeit -: Sperrfrist war der Beginn meiner Rede hier. Wenn die Regierung sich immer so korrekt verhalten würde, daß sie hier vor das Haus tritt - und nicht nachher - und die Presse gleichzeitig unterrichtet, dann wäre ich froh.
({3})
Doch kommen wir zu dem Kernpunkt zurück. Wie sollen wichtige Fragen in der öffentlichen Meinung mit dem Parlament verbunden sein, wenn die Regierung nicht diese Tribüne als Verkündungsplatz wählt? In Großbritannien mußte einmal ein Schatzkanzler zurücktreten, weil er eine Viertelstunde vor seiner Haushaltsrede im Parlament bestimmte Zahlen preisgegeben hatte. Mir wäre es recht, wenn wir allgemein dahinkommen könnten; aber dann muß die Regierung mittun.
({4})
- Ich bin bereit, jederzeit mitzutun. Ich bin aber nicht bereit, der Regierung allein das Vorrecht zu lassen, die öffentliche Diskussion von außerhalb des Hauses zu bestimmen. Hier muß die Regierung her; dann werden wir selbstverständlich nur noch hier diskutieren.
({5})
Wie soll der Bericht aus dem Parlament interessant sein, wenn wichtige Informationen - vor allem der Regierung - vorher woanders gegeben und dem Hause vorenthalten werden? Deshalb appelliere ich an die Regierung und ihre Mehrheit: hier ist der Ort, Absichten zu verkünden und Informationen zu geben, wenn z. B. der Regierungschef oder der Außenminister von wichtigen Reisen zurückkehrt. Natürlich wird es dann nicht immer sofort eine ausführliche Aussprache geben. Aber das erste Echo ist auf alle Fälle nützlich und hebt die Stellung des Bundestages.
Ich hoffe, daß der Bundeskanzler die Fragen klar beantwortet, die zur Ausfüllung der Lücken seiner Regierungserklärung heute gestellt werden. Das Volk hat ein Recht darauf, zu erfahren, wohin die Reise gehen soll, und zwar die Reise der Regierenden. Die ersten Wochen nach der Wahl verheißen leider keine entschlossene, kraftvolle, wohldurchdachte, in die Zukunft hineinwirkende Politik.
Zum Schluß seiner Erklärung 1963 gab der Bundeskanzler unbeabsichtigt ein Selbstportrait mit dem ersten Teil eines interessanten Zitats: „Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter."
({6})
Sollte sich Wesentliches zum Besseren ändern, könnte das für unser Volk nur gut sein. Allerdings würde das nahezu an ein Wunder grenzen.
({7}) Wunder sind selten. Also müssen wir uns alle sehr anstrengen, um bessere Voraussetzungen für eine kraftvolle Politik zu schaffen, als sie heute gegeben sind.
({8})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war mir bewußt, daß Herr Erler mir bei seiner Rede mit großer Sympathie und Aufgeschlossenheit begegnen werde. Er hat auch einigen Grund dafür; denn er hat recht, wenn er sagt, daß ich meinen Wahlkampf gegen die SPD geführt habe. Ich glaube aber, daß der Bundeskanzler das gute Recht hat - bei aller Neutralität, die er im Amt zu wahren hat -, während und in der Wahl für die Partei einzustehen, zu der er sich bekennt.
({0})
Wenn man Ihre Philippika einmal überprüft, könnte man meinen: hier hat der Mann gesprochen, der den Wahlkampf gewonnen hat und der jetzt dem Verlierer mit hocherhobenem Zeigefinger vor Augen führt, was alles falsch gemacht worden ist.
({1})
Ich stelle fest: was wir dem deutschen Volke versprochen haben, das haben wir gehalten.
({2})
Unser Wahlziel war klar: nämlich diese Politik, d. h. die Regierungspolitik unbeirrt fortzusetzen, wie seit dem Jahre 1949,
({3})
und zum anderen dafür zu sorgen, daß Deutschland nicht einer sozialistischen Regierung überantwortet wird.
({4})
Sie begannen Ihre Rede damit, daß wir die Erfolge des Wahlkampfes den Wahlgeschenken zu verdanken hätten. Mein lieber Herr Erler, das ist eine schlichte Unwahrheit; denn die Bundesregierung hat, und zwar zu Beginn des Wahlkampfes, klar und eindeutig erklärt, was alles notwendig sein wird,
({5})
um in der 5. Legislaturperiode wieder die gesunden finanziellen und wirtschaftlichen Grundlagen sicherzustellen.
({6})
Mit ihrer Genehmigung, Herr Präsident, darf ich ein Pressekommuniqué vom 12. August 1965 verlesen. Das war also mitten im Wahlkampf. Da heißt es:
Die Bundesregierung hat in der heutigen Kabinettssitzung unter Vorsitz des Bundeskanzlers die Anwendung des Art. 113 des Grundgesetzes auf eine Reihe noch nicht verkündeter Gesetze eingehend erörtert.
({7})
Art. 113 gibt der Bundesregierung nicht die Möglichkeit, die Gesetze auf das Volumen der Vorschläge der Bundesregierung zurückzuführen. Die Bundesregierung kann vielmehr lediglich einem Gesetz entweder voll zustimmen oder es voll ablehnen. Im Ergebnis würde es daher eine Ablehnung der noch nicht verkündeten Gesetze bedeuten, daß die Bundesregierung auch auf den Teil der Vorlagen verzichtet, der von ihr selbst eingebracht ist und den sie als Bestandteil ihres Regierungsprogramms ansieht. Unter diesen Umständen hält sie es für notwendig und richtig, jetzt diesen Gesetzen zuzustimmen. Bei der Aufstellung des Bundeshaushalts 1966 wird die Bundesregierung zur Sicherung der Stabilität der Währung und einer gesunden Wirtschaft zum Ausgleich dieser Mehrbelastungen an anderer Stelle schärfste Einsparungen vornehmen.
({8})
Dabei müßten entsprechend dem Grundsatzbeschluß des Kabinetts vom 14. Juli 1965 alle auch früher verkündeten ausgabewirksamen Gesetze sowie alle nicht auf Gesetz beruhenden Ausgaben daraufhin überprüft werden, ob sie im Rahmen einer sachlichen und politischen mehrjährigen Dringlichkeitsordnung voll oder nur teilweise aufrechterhalten werden können oder ob sie zunächst zurückgestellt werden müssen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß nur bei einem solchen Vorgehen eine in sich abgewogene, von verfahrensmäßigen Zufällen unabhängige Entscheidung möglich ist. Nur eine solche umfassende Überprüfung aller Ausgaben gibt die Möglichkeit, einen Ausgleich des Haushalts 1966 im Einklang mit den finanzpolitischen Ordnungsvorstellungen der Bundesregierung durchzuführen. Mit dieser Maßgabe hat die Bundesregierung heute einstimmig den noch nicht verkündeten Gesetzen ihre Zustimmung erteilt. Sie erwartet, daß auch die Länder und Gemeinden ihre Haushalte entsprechend konjunkturgerecht gestalten werden.
({9})
Sie werden nicht sagen können, daß das nicht eine ganz klare Aussage darüber ist, was die Bundesregierung, die wiedergewählte Bundesregierung, vorzunehmen gewillt war, um die finanzielle Ordnung sicherzustellen.
({10})
Herr Bundeskanzler, der Herr Abgeordnete Erler will eine Zwischenfrage stellen, ebenso der Herr Kollege Schmidt; zunächst Herr Abgeordneter Erler.
Herr Bundeskanzler, meinen Sie nicht, daß diese Aussage klarer gewesen wäre, wenn Sie im August der Wählerschaft auch nur geringe Andeutungen darüber gemacht hätten, welche der soeben erwähnten, mit Ihrer Zustimmung verkündeten Gesetze nach der Wahl ganz oder teilweise wiederaufgehoben würden?
({0})
Ich habe während meines ganzen Wahlkampfes immer wieder darauf hingewiesen, daß das Jahr 1966 wesentliche Einsparungen wird bringen müssen. Sie können der Bundesregierung auch nicht vorwerfen, daß sie gezögert habe. Die Bundesregierung war kaum gebildet, die Minister waren kaum vereidigt, als schon wenige Tage nachher das Gesetz vorgelegt wurde, das der Bundesregierung die Möglichkeit gibt, den Haushalt 1966 auszugleichen.
({0})
Im übrigen haben wir die SPD während des Wahlkampfes wiederholt gefragt, auf welche Gesetze sie den Art. 113 anzuwenden bereit gewesen wäre.
({1})
Wir haben darauf keine Antwort erhalten.
({2})
- Sie tun so, als ob Sie völlig unschuldig wären. Zugegeben, die Koalitionsparteien und die Regierung haben eine Verantwortung in sich; aber das heißt nicht, daß die Opposition verantwortungslos wäre.
({3})
Ich darf hier wiederholen: Welchen Gesetzen haben Sie nicht zugestimmt? Den Steueränderungsgesetzen 1964 und 1965, dem 312-Mark-Gesetz, dem EWG-Anpassungsgesetz für die Landwirtschaft, dem Mutterschutzgesetz, dem Besoldungserhöhungsgesetz, dem Bundesentschädigungsgesetz, dem Bundesrückerstattungsgesetz, dem Schutzbaugesetz, dem Selbstschutzgesetz, dem Rentenanpassungsgesetz, dem Wohnbeihilfengesetz, dem Ausbildungshilfegesetz - um nur die wichtigsten zu nennen -?
({4})
Sie haben zu allen diesen Gesetzen ja gesagt. ({5})
Wenn die Opposition zu einem Gesetz ja sagt, dann muß sie sich auch in der Öffentlichkeit dazu bekennen.
({6})
Ich weise also diese Art der Kritik zurück.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ({0}) ?
({1}) Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler: Ja.
Herr Bundeskanzler, sind Sie in der Lage, mir darin zuzustimmen,
({0})
daß es sich bei der von Ihnen eben vorgelesenen Presseerklärung der Bundesregierung vom August um den ausdrücklichen Bruch eines Versprechens handelte, das Sie selber zwei Jahre vorher mit folgendem Wortlaut vor diesem Hohen Hause abgegeben hatten?
({1})
- Das gehört zur Frage.
({2})
Sind Sie bereit, zuzugeben - ich darf die Frage wohl zu Ende stellen, Herr Präsident -, daß die von Ihnen vorgelesene Erklärung der Bruch des folgenden Versprechens gewesen ist:
Die kommenden Haushaltsberatungen werden den Rahmen für die möglichen Ausgaben- und Leistungsverbesserungen zu setzen haben. Ich hoffe, daß dieses harte Muß als ein zwingendes Gebot beachtet wird. Würde sich diese meine Erwartung nicht erfüllen, dann erwächst mir aus meinem Diensteid die Verpflichtung, um das deutsche Volk vor Schaden zu bewahren, den Artikel 113 des Grundgesetzes anzuwenden.
({3})
- Entschuldigen Sie, daß ich das Zitat noch mit einem Satz weiterführe:
Vor seiner Anwendung werde ich
- der Bundeskanzler gewiß nichts unversucht lassen, die Fraktionen zu einer maßvollen, die Stabilität gewährleistenden Ausgabenwirtschaft zu bewegen.
Sind Sie bereit, Herr Bundeskanzler, anzuerkennen, daß Sie dieses Versprechen Ihrer damaligen Regierungserklärung expressis verbis gebrochen und soeben den Bruch gerechtfertigt haben?
({4})
Herr Kollege Schmidt, wie oft habe ich hier vor diesem Hohen Hause meine mahnende Stimme erhoben
({0})
und meiner Besorgnis Ausdruck gegeben, daß wir
dabei sind, die deutsche Volkswirtschaft zu überfordern! Jetzt findet es Herr Erler erheiternd, wenn
ich sage, das deutsche Volk müßte sich so verhalten, daß es nicht nur aus Zwang, sondern aus Einsicht das seinem Wohle Dienende zu tun bereit ist. Jetzt ist das auf einmal erheiternd. Wie oft aber, meine Damen und Herren, habe ich das gefordert.
({1})
Woher kommt denn eigentlich der Begriff „Maßhaltekanzler" ? Ist er etwa von mir erfunden oder ist er von Ihnen erfunden worden? Ist er aus der hohlen Luft gegriffen?
({2})
Aus Ihrem Lager stammt die These, das deutsche Volk will vom Maßhalten nichts mehr hören und nichts mehr wissen.
({3})
Vizepräsdient Dr. Dehler: Herr Bundeskanzler, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?
Herr Bundeskanzler, darf ich einmal fragen, wann Sie im Kabinett oder vor Ihrer Fraktion Ihre mahnende Stimme gegen ein einziges der Gesetze erhoben haben, die Sie eben verlesen haben?
Herr Kollege Erler, wann ich im Kabinett oder in meiner Fraktion meine Stimme erhoben habe, das geht Sie nichts an!
({0})
Ich frage Sie auch nicht, worüber Sie in Ihrer Fraktion diskutieren.
({1})
Herr Abgeordneter Wehner, ich darf Sie doch bitten, maßzuhalten. - Bitte, Herr Bundeskanzler!
Ich bin nicht verpflichtet, Auskunft zu geben über Gespräche innerhalb der Fraktion oder innerhalb des Kabinetts.
({0})
Jedenfalls brauchen Sie gar nicht so weit zu gehen! Sie können in den Drucksachen des Bundestages nachlesen,
({1})
daß ich meine Sorge vor diesem Hohen Hause wiederholt zum Ausdruck gebracht habe, daß ich über die Entwicklung besorgt bin.
({2})
Im übrigen verwahre ich mich noch gegen die Unterstellung, daß ich nur die Arbeitnehmer kritisch betrachtet und negativ kritisiert hätte. Das ist nicht wahr.
({3})
Ich stelle noch einmal mit aller Deutlichkeit fest: Wenn ich die Mitbestimmung zur Diskussion gestellt und meine eigene Auffassung als Bundeskanzler dazu gesagt habe, dann ist das mein gutes Recht. Sie können daraus unmöglich schließen, daß das eine arbeitnehmerfeindliche Haltung ist;
({4})
denn ich weiß, daß auch in Ihrem Lager durchaus kritische Betrachtungen zu diesem Gegenstand angestellt werden.
({5})
Wir haben jedenfalls in der Mitbestimmung und im Betriebsverfassungsgesetz Modelle der Mitbestimmung und der Mitwirkung der Arbeitnehmer geschaffen, wie sie fortschrittlicher in keinem anderen Land, auch in keinem sozialistisch regierten Land bestehen.
({6})
Dann fragen Sie, gegen welche Interessen ich auftrete. Ich trete gegen alle Interessen auf, wo sie mir schädlich erscheinen
({7})
denn ich glaube, wir müssen - und das ist der Sinn der formierten Gesellschaft,
({8})
die Sie nicht verstanden haben, aber die deshalb nicht unrichtig sein muß ({9})
dafür sorgen, daß wir nicht in der Addition der Interessen, sondern in der Zuordnung der Interessen auf ein gemeinsames Ganzes zu wirklichen Lösungen hinfinden.
({10})
Wir sprechen so viel von der pluralistischen Gesellschaft. Meine Sorge geht dahin, daß in der pluralistischen Gesellschaft, wenn wir sie so weitertreiben lassen, allmählich jede individuelle, persönliche Verantwortung verlorengeht und wir nur noch dem Treiben der Funktionäre ausgesetzt sind. Jetzt sagen Sie aber nur nicht, ich meinte bloß die einen, die auf Ihrer Seite! Nein, ich meine sie auf allen Seiten. Ich spreche gegen die mißbräuchliche Vertretung von Gruppeninteressen, soweit sie sich nicht in das Ganze organisch einfügen lassen.
({11})
Nun zur Arbeitszeit. Ja, meine Damen und Herren, das scheint doch kein Geheimnis zu sein, daß unsere Leistung, d. h. der Umfang unseres Sozialprodukts - nicht allein, aber wesentlich - auch von der aufgewandten Arbeitszeit abhängig ist. Im übrigen lese ich in der Veröffentlichung des „Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts" der Gewerkschaften", daß eine Stunde Mehr-Arbeitszeit gleichbedeutend ist mit einer Arbeitsleistung von mehr als einer halben Million Arbeitnehmern. Also kann dahinter jedenfalls nichts Schlechtes, keine unbillige Forderung, stecken. Wie man die Dinge im einzelnen ordnet, das ist eine Frage für sich. Sie können aber z. B. nicht die Feierschichten oder eine besondere Situation in diesem oder jenem Stahlwerk als charakteristisch und symptomatisch für den deutschen Arbeitsmarkt und die Wirtschaftslage hinstellen.
({12})
Wo kommen wir mit einer solchen Argumentation hin?! Die geht ja völlig und in unwahrhaftiger Weise am Kern des Problems vorbei; denn wir haben in Deutschland immerhin noch 1,2 Millionen Gastarbeiter, und wir haben 700 000 offene Stellen. Da können Sie nicht mit Feierschichten operieren oder mit der schlechten Position irgendeines Stahlwerks.
({13})
Ich spreche von Prioritäten und ich werde es auch weiter tun. - Dabei habe ich auch in diesem Haus schon wiederholt auf diese Notwendigkeit hingewiesen: Wenn wir Prioritäten setzen, wenn wir Gemeinschaftsaufgaben erfüllen wollen, muß das deutsche Volk und muß zuerst einmal der Deutsche Bundestag bereit sein, zu sagen und zu bekennen, wo und in welchen Bereichen das deutsche Volk Opfer für diese Prioritäten, für die Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben zu bringen hat.
({14})
Meine Damen und Herren, ich glaube, Herr Erler hat nicht ernsthaft die Absicht gehabt, zu behaupten, daß wir den Klassenstaat nicht überwunden hätten. Daß immer noch einiges nachzuholen ist, das wird immer der Fall sein. Es wird niemals eine Zeit geben, in der ein Bundestag von sich sagen kann: So, wir haben jetzt aufgeräumt, es ist überhaupt nichts mehr zu besorgen. Das gibt es nicht!
Meine Damen und Herren! Zu den Preisen! Na, ich will das Thema heute nicht vertiefen.
({15})
Darüber wird in diesen Tagen noch mehr gesprochen werden, und ich behalte mir meinen eigenen Beitrag dazu auch noch vor. Heute machen es sich alle bequem. Heute braucht sich niemand mehr Sorge zu machen, wer an der Preissteigerung schuld ist. Am besten ist man dann dran, wenn man weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer
({16})
beim Namen nennt, wenn man auch nicht von Interessenvertretern und dergleichen mehr spricht. Es ist ja alles so furchtbar einfach. Es gibt nur einen Schuldigen: das ist die öffentliche Hand, das ist die Bundesregierung und insonderheit natürlich der Bundeskanzler.
({17})
Meine Damen und Herren, wer es sich so einfach
machen und unsere gesellschaftspolitische, wirt110
schaftliche und soziale Situation so primitiv ausdeuten will, der mag es tun. Aber wahrhaftig ist eine solche Argumentation bei Gott im Himmel nicht. Ich habe bei der Regierungserklärung ausdrücklich gesagt, daß sowohl der private Verbrauch und die Investitionen als auch die Staatsausgaben etwa gleichmäßig um rund das Doppelte dessen angestiegen seien, was dem realen Zuwachs des Sozialprodukts entsprochen hätte. Darum habe ich dazu gesagt: für Schuld und Anklage ist hier kein Raum. Damit habe ich aber auch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß ich nicht irgend jemanden meine, nicht irgendeine Gruppe, sondern das falsche Verhalten innerhalb der deutschen Volkswirtschaft und innerhalb aller deutschen Gruppen schlechthin. Ich glaube, das hier zu wiederholen ist notwendig.
Jedenfalls können wir nach dem, was wir bis heute von dem Gutachten der Sachverständigen hörten, das eine auf jeden Fall sagen, daß nämlich Lohnerhöhungen von 12% weit über das hinausgehen, was volkswirtschaftlich vertretbar ist.
({18})
Jetzt sagen Sie aber nicht, daß das eine Aussage sei, die sich ausschließlich gegen die Arbeitnehmer richte. Ich habe auch bei den Unternehmern manches zu sagen, besonders in bezug auf die Investitionspolitik zum Zwecke der Verbreiterung der Erzeugung.
({19})
- Meine Damen und Herren, ich habe gar nicht die Absicht, schon die letzte Antwort auf das zu geben, was Sie sagten.
