Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/6/1961

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, gestern ist mir die amtliche Meldung des Wehrbeauftragten über ein Ereignis zugegangen, das die deutsche Presse schon vor einiger Zeit gemeldet hat. Mir scheint der Vorgang bei der Bundeswehr bedeutend und wichtig genug, um vor dem Deutschen Bundestag folgendes zu sagen. Am 16. November 1961 explodierte auf dein Truppenübungsplatz Putlos in einem Sprengloch, in dem sich der 28jährige Feldwebel Erich Boldt von der Panzerpionierkompanie 70 mit zwei anderen Soldaten befand, eine Sprengladung. Um die beiden Soldaten zu schützen, warf sich der Feldwebel Boldt - in klarer Erkenntnis der Konsequenzen - auf die Ladung. Er verlor das Leben. Durch seinen raschen, mannhaften Entschluß, der einer vorbildlichen Gesinnung entsprang, hat er seinen Kameraden das Leben gerettet. ({0}) Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag verneigt sich vor dem Opfertod dieses jungen Soldaten der Bundeswehr. Unsere ehrerbietige Anteilnahme gehört seiner Frau und seinem Sohne. - Meine Damen und Herren, Sie haben sich von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen. Glückwünsche zum Geburtstag spreche ich aus der Frau Abgeordneten Dr. Rehling. ({1}) Zum 65. Geburtstag habe ich dem Vizepräsidenten dieses Hauses, unserem Kollegen Professor Carlo Schmid, gratuliert. ({2}) Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 29. November 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kühn ({3}), Frau Dr. Rehling und Genossen betr. Unterzeichnung und Ratifizierung von Abkommen des Europarates - Drucksache IV/20 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/36 verteilt. Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem 29. November 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hubert, Höfler und Genossen betr. Ratifizierung von Übereinkommen des Europarates - Drucksache IV/17 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/40 verteilt. Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 30. November 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wahl, Dr. Harm ({4}) und Genossen betr. Ratifizierung der Europäischen Übereinkommen über Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen - Drucksache IV/18 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/46 verteilt. Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 1. Dezember 1961 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Festnahme des jugoslawischen Staatsangehörigen Vracarič - Drucksache IV/21 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache IV/47 verteilt. Meine Damen und Herren, wir kommen zur Tagesordnung. Die Fragestunde ist auf morgen vormittag angesetzt. Ich rufe auf den Punkt 2 der Tagesordnung: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt ({5}) .

