Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/1969

Zum Plenarprotokoll

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Herr Bundespräsident! Herr Altbundespräsident! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Ereignisse von überragender Bedeutung pflegen lange vor ihrem Eintritt Phantasie und Feder unserer Nachrichtenmedien zu beflügeln. Nicht selten wird ihnen schon Wochen vorher, spätestens aber Stunden danach, historischer Rang eingeräumt. Es ist wohl nicht angemessen, auch bei der Wahl und dem Amtsantritt eines neuen Trägers des höchsten Amtes in unserer Bundesrepublik so flink mit der Verteilung einer Bürde der Geschichtsträchtigkeit oder gar mit der Austeilung von Zensuren umzugehen, wie es teilweise geschehen ist. Jeder Überschwang der Wertung, im Guten oder im Bösen, ist mit dem Stigma der Unglaubwürdigkeit behaftet. Wer vermag unter den Vorzeichen der Gegenwart insbesondere zu sagen, wie nachfolgende Generationen über Ereignisse und über Menschen befinden werden, auf deren Schultern der Lauf der Zeit Verantwortung legte? Es scheint mir gerade in dieser Stunde geziemend, an den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu erinnern, der, von Verleumdung und Haß seiner Zeitgenossen verfolgt, aus dem irdischen Leben geschieden ist und heute, 50 Jahre danach, seinen Platz als lauterer Staatsmann in der geschichtlichen Wertung gefunden hat. ({0}) Dieser Einschränkung im Wechsel der Wertungen eingedenk, erscheint mir der jetzige Augenblick dennoch durch eine Besonderheit gekennzeichnet. Für den Bürger unserer Nation brachte die Entscheidung der Bundesversammlung in Berlin einen sichtbaren Beweis einer wirksamen Demokratie, deren Wesen in der Möglichkeit des Wechsels besteht und eben darin auch ihren Sinn hat. Der Ausgang der Wahl hat gezeigt, daß dieses Amt nicht den Bedingungen politischer Erbpacht unterliegt. Freier demokratischer Wille hat, wie nach Bundespräsident Heuss, nun wiederum einen Wechsel in der politischen Herkunft des ersten Mannes im Staate herbeigeführt und damit die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Zukunft nach dem Willen der Wahlmänner wie nach der Person des Gewählten dokumentiert. ({1}) Das Echo jenseits der Grenzen zeigt, daß auch die repräsentative Mehrheit unserer ausländischen Freunde wie Kritiker gerade diesen Punkt sehr genau registriert hat. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein bemerkenswertes Amt. Es ist das höchste Amt, das die Bundesrepublik vergibt, aber es ist auch das einsamste. Anders als zu Zeiten Weimars begrenzt es die Aktivität seines Inhabers im Entscheidungsbereich der politischen Gewalt auf die reine moralische Macht seines Menschentunis und die geistige Kraft seiner Gedanken. Keine potestas der politischen Machtausübung, keine auctoritas im Sinne einer hierarchischen Befehlsgewalt gibt dem Amtsträger seine Stärke, sondern nur eben eine dignitas, die Würde, die ihm kraft seiner Persönlichkeit zu Bundesratspräsident Prof. Dr. Weichmann eigen ist. So steht er eben einsam im politischen Getriebe, mit sich allein ringend, wie Jacob mit Gott an der Furt des Jabbok rang. In ihm allein muß reifen, was er zu sagen hat, und doch sollen seine Gedanken wiederum von allgemein verbindlicher Bedeutung sein. Das ist eine Würde, die wahrlich eine Bürde ist. Ihm ist im Sinne Platos auferlegt, als Staatsmann Philosoph und als Philosoph Staatsmann zu sein. In solchem Sinne verlangt das Amt des Bundespräsidenten von seinem Inhaber womöglich noch mehr als das Amt des früheren Reichspräsidenten. Es fordert den leidenschaftslosen Abstand vom politischen Tagesgeschäft. Es verlangt den Verzicht auf die eigentliche Herausforderung an den Staatsmann, eben am Steuer des Staatsschiffes mitzudrehen und seinen Kurs mitzubestimmen. Es gebietet das Verständnis und die Bewertung der Aufgaben von Gegenwart und Zukunft und beschränkt gleichwohl seine Tätigkeit auf an sich im Exekutivbereich unverbindliche Emanationen einer kontemplativen Weisheit. Unter diesen Gesichtspunkten kann sehr wohl die Frage entstehen, ob mit solchen Forderungen nicht eine Überforderung an den Amtsinhaber als Mensch gestellt ist, der eben auch nur ein Mensch ist. Wird als Forderung hier nicht eine Idealvorstellung in den politischen Raum gestellt, die unerfüllbar ist? Wiederholt sich hier nicht der Fehler der Lesebücher schlechthin, der Demokratie und in ihr den Politikern und Staatsmännern ein Verhalten und ein Erscheinungsbild aufzubürden, das zwar ideal konzipiert, in der Wirklichkeit aber nahezu unerreichbar ist? Trägt damit nicht jedes Abweichen von der Idealvorstellung die Gefahr in sich, Enttäuschung an der Demokratie, an ihren Institutionen und Willensträgern zu erzeugen und jenen