Aber Sie mokierten sich so reizend über die formierte Gesellschaft. Ich werde lebhaft erinnert, an die Anfänge der sozialen Marktwirtschaft zu denken. Die haben Sie nämlich auch nicht verstanden.
({20})
Ich kann Ihnen genau sagen, was der Führer der sozialdemokratischen Partei zur sozialen Marktwirtschaft sagte: „Das ist eine Lügenparole à la Blut und Boden." Das war die soziale Marktwirtschaft. Sehen Sie mal an, was aus der formierten Gesellschaft wird! Sie kommen nur mit dem Denken nicht nach, und Sie spüren es noch nicht, daß unsere Zeit von einem neuen Geist geformt wird.
({21})
Sie haben den „Industriekurier" als Ihr Leibblatt gegen die formierte Gesellschaft zitiert. Lassen Sie mich die „Neue Ruhrzeitung" zitieren, die Ihnen ganz bestimmt nähersteht. Dort steht am 19. September geschrieben:
Die formierte Gesellschaft z. B. verdient mehr Beachtung und förderliche Kritik, als bisher laut wurde; denn in ihr ist ein durchaus gesunder Kern. Die Sozialdemokraten würden es sich zu leicht machen, wenn sie diese Formel lediglich deshalb glossierten und ironisierten, weil sie von Erhard stammt.
({22})
Meine Damen und Herren, ich wollte hier keinen I vollen Diskussionsbeitrag leisten. Ich wollte nur das, was Herr Erler sagte, auf das rechte Maß zurückrücken, und ich möchte seine Aussage mit den nötigen moralischen Akzenten versehen haben.
({23})
- Jawohl, Verärgerung ist ein schlechter Ratgeber. Sie sagen zwar in weiten Passagen manches, was keine Beanstandung findet, bringen es aber nicht über sich, sachlich und objektiv darzustellen, was Ihre Meinung ist. Sie können an allem zweifeln, aber nicht daran, daß sich diese Regierung und die sie tragenden Koalitionsparteien ihrer Aufgabe, auch der Schwere ihrer Aufgabe bewußt sind und wissen, wie sie es in Zukunft halten wollen. Wir werden vor Ihnen keine Kniefälle machen. Aber es liegt in Ihrer Verantwortung, in Ihrer Entscheidung, ob Sie dann mitarbeiten wollen bei der Lösung der Aufgaben, die zum Wohle des ganzen deutschen Volkes von diesem Hohen Hause bewältigt werden müssen. Eine Verärgerung ist immer ein schlechter Ratgeber, Herr Erler,
({24})
und das ist der Tenor Ihrer Rede gewesen.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäfer?
({0})
Im übrigen haben Sie -
Der Herr Bundeskanzler hat zu erkennen gegeben, daß er das nicht will.
- - die Regierungserklärung von 1963 nur zur Hälfte zitiert. Die zweite Hälfte des Zitats heißt nämlich:
Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.
Und wir haben die Absicht, auf diesem Sinne zu beharren und uns die Welt zu 'bilden, eine Welt, in der Deutschland und das deutsche Volk eine glückliche Zukunft finden.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete von Kühlmann-Stumm.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nachdem der Herr Bundeskanzler schon einen Beitrag zur Diskussion geleistet hat, darf ich noch einmal einige grundsätzliche Ausführungen machen.
Die Bundesrepublik Deutschland kann am Beginn der 5. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
auf eine außenpolitische Entwicklung zurückblicken, die unser Volk im freien Teil fest in die Gemeinschaft der freien Völker eingeordnet hat. Wir haben uns aus dem Status eines besetzten Landes fortentwickelt zu einer freien Nation, die in einer Reihe von Vertragssystemen Partner ist. Diese ständig zunehmende außenpolitische Selbständigkeit der Bundesrepublik bringt für uns ein erhöhtes Maß der Verantwortung und der Verpflichtung mit sich. Aus dieser erhöhten außenpolitischen Verantwortung müssen sich Konsequenzen für die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik, aber auch für ihre Position im NATO-Bündnis ergeben. Ihre außenpolitischen Verpflichtungen haben der Bundesrepublik zusätzliche Belastungen auferlegt. Diese Belastungen vornehmlich haben zu den Problemen geführt, die wir jetzt durch eine vorausschauende und konstruktive Haushaltspolitik zu lösen haben.
Die Regierungskoalition hat für die Fortsetzung ihrer Arbeit bei den Bundestagswahlen erneut eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag erhalten.
({0})
Die neue Bundesregierung hat in der Regierungserklärung ihre Entschlossenheit unterstrichen, tatkräftig an die Lösung der vor uns stehenden innen- und außenpolitischen Probleme heranzugehen.
Das wichtigste innenpolitische Problem ist die Haushaltspolitik der nächsten vier Jahre. Die Bundestagsfraktion der FDP begrüßt die Initiative der Bundesregierung, mit der sie ihren Willen zur Begrenzung des Bundeshaushalts und zur Erhaltung
3) der Stabilität der Währung unter Beweis gestellt hat. Die Haushaltspolitik der kommenden Jahre wird nur dann diesen Grundsätzen entsprechen, wenn Parlament und Regierung dem Grundsatz äußerster Sparsamkeit Folge leisten.
Schon die Vorlage des Bundeshaushalts 1966 gibt der Bundesregierung Gelegenheit, im Bereich der gesetzlich nicht festliegenden Haushaltsansätze ihre Entschlossenheit zu äußerster Sparsamkeit erneut zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der Haushaltslage des Bundes darf es bei der Beratung des Bundeshaushalts 1966 keine Tabus geben. Grundlage der Haushaltsberatung müssen die Ansätze des Jahres 1965 sein.
({1})
Meine Damen und Herren, darf ich um etwas Ruhe bitten. Ich halte es nicht für gehörig, daß der Redner so gestört wird.
({0})
Meine Fraktion wird nur in außergewöhnlichen Fällen und nach besonderer Begründung durch die Bundesregierung bereit sein, Überschreitungen der Ansätze für 1965 zuzustimmen. Aber auch die Ansätze des Jahres 1965 müssen daraufhin überprüft werden, ob ihr Fortbestehen gerechtfertigt ist.
Der Kontrollfunktion des Parlaments fällt bei der Verabschiedung des Bundeshaushalts 1966 eine besondere Aufgabe zu. Ein vorbildliches Haushaltsgebaren des Bundes wird mit Sicherheit seine Wirkung auf die Länder und Gemeinden ebensowenig verfehlen wie seine Wirkung auf die Tarifpartner. Wir erwarten, daß diejenigen, die jetzt eine neue und weit über den Produktivitätszuwachs hinausgehende Lohnwelle einleiten, im Interesse der Gesamtheit und vor allem im Interesse der Millionen kleinen Sparer ihre Forderungen noch einmal überprüfen.
Die Bundesregierung sollte in Zukunft bei ausgabewirksamen Gesetzentwürfen, die im Haushalt nicht berücksichtigt sind, in jedem einzelnen Falle dem Parlament einen konkreten Deckungsvorschlag mit vorlegen.
Niemand in diesem Hohen Hause verkennt, daß uns auch in dieser Legislaturperiode eine Fülle von Aufgaben auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Strukturpolitik gestellt sind, die den Bundeshaushalt belasten werden. Das gleiche gilt für die nach wie vor vordringliche Kriegsfolgengesetzgebung. Sie müssen gelöst und zugleich die Grundsätze unserer Stabilitätspolitik gewahrt werden. Das setzt ein Schwerpunktprogramm der Bundesregierung über die ganze Legislaturperiode voraus.
Die Bundestagsfraktion der FDP wird mit ausgewogenen Vorschlägen die Bundesregierung nachdrücklich unterstützen, wenn sie durch ein vorausschauendes, die kommenden vier Haushaltsjahre umfassendes Programm die von der Koalition als notwendig erkannten Vorhaben nach der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit unter Wahrung der Stabilität der Währung verwirklicht.
Ein unentbehrlicher Grundsatz unserer Stabilitätspolitik ist die Orientierung der Zuwachsrate des Bundeshaushalts an der Zuwachsrate des Sozialprodukts. Bestandteil des Programms der Bundesregierung für diese Legislaturperiode muß es auch sein, diese Zuwachsraten für den Durchschnitt der vier Jahre aneinander anzugleichen. Schon für das Jahr 1966 darf die Schere zwischen Haushaltszuwachs und Sozialproduktszuwachs nicht zu groß sein. Der Ausgleich des Haushalts um jeden Preis durch die Inkaufnahme von indirekten Ausweitungen und Nebenhaushalten ist ebenso gefährlich wie eine überproportionale Haushaltsausweitung. \Schuldbuchforderungen als permanentes Mittel zur teilweisen Abdeckung der Forderungen der gesetzlichen Rentenversicherung an den Bundeshaushalt sind eine bedenkliche und auf die Dauer nicht zu verantwortende haushaltsrechtliche Manipulation. Darüber sollten sich Regierung und Bundestag unter allen Umständen einig werden.
Die Haushaltsberatungen der Zukunft müssen wieder zur großen Stunde des Parlaments werden. Wer die Haushaltspolitik kritisieren will, mag das Wort in diesen Beratungen ergreifen. Unsere Beiträge zur Beschränkung des Bundeshaushalts 1966 werden zeigen, was von der Verketzerung des Parlaments hinsichtlich seiner Haushaltsverantwortung zu halten ist.
Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag stehen in diesen Monaten am Scheideweg ihrer
Haushalts- und Währungspolitik. Sie haben sich zu entscheiden, ob sie am Grundsatz der Begrenzung der Zuwachsrate auf den Zuwachs des Sozialprodukts festhalten wollen oder ob sie diesen oft beschworenen Grundsatz aufgeben wollen.
Gerade in der gegenwärtigen konjunkturpolitischen Lage muß es deshalb das Bestreben von Bundesregierung und Bundestag sein, das Haushaltsvolumen gegenüber den Anforderungen einzuschränken und nicht auszuweiten. Eine mögliche Form der Ausweitung sind auch Steuererhöhungen.
Zu den wichtigsten Aufgaben der vor uns liegenden Legislaturperiode gehört die Bewältigung der Finanzreform. Die von der FDP gestellten Bundesfinanzminister haben diese Reform der Finanzverfassung eingeleitet und durch die Einsetzung einer Kommission vorangetrieben. Aufgabe der Finanzreform ist es, ohne Erhöhung der Steuern im Rahmen der verfügbaren Finanzen die Aufgaben und Steuerquellen neu zu verteilen. Die im Grundsatz festgelegte Finanzverfassung muß mit dem Ziel der Verbesserung und Anpassung überprüft werden. Die Finanzhoheit der Gemeinden muß gewahrt bleiben.
Eine den Gegebenheiten unserer Zeit angepaßte Finanzverfassung muß uns in den Stand setzen, die großen Aufgaben zu lösen, die nur überregional und zum Teil nur im Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen unseres staatlichen Aufbaues bewältigt werden können. Es wäre falsch, schon vor Erstattung des Gutachtens der Kommission die Politik der Regierung und des Parlaments auf bestimmte Teillösungen festzulegen. Nicht durch neue Institutionen, sondern durch eine sinnvolle Abgrenzung der Aufgaben der vorhandenen Institutionen müssen Schwierigkeiten überwunden werden.
({0})
Zusätzliche Institutionen bringen noch keine zusätzlichen Mittel, sondern bergen die Gefahr in sich, daß die Mittel aus dem progressiven Steueranstieg duck die Bildung von Sondervermögen einen Nebenhaushalt schaffen, dessen Auswirkungen sich in ihrer Gefährlichkeit in keiner Weise von einer Ausweitung des Haushaltsvolumens unterscheiden.
({1})
Eine andere Frage wäre es, ob bestimmte langfristige Aufgaben aus einem Sondervermögen finanziert werden, das aus den Erlösen weiterer Privatisierungsmaßnahmen gebildet wird. Aber auch einem solchen Sondervermögen darf kein Eigenleben außerhalb der parlamentarischen Kontrolle eingeräumt werden.
Alles in allem sollte es unser Ziel sein, den dreigliedrigen Finanzaufbau unseres Staates nicht zu komplizieren, sondern durch eine klare Verteilung der Aufgaben und der Finanzmasse zu vereinfachen und übersichtlicher zu gestalten.
({2})
Die Bundesregierung hat mit Recht auf die angespannte Lage unseres Arbeitsmarktes hingewiesen. Sie hat auch dargelegt, daß der Heranziehung von ausländischen Arbeitskräften Grenzen gesetzt sind, wenn nicht weitere Kostensteigerungen und zusätzliche Belastungen unserer Zahlungsbilanz in Kauf genommen werden sollen. Die von den ausländischen Arbeitskräften jetzt aufgebrachten Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung ohne eine wesentliche Inanspruchnahme der Leistungen dieser Versicherungsträger verschleiern deren wirkliche Finanzlage. Hier wird ein Wechsel zu Lasten künftiger Generationen gezogen.
({3})
Meine Fraktion wiederholt noch einmal ihren dringenden Appell, alles zu tun, um die Arbeitswilligkeit in unserem eigenen Lande voll auszunutzen. Der Gesetzgeber kann hier z. B. in zweifacher Hinsicht tätig werden:
Erstens, die Anrechnungsbestimmungen in der Kriegsfolgengesetzgebung müssen geändert werden. Der Arbeitswille darf nicht durch ungerechtfertigte Kürzungen beeinträchtigt werden. Die negative psychologische Auswirkung der jetzigen gesetzlichen Regelung sollte niemand übersehen. Sie behindert die Arbeitswilligkeit.
Zweitens, die Bereitschaft unserer arbeitenden Menschen zu Mehrarbeit ist größer, als mancher wahr haben will.
({4})
Die Befreiung der freiwilligen Mehrarbeit von der Lohnsteuer ist angesichts der Arbeitsmarktlage ein Gebot der Stunde, meine Damen und Herren!
({5})
Wer im übrigen in unserem Lande von Arbeitszeitverkürzungen spricht, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Er täuscht die Menschen in unserem Lande um den Preis eines scheinbaren und kurzfristigen Vorteils über unsere tatsächliche Situation hinweg.
Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Verschlechterung der deutschen Zahlungsbilanzsituation und der Knappheit an Arbeitskräften in der Bundesrepublik. Die Industrie sieht sich nicht in der Lage, der Übernachfrage im Inland Herr zu werden. Auf diese Weise steigt der Import stärker als der Export. Kosten und Preisentwicklung bleiben davon nicht unbeeinflußt. Die Zahlungsbilanz, die 1964 noch einen Überschuß von etwa 1 Milliarde DM aufwies, wird nach Berechnungen der Bundesbank im Jahre 1965 vermutlich ein Defizit von rund 7 Milliarden DM ausweisen, obwohl sich die Ausfuhr bei einer siebenprozentigen Steigerung gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres im dritten wieder auf einen Steigerungssatz von 12 % gegenüber der entsprechenden Vorjahrsperiode erhöhte. Wesentlich stärker, nämlich um 22 %, ist jedoch die Einfuhr gestiegen. Diese Tatsachen unterstreichen die Berechtigung der in der Regierungserklärung zum Ausdruck kommenden Sorge um die Arbeitszeitentwicklung.
Im übrigen sollten auch die 25 000 öffentlichen Hände einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, daß der Nachfrageüberhang nicht noch verstärkt wird.
Konjunkturelle wie haushaltspolitische Überlegungen sprechen für eine solche Selbstbescheidung.
Wer über das Defizit des Bundeshaushalts spricht, darf nicht übersehen, daß es sich in Wahrheit zu einem wesentlichen Teil um die Abdeckung des Defizits der Deutschen Bundesbahn handelt.
({6})
Die Bundesbahn ist derzeit in einer sehr schwierigen Lage. Das Defizit und die damit verbundene Belastung des Haushalts bilden einen ständigen Unsicherheitsfaktor. Tariferhöhungen mögen aus Haushaltsgründen notwendig sein, sie lösen das Problem selbst nicht. Auch bei der Sanierung der Bundesbahn darf es keine Tabus geben. Im übrigen ist die Beseitigung des Bundesbahndefizits durch eine volle Sanierung nicht nur eine Frage der Haushaltspolitik und der Verkehrspolitik. Hier hat sich auch die Fürsorgepflicht der öffentlichen Hand gegenüber den Beamten und Arbeitern der Bundesbahn zu bewähren. Es ist für die Bediensteten der Bundesbahn auf die Dauer unzumutbar, direkt oder indirekt für das Defizit der Bundesbahn verantwortlich gemacht zu werden.
({7})
Aus unserem Bekenntnis zur Marktwirtschaft heraus und aus Ablehnung von Machtkonzentrationen, gleichviel wo sie entstehen, lehnen wir einen weiteren Ausbau der gewerkschaftlichen Mitbestimmung ab. Wir begrüßen es, daß der Herr Bundeskanzler sich für die Bundesregierung so eindeutig gegenüber solchen Bestrebungen distanziert hat. Die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Mitbestimmung ist in Wahrheit nichts anderes als eine neue Form der Sozialisierung. Herr Kollege Schiller hat das mit dankenswerter Klarheit ausgesprochen, als er sagte:
Während danach der frühere Sozialismus nach Marx diese Trennung von Eigentum an den Produktionsmitteln und Faktor Arbeit als durch die Vergesellschaftung aufgehoben ansah, sollen nunmehr Eigentum an und Arbeit mit den Produktionsmitteln dadurch einander wieder näher gebracht werden, daß das Mitbestimmungsrecht eingeführt wird. Insofern erweist sich
- und hier zitiere ich weiter wörtlich den Kollegen Schiller die Forderung nach innerbetrieblicher Mitbestimmung als ein Ersatz für die Sozialisierung.
({8})
1964 ist in Stuttgart ein Buch mit dem Titel Der
Ökonom und die Gesellschaft herausgekommen.
({9})
- Ich habe ein bißchen Ahnung von diesen Dingen, Herr Kollege Wehner.
({10})
- Nein, nicht von der Geldseite her, sondern von
der Seite der Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern her. Wir haben in dieser Frage eigentlich keine ischlechten Erfahrungen gemacht. Aber was zu bemerken wäre, ist die Tatsache, daß der Arbeitsdirektor nach den augenblicklichen Bestimmungen nicht aus den Betrieben kommen darf, sondern von außen hinein gewählt werden muß. Der zweite Nachteil ist der, daß nur ein begrenzter Teil der von der Arbeitnehmerseite gestellten Mitglieder der Kontrollorgane aus dem Werk selbst kommt. Drittens darf ich Sie darauf hinweisen, daß auf den sogenannten neutralen elften, fünfzehnten oder einundzwanzigsten Mann - je nachdem, wie stark diese Kontrollorgane sind - bei Kampfabstimmungen unter Umständen eine Verantwortung zukommt, die sehr schwer zu tragen ist. Es ist die Frage, ob man durch ein solches Gesetz einer einzelnen Person, die schon außerordentlich schwer als Neutraler auszuweisen ist, überhaupt diese Verantwortung aufbürden kann.
({11})
Ich glaube, das sind die Kriterien, die man hier mit aller Deutlichkeit ansprechen muß. Im übrigen ist auch die Mitbestimmungsfrage eine Persönlichkeitsfrage. Wo die Personen bereit sind, zu kooperieren und konstruktiv zusammenzuarbeiten, da geht es, und sonst geht es nicht.
Der Deutsche Bundestag hat durch die Bildung eines Ausschusses für Wissenschaft und Publizistik einen wesentlichen Beitrag zur Zusammenfassung der bildungspolitischen Kompetenzen für seine Arbeit getan. Die Bundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und alle in Frage kommenden Kompetenzen dem Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung übertragen.
({12})
Die Zusammenfassung der Bundeszuständigkeiten auf diesem Gebiet ist die Vorbedingung für eine aktive Wissenschaftspolitik des Bundes. Darüber hinaus muß der Bund seine Bereitschaft zur Initiative auf dem Gebiet der Wissenschaft, Forschung und Bildung auch durch die Anerkennung einer Priorität für diese Gebiete im Rahmen des Sparhaushalts unterstreichen.
Es sollte auch unser Ziel sein, durch eine Modernisierung des Stiftungsrechts und durch die Gewährung zusätzlicher steuerlicher Anreize die private Initiative auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Bildungsförderung mehr als bisher anzuregen. Trotz aller Widerstände bei den Ländern und auch in diesem Hohen Hause wird sich meine Fraktion um ein Mehr an Zuständigkeiten des Bundes auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitik bemühen.