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Freunde und ich wünschen der neuen Bundesregierung Erfolg, wo immer es sich darum handelt, Gefahren vom unserem Volk abzuwenden und das zu tun, was im Interesse der Freiheit und der Gerechtigkeit notwendig ist. Dies ist nicht die Regierung, die wir in dieser Zeit für notwendig halten. Aber dies ist die ordnungsgemäß zustande gekommene Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist auch unsere Regierung, und wir sind selbstverständlich bereft, ihr die Chance zu geben, um die der Bundeskanzler gebeten hat. Meine Freunde werden es dieser sehr bewußt gegen uns gebildeten Regierung allerdings nicht leichter machen, als sie es verdient, nicht leichter, als es dem Interesse unseres Volkes, wie wir es sehen, in dieser ernsten Lage entspricht. Es wäre leicht, das unwürdige Gezerre zur Regierungsbildung zu beleuchten. Hier war es wirklich schwer, keine Satire zu schreiben. Aber damit befassen sich die Kabarettisten in unserem Lande. ({0}) Es ist bis zu einem gewissen Grade rührend, wie bemüht sich die Regierungserklärung zeigt, das - wie soll ich es nennen - politische Freistilringen zu erklären. Sie verweist entschuldigend auf die Staaten, in denen es noch mehr Minister gibt als bei uns. Das ist ein überraschender Gesichtspunkt, meine Damen und Herren, bei dem, wenn man ihn weiter verfolgt, die Sowjetunion mit ihrer Ministerinflation zu einem noch unerreichten Vorbild wird. ({1}) Brandt ({2}) Dagegen kommen die Vereinigten Staaten mit weniger Ministern aus. In einem Punkt kann es den berühmten Streit, was früher da war, Henne oder Ei, nicht geben. Den Damen der CDU gebührt das unbestreitbare Verdienst, daß sie eine Ministerin durchgedrückt hatten, noch bevor es dafür ein Ministerium gab. ({3}) Auch die Probleme der Entwicklungshilfe existierten bereits vor dem 17. September; aber das neue Ministerium - unter einem Tarnnamen - war für die Koalitionsarithmetik erforderlich, und selten hat der Bundeskanzler - den ich zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beglückwünschen darf - sich so an sein Wort gehalten wie mit steiner Erklärung, die Zahl der Minister werde für ihn kein Stein sein, an dem man sich stoße. ({4}) Das, was man das „FDP-Papier" 'genannt hat, wird vernünftigerweise jetzt Koalitionsvereinbarung und nicht mehr Vertrag genannt. Ein Mitglied des Hauses wollte es, wie ich meine: törichterweise, als eine Art „Geheime Reichssache" betrachtet wissen. ({5}) Ich kann hier nur der Formulierung von Professor Dr. Peters, Köln, zustimmen: „Die innere Schwäche wird offenbar durch formalen Perfektionismus ersetzt." Die eigene Verantwortung des einzelnen Abgeordneten kann durch kein Koalitionsabkommen beurlaubt werden. ({6}) Was den Koalitionsausschuß angeht, so möchte ich einen seiner Mitbegründer, Herrn Dr. Krone, an das erinnern, was er im April dieses Jahres auf dem Kölner Parteitag der CDU gesagt hat - ich zitiere -: Die Forderung der FDP nach einem Koalitionsausschuß ruft Schatten von Weimar wach. Sie wirft uns in unserer staatlichen Entwicklung wieder zurück. Sie widerspricht dem Grundgesetz. ({7}) Ich mache mir diese letzte Behauptung nicht zu eigen, denn keine Vereinbarung dieser Art, überhaupt keine Vereinbarung kann die dem Kabinett und den Abgeordneten durch das Grundgesetz zugewiesene Verantwortung schmälern. ({8}) Die Regierungserklärung erscheint mir in vielen Punkten, auch in der Form des etwas unorganischen Aneinanderreihens, etwas kleinkariert geraten zu sein. Ich verzichte auf eine polemische Auseinandersetzung mit allen möglichen Einzelpunkten und auch auf den berühmten Gang, der über das Post- und Fernmeldewesen zur Außenpolitik führt. Wovon wir auszugehen haben, ist die Lage der Nation. Das Recht unseres Volkes auf die Wahrheit braucht dabei nicht dem Grundsatz zu widersprechen, daß außenpolitische Verhandlungen nicht auf den Marktplatz gehören. Wir stehen an einem entscheidenden Einschnitt unserer Geschichte. Deutschland war 1945 besiegt, es wurde 1949 politisch organisiert, und 1962 wird sich entscheiden, ob seine Teilung besiegelt wird. Nach 12 Jahren der Bundesrepublik müssen wir Wünsche als Illusionen erklären. Die bisherige Wiedervereinigungspolitik ist gescheitert. Es gibt heute offensichtlich keinen erkennbaren Preis für die Wiedervereinigung außer dem der Aufgabe der Freiheit. ({9}) - Der Streit darum, verehrter Herr Kollege, ob das jemals anders war, ist fruchtlos. Die Frage jetzt heißt nur, ob wir uns mit dieser Feststellung und mit einem bedauernsvollen Achselzucken begnügen wollen. Ich meine, die Wiedervereinigung darf für uns nicht von der Tagesordnung verschwinden, nur weil sie im Augenblick und auf unabsehbare Zeit aussichtslos ist. ({10}) - Dann ist es ja gut, wenn wir uns darin einig sind. Sie hat für uns zu jeder Zeit mehr zu sein als ein geläufiges Lippenbekenntnis. ({11}) Wir haben jede Entscheidung auf ihre Folgen für das deutsche Selbstbestimmungsrecht zu prüfen. Die Idee der Freiheit, die die meisten von uns über das sonst Trennende hinweg vereint, ist keine defensive Idee. Sie ist offensiv und auf ihre umfassende Verwirklichung in der Welt gerichtet. Die bloße Defensive würde den Westen insgesamt und die Bundesrepublik im besonderen in die sichere Niederlage führen. Die Bundesrepublik ist, so will mir scheinen, im ganzen gesehen, gegen den ideologischen Bazillus des Kommunismus gefeit. Unsere Sorge um die Sicherheit entspringt nicht der Angst vor weltanschaulicher Zersetzung. Wir brauchen uns vor dem Kommunismus als Idee nicht zu fürchten, .und daraus hat die Politik praktische, positive Konsequenzen zu ziehen. Wir haben uns zu den Menschen in der Zone hinzuwenden. Das Herz der Nation schlägt hier, aber das Gewissen lebt vor allem in der Unterdrückung drüben. ({12}) Und ohne das Gewissen können wir nicht leben. Der 13. August 1961 greift noch tiefer als der 17. Juni 1953. Ich habe vor wenigen Tagen von einem Arzt einen Brief bekommen. Er sagt - ich darf zitieren -: Der Wunsch, herauszukommen, nimmt nach der totalen Abschnürung epidemische Formen an. Mindestens 95 Prozent der Flüchtenden werden gefaßt und gehen einem grausamen Schicksal entgegen. Sehen Sie sich bitte die blutenden Brandt ({13}) Fleischklumpen an, die uns eingeliefert werden, und zwar in immer steigender Zahl, weil die einfachen Grenzer auf Befehl der Offiziere erbarmungslos mit den Bajonetten zuschlagen mußten, sonst wären sie dran. Geben Sie der hiesigen Bevölkerung eine Hoffnung, damit die von Woche zu Woche steigende Selbstmordkurve endlich fällt, die zu Weihnachten Böses ahnen läßt. Das ist die erschütternde Realität in unserem Lande, der wir, die freien Deutschen, ins Auge sehen müssen. Wir alle sollten es als unsere gemeinsame Aufgabe betrachten, der Bevölkerung der Bundesrepublik klarzumachen, daß die bloße Erhaltung des Bestehenden nicht ausreicht. Wir werden unsere Freiheit nur erhalten, wenn wir um die Freiheit der 17 Millionen ringen und bereit sind, unsere Aktivität, unseren Einfallsreichtum, unsere Wirtschaft, unsere Zivilcourage und unsere Freundschaften in der Welt darauf zu konzentrieren. ({14}) Die Bundesrepublik wird sich den Rund-um-Blick angewöhnen müssen, zu dem Berlin seit Jahren gezwungen ist. Denn wir können nicht die Tatsache ignorieren, daß wir nicht nur Nachbarn des kommunistischen Ostens sind und bleiben werden, sondern daß wir vor allem unseren Landsleuten nicht den Rücken zuwenden dürfen. Wir müssen in Zukunft wirklich alles tun und nicht nur darüber reden, um ihnen wenigstens die Hand reichen zu können. Dabei wird es mit der bloßen politischen Abwehr, mit dem Einigeln nicht getan sein. Denn noch niemals ist ein diktatorisches Regime durch lethargische Unaktivität daran gehindert worden, neue Forderungen zu stellen. ({15}) In Ostberlin schaltet man um auf den nationalen Ton. Was wir nicht fordern, werden die anderen unter ihrem Zeichen verlangen. Das Scheitern der bisherigen Wiedervereinigungspolitik darf nicht zu leichtfertigen Vorwürfen gegenüber unseren Freunden in der Welt führen. Sie haben sich auf das gemeinsame Ziel verpflichtet, ({16}) aber nicht dazu, deutsche Politik zu betreiben. ({17}) Wir werden ihre Hilfe bekommen, aber wir können von keinem von ihnen erwarten, daß sie sich dien Kopf mehr zerbrechen, als wir es selber tun. ({18}) Der amerikanische Präsident hat in seinem Interview mit der „Iswestija" richtig erklärt, daß offensichtlich die Wiedervereinigung nicht gegen den Willen der Sowjetunion erreicht werden kann. Daraus würde folgern, daß wir uns, um sie zu erreichen, um eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion zu bemühen hätten. Das scheint in der heutigen Situation fast aussichtslos. Und wir sind uns sicher darüber einig, daß wir niemanden als Freund des deutschen Volkes empfinden können, dessen Haltung und Politik unsere Landsleute drüben peinigt und die Wiederherstellung unserer staatlichen Einheit verhindert. Die vor uns liegenden internationalen Verhandlungen werden auch darüber entscheiden, ob für Deutschland die Voraussetzungen für eine andere Art des Verhältnisses zur Sowjetunion gegeben sind. Aber wir dürfen uns darüber keiner Täuschung hingeben: Die gegenwärtige Krise überlagert nur unsere Aufgabe, mit der Großmacht im Osten in ein Verhältnis zu kommen, das uns im vollen Einvernehmen mit unseren Verbündeten der Lösung der deutschen Frage auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechtes näher führt und damit die im beiderseitigen Interesse liegende Normalisierung der Beziehungen ermöglicht. Wir sollten uns, meine Damen und Herren, alle darin einig sein, daß wir unsere Probleme nur politisch und nicht militärisch lösen können. Von dieser Erkenntnis spürt man in der Regierungserklärung leider zu wenig. ({19}) Ich wende mich nicht gegen das Gewicht der ernsten militärischen Fragestellungen in der Regierungserklärung, sondern beklage den Mangel des politischen Gegengewichts. ({20}) In diesem Zusammenhang möchte ich zu einer Einzelfrage sagen: An der Stelle der Regierungserklärung, wo von unseren Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten die Rede ist, hätten wir gern ein offeneres, wenn möglich, freundschaftliches, dem Ausgleich dienendes und der Zukunft zugewandtes Wort an die Adresse der uns benachbarten Völker im Osten gehört. ({21}) Die Haltung der Bundesrepublik muß von zwei Grundsätzen bestimmt sein: Erstens. Die Deutschen lassen sich heute in ihrer Friedensliebe von keinem anderen Volk übertreffen. Und diejenigen hier, die mit fast 40 % der Mandate die Opposition in diesem Hause stellen, stehen, wo immer es darauf ankommt, an der Spitze derer, die sich gegen die Verleumdungskampagne stellen, die sich gegen unser Volk richtet, als ob es revanchistisch, kriegslüstern oder neonazistisch gewesen sei oder sei. ({22}) Denn so ist es nicht, sondern das ist ein Teil eines Feldzuges nicht nur zur Verleumdung der Bundesrepublik, sondern auch zur Zersetzung des Lagers der Demokratie. ({23}) Zweitens. Die Bundesrepublik ist bereit und muß bereit sein, entsprechende eigene Beiträge zu leisten, Beiträge, die sich aus ihrer eigenen und der Friedensliebe ihrer Bevölkerung ergeben. Zu diesem zweiten Punkt hat die Bundesrepublik, so meine ich, in der Vergangenheit keine rühmliche Rolle gespielt. Es wird unerläßlich sein, deutsche Vorstellungen zu den Problemen der Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung, aber vor allem auch Brandt ({24}) für die Grundsätze eines Friedensvertrages zu erarbeiten. ({25}) Sie hätten vom Selbstbestimmungsrecht auszugehen, seine unerläßliche Folgen für die freie Gestaltung unserer inneren Verhältnisse zu entwickeln und zu formulieren; zu formulieren vor allem, inwieweit nach außen unser legitimes Sicherheitsbedürfnis mit den Interessen aller unserer Nachbarn in Einklang gebracht werden kann. Im übrigen könnte ich mir vorstellen, daß wir auch international einen Schritt weiterkommen, wenn die Grundsätze eines Friedensvertrages für ganz Deutschland erörtert werden und versucht wird, einer Einigung hierüber näherzukommen, unter bewußter Ausklammerung der heute vorhandenen tatsächlichen Teilung. Ich halte es jedenfalls für erforderlich, daß nicht nur die Bundesrepublik, sondern der Westen überhaupt seine positiven Vorstellungen von einem Frieden mit und für Deutschland, und das heißt zugleich einer Entspannung in Mitteleuropa, den sowjetischen Vorschlägen entgegenstellt, ({26}) jenen Vorschlägen, die das Wort Frieden mißbrauchen und bei ihrer Durchführung nur zu einer Verschärfung der internationalen Lage beitragen würden. ({27}) Mit einer derartigen Politik werden wir unsere Freunde entlasten und neue Freunde gewinnen. Wir können hier sinnvoll anknüpfen an zwei Dokumente, die im vorigen Bundestag ungeachtet vieler Spannungen zustandegekommen sind. Ich meine die Berliner Entschließung vom 1. Oktober 1958, und ich meine die Erklärung des Herrn Bundestagspräsidenten vom 30. Juni 1961. Beide gewichtige Äußerungen und zusätzliche Hinweise auf den Friedensvertrag sind, sofern die Berichte darüber stimmen, im Koalitionsabkommen festgehalten. Uns scheint, daß die Regierungserklärung dahinter in entscheidender Weise zurückbleibt. ({28}) Im übrigen sind auch wir der Meinung, daß die Frage der Ostgrenzen erst in einem Friedensvertrag mit einer gesamtdeutschen Regierung geregelt werden kann. Und ich unterstreiche, was wir früher gesagt haben, nämlich, daß wir keine Politik hinter dem Rücken der heimatvertriebenen Landsleute machen dürfen. Meine Freunde und ich begrüßen die positive Erklärung der Regierung für die Entwicklungsländer, der ich hinzufügen möchte, daß es für die Bundesrepublik darauf ankommt, bei uns funktionierende Modelle nicht schematisch übertragen zu wollen und dennoch darauf zu achten, daß sich unsere Maßnahmen in eine sinnvolle Gesamtplanung der betreffenden Länder einordnen. Wir sollten jedenfalls alles unterlassen, was irgendwo Hindernisse auf dem Weg zur Selbstbestimmung erhalten würde. Der europäische Zusammenschluß gehört zu den entscheidenden positiven Strömungen unserer Zeit, die eine geschichtsbildende Kraft haben. Wir sind erfreut, daß sich diese Entwicklung trotz zeitweiser Verkrampfungen über den engeren Rahmen hinaus vollzieht, und wir hoffen, daß es zu einer verstärkten parlamentarischen Mitwirkung und Kontrolle in der europäischen Gemeinschaft kommen wird. Sie erinnern sich, daß meine Freunde bei aller uneingeschränkten Anerkennung unserer Freundschaft zu Frankreich immer der Meinung waren, daß das freie Europa nicht ohne England vorstellbar ist. ({29}) Wir haben die Hoffnung, daß insbesondere auch Dänemark und Norwegen den Weg in diese Gemeinschaft finden werden, deren Grundsätze es auch möglichst neutralen oder allianzfreien Ländern erleichtern sollten, Mitglied zu werden oder sich wenigstens zu assoziieren. Mit ernster Sorge und in aufrichtiger Freundschaft denken wir in diesem Augenblick an das tapfere finnische Volk. ({30}) Unser Bündnissystem ist weiter zu entwickeln. Dabei möchte ich ausdrücklich das Prinzip unterstreichen, daß wir bereit sein müssen, unseren Verpflichtungen nachzukommen. Das beinhaltet auch das Mittragen der Risiken. Dabei wird es überhaupt keine Opposition um der Opposition halber geben. Wir werden die Verpflichtungen, die sich aus unserer Mitgliedschaft zur NATO ergeben, bejahen, sofern sie vernünftig, sinnvoll und vertragsgemäß sind. ({31}) Über die Wehrdienstzeit werden wir im zuständigen Ausschuß beraten. Wir bleiben, neuerdings in Gemeinschaft mit der Regierung, ({32}) bei einem Nein zur deutschen Verfügungsgewalt über Atomwaffen. ({33}) Nach dem Interview des amerikanischen Präsidenten mit der „Iswestija" weiß wohl auch jedermann, daß die Bundesrepublik keine Atomwaffen bekommen wird. ({34}) In der Regierungserklärung hat der vierte Bundeskanzler den dritten Bundeskanzler dementiert, ({35}) der bekanntlich wiederholt Atomwaffen ohne die jetzt vorgebrachte Einschränkung gefordert hat. ({36}) Brandt ({37}) Die Idee einer NATO-Atommacht muß nach Gesichtspunkten der politischen Klugheit und der militärischen Zweckmäßigkeit entschieden werden. ({38}) Unter die politischen Gesichtspunkte rechne ich an erster Stelle, daß jedes amerikanische Disengagement von Europa vermieden werden muß. ({39}) Die Einheitlichkeit des Bündnisses muß erhalten bleiben, in dem wir uns doch wohl nicht diskriminiert fühlen. Schließlich sollten wir keine Veranlassung zu einer im Prinzip gleichgearteten Bewaffnung des Warschauer Paktes geben. Zu den militärischen Gesichtspunkten gehört eine Bewaffnung, die das Bündnis als Einheit betrachtet und bereits das konventionelle Risiko für die andere Seite steigert, obwohl jeder Konflikt in Europa die Gefahr einer schnellen Ausweitung zu einem atomaren Krieg in sich bergen würde. Die Bundesrepublik darf sich also nicht drängen, und sie darf keinesfalls das erste Land sein, das faktisch zusätzlich nuklear ausgerüstet wird. ({40}) Im übrigen gibt es keinen Grund, unseren Verbündeten zu mißtrauen, notfalls auch das letzte Risiko in den Fragen der gemeinsamen Lebensinteressen einzugehen. Es gibt ein natürliches Interesse unseres Volkes, daß Entscheidungen über Tod und Leben nicht über den Kopf seiner Regierung hinweg getroffen werden können. Die Beachtung dieses Interesses muß sich in Formen vollziehen, die das Vertrauen innerhalb der Allianz nicht gefährden und politisch und militärisch gleichermaßen wirksam sind. Wir halten das Vorprellen der Bundesregierung in dieser Frage für völlig unangebracht. ({41}) Allgemein ist eine gewisse Zurückhaltung dem Ansehen der jungen deutschen Demokratie durchaus bekömmlich. Für Fragen der europäischen Sicherheit hat die Bundesregierung, wenn wir ihre Erklärung richtig verstehen, praktisch jedes Regionalabkommen abgelehnt. Das ist jedenfalls eine Änderung von Ansichten, die der Verteidigungsminister früher geäußert hat. ({42}) Nach unserer Auffassung kann eine gleichwertige und kontrollierte Rüstungsbegrenzung als Ansatz eines über seinen engeren Rahmen hinausgehenden Abkommens wertvoll sein. Jedenfalls wird man diesem Thema nicht gerecht, wenn man von unserer Seite jeden gedanklichen Beitrag dazu überhaupt ablehnt, zumal er von unseren Verbündeten erwartet wird. Meine Damen und Herren, für die bevorstehenden Verhandlungen hat die Bundesregierung drei Grundsätze genannt, deren Reihenfolge den Eindruck erweckt, als ob die Bundesregierung die eigentliche Gefahr darin erblicke, wir könnten innerhalb des atlantischen Bündnisses einen minderen Status erhalten, oder als sollte die Sicherheit der Bundesrepublik ein Verhandlungsgegenstand sein. Niemand schätzt unsere Sicherheit gering ein; aber nach meinen Informationen trifft das nicht den Kern. Es muß uns allen darum gehen, daß es mit unseren Freunden eine gemeinsame Deutschlandpolitik gibt. Zu einer solchen Politik gehört die Erkenntnis, daß es keine ausreichende Sicherheit für die Bundesrepublik gibt, wenn wir Berlin nicht stark und lebensfähig erhalten oder gar unseren Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht aufgeben. ({43}) Als am 27. November 1958 Chruschtschows Ultimatum bekanntgegeben wurde, habe ich am selben Tage erklärt, der Plan einer „entmilitarisierten Freien Stadt Westberlin" laufe darauf hinaus, die rechtliche und wirtschaftliche Zugehörigkeit zur Bundesrepublik zu durchschneiden. Ich bedauere, in diesem Punkt recht behalten zu haben. Wir erkennen dankbar die bewährten Garantien der drei Westmächte für die Lebensfähigkeit, die Sicherheit und die Freiheit West-Berlins an. Wir brauchen insofern auch keine Sorgen zu haben und können uns auf das gegebene Wort unserer Freunde verlassen. In den letzten Tagen hat es eine Reihe von Gerüchten oder Spekulationen gegeben, wonach angeblich die bisherigen staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Berlin und Westdeutschland verändert oder durch einen Vertrag ersetzt werden sollten. Lassen Sie mich hierzu sagen: das Verhältnis Berlins zur Bundesrepublik ist eine Sache des politischen Willens der freien Deutschen, wie er sich im Grundgesetz und in der Berliner Verfassung ausdrückt. ({44}) An diesem Grundsatz etwas zu ändern, erfordert eine Verfassungsänderung, und dafür wird es in diesem Hauses keine Mehrheit geben. ({45}) Die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik ist bekanntlich durch die alliierten Vorbehalte des Jahres 1949 eingeschränkt. Die bestehenden Bindungen müssen jedoch erhalten bleiben. Man könnte sie eher noch stärken, nachdem die andere Seite in so frevlerischer und herausfordernder Weise den Rest von Viermächte-Vereinbarungen für den östlichen Teil Berlins zerstört hat. Jedenfalls sind diese Verbindungen zwischen dem größeren und dem kleineren Teil des freien Deutschland nicht der Grund der gegenwärtigen Berlin-Krise. ({46}) Wir alle, jener Teil des Hauses so gut wie dieser und wie die Mitte, sind daran interessiert, daß eine gemeinsame Verhandlungsbasis des Westens möglichts bald erreicht wird. Dabei muß der Westen sich auf das sowjetische Ziel einstellen, Berlin nur zu benutzen, um auf dem Weg über eine Isolierung der Bundesrepublik weltpolitisch eine entscheidende Schwächung des Westens überhaupt zu erreichen. Wir alle wünschen eine Entspannung - Berlin am allermeisten! -; aber sie darf nicht durch einen faulen Brandt ({47}) Kompromiß erkauft werden, der als Ergebnis von Schwäche nur zu neuen Forderungen der anderen Seite und damit in die sichere Niederlage führen würde. ({48}) Berlin ist ein Teil Deutschlands. Es gibt keine grundlegenden Veränderungen in Berlin, die nicht Veränderungen in Deutschland, hervorrufen und bedeuten. ({49}) Der in den letzten Jahren gemeinsam vertretene deutsche Standpunkt, daß es keine isolierte Berlin-Lösung gibt, bleibt richtig. Wir müssen deshalb eine Statusverschlechterung für Westberlin ablehnen. Wir fordern mit der Regierung und mit Ihnen allen die Beseitigung der seit idem 13. August vorgenommenen Rechtsbrüche. Die Mauer muß weg! ({50}) Sie bleibt eine ständige Provokation. Hier darf es keine falschen Status-quo-Vorstellungen geben. ({51}) Ich möchte in diesem Zusammenhang in allem Ernst auf die Kundgebung der 50 000 Jugendlichen hinweisen, die kürzlich in Berlin stattgefunden hat. Die Forderungen dieser 50 000 jungen Menschen kann nur jeder in unserem Lande teilen. Wir werden es auf die Dauer niemandem verbieten können, seinem Empfinden über die Schandmauer stärkeren Ausdruck zu verleihen. Was Berlin angeht: unsere Polizei denkt wie die Bevölkerung. Sie ist zum Schutze der Ordnung in West-Berlin, aber nicht zum Schutze der Mauer da. ({52}) Ich rufe nicht zur Unvernunft auf, obwohl jene Mauer die extreme Unvernunft ist. Wir sind ein sehr geduldiges Volk, aber man sollte unsere Geduld nicht überstrapazieren oder sich wundern, wenn eis Grenzen unserer Selbstachtung gibt. ({53}) In den letzten Wochen ist Ulbricht in einer Reihe von Fällen in Einzelheiten über das hinaus gegangen, was die Sowjet-Union ihm geraten hat. Ihm durch einen sog. Friedensvertrag weitere Handlungsvollmachten zu geben, sollte auch die Regierung der Sowjet-Union noch einmal überlegen, denn sie kann durch ihn in schwer kontrollierbare Dinge hineingezogen werden. Sie sollte auf der anderen Seite verstehen, daß wir kein Vertrauen haben können in die Vertragstreue eines Regimes, das täglich bestehende Verträge bricht. Ulbricht Schikanemöglichkeiten einzuräumen, heißt, den Zustand der Spannung in Mitteleuropa zu verewigen, unter dem alle leiden. Auf der bestehenden Rechtsbasis sind sachlichtechnische Abkommen denkbar, beispielsweise über Fragen des Verkehrs und des Zugangs. Sie würden den Charakter von Durchführungsvereinbarungen zum Zwecke der Entspannung der augenblicklichen Lage haben. Wir sollten sie tatkräftig und durch eigene Vorschläge fördern. Berlin als drittes Staatsgebilde auf deutschem Boden darf und wird es nicht geben, denn wir haben das Wort unserer Verbündeten, daß es kein Abkommen gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung geben wird. Meine Freunde und ich messen den vor uns liegenden Besprechungen in Paris eine große Bedeutung bei und hoffen, daß alle Beteiligten und Mitverantwortlichen auf deutscher Seite entsprechend unterrichtet und zu Rate gezogen werden. Berlin ist heute eine Aufgabe aller freien Deutschen geworden. An seiner lebendigen Kraft wird man unseren Selbstbehauptungswillen ablesen. Berlin ist damit eine Aufgabe, die nicht bloß mit Geld zu erledigen ist. Ich hoffe, daß es zu einer Frage der politischen Moral wird, daß Menschen nach Berlin kommen, nicht nur, um es sich anzusehen, sondern um dort zu bleiben, es mit aufzubauen und zu sichern. Diese Stadt muß unser geistiges und kulturelles Zentrum werden. Sie hat dazu alle Voraussetzungen. Aber um sie zu einem solchen Zentrum zu machen, müssen die politischen und moralischen Kräfte unseres Volkes mobilisiert werden. ({54}) Meine Damen und Herren, auf dem Hintergrund dieser Situation haben meine Freunde und ich vorgeschlagen, die vierte Bundesregierung auf breitestmöglicher Basis, d. h. als Allparteienkabinett, zu bilden. Niemand mache es sich bitte so leicht, diesen Vorschlag auch noch nachträglich als taktisch bedingt abzutun. Unsere Fragestellung war - man braucht sie sich nicht zu eigen zu machen, aber man sollte sie, bitte, ernst nehmen -: Was ist objektiv erforderlich, damit die Bundesrepublik so gut wie möglich mit den Schwierigkeiten fertig wird, die auf ihrem Wege liegen? Man ist den von uns vorgeschlagenen Weg nicht gegangen. Man hat sich statt dessen auf die Gemeinsamkeit zur Ausschaltung von 111/2 Millionen Wählern verständigt, ({55}) und ich vermute, man wird das eines Tages bedauern. ({56}) Man hat uns entgegengehalten, eine Regierung der nationalen Konzentration müsse in Reserve gehalten werden, bis wir - vom Typhus und von der Cholera abgesehen, Herr Kollege Mende - einem wirklichen Notstand gegenüberstünden. Das ist ein schwaches Argument. ({57}) Als ob nicht schon genug geschehen wäre! ({58}) Da sage ich mit dem neuen Bundesjustizminister: Jeder deutsche Politiker sollte die Schandmauer sehen - und jetzt zitiere ich ihn wörtlich -, „dann würde mancher kleinliche Hader in Bonn verblassen." ({59}) Brandt ({60}) Gemeinsame Bemühungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, können doch sinnvollerweise nicht erst dann einsetzen, wenn der Karren festgefahren ist. ({61}) Es kam und kommt doch darauf an, miteinander zu überlegen, was getan werden kann, um Gefahren abzuwenden und unsere Interessen so gut wie möglich zu wahren. Niemand soll glauben, wir hätten die Allparteienregierung vorgeschlagen, um einen breiteren Buckel zu bieten, auf dem man unserem Volk noch mehr aufbürden könnte. Wir haben sie vorgeschlagen, um ein Unglück abwenden zu helfen. Wir haben sie vorgeschlagen, weil es richtig gewesen wäre, vor unserem Volk, vor der ganzen Welt, vor Freund und Feind ein Zeichen der Reife und der Entschlossenheit aufzurichten. ({62}) Es war das Kennzeichen dieses Herbstes, daß wir in der Bundesrepublik zum erstenmal seit ihrem Bestehen eine Regierungskrise hatten. Die Art, in der man sie überwunden hat, hat uns außenpolitisch Ansehen gekostet ({63}) und in unserem Innern zu einem kopfschüttelnden Abwenden vieler unserer Mitbürger und Ihrer Wähler geführt, ({64}) und das zu einem Zeitpunkt, in dem wir gerade auf das politische Bewußtsein und auf die wache Bereitschaft, sich für die Allgemeinheit verantwortlich zu fühlen, mehr angewiesen sind als jemals zuvor. ({65}) Man darf wohl über Parteigrenzen hinweg sagen: Das politische Verantwortungsbewußtsein und die innere Substanz haben nicht Schritt gehalten mit dem bewundernswerten und bewunderten äußeren Wachstum unserer Bundesrepublik. Das politische Klima und die Integration des Bürgers in den Staat sind bei uns unterentwickelt geblieben. Das Schlagwort, meine Damen und Herren, „Weiter wie bisher", ({66}) das Schlagwort „Weiter wie bisher" taugt dazu um so weniger, als wir alle wissen und wissen müssen, daß es nicht stimmt. ({67}) Gegensätze in unserem Volk zu überwinden, es auf Entscheidungen vorzubereiten und unserem Volk klarzumachen, daß die Bundesrepublik kein Selbstzweck ist, daß wir unsere Freiheit nur bewahren werden, wenn wir sie für unser ganzes Volk gewinnen, das ist die innenpolitische Aufgabe der Regierung, bei deren Erfüllung wir ihr helfen wollen, gerade weil wir in der Regierungserklärung darüber so wenig gehört haben. ({68}) Wenn wir von der Lage der Nation sprechen - und wovon anders hat eine Regierungserklärung und die Aussprache darüber zu handeln -, dann darf keiner so tun, als könne er die Innenpolitik von der Außenpolitik trennen oder als gebe es ein zusammenhangloses Nebeneinander von materiellen und geistigen Dingen. Wir müssen uns selbst und unser Volk seelisch und geistig vorbereiten auf die weltweite Auseinandersetzung kommender Jahre und Jahrzehnte, - und Jahrzehnte! Wir müssen die kommunistische Herausforderung annehmen und wissen, daß wir uns an den kulturell-geistigen und an den sozialen Fronten zu bewähren haben werden. Wir brauchen die Intelligenz unseres Volkes und müssen auf den Tag hinarbeiten, an dem bei uns in der Bundesrepublik nicht mehr das Geld über den Geist zu bestimmen haben wird, sondern der Geist über das Geld. ({69}) - Ich hoffe nicht, daß zu viele derer, die es angeht, das Lachen darauf vernehmen. Dieses Lachen müßte auf die geistigen Kräfte und auf die junge Intelligenz in unserem Volk tief beunruhigend wirken. ({70}) Wir brauchen den Willen zur krisenfesten, ausgeglichenen, gerechten Wirtschaftsordnung. Wir brauchen die Erkenntnis, daß jeder wirkliche soziale Fortschritt eine Niederlage des Kommunismus ist. ({71}) Wenn wir von der Lage der Nation ausgehen, dann brauchen wir keine Selbstzufriedenheit. In der Regierungserklärung wurde apodiktisch erklärt, die Bundesrepublik s e i ein sozialer Bundesstaat. ({72}) Wir meinen - und in Wirklichkeit gibt es doch eine ganze Menge links von der Mitte, nicht dem Sitzen nach, sondern der Haltung nach, die mit uns genau derselben Meinung sind -, daß noch viel zu tun ist, ({73}) bevor wir im Sinne unseres Grundgesetzes zum demokratischen und sozialen Bundesstaat geworden sind. ({74}) Niemand in diesem Hause wird die Leistungen der hinter uns liegenden Jahre verkleinern wollen. ({75}) Aber es gilt doch auch zu erkennen, daß immer neue Aufgaben auf uns zukommen ({76}) und daß die sozialpolitischen Bemühungen mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt halten müssen. ({77}) Brandt ({78}) - Meine Herren, die Sie das so lustig finden: ({79}) Wenn Sie schon nicht zuhören, wenn Ihnen das Herr Katzer sagt, dann hören Sie doch bitte bei mir mal zu! ({80}) Es erscheint uns sinnwidrig, die Aufgaben der sozialen Ordnung in einen Gegensatz zu stellen zur Freiheit des einzelnen und der Gesellschaft. ({81}) Die weitestgehende Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit ist vielmehr eine der Grundvoraussetzungen, um die Freiheit in der modernen Industriegesellschaft zu erhalten. ({82}) Darum war es für uns enttäuschend, daß von dem grundlegenden Gedanken einer umfassenden Sozialreform in der Regierungserklärung kaum mehr als das Wort übriggeblieben war. Unser Volk ist zu Opfern aufgerufen. Jawohl! Aber wenn von Opfern die Rede ist, dann tut es uns und allen anderen Beteiligten gut, nicht immer zuerst an die anderen zu denken. ({83}) Wenn von den breiten Schichten der Bevölkerung fühlbare Leistungen erwartet werden, dann fragen sie mit Recht, was die Leistungsfähigeren beizutragen bereit sind; ({84}) dann fragen sie mit Recht, ob die Opfer auch einigermaßen gerecht verteilt werden. ({85}) Einer meiner Freunde hat es dieser Tage so formuliert: Wenn man schon glaubt, die Arbeitskraft unserer Bürger im Rahmen einer zivilen Dienstpflicht in Anspruch nehmen zu müssen, ({86}) dann muß doch auch jeder Bürger wissen, Herr Zwischenrufer, daß der vermögende Mitbürger ein angemessenes, materielles Opfer zur Lösung unserer Probleme bringt. ({87}) Meine Freunde und ich haben es bedauert, daß die Regierung in ihrer Erklärung kein anerkennendes Wort für die Leistungen der Arbeiter und Angestellten in Vergangenheit und Gegenwart gefunden hat. ({88}) Ja, das einzige, leicht drohende Wort der Regierungserklärung war im Grunde an die Adresse der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften gerichtet. ({89}) Wir würden es für verhängnisvoll halten, wenn die Tarifautonomie der Sozialpartner angetastet würde, und wir möchten nicht hoffen, daß gewisse Arbeitgeberverbände zu einer Fehleinschätzung der realen Gegebenheiten verleitet worden sind. ({90}) Nachdem die Arbeitnehmer an den Rand der Regierungserklärung gedrückt worden sind, ({91}) wird es darauf ankommen, daß sie nicht auch an den Rand der Bundespolitik gedrückt werden ({92}) Meine Freunde werden wie in der Vergangenheit ({93}) an allem mitwirken, was den arbeitenden Menschen zum mitgestaltenden Wirtschaftsbürger macht. ({94}) Ohne ideologische Voreingenommenheit möchten wir uns an dem orientieren, was aus unserer Sicht und Verantwortung notwendig ist. ({95}) Notwendig ist beispielsweise die sozialrechtliche Gleichstellung des Arbeiters. Deshalb werden wir unverzüglich initiativ werden, um für die Arbeiter die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu sichern. ({96}) Niemandem wäre auch damit gedient, wenn wir an der schlichten Wahrheit vorbeigingen, daß die Frage des gerechten Anteils am Ertrag der gemeinsamen Arbeit in unserer Bundesrepublik ungelöst ist. Die Statistik für das Jahrzehnt 1950 bis 1960 weist eindeutig aus, .daß die Entwicklung des Lohn- und Gehaltseinkommens je Arbeitnehmer wesentlich zurückgeblieben ist hinter der Entwicklung ({97}) - hinter der Entwicklung des Volkseinkommens je Kopf der Bevölkerung. ({98}) Bleibt die Frage der nach Meinung der Wissenschaftler nicht zu leugnenden Konzentrationstendenz in unserer Wirtschaft. Unter Hinweis auf die Vermögenskonzentration ist sogar von einer „Refeudalisierung" gesprochen worden. ({99}) Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, der Freiheit und der Zukunft unseres Volkes wegen den Machtmißbrauch zu verhindern, eine ausgeglichene Brandt ({100}) Ordnung zu schaffen und dem Gesamtinteresse gegenüber den Gruppeninteressen zum Durchbruch zu verhelfen. ({101}) In den Vereinigten .Staaten und Großbritannien ({102}) hat eine Entwicklung von Jahrhunderten dazu geführt, daß diese Ordnungsaufgabe als selbstverständlich anerkannt wird. Hier erzwingt die öffentliche Meinung in viel stärkerem Maße, als das bei uns in Deutschland der Fall ist, eine angemessene Einordnung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in das Ganze. In Deutschland neigen die Interessentengruppen ebenso wie überall zur stärkestmöglichen Durchsetzung ihrer Interessen. ({103}) Aber dieser Neigung auch zum Machtmißbrauch stehen keine sehr langjährige demokratische Tradition, keine in diesen Fragen stärkere öffentliche Meinung und leider auch keine politische Führung gegenüber, die ihre demokratische Ordnungsaufgabe in ausreichender Weise erfüllt. ({104}) Offenbar befinden wir uns nach der Vergötzung des Staates im Hitlerreich in einer Periode einer gewissen Staatsverneinung, die in unserer politischen Lage jedoch mehr als bedenklich ist. ({105}) Im Grunde genommen geht es darum, die demokratische Verantwortung jedes einzelnen für die Gemeinschaft zu wecken und ein gesundes demokratisches Staatsbewußtsein zu entwickeln. Wir haben in der Vergangenheit mit Sorge beobachtet, daß zu wenig getan wurde, um das Gemeinschaftsbewußtsein zu stärken und leine gesunde Einordnung der Teile in das Ganze zu sichern, und daß die Interessentengruppen in ihrem Machtstreben häufig auch dann gestärkt wurden, wenn dies mit den öffentlichen Interessen nicht mehr zu vereinbaren war. ({106}) Wir haben große Sorge, daß die neue Bundesregierung dieser Aufgabe, eine gesunde Ordnung der gesellschaftlichen Kräfte und damit die Entwicklung eines stärkeren demokratischen Staatsbewußtseins zu sichern, eher noch weniger gewachsen ist als die vorangegangenen Regierungen. Entstehungsgeschichte und Zusammensetzung der neuen Regierung lassen keinen Zweifel darüber, daß hier ein Bündnis vorliegt, das sich ganz offensichtlich in eine weitgehende Abhängigkeit von ganz bestimmten Kreisen der Wirtschaft begeben hat. Wir wissen, daß es sich hier nicht um die ganzeWirtschaft, vielleicht nicht einmal um ihre wichtigsten Teile handelt. Wir kennen Zeugnisse von verantwortlichen Männern - von den Selbständigen bis zu den Leitern großer Unternehmen -, die unsere Sorge teilen, daß diese Bundesregierung den insoweit vor uns liegenden Aufgaben kaum gerecht werden kann. Daserschwert die Lage. ({107}) Meine Damen und Herren, der Respekt vor dem Grundgesetz, vor unserer rechtsstaatlichen und freiheitlichen, demokratischen Grundordnung, ist die Grundlage unseres gemeinsamen Wirkens. Daran müssen und werden wir auch denken, wenn es sich um eine sinnvolle Notstandsgesetzgebung handelt, ({108}) Mit einiger Kühnheit hat die Bundesregierung davon gesprochen, daß sie das Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern mit einer gewisser Sorge beobachtet habe. Schließlich hat sie ja weitgehend selber die Ursachen für das unbefriedigende Verhältnis zu den Ländern geschaffen. ({109}) Das eklatanteste Beispiel dafür war der Versuch der Errichtung einer eigenen Fernsehanstalt. ({110}) Das oberste Gericht hat diesen Versuch, durch ein Parteifernsehen eine unangemessene Machtposition zu errichten, für verfassungswidrig erklärt. ({111}) In der heutigen Situation würde allen Beteiligten gedient sein, wenn der Herr Bundeskanzler sich an sein im Jahre 1957 gegebenes Versprechen hielte und, wie er damals sagte, „in regelmäßigen Besprechungen mit den Chefs der Länderregierungen die Zusammenarbeit zu vertiefen" versuchte. Statt dessen hat ausgerechnet er, wenn die Zeitungen insoweit richtig berichtet haben, im Juni dieses Jahres den Föderalismus als eine den Deutschen von den Amerikanern und den Franzosen aufgezwungene Staatsform bezeichnet. ({112}) - Ich höre den Zwischenruf, ob wir Föderalisten geworden seien. Meine Damen und Herren, wir stehen ganz schlicht und ernst und ehrlich auf dem Boden des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland! ({113}) Die Selbstverwaltung der Gemeinden wird in Zukunft stärker gesichert, sie wird in gewisser Hinsicht wiederhergestellt werden müssen. Das ist insbesondere eine Frage der Ausstattung mit den erforderlichen Finanzmitteln. Es wird auch darum gehen, einige gemeindefeindliche Tendenzen, die in einer Anzahl von Bundesgesetzen Eingang gefunden haben, durch eine sorgfältige Neuberatung zu beseitigen, und ich darf wohl damit rechnen, daß die Freien Demokraten nicht vergessen haben, was sie hierzu bis zum 18. September gesagt haben. ({114}) Brandt ({115}) Der Erklärung der Bundesregierung ist nicht zu entnehmen, daß sie die Initiative für ein neues Parteiengesetz zu ergreifen gedenkt. Alle in diesem Bundestag vertretenen Parteien sind aufgerufen, den Auftrag unserer Verfassung zu erfüllen, nicht zuletzt, um durch Offenlegung der Finanzen eine Beherrschung von Parteien durch anonyme Geldgeber zu verhindern. ({116}) In das Bewußtsein der Bundesregierung ist offensichtlich die Tatsache noch nicht klar genug eingedrungen, daß die Konzentration der Interessenvertreter im Raume Bonn zu einem staatspolitischen Problem geworden ist. ({117}) Es gibt selbstverständlich legitime Formen der Interessenvertretung, aber gerade zu ihrem Schutz erscheint es uns notwendig, Auswüchse und Übergriffe durch eine Registrierungspflicht zu verhindern. ({118}) In den vergangenen Jahren sind die Freien Demokraten gemeinsam mit uns gegen die Einrichtung von Reptilienfonds vorgegangen. Das Koalitionsabkommen - wenn es richtig zitiert worden ist - spricht vom Gegenteil. Wir werden an dem praktischen Verhalten im Parlament feststellen, was in der Vergangenheit Grundsatz und was Taktik war. ({119}) Wir schließen uns den guten Worten an, die die Regierung für die Beamten gefunden hat. Aber gute Worte allein für den öffentlichen Dienst tun es nicht. ({120}) Wir Sozialdemokraten werden Vorschläge unterbreiten, um die wirtschaftliche Stellung der Beamten zu sichern. ({121}) Hier geht es insbesondere darum, das Besoldungsgefüge vor allem des einfachen und des mittleren Dienstes zu verbessern. ({122}) Wenn ich mich zum Problem der Sicherung und des Ausbaus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hier äußere, dann bedarf es auch noch eines Wortes zu den Fragen der Bedeutung wirtschaftlicher Macht. Wir haben keine Ressentiments gegenüber den Großunternehmen. ({123}) Es geht hier allein darum, wie der Mißbrauch wirtschaftlicher Macht unterbunden werden kann. ({124}) Was zu diesen Themen in der jetzigen Regierungserklärung steht, ist erschütternd mager. Vor vier Jahren - im Jahre 1957 - hat man sich dazu in der damaligen Regierungserklärung eindeutiger geäußert; aber geschehen ist trotzdem nichts. Wir möchten, daß etwas geschieht. Deshalb werden wir, wenn die Regierung nicht selbst bald ihre allgemeine Erklärung konkretisiert, dem Bundestag folgende Maßnahmen vorschlagen, um erstens den Zusammenschluß zu marktbeherrschenden Unternehmen genehmigungspflichtig werden zu lassen, zweitens der Kartellbehörde wirksame Möglichkeiten zur Kontrolle marktbeherrschender Unternehmungen zu geben, drittens die Preisbindung zweiter Hand, die ein Übel ist, daraufhin eingehend zu prüfen, wo und in welchem Umfang sie aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls wirklich notwendig sein mag, viertens dem Bundeskartellamt das Recht und die Pflicht zu geben, aus eigener Initiative überall dort Untersuchungen vorzunehmen, wo ein begründeter Verdacht der Marktbeherrschung vorliegt, und fünftens ernsthaft die Bildung eines Preisrats vorzusehen, in dem die Stimme der Hausfrau einen wesentlichen Einfluß erhalten müßte. ({125}) Die Aktienrechtsreform ist - ebenso wie die Strafrechtsreform und die Finanzreform - zum zweitenmal in einer Regierungserklärung angekündigt. Wenn auch diesmal die Verabschiedung des Aktiengesetzes unangemessen verzögert wird, werden meine Freunde initiativ werden, um wenigstens eine ausreichende Publizität der Großunternehmen zu sichern. Es ist nicht sinnvoll, eine große Aktienrechtsreform vorzuschlagen und dabei das Problem der Unternehmensverfassung in der Großwirtschaft einschließlich der Mitbestimmung einfach auszusparen. Von ganz entscheidender Bedeutung für eine freiheitliche demokratische Entwicklung ist es, daß alle jungen Menschen unabhängig vom Stand und Einkommen ihrer Eltern die gleiche Chance erhalten, sich ihrer Begabung gemäß zu entfalten. ({126}) Der Zugang zum Hochschulstudium ist bei uns in der Bundesrepublik immer noch allzusehr mit traditionellen und sozialen Vorurteilen verbunden. ({127}) - Aber meine Damen und Herren, gehen Sie doch bitte einmal zum Verband Deutscher Studentenschaften und lassen Sie sich die Statistik über die soziale Gliederung an unseren Universitäten und Hochschulen zeigen! ({128}) In der Regierungserklärung ist nichts darüber gesagt worden, was man zu tun gedenkt, um die Begabtenförderung und die Hilfe für die Studierenden auszubauen. ({129}) Über den Einzelforderungen steht unsere Vorstellung von der Art des Zusammenwirkens in dieser Bundesrepublik. Entweder hat man den Geist, Brandt ({130}) von dem Sie dauernd reden, Herr Majonica, oder man hat ihn nicht. ({131}) Es geht um die Vorstellungen vom Zusammenwirken in dieser Bundesrepublik, es geht um unsere Bitte - wenn man das hier sagen darf -, nicht nur für uns allein, für Millionen von Menschen in dieser Bundesrepublik, um Gewissensfreiheit und um mehr Duldsamkeit in unserem öffentlichen Leben. ({132}) Es geht um unsere Überzeugung, daß es der inneren Aussöhnung unseres Volkes bedarf und daß wir den Frieden nach außen noch schwerer gewinnen werden, wenn wir nicht vorher den Frieden im Innern erreicht haben. ({133}) Lassen Sie mich einen Vorschlag machen, der nach dem Abschluß eines sehr harten und teilweise nicht sehr schönen Wahlkampfes, wie mir scheint, besondere Bedeutung hat. Der Herr Bundespräsident hatte eine Anregung des Ringes Politischer Jugend, in dem die Jugendorganisationen der drei Parteien des Bundestages vertreten sind, sehr begrüßt, sich für eine faire, offene, aber doch tolerante Auseinandersetzung der demokratischen Parteien einzusetzen. Sollten wir nicht alle zusammen das Interesse haben, dem Beispiel anderer demokratischer Staaten zu folgen und auch in der Bundesrepublik eine von uns allen getragene, aber unabhängige Organisation zur Überwachung und Sicherung einer fairen. politischen Auseinandersetzung zu bilden? ({134}) - Sie mögen auch hierzu den Kopf schütteln oder lachen. ({135}) - Da könne man nur lachen?! Dann haben Sie den traurigen Mut, über das zu lachen, womit unsere amerikanischen Freunde und Verbündeten und andere, die auch etwas von Demokratie verstehen, gut gefahren sind! ({136}) Ich bin überzeugt, wir würden damit einen wertvollen Beitrag zur politischen Bildung und zur politischen Gesittung in unserem Lande leisten. ({137}) Meine Damen und Herren, wir werden im Laufe dieser Aussprache zur Regierungserklärung uns noch im einzelnen zu dem äußern, was nicht nur, wie soeben angedeutet, hier und jetzt und in den kommenden Jahren notwendig ist, um die Freiheit zu sichern und weiter auszubauen, sondern was ererforderlich ist, um dem Grundsatz der Gerechtigkeit näherzukommen und um im Wirtschaftlichen, im Sozialen und im Geistigen dem Fortschritt unserer Bundesrepublik und unseres Volkes zu dienen. Darauf wird im einzelnen zurückzukommen sein. Ich aber kehre nach diesem globalen Hinweis auf die praktischen Aufgaben, um die es hier im Ringen um die Freiheit, um die Gerechtigkeit und den Fortschritt gehen wird, zurück zur Frage der Zusammenarbeit in diesem Hohen Hause, zur Frage unserer gemeinsamen Verantwortung. Das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition ist ein Thema, das so alt ist wie der Bundestag und älter. Daß die Regierung es in diesem Jahr nicht besonders erwähnt hat, ist hoffentlich ein Zeichen dafür, daß sie es ohne besondere wörtliche Erwähnung, ohne Ankündigung besser machen will als bisher. In den vergangenen zwölf Jahren hatte es noch jede Partei bitter zu bezahlen, die eine Koalition unter dem Herrn Bundeskanzler eingegangen ist. ({138}) Den Herren von der FDP brauche ich das wohl nicht besonders zu sagen. ({139}) Ich kann nur hoffen, daß sie diesmal bessere Erfahrungen machen; denn das wären bessere Erfahrungen für uns alle. ({140}) Der Regierungsstil, meine Damen und Herren, war in diesen zwölf Jahren durch das gekennzeichnet, was man vielerorts „Kanzlerdemokratie" genannt hat. Ich verzichte auf eine Aufzählung ihrer bedauerlichen Erscheinungsformen. Jedenfalls hat sie mit einer Geringschätzung so ziemlich aller Kräfte außerhalb des Bundeskanzleramts ({141}) zu einer Vergiftung der Atmosphäre, ({142}) zu einem Gegeneinander der demokratischen Parteien geführt und eine Anzahl guter Kräfte und Personen bis in die letzten Wochen hinein kaltlächelnd verschlissen. ({143}) Bei uns - nicht bei uns als Partei, sondern in unserem Land und in unserem politischen Leben ({144}) sind zwölf Jahre lang Talente zerbrochen worden, statt daß sie gepflegt worden wären. Es ist viel guter Willen mißbraucht worden, statt Vertrauen zu säen. Wir haben gelegentlich eine demokratische Abart des Personenkults erlebt ({145}) - jeder macht seine Erfahrungen! ({146}) Brandt ({147}) gegenüber einem Manne, der seine unbestreitbaren Verdienste um diese Bundesrepublik Deutschland hat - das darf man doch wohl auch noch sagen - und der doch natürlich auch weiß, wie wir alle es wissen, daß es Kandidaten gegeben hat, die eine größere Mehrheit bei der Wahl zum Bundeskanzler in diesem Bundestag bekommen hätten. ({148}) Ich bedauere es ehrlich, daß Dr. Adenauer nicht zuweilen seine Autorität anders eingesetzt hat, ({149}) und ich möchte annehmen, daß er selbst es bedauert, daß er das auf seine Person konzentrierte Vertrauen - besonders des Auslandes - nicht stärker auf unser ganzes Volk zu übertragen vermocht hat. ({150}) Denn niemand darf sich darüber einer Täuschung hingeben: Wir stehen nach all diesen Jahren - auch was das Vertrauen unserer Freunde in der Welt angeht - noch nicht auf einem festen Boden, ({151}) obwohl die Demokratie in Deutschland nicht auf zwei Augen steht. Ich hoffe, daß die FDP diesmal bessere Erfahrungen macht, weil es auch unsere besseren Erfahrungen wären. ({152}) Jedenfalls bin ich für meine Person -, und ich glaube das auch im Namen meiner Freunde sagen zu können - bereit zu einem Versuch, es besser zu machen als bisher. Wir freuen uns über einige entsprechende Töne einiger Bundesminister. Aber der Kapellmeister bleibt entscheidend. ({153}) Eine Änderung des bisherigen Regierungsstils ist die Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit in den Lebensfragen unserer Nation. Wir hoffen, daß man in Zukunft nicht mehr von einer Kanzlerdemokratie sprechen muß, sondern von einem Staat, in dem die Regierung die volle Verantwortung trägt, die Parteien aber verantwortungsbewußt mitarbeiten können ({154}) und nicht ausgesperrt werden. Der Staat, das sind wir alle. Die parlamentarische Opposition, die mit fast 40 % der Mandate in diesem Hause auch noch mehr ist als bloß Opposition, wird sich jedenfalls so verhalten, daß sie jederzeit imstande ist, auch Regierungsverantwortung tragen zu können. Unsere grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit in den Lebensfragen unseres Volkes ist nicht davon abhängig, ob wir in der Regierung sitzen. Niemand sollte jedoch glauben, er könne die SPD zu gleicher Zeit aussperren und doch mithaften lassen. Wir haben ein Recht auf laufende und eingehende Information, die noch keine automatische Billigung einschließt. Mitverantwortung können wir dort nur übernehmen, wo wir nach gemeinsamer Beratung zu gemeinsamer Willensbildung gelangen. Wir bleiben der Ansicht, daß es besser gewesen wäre, die denkbar breiteste Basis für eine Regierung zu finden, die den Notstand verhindern sollte. Wir bleiben der Meinung, daß die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsam besser hätten bewältigt werden können. Vielleicht werden sie nur gemeinsam zu meistern sein, Die Sozialdemokraten werden dann nicht bequemer geworden sein, aber sie werden von der gleichen Liebe zur Freiheit und zum Dienst an ihren Mitbürgern erfüllt sein. Ich möchte noch eines deutlich machen: Die Gemeinsamkeit in den Grundfragen der Politik wird nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. Wir werden darum ringen, und es wird nicht unsere Schuld sein, wenn sie nicht zustande kommt. Es gibt keine isolierte Gemeinsamkeit in Berlin-Fragen. Wenn es wahr ist - und es ist wahr -, daß Berlin ein wesentlicher Teil der deutschen Frage ist, dann wird die Gemeinsamkeit in bezug auf Berlin sich nur dann bewähren, wenn es über das Thema Berlin hinaus zu einem Zusammenwirken gegenüber den heute drohenden Gefahren für das ganze Deutschland kommt. Ich appelliere an dieses Haus und an die Regierung, im Interesse der Zukunft unseres Volkes diese Bereitschaft ernst zu nehmen, die Verantwortung für das Ganze über die Taktik des Tages, das Große über das Kleinere zu stellen. Das erwarten unsere Menschen hier und dazu beschwören uns ,die Menschen hinter der Mauer. Die Antwort darauf und die Verantwortung dafür liegen bei uns allen. ({155})

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Meine Damen und Herren! Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollte um 11 Uhr oder kurz danach die Wahl der Wahlmänner und die Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlausschusses in diesem Hause erfolgen. Die Fraktionen sind entsprechend unterrichtet. Es ist jetzt 20 vor 11 Uhr, und ich nehme an, daß der Sprecher der CDU/CSU-Fraktion etwa eine Stunde sprechen wird. Ich möchte deshalb eigentlich dem Hause vorschlagen, da es besonders gut besetzt ist, die Wahl etwas vorzuziehen. Ich werde jetzt zur namentlichen Abstimmung läuten lassen. Wir wollen dann die Wahl etwas vor 11 Uhr durchführen. Geht das oder wollen Sie, daß die Wahl erst nachher erfolgt? Bitte, Herr Mommer, zur Geschäftsordnung!