Messiasglauben hervorzurufen, dem wir heute stellenweise in einer aufbegehrenden Jugend begegnen, mit der Wirkung, möglicherweise den Weg in eine Diktatur geistig - oder ungeistig - vorzubereiten? Hier liegt in der Tat eine Gefahr, der wir selbst durch weise Beschränkung unserer Anforderungen entgegenwirken müssen. Hier liegt aber eben auch eine fruchtbare Herausforderung an den kontemplativen Geist. Mir scheint, die wichtigste Ursache für die gegenwärtige Unsicherheit ist der Verlust der einzelmenschlichen wie gesamtgesellschaftlichen Zielorientierung. Früher geltende Wertvorstellungen haben sich gegenüber den Anforderungen der neuen Welt als unglaubwürdig erwiesen. Das geht heute bei einzelnen bis hin zur Infragestellung des Wertes der menschlichen Existenzberechtigung überhaupt. In die Leere fehlender verbindlicher zwischenmenschlicher Normen und gesamtmenschlicher Zielsetzung strömt die Flut der materiellen Ersatzziele auf der einen Seite und ein revolutionäres Begehren nach Gesellschaftsumbildung auf der anderen Seite. Beides, der neue Materialismus und die revolutionäre Aggressivität, beruht im Grunde auf einem und demselben, auf dem Horror vacui, auf der Angst vor der Leere. Sie sind eine Flucht nach vorn aus einer unbefriedigten und unbefriedeten Welt in das Bemühen um Sicherheit oder in die Welt der Utopie. Es ist dies die plebiszitäre Herausforderung an Politiker und Staatsmänner. Gewiß, es ist uns im materiellen Sinne nie besser als heute gegangen. Gleichwohl, der materielle Wohlstand ist ungleichmäßig verteilt und noch immer dem Mißbrauch offen. Gewiß, unsere demokratische Regierungsform ist im ganzen unbestritten. Gleichwohl fehlt es nach dem Zusammenbruch alter Wertvorstellungen an neuen moralischen gesellschaftspolitischen Bindungen und Normen. Staatsmänner und Politiker sind zur Definition neuer gesellschaftlicher Wertinhalte aufgerufen. Sie müssen - das sei zum Thema der so vergötterten Futurologie gesagt - den Menschen wieder zum Maß, aber nicht zur Funktion der Dinge machen. ({2}) Wir brauchen wieder Gewissenspostulate, die freilich in der ratio und nicht in der Mystik ihre Grundlage haben, und sie sind meines Erachtens nicht einmal so schwer zu formulieren. Sie sind letztlich in unserer Verfassung niedergelegt. Wir brauchen die Freiheit als Voraussetzung der Menschenwürde und die Bindungen, welche die Freiheit schützen. Wir brauchen Toleranz gegenüber Toleranten, den Anstand, der den Trieben Grenzen setzt, die soziale Gebundenheit in der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen und aller Menschen miteinander und schließlich die gerechte Anteilnahme der Menschen an den Gütern dieser Welt, ohne die Verantwortung des einzelnen auch für sich selbst auszuschließen. Es ist kein Anlaß, an dieser Welt zu verzweifeln, wenn wir uns zu diesen Werten bekennen. Es ist eine sittliche Herausforderung, die unserem Leben Sinn gibt, wenn wir sie in rechtem demokratischem Selbstverständnis und Augenmaß zu realisieren trachten. In solchem Sinne wirksam zu sein, unverwirrt von der Parteien Haß und Gunst, verpflichtet nur dem Gewissen, das ist die große, die schwere, aber auch die schöne Aufgabe des Amtes, das nun in andere Hände übergeht. Wir danken auch im Namen des Bundesrates mit Respekt dem scheidenden Bundespräsidenten für sein lauteres Wollen und seine unbeirrbare Ehrlichkeit. ({3}) Ich habe Ihnen und Ihrer Gattin in Hamburg soeben mit mehr Worten, als mir hier zur Verfügung stehen, sagen dürfen, wie sehr wir Sie auch als geschichtliche und amtsprägende Persönlichkeit zu schätzen wissen. Wir bezeugen gleichzeitig Respekt dem neuen Bundespräsidenten. Wir sind im Begriff, einen dem Recht und dem christlichen Denken besonders verpflichteten Bürger über unsere Bürger zu setzen. Wir kennen seine Vita, und wir wissen um seine Unerschrockenheit, denn er hat sie vielfach bewiesen. Wir haben vernommen, was er mehrfach nach seiner Bundesratspräsident Prof. Dr. Weichmann Wahl sagte, nämlich er wolle besorgt sein um die Sorgen seiner Mitbürger. Ich bin sicher - und seine erste Rede vor diesem Hause war auch sogleich sein erster Beweis -, der neue Bundespräsident wird den Steuerleuten unseres Staatsschiffes - den Gouverneuren und Kybernetikern jeder gesellschaftlichen Zuständigkeit - unzweideutige moralische Sichtzeichen setzen für eine menschenwürdige Fahrt zwischen der Scylla entfallener oder utopischer Wertvorstellungen und der Charybdis künftiger seelenloser Technotronik in eine immer menschenwürdige Gegenwart und lebenswerte Zukunft. Wir alle wünschen ihm die Kraft und die Einsicht, dieses schwere Amt zu unser aller Wohl zu verwalten. ({4}) Präsident von Hassel: Ich danke dem Herrn Präsidenten des Bundesrates. Die Sitzung ist geschlossen.