({13})
Wir begrüßen das Bemühen der Bundesregierung, die Reform unseres Strafrechts zu vollenden. Wir wollen aber keinen Zweifel darüber lassen, daß wir für dieses große gesetzgeberische Werk die gesamte Legislaturperiode brauchen werden. Aus diesem Grunde müssen wir besonders vordringliche strafrechtliche Teilgebiete vorab regeln. Ich denke
dabei vor allem an das politische Strafrecht. FDP-Politiker auf Bundes- und Landesebene bemühen sich seit Jahren um eine Abgrenzung von Pressefreiheit und Staatsschutz. Nachdem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt hat, daß beim sogenannten publizistischen Landesverrat an den Nachweis der inneren Tatseite in der Regel höhere Anforderungen zu stellen sind als bei Spionen und Agenten, ist es jetzt Aufgabe des Gesetzgebers, durch einen gesonderten Tatbestand für den sogenanten publizistischen Landesverrat das Spannungsverhältnis von Schutz und Pressefreiheit verfassungskonform auch im strafrechtlichen Bereich zu lösen.
({14})
Die Bestrebungen des strafrechtlichen Staatsschutzrechts insgesamt bedürfen der Überprüfung und der Reform. Insbesondere sollte die Bundesrepublik dem Beispiel fast aller demokratischen Länder der Welt folgen und den Verfolgungszwang in politischen Strafsachen lockern. Die besondere Lage im zweigeteilten Deutschland gibt dazu eine besondere Veranlassung.
In der Innenpolitik gewinnt die Gesundheitspolitik, insbesondere die gesundheitliche Vorsorge gegen die Gefahren der modernen Umwelt, immer mehr an Gewicht. Wir begrüßen es, daß der Herr Bundeskanzler in der Frage der Kompetenzen des Bundes initiativ werden will. Keiner versteht es, und man wird es in der Zukunft noch weniger verstehen, wenn wichtige Anliegen der Gesundheit, die notwendigerweise einheitlich geregelt werden müssen, an mangelnder Zuständigkeit des Bundes scheitern sollen.
({15})
Wir sehen natürlich auch die Schwierigkeiten einer Lösung. Das darf uns aber nicht davon abhalten, gerade bei den beschränkten Möglichkeiten den gegebenen Zuständigkeitsrahmen energisch auszufüllen und jede Koordinierungsmöglichkeit mit den Ländern ebenso wie mit den anderen Ressorts zu nutzen. Das Beispiel der bedauerlicherweise erst jetzt zu erwartenden Novellierung der Bundespflegesatzverordnung, nach der den finanziell notleidenden Krankenhäusern kostendeckende Pflegesätze verschafft werden sollen, gibt uns in diesem Punkte zu denken.
Mehr als anderswo bedarf es in der Gesundheitspolitik des Schutzes des persönlichen Bereiches. Es ist eine Illusion, zu glauben, je höher der Aufwand in der individuellen Gesundheitsbetreuung, desto mehr käme man dem Ideal der Gesundheit näher. Es gibt keine staatliche Garantie der Gesundheit. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den notwendigen Gesundheitswillen des einzelnen nicht durch staatliche Maßnahmen zu gefährden, sondern ihn zu stärken.
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Das gilt für die Neuregelung der Krankenversicherung ebenso wie für eine intensive Gesundheitserziehung und -aufklärung, wobei besonders auf die Förderung der körperlichen Ertüchtigung Wert gelegt werden sollte.
Wir haben mit großem Interesse von den Vorstellungen gehört, die die Bundesregierung zur Energiepolitik hegt.
({17})
Wir möchten unserer Sorge Ausdruck geben, daß die bisherige Methode, Energiepolitik mittels einzelner Maßnahmen zu betreiben, nicht mehr ausreicht. Wir halten eine Koordinierung sämtlicher Energieträger für erforderlich, wobei unter dem Gesichtspunkt eines bestbedienten Marktes für Verbraucher und Wirtschaft eine allgemeine Wettbewerbssituation herzustellen ist, die sowohl unserer Versorgungssicherheit wie unserer Devisenlage Rechnung trägt. Bei diesen Überlegungen muß voraussetzungslos geprüft werden, inwieweit die Gesetze des Marktes für den Energiesektor ausreichen. Die danach zu treffenden Maßnahmen sollten so ausgerichtet werden, daß sie eine Stabilisierung der gesamten Energieversorgung auf lange Zeit herbeiführen. Dabei sollte insbesondere auf die Verhältnisse bei den übrigen Staaten der EWG und auf die Heranbildung einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik rechtzeitig Rücksicht genommen werden.
Es entspricht der Auffassung der FDP, wenn der Herr Bundeskanzler zur Agrarpolitik betont, daß die Landwirte angesichts der besonderen und erschwerten Bedingungen im Gemeinsamen Markt für die Erzeugung und den Absatz ihrer Produktion auch in Zukunft der Unterstützung des Bundes bedürfen. Investitionshilfen für die Rationalisierung und Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur sind von entscheidender Bedeutung. Insbesondere bedarf es klarer Leitlinien für die künftige Agrarpolitik der EWG, damit der deutsche Bauer erkennt, wie der Weg nach Europa weitergehen soll und wie er sich auf diese Entwicklung einstellen kann. Es besteht kein Zweifel, daß der deutschen Landwirtschaft die Chance einer Aufwärtsentwicklung gegeben werden muß. Klarheit sollte auch darüber bestehen, daß in der EWG neue Opfer - ich erinnere an den gemeinsamen Getreidepreis - entgegen unseren eigenen Belangen nicht mehr erbracht werden sollten.
({18})
Die Landwirtschaft darf bei der Herstellung des Gemeinsamen Marktes keine weiteren Einkommensminderungen erfahren. Jede Maßnahme innerhalb der Gemeinschaft, die zu direkten Einkommensverlusten führt, muß mit einem entsprechenden Einkommensausgleich gekoppelt sein.
Wir Freien Demokraten erkennen die Römischen Verträge als Realität an, obwohl wir bei deren Abschluß im Jahre 1957 unsere Bedenken in diesem Hohen Hause mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht haben. Etwaige Veränderungen oder zusätzliche Vereinbarungen müssen unter den Partnern nach den Bestimmungen des Vertrags vereinbart werden, wobei es nicht nur Bedingungen von einer Seite geben darf.
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Im Rahmen der EWG setzt sich die FDP für eine angemessene eigene Agrarproduktion in der Bundesrepublik durch bäuerliche Familienbetriebe zu kostendeckenden Preisen unter Berücksichtigung der
Sicherung der Ernährung ein. Ich darf Ihnen sagen, daß von einer solchen Politik auch die Verbraucher letzten Endes einen Vorteil haben würden, denn weder die Bauern noch die Verbraucher haben irgendein Interesse an den Preisschwankungen, die wir augenblicklich erleben. Bauer und Verbraucher wäre vielmehr damit gedient, wenn eine möglichst gleichmäßige Preisentwicklung durch das ganze Jahr gewährleistet würde.
Auf der anderen Seite darf ich Ihnen sagen, daß es auch nicht angeht, daß die Vorratswirtschaft in einem Lande so geregelt ist, daß schon eine einzige schlechte Ernte das Preisgefüge in Unordnung bringen kann.
Um diese Sicherung der Ernährung zu erreichen, müssen nationale Produktionsziele für die einzelnen Partnerländer oder andere Instrumente entwickelt und festgelegt werden.
Bevor es zu endgültigen Zahlungsverpflichtungen nach Art. 7 der Verordnung 25 an den EWG- Agrarfonds kommt, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: erstens eine gleichzeitige und gleichgewichtige Entwicklung der EWG auf allen Gebieten, insbesondere aber der Kennedy-Runde, der Wirtschaftsunion und der Steuerharmonisierung; zweitens die Festlegung einer gerechten Lastenbeteiligung unter Berücksichtigung auch deutscher Agrarexportinteressen und bei Beachtung des Gemeinschaftsinteresses bei allen Zahlungen aus dem Agrarfonds; drittens müssen die Marktordnungen für Milch und Zucker schleunigst verabschiedet werden.
Im Zasammenhang mit der Europapolitik möchte ich auch an die Notwendigkeit erinnern, eine parlamentarischen Kontrolle der Zahlungen an die EWG in Europa oder in den Parlamenten der Mitgliedstaaten sicherzustellen.
Der deutsche Bauer hat in den letzten Jahren Ungeheures geleistet. Er verdoppelte seine Flächenproduktion und stellte weit über eine Million Menschen der übrigen Wirtschaft zur Verfügung. Die Bundesregierung sollte in den nächsten vier Jahren die Voraussetzung schaffen, daß die deutsche Landwirtschaft den Wettbewerb innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit Erfolg bestehen kann. Das im Ende der vierten Legislaturperiode verabschiedete EWG-Anpassungsgesetz leitet eine Entwicklung ein, die in der vor uns liegenden Legislaturperiode konsequent fortgesetzt werden sollte.
Der Herr Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung die verschiedenen Probleme der Entwicklungshilfe angesprochen. Es ist sicherlich nicht ganz leicht, in der breiten Öffentlichkeit Verständnis für die Notwendigkeit und die Bedeutung der Entwicklungshilfe zu erlangen. Entspricht diese Tatsache aber nicht auch dem Wesen dieses wichtigen Teils unserer Politik, der nicht auf schnelle und überschaubare Erfolge, sondern auf langfristige Wirkungen angelegt ist? In der Entwicklungshilfe muß mit größeren Zeiträumen gerechnet werden, bevor über Erfolg und Mißerfolg geurteilt werden kann.
Eine richtig verstandene Entwicklungspolitik dient dem wirtschaftlichen und sozialen Aufbau der Empfängerländer; sie liegt auch in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse. Eine falsche Entwicklungspolitik würde in ihren Rückwirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland schon in absehbarer Zeit sichtbar werden. Ein verantwortlicher Politiker kann nicht genug auf diese Folgen hinweisen. Diese Erkenntnis fordert aber von uns, daß wir uns unserer Verantwortung als Industrienation der freien Welt bewußt sind und daß wir einen unserem Leistungsvermögen entsprechenden Beitrag erbringen.
Der Herr Bundeskanzler hat insbesondere auf die außenpolitischen Aspekte der Entwicklungshilfe hingewiesen. Wir sollten von der Entwicklungshilfe kein Allheilmittel gegen politische Spannungen in den wirtschaftlich unterentwickelten Teilen der Welt erwarten. Andererseits möchte ich in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers die Wichtigkeit der Entwicklungshilfe als Instrument der Außenpolitik unterstreichen. Es geht hier nicht darum, unsere Hilfsmaßnahmen an politische Bedingungen zu knüpfen, sondern im Geiste wirklicher Zusammenarbeit die beiderseitigen Interessen zu respektieren.
Die Lage unseres geteilten Vaterlandes ist in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen läßt, wie der Herr Bundeskanzler in der Regierungserklärung feststellte, der innere Zusammenhalt des Bündnisses nach. Die Meinungsverschiedenheiten im westlichen Lager über die Zukunft der NATO, über das weitere Schicksal der EWG und schließlich über den Platz, den Deutschland in der Welt von morgen einnehmen soll, bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die deutsche Frage. Die Großmächte in Ost und West bemühen sich um eine Lockerung des zwischen ihnen bestehenden Spannungsverhältnisses. Mannigfaltige Kontakte zwischen Politikern aus beiden Lagern, Staatsbesuche hinüber und herüber zeugen von dem Suchen nach einer gemeinsamen Plattform für eine Politik der Entspannung.
Diese von uns im Interesse der Erhaltung des Friedens begrüßte Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses hat bisher noch keine Auswirkungen auf die Deutschlandpolitik der Sowjetunion gehabt. Ein Beweis dafür ist die neuerliche Verhärtung der sowjetischen Haltung gegenüber Bonn in der Frage der deutschen Wiedervereinigung. Dennoch sind wir überzeugt, daß eine fortschreitende Entspannung auf die Dauer nicht an der deutschen Frage vorbeigehen kann. Es werden sich neue Ansatzpunkte für eine schrittweise Überwindung der deutschen Spaltung ergeben. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Entschlossenheit der Bundesrepublik, im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten auch in Zukunft und in noch verstärktem Maße Beiträge zu einer Entspannungspolitik in Europa zu leisten.
Das gilt für alle Bereiche der Deutschland-, der Ost- und der Sicherheitspolitik. Ausgangspunkt einer solchen Entspannungspolitik ist die Auffassung der Bundesregierung, daß die Fragen der deut116
schen Wiedervereinigung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Problemen der europäischen Sicherheit und der kontrollierten Abrüstung stehen. Niemand in der Welt sollte sich der Illusion hingeben, daß ohne Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk eine dauerhafte Friedensordnung in Mitteleuropa möglich ist.
({20})
Das allen Regierungen der Welt deutlich zu machen, ist die wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik.
Die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Italien bemühen sich um einen Brückenschlag nach Osteuropa. Wir wollen unsere Beziehungen zu den Ländern Osteuropas verbessern und dabei unseren Willen zur Aussöhnung mit diesen Völkern unterstreichen, die im letzten Weltkrieg in besonderem Maße zu leiden hatten. Wir wissen, daß die Verständigung mit den Staaten Osteuropas ein wesentlicher Teil deutscher Wiedervereinigungspolitik sein muß.
({21})
Wir begrüßen daher die Bereitschaft der Bundesregierung, die Beziehungen zu diesen Ländern weiterzuentwickeln, den Handel zu fördern, die kulturellen Kontakte zu verstärken und gegenseitiges Verständnis zu wecken. Die von der Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP seit 1962 eingeleitete Ostpolitik, die schon zur Errichtung von Handelsmissionen in einigen osteuropäischen Staaten geführt hat, muß verstärkt fortgeführt werden.
({22})
Wir müssen uns durch die Verdichtung unserer Beziehungen mit dem Endziel der Aufnahme diplomatischer Beziehungen das Instrument schaffen, das wir für eine aktive Wiedervereinigungspolitik in diesem Bereich Europas brauchen. Besondere Bedeutung kommt daneben einer Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit diesen Ländern zu. Der Erwerb westlicher Produktionslizenzen durch diese Länder, die Aufnahme neuer oder ergänzender Produktionen in Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen, sowohl als Zulieferbetriebe wir zur Befriedigung des Eigenbedarfs und schließlich die Zusammenarbeit bei der Belieferung dritter Länder können zu einer Vielfalt der wirtschaftlichen Verbindung führen, die nicht ohne Auswirkung auch auf das politische Klima zwischen den beteiligten Ländern bleiben wird. Wir halten eine solche Politik der wirtschaftlichen Kooperation für ein wesentliches Element deutscher Entspannungspolitik nach Osten. Aus diesem Grunde begrüßen wir es dankbar, daß der Herr Bundeskanzler sich in der Regierungserklärung ganz allgemein auch für ein hohes Maß an Koordinierung der Osthandelspolitik der westlichen Länder eingesetzt hat und zugleich eine Überprüfung der Kreditpolitik gegenüber Osteuropa fordert. Die Bundesrepublik Deutschland wird ihre Osthandelspolitik um so wirksamer gestalten können, je mehr sie bereit ist, sich bei der Gewährung langfristiger Kredite mit den anderen westlichen Ländern zu koordinieren.
({23})
Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Deutschen Frage sind naturgemäß unsere Beziehungen zur Sowjetunion. Man kann nur mit Bedauern feststellen, daß sich das deutsch-sowjetische Verhältnis in den letzten Jahren nicht verbessert hat. Die Auffassungen über die Deutschlandpolitik stehen sich unverändert schroff gegenüber. Die offiziellen Kontakte zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion waren in dem ersten Jahrzehnt diplomatischer Nachkriegsbeziehungen bemerkenswert spärlich. Zur Zeit gefällt sich die Sowjetregierung darin, einen Feldzug massiver Anschuldigungen gegen die Bundesrepublik zu führen. Sie setzt sich damit in Gegensatz zu ihrer Politik gegenüber anderen westlichen Ländern und zu der Politik der Entspannung, um die sich die Bundesrepublik auch nach Osten hin immer bemüht.
Aber auch diese derzeitige Haltung der offiziellen sowjetischen Politik entbindet uns nicht von der Verpflichtung, immer wieder für eine Versachlichung der Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten einzutreten. Beide Seiten sollten sich darum bemühen, durch vermehrte Kontakte ein Gesprächsklima zu schaffen, das bessere Voraussetzungen für die Erörterung der gemeinsam interessierenden Probleme schafft. Eine solche Entwicklung sollte auch im wohlverstandenen Interesse einer weitsichtigen Außenpolitik der Sowjetunion liegen. Der Ausbau der Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Staaten muß die Voraussetzungen für eine Gesamtlösung der Deutschen Frage schaffen. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit dieser Aufgabe.
Ungleich komplizierter als das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Osteuropa ist die Lage im geteilten Deutschland. Die nun schon 20 Jahre andauernde Spaltung unseres Vaterlandes und die Gefahr, daß sie noch längere Zeit andauern könnte, wirft Probleme auf, die zu größter Sorge Anlaß geben. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, daß die Lösung der Deutschen Frage eine Aufgabe künftiger Generationen sei, denen sie einmal als Geschenk in den Schoß fallen werde. Der Zeitablauf begünstigt nicht die Lösung, er erschwert sie. Die Zeit hat nicht für uns gearbeitet.
({24})
Das beweist die bisherige Entwicklung mit aller Deutlichkeit.
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß zwei Drittel der jetzt lebenden deutschen Menschen 1933 Kinder oder noch nicht geboren waren. Im Zusammenhang mit der Bemerkung des Bundeskanzlers, daß die Nachkriegszeit zu Ende sei, können wir diesen Hinweis nur so verstehen, daß zwei Drittel unseres Volkes schon von ihrem Lebensalter her für die Gewaltpolitik Hitlers nicht verantwortlich gemacht werden können.
({25})
Das sollten auch diejenigen erkennen, die im Osten, zuweilen aber auch im Westen, die Teilung unseres Landes als Sühne für eine vergangene Zeit darstellen wollen.
({26})
Für das geteilte deutsche Vaterland freilich, meine Damen und Herren, ist, das möchte ich hier mit aller Klarheit feststellen, die Nachkriegszeit leider noch nicht zu Ende. Für uns Deutsche beginnt die Zeit normaler Entwicklung unseres Schicksals erst dann, wenn allen Deutschen das Selbstbestimmungsrecht gewährt worden ist. In der Zeit bis dahin müssen wir immer aufs neue den ernsthaften Versuch unternehmen, die Begegnung der Menschen in unserem Lande mehr und mehr zu verstärken. Das dabei immer wieder offenbar werdende Gefühl des Zusammengehörens des ganzen deutschen Volkes ist neben der humanitären Seite - auch eine wichtige politische Demonstration. Das Ausland muß erkennen, daß sich dieses Volk niemals mit seiner Teilung abfinden wird.
({27})
Für die Politik, für die Regierung unseres Landes besteht die Verpflichtung, die deutsche Frage immer wieder auf den Verhandlungstisch zu legen. Die Bereitschaft von Ost und West, die Entspannung zu fördern, muß für die Lösung unseres nationalen Problems genutzt werden.
Die Bundesregierung hat mit dem Deutschland-Memorandum vom 9. August 1963 eine beachtliche Initiative entfaltet, die noch heute eine brauchbare Diskussionsgrundlage darstellt. Sie hat in diesem Memorandum die untrennbare Verknüpfung von deutscher Wiedervereinigung, europäischer Sicherheit und kontrollierter Abrüstung dargelegt. Sie hat in diesem Memorandum zugleich die Einrichtung gesamtdeutscher technischer Kommissionen unter der Verantwortung der Vier Mächte vorgeschlagen. Ich darf Sie daran erinnern, daß über Deutschland zuletzt im Jahre 1959 in Genf verhandelt wurde,
({28})
als der damalige Außenminister der Vereinigten Staaten, Herter, schon diese Frage der gesamtdeutschen technischen Kommissionen auf den Tisch des Hauses legte. Ich darf Sie daran erinnern, daß schon damals der seinerzeitige Außenminister der sowjetisch besetzten Zone, Bolz, am Konferenztisch saß, wodurch sich keinerlei Aufwertung und keinerlei Besserstellung der Zone ergeben hat. 1959 ist das alles geschehen. Ich glaube, es ist hohe Zeit, daß sich die vier verantwortlichen Siegermächte wieder über Deutschland an einen Tisch setzen.