Dr. Karl Mommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen sind dahin verständigt, daß die Wahl nach einer Rede in einer Pause nach 11 Uhr stattfindet. Wir haben Kollegen, die einen Anreiseweg haben und die sich darauf eingestellt haben, daß sie nicht vor 11 Uhr hier sein müssen. Deswegen bitte ich, die Wahl nach der Rede unseres Kollegen von Brentano vorzunehmen. ({0})

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Ich will dem nicht zuwider sein, aber ich muß sagen: das Haus ist jetzt ausgezeichnet besetzt, Herr Kollege Mommer, und ich bin mir nicht sicher, ob das nachher, so gegen 12 Uhr, noch so ist. Aber Sib möchten jedenfalls, daß die Wahl nachher stattfindet. Da wir in der Tat vereinbart haben, die Wahl in einer Pause nach 11 Uhr vorzunehmen, kann ich sie nicht gegen den Widerspruch des Herrn Abgeordneten Mommer jetzt ansetzen. Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort dem Herrn Abgeordneten von Brentano.

Dr. Heinrich Brentano (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Mit der Erklärung, die der Stellvertreter des Bundeskanzlers, Bundeswirtschaftsminister Erhard, am 29. November hier abgegeben hat, hat die neue Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ihr Programm vorgelegt. Auf die Gefahr hin, des Personenkultes bezichtigt zu werden, möchte ich mich doch dem lobenswerten Beispiel meines Vorredners anschließen und unserem verehrten Herrn Bundeskanzler sagen, wie sehr wir uns freuen, daß wir die Aussprache heute in seiner Gegenwart durchführen können. ({0}) Die Fraktion der CDU/CSU hat die Erklärung sorgfältig geprüft. Meine Freunde und ich werden in der heutigen Aussprache einige Anmerkungen zu dieser Erklärung machen; wir werden Anregungen geben und auch Fragen stellen. Aber gerade deswegen lege ich Wert auf die Feststellung, daß meine politischen Freunde und ich die Regierungserklärung billigen und ihr zustimmen. Natürlich sind wir uns bewußt, daß jede Koalitionsregierung ihre Arbeit unter anderen Voraussetzungen aufnimmt als eine Regierung, die nur von einer politischen Partei getragen ist. Bestand und Erfolg einer Koalitionsregierung hängen von der Bereitschaft der Koalitionspartner ab, Meinungsverschiedenheiten über den innen- und außenpolitischen Kurs im Wege des echten Kompromisses zu überwinden und sich in einer loyalen Zusammenarbeit zu begegnen. Soweit es sich um reine Zweckmäßigkeitsentscheidungen handelt, kann es nicht schwerfallen, im Einzelfall zu einer vernünftigen Verständigung zu gelangen. Ungleich schwieriger muß eine solche Zusammenarbeit sein, wenn sich Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fragen zeigen sollten. Es wird in solchen Fällen eines großen Maßes an Verantwortungsbewußtsein bei allen Beteiligten bedürfen. Aber ich zweifele nicht daran, daß diese Bereitschaft vorhanden ist. Wir in meiner Fraktion sind uns durchaus der Tatsache bewußt, daß die Bundesregierung die Verantwortung vor dem ganzen Deutschen Bundestag und damit vor dem ganzen deutschen Volk trägt. Mit dieser Verpflichtung zur Zusammenarbeit ist es durchaus vereinbar, wenn ich ausspreche, daß der deutsche Wähler auch am 17. September den Führungsauftrag für die CDU/CSU ausdrücklich erneuert hat. Die Union ist die stärkste Kraft dieses Hohen Hauses, das führende Element der deutschen Politik geblieben. ({1}) Wenn ich diese unbestreitbare Tatsache feststelle, so verschweige ich damit nicht, daß unsere Gestaltungsmöglichkeiten durch den Verlust der absoluten Mehrheit eingeschränkt worden sind. Wir können die Verantwortung nicht mehr allein tragen und müssen, dem Willen des Wählers entsprechend, sie mit anderen politischen Kräften teilen. Diese Überlegungen haben zur Bildung der Koalitionsregierung unter dem Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer geführt. Im Laufe der Verhandlungen haben sich beide Seiten auch darüber verständigt, welche Richtlinien sie ihrer gemeinsamen Arbeit zugrunde legen wollen. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die viel-diskutierte Koalitionsvereinbarung. Der Herr Kollege Brandt hat von dieser Vereinbarung schon gesprochen, und mein Fraktionsfreund Dr. Weber wird sich im Laufe der Diskussion noch mit dieser Frage beschäftigen. Darum kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Wir haben im Bund und mehr noch in den Ländern in den vergangenen Jahren zahlreiche in ihrer Zusammenstellung wechselnde und manchmal recht buntscheckige Koalitionen erlebt. In jedem Falle haben die Partner das gleiche getan, was hier in Bonn geschehen ist und was mir so selbstverständlich zu sein scheint, daß man eigentlich gar nicht darüber sprechen sollte. Nicht ohne ein gewisses Schmunzeln habe ich eine Anfrage gelesen, die wohl demnächst in diesem Hohen Hause behandelt werden soll. Sie beschäftigt sich mit der sonderbaren Frage, ob es sich bei der Koalitionsvereinbarung etwa um ein Staatsgeheimnis handle. Die Anfrage ist an die Bundesregierung gerichtet, und ich möchte ihrer Antwort nicht vorgreifen; aber für meine politischen Freunde und für mich selbst möchte ich auf diese Frage mit einem schlichten Nein antworten. ({2}) - Herr Kollege, es sind eine Reihe von Fassungen veröffentlicht worden, sogar in synoptischer Darstellung. Ich hatte noch gar nicht die Zeit, alles zu prüfen. Ich werde es bestimmt nachholen, und wenn jemand informiert werden will, soll er zu mir kommen. Ich bin bereit. ({3}) Aber ich meine doch, Herr Kollege Brandt hätte einen ganz guten Vorschlag gemacht: man solle die Diskussion darüber in Zukunft den Kabarettisten überlassen. Ich glaube, daß man damit der Situation gerecht würde. ({4}) Meine Damen und Herren, auch Briefe, die vor einer Eheschließung gewechselt werden, pflegen mit einer gewissen Diskretion behandelt zu werden, nicht nur wenn sie zu einer Liebesheirat, sondern auch wenn sie zu einer Vernunftehe führen, und eine solche Koalition stellt eine Vernunftehe dar. Es scheint mir - um die Dinge einmal auszusprechen - so selbstverständlich und so unerläßlich zu sein, daß diejenigen, die sich zu gemeinsamer Verantwortung zusammenschließen, in einen Meinungsaustausch darüber eintreten, wie sie dieser gemeinsamen Verantwortung gerecht werden wollen, daß ich nicht recht begreifen kann, warum darüber eine lange Diskussion entstehen konnte. Ich glaube nicht, daß jemand auf den abwegigen Gedanken kommen könnte, etwa ein Parteiprogramm als verfassungswidrig zu erklären, und hier liegt doch ein vergleichbarer Tatbestand vor: zwei politische Gruppen haben den Versuch unternommen, Richtlinien darüber auszuarbeiten, nach welchen Grundsätzen sie ihre gemeinsame Arbeit führen und nach welchen Zielen sie diese gemeinsame Arbeit ausrichten wollen. Eine solche Vereinbarung ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein vernünftiges Instrument, das dazu beitragen soll, der gemeinsamen Aufgabe gerecht zu werden. ({5}) - Und wenn schon! ({6}) Ganz gewiß wird durch eine solche Vereinbarung kein Gewissenszwang ausgeübt. Gerade die Fraktion der CDU/CSU hat in den vergangenen zwölf Jahren immer wieder gezeigt, daß sie die Unabhängigkeit der Entscheidung ihrer Mitglieder respektiert. ({7}) Wir, meine Damen und Herren, kennen keinen Fraktionszwang. ({8}) Ob die Erfahrungen im Deutschen Bundestag diese uneingeschränkte Feststellung auch für die anderen in diesem Hohen Hause vertretenen Fraktionen rechtfertigen, möchte ich dahingestellt sein lassen. ({9}) Ich wiederhole eindeutig und klar: die Fraktion der CDU/CSU kannte in der Vergangenheit keinen Fraktionszwang und wird ihn auch in Zukunft nicht kennen. Ich stelle damit klar, daß für die Mitglieder meiner Fraktion selbstverständlich auch kein Koalitionszwang gelten kann und gelten wird, und ich zweifle nicht daran, daß auch die Fraktion der Freien Demokratischen Partei für sich die gleiche Feststellung treffen wird. Meine Damen und Herren, unsere Zustimmung zum Regierungsprogramm beruht darum auch nicht auf .einer Koalitionsvereinbarung, sondern auf einer freien Gewissensentscheidung. Es steht nicht in einem Widerspruch zu der von mir geforderten und anerkannten Loyalität innerhalb der Koalition, wenn ich dabei mit Nachdruck feststelle, daß die Fraktion der CDU/CSU ihre politische Eigenständigkeit behaupten und das eigene Profil in der politischen Öffentlichkeit auch in Zukunft zeigen wird. Meine politischen Freunde, die das von der Bundesregierung entwickelte Programm billigen und unterstützen, sind entschlossen, es zum Wohl des ganzen deutschen Volkes zu verwirklichen. Wir sind uns - ich sagte es schon - der Verantwortung vor dem ganzen deutschen Volk bewußt. Aber diese Verantwortung tragen nicht nur die Regierungsparteien - mein Vorredner hat selbst darauf hingewiesen -, diese Verantwortung trägt auch die Opposition. Wir alle haben ein Mandat der Wähler. Wir zusammen vertreten das Volk, das ganze deutsche Volk, den Teil des deutschen Volkes, in dem die freiheitliche Grundordnung wiederhergestellt werden konnte, und den Teil unseres deutschen Vaterlandes, in dem die Menschen noch unter dem unerbittlichen Zwang eines in seinen ideologischen Vorstellungen und in seiner praktischen Verwirklichung uns fremden und von uns leidenschaftlich abgelehnten totalitären Systems leben müssen. Dieses Bewußtsein gemeinsamer . Verantwortung wird niemand von uns veranlassen können, etwa von einer Einheitspartei zu träumen oder einen Einheitsstaat zu wünschen. Diese gefährlichen Spekulationen mit einer pseudodemokratisch getarnten Diktatur liegen uns allen fern. ({10}) Eine Allparteienregierung, meine Damen und Herren, ist damit selbstverständlich nicht vergleichbar, wie schon das Wort besagt. Aber es ist unbestreitbar - und das sollten wir uns klarmachen -, daß in einer solchen Allparteienregierung die Kontrollfunktion der Opposition untergehen müßte. Vielleicht kann die ernste außenpolitische Lage zu einer Entwicklung führen, die uns die Frage stellt, ob wir nicht gezwungen sind, das lebendige und fruchtbare Wechselspiel zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen Regierung und Opposition, im Interesse der gemeinsamen Bewältigung schwerster politischer Probleme vorübergehend einzustellen. Sicherlich hoffen wir alle, daß uns das erspart bleibt; denn eine solche Entscheidung wäre tatsächlich der Ausdruck äußerster Not und ernstester Gefahr. Aber schon jetzt ist die Verantwortung, die auf uns allen ruht, so groß, daß wir jeden Versuch unternehmen sollten, bei den anstehenden Entscheidungen über Lebensfragen unseres deutschen Volkes ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit zu erarbeiten und auch nach außen zu zeigen. ({11}) Ich glaube nicht, meine Damen und Herren, daß wir, um eine solche Zusammenarbeit im politischen Leben, ein besseres gegenseitiges Verstehen zu erzielen, irgendeiner bürokratischen Überwachung bedürfen. ({12}) Aber ich möchte den Appell der Bundesregierung aufnehmen und für meine politischen Freunde und mich erklären, daß wir bereit sind, in der, praktischen Arbeit des Parlaments alles zu tun, um eine vertrauensvolle und aufrichtige Zusammenarbeit auch mit der Opposition zu gewährleisten. ({13}) Meine Damen und Herren, ich hoffe, auch die Aussprache über die Regierungserklärung wird zeigen, daß diese Übereinstimmung in weiten Bereichen doch besteht oder daß Ansatzpunkte dafür gegeben sind, die wir sorgsam beachten und weiterentwickeln sollten. Das scheint mir eine zwingende Forderung zu sein, der sich niemand von uns entziehen darf. Wir alle haben empfunden, daß sich die Regierungserklärung von den vorangegangenen in einem entscheidenden Punkte unterscheidet. Mit großem Ernst hat die Bundesregierung auf die gefährliche internationale Lage hingewiesen. Sie hat angekündigt, daß sie Maßnahmen treffen muß, die tief in das Leben des einzelnen eingreifen werden. Sie hat darauf hingewiesen, daß sie von dem ganzen deutschen Volk Opfer verlangen wird, die dem Ernst der Lage entsprechen. Wir sind der Bundesregierung für diese offenen Worte dankbar. Ich habe den Eindruck, daß das deutsche Volk und die Welt, insbesondere aber auch die mit uns verbündeten Nationen, diese Sprache 'erwartet und wohl verstanden haben. ({14}) Auch in anderen, in großen und starken Ländern haben die Regierungen mit ,der gleichen Eindringlichkeit an das Parlament und an das Volk appelliert. Ich könnte viele Erklärungen dieser Art in Erinnerung rufen, aber ich beschränke mich darauf, auf die eindrucksvolle Rede zu verweisen, die der amerikanische Präsident Kennedy am 26. Juli an das amerikanische Volk gerichtet hat. Diese Rede wurde gehalten, noch bevor die Sperrung der Sektorengrenze in Berlin und die Errichtung der schauerlichen Mauer in der alten deutschen Reichshauptstadt dem deutschen Volk und der Welt die unerbittliche Härte und Grausamkeit der Politik des Ostblocks vor Augen geführt haben. Ich spreche bewußt von der Politik des Ostblocks; denn wir mußten ja hören und lesen, daß diese unmenschliche Maßnahme von den Staaten Ides Warschauer Paktes beschlossen und gebilligt wurde. Hier darf ich eine Bemerkung zu einem Punkt machen, den Herr Kollege Brandt in der Regierungserklärung, vermißt hat. Meine Damen und Herren, Sie alle stimmen mir wohl zu, wenn ich sage: Wir würden es begrüßen, wenn wir gute, geordnete, vielleicht im Laufe der Zeit freundschaftliche Beziehungen auch zu den Völkern des Ostblocks, insbesondere auch zu Polen herstellen könnten. ({15}) Gerade wenn ich Polen nenne, scheue ich mich nicht, daran zu erinnern, daß wir gegenüber diesem Volk in der Tat eine moralische Verantwortung tragen, und ich wäre glücklich, wenn wir dazu beitragen könnten, sie abzutragen. ({16}) Aber nachdem Herr Kollege Brandt vermißt hat, daß in der Regierungserklärung in diesem Augenblick ein Wort etwa über die Aufnahme irgendwie gearteter Beziehungen zu Warschau gesprochen wurde, möchte ich sagen: Wäre das die richtige Antwort auf die Entscheidung, an der auch die Regierung von Warschau mitgewirkt hat, auf die Entscheidung, die Mauer durch Berlin zu errichten?! ({17}) - Sie haben die Frage gestellt; ich habe einiges dazu gesagt, aber ich habe keine Antwort auf eine Frage gegeben. Meine Damen und Herren, wir reden von der Notwendigkeit, eine echte Opferbereitschaft im deutschen Volk anzusprechen. Herr Kollege Brandt hat - in einer, wie mir scheint, nicht unzutreffenden Weise - auch davon gesprochen, daß das Staatsbewußtsein in unserem Volke nicht hinreichend entwickelt sei. Auch ich glaube, daß wir Opferbereitschaft nur erwarten können, wenn die Menschen, die wir ansprechen, die innere Bereitschaft mitbringen. 'Diese innere Bereitschaft setzt eine Klärung des Verhältnisses des Menschen zur staatlichen Gemeinschaft voraus. Ich stelle die Frage, ob es innerhalb unserer pluralistischen 'Gesellschaft gelungen ist, im Bereich der Jugenderziehung, im 'Bereich der Erwachsenenbildung die Vorstellung von einem allgemeingültigen Menschenbild zu entwickeln. Eine gewisse Staatsmüdigkeit und Staatsverdrossenheit sind vielfach die Folgen eines vergeblichen 'Suchens nach brauchbaren und glaubwürdigen Idealen. Gerade unsere heranwachsende Generation ist hier berührt. Sie hat zunächst eine nüchterne Einstellung zur Umwelt. Ich glaube, das sollten wir begrüßen; denn mit solcher Einstellung werden diese Menschen unabhängiger gegen demagogische Verlockungen und auch gegen nationalistische Verführung. Aber wir müssen uns darüber im klaren sein, daß gerade diese junge Generation für ihre Pflichten gegenüber Staat und Gesellschaft noch keine überzeugende Begründung gefunden hat. Auch in der Vergangenheit haben wir uns schon mit dieser Frage beschäftigt. Ich selbst habe vor diesem Hause einmal davon gesprochen, daß der Mangel an echtem Nationalgefühl, an Bürgersinn, an Bereitschaft zur Einordnung und zur Mitarbeit zu einem echten staatspolitischen Problem werden könnte. Nun, wir kennen die Gründe, oder doch einige besonders wichtige. Einmal ist es vielleicht die unbewußte Erinnerung an die Zeit des Dritten Reiches, in dem die anständige Gesinnung gerade der jungen Menschen so schamlos mißbraucht wurde und die viele von ihnen in einen unlösbaren Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen hineingeführt hat. Manche sind daran zerbrochen, manche haben seelische Defekte und Deformationen davon68 getragen, die bis heute noch nicht überwunden sind, und nur wenige vermochten es im wahren Sinne des Wortes, die Vergangenheit zu bewältigen und dieses Trauma von sich abzuwälzen. Zum anderen hören wir den Einwand, daß man für einen Teil des Vaterlandes doch kein nationales Gefühl, doch keinen Patriotismus aufbringen könne. Es sind nicht die schlechtesten, die der Parole „Deutsche an einen Tisch" zwar mißtrauen, aber die Forderung, daß der Deutsche nicht des Deutschen Feind sein dürfe, aufmerksam hören. Sie wissen nicht - viele können und andere wollen es nicht wissen -, daß der Deutsche, der sein Volk und seine Freiheit liebt, sich in diesem Gefühl mit den Millionen in der Zone begegnet, die nur auf die Stunde warten, das auch aussprechen zu dürfen. Meine Damen und Herren, niemand wird mir unterstellen, daß ich damit nationalistische Instinkte oder auch auch nur eine ungesunde Überbetonung nationalstaatlichen Denkens ansprechen wollte. Im Gegenteil, unsere Politik der vergangenen Jahre war bestimmt von der Überzeugung, daß das deutsche Volk ein unlösbarer Bestandteil der freien Welt sein müsse. In dieser Zusammenarbeit darf es keinen Rückfall in nationalistische Aspirationen geben. Aber unsere Zusammenarbeit mit der freien Welt ist nur dann und solange glaubwürdig, als wir unsere Pflichten und unsere Aufgaben auch gegenüber der eigenen Nation erkennen und sie ebenso ernst nehmen wie unsere Bündnisverpflichtungen. ({18}) Es geht um die Frage der Verantwortung für das Ganze. Wir glauben, daß nur derjenige Verantwortung zu tragen vermag, der bewußt in der Freiheit lebt und leben will. Aber die Freiheit ist, so meine ich, kein staatsrechtlicher Begriff. Sie ist ein moralisches Postulat. Der Staat kann und muß durch Verfassung und Gesetz die Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten, daß die Menschen in der Freiheit leben können. Aber er kann den Freiheitsbegriff nicht definieren und er kann die Freiheit nicht vermitteln. Er vermag nur die äußeren Grenzen der Freiheitssphäre abzustecken, innerhalb derer sich der Mensch in eigener Verantwortung betätigen muß, Grenzen, die dort liegen, wo die Freiheit des anderen oder das rechtmäßige Interesse der Gemeinschaft berührt werden. Weil wir glauben, daß die Freiheit ein sittlicher Begriff ist, lehnen wir die unbedingte Freiheit ab, den schrankenlosen Individualismus, dessen Gebrauch oder, richtiger gesagt, Mißbrauch in die Anarchie führte. Auch die staatsbürgerliche Freiheit des Einzelmenschen bedarf des sittlichen Korrelats der Bindung. Deswegen lehnen wir natürlich auch jede Form kollektivistischer Freiheit ab, die den Menschen angeblich frei macht, während sie ihn in Wirklichkeit in die Unfreiheit führt. Ich stelle diese Überlegungen hier an, meine Damen und Herren, um zu erklären, warum ich von der Eigenständigkeit unseres politischen Willens und Handelns spreche. Wir sind der Überzeugung, daß Politik und Weltanschauung einander nicht ausschließen, sondern einander bedingen, und wir glauben, daß die sittliche Grundlage, die unser politisches Denken und Handeln bestimmt, auf der verpflichtenden Tradition christlichen Denkens beruhen muß. ({19}) Wir sind überzeugt, daß die von der Union gewählte Zusammenarbeit der Menschen der beiden großen christlichen Bekenntnisse im politischen Raum für den Staat, für die Gesellschaft und für jeden einzelnen wertvoll und unerläßlich ist. Das staats- und gesellschaftspolitische Einverständnis evangelischer und katholischer Christen mußte unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung entdeckt werden. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit mußte im Rahmen der Union vertieft werden. Es liegt mir durchaus fern - ich möchte das gleich hinzufügen -, anderen zu unterstellen, daß Freiheit, Persönlichkeitsentfaltung, Menschenwürde und alles, was ich sagte, für sie unverbindliche Begriffe seien. Ohne gegenseitige Achtung und ohne echte Toleranz können wir nicht zusammenarbeiten, weder in einer Koalition noch mit der Opposition. Aber es erscheint mir angebracht, gerade zu Beginn der neuen parlamentarischen Arbeit auf gewisse unverzichtbare Grundsätze hinzuweisen, für die meine politischen Freunde in loyaler Zusammenarbeit mit anderen jederzeit einzutreten entschlossen sind. Wenn ich davon sprach, daß viele Menschen der jungen Generation das Verhältnis zum Staat, zur Gemeinschaft, dieses Gefühl der Verantwortung noch nicht gefunden hätten, dann appelliere ich damit an die Bundesregierung, und ich appelliere auch an 'die Regierungen der Länder. Ich möchte eine Einzelheit nennen, die, glaube ich, wert ist, auch hier einmal besprochen zu werden. Es ist ein Einzelfall, aber ein Einzelfall, den wir ernst nehmen müssen. Wie können wir draußen in der Welt glaubwürdig sein, meine Damen und Herren, wenn wir selbst Menschen in diese Welt schicken, die unsere Politik desavouieren? Ich lese hier in einer Zeitung einen Bericht von Hermann Kesten, der sicherlich nicht zu den Leuten gehört, die eines maßlosen Konformismus verdächtig sind. ({20}) Er berichtet über ein Gespräch, das in dem Verlagshaus des großen und bekannten vorzüglichen Mailänder Verlegers Feltrinelli stattgefunden hat. In diesem Gespräch ist ein junger deutscher Schriftsteller aufgetreten. Als es zu einer Diskussion kam, so schreibt Kesten, erklärte dieser junge Schriftsteller, seine Romane seien völlig unpolitisch. Er sprach mit Verachtung von Moral. Es sei ein Zufall, daß seine Romane von Berlin handelten. Übrigens sei die Mauer quer durch Berlin keineswegs unmoralisch. Sie habe im Gegenteil ihre positiven Seiten. Hier protestierten die italienischen Gesprächsteilnehmer. Der Schriftsteller sagte weiter, die Mauer sei notwendig gewesen. Drei bis vier Millionen Menschen seien aus dem Osten in den Westen geflohen, darunter unerläßlich notwendige Elemente. Das habe die Deutsche Demokratische Republik nicht dulden können, also habe sie die Mauer bauen müssen. Das sei gut und vernünftig und sittlich. Er sprach dann von der miserablen Bundesrepublik und der sittlichen Deutschen Demokratischen Republik. Dieser Mann heißt Uwe Johnson. In einer Notiz, die ich vorgestern in der Zeitung las, ist zu finden, daß Uwe Johnson einer der neuen Stipendiaten der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom für das Jahr 1962 geworden ist. ({21}) Ich habe die wirklich aufrichtige Bitte an die zuständigen Instanzen - an das Innenministerium -, daß sie diese Stipendiaten sorgfältiger auswählen. Wir haben die Gewissensfreiheit in Deutschland, das ist selbstverständlich, und Herr Uwe Johnson kann in Deutschland sagen, was er will. Aber er hat keinen Anspruch darauf, von dieser Bundesrepublik als Stipendiat und Sprecher in das Ausland geschickt zu werden. ({22}) - Wenn Sie anderer Meinung sein sollten, würde ich Sie bitten, das zu begründen. ({23}) - Ich höre den Einwand, es gehe um die Proportion, nicht um die Meinung. Gewiß, das ist ein schönes Wort. Aber wenn wir nur an die Proportion denken, dann kommt einmal der Augenblick, in dem die Proportion sich umgekehrt hat, und dann ist es zu spät für uns. ({24}) Ich habe von der Notwendigkeit, die Menschen anzusprechen, deswegen gesprochen, weil ich glaube, daß hier dem Bund und den Ländern wirklich eine Aufgabe gestellt ist, der wir uns annehmen sollten, nicht durch die Schaffung - wie ich meine - eines Wissenschaftsministeriums, sondern durch eine größere Einflußnahme auf die Gestaltung unserer Jugend- und Erwachsenenbildung im Bund und in den Ländern, vom Bund und von den Ländern, vom Bund mit den Ländern. Im übrigen möchte ich davon absehen, hier zu einzelnen Fragenkomplexen Stellung zu nehmen, die in der Regierungserklärung behandelt worden sind. Einige meiner Kollegen werden darauf im einzelnen eingehen. Meine Fraktion hält es selbstverständlich für erforderlich, über die Einzelfragen zu diskutieren. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Bemerkungen zu dem machen, was Herr Kollege Brandt ausgeführt hat. Die erste beschäftigt sich mit der Feststellung, daß - ich glaube, daß ich wörtlich zitiere - die Regierungserklärung den Arbeitnehmer an den Rand gedrückt habe, und wohl der Besorgnis, daß das in der Bundespolitik auch so geschehen könne. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist kein guter Stil der Diskussion, das ist - erlauben Sie mir, das zu sagen - Demagogie. ({25}) Wollen Sie denn wirklich ernstlich - nach dem, was Sie selber anerkannt haben; Sie haben selber von den Leistungen der letzten 12 Jahre gesprochen - der christlich-demokratischen Fraktion unterstellen, daß es ihr an sozialem Gewissen fehle? ({26}) Ich lasse diesen Vorwurf nicht gelten. Aber ich möchte ein anderes sagen. Ich habe den Ausführungen von Herrn Kollegen Brandt aufmerksam zugehört, habe gehört, wie er sich mit den Fragen der Sozialpolitik, der Wirtschaftspolitik beschäftigt hat, wie er die Ausbildung an den Universitäten kritisierte und wie er die Forderungen für eine Reihe von Personen und Gruppen aufstellte. Es hat mir eigentlich das besser gefallen, was Herr Kollege Brandt vor wenigen Tagen auf der Arbeitstagung der SPD gesagt hat. Er wird mir erlauben, es vorzulesen. Er sagte wörtlich: Was haben wir in Hannover gesagt: es ist noch nie etwas erreicht worden ohne die Bereitschaft, auch Opfer zu bringen. Wir werden es uns nicht so billig machen, allein dem privaten Wohlleben das Wort zu reden und uns einem egoistischen Materialismus zu unterwerfen. Ich zitiere weiter - alles aus der Rede -: Wir stehen an mehr als einem Punkt vor der Wahl zwischen öffentlichen gemeinschaftlichen Interessen auf der einen Seite und engem Gruppendenken oder privater 'Bequemlichkeit auf der anderen Seite. Wir werden nicht allen alles versprechen, sondern wir werden offen sagen, daß Kraftanstrengungen nötig sind, weil wir sonst in der Welt von morgen nicht bestehen können. ({27}) Meine Damen und Herren, ich hätte mich gefreut, eine solche Feststellung heute auch in der Rede des Herrn Brandt zu hören und nicht nur den Versuch, in der Tat allen alles zu versprechen. ({28}) - Eben das habe ich gerade gesagt; das ist ganz richtig. Erlauben Sie mir, jetzt zu dem Teil der Regierungserklärung überzugehen, der sich mit außenpolitischen Fragen beschäftigt, und meine Bemerkungen dazu mit der Feststellung einzuleiten, daß meine Fraktion auch diesem Teil der Regierungserklärung zustimmt. Die große bewegende Frage, die uns alle seit der Gründung der Bundesrepublik beschäftigt, ist die gewaltsame Teilung unseres Vaterlandes. Die 'Bundesregierung stellt fest, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit das unverrückbare Ziel der deutschen Politik bleiben müsse. Niemand in diesem Hause, niemand in unserem Vaterland wird dem widersprechen. Aber wir wissen, daß wir allein und auf uns gestellt diese Aufgabe nicht lösen können. In den Pariser Verträgen und in zahlreichen Erklärungen, die die Bundesregierung und der Bundestag abgegeben haben, ebenso in vielen Erklärungen unserer Verbündeten in den Ministerratssitzungen der Atlantischen Gemeinschaft oder der Westeuropäischen Union ist immer wieder ausdrücklich und verbindlich darauf verzichtet worden, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen. Wir haben darauf vertraut, daß sich die Welt dieses Anliegens eines großen Volkes annehmen wird. Wir haben damit gerechnet, daß sich die Sieger des Weltkrieges am Verhandlungstisch zusammenfinden würden, um diesen Unrechtstatbestand zu beseitigen ,einen Unrechtstatbestand, dessen Bestehen und Fortdauer den Frieden in der ganzen Welt gefährdet. Bis zur Stunde haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Aber ich widerspreche dem Herrn Kollegen Brandt, wenn er an diese Feststellung die Folgerung knüpft, die Wiedervereinigungspolitik sei gescheitert. ({29}) Sollten wir es uns denn immer wieder in der Diskussion so billig machen? Ist denn wirklich jemand hier im Hause, der unseren alliierten Freunden den Vorwurf macht, daß sie nicht alles unternommen hätten, um immer wieder in Verhandlungen mit der Sowjetunion auf die Lösung der Deutschlandfrage hinzuwirken? Ist irgend jemand im Hause, der nicht wüßte, daß es die Sowjetunion gewesen ist, die seit 12 Jahren alle diese Anfragen, Angebote und Vorschläge mit einem starren Nein beantwortet hat? ({30}) Wenn ich davon spreche, daß wir uns mit der Bundesregierung darin einig wissen, daß die Wiederherstellung der 'deutschen Einheit ein unverrückbares Ziel unserer Politik sein muß, so möchte ich noch eine weitere Feststellung treffen gegenüber einer Bemerkung des Herrn Kollegen Brandt. Er sagte, das Herz Deutschlands schlage hier, aber das Gewissen drüben in der Zone. Das ist eine Bemerkung, von der ich annehme, daß sie nicht so gemeint war, wie sie verstanden werden könnte. Ich nehme für uns alle in Anspruch, daß das Gewissen Deutschlands auch hier schlägt. ({31}) - Nein, nein. ({32}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir können mit Befriedigung und mit Dankbarkeit feststellen, daß die Nationen der freien Welt, mit denen wir uns in einem Bündnis zusammengeschlossen haben, unsere legitime Forderung unablässig unterstützt haben. Sie haben immer wieder neue Vorstöße unternommen, um die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zu bringen. Sie haben immer wieder neue Initiativen entfaltet und Vorschläge ausgearbeitet. Herr Kollege Brandt sagte, wir müßten uns mehr den Kopf zerbrechen. Hat er denn die Bemühungen der letzten zwölf Jahre nicht verfolgt? Hat er nicht beobachtet, wie sehr wir uns, oft gemeinsam mit ihm und seinen Freunden, den Kopf über diese Frage zerbrochen haben, wie wir auch mit neuen Initiativen an unsere Verbündeten herangegangen sind? Hat er nicht miterlebt, wie der Friedensplan ausgearbeitet worden ist, der im Juli 1959 nach sorgfältiger Vorbereitung, auch Vorbereitung mit der Opposition, - nicht Zustimmung, das will ich nicht behaupten -, in Genf auf den Tisch gelegt wurde? Und hat er nicht erlebt, daß auch dieser sorgfältig vorbereitete Plan mit einer Handbewegung vom Tisch geschoben wurde? ({33}) Wir haben uns in den vergangenen Jahren bemüht und wir werden uns in den folgenden Jahren bemühen. Aber, meine Damen und Herren, wir werden uns im Rahmen des Möglichen und des zu Verantwortenden bemühen, und hier besteht vielleicht ein Unterschied. ({34}) Wir hatten Meinungsverschiedenheiten, weil andere sich auch den Kopf zerbrochen haben und das Ergebnis uns nicht gefallen hat. Das war z. B. der Deutschland-Plan. ({35}) Aber ich meine, es geht nicht nur darum, daß wir uns gemeinsam mit unseren Verbündeten den Kopf zerbrechen über Lösungsmöglichkeiten auf diesem Gebiete politischer Spannungen. Wir müssen uns auch mit den Alliierten gemeinsam den Kopf darüber zerbrechen - und vielleicht erlaubt mir die Opposition, daran zu erinnern -, wie wir die Verteidigungskraft der freien Welt erhöhen können. An diesem Kopfzerbrechen hat sich bisher die Opposition nicht in genügendem Maße beteiligt. ({36}) Wenn wir nämlich die Verteidigung der freien Welt organisieren, dann organisieren wir auch die Verteidigung Berlins, das ein Teil der freien Welt ist und sein soll. ({37}) Aber wir sind uns einig, daß die Bemühungen, die deutsche Frage zu lösen, diese wiederholten, redlichen und standhaften Bemühungen, bisher ergebnislos geblieben sind. Ich stimme Herrn Brandt zu, wenn er sagt, daß das deutsche Volk in diesen lanDr. von Brentano gen Jahren eine bewundernswerte Geduld gezeigt hat. Niemand, der die Charta der Vereinten Nationen unterschrieben hat, hat das Recht, an der Forderung des deutschen Volkes vorbeizugehen. Darum spreche ich es auch offen aus: Die Deutschen empfinden es manchmal mit Bitterkeit, daß die große Organisation der Vereinten Nationen sich in tagelangen Diskussionen mit der beklagenswerten Unordnung in anderen Teilen der Welt beschäftigt, daß diese Organisation, die dem Frieden und der Freiheit in allen Teilen der Welt gleichermaßen verpflichtet ist, aber zu den deutschen Problemen schweigt. ({38}) - Sie kennen doch den Unterschied, meine Damen und Herren. - Wir alle nehmen ehrlich Anteil an den Bemühungen der jungen Völker, aus der Unselbständigkeit in die Freiheit hineinzuwachsen. Wir sind alle gegen die Opfer und die Auseinandersetzungen, die zuweilen mit äußerster Härte und Erbitterung geführt werden, und wir wünschen, daß diese jungen Nationen, denen wir uns in Freundschaft verbunden fühlen, die politische, die moralische und die wirtschaftliche Unterstützung der Welt finden, um ihre großen Aufgaben zu lösen. Aber wir verstehen es nicht und wir können es nicht verstehen, daß das Verbrechen, das auf deutschem Boden tagaus tagein begangen wird, nicht auch schon längst in den Vereinten Nationen einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen hat. Vor wenigen Tagen noch diskutierte man in den Vereinten Nationen über den Kolonialismus. Aber die brutalste Form des Neokolonialismus unserer Zeit war nicht Gegenstand dieser Debatte und auch nicht Gegenstand einer Resolution. Es blieb dem Vertreter der Vereinigten Staaten, Stevenson, vorbehalten, in einer langen, hervorragenden Denkschrift darauf hinzuweisen, mit welchen Methoden der kommunistische Block Freiheit und Menschenwürde unterdrückt. Wir sind der Regierung der Vereinigten Staaten und all den vielen Freunden in der Welt dankbar, die immer wieder auf diese Not des deutschen Volkes hingewiesen haben. Aber es waren nicht nur unsere Verbündeten, es waren auch zahlreiche Staaten Lateinamerikas und Afrikas, die in den vergangenen Monaten auf diese beispiellose Unterdrückung der Menschen im kommunistisch beherrschten Raum und ganz besonders in Deutschland hingewiesen haben. ({39}) Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Ist es nicht wert, sich in einer Organisation wie den Vereinten Nationen damit zu beschäftigen, daß drüben in der sowjetisch besetzten Zone 16 Millionen deutscher Menschen leben, die das gleiche Recht besitzen, in Freiheit zu leben, wie wir in der Bundesrepublik und wie Hunderte von Millionen Menschen in anderen Staaten der freien Welt? Man hat sie mundtot gemacht; sie müssen schweigen, weil ein lauter Protest den Verlust der Freiheit, ja vielleicht den Verlust des Lebens bedeutet. Mitten durch Deutschland ziehen sich nun Mauern, Stacheldrahtverhaue, Gräben und Panzerfallen, weil sich diese armseligen Handlanger des Kommunismus, diese zurückgebliebenen Willensvollstrecker des Stalinismus bedroht fühlen. Sie wissen um den Gewaltverzicht, den wir ausgesprochen haben. Sie wissen, daß unsere Verbündeten mit uns zusammen die Wiedervereinigung in Freiheit im Wege der Verhandlung erreichen wollen. Sie haben keine andere Handhabe drüben, die völlige Entleerung des von ihnen beherrschten Raumes zu verhindern. Drei Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahren ihre Heimat, ihre Familie, ihre Existenzgrundlage aufgegeben und sind in den freien Teil Deutschlands geflohen, wail sie den Zwang des totalitären Systems nicht mehr ertragen konnten. Und das, was drüben in der Zone geschieht, geschieht auch bei 85 Millionen Menschen in den anderen Bereichen des sogenannten Satellitensystems, Menschen, denen wir uns auch verbunden fühlen, Menschen, die den gleichen Anspruch haben, in Freiheit zu leben, den wir für uns und den wir für unsere Freunde und Landsleute in der Zone erheben. ({40}) Aber am 13. August hat man ein übriges getan. Man hat quer durch die alte Reichshauptstadt nun auch eine Mauer errichtet, und man hat diese Maßnahme mit unüberbietbarem Zynismus dahin kommentiert, daß sie dem Frieden, der Freiheit und der Wohlfahrt der Eingemauerten dienen solle! Wenn nun Deutsche aus Deutschland nach Deutschland fliehen wollen, dann werden sie von Volkspolizisten und Rotarmisten abgeschossen wie wilde Tiere. Wenn ein Deutscher aus Ost oder West seine nächsten Angehörigen besuchen, wenn er den Friedhof aufsuchen will, auf dem seine Angehörigen begraben liegen, dann muß er bei der Mauer stehenbleiben, wenn er nicht Gefahr laufen will, verhaftet oder erschossen zu werden. Meine Damen und Herren! Ich sage das alles nicht, um nationale Leidenschaften anzufachen. Ich sage es ganz gewiß nicht, um die Spannung zu verschärfen, unter der wir alle leiden. Ich sage eis, weil wir zu diesen unmenschlichen Vorgängen und zu diesen tausendfachen Verbrechen einfach nicht schweigen dürfen. ({41}) Ich sage es, um auch an das Weltgewissen zu appellieren: Wer die Freiheit für sich und sein Volk verlangt, wer die Freiheitsrechte da verteidigt, wo sie in seiner Heimat unterdrückt werden, der verliert die Glaubwürdigkeit, wenn er nicht mit der gleichen mutigen Entschlossenheit auch dagegen protestiert, wenn gleichartige Verbrechen in anderen Teilen der Welt, in Deutschland begangen werden. ({42}) Wir alle müssen uns doch darüber im klaren sein, was in den Menschen vorgeht, die jenseits dieser Mauer leben. Ihre Hoffnung auf die Solidarität der freien Menschen in der Welt muß schwinden. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß sie sich verraten und preisgegeben fühlen. Auch wenn wir wissen - leider wissen -, daß die weltpolitische Lage wenig Aussicht bietet, daß die deutsche Frage in nächster Zukunft gelöst werden wird, so dürfen wir deswegen nicht schweigen. Das Schweigen könnte allzu leicht als die Preisgabe eines unverzichtbaren Anspruchs mißdeutet werden. Und auch die Welt darf dazu nicht schweigen, denn die Freiheit in der Welt ist in Wahrheit unteilbar. Meine Damen und Herren, vor dem 13. August gab es vielleicht Deutsche in der Bundesrepublik, die sich schon anschickten, vor einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis zu kapitulieren. Vielleicht gab es auch Menschen, die dazu neigten, sich mit einem Zustand abzufinden, weil sie glaubten, ihn doch nicht ändern zu können. Das ist, wie mir scheint, seit dem 13. August anders geworden. Bis dahin gab es noch eine Stelle in Deutschland, in der die Viermächteverantwortung, wenn auch in einer verkümmerten Form, sichtbar wurde. Es gab noch eine Stadt, in der sich Menschen aus der Bundesrepublik und aus der Sowjetzone begegnen konnten. Es gab noch einige Straßen, die durch die Stadt führten und den Weg in die Freiheit offenhielten. Hier war noch etwas von Deutschland sichtbar. Seit dem 13. August hat auch dieser Zustand ein Ende gefunden. Die Erklärung der Bundesregierung gibt eine zutreffende Analyse der Ziele der Sowjetunion. Der Zugriff auf Berlin gilt nicht nur dieser Stadt; er gilt Deutschland. Das, was in Berlin an Freiheit übriggeblieben ist, soll zerstört werden. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man von einer „freien Stadt" spricht. Wir wissen aber auch, daß heute die Menschen im freien Teil der Stadt Berlin unter dem Schutz der Besatzungsmächte noch in Freiheit leben. Wir sind dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und mit ihm allen unseren Freunden und Verbündeten dankbar, daß sie sich mit letzter Entschlossenheit für die vitalen Interessen Berlins einsetzen, ({43}) und wir stimmen auch den Grundsätzen zu, die für die möglichen bevorstehenden Verhandlungen aufgestellt worden sind. Diese Verhandlungen werden sich vielleicht zunächst auf Berlin konzentrieren. Ich sage bewußt: konzentrieren; denn sie können ja nichts anderes sein als ein Teil der Verhandlungen, in denen es um Deutschland geht. Wir alle wissen es und wir haben es wiederholt gemeinsam festgestellt, daß eine isolierte Berlin-Lösung undenkbar wäre. In letzter Konsequenz könnte sie ja nichts anderes bedeuten als die Hinnahme der Dreiteilung Deutschlands. ({44}) Darum wird auch bei den bevorstehenden Verhandlungen der Grundsatz gelten müssen, daß die endgültige Lösung der Berlinfrage nur im Rahmen einer Lösung der Deutschlandfrage gefunden werden kann und darf. ({45}) Ich richte auch die dringende Bitte an die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß dieser Zusammenhang sichtbar bleibt. Ich habe keinen Zweifel, daß hier die Absichten der Bundesregierung und unserer Verbündeten übereinstimmen. Das Schlußkommuniqué von Washington hat das Ziel der gemeinsamen Politik der Bundesregierung und ihrer Verbündeten ausdrücklich hervorgehoben: die Wiederherstellung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes in Frieden und in Freiheit. Die entschlossene Haltung unserer Verbündeten, die in Berlin weder ihre Rechte noch die freiheitliche Lebensordnung der Berliner preisgeben wollen, bietet einen guten Ansatzpunkt für Verhandlungen. Allerdings glauben wir, daß die Verhandlungen sich nicht auf die drei westlichen Sektoren Berlins beschränken sollten. Berlin war eine Einheit, und die vier Alliierten hatten die gemeinsame Verantwortung für diese Stadt übernommen. Der flagrante Bruch des Viermächtestatus, der in Etappen vollzogen wurde und der mit der Errichtung der Mauer in Berlin seinen vorläufigen Abschluß fand, sollte die Ausgangsposition des Westens nicht bestimmen. Die faktische Hinnahme des heute bestehenden Zustandes müßte die Verhandlungen - Verhandlungen, denen wir zustimmen - in gefährlicher Weise präjudizieren. Aber auch hier scheint mir die Erklärung der Bundesregierung keine Zweifel offenzulassen. Die originären Rechte der Alliierten können nur im Rahmen der Viermächtevereinbarung erfolgreich vertreten werden. Das war auch der entscheidende Grund, warum die Bundesregierung davor warnte, als der Gedanke aufkam, zwar die Wiederherstellung der Viermächteverantwortung zu verlangen, aber gleichzeitig einen Dreimächtestatus für West-Berlin zu proklamieren. Es erscheint uns selbstverständlich, daß die Sicherheit der Bundesrepublik in diesen Verhandlungen nicht angetastet werden darf. Jede Gefährdung der Sicherheit würde nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die westliche Bündnisgemeinschaft schwächen. Wir haben darum nicht einmal das Recht, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, eine Minderung der Sicherheit als Kompensationsobjekt in Berlin-Verhandlungen anzubieten. Gerade wenn es um die Verwirklichung des zweiten Grundsatzes geht, nämlich um die Erhaltung der bestehenden politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik, müssen wir in der Lage sein, auf die Kraft unserer Verteidigung hinzuweisen. Berlin ist ein Teil dieser freiheitlichen Sphäre, die wir nur schützen und erhalten können, wenn wir gemeinsam die Kraft dazu aufbringen. Über die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Deutschland-Politik sprach ich schon, und wenn ich noch einmal darauf zurückkomme, dann nur, um zu betonen, daß nach unserer Überzeugung die Bundesregierung mit Recht erklärt hat, daß die Frage der europäischen Sicherheit nicht im Zusammenhang mit der Berlin-Krise diskutiert werden darf. Ich möchte hier an eine Formulierung anknüpfen, die mein Vorredner gebraucht hat, als er selbst vor faulen Kompromissen warnte, die die Begehrlichkeit der anderen Seite nur steigern könnten. Wir haben immer den Standpunkt vertreten, daß die Frage der europäischen Sicherheit nur in Verbindung mit dem Problem der Wiederherstellung der deutschen Einheit diskutiert werden kann, - ein Standpunkt, der auch hier in diesem Hause vertreten wurde, ein Standpunkt, der auch in dem Friedensplan des Jahres 1959 wiederzufinden ist. Es scheint mir eine ebenso törichte wie böswillige Entstellung der politischen Ziele der Bundesregierung zu sein, wenn jemand sagt, West-Berlin müsse die Rechnung dafür bezahlen, daß die Bundesregierung nicht auf die atomare Ausrüstung der Bundeswehr verzichten wolle und sich gegen eine militärische Beschränkung in Mitteleuropa sträube. Meine Damen und Herren, es geht nicht um atomare Waffen für die Bundeswehr; es geht um die Beschaffung einer wirksamen Verteidigungskraft für die NATO, ({46}) und es wäre unverantwortlich, wenn die Bundesregierung sich dazu hergäbe, die Sicherheit der Bundesrepublik ernsthaft zu gefährden, in der wahnwitzigen Vorstellung, Berlin dadurch zu helfen. Auch der schärfste und unerbittlichste Kritiker sollte eine unbestreitbare Feststellung anerkennen: Die gesicherte Freiheit der Bundesrepublik ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Erhaltung der Freiheit Berlins und ebenso für die Wiederherstellung der Freiheit in der sowjetisch besetzten Zone. Natürlich wissen wir alle, daß wir die Wiedervereinigung Deutschlands jederzeit erreichen könnten, wenn wir den Preis der Freiheit dafür zahlten und unsere Bündnispartner in der freien Welt verrieten. Wer das will, soll es aussprechen. Wer es nicht will, soll nicht zweideutige Erklärungen und unbegründete Vorwürfe vorbringen. ({47}) Im übrigen ist, wie Herr Kollege Brandt mit Recht gesagt hat, die Plenarsitzung sicherlich nicht der geeignete Ort, um über die Einzelheiten der Vorbereitung von Ost-West-Verhandlungen zu diskutieren. Auch ich habe den Wunsch, daß die Bundesregierung den Auswärtigen Ausschuß bald und laufend so gut wie in der Vergangenheit, Herr Kollege Schröder, über ihre Verhandlungen und Gespräche mit den Verbündeten unterrichtet. ({48}) Wir wollen und werden die Bundesregierung bei ihren Bemühungen unterstützen. Wir werden alles tun, um das Werk der europäischen Einigung fortzusetzen, um die Freundschaft, die uns mit unseren europäischen Nachbarn verbindet, zu vertiefen. Der Entschluß der britischen Regierung, den europäischen Gemeinschaften beizutreten und damit die politische Einigung Europas voranzutreiben, ist eine Bestätigung dafür, daß wir den richtigen Weg gegangen sind. ({49}) Die politische und moralische Unterstützung, die wir in der Vergangenheit bei den europäischen Regierungen gefunden haben - insbesondere bei der französischen Regierung und bei der britischen Regierung -, und das Verständnis, das der amerikanische Präsident und seine Mitarbeiter auch bei den jüngsten Gesprächen gezeigt haben, verpflichten uns; denn wir empfinden diese Solidarität keineswegs als eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen vielmehr sehr wohl, daß sie auch unseren Freunden in der Welt harte Anstrengungen und schwere persönliche Opfer auferlegt. Je stärker wir in die europäische Gemeinschaft und mit ihr und durch sie in die atlantische Gemeinschaft hineinwachsen, um so stärker ist unsere gemeinsame Kraft, die wir nicht ausbauen, um einen Krieg zu führen, wohl aber um ihn verhindern zu können. ({50}) Weil das notwendig ist, weil wir hinter den Bemühungen unserer Verbündeten und Freunden nicht zurückstehen dürfen, wenn wir damit rechnen wollen, daß sie unsere Freiheit und die Freiheit Berlins schützen und uns in der harten Auseinandersetzung um die Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes unterstützen werden, darum - das möchte ich für meine Freunde sagen - sind wir auch bereit, uns hier in diesem Hause und vor dem deutschen Volk dafür einzusetzen, daß wir alle - ich wiederhole: alle! Opfer bringen, die gebracht werden müssen, um der Welt den Frieden zu erhalten, dem deutschen Volk die Freiheit zu sichern und sie denen, die sie verloren haben, wieder zu geben. ({51})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Aussprache zu diesem Punkt der Tagesordnung und rufe gemäß interfraktioneller Vereinbarung auf die Punkte 4 a und 4b: Wahl der Wahlmänner ({0}) Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlausschusses ({1}) Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht und nach § 5 Abs. 1 des Richterwahlgesetzes beruft der Bundestag die Wahlmänner und die Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlausschusses nach den Regeln der Verhältniswahl. In den Drucksachen IV/8 und IV/48 liegen Ihnen je drei Vorschläge vor. Meine Damen und Herren, ich bitte nun wegen des Wahlmodus um Ihre Aufmerksamkeit. Es liegen vor ein Vorschlag a) der Fraktion der CDU/CSU, ein Vorschlag b) der Fraktion der SPD und ein Vorschlag c) der Fraktion der FDP. Ich bitte Sie, auf beiden Drucksachen, die als Wahlzettel gelten, den Vorschlag anzukreuzen, den Sie zu wählen wünschen. Die Änderung des Wahlvorschlages macht die Wahl ungültig. Es gibt weder Kumulieren noch Panaschieren. Sie können nur einen Wahlvorschlag ankreuzen; alles andere macht den Stimmzettel ungültig. Die beiden Wahlen werden mit verdeckten Stimmzetteln vorgenommen. Ich bitte daher, die Wahlzettel - die beiden genannten Drucksachen - doppelt zu falten. Zur besseren Unterscheidung ist die Drucksache IV/8 gelb getönt. Vizepräsident Dr. Jaeger Ich darf darauf hinweisen, daß die Berliner Mitglieder dieses Hauses bei diesen beiden Wahlen volles Stimmrecht haben. Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell vereinbart, daß wir beide Wahlen in einem einzigen Wahlgang durchführen, und zwar in der Weise, daß abweichend vom üblichen Verfahren der Namensaufruf unterbleibt, dafür aber sämtliche Mitglieder den Saal verlassen und durch die Mitteltür wieder eintreten. Dort befinden sich die beiden Urnen. Ich bitte Sie, wenn Sie den Saal betreten, in die Urne rechts den Wahlzettel IV/8, in die Urne links den Wahlzettel IV/48 zu werfen. Nur wenn alle Mitglieder, die ihren Wahlzettel abgegeben haben, sich in den Sitzungssaal begeben, ist es möglich, den Namensaufruf durch dieses Verfahren zu ersetzen. Das Verfahren dient dem Zweck, den üblichen namentlichen Aufruf zu ersparen und damit Zeit zu gewinnen. Ich muß Sie bitten, wenn Sie den Saal wieder betreten haben, bis zum Ende der Abstimmung im Saal zu bleiben, dessen Türen außer der Mitteltür alle geschlossen sind. Während des Wahlganges müssen die Türen links und rechts im Plenarsaal und sämtliche Türen zu den Umgängen Süd und Nord verschlossen bleiben. Ich bitte, sobald die Mitglieder den Saal verlassen haben, die angegebenen Türen zu schließen. Befinden sich alle Mitglieder im Besitz der Wahlzettel? - Das scheint der Fall zu sein. Ich bitte nunmehr die Mitglieder des Hohen Hauses, den Saal zu verlassen. Weiterhin bitte ich zwei Schriftführer, an der Mitteltür Platz zu nehmen. ({2}) Ich bitte, nunmehr alle Türen außer der Mitteltür zu schließen. Ich eröffne die Wahl. Ich bitte die Mitglieder, ihre Stimmzettel abzugeben, nachdem sie durch die Mitteltür hereingegangen sind. Haben alle Mitglieder des hohen Hauses - außer dem Sitzungsvorstand - ihre Wahlzettel abgegeben? Es kommt niemand mehr. Dann ist - mit Ausnahme des Sitzungsvorstandes, der seine Stimmzettel nachträglich abgibt - die Wahlhandlung geschlossen. Die Türen können geöffnet werden. Ich bitte die Schriftführer, mit den Urnen von der Mitteltür zum Sitzungsvorstand zu kommen. Nachdem auch 'der Sitzungsvorstand seine Wahlzettel abgegeben hat, ist die Wahlhandlung endgültig geschlossen. Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. Wir wollen bis zur Auszählung des Wahlergebnisses mit der Aussprache über die Regierungserklärung fortfahren. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mende.