({29})
Diese gesamtdeutschen technischen Kommissionen sollten nicht losgelöst, sondern als Stufe in einem Wiedervereinigungsvorgang betrachtet werden, sollten Fragen der innerdeutschen Kontakte, des Handels, der Kultur, des Verkehrs und des Sports erörtern. Am Ende dieses Wiedervereinigungsvorgangs muß der Abschluß eines Friedensvertrages stehen, der die Regelung aller die deutsche Frage betreffenden Meinungsverschiedenheiten beinhaltet.
Meine Damen und Herren, es ist unzweifelhaft, daß eine aktive Deutschlandpolitik - und dazu gehören auch verstärkte Kontakte innerhalb Deutschlands, wie sie z. B. mit der Bildung gesamtdeutscher technischer Kommissionen vorgesehen sind - auch die Bereitschaft zum Risiko voraussetzt. Wer dieses
Risiko fürchtet, sollte wissen, das er dann bereit ist, ein noch viel größeres Risiko einzugehen. Das gefährlichste und risikoreichste Experiment ist das geteilte Deutschland in einem geteilten Europa.
({30})
Der französische Staatspräsident de Gaulle - und hier stimmt er mit unseren angelsächsischen Verbündeten überein - hat sich auf seiner Pressekonferenz am 25. März 1959 für eine Verdichtung der Beziehungen auch innerhalb Deutschlands ausgesprochen. De Gaulle sagte damals:
Bis zur Erreichung
- er meint hier: der Wiedervereinigung glauben wir, daß die beiden getrennten Teile des deutschen Volkes ihre Bindungen und Beziehungen auf allen praktischen Gebieten vervielfältigen sollten. Das Verkehrswesen, die Post, die wirtschaftliche Tätigkeit, die Künste, die Wissenschaft, die Literatur, der Personenverkehr sollten den Gegenstand spezieller Vorkehrungen bilden, welche die Deutschen im Inneren einander annähern würden zum Vorteil dessen, was ich die deutsche Sache nennen möchte und die den Deutschen trotz allem gemeinsam ist, ungeachtet der Differenzen des Regimes und der Bedingungen.
Eine wesentliche Aufgabe ist uns auch in der Europapolitik gestellt. Am Horizont der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist noch immer kein Silberstreifen zu erblicken. Die Ansichten Frankreichs auf der einen und die der fünf übrigen Mitglieder der EWG auf der anderen Seite gehen hinsichtlich des weiteren Fortgangs der europäischen Einigung weit auseinander. Das Jahr 1965 hat in der Europapolitik bittere Rückschläge gebracht. Die Fortentwicklung der EWG ist in Frage gestellt. Die Politik des leeren Stuhls, die Frankreich seit dem vergangenen Sommer praktiziert, ist nur der äußere Ausdruck dieser reichlich verfahrenen Lage. Aber auch diese bitteren Erkenntnisse dürfen uns nicht zur Resignation führen. Im Gegenteil; vieleicht ist die Kenntnis der bisherigen Europapolitik die Geburtsstunde einer neuen Politik des Brückenschlags zu den Ländern der kleinen Freihandelszone.
An der Haltung des französichen Staatspräsidenten im gegenwärtigen Zeitpunkt darf die historische Aufgabe unserer Generation, die Völker Europas für immer aneinander zu binden, nicht scheitern.
({31})
Diese feste Dauerbindung muß - und das ist die große Bedeutung der europäischen Zusammenarbeit - für die Erhaltung des Friedens ernsthafte politische Konflikte für alle Zukunft unmöglich machen. Die deutsch-französische Aussöhnung ist dafür eine unentbehrliche Voraussetzung. Unsere ganze Aufmerksamkeit muß deshalb der Verbesserung unseres Verhältnisses zu Frankreich gewidmet sein. Der Grad des Vertrauens und der Freundschaft zwischen Frakreich und Deutschland bestimmt zugleich die Möglichkeiten gesamteuropäischer Politik. Niemand kann zur Stunde ein fertiges Konzept für die Überwindung der europäischen Schwierigkeiten vorle118
gen. Es kommt auch weniger darauf an, detaillierte Europapläne zu entwerfen, als sich über die Grundrichtung künftiger europäischer Politik zu verständigen.
Wir unterstützen die Bundesregierung mit allem Nachdruck in ihrem Bemühen, die europäische Einigung nicht auf die EWG-Staaten zu beschränken, sondern wie wir ein Europa der Freien und Gleichen anzustreben. Aus diesem Grunde sollten wir der Empfehlung der Versammlung der Westeuropäischen Union folgen, nach der eine Zusammenkunft der Regierungen der Mitgliedstaaten der WEU über die engere Zusammenarbeit zwischen EWG und EFTA beraten únd ständige Kommissare ernannt und ausgetauscht werden sollen. Diese sollten die Tätigkeit der beiden Wirtschaftsgruppen fördern und aufeinander abstimmen.
Neben der Politik des Brückenschlags muß der Versuch gemacht werden, das in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Sechser- Europa Erreichte zu wahren. Die Gemeinschaften sollten in ihrer bisherigen Konstruktion nur insoweit eine Änderung erfahren, als damit der Brückenschlag zur EFTA erleichtert werden kann.
Meine Fraktion begrüßt mit Nachdruck die Ergebnisse des Besuches von Außenminister Schröder in London. Das ständige Gespräch auch mit unseren Partnern in England wird sich nicht nur vorteilhaft für die europäische Frage auswirken; es muß auch der Vertiefung unserer Bemühungen um eine einheitliche Deutschlandpolitik der Westmächte dienen. Wir sind ganz allgemein - das gilt auch für das Verhältnis zu Frankreich - der Auffassung, daß es nicht auf diese oder jene Form der europäischen Zusammenarbeit im letzten ankommt; entscheidend ist der Geist, mit dem die Lösung der europäischen Probleme angegangen wird; entscheidend sind die Erfolge der Zusammenarbeit, die erreicht werden können.
Ähnliches gilt, wenn vielleicht auch in anderer Weise, für die Zukunft der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Auseinandersetzungen über die Konstruktion des Bündnisses sind verhältnismäßig alt. Sie begannen schon im Jahre 1958. Seit diesem Zeitpunkt ist auch die Haltung der französischen Regierung zur Frage der Integration der Allianz praktisch unverändert. Die Vorstellungen des Generals de Gaulle über Frankreichs politische und militärische Rolle in der westlichen Welt lassen sich seitdem immer weniger mit denen seiner Bundesgenossen in Übereinstimmung bringen. Die für die Sicherheit des freien Deutschlands so wichtige NATO wird immer mehr zu einem Bündnis, in dem Frankreich abseits steht. Die NATO wird mindestens zu einer Allianz alter Art, die lediglich in Kriegszeiten wirksam wird und im Frieden weder politische noch militärische Gemeinsamkeiten kennt.
Natürlich hat es keinen Sinn, den Zeiten nachzutrauern, da dem kommunistischen Block eine nahezu geschlossene Front westlicher Staaten gegenüberstand. Vermutlich wird der Westen in der Ära der Koexistenz und der Entspannung diesen Grad von Geschlossenheit nicht mehr erreichen. Dennoch ist die Erhaltung der Allianz, wenn vielleicht auch in
einer neuen, den Umständen angepaßten Form, für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unerläßlich. Dabei wird grundsätzlich von dem Prinzip der Integration nicht abgegangen werden können, weil es den militärischen und politischen Erfordernissen einer modernen Verteidigungspolitik nun einmal entspricht.
Ebenso notwendig scheint es uns jedoch zu sein, die Diskussion um eine NATO-Reform nicht mit Fragen zu belasten, die eine Einigung der Allierten über den künftigen Gehalt des Bündnisses noch schwieriger machen und deren Nutzen für unsere nationale Aufgabe, die Überwindung der Spaltung Deutschlands, zumindest fraglich erscheint.
Die Anpassung der NATO an neue politische und militärische Sachverhalte muß selbstverständlich auch die deutschen Interessen berücksichtigen. Sie liegt aber, so meine ich, weniger in einer einseitigen Festlegung dieses oder jenes Projektes als vielmehr in der gleichberechtigten Stellung der Bundesrepublik im Rahmen des Bündnisses. Die Bundesrepublik Deutschland trägt nach den Vereinigten Staaten einen großen Teil der Lasten des Bündnisses. Unserer Bundeswehr sollte man an dieser Stelle einen besonderen Dank abstatten und unsere besondere Anerkennung übermitteln.
({32})
Die Bundesrepublik befindet sich in einer geographisch besonders exponierten Stellung. Sie muß deshalb an allen Vorbereitungen und Entscheidungen, die das Bündnis zu treffen hat, beteiligt sein. Nicht atomarer Ehrgeiz, sondern die Verantwortung für die Sicherheit der Bundesrepublik und für die Sicherung der Bundesrepublik und für die Sicherung der Menschen im ganzen Deutschland sind das Motiv unserer Forderung auch nach Mitsprache bei Zielplanung und Einsatzentscheidung. Eine Reform des NATO- Bündnisses wird deshalb auch der Forderung nach angemessener Vertretung in allen Gremien der NATO Rechnung tragen müssen. Ich halte den jüngst vorgetragenen Vorschlag des amerikanischen Verteidigungsministers für eine brauchbare Diskussionsgrundlage und hoffe, daß auf dieser Ebene eine politische Lösung gefunden wird, nachdem wir mit der militärischen Lösung bisher aus den verschiedensten Gründen nicht weitergekommen sind.
({33})
Die Bundesrepublik Deutschland hat auf die Herstellung von Atomwaffen verzichtet, und sie erstrebt keine nationale Verfügungsgewalt. Sie wird sich im Einzelfall die Entscheidung vorbehalten, welchen Grad der Beteiligung sie unter Berücksichtigung ihrer besonderen Lage wünscht. Sie lehnt es ab, sich von Vertragspartnern oder gar von Mächten außerhalb des Bündnisses einen Status vorschreiben zu lassen, der ihrer Stellung im Bündnis nicht gerecht wird und sie benachteiligt.
Die Forderung nach Gleichberechtigung im Bündnis, der Wunsch nach voller Sicherheit auch für Europa kann nicht an der Erkenntnis vorbeigehen, die der Herr Bundeskanzler dahin aussprach, daß die Vereinigten Staaten als einziger westlicher Staat der Sowjetunion militärisch nicht nur ebenbürtig,
sondern mit ihrem Arsenal an Kernwaffen sogar überlegen sind. Aus dieser von keinem anderen westlichen Land erreichten und erreichbaren militärischen Bedeutung der Vereinigten Staaten heraus ergibt sich zwangsläufig die überragende Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika im westlichen Lager und damit auch in der NATO. Die Bundesregierung ist deshalb gut beraten, wenn sie diese wichtige Situation anerkennt. Es geht nicht darum, mit dem militärischen Potential der Vereinigten Staaten zu wetteifern, sondern es geht darum, sicherzustellen, daß auch für alle Zukunft dieses militärische Potential die ganze westliche Welt und auch die Bundesrepublik einschließlich West-Berlins schützt. Die Bedeutung, die damit die Vereinigten Staaten von Amerika für die Sicherheit unseres Landes haben, unterstreicht die Bedeutung guter, vertrauensvoller und freundschaftlicher Beziehungen zu diesem Lande, das in der Vergangenheit so eindrucksvolle Beiträge zum Ausbau der Bundesrepublik Deutschland und zur Sicherheit seiner Menschen geleistet hat. Wir wünschen dem Herrn Bundeskanzler auf jeden Fall guten Erfolg bei seiner Reise in die Vereinigten Staaten.
({34})
Meine Damen und Herren, in diesem Hohen Hause wird niemand daran zweifeln, daß die innen- und außenpolitischen Entscheidungen, vor die wir in den nächsten vier Jahren gestellt werden, ein hohes Maß an Verwortungsbewußtsein und Entschlossenheit bei allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses erfordern. Die Bundesregierung braucht für ihre Politik die volle und uneingeschränkte Unterstützung der Regierungskoalition. Nur mit der Autorität der eindrucksvollen Mehrheit in diesem Hause ist es möglich, unsere Politik gegenüber dem Ausland zu vertreten und innenpolitisch die Stabilität unserer Währung und die Produktivität unserer Wirtschaft zu sichern.
({35})
Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei ist zu dieser Unterstützung der Politik der Bundesregierung auf der Grundlage der gemeinsamen Ziele der Koalition bereit.
({36})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Althammer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn dieser Aussprache hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion, der Kollege Dr. Barzel, gegenüber der SPD die Erwartung ausgesprochen, daß diese Opposition in dieser Debatte nunmehr konkrete Vorschläge macht und ein Alternativprogramm entwickelt.
({0})
Wir waren zu dieser Annahme um so mehr berechtigt, als der Parteivorsitzende der SPD - ({1})
-- Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, Sie werden das Vergnügen noch haben, den Kollegen Strauß zu hören.
({2})
- Warten wir es ab, warten wir es ab!
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir waren zu dieser Erwartung um so mehr berechtigt, als der Herr Parteivorsitzende der SPD, Bürgermeister Brandt, der leider Gottes hier nicht zur Verfügung stehen kann - -({4})
- Herr Kollege Wehner, - ({5})
- Herr Kollege Wehner, ich darf Sie bitten - ({6})
Darf ich einen Augenblick unterbrechen. Herr Kollege Wehner, Sie gehen in Ihren Ausdrücken zu weit. Ich bitte Sie, sich zurückzuhalten.
({0})
Herr Kollege Wehner, ich würde Sie bitten, Ihre Erregung zu mäßigen. Ich habe nicht den Eindruck, daß meine bisherigen Ausführungen irgendeine Veranlassung dazu gegeben haben.
({0})
Ich komme zurück zu der Frage, die eingangs dieser Debatte gestellt worden ist, nämlich zu der Frage, wie dieses sachliche Alternativprogramm aussehen soll, und ich darf hier einen Punkt herausgreifen. - Aber bitte, Herr Kollege Schmitt -Vockenhausen!
({1})
- Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, wir wollen uns zunächst einmal in aller Güte unterhalten. Sie haben dann Gelegenheit, konkrete Zwischenfragen zu stellen.
({2})
Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der hier in der Debatte schon eine Rolle gespielt hat, nämlich die Finanzfrage. Wer die Hoffnung gehabt hatte, daß mit der Wahlniederlage der SPD am 19. September zur Konkursmasse auch dieses Doppelspiel in den Finanzfragen gehören würde, hat sich nach der Rede des Kollegen Erler in dieser Erwartung getäuscht gesehen.
({3})
Es sieht nach diesen Worten so aus, als sollte die Verantwortung für den Haushaltsausgleich des Jahres 1966 allein der Regierung und den Regierungsparteien angelastet .werden und als trage die Opposition überhaupt kein Verschulden an der Situation.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst einmal muß man, glaube ich, der Wahrheit die Ehre geben und feststellen, daß die bisherigen Haushaltsabgleiche sich durchaus sehen lassen können. Insgesamt ist das Sozialprodukt in der Periode von 1961 bis 1965 um 27 % gestiegen. Die Ausgaben des Bundes hingegen sind nur um 24% gestiegen. Insbesondere darf ich hier den Haushaltsausgleich des Jahres 1964 hervorheben, in dem ein Fehlbetrag von sage und schreibe 32 Millionen DM - das sind 0,04 % der insgesamt 60,3 Milliarden DM - zu verzeichnen war.
Dieser Bundeskanzler, Professor Erhard, war es, der beim Antritt seines Amtes als Kanzler die Maxime aufgestellt hat, daß sich der Zuwachs der Finanzen am realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts orientieren solle. Man spricht seither von der magischen Grenze, die hier einzuhalten sei. Auf unserer Seite war diese Maxime von Anfang an akzeptiert worden. Bei der Opposition dagegen, muß ich feststellen, besteht bis heute noch Streit darüber, ob dieser Grundsatz anzunehmen ist.
({5})
Anders nämlich könnte man es sich gar nicht erklären, daß der neue SPD-Finanzminister von Niedersachsen, Herr Kubel, vor kurzem erklärt hat, er denke gar nicht daran, sich in der Etatpolitik an die Zuwachsrate des Sozialprodukts zu halten, und gefragt hat, wo es denn geschrieben sei, daß ein öffentlicher Etat nur im Rahmen des Zuwachses des Sozialprodukts ausgedehnt werden dürfe.
({6})
Ich habe davon gesprochen, daß die Opposition in den letzten Monaten ein unglaubwürdiges Doppelspiel in Finanzfragen getrieben hat.
({7})
Meines Erachtens kann eine Opposition nur so verfahren: Entweder sie sagt „we want more and more and more" - wie ich neulich gelesen habe, verfährt die SPD besonders beim Sozialetat nach dem Prinzip Darf's für einige Millionen mehr
sein? -; oder die Opposition macht sich zur Hüterin der Stabilität der Währung, und das bedeutet konkret, daß sie durch reale Kürzungsvorschläge und durch Ablehnung von Mehrausgaben zu sparen versucht.
Es blieb der SPD vorbehalten, beide Dinge gleichzeitig tun zu wollen, und einige Leute wundern sich heute noch, daß diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Seit 1949 hat sich die SPD dem Rezept verschrieben, immer mehr zu fordern, als die Regierungsparteien geben konnten.
({8})
Die Sorge um Sparsamkeit und Währungsstabilität rechnete sie zu den reinen Regierungsaufgaben.
Die Technik des Antreibens zu höheren Ausgaben ist inzwischen durch jahrelange Übung eingespielt.
({9})
Diese Übung beginnt folgendermaßen: Rührige Interessenvertreter erheben Maximalforderungen und tragen diese ans Parlament heran. Bei der Opposition finden sie damit offene Ohren. Wo die Regierungsmehrheit zögerte, trat die SPD zum massiven Angriff an. Sie beschuldigte die Regierungsmehrheit unsozialer Einstellung, der Vernachlässigung wichtiger Gemeinschaftsaufgaben und ähnlicher Dinge, wenn nicht sofort nachgegeben wurde.
({10})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege, haben Sie eben die SPD nicht vielleicht mit jener Mehrheit von Abgeordneten der Regierungsparteien verwechselt, die hier auf Betreiben von Interessenten zur Entschädigung der Reparationsschäden den Antrag mit einem Ausgabevolumen von 16 Milliarden DM eingebracht hat? Das ist ein Mehrfaches dessen, was alle sozialdemokratischen Anträge zusammen ausmachen.
({0})
Herr Kollege Erler, Sie haben mir vorgegriffen. Ich komme zu diesem Punkt noch und werde ihn genau in die Darstellung einfügen, in die er gehört.
({0})
Ich darf fortfahren. Wenn die Mehrheit trotzdem nicht sofort in die Knie ging, dann kam es zu Protestaktionen aller Art, die organisiert waren. Die Opposition stellte Redner zur Verfügung und heizte die Stimmung an. Sparwillige Abgeordnete der Koalition, die sich solchen Veranstaltungen stellten, sahen sich dieser Agitation der SPD gegenübergestellt.
({1})
Die Diskussionspartner von der SPD konnten bei solchen Veranstaltungen sehr häufig den Beifall für sich einheimsen, indem sie erklärten: „Ja, wenn die SPD an der Regierung gewesen wäre, hätten wir Ihre Wünsche längst erfüllt!" Sicherlich gab und gibt es bei der Opposition auch Abgeordnete, die solchen Versuchungen nicht erlegen sind; aber das andere war die Regel.
({2})
Wir haben die Auseinandersetzung über diese Fragen nie gescheut, und die Gesamtverantwortung für Stabilität und Wirtschaftsaufschwung stand für uns im Vordergrund. Die Erfolge haben uns Recht gegeben, und unser Volk ist mit dieser Politik nicht schlecht gefahren. Wogegen wir uns aber mit Entschiedenheit wenden, das ist der Versuch, so zu tun, als wäre diese ganze Oppositionstaktik, die ich eben beschrieben habe, niemals gewesen.
({3})
Das ging so weit, daß die SPD in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken wollte, als sei sie von der Regierung und den Mehrheitsparteien am Sparen gehindert worden.