Dr. Erich Mende (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001467, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe die Ehre, im Namen der Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei zu der Regierungserklärung die folgende Stellungnahme abzugeben. Die Berlin- und Deutschlandfrage, die Außenpolitik und die Verteidigungspolitik werden das Schicksal unseres Volkes in allen Landschaften und allen Schichten in der nächsten Zeit bestimmen. Von ihnen wird es abhängen, ob es uns gelingt, den Frieden zu wahren, oder ob über uns alle in West und Ost, ob im atlantischen Bündnis oder im Warschauer Pakt oder bei den blockfreien Nationen, das Chaos und Verhängnis eines nuklearen Krieges hereinbricht. Die jüngste Entwicklung auf dem Gebiet der Berlin- und Deutschlandpolitik erfüllt uns alle mit tiefer Sorge. Die aggressive und von der Sowjetunion ausdrücklich gebilligte Politik der Ostberliner Funktionäre gegen die deutsche Hauptstadt hat die Welt in diesem Sommer fast an den Rand des Krieges gebracht. Der Absicht der Sowjetunion, Berlin vom freien Westen 'zu trennen und so die letzte Klammer zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu zerschlagen, muß begegnet werden. Eine 'direkte oder indirekte Sanktionierung der Unrechtsmaßnahmen vom 13. August 1961 in Berlin durch Parlament und Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist ausgeschlossen. Darum kann es bei künftigen Verhandlungen um Berlin nicht um Vereinbarungen über die Sicherung des gegenwärtigen Zustandes in der geteilten Hauptstadt gehen, sondern nur um die Überwindung des widernatürlichen und durch die Kommunisten in einem. Gewaltakt heraufbeschworenen Zustandes in Berlin. Die Freie Demokratische Partei hat - wie auch die beiden anderen Parteien des Deutschen Bundestages - stets die Forderung erhoben, isolierten Verhandlungen über Berlin die deutsche Zustimmung zu versagen. Wir waren und wir sind der Meinung, daß eine radikale Trennung der Probleme Berlins von denen Gesamtdeutschlands unmöglich ist. Das Schicksal dieser Stadt ist unlösbar mit der Zukunft unseres Vaterlandes verbunden. Das Berlin-Problem - hier unterstreiche ich die Ausführungen meiner beiden Vorredner - wird erst dann endgültig gelöst sein, wenn Berlin wieder Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschland ist. ({0}) Die gegenwärtige unerträgliche Lage in der 'deutschen Hauptstadt zwingt jedoch zu raschem Handeln und zu idem Versuch, kurzfristig wenigstens zu einer gewissen Normalisierung des Lebens in beiden Teilen dieser Stadt zu ,kommen. Der amerikanische Präsident Kennedy hat sich in seinem Interview mit der sowjetischen Regierungszeitung „Iswestija" zunächst darauf beschränkt, als erstes Verhandlungsziel einer kommenden Ost-West-Konferenz über Berlin eine Zusicherung der Sowjetunion zu nennen, die den Westmächten erlauben würde, ihre Rechte, die sie jetzt in Westberlin in Übereinstimmung mit dem bestehenden Viermächteabkommen besitzen, weiterhin auszuüben, und die die Freiheit der Verbindungen in die Stadt und aus der Stadt heraus gewährleistet. Alles, was wir wünschen, - so sagte Präsident Kennedy wörtlich ist die Unterhaltung begrenzter, und zwar zahlenmäßig sehr begrenzter Streitkräfte der drei Mächte in Westberlin und z. B. eine internationale Administration für die Autobahn, so daß Güter und Personen ohne Behinderung hin- und herfahren können. Dann könnten wir den Frieden in diesem Gebiet für viele Jahre sichern. Ich glaube, wir Deutschen können - wie offenbar auch die Amerikaner - solche Gespräche über Berlin lediglich als Vorverhandlungen betrachten, denen sich möglichst bald Hauptverhandlungen über die Fragen „Deutschland" und „europäische Sicherheit" anschließen müssen. In der Tat könnte sich, falls sich zwischen Ost und West über Berlin eine vertragliche und vernünftige Vereinbarung ermöglichen läßt, dadurch eine Entspannung der internationalen Lage ergeben, die für die weit schwierigeren Konferenzen - die dann folgen müssen - über die mitteleuropäischen Probleme von einigem Nutzen wäre. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sollte sich darum dafür einsetzen, daß die Westmächte das Interimsgespräch über Berlin auf jeden Fall so anlegen, daß eventuelle Abmachungen nicht den Weg zu einer Ost-West-Konferenz verbauen, vielmehr den Weg zu weiteren umfassenderen Verhandlungen freimachen. Wir erachten es des weiteren für selbstverständlich, daß sich solche Berlin-Verhandlungen nicht auf eine vertragliche Regelung des Status von Westberlin allein beschränken dürfen. Diese Verhandlungen müssen vielmehr das Ziel haben, den Viermächtestatus von Großberlin wiederherzustellen und Vereinbarungen zu treffen, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung in beiden Teilen Berlins spürbar verbessern und die Freizügigkeit zwischen dem Ostsektor und den westlichen Sektoren der alten Reichshauptstadt wiederherstellen. ({1}) Wir stimmen mit der Bundesregierung darin überein, daß bei diesen Verhandlungen weder die Sicherheit der Bundesrepublik noch die bestehenden politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik einschließlich des freien Zugangs der Zivilbevölkerung preisgegeben werden dürfen und daß auf eine Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit nicht verzichtet werden kann. Wir sprechen die Erwartung aus, daß die Bundesregierung ihrerseits den verbündeten Regierungen ein entsprechendes Verhandlungskonzept vorschlagen wird, das unseren Alliierten die Möglichkeit gibt, die deutschen Wünsche mit Nachdruck und Erfolg gegenüber der Sowjetunion zu vertreten. Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei hofft jedoch auch, daß sich weder die Bundesrepublik noch die Westmächte gegebenenfalls Verhandlungen mit der Sowjetunion allein deshalb verschließen werden, weil neben der Berlinfrage auch noch andere Themen angeschnitten werden sollen. Denn falls die diplomatischen Sondierungen ergeben sollten, daß bei Verhandlungen über einen ausgeweiteten Themenkreis Fortschritte in der Berlin- und Deutschlandfrage gleichermaßen erzielt werden können, würde selbstverständlich die Notwendigkeit entfallen, separate Berlin-Verhandlungen einer Konferenz über Deutschland und Europa vorzuschalten. Auf jeden Fall darf uns die im Vordergrund stehende Berlinkrise nicht daran hindern, unsere gemeinsamen Bemühungen fortzusetzen, in der deutschen Frage endlich einmal einen Schritt voranzukommen. Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung betont, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit das unverrückbare Ziel deutscher Politik bleibe, auch wenn gegenwärtig noch kein Zeitpunkt für eine Verwirklichung angegeben werden könne. Die Regierung hat recht, wenn sie die Auffassung vertritt, daß die derzeitige unnatürliche Spaltung unseres Volkes immer wieder zu schweren Spannungen und Krisen geführt habe. In der Tat ist auf der Teilung Deutschlands keine Sicherheit und kein Frieden in Europa aufzubauen. Mit Deutschland ist auch Europa geteilt. Die Spaltung unseres Vaterlandes widerspricht infolgedessen nicht nur den Interessen des deutschen Volkes, sondern in gleichem Maße auch denen seiner Nachbarn und aller an einer friedlichen Entwicklung der internationalen Lage interessierter Völker. Mir scheint es notwendig zu sein, gerade auf diesen Sachverhalt hier hinzuweisen, um jenen Stimmen im In- und Ausland entgegenzutreten, die noch immer in der berechtigten Forderung unseres Volkes nach seiner staatlichen Einheit und der Beendigung der Sklaverei für 17 Millionen unserer Landsleute nichts anderes als den Ausdruck nationaler, nationalistischer, deutsch-nationaler oder gar pan-germanistischer Tendenzen erblicken. Seit der Aufnahme in die erste Deklaration der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942, ergänzt durch die Erklärung der Alliierten auf der KrimKonferenz vom 12. Februar 1945 und die mit großer Stimmenmehrheit gefaßte Resolution der UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember 1960, ist der Anspruch auf Selbstbestimmung und freie und geheime Wahlen für alle Nationen, Sieger wie Besiegte des Zweiten Weltkrieges, verbindlich gesetztes Recht. Es sei noch einmal daran erinnert, daß in der mit großer Stimmenmehrheit gefaßten Resolution der UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember 1960 erneut festgestellt wurde, daß alle Völker das Recht der freien Selbstbestimmung haben - Artikel 2 - und daß jeder Versuch zur teilweisen oder völligen Zerstörung der nationalen Einheit und der territorialen Integrität eines Landes unvereinbar ist mit den Zielen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen - ausgedrückt in Artikel 6 - und daß jeder Staat gewissenhaft und genauestens die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, der universalen Erklärung der Menschenrechte und dieser Deklaration auf der Basis der Gleichheit, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates und des Respekts vor den souveränen Rechten und der territorialen Integrität aller Völker befolgen muß; so fast wörtlich in Artikel 7. Wenn wir Freien Demokraten daher immer wieder in den vergangenen Jahren und auch heute als das mahnende Gewissen für die deutsche Wieder76 vereinigung auftreten, so sollte man uns nicht im In- oder Ausland daraus den Vorwurf des Nationalismus machen. Sollte allerdings das Eintreten für die Einheit und Freiheit und Selbstbestimmung seines Volkes Nationalismus sein, dann sind wir stolz darauf, Nationalisten zu sein. ({2}) Auch die in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegten Grundsätze gehen von dieser rechtlichen Basis für die Wiederherstellung der deutschen Einheit und einer vollen deutschen Souveränität aus. Wir sind uns hierbei der Zustimmung und der Unterstützung unserer westlichen Verbündeten gewiß. Wir müssen aber ebenso den Wunsch haben, die Nationen deis Ostblocks und vor allem die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß die klare und unzweideutige Verwirklichung der auch von ihnen völkerrechtlich anerkannten Grundsätze der Atlantikcharta dem Frieden und damit dem Wohlergehen der Völker der östlichen wie der westlichen Welt dient. Alle Bündnisformen politischer wie militärischer Art müssen diesem Ziel untergeordnet bleiben. Wir müssen Hand in Hand mit unseren Verbündeten jede politische Möglichkeit prüfen und aufgreifen, die der Sicherung von Frieden und Freiheit dient. Aus diesem Grunde verträgt sich die in den Verträgen von 1954 festgelegte und auch heute noch rechtlich gültige Entscheidungsfreiheit für eine gesamtdeutsche Regierung durchaus mit den in unserer Koalitionsvereinbarung wie in der Regierungserklärung angegebenen außenpolitischen und militärpolitischen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesregierung. Wir sind sicher, daß unsere Verbündeten das Recht und die Freiheit ebensowenig einschränken wollen wie wir selbst und deshalb gern auf die Erörterung von Vorschlägen eingehen, die der Sache des Friedens und der unbedingten Sicherung der Selbstbestimmung der Völker dienen können. Entscheidend bleibt für uns alle nur, daß solche Vorschläge nicht ausschließlich taktischer oder dialektischer Natur sind und nur darauf hinzielen, den machtpolitischen Interessen irgendeiner Gruppe einseitig Vorteile zu sichern. Hier haben wir heute in erster Linie an das Rechtsgefühl der Sowjetregierung und an die von ihr selbst als verbindlich erklärten Grundsätze des Völkerrechts zu appellieren. Die schändliche Mauer in Berlin ist nicht nur aus Steinen, Mörtel und Stacheldraht errichtet worden; hineingemauert sind leider auch rechtlich nicht vertretbare Machtansprüche, Angst vor der allzu sichtbaren Erkenntnis wirtschafts- und sozialpolitischer Unzulänglichkeiten im kommunistischen Herrschaftsbereich und die Sorge vor der werbenden Kraft des erhabenen Gedankens der Freiheit. ({3}) Was die Sorge vor Machtgruppierungen an der Grenze zwischen Ost und West betrifft, so können wir die Völker der östlichen Welt beruhigen. Weder die Deutschen noch ihre Verbündeten wünschen oder suchen Gewalt. Sie wünschen und suchen Frieden und Freiheit und den Wettbewerb des Geistes wie der wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Dabei soll und wird jeweils die bessere Erkenntnis auf die Dauer siegen. Für uns ist es von einer lebensentscheidenden Bedeutung, zu sehen, ob die Formeln des dialektischen Materialismus den östlichen Machthabern überhaupt noch die geistige Souveränität lassen, Fehler zu erkennen, auf alte Grundsätze und Machtansprüche zu verzichten und dem Frieden um des Friedens willen, der Freiheit um der Freiheit willen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wir halten nicht viel davon, mit Pathos an die Sowjets zu appellieren. Wir glauben aber, daß auch die Sowjets sich der Wirkung deis ungeteilten Rechts in der öffentlichen Meinung der Welt auf die Dauer nicht werden entziehen können. Die Freie Demokratische Partei glaubt nach wie vor, daß zur Herbeiführung eines gerechten Friedensvertrages mit ganz Deutschland die Neubelebung der vor zwei Jahren vertagten Genfer Außenministerkonferenz einen gangbaren Weg darstellen und daß es sich empfehlen würde, diese Außenministerkonferenz zu einer ständigen Deutschlandkonferenz im Range der Außenminister oder ihrer Stellvertreter umzugestalten. ({4}) Es ist nun aber die Frage, wie man auf dem Gebiet der deutschen Wiedervereinigung in den kommenden Monaten und Jahren wenigstens einen Schritt vorankommen kann. Präsident Kennedy hat in seinem „Iswestija"-Interview zu erkennen gegeben, daß die Vereinigten Staaten offenbar die Absieht haben, bei künftigen Ost-West-Verhandlungen über Deutschland auf die Viermächteerklärung vom 23. Juli 1955 in Genf zurückzukommen. In dieser Viermächteerklärung ist ein Sicherheitspakt für Europa, eine Begrenzung, Kontrolle und Inspektion des Umfangs der bewaffneten Streitkräfte und Rüstungen vorgesehen sowie die Errichtung einer Zone zwischen Ost und West, in der nur eine gegenseitig zu vereinbarende Anzahl von Streitkräften stehen darf. Zugleich hatten die Vier Mächte damals einer Lösung der deutschen Frage durch freie Wahlen in Deutschland zugestimmt. Noch liegt auch der sogenannte Herter-Plan vom 15. Mai 1959, den auch mein Kollege von Brentano hier in Erinnerung rief, sozusagen unerledigt auf dem Tisch des inzwischen verwaisten Verhandlungssaales der Großmächte in Genf. Dieser westliche Friedensplan, der Grundzüge für eine stufenweise Wiedervereinigung Deutschlands, eng verbunden mit der europäischen Sicherheit, und eine deutsche Friedensregelung vorsah, wurde damals in Genf nicht ausdiskutiert. Die Großmächte hatten sich nach wenigen Tagen an der Berlin-Frage und an Interimslösungen für die alte deutsche Reichshauptstadt hoffnungslos festgefahren, ohne noch einmal auf die damit unlösbar zusammenhängenden Fragen Deutschlands und der europäischen Sicherheit einzugehen. Wir Freien Demokraten sind der Auffassung, daß dieses Material der Genfer Viermächtekonferenz auch heute noch genügend Ansatzpunkte für erneute Ost-West-Verhandlungen über Deutschland bietet. Sicherlich wird man diese Papiere dem neuesten Stand der internationalen politischen und militärtechnischen Entwicklung anpassen müssen. Aber das Grundelement aller dieser Pläne und Beschlüsse der vergangenen Jahre, d. h. die feste Verbindung zwischen den deutschen Problemen und den Fragen der europäischen Sicherheit, ist nach wie vor der Ausgangspunkt aller weiteren Planungen und Überlegungen über die Zukunft Deutschlands. Es kommt jetzt darauf an, jeden weiteren Versuch des Ostens, die Berlinfrage in seinem Sinn zu lösen und die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik und des Westens ernsthaft zu bedrohen, durch die Zusammenfassung aller politischen und militärischen Kräfte der freien Welt zu vereiteln. Es ist aber nicht weniger geboten, daß die Bundesregierung und ihre Verbündeten den ernsten Versuch machen, die Initiative in der Deutschlandpolitik für sich und den Westen zu gewinnen und zum geeigneten Zeitpunkt die Lösung der Deutschland- und Berlinfrage durch Friedensverhandlungen für ganz Deutschland zu erreichen. ({5}) Mögen auch die Chancen gegewärtig noch so gering sein, mit den Sowjets in diesen Fragen zu einer Verständigung zu kommen, unsere Verantwortung für den Frieden und das Schicksal der 17 Millionen Landsleute hinter Mauer und Stacheldraht verpflichtet uns immer wieder zu neuen Anstrengungen und Versuchen, die unselige Spaltung unseres Vaterlandes zu beenden. ({6}) Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung vor dem Deutschen Bundestag am 29. November ausdrücklich versichert, sie werde sich dafür einsetzen, daß nichts geschieht, was die Wiedervereinigung erschweren oder verhindern könnte. Die Bundesregierung darf überzeugt sein, daß sie bei diesem Bemühen die volle Unterstützung der Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei haben wird, die eine Resignation immer als schlechtes Mittel der Politik, die Aktionen und geistige Auseinandersetzungen aber als das richtige Mittel der Politik angesehen hat. ({7}) Ich möchte auch hier für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei noch einmal betonen, daß wir zur Sicherung unserer Freiheit eine umfassende Verteidigungspflicht des ganzen Volkes für notwendig erachten. Wir haben schon in unserem sogenannten Berliner Programm im Jahre 1957 festgestellt, daß die Freiheit nicht allein durch Bekenntnisse gesichert werden kann, sondern daß sie notfalls auch mit der Waffe verteidigt werden muß. Unsere Wehrpolitik muß der politisch-geographischen Lage der Bundesrepublik, den militärischen Gegebenheiten und der Entwicklung der modernen Rüstungstechnik entsprechen. Wir brauchen eine Verteidigungspflicht, die sich gründet auf die der NATO unterstellten Kampfeinheiten, auf die Einheiten der territorialen Landesverteidigung und auf die Kräfte des zivilen Bevölkerungsschutzes. Wir legen besonderen Wert darauf, daß diese Bemühungen um die Behauptung der Freiheit mehr als bisher koordiniert werden, und wir werden der von der Bundesregierung ins Auge gefaßten Verlängerung der Dienstpflicht auf 18 Monate zustimmen. Die Freie Demokratische Partei hat die wesentlichen Elemente des Aufbaus der deutschen Nachkriegsdemokratie hier in diesem Hause mitverantwortet: den Beitritt zum Europarat, zur EVG - die später in der Assemblée Nationale scheiterte -, zur Westeuropäischen Union und zur NATO. Sie hat auch später in der Opposition die innerpolitischen Konsequenzen aus allen diesen Verträgen gezogen und beispielsweise sämtlichen Verteidigungshaushalten in diesem Bundestag zugestimmt, ob in Regierung oder in Opposition. Wir sind der Meinung, das Bekenntnis zur Verteidigung der Freiheit ist nur dann glaubwürdig, wenn man sich nicht nur zu den Verträgen bekennt, sondern die schwierigen innerpolitischen Konsequenzen ebenfalls auf sich nimmt. ({8}) Hier ist der Sprecher der sozialdemokratischen Opposition, Herr Kollege Brandt, ausgewichen. Er erklärte lapidar, die Opposition werde die Frage der Dienstpflichtverlängerung beraten. Meine Damen und Herren, das erwarten wir selbstverständlich von einem Parlament, daß die Opposition einen Antrag mit berät. ({9}) Uns hätte interessiert, wie sich die Sozialdemokraten in dieser Frage entscheiden wollen. ({10}) Die Freie Demokratische Partei hat sich bereits im Wahlkampf zu dieser unpopulären Belastung der deutschen Jugend bekannt und ist - nach der Wahl - bereit, diese unpopuläre Konsequenz für unsere Sicherheit auf sich zu nehmen. ({11}) Wir dürfen aber von dieser Maßnahme allein nicht die unbedingt notwendige und von der NATO gewünschte Verstärkung der konventionellen Kampfkraft im mitteleuropäischen Raum erwarten. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, alle Maßnahmen zu ergreifen - das gilt auch für die Gesetzgebung über die Rechtsverhältnisse der Soldaten -, damit die Verteidigungsanstrengungen unseres Volkes ein Höchstmaß an Wirksamkeit haben. Wir wollen nicht vergessen, daß auch im technischen Zeitalter letztlich immer noch der Mensch der bestimmende Faktor für die Wirksamkeit der Technik auch in der Verteidigung ist. Wir Freien Demokraten sprechen vielleicht nicht so oft von der Notwendigkeit der europäischen Einigung, von den Aufgaben der NATO und von dem Bündnis mit dem Westen, weil diese Ziele schon so Bestandteil der deutschen Politik geworden sind, daß wir sie als selbstverständlich ansehen. Die Freie Demokratische Partei hat seit 1949 alle Bemühungen unterstützt, die auf die stärkere Bindung an den Westen gerichtet waren. ({12}) Die Freie Demokratische Partei hat alle Vertragswerke, die der Einigung Europas dienen sollten, mit verantwortet. ({13}) - Herr Kollege Wehner, warten Sie doch ab! Sie rufen, wie bei der Regierungs-Erklärung bei der Mauer, fünf Zeilen zu früh. ({14}) - Die Freie Demokratische Partei hat alle Vertragswerkë, die der Einigung Europas dienen sollten, mit verantwortet. Dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft konnte sie nicht zustimmen, weil sie fürchtete, das Europa der Sechs werde zu einer Spaltung des freien Teils unseres Kontinents führen. Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen. Großbritannien, Dänemark und andere europäische Staaten bemühen sich um den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Zusammenschluß aller Staaten des freien Europa - zunächst zu einer wirtschaftlichen Einheit - muß das Ziel der Europapolitik bleiben. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, alles zu tun, was die Aufnahme weiterer europäischer Staaten in die Gemeinschaft Europas fördert. Neben der Sicherung unserer Freiheit gegen Bedrohung von außen ist der Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung in einem freiheitlichen Staat unsere Antwort auf die kommunistische Herausforderung. Die Schandmauer in Berlin ist nicht nur ein Akt der Unmenschlichkeit und ein neuer Schlag gegen die deutsche Einheit und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, sie ist auch das Eingeständnis der Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen System des Ostens. ({15}) Der von Chruschtschow ausgerufene friedliche Wettbewerb zwischen Kapitalismus - sprich freiheitliche Gesellschaftsordnung - und Sozialismus - sprich Kommunismus - mußte in Deutschland abgebrochen werden, weil die Massenfluchtbewegung aus der sowjetischen Besatzungszone den überzeugendsten Beweis für die Richtigkeit unseres Weges lieferte. ({16}) Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung in der Regierungserklärung die Notwendigkeit einer parlamentarischen Opposition im Rahmen unseres demokratischen Staatswesens unterstrichen hat. Dieser Gedanke leitete die Freien Demokraten bei ihrer Entscheidung für die jetzt gebildete Koalitionsregierung und gegen eine Allparteienregierung. Wir alle wissen, daß sich unser Volk in einer sehr ernsten Lage befindet. Diese Lage verpflichtet alle staatstragenden politischen Kräfte, in den Lebensfragen der Nation zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit muß aber nicht bedeuten, daß alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien die Regierungsverantwortung gemeinsam tragen müssen. Eine Allparteienregierung kann niemals die Regel sein; sie muß die Ausnahme bleiben. Eine Regierung ohne Opposition ist in der parlamentarischen Demokratie nur aus bestimmten Ausnahmegründen zu rechtfertigen. ({17}) Das würde vor allem für den Verteidigungsfall, von dem wir alle hoffen, er möge nicht eintreten, ebenso gelten wie für andere mögliche Phasen unmittelbarer Bedrohung von Leib, Leben und Eigentum. ({18}) - Eine Allparteienregierung jetzt, meine Herren von der Opposition, hätte bedeutet, daß wir uns in der Skala der Möglichkeiten einer Reaktion auf weitere krisenhafte Zuspitzungen schon jetzt der letzten Steigerung bedient hätten. Wir wären damit Gefahr gelaufen, daß wir zu einer Dramatisierung der gegenwärtig ohne Zweifel ernsten Lage beigetragen hätten, ({19}) die morgen oder übermorgen doch noch wesentlich gefährlicher werden könnte. ({20}) - Herr Kollege Mattick, das ist keine Unterschätzung der Mauer; aber über die Mauer hinaus gibt es eine noch weit gefährlichere Entwicklung, die Sie und uns alle noch stärker treffen kann als die Mauer. ({21}) Eine Allparteienregierung kann immer nur eine Übergangsregierung sein. Man muß erkennen, daß derartige Lösungen innenpolitische Gefahren heraufbeschwören, die nur unter außergewöhnlichen Umständen in Kauf genommen werden sollten. In der Innenpolitik würde eine Allparteienregierung im letzten zu einer Neutralisierung der wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Kräfte führen. Eine solche Regierung würde schließlich durch die Diskussion gelähmt sein, wann der Zeitpunkt der Beendigung der Krise und damit der Rechtfertigung ihres Bestehens gekommen ist. Da die eine der Parteien, die eine solche Regierung mit tragen, zu diesem Zeitpunkt wieder ausscheiden müßte, könnte die Handlungsfähigkeit auch durch die Diskussion darüber begrenzt sein, wer nach Beendigung der Regierungskrise die Regierungsverantwortung weiter trägt und wer die Rolle der Opposition zu übernehmen hat. Wir haben aus diesen Gründen der gegenwärtigen Koalitionsregierung den Vorzug gegeben. Sie schafft klare parlamentarische Fronten und ermöglicht das Wechselspiel von Regierung und Opposition, das nach unserer Meinung heute noch erlaubt ist; wie es morgen sein wird, das liegt nicht allein in unserer Hand. Die vierte Bundesregierung verfügt über die stabile Mehrheit von 309 Abgeordneten gegenüber 190 Abgeordneten der Opposition. ({22}) - Meine Herren von der Opposition, Sie können von mir schlecht verlangen, daß ich mich bei Ihnen dafür entschuldige, daß Sie nicht mehr Abgeordnete in diesem Haus versammeln können. ({23}) Es ist das gute Recht, es ist sogar die Pflicht der Opposition, aus der Opposition in die Macht und Verantwortung einzutreten. Wir haben im Januar dieses Jahres in Stuttgart dafür das Wort vom „Kopiloten" in der Regierungsmaschine geprägt. Darüber haben Sie gelacht. Aber ich bitte Sie, es meiner Partei doch nicht als Fehler anzukreiden, daß Sie weiter unten sitzen müssen und daß wir in die Mitverantwortung eingetreten sind. ({24}) Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung die großen rechtspolitischen Aufgaben, die dem 4. Deutschen Bundestag gestellt sind, in der Regierungserklärung an hervorragender Stelle genannt hat. Die Strafrechtsreform wird ebenso wie die Novellierung p unseres Strafprozeßrechtes Zeugnis ablegen von dem freiheitlichen Geist unseres Staatswesens und von der Sicherung der Rechte der Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat. Die Aktienrechtsreform muß der in unserem Wirtschaftsleben vorherrschenden Rechtsfigur der Aktiengesellschaft die Gestalt und den Inhalt verleihen, die unsere Bemühungen im Rahmen der Eigentumspolitik um eine breite Vermögensstreuung unterstützen und fördern. Von der Reform des Urheberrechts erwarten wir jene Würdigung und Anerkennung und jenen Schutz der geistigen Leistung, die für unsere geistige und kulturelle Entwicklung unentbehrlich sind. In einer Zeit, in der die materiellen Werte überbewertet werden, sollte endlich auch in Deutschland die geistige Leistung die ihr gebührende Einschätzung erfahren. ({25}) Die Bundesregierung sollte den Plan zur Schaffung eines Rechtspflegeministeriums verwirklichen. Das Vertrauen der Rechtsuchenden und die Unabhängigkeit der Gerichte kann durch eine Eingliederung der Spezialgerichtsbarkeiten in die Zuständigkeit des Justizministeriums unter Aufrechterhaltung der organisatorischen Selbständigkeit gestärkt werden. ({26}) Wir begrüßen das Bekenntnis der Bundesregierung zum Berufsbeamtentum. Sie sollte daraus die Verpflichtung entnehmen, von sich aus die wirtschaftliche Stellung der Beamten, Pensionäre, Witwen und Waisen laufend zu beobachten. Dieser Weg ist staatspolitisch richtiger als der, es den Beamten allein zu überlassen, ihre berechtigten wirtschaftlichen Forderungen durch gewerkschaftliche Organisation erkämpfen zu müssen. ({27}) Das gegenseitige Treueverhältnis zwischen Staat und Beamten verlangt, daß die Regierung rechtzeitig tätig wird, wenn sich der allgemeine Lebensstandard verändert hat; denn auch der im öffentlichen Dienst Tätige hat ein Recht, an dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufstieg unseres Volkes beteiligt zu werden. Dienstleistungen beim Staat dürfen grundsätzlich nicht geringer bewertet werden als Dienstleistungen in der freien Wirtschaft, wenn man nicht Gefahr laufen will, nur noch zweitrangigen Nachwuchs für den öffentlichen Dienst zu erhalten. ({28}) Die Beamtenbesoldung sollte nicht wieder in das Schlepptau von Tarifverhandlungen geraten. Vielmehr muß umgekehrt die Besoldungspolitik für die Beamten Vorbild für den gesamten öffentlichen Dienst sein. Die zwischen Bund und Ländern verlorengegangene Einheit der Besoldung muß wiederhergestellt werden. Dabei wird gleichzeitig zu prüfen sein, wieweit beim einfachen und mittleren Dienst die Sozialteile des Gehalts verbessert werden können. Die Freie Demokratische Partei hat in ihrem Aufruf zur Bundestagswahl den Aufgaben, die Wissenschaft und Forschung stellen, einen breiten Raum gewidmet. Es ist in den Koalitionsverhandlungen auch erwogen worden, ob man nicht ein „Ministerium für Wissenschaft und Forschung" unter Leitung eines international anerkannten deutschen Wissenschaftlers etwa vom Range eines Professors Coing oder Professor Hesse oder anderer einrichten sollte. Man ist von diesem Plan zunächst, auch angesichts des Widerstandes der Länderkultusminister, in verfassungsmäßiger Hinsicht abgekommen. Der Sprecher der Opposition, Kollege Brandt, erwartet in der nächsten Zeit eine stärkere Förderung der geistigen Ausbildung des Nachwuchses und der Studenten. Sicher wäre ihm die Regierung verbunden, wenn er mit dazu beitrüge, die verfassungspolitischen Bedenken der Länder um des Bundes willen zu verringern. ({29}) Die angekündigte Berücksichtigung der Vorschläge des Wissenschaftsrates ist für uns ein erster Schritt zur Förderung von Wissenschaft und Forschung. Sie ist eine Mindestvoraussetzung liberaler Kulturpolitik. Der Bereitschaft der Bundesregierung, sich an der Errichtung neuer Hochschulen zu beteiligen, muß die schnelle Inangriffnahme des Ausbaus und der Vermehrung unserer Bildungsstätten folgen. Neue Bildungsstätten sind die Voraussetzung für die Aktivierung und Stärkung aller in unserem Volke vorhandenen geistigen Kräfte im Interesse unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung. Wenn wir - diese Aufforderung und Bitte richte ich an alle drei Fraktionen - in den nächsten Jahren nicht mehr für die deutsche Wissenschaft und Technik tun, werden wir in zehn Jahren selbst zu einem der Entwicklungsländer auf diesem Gebiete gehören. ({30}) Die Schaffung neuer und weiterer Bildungsstätten ist aber auch unabdingbar verbunden mit unseren Bemühungen um eine konstruktive Zusammenarbeit und um die Unterstützung der jungen Staaten Asiens und Afrikas. Die Verstärkung der Bildungshilfe für diese Staaten ist eine der vordringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Die Entwicklungshilfe muß die Förderung der Selbsthilfe und des eigenen Aufbauwillens der Entwicklungsländer zum Inhalt haben, nicht die Gewährung von Geschenken, die allzu leicht zu Korruption führt. Die Wirtschaftspolitik, im Jahre 1948 vom Frankfurter Wirtschaftsrat mit Hilfe der Freien Demokratischen Partei und gegen den Widerstand der Sozialdemokratischen Partei und ihres damaligen Sprechers Professor Nölting begonnen, hat den Aufbau unseres Landes mit einem von aller Welt anerkannten Erfolg ermöglicht. Die soziale Marktwirtschaft hat sich als die Form gesellschaftlicher Wirkung erwiesen, in der die geistigen Kräfte, das Können, die Fertigkeiten und der Fleiß eines Volkes in allen seinen Schichten am stärksten zur Geltung kommen. Wir werden deshalb auch in Zukunft diese soziale Marktwirtschaft gegen jeden Versuch einer Verfälschung verteidigen. Es wird eine unserer wichtigsten Aufgaben im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit sein, diese soziale Marktwirtschaft auch in der EWG zu verwirklichen. Wir sind sicher, daß die Völker Europas ebenso wie das deutsche Volk aus dieser Form wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Betätigung den höchsten Nutzen ziehen werden. Die Erfolge der sozialen Marktwirtschaft täuschen uns nicht darüber hinweg, daß große gesellschaftspolitische Aufgaben noch zu bewältigen sind. Für uns Freie Demokraten sind Leistung und Können des einzelnen unentbehrliche Bestandteile des gemeinsamen Erfolgs. Jedem Aufstiegsmöglichkeiten nach seiner Leistung, nach seinem Können zu bieten ist die gemeinsame Aufgabe von Regierung und Opposition. Wir sind überzeugt, daß von der unternehmerischen Initiative der selbständigen Schichten unseres Volkes ein entscheidender Impuls für unsere Gesellschaftsordnung ausgeht. Wir begrüßen es deshalb dankbar, daß die Regierungserklärung die Notwendigkeit unterstreicht, die Leistung und Wettbewerbsfähigkeit der selbständigen. Existenzen in Handel, Handwerk und Gewerbe, in der Landwirtschaft und in den freien Berufen zu stärken. Mittelstandspolitik ist für uns Freie Demokraten ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaftspolitik, die von (der Notwendigkeit selbständiger und nichtselbständiger Schichten unseres Volkes ausgeht. Man muß bei jeder gesetzgeberischen Maßnahme prüfen, ob sie die Gefahr eines Eingriffs in die gegliederte Gesellschaftsstruktur unseres Volkes in sich birgt. Die Bundesregierung hat sich mit der Ankündigung, das Selbständigwerden bisher abhängiger Existenzen zu ermöglichen, eine große Aufgabe gestellt. Ein erster Schritt auf diesem Wege sollte die Beseitigung jener zusätzlichen Belastungen sein, die heute noch die Entfaltung 'zahlreicher mittlerer und kleinerer Existenzen behindern. Das gilt vor allem für die Belastung der lohnintensiven Betriebe durch das gegenwärtige Aufbringungssystem für das Kindergeld. Wir verstehen deshalb die Ankündigung der Bundesregierung, daß ein Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung des Kindergeldrechts die Aufbringung der für die Zahlung von Kindergeld insgesamt erforderlichen Mittel regeln müsse, als die Ankündigung der Aufbringung des Kindergeldes aus öffentlichen Mitteln. Wir sind 'der Überzeugung, daß es in dieser Wahlperiode möglich sein wird, dieses Ziel schrittweise zu erreichen. Im 3. Deutschen. Bundestag haben alle drei Parteien die Notwendigkeit einer Eigentumsbildung breiter Schichten unseres Volkes unterstrichen. Die Leistungen der vierten Bundesregierung werden auch danach gemessen werden, ob es ihr 'gelingen wird, ohne Neuverteilung bestehenden Eigentums breiteste Schichten unseres Volkes an der Eigentumsbildung zu beteiligen. Der steigende Anteil der öffentlichen Haushalte an der Vermögensbildung muß eingeschränkt werden. Der Vorrang breit gestreuter Vermögensbildung in privater Hand muß das Ziel der Regierungspolitik für die nächsten vier Jahre sein. Nach unserer Auffassung kann diese Eigentumspolitik am besten durch Ausbau des Sparprämiensystems, des Bausparprämiensystems und durch die Wiederanerkennung der Beiträge auf Grund langfristiger Kapitalansammlungsverträge als Sonderausgaben verwirklicht werden. Diese Förderungsformen haben vor allem Iden Vorzug, daß sie ohne Belastung bestimmter Bevölkerungsgruppen von jedem Bürger ohne Rücksicht auf Beruf und Arbeitsplatz in Anspruch genommen werden können. Sie verwirklichen damit auch auf diesem Gebiet die Forderung nach der Gleichheit vor dem Gesetz, hier verstanden als Gleichheit der Chancen beim Eigentumserwerb. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß sich derartige Förderungsmaßnahmen nicht allein auf den Anreiz des Sparwillens durch Gewährung steuerlicher Vergünstigungen und durch Prämiengewährung beschränken dürfen. Vielmehr ist erforderlich, daß für Einkommensschwache durch differenzierte Prämien die Sparfähigkeit gestärkt wird. Auch hier gilt die Forderung, daß die Sozialisierung der Löhne und Gehälter nicht weitergehen darf. Wir erwarten, daß die Bundesregierung die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung senken wird. Hier zeigt sich ein Weg für die Entlastung der Arbeitnehmer und die Steigerung der Sparfähigkeit breiter Schichten. Dem selben Ziel muß Ouch die seit langem von uns geforderte Befreiung der Überstundenvergütung und Überstundenzuschläge von der Lohnsteuer dienstbar gemacht werden. ({31}) Nur am Rande sei vermerkt, daß damit zugleich die weder von den Arbeitgebern noch von den Gewerkschaften gewünschte Schwarzarbeit wesentlich eingeschränkt werden würde. Die Privatisierung des Erwerbsvermögens der öffentlichen Hand muß ein wesentliches Element der Eigentumspolitik der neuen Bundesregierung sein. Bei der Festsetzung der Ausgabekurse muß dem wirklichen Wert mehr als bei der Privatisierung des Volkswagenwerkes Rechnung getragen werden. Wenn das Eigentum in der Hand vieler seine wertvolle gesellschaftspolitische und soziologische Funktion erfüllen soll, so darf die Achtung vor dem Eigentum nicht dadurch gefährdet werden, daß der Eindruck entstehen könnte, Bundesvermögen werde verschenkt. Nach unserer Auffassung ist das Familieneigentum die gesellschaftspolitisch wertvollste Eigentumsform. Angesichts dieser Erkenntnis müssen wir mit Sorge feststellen, daß sich in der Hand gemeinnütziger Wohnungsbaugesellschaften riesige Zusammenballungen von Wohnungseigentum und damit auch politischer Macht gebildet haben. ({32}) Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Opposition, auch auf diesem Gebiet keine Machtkonzentration. ({33}) Wir wollen das schon deswegen nicht, weil dieses Wohnungseigentum im wesentlichen mit öffentlichen Mitteln gebildet wurde, die von der Allgemeinheit erarbeitet und aufgebracht worden sind. Wir verkennen dabei nicht, daß in den ersten Jahren des Wiederaufbaus zur Abwendung der Wohnungsnot die schnelle Errichtung von Wohnraum im Vordergrund stehen mußte. Für die Zukunft aber sollte die Übereinstimmung mit der von der Bundesregierung als richtig anerkannten Gesellschaftspolitik der Maßstab für die Gemeinnützigkeit sein. Die Dreigleisigkeit von Althausbesitz, sozialem Wohnungsbau und freiem Wohnungsbau, die wir heute in der Wohnungspolitik zu verzeichnen haben, würde sich auch auf diese Weise mit beseitigen lassen. Die schrittweise Überführung des Wohnungsmarktes in die soziale Marktwirtschaft bedingt für den Althausbesitz, der jahrelang die Last der Mietpreisfestsetzung getragen hat - nicht jeder Hausbesitzer ist reich, und nicht jeder Mieter ist arm -, Förderungsmaßnahmen, die ihm für den Übergang in die Marktwirtschaft die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen. Die Bundesregierung hat mit Recht die Notwendigkeit einer Verbesserung des Bund-Länder-Verhältnisses betont. Wir können diese Forderung nur mit allem Nachdruck unterstützen. Die vor uns liegenden Aufgaben verlangen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Das gilt in hervorragendem Maße für die Verwirklichung der längst fälligen Finanzreform. Die Ankündigung der Bundesregierung, daß eine unabhängige Kommission schon in angemessener Frist geeignete Vorschläge für die Neuordnung der Finanzverfassung vorlegen sollte, dürfte die Unterstützung des ganzen Hauses finden. Ich kann hier wohl unwidersprochen feststellen, daß diese Finanzreform nicht auf Kosten der Länder vollzogen werden sollte, sondern daß sie einen gerechten Ausgleich zwischen der Aufgabenstellung und den Steuerquellen bringen muß. Bei der Durchführung der Finanzreform wird sich zeigen, ob sich das föderalistische Prinzip unseres Grundgesetzes in der Verantwortung für das Ganze bewährt. Daß die Neuordnung der Gemeindefinanzen mit an hervorragender Stelle stehen muß, möchte ich ausdrücklich betonen. Gesunde Gemeindefinanzen sind eine der Grundvoraussetzungen für eine funktionierende Demokratie von unten nach oben. Wir alle wissen, daß die vor uns liegenden Aufgaben erhöhte Schwierigkeiten bei der Deckung unseres Haushalts mit sich bringen werden, und wir beneiden den von unserer Partei gestellten Bundesfinanzminister in keiner Weise um die Last, die er wird tragen müssen. Ein Problem, das trotz steigender Steuereinnahmen nicht genug beachtet werden kann! Trotzdem erwarten wir von der Bundesregierung, daß sie vor einer irgendwie gearteten Steuererhöhung jede andere Möglichkeit für die Deckung des Haushalts ausschöpft. Es müssen endlich alle Möglichkeiten des Kapitalmarktes für die Finanzierung des außerordentlichen Haushaltes erschlossen werden. Die Mängel des geltenden Umsatzsteuerrechts und ihre Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen selbständigen Existenzen, die Auswirkungen der Gewerbesteuer und die Steuerbelastung der einzelnen Einkommensgruppen machen die gesellschaftspolitische Bedeutung der Finanz- und Steuerpolitik deutlich. Die Bundesregierung hat unsere volle Unterstützung bei der Ankündigung der Reform der Umsatzsteuer. Es wäre sicher in der Vergangenheit möglich gewesen, durch eine Senkung des Umsatzsteuertarifs eine weitgehende Wettbewerbsneutralität zu erreichen. Wir stehen heute vor der Aufgabe, zu prüfen, ob wir diesen Weg noch gehen können oder ob wir den Ausweg in anderen Systemen werden suchen müssen. Im Rahmen der eben genannten Neuordnung der Gemeindefinanzen muß auch die Frage der Gewerbesteuer neu durchdacht werden. Auf dem Gebiete der Einkommen- und Lohnsteuer wird die neue Bundesregierung vor der Aufgabe stehen, die Auswirkungen der Lohnbewegung und das dadurch bedingte Hineinwachsen neuer Einkommensschichten in die Steuerpflicht und in die Progression zu überprüfen. Die Frage der unverhältnismäßig hohen Belastung der mittleren Einkommen, die Forderung nach der Beseitigung des sogenannten Mittelstandsbogens, ist noch immer ungelöst. Das Bekenntnis der Regierungserklärung zur Notwendigkeit der sozialen Sicherung findet unsere Unterstützung. Mit der gleichen Überzeugung aber unterstreichen wir die Feststellung, daß die Forderung nach sozialer Sicherung ihre Grenze dort findet, wo die persönliche Freiheit des einzelnen gefährdet werden könnte und wo durch ein Übermaß von Forderungen die Grundlage aller sozialen Sicherheit, nämlich die Währungsstabilität, in Gefahr geraten könnte. ({34}) Die Währungsstabilität ist nicht nur die Voraussetzung für eine gesunde Wirtschaftsordnung, sie ist auch die Grundlage einer gesunden und wirksamen Sozialpolitik. Gerade hier wird in besonderem Maße die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich. Der Sozialaufwand in der Bundesrepublik ist heute mit am höchsten innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die zweite Einkommensverteilung, d. h. die Abschöpfung von Steuern und Sozialabgaben von den Löhnen, Gehältern und Einkommen zur Bestreitung des Sozialaufwandes, muß auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt bleiben. Das bedeutet nicht Kürzung der Sozialleistungen, sondern ein Überdenken unserer Sozialpolitik mit dem Ziele einer sinnvollen, zweckmäßigen und wirksamen Verteilung des von der Allgemeinheit aufgebrachten Sozialaufwands. Es bedeutet auch Verwendung der in der zweiten Einkommensverteilung aufgebrachten Mittel für eine Sozialpolitik, die der Struktur unserer Gesellschaft gerecht wird und die Tendenzen zur Nivellierung beseitigt. Wer den Lohn weiter sozialisiert, mindert den Leistungswillen des einzelnen. ({35}) Die Sozialpolitik von heute bestimmt das Gesicht unserer Gesellschaftsordnung von morgen. Sie bestimmt damit, ob wir auf die Dauer den Wettbewerb mit dem Kollektivismus östlicher Prägung gewinnen werden oder nicht. Die Alternative zum totalen Kollektivismus des Ostens heißt nicht weniger Kollektivismus im Westen, sondern heißt Stärkung der Selbstverantwortung der Persönlichkeit des einzelnen an Stelle jeglicher kollektivistischer Tendenzen. ({36}) Von dieser Erkenntnis sollte die Sozialpolitik der vierten Bundesregierung bestimmt sein. Die Trennung der Sozialpolitik im eigentlichen Sinne und der Beseitigung der Kriegsfolgen macht uns die Verschiedenartigkeit der Aufgabenstellung in unserer besonderen Situation deutlich. Die Koalitionsparteien sind sich darüber einig, daß die Kriegsfolgengesetzgebung in diesem Bundestag möglichst abgeschlossen werden sollte. In der Kriegsopferversorgung muß endlich an die Stelle der nivellierenden, vom Bedürftigkeitsprinzip ausgehenden Ausgleichsrente eine angemessene Verwirklichung des Entschädigungsprinzips treten. Hier hat die Gesetzgebung auch ein Stück Gesellschaftspolitik zu verwirklichen und die berechtigten Rechtsansprüche des einzelnen zu erfüllen. Die Ankündigung der beschleunigten Auszahlung der Hauptentschädigung fördert auch auf diesem Weg den von allen Parteien des Bundestages vertretenen und propagierten Eigentumsgedanken. Diese baldige Auszahlung der Hauptentschädigung muß darüber hinaus soziale Not von Menschen beseitigen, die bisher in besonderem Maße unter dem Schicksal der Vertreibung oder des Kriegsschadens zu leiden hatten. Wir denken hier hauptsächlich an die ehemals Selbständigen, die durch Alter oder Gesundheitsschäden nicht in der Lage waren, im freien Teil Deutschlands noch einmal eine eigene Existenz zu begründen. Die Bundesregierung wird zu prüfen haben, wie dieser Personengruppe über die vorzeitige Auszahlung der Hauptentschädigung hinaus geholfen werden kann. Die Freie Demokratische Partei hatte bereits im 3. Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Beweissicherung der in der sowjetischen Besatzungszone und im Sowjetsektor von Berlin erlittenen Schäden vorgelegt. Sie unterstützt deshalb die entsprechende Ankündigung der Bundesregierung. Ein besonders bedrückendes Kapitel auf dem Gebiet der Kriegsfolgen ist das Los jener Frauen, die im Kriege ihre Männer oder ihre Verlobten verloren haben. Sie sind heute genötigt, ihr Leben allein zu gestalten und ihre wirtschaftliche Existenz durch ihre Arbeitskraft allein zu sichern. Die Tatsache, daß sie in vielen Fällen erst verspätet in das Berufsleben eingetreten sind, begründet ihre Sorge um eine angemessene Alterssicherung. Hier sind der Sozialpolitik Aufgaben gestellt, die schnell in Angriff genommen werden müssen. Das gleiche gilt für die Schaffung von Wohnraum für alleinstehende Frauen. Die Forderung nach der familiengerechten Wohnung darf nicht jene Frauen ausschließen, die gegen ihren Willen als Folge eines furchtbaren Krieges nicht in der Lage waren, eine Familie zu gründen, und die auch in Zukunft nicht in der Lage sein werden, das Glück einer Familiengründung zu erfahren. Diese berufstätigen alleinstehenden Frauen müssen aus ihrem Untermieterdasein herausgeführt werden. Das sollte für uns ebenso eine Ehrenpflicht sein wie die gerechte Gestaltung der Kriegsopferversorgung. ({37}) Ein drängendes Problem ist die Frage der Entschädigung der Reparations- und Demontageschäden. Ein Gesetzentwurf, der diese Frage regelt, muß davon ausgehen, daß den Betroffenen ein Rechtsanspruch auf Ersatz des ihnen entstandenen Schadens zusteht. Auch in dieser Frage sollte die Bundesregierung und sollte der Bundestag die Achtung vor dem Privateigentum bezeugen. Meine Fraktion erwartet, daß der 4. Deutsche Bundestag sowohl die Reform der Krankenversicherung wie die Reform der Unfallversicherung durchführen wird. Es scheint uns ein Gebot der Gerechtigkeit zu sein, daß das Recht der Unfallversicherung im Rahmen der Reform von den ihm jetzt innewohnenden Härten befreit wird. Die Unfallversicherung sollte daher als erstes sozialpolitisches Reformwerk in Angriff genommen werden. Die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung wird ein Prüfstein dafür sein, inwieweit Bundesregierung und Bundestag bereit sind, den Gedanken der Selbstverantwortung zu fördern. Im Mittelpunkt einer fortschrittlichen Krankenversicherung muß die Sicherung vor den Folgen schwerer Krankheitsfälle stehen. Eine wesentliche Aufgabe der Sozialreform wird in der vierten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages eine Überprüfung der sich aus der Rentenreform des Jahres 1957 ergebenden sozialen Tatbestände sein. In diesem Zusammenhang muß auch sichergestellt werden, daß staatliche Zuschüsse zur Alterssicherung den Versicherungseinrichtungen aller Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise und in dem notwendigen Umfang zugute kommen. Einhelligkeit dürfte in diesem Hause auch darüber beistehen, daß die unsoziale und ungerechte Höchstrentenbestimmung endlich fällt. Wir wären dem Herrn Bundesarbeitsminister dankbar, wenn er in seinem Haus Vorschläge zur Beseitigung der unsozialen und unübersichtlichen Rentenanrechnungsbestimmungen in den verschiedensten Gesetzen schnellstens ausarbeiten ließe. Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung scheint uns eine der aktuellsten gesetzespolitischen Notwendigkeiten die gesetzgeberische Regelung der Übernahme von Facharbeitern in das Angestelltenverhältnis zu sein. Wir alle wissen, daß zahlreiche Betriebe seit langem betriebsintern und arbeitsrechtlich aus der technischen und gesellsschaftspolitischen Entwicklung die Konsequenzen gezogen und bewährte Facharbeiter den Angestellten gleichgestellt haben. Auf dem Gebiete der gesetzlichen Rentenversicherung wird dieser begrüßenswerten soziologischen Entwicklung durch die Gestaltung deis Katalogs ein Riegel vorgeschoben. Wir erwarten, daß die Bundesregierung in dieser Beziehung schon in nächster Zeit initiativ wird. Über den Aufgaben, die die Alterssicherung der arbeitenden Generation betreffen, dürfen wir ein entscheidendes Problem nicht übersehen: ich meine die Aufwertung der privaten Lebensversicherung. Eine Bundesregierung, die zur Stärkung der Selbstverantwortung aufruft, darf es nicht länger dulden, daß diejenigen, die in der Vergangenheit selbstverantwortlich ihre Alterssicherung in Angriff genommen haben, jetzt auf Fürsorge oder Hilfsbereitschaft ihrer Verwandten angewiesen sind. ({38}) Die Aufwertung der privaten Renten- und Lebensversicherungen ist daher ein Giebot der Gerechtigkeit. Sie muß ein Bestandteil der Gesellschaftspolitik der neuen Bundesregierung sein. Lassen Sie mich an die zahlreichen Mitglieder dieses Hauses, die gleichzeitig in der Gewerkschaftsbewegung tätig sind, sei es als führende Funktionäre, sei es als Mitglieder, ein klärendes und vielleicht Mißverständnisse beseitigendes Wort richten. Es ist der Versuch gemacht worden, die Koalition zwischen der Chnistlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union und den Freien Demokraten als sozialreaktionären und gewerkschaftsfeindlichen Besitzbürgerblock zu diffamieren. ({39}) Den Freien Demokraten ist dabei die Schuld an dieser angeblichen Zielsetzung der neuen Regierungskoalition zugeschoben worden. Es klang in den Worten des Sprechers der sozialdemokratischen Opposition, des Kollegien Brandt, an, man solle Geist und Geld auch in der Politik einigermaßen harmonisieren. ({40}) Ich glaube, im Bundestagswahlkampf 1961 war der Geist durch des Herrgotts Güte gleichermaßen auf alle Parteien wohl verteilt. Aber die materielle Zuwendung kann nicht allein bei den gegnerischen Parteien gesehen werden. Man muß auch prüfen, wie man selber in der Lage sein konnte, einen so großen Propagandaaufwand zu treiben, von dem wir wissen, wie teuer er ist. ({41}) Die Harmonisierung von Geist und Geld in der Politik würde in der Tat eine vielleicht sogar ganztägige Sitzung rechtfertigen. Aber es dist sehr die Frage, ob es wirklich noch richtig ist, den alten klassenkämpferischen Grundsatz ({42}) aufzustellen, daß bei den Parteien dieser Seite nur die Millionäre und bei den Parteien jener Seite nur die armen Bürger sitzen. ({43}) Wer Behauptungen aufstellt, die Freien Demokraten seien sozialreaktionär und gewerkschaftsfeindlich, verkennt die Gewerkschaftsgeschichte. ({44}) Denn die Liberalen waren es - Herr Kollege Wehner, Sie wissen das besser als ich -, die gegen den Widerstand der Sozialisten eine Gewerkschaftsbewegung überhaupt ermöglichten durch das Eintreten für die Koalitionsfreiheit. ({45}) In der ersten Zeit der Gewerkschaftsbewegung waren die Sozialisten ängstlich darauf bedacht, hier nicht einen Rivalen entstehen zu lassen. ({46}) Koalitionsrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifhoheit sind liberale Errungenschaften, keine sozialistischen Errungenschaften. ({47}) Die Verwirklichung dieser liberalen Errungenschaften würde vielen Menschen im Osten ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen. Wir wissen aber auch, daß die Freiheit zu koalieren untrennbar mit der Verpflichtung verbunden ist, an das allgemeine Wohl zu denken. Die Pflicht zur Beachtung der Rechte aller Bürger unseres Staates auch bei der Ausübung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit ergibt sich aus dem in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes niedergelegten Grundgedanken des Gemeinschaftsvorbehalts. Sie entspricht aber auch dem sozialstaatlichen Charakter der Bundesrepublik, verstanden als Garantie der Rechte aller Schichten und Gruppen. Die Bemühungen der Freien Demokratischen Partei, den Art. 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes für diesen Bereich näher auszuführen und .die Pflicht zu statuieren, vor Eröffnung eines Arbeitskampfes einen Schlichtungsver84 such zu unternehmen, entsprechen dem Geist und dem Willen des Grundgesetzes. Niemand hat das Recht, sie als gewerkschaftsfeindlich und als Angriff auf die Tarifhoheit zu bezeichnen. Wir haben allerdings die Sorge, daß das allgemeine Wohl über dem Gruppenegoismus der Tarifpartner vergessen werden könnte. ({48}) Angesichts der Vollbeschäftigung mag für einige Industriegewerkschaften die Versuchung bestehen, rasch und mühelos Erfolge zu erzielen. Diese Erfolge werden kurzfristig sein, wenn darüber das Gesamtinteresse aus den Augen verloren wird. Was wir brauchen, ist eine langfristige Sicherung und Stärkung gesunder Wirtschafts- und sozialer Verhältnisse, auf deren Grundlage allein eine gesunde Gesamtordnung möglich ist. Wir bedauern es, daß die Tarifpartner die Mahnungen zur Vernunft, die in dem Gutachten des Bundesbankpräsidenten Blessing enthalten sind, nicht in dem Maße beachtet haben, wie wir es erwarten. Das Gebot der Stunde ist eine Versachlichung der Lohndiskussion! Der Deutsche Bundestag als die demokratisch gewählte Vertretung des ganzen deutschen Volkes muß seiner Verantwortung auch auf diesem Gebiet gerecht werden. Die Freie Demokratische Partei sieht in der im letzten Bundestag verabschiedeten Entschließung, mit der die Tarifpartner aufgefordert wurden, das freiwillige Schlichtungswesen zur Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen im Rahmen ihrer Autonomie weiter auszubauen, einen ersten, aber wertvollen Ansatzpunkt für eine Initative des Deutschen Bundestages. Es erscheint uns durchaus erwägenswert, daß das Parlament die Tarifpartner einlädt, um sie in der Diskussion mit den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen, den gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten und den möglichen Konsequenzen zu konfrontieren. Wir können uns vorstellen, daß eine vertrauensvolle Teilnahme an einem solchen Versuch uns einen entscheidenden Schritt voranbringen wird. Wir schöpfen diese Zuversicht aus dem Wissen um das große Maß an Einsicht in die allgemeine Situation, das die deutschen Gewerkschaften in den ersten Jahren nach der Währungsreform bewiesen haben. ({49}) Dafür möchten wir den Gewerkschaften und den deutschen Arbeitnehmern unsere Anerkennung aussprechen. ({50}) Wir verbinden diese Anerkennung mit der Bitte, in der gegenwärtigen schwierigen Zeit auch an die Zukunft zu denken und nicht nur an den Tag. ({51}) In den agrarpolitischen Aussagen der Bundesregierung erkennen wir den Willen zu einer Neuorientierung der Landwirtschaftspolitik, die wir durchaus als eine der vorrangigen Aufgaben dieser Bundesregierung ansehen. Wir haben bekanntlich darauf in den Koalitionsverhandlungen einen besonderen Wert gelegt. Wir entnehmen der Regierungserklärung, daß die Bundesregierung sich auch in der Agrarpolitik von dem Grundsatz leiten lassen will, aus politischen und soziologischen Gründen eine möglichst breite Schicht gesunder selbständiger mittelständischer Existenzen zu erhalten und ihnen den Anschluß an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu sichern. Es ist die Pflicht, auch bei der deutschen Landwirtschaft den Anspruch auf die Kostendeckung ordnungsmäßig geführter Betriebe anzuerkennen, ein Grundsatz, der in der allgemeinen Wirtschaft üblich ist. In der Regierungszusage, daß die derzeitige Wirtschafts- und Einkommenslage der Landwirtschaft nicht verschlechtert werden dürfe, daß sie vielmehr, wo sie unzureichend ist, verbessert werden müsse, sehen wir die Bestätigung unserer agrarpolitischen Grundforderungen. Wir haben schon Vorschläge für eine entsprechende Ergänzung des Landwirtschaftsgesetzes angemeldet und hoffen, daß die Bundesregierung dieser Notwendigkeit auch Rechnung tragen wird. Alle unsere Bemühungen um die Gestaltung unseres Staates und unserer Gesellschaft dienen dem obersten Ziel deutscher Politik: der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands in gesicherter Freiheit. Die Bundesregierung hat unterstrichen, daß wir dieses Ziel nicht durch Gewalt erreichen wollen, sondern daß wir an das Gerechtigkeitsgefühl und an die politische Vernunft aller Völker dieser Erde appellieren, dem deutschen Volk wie allen anderen Völkern das Recht zuzugestehen, in einem Staat nach seinen Vorstellungen zu leben und zu arbeiten. Die Sowjetunion sollte prüfen, ob es nicht auch in ihrem Interesse liegt, durch eine gerechte Lösung der Deutschlandfrage einen Krisenherd in Mitteleuropa zu beseitigen, normale Verhältnisse in Mitteleuropa herzustellen und dem Recht der Selbstbestimmung auch im europäischen Raum zum Durchbruch zu verhelfen. Die Welt, vor allem aber die Sowjetunion, muß wissen, daß es niemals möglich sein wird, die Zustimmung dieses frei gewählten Parlaments für eine Regelung zu erreichen, durch die die Unrechtsmaßnahmen vom 13. August 1961 nachträglich sanktioniert werden, durch die direkt oder indirekt, wenn auch nur auf Zeit, auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit verzichtet wird und durch die die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland gelöst oder gelockert werden. Die Freie Demokratische Partei hat am 30. August 196.1 auf einer Pressekonferenz vor der in- und ausländischen Presse hier in Bonn und vor dem ganzen deutschen Volk erklärt, daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und Artikel 7 des Deutschlandvertrages uns und unsere Verbündeten verpflichten, keiner Schmälerung des Besitzstandes an deutscher Einheit zuzustimmen. Das gilt auch für die bestehenden Bindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin. Wir begrüßen es daher, daß die Bundesregierung sich in der Erklärung vom 29. November 1961 ausdrücklich zu diesen Grundsätzen bekannt hat. Es ist unsere tiefe Überzeugung, daß die Bundesregierung bei dieser Erklärung die Unterstützung aller drei Fraktionen dieses Hauses, aller Mitglieder dieses Hohen Hauses hat. Die Berliner werden aus diesemBekenntnis der frei gewählten deutschen Regierung und, des frei gewählten deutschen Parlaments die feste Zuversicht entnehmen, daß alle Pläne, die deutsche .Spaltung durch eine Abtrennung West-Berlins von der Bundesrepublik zu vertiefen, zum Scheitern verurteilt sind. Meine Damen und Herren! Die Koalitionsverhandlungen standen und stehen ebenso wie heute die vierte Bundesregierung im Mittelpunkt harter Kritik, nicht nur in den Reihen der Opposition. Diese Kritik ist oft weit über das Maß vielleicht manchmal berechtigten Unmuts hinausgegangen. Die Freien Demokraten haben in diesem Hause eine Schlüsselposition zwischen den Christlichen Demokraten und den Sozialdemokraten. Sie sind sich der großen Verantwortung dieser Stellung vor dem ganzen deutschen Volke bewußt. Es ist unser Wunsch und Wille, in loyaler Partnerschaft mit der CDU/CSU in der gemeinsamen Regierungsverantwortung zusammenzuarbeiten. Es ist gleichermaßen unsere Absicht, in den großen Schicksalsfragen unserer Nation eine Gemeinsamkeit aller drei Parteien des Deutschen Bundestages anzustreben. Unser Verhältnis zur sozialdemokratischen Opposition wird daher gleichermaßen von dem Wunsch und Willen beseelt sein, daß über den Parteien das gemeinsame deutsche Vaterland steht. ({52}) Niemand in diesem Hause und außerhalb dieses Hauses kann heute in (Selbstüberhebung und Selbstüberschätzung bereits über unsere Politik urteilen und richten wollen. Wir Freien Demokraten stellen unsere Entscheidungen und unsere Arbeit in der vierten Bundesregierung unter das Urteil der Geschichte. ({53})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, nach der Mittagspause sprechen als erste Redner die Abgeordneten Dr. Dollinger und Erler. Ich unterbreche die Sitzung für zwei Stunden; sie wird um 15.30 Uhr wieder aufgenommen. ({0})