({4})
Zur gleichen Zeit setzte die SPD aber munter ihre bisherige Taktik fort, auf allen Gebieten Mehrleistungen zu versprechen, neue Ausgabenprogramme am laufenden Band zu produzieren und die Regierung wegen angeblicher Versäumnisse zu attackieren.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Althammer, wollen Sie auch bitte etwas zu den Haushaltsberatungen im Februar dieses Jahres ausführen?
Sehr verehrter Herr Kollege Schäfer, ich werde mir erlauben, jetzt und hier diese Dinge, die ich angedeutet habe, noch konkreter auszuführen.
Unser Volk stand ungläubig vor so viel Wendigkeit in der Taktik. Es fragte sich: Wie paßt das zusammen? Da wird den Regierungsparteien vorgeworfen, sie leisteten auf allen Gebieten zu wenig, sie gäben zu wenig aus für soziale Sicherheit, für Wohnnungsbau, für Nazi-Verfolgte, für Rentner, für Wissenschaft und Forschung, für die Kriegsopfer, für die Entwicklungshilfe, für Bundesbedienstete, für die Gemeinden, für die Landwirtschaft, für den Verkehr, für den Mittelstand, für die Gesundheit, die Zonenrandgebiete, Ausbildungsförderung, Raumordnung, Kohlenbergbau, Sparförderung, Familien und so weiter und so weiter. Jedermann weiß, daß alles das Geld kostet. Die SPD hat sich auch nie gescheut, entsprechende Anträge hier im Hause zu stellen. Das alles aber sollte jetzt plötzlich nicht mehr wahr sein, während die SPD alle diese Programme weiter verkündet.
Herr Kollege Erler hat heute abend hier wieder auf das Bezug genommen, was der Kollege Alex Möller - den ich heute leider nicht hier sehe - im Februar dieses Jahres, um dieses Kunststück durchzuführen, uns hier im Hause vorexerziert hat. Bei dem, was ich vorher geschildert habe, mußte dieses Kunststück ganz einfach mißlingen. Der Kollege Alex Möller hat in der dritten Lesung des Haushalts eine Liste vorgelegt, aus der sich ergeben sollte, daß die Koalitionsfraktionen wesentlich höhere Ausgabenanträge gestellt hätten als die SPD.
({0})
Den Tatsachen wurde dabei Gewalt angetan, indem er erstens die Ausgabenliste der SPD bei weitem nicht vollständig ausführte, zum zweiten bei der SPD nur Fraktionsanträge, bei der CDU/CSU aber Einzelanträge von Abgeordneten aufführte. Und jetzt, Herr Kollege Erler, komme ich zu Ihrer Frage. Der Kollege Alex Möller hat bei diesen Einzelanträgen der Koalition sogar Dinge aufgeführt, die von dieser Fraktion ausdrücklich mißbilligt worden sind;
({1})
und das ist nämlich der Antrag, von dem Sie gesprochen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Abgeordneter Sanger!
Herr Kollege Dr. Althammer, ist Ihnen in Erinnerung und sind Sie bereit, das in Erinnerung zu rufen, daß nach dem Auseinandergehen des 4. Bundestages von der CDU-Geschäftsführung dieser Antrag in einem vertraulichen Schreiben an die Industrie als ein besonders wirkungsvoller Antrag dargestellt worden ist?
({0})
Herr Kollege Sänger, ich darf noch einmal wiederholen, was ich soeben gesagt habe.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf noch einmal wiederholen: Dieser Antrag mit diesen Milliardensummen ist von der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich abgelehnt worden;
({1}) und das ist für mich maßgeblich.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Althammer, ich frage Sie noch einmal: Ist Ihnen das Schreiben der CDU- Bundesgeschäftsstelle bekannt, in dem sie diesen Antrag als Antrag der CDU ausdrücklich aufführt?
({0})
Herr Kollege Schäfer, wenn Sie hier mit irgendwelchen angeblich vertraulichen Schreiben operieren,
({0})
dann wenden Sie sich doch bitte an die Adresse, von der Sie das beziehen!
({1})
Ich jedenfalls betone hier noch einmal: das war hier im Hause; und ich glaube, wir sollten die Tugend pflegen, die heute abend schon wiederholt angesprochen worden ist, daß nämlich das maßgeblich sein soll, was hier im Hause geschieht; und hier im Hause sind diese Anträge abgelehnt worden.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Erler?
Ja; wir können auch eine Fragestunde machen. - Bitte schön!
Herr Kollege, halten Sie es für eine besonders redliche Politik, wenn hier im Hause von einem Antrag scheinbar abgerückt wird,
({0})
der von einer Mehrheit der Fraktionsabgeordneten eingebracht wird, und gleichzeitig draußen im Lande von den Unterzeichnern mit eben diesem Antrag politische Geschäfte gemacht werden?
({1})
Herr Kollege Erler, ich werde auf diese Taktik im Zusammenhang mit der Opposition noch zu sprechen kommen. Ich darf hier jetzt aber sagen: ich habe in diesem Hause in unserer Fraktion und in unseren Arbeitskreisen die ganzen Auseinandersetzungen um diesen Antrag miterlebt und genau mitverfolgt, und danach ergibt sich ganz eindeutig, daß dieser Antrag von der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt worden ist.
({0})Erler auch!)
Ich darf weiter ausführen, worin die Manipulationen bei dieser Zusammenstellung, die Kollege Möller damals vorgelegt hat, bestanden haben. Er hat bei den Kostenschätzungen ganz verschiedene Schätzungsergebnisse angesetzt, je nachdem welche für die SPD gerade niedriger und für die Koalition höher waren.
Jetzt kommt ein ganz entscheidendes Argument. Kollege Alex Möller hat eine Reihe von im Parlament längst abgelehnten Oppositionsanträgen noch einmal ausdrücklich zurückgezogen oder für erledigt erklärt, um dann diese Beträge in seine Sparrechnung einzusetzen.
({1})
Diese Taktik ergibt ein ganz erstaunliches Bild. Anträge 'wurden zunächst gestellt, um die Mehrheit dieses Hauses in erhöhte Ausgaben hineinzutreiben. Wenn das dann nicht 'gelungen ist, werden die gleichen Anträge, die 'ursprünglich zur Ausgabenerhöhung gestellt waren, als sogenannte Sparmaßnahmen deklariert.
({2})
Das Ergebnis dieser Darstellung sollte, wie wir ja inzwischen erlebt haben, im Wahlkampf ein entscheidendes Argument sein. Angeblich seien demnach von der SPD 2,6 Milliarden DM zurückgezogen worden. Von der SPD blieb nach dieser Rechnung nur noch ein Kostenvolumen von sage und schreibe 26 Millionen DM übrig.
Um diese Behauptung endgültig richtigzustellen, habe ich mir erlaubt, ein ähnlich zusammengestelltes Dokument hier zu übergeben t), aus dem hervorgeht, daß diese Beträge in dieser Form einfach nicht zutreffen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege, würden Sie vielleicht dem Hause auch einmal ganz kurz und bündig mitteilen, von wem jene Vorlagen stammen, die jene 6 Milliarden DM Ausgaben für 1966 verursacht haben, um die 'es heute hier geht? Also bitte nicht Schnee vom letzten Winter, sondern: Wer hat die Vorlagen eingebracht, Regierung und Koalitionsparteien oder die SPD? Das müssen Sie doch wissen.
Ich werde sehr gern auf diesen Punkt zurückkommen. Er gehört nämlich genau in diese Auseinandersetzung hinein. Die Sache ist ganz klar und eindeutig, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich kann es Ihnen noch einmal vorführen. Es war die Opposition, die in fast allen diesen Gesetzgebungsmaterien höhere Forderungen gestellt hat. Wir kennen doch alle diesen Automatismus. Dann sind die Beratungen in den Ausschüssen gekommen, und man hat sich bei irgendeinem Kompromiß getroffen. Dann war diese Sache erledigt.
Ich darf noch einmal auf die dokumentarische Zusammenstellung des Kollegen Möller zurückkommen, die ich mir zu ergänzen erlaubt habe.
*) Siehe Anlage 2
Was ich hierzu zu sagen habe scheint mir nämlich nach dem, was der Kollege Erler eben hier noch einmal wiederholt hat, wichtig zu sein. Nach der ergänzten Zusammenstellung die ich mit Drucksachennummern versehen habe - von jedermann nachzukontrollieren -, ergibt sich ein Ausgabevolumen seitens der SPD von 7 Milliarden DM. Es kommen weitere Einnahmeausfälle in Höhe von rund 2 Milliarden DM hinzu, so daß insgesamt SPD-Anträge in Höhe von 9 Milliarden DM vorgelegen haben.
({0})
Zieht man von dieser Summe die von Kollegen Möller deklaratorisch zurückgezogenen Anträge in Höhe von 2,6 Milliarden DM ab, so bleibt immer noch eine Summe von rund 7 Milliarden DM übrig. Darauf hinzuweisen scheint mir notwendig zu sein, nachdem diese Zahlen hier wiederum genannt worden sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe zur Klarstellung eine Frage: Haben Sie, Herr Dr. Althammer, bei Ihrer Rechnung auch die in den Ausschüssen abgelehnten SPD-Anträge mitgerechnet?
Ich wollte soeben zu diesem Punkt Stellung nehmen. In dieser Zusammenstellung sind nicht enthalten - jetzt hören Sie bitte genau zu! - weitere Anträge, die ebenfalls Milliardensummen betragen hätten, z. B. der von mir mit Drucksachennummer genau bezeichnete Antrag über die Förderung von Wissenschaft und Forschung, der Antrag über den Bundesfernstraßenbau und noch zwei weitere Anträge. Außerdem sind in meiner Aufstellung nicht berücksichtigt z. B. die Anträge des SPD-Abgeordneten Hirsch zum Bundesentschädigungsgesetz in Höhe von 14 Milliarden DM
({0})
und zum Bundesrückerstattungsgesetz in Höhe von 3,1 Milliarden DM.
({1})
Auch diese Beträge sind - das wiederhole .ich in meiner Zusammenstellung nicht berücksichtigt.
({2})
Eine Zwischenfrage. Herr Abgeordneter Althammer, haben Sie - ({0})
- Herr Präsident, würden Sie vielleicht die Herrschaften um Ruhe bitten, damit Herr Kollege Althammer meine Frage hören kann.
Meine Damen und Herren, ich bitte, so viel Ruhe zu halten, daß auch der Fragesteller gehört werden kann.
Herr Kollege Althammer, haben Sie in Ihrer Aufstellung auch berücksichtigt, daß nach den Vorschlägen der Bundesregierung zum Schutzbaugesetz, die wir im Ausschuß abgelehnt haben, jedes Jahr fast 2 Milliarden DM mehr hätten ausgegeben werden müssen?
Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, nachdem der Kollege Erler heute hier die Zahlen der SPD noch einmal vorgetragen hat, habe ich meine Aufgabe darin gesehen, diese Zahlen richtigzustellen.
({0})
Es bleibt Ihnen völlig unbenommen, Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, Ihrerseits das, was der Kollege Möller zur Regierungsseite vorgetragen hat, zu ergänzen.
({1})
- Herr Präsident, ich darf vielleicht - ({2})
- Herr Präsident, ich darf vielleicht den Vorschlag zur Güte machen, daß ich meine Ausführungen nunmehr fortsetzen darf.
Sie haben jederzeit das Recht, zu sagen, Sie wollten nicht gefragt werden.
Sofern Fragen gestellt werden, sehr gern.
Die Äußerungen - ich darf hier noch ein Zitat anführen - des früheren und jetzt wieder neuen Kollegen Schmidt ({0}) scheinen mir da der Wahrheit wesentlich näherzukommen. Er hat nämlich laut FAZ vom 30. August 1965 erklärt:
Schmidt räumte ein,
- ich zitiere daß alle Fraktionen des Bundestages, auch die sozialdemokratische, und diese selbstverständlich auch aus wahltaktischen Erwägungen, an den Ausgabenbeschlüssen mitgewirkt hätten.
({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der eigentliche Kern der Auseinandersetzungen scheint mir aber noch nicht einmal berührt zu sein. Das politische Moment in diesen ganzen Debatten liegt doch darin, daß die Opposition mit ihren wesentlich höheren Anträgen die Koalitionsabgeordneten unter Druck gesetzt hat, bei den jeweils interessierten Volksschichten politisches Kapital sammeln wollte und oft genug die aus Sorge um übergeordnete Allgemeininteressen widerstrebenden Parlamentarier an den Pranger stellte, wenn diese versuchten, dem zu widerstehen.
({2})
Wir alle, meine Damen und Herren, haben diese
Taktik in den vergangenen Jahren oft genug erlebt. Ich halte es nicht einmal für klug, wenn die
Opposition ihre Glaubwürdigkeit auch dort verliert, wo man ernsthaft diskutieren kann, wenn sie mit einer solchen doppelbödigen Argumentation in Finanzfragen antritt.
Ich darf vielleicht ein letztes Beispiel zitieren. Es ist die Diskussion um die 18. Lastenausgleichsnovelle. Ich möchte hier einleitend gleich feststellen, daß mir natürlich völlig klar ist, daß das nicht unmittelbar den Haushalt betrifft, sondern nur die Haftung des Bundeshaushalts eintritt, wenn der Lastenausgleichsfonds nicht mehr bezahlen kann. Immerhin, die SPD, die sich kurz vor der Wahl einer verblüfften Öffentlichkeit als Einsparer und Etatkürzer präsentierte, hat auch noch bei dieser letzten Bundestagssitzung dieses Doppelspiel fortgesetzt. Sie haben, obwohl hier ganz namhafte Kürzungen durchgesetzt werden mußten, an den alten Anträgen festgehalten, nachdem der Kollege Rehs im Ausschuß zuvor Anträge in einer Gesamthöhe von 21 Milliarden DM gestellt hatte.
({3})
Der Herr Abgeordnete Jaksch möchte eine Frage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Althammer, haben Sie die Stellungnahme Ihres Parteivorsitzenden, des hochverehrten Altbundeskanzlers Dr. Adenauer, zur Kenntnis genommen, der in dieser Frage mit seiner Auffassung an der Seite der SPD gestanden hat?
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese ganze Geschichte ist mir besonders interessant vorgekommen - und deshalb habe ich dieses Beispiel erwähnt -,
({0})
weil die SPD, nachdem dies in der zweiten Lesung abgelehnt worden war, erklärt hat, sie habe den Antrag in der dritten Lesung deshalb nicht erneut gestellt, weil sie damit ihren Sparwillen unter Beweis stellen wollte;
({1}) so zu lesen im SPD-Pressedienst.
({2})
Man kann sich nur darüber wundern, daß die Opposition glaubte, dieses Spiel durchhalten zu können. Wie dieses „Hexeneinmaleins" der „ach so sparsamen" SPD in der Öffentlichkeit bewertet wurde, zeigt wohl am klarsten ein Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in der der Kommentator Roeper zur Haltung der SPD bemerkt - ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren -:
Gewiß darf man nicht jedes Wort einer Oppositionspartei gleich auf die Goldwaage legen.
Daß sie manchmal über das Ziel hinausschießt, dafür muß man Verständnis haben. Es ist ihr Recht und ihre Pflicht, der Regierung mit ihrem Tadel hart zu Leibe zu rücken. Dazu gehört besonders die Überwachung und die Kritik des öffentlichen Finanzgebarens. Eine solche Kritik wird jedoch unglaubwürdig, wenn die Opposition selbst nach Kräften zu dem von ihr kritisierten Zustand beigetragen hat. So ist denn auch der jetzige Versuch der SPD, den berechtigten Zorn der Bundesbürger über die öffentliche Ausgabenwirtschaft allein auf die Regierung _zu lenken, sich selbst aber in der Rolle des treusorgenden, auf den Pfennig bedachten Hausvaters zu präsentieren, ein allzu plumpes und durchsichtiges Manöver.
({3})
Diese Rolle paßt für die SPD am allerwenigsten. Denn schon oft genug hat sich erwiesen, daß gerade die öffentliche Finanzpolitik einer der schwächsten Punkte der Sozialdemokraten ist.
({4}) Soweit die „FAZ".
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Ich warte immer noch, Herr Kollege auf eine Erklärung - vielleicht können Sie mir das sagen -, ob die Finanzlage des Bundes, die jetzt zu beklagenswerten Beschlüssen der Mehrheit des Hauses führen wird und wahrscheinlich auch führen muß, auf abgelehnte Anträge oder auf die angenommenen Vorlagen der Regierungsparteien zurückzuführen ist.
({0})
Herr Kollege Erler, ich darf vielleicht noch einmal ganz klar herausstellen, warum ich Ihnen diese Dinge hier ausdrücklich vorgeführt habe. Ich bin nämlich der Meinung, daß die Opposition nicht gut daran täte, dieses Doppelspiel fortzusetzen.
({0})
Entweder soll sie sagen, sie sei für Mehrausgaben. Gut, das ist ihr Standpunkt; die Regierung und die Regierungsmehrheit werden dann entscheiden, was geschehen soll. Aber sie kann nicht gleichzeitig immer und überall mehr verlangen und der Regierung auf der anderen Seite den Vorwurf machen, es sei zuviel ausgegeben worden. Darum geht es.
({1})
- Ich darf vielleicht darum bitten, daß Sie diese Dinge, die für Sie vielleicht hart sein mögen, trotzdem einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Ich darf auf diesen Punkt, der mit der längerfristigen Haushaltsplanung im Zusammenhang steht, noch näher eingehen. Die SPD hat uns immer vorgeworfen, daß wir keine Schwerpunkte bildeten, die auch im Haushalt abzulesen seien. Ich habe mich bei der ersten Lesung des Haushalts 1965 der Mühe unterzogen, diese Schwerpunkte ganz klar herauszustellen. Ich darf auf meine damaligen Ausführungen verweisen, aus denen sich diese Schwerpunkte, Beseitigung der Kriegsfolgelasten, Wiedergutmachungsleistungen, soziale Ausgaben, Verteidigungsbeitrag und dann als neue Schwerpunkte Straßenbau, Verkehrsförderung und jetzt Wissenschaft und Forschung ergeben, verweisen. Der SPD war diese Schwerpunktbildung nicht genug. Sie verlangte und verlangt einen Mehrjahreshaushalt mit einer genauen Planung für die Zukunft. Sie selbst hat im Juli 1965 für den Bund eine solche konkrete Vorausplanung vorgelegt und war auf diese sehr stolz. Ich darf zitieren, was im SPD-Pressedienst vom 6. September 1965 darüber gestanden hat:
Die SPD ist vor dieser Bundestagswahl 1965 die einzige Partei, die den Mut und das Verantwortungsbewußtsein hat, ein klares und ausgewogenes Ausgaben- und Finanzierungsprogramm für die nächste Legislaturperiode vorzulegen und damit die Erklärung zu verbinden, daß sie die Steuern nicht erhöhen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer allerdings erwartet hatte, daß die rund 20 Programme, die von der SPD im Verlaufe des Wahlkampfes verkündet worden sind, mit genauen finanziellen Berechnungen vorgelegt worden wären, sah sich getäuscht.
({3})
Immerhin wurde eine konkrete Vorausberechnung der Einnahmen des Bundes für die kommenden vier Jahre gegeben. Dabei errechneten Kollege Alex Möller und seine Mitarbeiter zunächst eine Zuwachsrate von 76 Milliarden DM - basierend auf der Einnahmeentwicklung der Jahre 1961 bis 1965. Auf dieser Basis wurden die verschiedenen Ausgabenbereiche mit ihren Steigerungsquoten von der SPD festgesetzt. Dabei ging die SPD in ihrem Finanzierungsplan von der Voraussetzung aus, daß über 50 Milliarden DM dieser Mehreinnahmen bereits durch bestehende Verpflichtungen fetsgelegt seien. Rund ein Drittel sollte der Finanzierung der SPD- Programe dienen. Die konkrete Summe, die sie von dieser Gesamtsumme abzweigen wollte, wurde immer wieder geändert - von einem Volumen von 25 Milliarden DM bis schließlich herunter auf 18,5 Milliarden DM.