Erwin Schoettle (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002061

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Bevor wir in die Beratung über Punkt 2 der Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen das Ergebnis der beiden Wahlen bekanntgeben, die wir heute vormittag durchgeführt haben. Über die Wahlvorschläge für die Wahl der Wahlmänner gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes Über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 -Drucksache IV/8 - wurde folgendermaßen abgestimmt: Es wurden insgesamt 487 Stimmen abgegeben. Hiervon entfielen auf den Vorschlag a) 232 Stimmen, auf den Vorschlag b) 197 Stimmen und auf den Vorschlag c) 58 Stimmen. Nach den Grundsätzen der Verhältniswahl entfallen auf den Vorschlag a) 6 Mandate, auf den Vorschlag b) 5 Mandate und auf den Vorschlag c) 1 Mandat. Damit sind gewählt von dem Vorschlag a) der Fraktion der CDU/CSU die Abgeordneten Dr. h. c. Pferdmenges, D. Dr. Gerstenmaier, Hoogen, Dr. Wilhelmi, Dr. Zimmermann ({0}), Dr. Weber ({1}), von dem Vorschlag b) der Fraktion der SPD die Abgeordneten Wittrock, Jahn, Dr. Schäfer, Hirsch, Dr. Klein ({2}) und von dem Vorschlag c) der Fraktion der FDP Abgeordneter Dr. Dehler. Die Abstimmung aber die Wahlvorschläge für die Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes vom 25. August 1950 - Drucksache IV/48 - hatte folgendes Ergebnis: Es wurden insgesamt 487 Stimmen abgegeben. Hiervon entfielen auf den Vorschlag a) 232 Stimmen, auf den Vorschlag b) 197 Stimmen und auf den Vorschlag c) 58 Stimmen. Nach den Grundsätzen der Verhältniswahl entfallen auf den Vorschlag a) 5 Mandate, auf den Vorschlag b) 5 Mandate ({3}) und auf den Vorschlag c) 1 Mandat. Damit sind gewählt von dem Vorschlag a) der Fraktion der CDU/CSU als Mitglieder die Abgeordneten Etzel, Mick, Memmel, Dr. Weber ({4}), Dr. h. c. Güde, von dem Vorschlag b) der Fraktion der SPD als Mitglieder Dr. Otto Heinrich Greve, Hannover-Kleefeld, Abgeordneter Wagner ({5}), Abgeordneter Dr. Reischl, Fritz Bauer, Frankfurt ({6}), Abgeordneter Wittrock und von dem Vorschlag c) der Fraktion der FDP als Mitglied Abgeordneter Dr. Dehler. Wir fahren in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung - Punkt 2 der Tagesordnung - fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dollinger.

Dr. Werner Dollinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000403, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich in dieser Aussprache zur Regierungserklärung mit ihr und den Ausführungen der Opposition auseinandersetzen will, so ist man in einer etwas schwierigen Lage im Hinblick auf die Ausführungen der Opposition. Wir haben heute morgen die Rede des Herrn Kollegen Brandt gehört. Sie wurde auch an die Presse verteilt, und es ist nun festzustellen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was in der verteilten Fassung steht, hier nicht vorgetragen worden ist. ({0}) Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob dies aus Zeitgründen geschehen ist oder ob Herr Brandt vielleicht irgendwelche Bedenken bekommen hat und sich etwa durch sein Schweigen von diesen geplanten Ausführungen distanzieren will. ({1}) - Herr Wehner, es ist nicht uninteressant, daß Sie über dieses Füllhorn von Geschenken, ({2}) das gerade in dem nicht vorgetragenen Teil enthalten ist, geschwiegen haben. ({3}) Es ist heute in diesem Raum Deutschlands Nikolaustag; da kann man es der Opposition nicht übelnehmen, wenn sie an diesem Tag einmal die Rute schwingt und der Regierung alles vorhält, was falsch gemacht und was versäumt worden ist. Das können wir sehr wohl verstehen, zumal der Opposition durch die Entscheidung der Wähler die Rolle des Knecht Rupprecht zugewiesen worden ist. Sie können dabei Äpfel und Nüsse verteilen. ({4}) Ja, kann man auch haben! - Ich muß sagen, daß es sich bei all dem, was hier ausgeteilt worden ist, zum Teil wohl auch um hohle Nüsse gehandelt hat. Wir gönnen natürlich Herrn Brandt durchaus das Vergnügen, hier heute noch mal sehr viel zu sagen, da er die Absicht hat, nach Berlin zurückzukehren und damit dieses Hohe Haus wieder zu verlassen. Nun, meine Damen und Herren, bei dem Thema reine Luft und sauberes Wasser ist auch die Frage des Urheberrechts erwähnt worden. Ich glaube, man sollte bei solchen Betrachtungen mit dem Wort „abschreiben" etwas vorsichtig sein; denn wenn man heute so manche Ausführungen der Sozialdemokraten zum Thema Wirtschaftspolitik liest, könnte man sagen: haargenau aus dem Wörterbuch von Professor Erhard, und wenn man heute manche außenpolitischen Betrachtungen der SPD liest, kann man zu dem Ergebnis kommen, daß sie aus dem Vokabular von Bundeskanzler Adenauer oder von Herrn von Brentano kommen. ({5}) Aber trotzdem, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nach wie vor manches unklar geblieben. Ich möchte auf einige Punkte eingehen. Herr Brandt hat auch das Thema Föderalismus angeschnitten. Gerade die Bayern freuen sich natürlich, wenn die SPD nach langen Jahren des Irrtums nun so stark für den Föderalismus spricht. Die SPD braucht sich keine Sorge darüber zu machen, daß die CSU den Föderalismus etwa aufgebe; denn in den Vereinbarungen über die Bildung der gemeinsamen Fraktion CDU/CSU - und wir haben ja nicht die Absicht, wie vielleicht mancher vor Monaten geglaubt hat, an diesem Verhältnis CDU/ CSU etwas zu ändern - ist auch etwas über die Frage des Föderalismus festgelegt. Die Eigenstaatlichkeit der Länder wollen wir durchaus beachten. Es wäre wünschenswert, daß auch die Sozialdemokratie bei ihren Überlegungen diesen Gedanken immer entsprechend hochhält. Wir haben manchmal den Eindruck gehabt - gerade bei Ihrem sogenannten „Regierungsprogramm" -, daß man aus dem Bereich der Zuständigkeit der Länder manches herauslösen wollte, und das wäre letzten Endes zu Lasten der Länder gegangen. ({6}) In dem nichtgehaltenen Teil der Rede des Herrn Brandt ist auch über Fragen der deutschen Landwirtschaft gesprochen worden. Die Haltung des SPD zu diesem Problem - ich erinnere z. B. an die Haltung bei der Getreidepreisdebatte im Europäischen Parlament - lag nach unserer Auffassung nicht gerade im Interesse der deutschen Landwirtschaft. Wenn die SPD zwischenzeitlich in manchen Punkten eine andere Position bezogen hat, sollte es uns freuen. Wir stellen gern fest - ich beziehe mich auf das gestrige Bulletin, in dem darauf hingewiesen worden ist -, daß Minister Schwarz in Brüssel eine Reihe von Vorbehalten gemacht hat. Wir möchten Herrn Minister. Schwarz für diese Haltung danken und ihm auch das Vertrauen für die weiteren Beratungen aussprechen, möchten ihm aber auch eine gewisse Rückenstärkung für die kommenden Besprechungen mitgeben. Die Erklärung von Minister Schwarz, daß die deutsche Landwirtschaft durch das Richtpreissystem keine Mindereinnahmen haben dürfe, haben wir mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Die damit zusammenhängenden Maßnahmen müssen unserer Meinung nach in Zukunft in ein vertragskonformes System übergeführt werden mit dem Ziel, insibesondere die am meisten betroffenen Gebiete - z. B. Zonenrandgebiete und marktferne Bereiche - wirtschaftlich so erstarken zu lassen, daß ihre Lebensfähigkeit gewahrt bleibt. Wir stehen auch hinter der Absicht der Bundesregierung, die Auswirkungen des Richtpreissystems u. a. dadurch zu mindern, daß zusätzliche Paritätspunkte geschaffen werden, wodurch dann ein Frachtkostengefälle wirksam wird. Wir erachten es für zwingend notwendig, den Roggen in das zur Debatte stehende System der Getreidepolitik einzubeziehen. Aber auch bei Berücksichtigung dieser und anderer in den elf Punkten von Minister Schwarz enthaltenen Forderungen geben wir uns keinen Illusionen darüber hin, daß die Anpassung an die neuen Bedingungen des Gemeinsamen Marktes alle Kräfte der Landwirtschaft erfordern wird, und zwar besonders während der ganzen zweiten Phase. Wir sollten im Augenblick noch nicht darüber sprechen, ob die vertraglich vorgesehene Übergangsfrist verkürzt werden kann. Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht bestritten werden, daß dem Grünen Plan in Zukunft nach wie vor unsere besondere Aufmerksamkeit gehören muß. Alle bisherigen Bemühungen zur Förderung der Landwirtschaft können nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß wir den Grünen Plan in Zukunft aufstocken müssen. Ich will nicht auf Details eingehen, möchte aber doch sagen, daß im Hinblick auf die notwendige Technisierung und Mechanisierung der deutschen Landwirtschaft vor allem die Gewährung von ausreichenden Krediten zu tragbaren Zins- und Tilgungssätzen von sehr großer Bedeutung ist. Allein kann die Landwirtschaft diese finanziellen Mittel nicht aufbringen. Im Grünen Plan des laufenden Haushaltsjahres waren zum erstenmal Ansätze für eine Sondermaßnahme für die von der Natur benachteiligten Gebiete enthalten. Wir glauben, daß es sehr nützlich gewesen ist, die dafür vorgesehenen 70 Millionen DM auszugeben. Ich habe hier im Rahmen dessen, was der Vertrag ermöglicht, einige Einwände zur europäischen Wirtschaftspolitik vorgetragen. Ich möchte jedoch keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß wir selbstverständlich nach wie vor zu diesen Verträgen stehen. Wir sind aber der Meinung, daß alle Möglichkeiten. die der Vertrag gegebenenfalls auch zu unseren Gunsten enthällt, ausgenutzt werden müssen. ({7}) Bezüglich der Importe von Nahrungsmitteln glauben wir, daß zunächst einmal Waren den Vorrang haben sollten, die aus Ländern des Gemeinsamen Marktes kommen; Einfuhren aus Drittländern kommen erst in zweiter Linie. Der Handel mit Ostblockstaaten muß unserer Auffassung nach sehr vorsichtig gehandhabt werden. Keinesfalls darf es dahin kommen, daß dieser Osthandel sich zum Nachteil unserer Landwirtschaft auswirkt. Die Sozialdemokratie hat sich auch mit dem Mittelstand beschäftigt. Wir freuen uns, daß wir auf diesem Gebiet in Zukunft die Unterstützung der SPD erwarten können; in der Vergangenheit haben wir sie manchmal nicht gehabt. ({8}) Eine Regierungserklärung soll Grundsätze und Richtlinien für die Regierungsarbeit bringen. Nicht alles, was in einer Zeitspanne von voraussichtlich vier Jahren anfallen wird, kann schon in dieser Regierungserklärung behandelt sein. Es tauchen immer wieder neue Gesichtspunkte auf, wobei es darauf ankommen wird, daß die Regierung rechtzeitig reagiert. Wir haben eine Reihe von Problemen, bei denen wir erst am Anfang der Lösung stehen. Ich nenne die Entballung, die Raumordnung; sie sind von sehr entscheidender Bedeutung, und Lösungen sind hier sicher sehr schwierig. Daß damit das Verkehrsproblem in den Städten zusammenhängt, ist klar. Wir müssen uns aber auch darüber im klaren sein, daß in der Gesetzgebungsarbeit und in der Arbeit der Regierung Probleme auftauchen werden, die dieses Parlament nicht allein und unabhängig lösen kann. Ich brauche hier nur auf den Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hinzuweisen. Manche Punkte sind in der Regierungserklärung nur gestreift, manche zu kurz gekommen. Das geben wir zu. Bei manchen Punkten lag es vielleicht daran,. daß es für die Regierung und für die sie tragenden Parteien eine Selbstverständlichkeit ist, daß diese Probleme weiterhin behandelt werden. Ich denke z. B. an die Kriegsopferversorgung. Wir sind der Meinung, daß auch das Problem der Kriegsopfer im Rahmen der fortschreitenden Sozialreform den entsprechenden Platz haben sollte. Auch der Familienpolitik wird in Zukunft unsere weitere Aufmerksamkeit gelten. Bei dem Thema Wirtschaft wird immer wieder die Frage der Konzentration angeschnitten. Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen solchen Konzentrationen, die wegen der technischen Bedingungen eine gewisse Notwendigkeit sind, und solchen Konzentrationen, die den Wettbewerb ausschalten, die Machtgebilde entstehen lassen. Wir haben im letzten Bundestag den Beschluß gefaßt, eine Enquete über diese Frage zu veranlassen, und ich möchte an dieser Stelle sagen, daß die Bundesregierung alles tun sollte, um die Enquete bald zum Abschluß zu bringen, damit wir auf Grund dieser Unterlagen in der Lage sind, die Folgerungen zu ziehen. Es gibt Punkte in der Regierungserklärung, die wir schon vor vier Jahren gelesen haben, die aber nach wie vor schwierige Probleme darstellen. Ich nenne hier die Umsatzsteuerreform. Ich glaube, daß in den letzten vier Jahren von der Regierung, zum Teil auch vom Parlament, sehr gutes Material zu dieser Frage erarbeitet worden ist und daß es nun Aufgabe dieses Bundestages ist, zu entscheiden, wie eine möglichst wettbewerbsneutrale Umsatzsteuer, die die Konzentration nicht fördert, gestaltet werden kann. Dabei wird zu entscheiden sein, ob dieser Erfolg im Rahmen des geltenden Systems durch Änderungen und Verbesserungen oder durch ein neues System erzielt werden kann. Meine Damen und Herren, wir sollten dabei aber auch nicht die Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übersehen. Es muß Vorsorge getroffen werden, daß unser Wirtschaftsleben nicht durch zu häufigen Wandel von Steuern oder von Steuersystemen in eine Unruhe hineinkommt. Es ist unbedingt anzustreben, daß unsere Vertretungen in den europäischen Organen alles daransetzen, daß die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts beschleunigt wird. ({9}) Es könnte sonst geschehen, daß wir eines Tages zwar innerhalb der Bundesrepublik wettbewerbsneutrale Steuern haben, daß aber innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Wettbewerbsneutralität der Steuern nicht existiert und die deutsche Wirtschaft dadurch Nachteile erleidet. Der grenzüberschreitende Verkehr spielt bei der Umsatzsteuer eine besondere Rolle. Im vorigen Bundestag hatten wir - die Regierung spricht das in ihrer Erklärung wieder an - auch das Problem der Finanzreform und der Gemeindesteuern. Wir haben im vergangenen Bundestag nach harten Auseinandersetzungen eine Senkung bei der Gewerbesteuer durchgeführt, die für den sogenannten mittelständischen Bereich der Wirtschaft eine Entlastung gebracht und auf der anderen Seite für die Gemeinden einen Einnahmeausfall verursacht hat. Bei den Gemeinden ergeben sich viele Probleme auch aus einem gewissen Strukturwandel. Im Bereich der heutigen Großstädte gab es früher rein landwirtschaftliche Gemeinden, die inzwischen überwiegend zu Wohnsiedlungsgemeinden geworden sind. Dort sind Aufgaben zu erfüllen - Schulhausbau, Wasserversorgung, Kanalisation -, die nach unserer Auffassung mit den vorhandenen Steuermitteln nicht erfüllt werden können. Wir sind daher der Meinung, daß die Frage der Finanzreform und der Verbesserung der Einkommensverhältnisse der Gemeinden unbedingt behandelt werden muß. ({10}) Es freut mich, daß sowohl der bayerische Finanzminister Eberhard als auch sein Kollege in Nordrhein-Westfalen, Herr Finanzminister Pütz, auf diesem Gebiet einige Vorschläge gemacht haben, die nach meiner Meinung in der Zukunft eine große Rolle spielen sollten. Der Herr bayerische Finanzminister Eberhard hat vorgeschlagen, daß die Kommunen durch Erschließung eigener Steuerquellen auf Kosten der Länder unter Wahrung des föderativen Charakters der Finanzverfassung auf kräftigere Füße gestellt werden sollen, und zwar dadurch, daß nach einer gewissen Übergangszeit das Aufkommen aus der Kraftfahrzeugsteuer voll den Gemeinden zufließt, die Gemeinden einen zehnprozentigen Anteil an dem Ertrag der Lohnsteuer erhalten und außerdem die Grunderwerbsteuer ausschließlich den Gemeinden zufließt. Finanzminister Eberhard ist der Meinung - ich möchte sagen: der optimistischen Meinung -, daß eine solche Reform bis zum 1. Januar 1963 durchgeführt werden könnte. Ich glaube, daß diese Gedankengänge einer Überprüfung wert sind. Die bisherige Regelung des kommunalen Finanzausgleichs innerhalb der Länder sollte auch nach Verwirklichung dieser Eberhardschen Gedankengänge beibehalten werden, sie sollte sogar intensiviert werden. Wir von der CSU erkennen die Notwendigkeit der Stärkung der kommunalen Selbstverantwortung und damit zwangsläufig einer kommunalen Finanzreform gern, an und begrüßen die Vorstellung, die der bayerische Finanzminister entwickelt hat. Ich hoffe, es wird möglich sein, daß Bund und Länder diese Frage möglichst bald gemeinsam aufgreifen, damit es in diesem Bundestag gelingt, das Problem vielleicht doch zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen. ({11}) Meine Damen und Herren, zu dem Thema „Außen- und Sicherheitspolitik" möchte ich mich nicht weiter äußern. Das Ziel ist klar: Frieden und Freiheit müssen bewahrt werden, die Freiheit Berlins ist zu erhalten. Um das alles tun zu können, ist es notwendig, daß unsere Verteidigung im Rahmen der NATO entsprechend stark ist. Ich glaube aber, daß wir die enormen Belastungen in bezug auf die Verteidigung und auf Berlin nur dann werden tragen können, wenn wir auf dem Gebiet der Innenpolitik eine klare Linie haben. Die Voraussetzung gerade für die Bereitstellung der finanziellen Mittel ist ohne Zweifel die Sicherung der Konjunktur und des Wirtschaftlichen Wachstums. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist leicht und stellt kein Problem dar, eine Serie von Wünschen, eine Dringlichkeitsskala aufzustellen für Dinge, die nun erledigt werden sollen. Viel schwieriger ist die Frage, wie das Geld beschafft werden kann, um diese Vorhaben durchzuführen. Ich habe manchmal den Eindruck, daß man es sich das etwas leicht macht. In den Finanzierungsplänen der SPD zum Regierungsprogramm war der Satz zu lesen: „Wenn die Wirtschaft wie bisher wächst, dann ...". Meine Damen unid Herren, das ist richtig: Wenn die Wirtschaft wächst ... das kommt mir aber etwa so vor, wie wenn ich es in einem Unternehmen dem Buchhalter überlasse, die voraussichtlichen Gewinne zu verteilen, die man noch gar nicht hat. Es kommt nicht darauf an, zu sagen: „Wenn die Wirtschaft wächst, werden wir ..."; wir müssen vielmehr zunächst einmal alles daransetzen, daß die Wirtschaft wächst. ({12}) Denn, meine Dachen und Herren, die Hochkonjunktur ist kein Naturgesetz. Ich habe manchmal das Gefühl, daß bei uns auch in der Öffentlichkeit viel zu wenig daran gedacht wird, daß - wenn ich es etwas übertrieben aussprechen darf - von heute auf morgen vielleicht auch einmal wirtschaftliche Rückschläge eintreten können. ({13}) Es ist auch nicht damit getan, daß man in diesem Zusammenhang nur das Problem der Großwirtschaft anspricht. Wir sollten auch wissen, daß die Wirtschaft die Voraussetzung für die Erfüllung einer Reihe von entscheidenden Gemeinschaftsaufgaben schafft. Ohne eine gut funktionierende Wirtschaft könnten wir keine Sozialpolitik treiben. Wir haben nicht die Absicht, die Sozialpolitik in den kommenden Jahren einzuschränken. Wir nehmen die Forderung des Grundgesetzes nach dem sozialen Rechtsstaat sehr ernst, und wir nehmen auch die soziale Frage aus christlicher Verantwortung ernst. Die Sozialpolitik ist für die wirtschaftliche Entwicklung auch insofern von großer Bedeutung, als in ihren Bereich auch die Gesundheitspolitik fällt. Darüber hinaus beeinflußt die Sozialpolitik auch das Gefühl der sozialen Sicherheit, die psychologische Einstellung des Staatsbürgers zum Staat, zur Wirtschaft, zur Arbeit in entscheidender Weise. Wir sollten hier aber auch einmal feststellen, daß die Sozialpolitik in den letzten Jahren nicht schlecht gewesen ist. Die durch die Wirtschaftspolitik erreichte Steigerung des Lebensstandards ist den breitesten Schichten unseres Volkes zugute gekommen. Auch die Eigentumspolitik gehört in diesen Bereich. Meine Freunde werden auf dieses Problem noch zu sprechen kommen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zu den Forderungen nach höheren Löhnen, längerem Urlaub und kürzerer Arbeitszeit sagen. Es besteht die Gefahr, daß genauso, wie heute mancher UnterDr. Dollinger nehmer seine Position am Verkäufermarkt übertrieben ausnützt, auf der anderen Seite auch die Knappheit der Arbeitskräfte ausgenützt wird. Wir hatten in den letzten Jahren eine laufende Verkürzung der Arbeitszeit zu verzeichnen. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betrug im Jahre 1956 noch 48 Stunden. Die erste Verkürzung von 48 auf 45 Stunden erfolgte in der Metallindustrie. Heute sind wir bei 44 Stunden. 50 bis 60 % aller Arbeitnehmer - das sind immerhin 10 bis 12 Millionen - haben bereits die Fünftagewoche. Die Erfahrung hat gezeigt, daß durch diese Arbeitszeitverkürzung keine Produktivitätssteigerung erfolgen konnte. Wir müssen daran denken, daß übertriebene Arbeitszeitverkürzungen die Leistungen unserer Wirtschaft in ein Gefälle bringen können. Eine Zahl sollte uns doch etwas zu denken geben - ich lasse jetzt einmal den Umstand, daß auf den einzelnen Menschen eine höhere PS-Zahl entfällt, außer (Betracht und stelle Mensch und Arbeitszeit einander gegenüber -: Im Jahre 1960 lag die Zahl der Beschäftigten gegenüber 1956 um 8 % höher; die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden war die gleiche. Ich betone noch einmal: Vorrang der Wirtschaftspolitik im Inneren auch 'bei der Gesetzgebung und damit auch hei der Steuerpolitik. Von der Opposition wird immer wieder eine gerechtere Verteilung der Steuerlast gefordert. Über die Frage, ob eine gerechtere Verteilung möglich ist, kann man ohne Zweifel streiten. Immerhin haben wir im Jahre 1958 unter Herrn Finanzminister Etzel eine enorme Entlastung der Steuerzahler durchgeführt. Wir haben damals 45 % der Arbeitnehmer von der direkten Steuerzahlung freigestellt. ({14}) Ein solcher Satz war vorher nie zu verzeichnen. ({15}) Ich gebe Ihnen zu, daß der Prozentsatz heute nicht mehr bei 45, sondern zwischen 36 und 38 liegt, und zwar weil seit 1958 die Löhne und Gehälter gestiegen sind. Ich darf auch darauf hinweisen, daß ab 1. Januar 1962 für Verheiratete mit Kindern eine weitere steuerliche Entlastung eintritt, nachdem der Freibetrag für das erste Kind von 900 auf 1200 DM erhöht worden ist. Nun einige Bemerkungen zur künftigen Steuerpolitik. Wir wünschen keine Steuererhöhungen. Wir glauben, daß in erster Linie Sparsamkeit Platz greifen muß. (Abg. Niederalt: Das ist leichter gesagt ({16}) Ich bin mir darüber im klaren, daß das eine problematische Geschichte ist. Aber wir sollten diesen Gesichtspunkt immer im Auge behalten. Vielleicht kommen wir schneller, als wir in den letzten Jahren glaubten, an den Rand ides Defizits. Die Probleme, die dann auftauchen, werden auch für das Parlament schwieriger werden. In den letzten Jahren konnten wir Ausgaben immer leicht beschließen, denn wir brauchten uns über die Deckung im allgemeinen keine Sorge au machen. Die Schwierigkeiten werden für das Parlament erst dann kommen, wenn es heißt: Wir sind bereit, das und das zu leisten, wenn wir gleichzeitig auch bereit sind, eine Deckung zu beschließen, das heißt neben dem Populären auch da's Unpopuläre zu tun. ({17}) Sollten Steuererhöhungen notwendig sein, müssen sie an der Leistungsfähigkeit orientiert sein. Für uns sind die Steuersätze kein Dogma. Wir sind durchaus bereit, zu überprüfen, wenn es notwendig sein sollte, ob die Proportionalzone richtig ist, ob der Verlauf der Progressionskurve richtig ist, ob es mit dem Plafond stimmt. Darüber kann man sprechen. Aber ich möchte vor einem warnen, nämlich davor, so zu tun, als ob man mit einer Belastung der großen Einkommen das Problem lösen könnte. ({18}) Die SPD hatte in ihrem Regierungsprogramm einige Vorschläge gemacht, die auf eine stärkere Belastung der Großverdiener hinauslaufen. Auch das Problem der Staffelung der Vermögensteuer, der Erbschaftsteuer, einer höheren Belastung der Körperschaften und der Einkommen über 100 000 DM wurde zur Sprache gebracht. Nach den eigenen Angaben der SPD würden derartige Maßnahmen zu einer Mehreinnahme von 1,735 Milliarden DM führen. Das klingt nach sehr viel. Halte ich dem aber entgegen, welch einen Steuerausfall die Erhöhung der Pauschbeträge für Werbungskosten und Sonderausgaben von 1200 DM auf 2400 DM zur Folge hätte, dann sieht es schon ganz anders aus. Eine solche Verdoppelung der Pauschbeträge würde allein schon einen Steuerausfall von 2,5 Milliarden DM verursachen. Meine Damen und Herren, ich warne daher vor der Annahme, man könne durch eine Belastung der verhältnismäßig wenig großen Einkommen enorme Mehreinnahmen erzielen. Wir sollten bei unserer Steuerpolitik immer berücksichtigen, ob es tragbar Ist, daß der Leistungswille unserer Wirtschaft und der in der Wirtschaft Tätigen durch Steuererhöhungen vermindert wird. Wir sollten uns weiter fragen: Will man, daß die Steuererhöhungen durch Preiserhöhungen zu Lasten des kleinen Mannes abgewälzt werden? Wir sollten schließlich prüfen, ob wir es verantworten können, daß die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der EWG und auf dem Weltmarkt durch übermäßige oder unterschiedliche steuerliche Belastung in Frage gestellt wird. Hier muß gesagt werden, daß die steuerliche Belastung der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren angestiegen ist. Wir haben eine steuerliche Belastung von 25 % des Bruttosozialproduktes erreicht. Ich darf darauf hinweisen, daß wir unter Hinzurechnung der Sozialabgaben mit 35 % die höchste Belastung erreicht haben. Zum Vergleich sei gesagt, daß Frankreich, Norwegen und Schweden knapp über 30 % liegen, die anderen Staaten unter diesem Satz. Ich meine also, daß wir auf diesem Gebiet sehr vorsichtig sein sollten. Landwirtschaftspolitik, Mittelstandsförderung, regionale Wirtschaftspolitik, all das sehen wir unter dem Gesichtspunkt einer Stärkung des Wachstums der gesamten Volkswirtschaft. Ich darf auch einmal einige Sätze zu der Frage der Selbständigen sagen. Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Konzentrationsproblem wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Selbständigen bei uns in zunehmender Gefahr sind. Im allgemeinen wird auch gesagt, die Zahl der Selbständigen nehme laufend ab. Nun, meine Damen und Herren, die Frage der Selbständigkeit ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftsordnung, nicht nur eine Frage der Gesetzgebung und der steuerlichen Belastung, sondern ist auch eine Frage der persönlichen Einstellung dahingehend, ob jemand bereit ist, sich auf eigene Füße zu stellen, Risiko und Verantwortung zu übernehmen. ({19}) Ich freue mich, feststellen zu können, daß die Entwicklung der Selbständigen gar nicht so schlecht ist, wie man es häufig glaubt. Wir haben im Jahre 1950 3,24 Millionen Selbständige gehabt. Wir wissen, daß z. B. in der Landwirtschaft die Zahl der Selbständigen seit den letzten zehn Jahren um 110 000 abgenommen hat. Wir haben im Jahre 1956 3,21 Millionen Selbständige gehabt. Im Jahre 1960 stellt die Statistik die Zahl der Selbständigen wiederum mit 3,24 Millionen fest, d. h. die Zahl ist noch genauso hoch wie im Jahre 1950, wenn zwischendurch auch eine Schwankung zu verzeichnen gewesen ist. Diese Tatsache widerlegt die manchmal ausgesprochene Behauptung, daß die Selbständigen in unserer Wirtschaftsordnung zum Untergang verurteilt seien. Die wirtschaftliche Lage, wie wir sie haben - die Hochkonjunktur -, hat ohne Zweifel auch ihre Gefahren. Sie kennen den gegenwärtigen Stand der Arbeitslosigkeit: wir haben zur Zeit 113 000 Arbeitslose. Wir wissen, daß 600 000 offene Stellen vorhanden sind. Aus diesem Spannungsverhältnis ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten. Es kann kein Zweifel sein, daß sich in den letzten Jahren die Schere zwischen Produktivität und Lohnentwicklung geöffnet hat. 1959 betrug z. B. die Lohnsteigerung 5 % bei einer Erhöhung der Produktivität um 5,5 %. Im Jahre 1961 ist bisher eine Lohnsteigerung von 10,5 % festgestellt worden, während der Produktivitätsfortschritt bei nur 4 % liegt. Das ist ein offenes Mißverhältnis, und wir müssen uns darüber im klaren sein, daß eine Weiterentwicklung in diesem Sinne für unsere gesamte Volkswirtschaft sehr schwerwiegende Folgen haben kann. Wir sind heute noch dankbar, daß die vergangene Regierung durch die Aufwertung der D-Mark - wenn diese auch für manche Bereiche beachtliche Schwierigkeiten gebracht hat - stark zur Beruhigung des Wirtschaftslebens beigetragen hat. Es kann festgestellt werden, daß trotz dieser Maßnahme heute die Kapazitäten unserer Wirtschaft ausgenutzt sind und Reserven an Arbeitskräften nicht zur Verfügung stehen, daß sich also manche starken Befürchtungen, die man ausgesprochen hatte, als unbegründet erwiesen haben. Ich glaube, daß es Aufgabe der Bundesregierung sein wird, auch durch eine Abstimmung von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu versuchen, zu einer gesamtwirtschaftlichen Konzeption zu kommen. Die Sozialpartner haben die Tarifautonomie. Wir sollten aber auch an dieser Stelle auf die große Verantwortung hinweisen, die den Tarifpartnern mit dieser Autonomie gegeben ist. Wir haben in manchen Wirtschaftszweigen in den letzten Monaten gewisse Rückgänge in der Entwicklung zu verzeichnen. Auf diese Dinge wird später noch eingegangen werden. Wir sind froh, daß die Erscheinungen der Überhitzung vorüber sind. Wir glauben, daß damit auch manche Angriffe gegen uns im Rahmen der Welthandelspolitik gegenstandslos geworden sind. Die anormalen Zuwachsraten der letzten Jahre werden wir in Zukunft nicht mehr haben. Das Wirtschaftsleben wird sich normalisieren. Das wird auch Rückwirkungen auf die Steuermittel haben, die dem Bund und den Ländern zur Verfügung stehen. Im Zeichen der sich anbahnenden Normalisierung gilt es zu vermeiden, daß wir von der Szylla der Überhitzung an die Charybdis der Rezession geraten. Wir müssen versuchen, das Wachstum in ruhige und stetige Bahnen überzuleiten. Die Tarifpartner sollten bei ihren Überlegungen die Lage der gesamten Volkswirtschaft niemals aus dem Auge lassen. In diesen Tagen ist zu lesen, daß z. B. die Metallarbeiter-Gewerkschaft eine Nominallohnerhöhung, eine Arbeitszeitverkürzung und eine Urlaubsverlängerung mit einer Auswirkung von 17 % Lohnerhöhung fordert. Es scheint mir sehr fraglich zu sein, ob das volkswirtschaftlich vertretbar ist. Die Regierung wird die Pflicht haben, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu koordinieren. Wir begrüßen das Bekenntnis der Bundesregierung zur sozialen Marktwirtschaft. Wir sind der Meinung, daß hier eine Fortentwicklung notwendig ist und daß die moderne Industriegesellschaft uns laufend Probleme stellt, die zu lösen sind. Die soziale Marktwirtschaft wird es uns ermöglichen, die wirtschaftlichen Kräfte unseres Volkes auf der Grundlage der persönlichen Initiative und der Verantwortung weiterzuentfalten. Wir begrüßen daher auch die Ankündigung der Regierung bezüglich der Verbesserung der Wettbewerbsverhältnisse, weil wir glauben, daß die soziale Marktwirtschaft ohne Wettbewerb einfach nicht existieren kann. Wir begrüßen auch die Feststellung der Regierung, daß die Währung gesund erhalten werden soll; denn der deutsche Sparer hat ein Anrecht, zu wissen, daß auch an ihn gedacht wird. Es kann erfreulicherweise festgestellt werden, daß die Spartätigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. Sie betrug pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1950 92 DM, und sie betrug im Jahre 1960 897 DM. Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung hat keinen Zweifel daran gelassen, daß wir nun in Jahre hineinkommen, in denen von uns Opfer verlangt werden, Opfer für die Erhaltung von Frieden und Freiheit. Auch die Opposition hat von dieser Opferbereitschaft gesprochen. Ich glaube, daß wir den verbündeten Völkern nicht zumuten können, Lasten zu tragen, wenn wir nicht bereit sind, das gleiche zu tun. Aus diesem Grund habe ich auch einige Bedenken gegen den umfangreichen Katalog der Versprechungen der Sozialdemokratie. In der westlichen Welt sieht man manchmal mit Neid auf die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, und wir sollten nicht dazu beitragen, daß dieser Neid noch vergrößert wird. Wir sollten den Ernst der Stunde begreifen. Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß wir als Parlament dem Volk nur dann Opfer zumuten können, wenn das Parlament mit guten Beispielen vorangeht. ({20}) Aus diesem Grunde scheint es mir absolut notwendig zu sein, daß wir im Deutschen Bundestag darauf verzichten, Anträge zu stellen, die nicht in diese Linie hineinpassen, die vielleicht auf Popularitätshascherei beruhen. Wir hoffen, daß die freiheitliche Gesellschaftsordnung gewahrt werden kann. Wir hoffen, daß auch in der Hochkonjunktur Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gesamtvolkswirtschaftlich verantwortlich handeln. In den nächsten Jahren geht es doch nicht darum, kleine egoistische Vorteile da und dort zu erzielen, sondern es geht darum, die Freiheit unseres gesamten Volkes zu erhalten. Wenn es bei der NATO heißt „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit", dann könnte über unsere Arbeit geschrieben werden: „Der Preis der Freiheit soll Verantwortung heißen". ({21})