Dieses große Programm mit einer Fülle von Programmpunkten wurde von der SPD herausgestellt, aber die genauen Zahlenangaben fehlten. Man konnte nur in einzelnen Fällen recht mühsam irgendwelche Anhaltspunkte finden. So ist z. B. Zahlenmaterial für die sogenannte Volksversicherung vorgelegt worden. Dieses Zahlenmaterial wurde sofort lebhaft umstritten und nie ganz klargestellt. Pauschal waren auch die Angaben darüber, daß etwa 5 % des Bruttosozialprodukts für Bildung und Kultur ausgegeben werden sollten. Weiter wurde die Angabe gemacht, daß ab 1. Januar 1967 1 % des Gesamtsteueraufkommens zusätzlich an die Gemeinden zu leiten sei. Außerdem sollte die Gemeindequote an der Treibstoffsteuer auf 15 % erhöht werden.
Auch zur Agrarfinanzierung wurden einige konkrete Zahlen genannt, die aber von verschiedenen Stellen der SPD wiederum verschieden angegeben wurden. In der Quotenaufschlüsselung des neuen Kollegen Klaus Dieter Arndt ist eine Zahl von 8 Milliarden DM genannt. In der Presseverlautbarung vom 13. August 1965 errechnet sich dann plötzlich ein Mehr von 4,5 Milliarden DM, wobei für 1969 ein Gesamtbetrag von 5,2 Milliarden genannt ist. Nach einer Presseerklärung von Professor Schiller am 4. Juli 1965 war jedoch für das Jahr 1969 plötzlich wieder eine Summe von 6,06 Milliarden DM vorgesehen.
Schon aus diesen wenigen Zahlen ergibt sich die Fragwürdigkeit der Finanzierung dieser rund 20 Programme.
({4})
Man muß sich die Frage stellen, wie sich solche Widersprüche erklären. Vor allem aber muß man sich fragen, wo das genaue Finanzierungsprogramm, aus dem sich die SPD-Berechnungen für ihre Einzelprogramme ergeben, bleibt. Nicht einmal durch recht provokatorische Gegenrechnungen des Deutschen Industrieinstituts konnte sich die SPD dazu bewegen lassen, hier genaue Einzelangaben zu machen. Die Ausflüchte des SPD-Vorsitzenden Herrn Brandt klingen wirklich sehr lahm. Er erklärte am 2. September 1965 im Fernsehen, auf diesen Punkt angesprochen:
Das Finanzierungsprogramm jetzt insgesamt zu veröffentlichen, würde bedeuten, daß ein wichtiges Werk dem Druck der Interessengruppen ausgesetzt würde. Das wollen wir nicht.
({5})
Hier sind sie jetzt plötzlich, diese Interessengruppen!
Die Zurückhaltung des damaligen Kanzlerkandidaten erwies sich allerdings als berechtigt. Binnen vier Wochen mußte die SPD unter dem Druck der sachkundigen Kritik ihr stolzes Werk demontieren.
({6})
Der Rückzug erfolgte in der Presseerklärung vom 9. September 1965. Nachdem zunächst auf vier Seiten Sperrfeuer geschossen wurde gegen die Einwände von Franz Josef Strauß, gegen die Einwände der CDU, gegen die Einwände des Industrieinstituts, gab Alex Möller am Schluß endlich zu, daß die für den Bund zu erwartenden Einnahmen nicht wie bisher
behauptet 76 Milliarden DM, sondern nur 48 Milliarden DM ausmachen würden.
({7})
Mit einem Zauberschlag verschwinden plötzlich 28 Milliarden DM. Ich weiß nicht einmal, ob der Mitarbeiter Klaus Dieter Arndt dazu gekommen ist, diese 28 Milliarden DM von seiner Quotenaufteilung abzusetzen; in der Öffentlichkeit jedenfalls wurde davon nichts bekannt. Die SD-Wahlprogramme blieben dennoch unverändert. Das alles nährt doch einen schrecklichen Verdacht: Hielt es die SPD gar mit dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern? Gab es ein solches Finanzierungsprogramm am Ende etwa überhaupt nicht? Es wäre jedenfalls begreiflich, wenn die fleißigen Finanzexperten des SPD-Parteibüros die Ubersicht über diese Programmflut verloren hätten und mit dem Aufrechnen nicht mehr nachgekommen wären.
({8})
Ich möchte nicht annehmen, daß die Sammlung dieser SPD-Programme jetzt nach der fünften Wahlniederlage der Opposition eingemottet und erst 1969 wieder hervorgeholt wird. Weil wir aber annehmen, daß diese Punkte auch im Oppositionsprogramm der nächsten Jahre eine Rolle spielen, deshalb müssen wir nach der finanziellen Seite all dieser Vorhaben fragen.
Alex Möller hat an das Ende seines Rückzugs bei diesen mißglückten Einnahmevorausschätzungen einen goldenen Satz gestellt, den ich hier wiederholen darf:
Wer Geldwertstabilität will, muß sich nach der der Decke der Zukunft strecken.
({9})
Diese Decke wird zwar größer sein; sie ist aber nicht groß genug für Ausgabenerhöhungen an allen Fronten.
Der abgetretene Kanzlerkandidat Brandt hat in seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender - das ist er noch - erklärt, daß die Opposition ein sachliches Alternativprogramm vorstellen wolle.
({10})
Hier in dieser Debatte ist zum erstenmal Gelegenheit, diesen neuen Stil der Opposition in Finanzfragen zu demonstrieren.
({11})
Ich muß leider feststellen, daß die erste Rede des Kollegen Erler dazu wenig Hoffnung gibt.
Die Bundesregierung hat sich bei der Verkündung ihres Sparprogramms für das Haushaltsjahr 1965 auch ganz klar für die künftigen Jahre ausgesprochen. Der Bundeskanzler hat heute abend im Wortlaut zitiert, was die Bundesregierung bereits am 12. August 1965 über notwendige Kürzungen und Hinausschiebungen auch bei Gesetzen ausgeführt hat; das geschah am 12. August dieses Jahres, mitten im Wahlkampf. Kollege Möller hat einen Tag später in einer Presseerklärung folgendes festgestellt:
Wir Sozialdemokraten haben klar zum Ausdruck gebracht, daß wir bei diesem finanzpolitischen Erbe es als die vordringlichste Aufgabe ansehen, das Jahr 1966 zum Jahr der Sicherung einer stabilen Finanzordnung zu machen.
({12})
Sie sehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat diese Maßnahmen bereits eingeleitet. Sie hat inzwischen nicht nur das Haushaltssicherungsgesetz eingebracht. Sie hat bereits auf Kabinettsebene Kürzungen in Höhe von mehr als 2 Milliarden DM durchgeführt, und sie wird noch weitere Kürzungen in Höhe von mehr als 2 Milliarden DM vornehmen. Wir von seiten der Koalition haben uns vorgenommen, im Parlament ebnfalls weitere Kürzungen vorzunehmen.
({13})
Dort liegt die Antwort auf Ihre Frage, wie wir dieser Verantwortlichkeit gerecht werden wollen. Es sind inzwischen nicht allein Vorschläge zur Änderung des Art. 113 des Grundgesetzes gemacht worden; es sind auch Vorschläge in Arbeit, die Geschäftsordnung dieses Hohen Hauses zu ändern, um in der Zukunft für die Sicherung der Währungsstabilität auch das notwendige Instrumentarium in der Hand zu haben.
Der inzwischen abgelöste Kanzlerkandidat der SPD hat für seine nichtrealisierten Kanzlertage der Presse erklärt:
Als erstes würde eine Beratung mit meinen
engsten Mitarbeitern darüber sein, wie wir die
Menschen in der Bundesrepublik ins Vertrauen
ziehen, um zu einer Rangordnung der Aufgaben zu kommen.
({14})
Die Regierung - das darf ich hier feststellen - hat inzwischen bereits gehandelt.
({15})
Es bleibt die Frage an die SPD: Will die SPD die Sorge um die Stabilität mit uns tragen? Das heißt konkret: Ist sie bereit, ihre Vorschläge in den Gesamtrahmen des verfügbaren finanziellen Haushaltsvolumens einzuplanen?
({16})
Es ist die Frage: Wird die SPD die Regierung bei ihrem Bemühen sachlich unterstützen?
Ich darf noch einmal Kollegen Möller zitieren, der laut Stuttgarter Nachrichten am 8. August dieses Jahres erklärt hat, daß der Bund über beträchtliche stille Reserven verfüge.
({17})
Auch im Landwirtschaftsetat habe er einige Polster. Jetzt kommt die Frage: Will Kollege Möller uns konkret sagen, was er damit meint und wo diese Stellen sind?
({18})
Wenn Parteivorsitzender Brandt erklärt, die SPD wolle ein sachliches Alternativprogramm entwickeln,
({19})
dann frage ich: Wo sind diese sachlichen Alternativen?
({20}) .
Oder aber soll das alte Spiel weitergehen, daß man die Regierung und die Koalition wegen zu hoher Ausgaben kritisiert,
({21})
daß man weiterhin so wie bisher von Wahlgeschenken spricht?
({22})
Der Finanzexperte der SPD, der in einer Pressekonferenz am 19. August in Frankfurt konkret gefragt worden ist, worin er denn diese Wahlgeschenke sehe, hat darauf die Antwort gegeben, er halte eine solche Frage für „groben Unfug" und eine Antwort darauf für „einen politischen Selbstmord".
({23})
Ich darf die Frage noch einmal an den Kollegen Erler richten. Der Kollege Erler hat heute abend hier auch wieder von Wahlgeschenken gesprochen.
({24})
Ich fragen den Herrn Kollegen Erler und alle anderen Herren von der SPD, die hier so lautstark zustimmen: Welche Gesetze - bitte genau -, welche Anträge bezeichnen sie als Wahlgeschenke?
({25})
Die Opposition wird Antwort geben müssen auf die Frage, ob sie künftig den Realzuwachs des Bruttosozialprodukts als Orientierungsgrenze anerkennt oder aber ob das Wort vom Herrn Minister Kubel zu gelten hat. Wenn die SPD sich nach der finanziellen Decke strecken will, dann heißt das konkret, daß sie ihre Anträge auf die verfügbare Finanzmasse begrenzt. Das würde dann eine sehr interessante Auseinandersetzung in diesem Hause bedeuten, nämlich die Auseinandersetzung über die Rangfolge der einzelnen Leistungen.
({26})
Für die Opposition würde das bedeuten, daß sie um ihrer Glaubwürdigkeit willen auch sagen müßte, wo sie die zusätzlichen Milliarden, die sie für ihre Programme benötigt, wegkürzen will und wo sie Einsparungsvorschläge machen will.
({27})
Wenn die Opposition heute zu diesem neuen realistischen Stil in der Finanzpolitik fände, so wäre das ein gutes Ergebnis dieser Debatte. Die SPD könnte sich dann in Wahrheit um die Stabilität verdient machen. Wir haben jetzt 16 Jahre lang wortgewaltige Negation von der SPD erlebt. Die Mißerfolge der Opposition bei den Wahlen waren fünfmal deutlich. Ich frage: Will die SPD diesen erfolglosen Weg weitere vier Jahre fortsetzen?
({28})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Schiller.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 141 Abgeordnete sind neu in diesen Bundestag eingezogen. Einer von denen spricht zu Ihnen. Viele Erwartungen, viele guten Vorsätze
({0})
- nun hören Sie doch mal zu - und große Bereitschaften kommen daher.
({1})
Wir fragen uns - ich spreche jetzt für diese 141 - -({2})
- Was ich jetzt sage, werden Sie sicherlich billigen; lassen Sie mich mal ausreden, Sie werden es sicherlich billigen! Wir fragen uns: Wird es den alten wie den neuen Mitgliedern dieses Hohen Hauses gelingen, dieses Parlament in seiner Stellung im politischen Leben unserer Republik zu stärken, wird es aus dem Schatten heraustreten, in den es deutlich in einer langjährigen Entwicklung hineingeraten ist?
({3})
Das ist die Stätte hier, in der in freier Rede
({4})
- gar nicht nach Schiller; Sie können auch Grass nehmen -({5})
über die deutsche Politik, über ihre Grundsätze, über ihre Ziele und Mittel gesprochen werden soll.
({6})
Ich glaube, dieses Parlament ist nicht lediglich eine Riesenmaschine - wir sind uns wohl alle darüber einig -, die mit Bienenfleiß unaufhörlich Gesetze produziert und über das Land ausschüttet.
({7})
So fragen wir uns: Wird es gelingen, mit diesem Parlament einen neuen Anfang zu machen, und wird es gelingen, mit unserer Demokratie eine Erneuerung herbeizuführen?
Meine Damen und Herren, mit diesen Gefühlen sahen viele von uns der Regierungserklärung am 10. November entgegen. Es sollte doch wohl eine Botschaft über die Lage der Nation sein, deutlich
und womöglich kühn in den Zielen, abgewogen in den Rangordnungen, klar in den Wegen und Mitteln,
({8})
eine Botschaft an eine Nation, deren einer Teil nun schon 20 Jahre in Unfreiheit leben muß und deren anderer Teil seine Aktivitäten in eine Wirtschaftsgesellschaft hat einströmen lassen, an eine Nation, die insgesamt, wie die Times neulich gesagt hat, noch auf der Suche nach ihrem Staat ist.
Gab die Regierungserklärung vom 10. November da ein neues Zeichen? Stellte sie in diesem Sinn eine Aufforderung zu neuen Ufern für uns alle dar? Kann jemand feststellen, es war eine Erklärung von geradezu lateinischer Klarheit, keine Spur von romantischem Waldweben und auch kein Versandhauskatalog von gängigen politischen Markenartikeln? - Wohl kaum!
Um dies ganz klarzumachen, möchte ich an einigen Stellen, an einigen wesentlichen Punkten versuchen, diese Regierungserklärung an einer möglichen Botschaft über die Lage einer Nation zu messen. Zuerst müßte zu unserer gesamtdeutschen Lage, zu unserem gesamtdeutschen Elend gesprochen werden. In der Erklärung stehen ernste, notwendige und richtige Worte. Aber Wichtiges fehlt. Wie wäre es, wenn in der Botschaft auch stünde - und nun darf ich aus dieser möglichen Botschaft zitieren -:
„Die Bundesregierung gibt im folgenden einen ausführlichen Bericht über die ökonomischen, sozialen und geistigen Lebensbedingungen unserer Landsleute in der Zone, über ihre Probleme, ihren Alltag, ihre Arbeitsverhältnisse, ihre Mühen und auch ihre kargen Fortschritte - ohne dabei die Machthaber dort auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen."
Das war das Zitat. Ich glaube, meine Damen und Herren, dieser Vorschlag ist sehr schnell zu begründen. Wir alle hier bekennen uns zum Alleinvertretungsrecht für das ganze deutsche Volk. Hat da nicht der erste Sprecher dieses Landes das Recht und die Pflicht, auch von dem im einzelnen zu reden und zu berichten, was drüben vor sich geht, damit die westdeutsche Bevölkerung das aus höchstem Munde vernimmt und damit die Welt nicht glaubt, wir hätten nach zwanzig Jahren das Interesse an dem anderen Deutschland verloren? Ein solcher Bericht aus Bonn über das andere Deutschland gehörte doch wohl an die Spitze einer Botschaft über die Lage der Nation.
Und ein Zweites vermissen wir: in ihrer Erklärung - in der Erklärung der Bundesregierung vom 10. November - äußert sie einiges über den Zusammenhalt der beiden Teile unseres Vaterlandes. Gewiß ganz richtig, aber warum steht nicht auch dort - und ich darf wieder fiktiv zitieren -:
„Wir werden den Interzonenhandel so weit wie möglich ausbauen. Dieser Interzonenhandel soll kein Mauerblümchen in unserem Wirtschaftsleben sein. Wir werden den innerdeutschen Reise- und Besucherverkehr fördern. Der innerdeutsche Reisescheck - sicherlich nur ein technisches Instrument zwischen beiden Währungsgebieten - wäre ein Fortschritt. Wir werden die Zuständigkeiten des Bundes in diesen Angelegenheiten straff zusammenfassen, und wir wollen die Möglichkeiten verwaltungsmäßiger Erleichterungen voll ausschöpfen. Wir sind zu ökonomischen Opfern bereit, wenn das der Sache dient.
Und, meine Damen und Herren, ich glaube, es wäre gut, wenn ein solcher Bericht mit folgenden Sätzen abschlösse:
„Zwanzig Jahre sind genug. Die kommenden vier Jahre sollen nicht auch noch zu den verlorenen Jahren gehören. Deswegen will die Bundesregierung noch einmal ein Versuch machen für eine Deutschlandinitiative mit Substanz. Sie bittet daher die Parteien, mit ihr sofort in eine eingehende, ausführliche und vertrauliche Beratung einzutreten über ihre Vorstellungen von dem, was man als gemeinsames Papier den Allierten unterbreiten könnte.
Ein solches Papier der Gemeinsamkeit ist doch wohl möglich und wohl auch notwendig. Solange wir in diesem Punkte, meine Damen und Herren, nicht zu einem Ergebnis kommen, nicht zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, müssen wir eindeutig und klar feststellen: Im gesamtdeutschen Sinne ist die Nachkriegszeit noch nicht zu Ende.
({9})
Nun komme ich zu dem wirtschafts-, finanz- und gesellschaftspolitischen Teil der Regierungserklärung. Wir sprechen ja hier über die Regierungserklärung und nicht über Einzelheiten aus dem Wahlkampf, nicht wahr?
({10})
- Das waren keine Einzelheiten aus dem Wahlkampf.
In diesem Bereich glaubte der frühere Bundeswirtschaftsminister in ganz besonderem Maße die Wurzeln seiner Kraft zu sehen. Es ist derselbe Bereich - Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik -, der jetzt von dem Bundeskanzler gleichen Namens nicht ohne Sorge, wie er sagt, betrachtet werden kann.
Die Regierungserklärung konfrontiert uns auf sehr allgemeine Weise mit veränderten wirtschaftlichen Situationen. Meine Damen und Herren, wir müssen das nun etwas genauer darstellen.
Vom Sommer 1964 bis zum Herbst 1965 - in wenig mehr als einem Jahr - hat sich die gesamtwirtschaftliche Szenerie gründlich gewandelt. Die großen Ausfuhrüberschüsse sind einem recht bescheidenen Exportsaldo gewichen. An die Stelle unsere Sorge über die „importierte Inflation" ist nun die Gefahr der „hausgemachten" Inflation getreten. Die Steigerung des Lebenshaltungskostenindex mit bisher 3,8 % in diesem Jahr stellt schon einen Rekord dar. Es sind die höchsten Preissteigerungen seit Korea. Dieser Umschwung in der Gesamtkonstellation - das muß nun einfach am AnDr. Schiller
fang als ganz klares Faktum festgestellt werden - hat stattgefunden in den zwei Jahren, in denen Ludwig Erhard Kanzler war.
({11})
Meine Damen und Herren, wir alle wisen: die Bevölkerung ist tief beunruhigt über die Preiswelle, die in diesen Wochen in einem besonderen Maße zu fühlen ist. Dabei dürfen wir die Bewegung der Preise und der Löhne nicht allein aus der heutigen Situation erklären. Die Weichen für diese heutige Bewegung, für diese heutige Preiswelle wurden viel früher gestellt, nämlich im Sommer und Herbst 1964. Damals stand die Bundesregierung - im Sommer 1964; wir müssen daran erinnern - vor der Aufgabe, zu überlegen, wie sie die großen Ausfuhrüberschüsse und damit die Gefahr der importierten Inflation wegbringen sollte.
Verschiedene Mittel wurden dazu empfohlen. Die SPD schlug vor, gewisse umsatzsteuerliche Veränderungen im grenzüberschreitenden Verkehr zu machen. Diesem Gedanken, so glaube ich, hatte sich auch das Bundeswirtschaftsministerium angenähert. Der Gedanke wurde verworfen.
Zweitens: Der Kanzler spielte damals mit dem Gedanken einer Schocktherapie, wie das seinem Naturell so naheliegt, mit dem § 23 des Außenwirtschaftsgesetzes, also der Einführung der negativen Devisenbewirtschaftung. Wir wurden damals nicht gehört - wenigstens damals nicht.
Drittens: Der Sachverständigenrat empfahl flexible Wechselkurse. Auch das wurde verworfen.
Was tat die Regierung in dieser Situation im Herbst 1964? - Teils durch Entschluß, teils durch Treibenlassen - „halb zog es sie, halb sank sie hin" - ging sie einen anderen, bequemeren Weg, nämlich den Weg, das deutsche Preis- und Lohnniveau ansteigen zu lassen, bis die Ausfuhrüberschüsse verschwunden waren. Man ging also den Weg der Anpassung nach oben. So wurde die „importierte Inflation" durch die „hausgemachte" ersetzt, und mit Recht hat einer der prominentesten deutschen Banker kürzlich gesagt: Der Ausgleich der Handelsbilanz war doch beabsichtigt.
Meine Damen und Herren, den Prozeß, den ich soeben geschildert habe, zu später Stunde und sehr zu Ihrem Unmut
({12})
- dann nehme ich es an als ein freundliches Schweigen von Ihrer Seite -, der durch jene Entscheidung oder durch jenes Gewährenlassen in Gang gekommen ist, erleben wir heute in Entfaltung. Niemand sollte sich heute über diesen Prozeß, über diese Preissteigerungen wundern, am wenigsten die Bundesregierung. Man müßte allerdings fragen: Hat die Bundesregierung, als sie jenen Weg der Anpassung des deutschen Preis- und Lohnniveaus nach oben ging, bedacht, was sie damit begann? Sie hätte wissen müssen, daß das deutsche Volk nach zwei Inflationen äußerst sensibel, ja, inflationsbewußter ist als jede
andere Industrienation. Man hätte wissen müssen, welche Büchse der Pandora man da öffnete.
({13})
- Ich habe unseren Vorschlag vorhin erwähnt. Sie werden es gehört haben.
({14})
- Ja, wieso? Das war das Wegbringen der Exportüberschüsse - wenn Sie es nicht verstanden haben sollten.
({15})
- Nein, ich habe Ihnen den ersten Vorschlag . .
({16})
- Das war der entscheidende Vorschlag, um die Exportsalden wegzubringen, ja. Tut mir furchtbar leid.
({17})
Nun gut, die Regierung hat damals diese Entscheidung der Anpassung des Preisniveaus nach oben getroffen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Ich darf eben diesen Gedanken zu Ende führen. Hätte die Regierung damals, als sie diesen Versuch machte und diese Entscheidung traf, nicht alles unternehmen müssen, um den Prozeß der Anpassung nach oben unter Kontrolle zu bringen?
({0})
Bitte sehr!
Herr Kollege Professor Schiller, müßten Sie, wenn Sie schon diese Maßnahmen, die seinerzeit getroffen oder nicht getroffen worden sind, hier erläutern und die Adjustierung erwähnen, nicht auch die Kuponsteuer erwähnen, die ja auch einen dieser Ströme, die zur importierten Inflation beigetragen haben, aufhalten sollte und die von Herrn Erler als untaugliche Maßnahme dargestellt worden ist?
Darf ich auf die Kuponsteuer nachher noch in dem Zusammenhang zurückkommen, in den ich sie gestellt habe.
({0})
- Ja, kommt auch. ({1})
Auf jeden Fall: Wenn man diesen Prozeß der Anpassung der Preise und Löhne nach oben wollte, hätte man gleichzeitig eine strenge und straffe
antizyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben müssen.
Nun geht es mir nicht um den Sommer 1965, auch nicht um das, was in den Wochen vor Abschluß der letzten Legislaturperiode passiert ist, sondern um das erste halbe Jahr 1965. Und da sehen Sie, meine Damen und Herren, daß man den Prozeß der Preis- und Lohnsteigerung eben nicht unter Kontrolle hatte. In jener Zeit sind die Gesamtausgaben des Bundes - im ersten Halbjahr 1965 - um 12,6 % gestiegen. Die reale Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts betrug dagegen in demselben Zeitraum nur 5,2 %. Das heißt, tatsächlich hat sich im ersten halben Jahr 1965 eine inflationäre Lücke aufgetan, die Beweis dafür ist, daß man den Prozeß nicht unter Kontrolle hatte. Sie war die Ursache für die Preissteigerungen und die Lohnbewegungen, die wir heute erleben.
({2})
- Aber natürlich! Wir leben doch in dem Prozeß drin.
({3})
- Warum denn nicht? Sie müssen es gesamtwirtschaftlich sehen.
({4})
- Das ist gar keine Theorie, sondern das ist eine einfache sachliche Feststellung dessen, was an Vorgängen in dieser Volkswirtschaft seit dem Sommer 1964 in Gang gebracht worden ist.
({5})
Nun, meine Damen und Herren, man hat keine antizyklische Politik betrieben. Man hat nicht gegengehalten, sondern man hat wahrscheinlich sogar die leicht inflationäre Euphorie des Wahljahres 1965 als gar nicht so unwillkommen empfunden. Ein Bundesrichter a. D. hat ja inzwischen in bezug auf das, was dieses Jahr 1965 finanziell bedeutete, „die Katze aus dem Sack gelassen".
So ist es auch erklärlich, daß man die Mehrausgabenbeschlüsse dieses Parlaments - wer auch immer sie gefaßt hat, und das war ja nun die Mehrheit
- von seiten der Regierung willig hingenommen hat. Weshalb ist denn der Kanzler nicht auf Grund der Berechnungen der einzigen Stelle, die dazu in der Lage ist, nämlich des Bundesfinanzministeriums, vor das Parlament getreten - rechtzeitig vor das Parlament getreten, nicht erst, wie es geschehen ist, mit einer Verlautbarung an die Öffentlichkeit im August, als das Parlament nicht mehr in Aktion war
- und hat den Rahmen vorgetragen und dabei klipp und klar gesagt: Ihr überschreitet mit Euren Bewilligungen diesen Rahmen des Möglichen!? Das ist nicht erfolgt. Man ließ die Dinge laufen, und man hatte Genuß an der Euphorie der Zeit vor der Wahl.
Nun kommt die Bundesregierung mit einem Notbudget, mit einem Kürzungsprogramm daher. Dieses Kürzungsprogramm selber, das Haushaltssicherungsgesetz, ist auf den Wandel einer Szenerie abgestellt, der noch schneller vor sich ging als der gesamtwirtschaftliche Wandel. Es war einfach die Konstellation: „vor Tisch - nach Tisch". Vor Tisch wurde in Wohlstand gemacht, vor Tisch wurden die Begehrlichkeiten aller geweckt.
({6})
- Ich war gar nicht dabei, ich konnte gar nicht dagegen stimmen.
({7})
Aber nach Tisch ruft man die einst geladenen und gern gesehenen Gäste zur Kasse.
Herr Abgeordneter, hier wird eine Zwischenfrage gewünscht.
Bitte!
Herr Kollege Schiller, Sie sprachen von einem Notbudget. Halten Sie einen Haushalt, der um 8,4% über dem des Vorjahres liegt, für ein Notbudget?
Ich meine mit dem Notbudget weiter nichts als die 2,9 Milliarden des Kürzungsprogramms. Ich glaube, das ist eine klare Auskunft.
Zu diesem Vorgang, daß man die Gäste erst zu Tisch lädt und sie dann hinterher zur Kasse fordert, können wir sagen: Das ist Ihr Tisch, nicht unser Tisch!
({0})
„Genuß mit Reue",
({1})
das wollen wir der Bundesregierung überlassen. Allerdings kommt die Reue zu spät.
Herr Abgeordneter, hier wird eine weitere Zwischenfrage gewünscht.
Bitte!
Herr Kollege Schiller, gilt das „Genuß mit Reue" auch für Ihre Fraktion?
Das haben Sie eben ja gemerkt; die Fraktion war sehr damit einverstanden.
Allerdings kommt das, was heute von der Bundesregierung als Kürzungsprogramm offeriert wird, zu spät. Das von der Regierung eingebrachte Kürzungsprogramm wäre für das Jahr 1965 bitter nötig gewesen. Für das Jahr 1966 kann dieses Programm konjunkturpolitisch sogar falsch sein. Ich zitiere als Beleg für die Zweifel nur den BDI, den Bundesverband der Deutschen Industrie, der - laut Industriekurier vom 13. November - folgendes warnend erklärt hat:
Die Dämpfungsmaßnahmen trafen bisher, selbst wenn sie im Höhepunkt des Aufschwungs ergriffen wurden, oft die Produktion mit voller Härte, wenn die Kräfte des Marktes bereits den Aufschwung eingeleitet hatten,
Der BDI warnt vor der nächsten Zeit, indem er sagt:
Nur einer florierenden Wirtschaft schadet der Aderlaß an Liquidität zugunsten der öffentlichen Kassen nicht. Was geschieht aber bei uns, damit die Wirtschaft weiter blüht? Die ihr zugemutete Funktion des Prügelknaben ist wahrlich kein Leitbild zur Prosperität.
Das, meine Damen und Herren, war der Bundesverband der Deutschen Industrie in seiner Stellungnahme zu diesen Maßnahmen. Ich brauche diesen Sätzen nichts oder kaum etwas hinzuzufügen.
Das alles zeigt, ein einmaliger verspäteter Ruck an der Notbremse, wie ihn das Kürzungsprogramm darstellt, genügt nicht mehr. Eine vollständige Überprüfung unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik ist nötig. Ein Konzept ist vonnöten, das uns über mehrere Jahre hinweg erlaubt, die Lasten, die Aufgaben und die Möglichkeiten der Deckung zu verteilen.
Was finden wir dazu, zu dem Konzept der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf mittlere Frist, in der Regierungserklärung? Meine Damen und Herren, wir finden viele Beschwörungen und Appelle, Seelenmassage nach freischaffender Künstler Art; aber wohin soll die Reise gehen?
({0})
- Ach Gott, der Name Schiller - an den werden Sie sich hier auch gewöhnen;
({1})
kommt schon noch! - Sätze von atemberaubender Kühnheit sollen uns den Weg weisen. Ich werde einen verlesen: „Das Post- und Fernmeldewesen ist für jede entwickelte Volkswirtschaft ein unentbehrlicher Faktor." So weit das Zitat.
({2})
Und im Verfolg dieser bewegenden Aufklärung - es bewegt Sie auch, wie ich eben merke - heißt es weiter, wird dann die Bundesregierung prüfen, welche Maßnahmen „ ... zu treffen sind",... geeignet sind", ... möglich sind", „ ... Sorge tragen" usw. - So geht es seitenlang, Seite auf, Seite ab.
({3})
Ich darf nur bemerken: das ist jene Sprache der puren Binsenweisheit - die muß man hier einmal so nennen! -,
({4})
wie sie Walter Jens einmal charakterisiert hat. ({5})
- Ich bringe jetzt ein Zitat von einem vielleicht auch Ihnen nicht unbekannten deutschen Schriftsteller; ,es lautet: - ({6})
- Sie sind schon vorher so erregt. Es ist ein ganz nettes und einfaches Zitat. Das Zitat lautet, und es
ist stellvertretend für das meiste, was in dieses
Regierungserklärung steht: „Die Familie ist nütz
lieh, und der Sport dient der Körperertüchtigung.'
({7})
In diesem Sammelsurium von Allgemeinheiter finden wir dann den überlebensgroßen Gedanker von der deutschen Überstunde,
({8})
als wirklich Konkretes. Zu dem überlebensgroßer Gedanken der deutschen Überstunde brauche ich mich nicht mehr zu äußern, das Nötige hat dazu Herr Erler gesagt, und im übrigen sehe ich heute abend in dieser Stunde von acht bis neun, wie Sie von der CDU/CSU eine deutsche Überstunde auffassen.
({9})
- Ja, wir können auch eine Büttenrede halten. ({10})
Dann spricht der Kanzler im konjunkturpolitische: Zusammenhang von einem „weitentwickelten Instrumentarium". Wo ist das sagenhafte Instrumentarium?
({11})
- Ich frage den Kanzler! Ich habe es ja nicht gesagt. „Wettentwickeltes Instrumentarium" - ich wage so etwas gar nicht zu behaupten.
({12})
- Aber er hat es in seiner Regierungserklärung! vom 10. November gesagt. Auf jeden Fall kann ici nur sagen: Aus der schönen Anlage Nr. 1 zum Wirtschaftsbericht der Bundesregierung 1964, Nachtrag - das war ein Lehrbuch über das moderne konjunkturpolitische Instrumentarium -, ist in de Realität nichts geworden. Wie es beim Kanzler ist Die Welt als Wille und Vorstellung! Das war nicht Schiller!
({13})
Da gibt es noch ein anderes Konkretum. Es ist das famose Deutsche Gemeinschaftswerk als Grundlage
- wörtlich!- für eine antizyklische Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand. Dazu ist zweierlei zu sa gen:
Erstens, meine Damen und Herren: Abschöpfung der durch die Steuerprogression bei Zunahme de Einkommen insgesamt anfallenden Mehreinnahme
- daraus soll das Deutsche Gemeinschaftswerk ja
- finanziert werden -, das bedeutet also: keine Steuersenkung, Aufschub jeglicher Steuersenkung bi ans Ende der „Formierten Gesellschaft".
({14})
Dann ein Zweites. Wichtig ist auch hier die Dimension. Wir wollen hier über Zahlen reden, übe die Globalzahlen. Der Bundeskanzler hat gesagt Ein Prozent des Bruttosozialprodukts. Das wäre: jährlich 4 bis 5 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, für das Jahr 1966 kann man ungefähr
schätzen, daß die öffentlichen Hände - Bund, Länder, Gemeinden, mit den hilfsfiskalischen Einrichtungen - Investitionen von 36 Milliarden DM tätigen werden. Ich frage nur: Wie soll man angesichts dieser Größenverhältnisse mit einem Sondertopf „Gemeinschaftswerk" von 4 Milliarden DM gegen die gesamte übrige öffentliche Investitionsmasse antizyklische Politik betreiben? Das ist meine Frage. Ist es dann nicht viel wichtiger, Instrumente zu schaffen, die auf das Ganze der öffentlichen Investitionen hinwirken? Ist nicht also eine globale Steuerung notwendig?
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler liebt überhaupt nicht die sich hier andeutende Politik auf mittlere Sicht, die mittelfristige Finanzplanung, auch wenn er das Wort nennt. Er liebt nicht das geduldige, vorausschauende, systematische Ansteuern der Ziele etwa auf der Basis eines mehrjährigen Plans. Der Kanzler liebt mehr die Augenblickshandlung, das Übersteigern seiner Kräfte und Anstrengungen in einem Punkt und in einer akuten Situation.
Genau ein solches Verfahren führt dazu, daß man nach der einmaligen Anstrengung die Dinge wieder selbst weitertreiben läßt, so daß man dann womöglich ins andere Extrem gerät. Das ist die einmalige Anstrengung des Kürzungsprogramms. Das ist genau die Politik, die heute und morgen nicht angebracht ist.
Nun, meine Damen und Herren, werden Sie mich fragen - und ich bin schon gefragt worden, auch in der Debatte, in Nebendebatten -: Wie stellen sich die Sozialdemokraten den weiteren Gang der Dinge vor?
({15})
- Ich werde Ihnen einiges skizzieren. Ich kann Ihnen nicht alles sagen. Sie haben ja auch noch nicht das Zauberwort gefunden, daß man mit einem Wort alles zugleich sagen kann. Ein bißchen Geduld müssen Sie schon haben mit Leuten, die einen langsamen Verstand haben.
({16})
Ich würde als erstes sagen: Eine Regierungserklärung in der heutigen Situation müßte der Bevölkerung für die kommenden vier Jahre klare quantitative ökonomische Ziele setzen. Damit würde ich anfangen, um auch mit der mittelfristigen Finanzpolitik überhaupt weiterzukommen. Es müßte also heißen: „Trotz der erschwerten Umstände hält es die Bundesregierung" - so würde ich sagen - „für möglich, in den kommenden vier Jahren das reale Bruttosozialprodukt jährlich um 5 % zu steigern." Ebenfalls ist es, glaube ich, möglich, in den kommenden vier Jahren den Produktivitätsfortschritt von 5,5 % fortzusetzen, jenen Fortschritt, den wir in den letzten Jahren hatten.
Dieser Produktivitätsfortschritt ist das Ergebnis
- das wissen wir alle, meine Damen und Herren
- besserer Arbeitsleistung, technischen Fortschritts und der Investitionen.
({17})
Soweit dieser Produktivitätsfortschritt in seinem Prozentsatz die Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts übersteigt, sind dann auch in der kommenden Periode Verminderungen der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden möglich. Soweit in den kommenden fünf Jahren die Zahl der aktiven Arbeitskräfte gehalten werden kann - bisher ist sie stets gestiegen -, kann die eben beschriebene Differenz sogar einer weiteren Arbeitszeitverkürzung zugute kommen. - Das war die exakte Antwort auf die „deutsche Überstunde".
({18})
Weiter müßte es in der Botschaft heißen: „Um diese reale Expansion des Bruttosozialprodukts mit dieser Zielangabe durchzusetzen, sind die treibenden Kräfte des marktwirtschaftlichen Leistungswettbewerbs, der unternehmerischen Investitionstätigkeit und des technischen Fortschritts in ihrer Eigendynamik zu fördern."
Zweitens wirtschafts- und finanzpolitisches Ziel der Bundesregierung sollte es sein, die gegenwärtig auf 3,8 bis 4 % stehende Preissteigerungsrate in den kommenden vier Jahren Schritt für Schritt zurückzubringen. Hierüber wird gleich noch gesondert gesprochen. Auf jeden Fall können wir auch bei rückgehender Preissteigerungsrate im Jahre 1969 ein Bruttosozialprodukt von 590 Milliarden DM gegenüber 480 bis 485 Milliarden DM im Jahre 1966 erreichen. Das sollte das globale gesamtwirtschaftliche Ziel der Bundesregierung sein.
Daran anschließend müßte nun der mittelfristige Finanzplan auf dieser Basis konstruiert sein, ein ausgeglichener Finanzplan. Aus ihm müßte dann zu erkennen sein, welche Ausgaben nicht im ersten Jahr, sondern im Jahre 1967 oder 1968 geleistet werden können. Erst in einem solchen Rahmen kann man das jetzt vorgelegte Kürzungsprogramm und damit die Größe des Haushalts 1966 bewerten. In der Regierungserklärung vom 10. November werden nur die Worte „langfristige Haushaltsplanung" und „längerfristige Zielsetzung der Stabilitäts- und Wachstumspolitik" erwähnt. Materiell bringt die Erklärung in dieser Hinsicht nichts, ein paar Worte eben, sonst gar nichts.
Einen zentralen Punkt der großen preispolitischen Diskussion in diesen Wochen und auch in diesem Hause stellt die Lohnpolitik der Tarifparteien dar. Um es ganz klar zu sagen, meine Damen und Herren: solange die Bundesregierung keine Angaben über ihre preispolitischen Ziele in den nächsten Jahren macht - also auf 3 % und 2 % Preissteigerungsrate usw. zurückzugehen -, solange sie nicht ihre Strategie mit einem breiten wirtschaftspolitischen Instrumentarium darlegt, solange man die Dinge treiben läßt, ist immer noch die Chance gegeben - auch in den nächsten Wochen -, daß sich die Tarifparteien auf das einigen, was für die Zukunft allgemein erwartet wird. Dann käme in den nächsten Wochen und Monaten wieder die bekannte Lohnformel heraus, nämlich: „Produktivitätssteigerung plus Preissteigerung". Hier erkennen wir zugleich, wie wichtig es wäre, wenn die Bundesregierung tatsächlich eine mittelfristige Gesamtrechnung aufmachen und einen mittelfristigen Haushaltsplan für vier Jahre vorlegen
würde, wie wichtig es gewesen wäre, wenn die Bundesregierung diese Planungen und diese Rechnungen mit einer abfallenden Preissteigerungsrate versehen hätte. Sie würde damit nämlich die Preiserwartungen aller günstig beeinflussen. Aber die Bundesregierung tut dies nicht; sie begnügt sich in ihrer Erklärung mit einer Reprise ihrer bekannten Appelle an die Disziplin der Sozialpartner. Diesmal war es auf diesem Gebiet nur ein Kurzappell. Im übrigen verweist man auf die Möglichkeiten eines Dialogs mit allen wichtigen sozialen Gruppen.
Nun, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir freuen uns, daß Sie unseren Gedanken eines Dialogs mit den Sozialpartnern - von seiten des Staates her eingeleitet - aufgenommen haben.
({19})
- Sie fassen das immer als eine Teestunde, eine Schaumburger Teestunde auf.
({20})
- Nun gut, wenn Sie dem zustimmen, was ich jetzt zu dem Dialog sage, sind wir schon einen Schritt weitergekommen. Ich meine nämlich, für diesen Dialog ist es notwendig, daß man die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ausbaut, daß man den Sachverständigenrat von seiten der Regierung in seiner Autorität stärkt und respektiert
({21})
und das neueste Gutachten des Sachverständigenrates für diese Diskussion auf den Tisch legt. Das nenne ich Dialog. Wie wir gehört haben, ist das letzte Gutachten des Sachverständigenrates am 15. November - wohl termingerecht - eingegangen. Der Bundespressechef hat gesagt, dieses Sachverständigengutachten werde mit der Stellungnahme der Bundesregierung etwa im Januar erscheinen.
({22})
Meine Damen und Herren, das zeigt, wie weit wir noch von dem entfernt sind, was dieser Dialog eigentlich sein sollte,
({23})
nämlich eine rechtzeitige Information der Sozialpartner,
({24})
eine rechtzeitige Information über den Stand der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, über die mutmaßliche Entwicklung des kommenden Jahres, rechtzeitig, bevor die Tarifparteien ihre Forderungen publiziert haben, bevor sie sich ihre Meinungen gebildet haben.
Sie sehen, meine Damen und Herren, daß der richtige Zeitpunkt für einen rationalen Dialog wieder einmal verpaßt ist; denn jetzt sind wir schon mittendrin.
({25})
- Ja, Sie schütteln das Haupt. Das sind doch aber
Tatbestände, die vorliegen und die man einfach erwähnen muß, wenn man davon spricht, daß die
Lohnpolitik und die Einkommenspolitik für das weitere Gleichgewicht von Bedeutung sind. Ich bin der Meinung, daß eine neue Auffassung von der Verantwortlichkeit der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf diesem Gebiet notwendig ist. Natürlich soll auch weiterhin die Lohnbildung des Geschäft der autonomen Tarifparteien sein; aber der Staat hat die Pflicht, rechtzeitig Orientierungshilfen zu geben.
({26})
Diese Orientierungshilfen sind auch diesmal in der neuen Runde, in der wir stehen, nicht gegeben worden.
({27})
Meine Damen und Herren, ich hoffe noch immer, daß sich die Bundesregierung nach der Veröffentlichung des Sachverständigenrates, die eigentlich heute bei dieser Debatte auf dem Tisch liegen müßte, korrigiert und in einer Erklärung etwa sagt: „Die Darstellung des Bundespressechefs war ein bedauerlicher, aber verständlicher Irrtum; die Bundesregierung wird das Sachverständigengutachten morgen unverzüglich der Öffentlichkeit übergeben. Das wäre eine gute Lösung."
({28})
Dann ist weiter noch ein kleines Gebiet zu erwähnen, bevor wir auf das Programm zu sprechen kommen, das ist das Gebiet der Wettbewerbspolitik und der Ordnungspolitik. Das ist ja auch wichtig für die Preisbildung. Ordnungspolitik war früher ein Lieblingsthema von Ludwig Erhard, als er noch ein Neo-Liberaler war. Heute, im nebligen Dämmerlicht der formierten Gesellschaft, scheint das alles nicht mehr so zu stimmen. Heute ist er kein Liberaler mehr. - Aber ich komme gleich darauf zurück.
In der Tat, was wir in der Regierungserklärung über die Weiterentwicklung des Wettbewerbsrechts, der Wettbewerbsordnung, der marktwirtschaftlichen Ordnung vernahmen, war zartestes Pianissimo; da ist eine kleine Verbeugung vor den Mittelschichten und vor ihrer zwischenbetrieblichen Kooperation. Und dann steht nur ein kurzer Satz da: „Es bleibt das unablässige Bemühen der Wirtschaftspolitik, mißbräuchliche wirtschaftliche Machtausnutzung zu verhindern. Das ist alles, meine Damen und Herren, was von dem neoliberalen Aufbruch übrigblieb. Gestern - im 4. Bundestag - zog man noch gegen die Preisbindung der zweiten Hand zu Felde. Heute hört man nichts mehr davon.
({29})
- Na, Sie doch auch. Ihr heutiger Bundeskanzler und damaliger Bundeswirtschaftsminister war - und ich hoffe, er ist es auch noch - persönlich gegen die Preisbindung der zweiten Hand. Er hat das bloß nicht durchgebracht.
({30})
- O nein, wir haben uns in diesem Punkte ganz. eindeutig geäußert.
({31})
- Doch, ich kann das wissen. Ich bin sogar in dieser Sitzung gewesen. Sie müssen nicht so vorschnell etwas behaupten. Der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages tagt - im Unterschied zum Plenum - hin und wieder in Berlin; als Vertreter des Landes Berlin war ich bei diesen Sitzungen dabei.
({32})
Auf jeden Fall finden Sie beim besten Willen in der Regierungserklärung kaum etwas über die Wettbewerbspolitik. Selbst des Marktes liebstes Kind, der Verbraucher, fehlt in der Regierungserklärung gänzlich. Und dabei hat man doch sonst so fleißig alle erreichbaren Vokabeln zusammengetragen! Ich kann nur fragen, meine Damen und Herren: „Sind die Helden des Marktes müde geworden? Ist man auch in diesem marktwirtschaftlichen Kurs unsicher geworden?"
Nach diesen Bemerkungen möchte ich nun das, was mir für einen sofortigen und erfolgreichen Feldzug gegen die Preissteigerung notwendig erscheint, zusammenfassen. Zuerst das Allerwichtigste: Die Bevölkerung muß ihr Vertrauen in eine stabile wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung zurückgewinnen. Um es deutlicher zu sagen: Die Bevölkerung braucht eine Regierung, der sie vertrauen kann.
({33})
- Ich freue mich, daß Sie mir so zustimmen. Die Bevölkerung braucht eine Regierung, die in ihren Worten glaubwürdig und in ihrem Handeln vertrauenswürdig ist. Das ist die erste Vorbedingung.
({34})
Ein schlechter politischer Stil, meine Damen und Herren, verdirbt auch die Märkte und Preise; das möchte ich hier sagen.
({35})
Solange die Bedingungen für einen guten politischen Stil nicht gegeben sind, helfen auch die technischen Mittel der Wirtschafts- und Finanzpolitik nur sehr begrenzt.
Nun zu den technischen Mitteln ein paar Grundsätze! Erstens: Wir erreichen eine Umkehr in der schleichenden Inflation nicht dadurch, daß wir die Volkswirtschaft einer Roßkur à la Brüning, einer allgemeinen Deflation unterwerfen. Das würde Wachstum und Vollbeschäftigung in Gefahr bringen und die Produktionskosten durch Minderauslastung nur steigern. Wir sind uns, glaube ich, in diesem ersten Punkte einig. Er lautet: Die Expansion der Güterproduktion muß weitergehen.
Zweitens: Preis- und Lohnstopps sind ganz und gar untaugliche Mittel der Stabilisierung.
({36})
Drittens. Der Bevölkerung müssen klare Ziele der ökonomischen Entwicklung gezeigt werden. Eine mittelfristige volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mit Projektion und ein mittelfristiger balancierter Finanzplan sind notwendig und müssen der Bevölkerung Aufschluß über die kommenden Aufgaben und Belastungen geben.
Viertens. Die Geldpolitik der Bundesbank und die Finanzpolitik der öffentlichen Hände müssen aufeinander abgestimmt werden. Hier ist als erste Maßnahme die Einsetzung eines Konjunkturrates notwendig.
({37})
- Warum den nicht? Der Bundeswirtschaftsminister ist verantwortlich für die Konjunktur und für die Preise. Er hat keine Instrumente. Warum gibt man ihm nicht das Instrument Konjunkturrat? In diesem Konjunkturrat sollten versammelt sein der Bundeswirtschaftsminister, der Bundesfinanzminister, der Präsident der Bundesbank, die Vorsitzenden der Landesfinanzminister- und Landeswirtschaftsministerkonferenzen. Dann hat der Bundeswirtschaftsminister in diesem Konjunkturrat endlich alle die Figuren versammelt, die die entscheidenden Instrumente in der Hand haben. Das ist ein erster Vorschlag.
({38}) - Das ist gar keine Seelenmassage.
Fünftens: Zur Deckung des Kapitalbedarfs der öffentlichen Hände und der privaten Wirtschaft muß alles versucht werden, um den Kapitalmarkt wieder zu beleben. Deswegen sollte der Konjunkturrat als erstes prüfen, wann die Kuponsteuer wieder aufgehoben werden sollte. Damit haben Sie diesen Punkt.
Sechstens: Die noch bestehenden Möglichkeiten für zusätzliche Einfuhren sollten rechtzeitig ausgeschöpft werden. Es sollten nicht erst Anträge in Brüssel gestellt werden, wenn die Versorgungslükken offensichtlich werden.
({39})
Die Einfuhr- und Vorratsstellen müssen unverzüglich angewiesen werden, preissenkende Auslagerungen vorzunehmen.
Siebtens: Die Preisbindung der zweiten Hand ist durch eine Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung sofort aufzuheben.
({40})
Achtens: Die in dem vorhin beschriebenen Sinne angedeutete mittelfristige Wirtschafts- und Finanzpolitik muß es den Tarifparteien ermöglichen, bei ihren autonomen Entscheidungen den Kompromiß zu finden, der mit den Maßstäben der kommenden Jahre im Einklang steht. Damit sollte Ziel der zukünftigen Bemühungen auf diesem Gebiete sein, eine Einkommenspolitik zu erreichen, die sich in das Rahmenwerk der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einfügt. Eine solche Einkommenspolitik, die neu ist und die die Autonomie der Tarifparteien voll zu respektieren hat, ist für die Tarifparteien allerdings so lange unzumutbar, wie die öffentlichen Hände ihrerseits sich nicht an das Rahmenwerk halten.
Meine Damen und Herren, .das waren die paar Punkte, die ich zu diesem Thema aufzuführen hatte. Ich komme nun zu dem letzten, dem gesellschaftspoliDr. Schiller
tischen Teil, der ja bei dem Herrn Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am Anfang stand. Wir alle haben wohl feststellen müssen, daß uns die Regierungserklärung weder die Lage der Nation so schonungslos schilderte, wie das nötig ist, noch uns Auskünfte über die politischen Richtlinien gab. Das alles blieb offen.
Die „Times” hat bekanntlich den Herrn Bundeskanzler mit einem Dienstgrad etwa der Berliner Verkehrs-Gesellschaft verglichen, der Fahrgäste mit den allerverschiedensten Reisezielen in seinem Omnibus sitzen hat und nun in Schwierigkeiten gerät, den Kurs seines Fahrzeugs zu bestimmen. Meine Damen und Herren, ich wage nicht, einen solchen Vergleich selber zu ziehen. Aber wenn ich das vernehme, werde ich an eine Kurzgeschichte von zwei Sätzen erinnert, die auch Frau Landmann in ihre herrliche Sammlung jüdischer Witze aufgenommen hat: Zwei auf dem Bahnsteig wollen einander aus geschäftlichen Gründen nicht ihr Reiseziel verraten. Schließlich sagt einer: „Du bist so schlau und sagst wirklich die Wahrheit; Du willst da und da hin." Dies angewendet auf die Regierung und ihre Erklärung: Die Bundesregierung ist so klug; sie sagt die Wahrheit in der Regierungserklärung, und die Wahrheit lautete: Sie hat einfach kein Reiseziel.
({41}) - Die Bundesregierung hat kein Konzept!
({42})
Das neueste Beweisstück dafür, daß die Bundesregierung kein Reiseziel hat,
({43})
hat uns doch jetzt der Bundeswirtschaftsminister Schmücker mit seinem Vorschlag geliefert, die Mineralölgesellschaften sollten die deutschen Kohlenzechen aufkaufen und dann stillegen.
({44})
Dabei möchte ich hinzufügen: das Bundeswirtschaftsministerium hat allerdings schon seit längerer Zeit den Schlußverkauf eigener Ideen mit Erfolg hinter sich gebracht.
({45})
Aber mit dem neuen Beitrag des Bundeswirtschaftsministers zur Kohlenfrage ist seine Wahrheitsliebe auf eindrucksvolle Weise bestätigt: nach sieben Jahren Kohlenkrise hat die Bundesregierung tatsächlich immer noch keinen energiepolitischen Plan. Das ist die Wahrheit.
({46})
Wir wissen auch, weshalb diese Bundesregierung keine Ziele und keine Lösungen angeboten hat. Weil wir und Sie alle in einer Welt von Konflikten leben! Vor diesen Konflikten scheut sie zurück! Die häufigsten Vokabeln bestehen aus „Bemühungen fortsetzen", „prüfen", „Sorge tragen", und in dieser Wirklichkeit spricht der Bundeskanzler seinen riesengroßen Gedanken von der „formierten Gesellschaft" aus, die nach seinen Worten schon begonnen hat. Eine Fülle von beglückenden Definitionen wird uns dargeboten. Zum Beispiel sei die „formierte Gesellschaft" ihrem Wesen nach eine friedliche Gesellschaft, die auf der dynamischen Kraft des Interessenausgleichs beruht". Das hindert den Kanzler in seinem großen erhabenen Widerspruch nicht daran, an anderer Stelle dieser selben Regierungserklärung die Sozialpartner zu tadeln, „wenn sie sich auf Kosten der Allgemeinheit einigen". Ich frage: ist das eine friedliche Gesellschaft? Will der Kanzler da formieren? Ist es eine friedliche Gesellschaft, wenn ein staatliches Presse- und Informationsamt mit Steuergeldern Wahlpropaganda betreibt? Ich frage nur.
({47})
Ist es eine friedliche Gesellschaft, wenn, aus welchen Quellen immer, Summen mit dreistelligen Millionenziffern zur Kursstützung der VEBA-Volksaktien ausgegeben werden, ohne daß dabei irgendein Erfolg gegen die allgemeine Börsenbaisse erreicht wurde? Ist das eine friedliche Gesellschaft oder wird da gleichzeitig formiert?
Weiter sagte der Kanzler:
Die formierte Gesellschaft beruht auf der Überzeugung, daß die Menschen das ihrem eigenen Wohl Dienende zu tun bereit sind.
Heißt das nun, daß jeder seinem eigenen Nutzen folgen sollte? So war es bei den Liberalen; die waren so ehrlich und meinten sogar, in summa komme dabei am meisten heraus. Aber ein Liberaler ist der Kanzler jetzt nicht mehr. Ist er mit seiner Spätlese „formierte Gesellschaft" ins Biedermeier hinübergewechselt?
({48})
Ist diese
({49})
- ja, ich frage, was das ist ({50})
seine Spätlese ein Entlastungsvorgang, ein innerer Entlastungsvorgang, ein Versuch, sich als Kanzler vor den Händeln und Greueln dieser Welt, diesem. Hick-Hack innerhalb und außerhalb der Koalition, in eine Scheinwelt der formierten Gemütlichkeit zu flüchten?
({51})
- Ich frage nur! Hören Sie mal weiter meine Fragen an! Sie sehen ja, wie unfriedlich diese Gesellschaft ist;
({52})
ich bin auch noch nicht formiert.
Dabei ist das Bild der formierten Gesellschaft - ich verstehe das vollkommen - noch nicht einmal anziehend. Bei formierter Gesellschaft denkt man doch an Strammstehen, nicht wahr, an Strammstehen nicht auf Grund von Befehl und Gesetz,
({53})
nein, Strammstehen auf Grund höherer Einsicht; das ist die formierte Gesellschaft.
({54})
Sie selbst - die Mitglieder der Mehrheitskoalition - schienen ja beim Anhören dieses Sozialmodells „formierte Gesellschaft" nicht gerade von Begeisterung erfüllt zu sein. Und ein Bundesminister - ja, ein Bundesminister - diesmal war dieser Bundesminister etwas außerhalb der Formalität, nicht wahr -, gab sich da lieber dem Genuß des General-Anzeigers aus einer kleinen verträumten Universitätsstadt am Rhein hin;
({55})
das war sein Verhalten als das Modell der formierten Gesellschaft.
({56})
Meine Damen und Herren, ich kann nur feststellen: Es besteht eine tiefe Kluft zwischen der „formierten Gesellschaft" als Leitmodell, soweit man sie erfassen kann, und den „neuen Wirklichkeiten", von denen Dr. Barzel in der letzten Zeit öfter gesprochen hat. Diese Kluft zwischen des Kanzlers Leitmotiv und Dr. Barzels Realität soll nun die Basis für eine aktive, homogene Politik der Koalition sein!
({57})
Von welchem Rand der Kluft aus soll die Politik der Koalition ihre Glaubwürdigkeit beziehen?
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= Nun, das ist die Interpretation auf Grund des Anhörens der Regierungserklärung.
Ich bin der Meinung: wenn wir uns die Wirklichkeit ansehen - und wir haben ja heute einiges von dieser Wirklichkeit gehört -, dann sehen wir, daß sie keine friedliche und keine formierte Gesellschaft, sondern eine pluralistische Gesellschaft ist, die wir als freie und offene Gesellschaft weiter entwickeln wollen. Der Wettstreit der organisierten Gruppen, der Wettstreit der Interessenverbände ist die besondere Form dieser pluralistischen Gesellschaft; denn sie ist gruppenhaft organisiert.
Ich möchte nur noch ein Wort von Hennis über die Funktion dieser Verbände bringen: Wenn der Kanzler die Interessenklüngel,
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die Lobbyisten und die Funktionäre tadelt, so übersieht er dabei, daß alle diese Menschen eine unverzichtbare und vollkommen legitime Mittlerstellung in der modernen Gesellschaft einnehmen. „Wer sie beschimpft, beschimpft das Volk:"
Das war ein Zitat von Hennis. Meine Damen und Herren, es zeigt, daß diese unsere Gesellschaft weiterhin ihre Interessenkämpfe haben wird, daß diese Gesellschaft durch diese Interessenkämpfe ihre besonderen Impulse produziert. Was ihr fehlt, ist etwas ganz anderes: Diese Gesellschaft braucht eine Regierung mit Entschlossenheit und auctoritas, eine Regierung, die mit den Gruppen der Gesellschaft freimütig und bestimmt umgehen kann, wachsam, skeptisch, aber ohne Ressentiment und ohne heimliche Fluchtgedanken in eine gemütlichere Welt der formierten Gesellschaft. Das braucht diese Gesellschaft heute.
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Meine Damen und Herren, wie wenig man mit dem Modell der formierten Gesellschaft weiterkommt, das könnte man auch noch an dem Beispiel zeigen, das aus der neuen Regierungserklärung so deutlich zu sehen ist, nämlich aus dem unguten Verhältnis der Bundesregierung zu den geistigen und kulturellen Kräften dieses Volkes. Da ist ein Unterschied. In der alten Erklärung von 1963 war noch ein Aufruf, ein Appell zur Mitarbeit der „schöpferischen Menschen in diesem Staate". So stand es da wörtlich. Das ist jetzt alles ganz anders geworden. Ist da ein deutlicher Wandel eingetreten durch das neue Leitmotiv des Kanzlers? Ich bin der Meinung, da bestehen in der Tat enge Beziehungen. In der formierten Gesellschaft gedeihen natürlich keine unabhängigen, widerborstigen Intellektuellen. Aber in unserer Gesellschaft, in der wir leben, heißt es auch für den Bundeskanzler, mit jenen unabhängigen, fachlich ungebundenen Kräften zu leben.
Meine Damen und Herren, von diesem war in der Regierungserklärung vom 10. November kaum etwas zu spüren. Sie blieb auch hier verbindlich-unverbindlich, ganz im Allgemeinen, und so muß man über jene zwei Stunden und zwei Minuten vom 10. November sagen: Es war ein Maximum in der Aufzählung von Fachgebieten und Sachpunkten, es war ein Minimum an konkreter politischer Aussage. Um mit Bert Brecht zu sprechen, könnte der Kanzler sagen: „Und ich blieb ganz allgemein."
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Doch wir könnten dann mit Bert Brecht fortsetzen und auch die Antwort geben: „Ach, da gibt's überhaupt nur: Nein."
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Meine Damen und Herren, ich habe noch eine Wortmeldung, aber ich bin sicher, daß Sie es vorziehen werden, Herrn Professor Burgbacher morgen früh statt noch heute abend zu hören.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Dienstag, den 30. November 1965, 9.00 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.