Erwin Schoettle (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002061

Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Fritz Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dollinger hat zu Beginn seiner Ausführungen das Verhältnis der beiden Teile der Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU in der einheitlichen CDU/CSU-Bundestagsfraktion erläutert. Das gibt mir Anlaß zu einer Feststellung. Der Kollege Dollinger hat soeben als zweiter Sprecher der Fraktion der CDU/CSU gesprochen. Damit das auch unter uns ganz klar ist: wir hatten uns darauf geeinigt, daß die CDU/CSU-Fraktion sich nicht nach Bedarf in ihre Bestandteile zerlegen kann: ({0}) mal ist sie eine einheitliche Fraktion, und mal spielt sie Doppelkopf; das geht nicht. ({1}) Ich sage das deshalb, damit wir uns darüber verständigen: wenn wieder einmal die Fraktionsvorsitzenden zu Besprechungen beim Herrn Bundeskanzler erscheinen und der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU glaubt, er müsse noch jemanden mitnehmen, dann bitte ich, daß er uns das wissen läßt; dann nehmen wir auch noch jemanden mit, das ist selbstverständlich. ({2}) Nachdem wir uns einmal darüber verständigt haben, müssen wir die Spielregeln einhalten. Das ist das eine. ({3}) Nun ein Zweites! Was ist der Sinn einer Debatte, wie wir sie heute hier miteinander führen? Ich hatte vorhin bei dem Echo, das mein Freund Willy Brandt mit manchen Teilen seiner Rede auf der anderen Seite des Hauses fand, das Gefühl, daß man es als unziemlich oder beinahe als unziemlich betrachtet, wenn die Opposition sich herausnimmt, in manchen Punkten mit der Bundesregierung - mit der jetzigen oder auch der früheren - unzufrieden zu sein. Lassen Sie mich das hier ganz klar sagen: Es wäre eine ganz schlechte Opposition, die nicht auch die Regierung und die Mehrheitsparteien durch ihre kritischen Einwände, vielleicht sogar einmal durch ihre zugespitzt kritischen Einwände immer wieder zur Überprüfung der Richtigkeit ihrer eigenen Auffassung zwingen würde. ({4}) Deshalb müssen wir aufeinander hören. Deshalb ist es sicher so, daß in manchen Dingen - ich spreche gar nicht von heute, sondern von vergangenen Debatten und von manchem, was auch im Lande losgeht - diejenige politische Gruppe, die nicht im Vollbesitz der Informationen der Regierung ist, in der einen oder anderen Frage einmal über das Ziel hinausschießt, in der einen oder anderen Frage einmal einen Pfeil losläßt, bei dem die Regierung nachher mit anderen Informationen aufwarten kann. Auch das ist ganz natürlich. Diese Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Regierungsparteien und Opposition sind das Salz einer parlamentarischen Demokratie. ({5}) - Na, den Eindruck, daß ich so ein versteinerter Klumpen bin, habe ich bisher eigentlich nicht gehabt. Ich kenne da ganz andere, etwas umfangreicher geratene Exemplare von Volksvertretern; ({6}) aber darüber wollen wir nicht weiter reden. Man kann es doch wohl offen aussprechen: Die Regierung sorgt schon dafür, daß ihr genug Lob gespendet wird; da muß sie gelegentlich auch einmal ein Quentchen Kritik und Tadel vertragen können. ({7}) Aber noch ein weiteres Wort zur Rolle der Opposition. Es ist nicht nur ihre Aufgabe, Kritik zu üben - manchmal wird das aber, und deswegen habe ich das hier gesagt, als scheinbar nebensächlich, unerwünscht oder schädlich behandelt -, oh nein, sie muß noch mehr tun. Sie ist ein wesentlicher Faktor in unserem Staatsleben. Sie trägt diesen Staat mit, ({8}) auch wenn sie nicht auf den Bänken der Regierung sitzt. Sie hat diesen Staat mit geschaffen. ({9}) Sie hat das Grundgesetz, in dessen Geist wir arbeiten, mit erarbeitet und mit beschlossen. Daran darf ich auch einmal erinnern. Sie trägt Verantwortung in Ländern und Gemeinden, auch in der unmittelbaren Ausführung von eigenem Mandat und nicht lediglich in der Rolle der Opposition. Soviel zu diesem Punkt. Der Herr Kollege Mende hat einiges über die Entstehungsgeschichte der jetzigen Bundesregierung gesagt - auch die anderen Sprecher sind darauf eingegangen - und mit einem gewissen Stolz auf die sichere Mehrheit verwiesen: 309 Abgeordnete stünden hinter der Regierung, und die Opposition zähle deren 190. Er hat also dabei die Berliner einmal weggelassen. Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Mende hat einen Zwischenruf überhört. Dieser Zwischenruf bezog sich nicht auf Wahlen draußen im Lande - wie die ausgegangen sind, das wissen Sie so gut wie wir; wir haben beide ungefähr die gleiche Stimmenzahl gewonnen; so ist das gar nicht -, sondern die Wahl, von der die Rede war, war die Wahl des Bundeskanzlers, und da machte unser Zwischenrufer nur ganz bescheiden darauf aufmerksam, daß es doch seltsam sei, daß der Bundeskanzler bei einem so klaren Mehrheitsverhältnis und bei einem so gutbesuchten Haus gerade acht Stimmen über das Existenzminimum hinaus bekommen hat. ({10}) - Ich registriere auch nur. Mein Freund Willy Brandt hat sich vorhin dazu geäußert, wobei übrigens dann die Frage erlaubt sein mag, wozu Sie das Abkommen überhaupt geschlossen haben, wenn es heute nicht mehr gilt, obwohl es nicht verfassungswidrig ist. ({11}) Aber das ist ein anderer Punkt. Mit dem Koalitionsabkommen müssen Sie sich beschäftigen, das ist nicht unsere Sorge, meine Damen und Herren. Darauf ist Herr Kollege Mende gekommen und nicht ich. Ich habe von idem Koalitionsabkommen überhaupt nicht gesprochen, sondern von der Entstehung der Bundesregierung. Sicher gehört das Abkommen in die Entstehungsgeschichte hinein. Es ist gewissermaßen die Geburtsurkunde. Aber auf dem Taufschein stehen nachher ganz andere Sachen, und das ist ja auch interessant zu sehen. ({12}) Bei der Erörterung der Entstehungsgeschichte ist nun gefragt worden, ob es richtig war, daß man sich in der Öffentlichkeit so hart dazu äußerte, daß es nun zu der engen Koalition und nicht doch zu einer Allparteienregierung gekommen sei. Zunächst: Wir nehmen den Tatbestand, wie er ist. Das hat mein Freund Willy Brandt gesagt: Dies ist jetzt die Bundesregierung für uns alle. Trotzdem möchte ich mir die Bemerkung nicht ganz versagen, daß eigentlich angesichts der Lage, in der sich unser Volk auch heute noch befindet, nicht nur am 13. August und in den Wochen, die ihm folgten, befunden hat, ein unüberhörbares Signal für die Umwelt hätte aufgerichtet werden müssen, dem zu entnehmen ist: in diesen gefährlichen Stunden rücken die freien Deutschen in der Bundesrepublik 'Deutschland so eng zusammen, wie das zur Wahrung der Lebensinteressen unseres Volkes nur irgend möglich ist. ({13}) Das wäre überlegenswert gewesen, und zwar zur Abwehr von Gefahren, die auch heute noch nicht ausgeräumt sind.

Erwin Schoettle (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002061

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Erler: ({0}) : Bitte.

Dr. Fritz Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000308, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Kollege Erler, glauben Sie nicht, daß der Eindruck von der Einheitlichkeit der freien Deutschen im Ausland noch größer sein könnte, wenn Sie in der Opposition in allen Grundfragen der Außenpolitik mit uns eine gemeinsame Haltung einnehmen? ({0})

Fritz Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Burgbacher, ich glaube das ehrlich gestanden nicht, einmal weil ich nach unseren bisherigen Erfahrungen loyalerweise Zweifel anmelden muß, ob das ehrliche Bemühen um die Erarbeitung einer gemeinsamen Linie und nicht nur der Wunsch, die Opposition möge sich hinten anschließen und dadurch die Gemeinsamkeit bekunden, ohne weiteres schon vorausgesetzt werden kann, zum zweiten weil ich wirklich und wahrhaftig der Meinung bin - gut, die Dinge sind vorbei; trotzdem sage ich es mit Bedauern -, daß man angesichts der außerordentlichen Umstände, in denen wir heute unser Staatsschiff zu steuern gezwungen sind, für die Zeit der Bewältigung dieser Umstände - weiß Gott nicht, für alle Zeit, das ist selbstverständlich - auch der Umwelt gegenüber zu einer solchen Handlung der Entschlossenheit und der Demonstration mit Nutzen hätte kommen ;,können. Ich entsinne mich, daß der Kollege Reinhold Maier hier einmal gesagt hat: Was muß eigentlich in der Bundesrepublik alles passieren, damit einmal etwas passiert? Der Kollege Katzer - allerdings gebe ich zu: Am Fernsehen hat einer seiner Koalitionskollegen etwas schnippisch gefragt: Wer ist Herr Katzer?; ich hoffe, daß er sich demnächst auch einmal bei seinen neuen Koalitionsfreunden persönlich vorstellt; das wird er sicher tun -, der Kollege Katzer hat in der Sozialen Ordnung" einen nachdenklichen Satz geschrieben: Wenn die außenpolitische Situation gegen eine Minderheitsregierung spricht, spricht sie dann nicht für eine Allparteienregierung? Darauf ist eine befriedigende Antwort .... nicht gegeben worden. Deshalb stellt sich doch wirklich die Frage, was muß denn noch passieren, um eine solche Rechtfertigung zu geben? Genügt die bedrängte Situation in Berlin nicht, genügt das harte Schicksal unserer Landsleute in der Zone nicht? Diese Frage habe nicht ich gestellt, sie stammt aus Ihrer Mitte, meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Mende, ich kenne einen Abgeordneten dieses Hauses, der einmal in einer Lage, in der es noch keine Mauer gab, als man sich in Berlin noch frei bewegen konnte, als noch wesentlich mehr Verbindungen zu den geknechteten Landsleuten in der Zone möglich waren, als noch manches ein bißchen offener war als heute, einer Lage, in der das sowjetische Ansinnen auf Abtrennung Berlins aus unserer Lebensgemeinschaft und auf völkerrechtliche Zementierung der Spaltung Deutschlands in der Form der von der Sowjetunion vorgeschlagenen Verträge noch nicht auf dem Tisch lag, - ich kenne also einen Abgeordneten, der damals leine Forcierung in Richtung auf eine solche Allparteienregierung gestellt hat. ({0}) Er hat ,gesagt: Der Deutsche Bundestag hat vier Tage lang darum gerungen, ob der Friede Deutschlands auf dem Wege über eine Politik des entspannenden Ausgleichs zwischen Ost und West gesucht wenden soll, oder ob es der abschreckenden Wirkung deutscher Atomwaffen zur Sicherung des Friedens bedürfe; und er hat nach weiteren Passagen dann daraus die Folgerung gezogen, daß eine Regierung gebildet werden sollte, die imstande sei, das Programm des nationalen Notstands auszuführen, und zwar unter einem Bundeskanzler, der der stärksten Fraktion dieses Hauses entstamme und der den Willen und die Eignung für eine gemeinsame Außenpolitik besitze. Gemeint war klar und eindeutig eine Allparteienregierung. Der Sprecher, icier das damals gesagt hat, war Dr. Mende. ({1}) Der Sprecher war Dr. Mende! ({2}) Offenbar ist also die Notlage nach Ihrer Meinung damals größer gewesen als heute. Eine ganz interessante Feststellung. ({3}) Eine ganz interessante Feststellung! ({4}) Meine Damen und Herren, ich bin nun einmal der Meinung, daß wir das, was in unserem Volke geschieht, nicht so eng sehen dürfen, daß nur, wenn unmittelbar Leib, Leben und Eigentum von Einwohnern der Bundesrepublik Deutschlands bedroht seien, sich unser Volk in einer Notlage befinde. Denn was in Berlin und was in der Zone geschieht, das geschieht auch in Deutschland, meine Damen und Herren; ({5}) das ist ein Vorgang, der sich in der ganzen Nation abspielt; und wir hier sprechen - das ist der Auftrag unseres Grundgesetzes - für jene Deutschen, die nicht in Freiheit sprechen können, und in dem bescheidenen Maße unserer Möglichkeiten sind wir aufgerufen, für sie zu wirken. Daraus aber hätte sich wahrscheinlich eben doch eine andere Konsequenz ableiten lassen müssen. Vielleicht hätte das, verehrter Kollege von Brentano, auch einen gewissen Einfluß gehabt auf die Gefühle, die Sie mit Recht hier erwähnt haben, die in der jungen Generation unserem Staatswesen gegenüber sich vielleicht noch nicht ganz so entwickelt haben, wie es sein sollte. Ich glaube, ein solches Stück Vorleben hätte vielleicht manchem klargemacht, daß die Bundesrepublik Deutschland der freie Teil des deutschen Vaterlandes ist und daß jeder junge Mensch wissen muß und wissen kann, daß des, was wir hier tun, nicht auf den Wirkungsbereich der Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleibt, sondern dazu bestimmt ist, dem ganzen deutschen Volke und dem ganzen deutschen Vaterland zu dienen. In dieser äußeren Lage nun, in diesen Drohungen, unter denen wir zu leben gezwungen sind, kommt es darauf an, dieses freie Stück unseres Vaterlandes, die Bundesrepublik Deutschland und den freien Teil unserer deutschen Hauptstadt Berlin, auch im Innern so stabil, so krisenfest, so sicher, so freiheitlich und so gerecht wie möglich zu gestalten. Ich will mich zu diesen verschiedenen Themen etwas äußern und bekenne offen, daß ich dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe; das ist ausgeschlossen; man kann nur auf einige Probleme aufmerksam machen. In der Debatte hat z. B. der Kollege Dollinger von dem Föderalismus als einem Ordnungsprinzip in unserem Staate gesprochen. Ich bin ihm hier noch eine Antwort schuldig. Es steht nicht nur - aber das ist schon wichtig genug - in unserem Regierungsprogramm, daß die sozialdemokratische Bundesregierung - wenn sie gekommen wäre - den föderalen Aufbau der Bundesregierung achten und vertrauensvoll mit den Ländern zusammenarbeiten wird, sondern unser Verhältnis zum Föderalismus als Ordnungsprinzip fließt seit 1945, und nicht erst seit 1949 - etwa Weil wir hier auf den Bänken der Opposition sitzen - aus anderen Quellen. Wir haben in Deutschland auf sehr schmerzliche Weise alle miteinander eingeprügelt bekommen, wie wesentlich für die Bewahrung der Freiheit der Bürger unseres Landes es ist, daß Macht sich nicht in unguter und vielleicht noch dazu unkontrollierter Weise in zu wenigen Händen zusammenballt. In Stunden von Gefahren muß man Macht konzentrieren. Auch das ist eine Binsenweisheit. Aber der innere Zustand eines Staates ist um so freiheitlicher, je mehr wir noch über die klassischen Grundsätze der Gewaltenteilung hinaus versuchen, die Machtfaktoren einander in der Balance halten zu lassen. ({6}) - Entschuldigen Sie, unsere Väter haben auch noch keinen Adolf Hitler hinter sich gehabt. Es ist doch wohl erlaubt, aus der Geschichte zu lernen. ({7}) Ich meine, es gibt andere, die waren früher Föderalisten und haben sich inzwischen in Zentralisten verwandelt. Aber das will ich nicht als einen grundsätzlichen Wandel ansehen, sondern das hängt so mit der zufälligen Regierungsverantwortung zusammen, das kann wieder vergehen. ({8}) Das Prinzip der Gewaltenteilung in unserer Gesellschaft reicht doch heute weit hinaus über die klassischen Regeln des Zusammenspiels von Legislative, Exekutive und Justiz. Sie haben die ganze bunte Fülle der Verbände, der Parteien, die alle ein Stück Einfluß auf den politischen Bereich ausüben. Sie sind nicht vom Übel, sondern in einer freiheitlichen und in einer pluralistischen Gesellschaft notwendig. Nur müssen wir wissen, daß das dort zu einem Übel werden kann, wo eine bestimmte Gruppe, ausgestattet mit einem Übermaß an Macht, versucht, ihr Gruppeninteresse dem Allgemeinwohl vorgehen zu lassen. Das wissen wir doch alle, und darum müssen wir also ringen, daß dies nicht eintreten kann. Hierhinein gehört nun ein klares Bekenntnis zum machtverteilenden Prinzip des Föderalismus in einer demokratischen Gesellschaft. Jawohl, dazu sagen wir uneingeschränkt ja. ({9}) Das ist aber noch lange nicht identisch mit Partikularismus; denn beim Partikularismus streben die Teile vom Ganzen weg. Beim Föderalismus wissen sie, daß sie ans Ganze gebunden sind und eine untrennbare Schicksalsgemeinschaft bilden, Stücke des Ganzen sind. Das heißt, daß gerade der Föderalist überall dort, wo er wirkt, wissen muß, daß auch die Länder dem Ganzen verpflichtet sind so wie das Ganze den Teilen. Sonst, meine Damen und Herren, könnte es z. B. nicht gehen, wie es unser Grundgesetz vorsieht, daß die Kulturpolitik von den Ländern in den entscheidenden Bereichen getragen wird, weil es sich doch wohl um eine „deutsche Kultur" handelt, eine Kultur, die dem ganzen Volke eigen ist, wenn sie auch in manchem Ausprägungen örtlicher Art hat. Hierher gehört auch, daß wir das Prinzip der Gemeindefreiheit sehr ernst nehmen. Ich kenne Föderalisten, bei denen reicht das föderalistische Prinzip genau noch bis zum Verhältnis zwischen Land und Bund; ({10}) aber im Land hätten sie ganz gern ,die französische Präfekturverfassung. Das sind mir schöne Föderalisten! ({11}) Aber die Gemeindefreiheit muß auch dafür sorgen, daß das, was eigenständig geregelt werden kann, auf der örtlichen, überschaubaren Ebene wirklich in die Hand genommen wird. Daher, was heute in der Debatte über die Regierungserklärung an den verschiedensten Punkten anklang, das Bemühen um die Wiederherstellung der Autonomie unserer Gemeinden auf einem doppelten Wege. Einmal auf dem Wege einer Neugestaltung der Finanzverfassung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wo die Gemeinden als dritte Säule eingezogen werden müssen. Hier wurde der Minister Eberhard so gelobt. Nun erheben wir keine Urheberrechtsklagen, so ist das gar nicht, aber das steht auch wieder in unserem Regierungsprogramm, daß die Gemeinden an dem Aufkommen ertragreicher und krisenfester .Steuern beteiligt werden und in diesem Sinne dritte Säule unserer Finanzverfassung werden müssen. Gut, wenn wir uns so weit einig sind, hoffe ich, daß sich, obwohl man uns vor der Wahl dafür beschimpft hat und gesagt hat, das sei wegen der fehlenden Zweidrittelmehrheiten und der fehlenden Grundgesetzergänzung und wegen der Länder gar nicht möglich, nun vielleicht doch in gemeinsamer Arbeit alle die zusammenfinden, die man für ein so großes Werk braucht, und daß man das große Werk der Neuordnung der Finanzverfassung in der Bundesrepublik Deutschland in Angriff nimmt. Ich möchte diese Hoffnung hier - ausdrücklich im Namen meiner Freunde - aussprechen. Erst dann sind die Gemeinden imstande, die ihnen obliegenden Aufgaben auch eigenständig zu erfüllen. Allerdings sollte man sie dann zweitens auch nicht in der Erfüllung dieser ihrer eigenständigen Aufgaben hindern, wie das gelegentlich durch Bundesgesetze - noch kurz vor dem Auseinanderlaufen des vorigen Bundestages - geschehen ist. Darüber müssen wir auch noch einmal nachdenken. Die Gemeinden dürfen in ihren örtlichen Aufgabenbereichen nicht verkümmern. Was wollen wir daraus lernen? - Daß die Demokratie, in der wir uns bewegen, nie vollendet ist, daß sie eine ständige Aufgabe bleibt, immer neue Probleme stellt. Unsere Gesellschaft ist einem beständigen Strukturwandel unterworfen - sie fließt -, und infolgedessen werden auch die Organisationsformen, die politischen Regeln, die Gesetze, die wir hier zu beschließen haben, immer wieder diesem Wandel angepaßt werden. Aber dabei kommt es u. a. darauf an, daß wir unsere Rolle richtig spielen; ich meine die Rolle des Parlaments, das nicht ein ausführendes Organ der Bundesregierung ist, sondern das als Ganzes der Regierung als Kontrolleinrichtung gegenübergestellt ist. Auch das müssen wir sehen: diese lebendige Spannung nicht nur zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, sondern zwischen Parlament und Regierung, gehört auch zu den Notwendigkeiten, die wir beachten müssen, um die Freiheit zu bewahren, und es gehört dazu, daß das Parlament dabei auch auf seine eigene Behandlung durch die Regierung achtet und ein gewisses Maß von Selbstachtung entfaltet, damit wir Vorbild für draußen werden. Unsere Demokratie hat leider nicht die lange Geschichte, wie sie gewachsene Demokratien in manchen anderen europäischen und überseeischen Ländern haben. Da haben wir noch sehr viel nachzuholen. Wir werden erst dann festen Grund unter den Füßen haben, wenn unsere Mitbürger im Lande draußen weithin wirklich begriffen haben - und sich so verhalten -, daß sie keine Untertanen mehr, sondern Staatsbürger sind, die Rechte haben, aber auch korrespondierende Pflichten erfüllen müssen; das gehört zusammen. ({12}) Hier könnte, obwohl es nicht Sache der Bundesregierung ist, vielleicht eine Einrichtung wie die Bundeszentrale für Heimatdienst über den Rahmen des normalen Schulunterrichts hinaus, der ja in Länderhand liegt, einiges tun. Hier liegt die große Aufgabe politischer Bildung, die wir nicht verwechseln dürfen mit der Propaganda für eine bestimmte Partei, auch wenn sich diese Partei gerade in der Regierung befindet. Die Öffentlichkeitsarbeit ist eine Öffentlichkeitsarbeit für den ,ganzen. Staat und nicht für die Mehrheitspartei. Hierher gehört auch, meine Damen und Herren, daß wir mit unserem Grundgesetz so behutsam wie möglich umgehen. Es gab unter den Juristen dieses Hauses Erwägungen darüber, wie man dieses Haus davor bewahren kann, bei aller guten Absicht unter Umständen selber einmal verfassungsrechtlich danebenzutreten und nachher von Karlsruhe gerügt zu werden. - Das ist aber nur eine Nebenerwägung, mir geht es um etwas anderes. Das Grundgesetz sollte einen solchen Rang haben, daß man nicht im Laufe einer Legislaturperiode bei den verschiedensten Sachgesetzen zu den verschiedensten Terminen plötzlich entdeckt: da ist also noch rasch eine Grundgesetzergänzung mit hineinzuflicken, sondern daß sich die Regierung überlegt: wo mag es Notwendigkeiten geben, und daß sie das auf längere Zeit übersieht. Sie weiß, daß es zu Grundgesetzergänzungen oder -änderungen einer Zweidrittelmehrheit des Hauses bedarf. Darin steckt der Zwang zur Zusammenarbeit mit der Opposition, jetzt nun nicht als Opposition, als Gegenüberstehenden, sondern als Partner. Sonst bekommt man keine Grundgesetzergänzungen zustande. Wir wollen der Bundesregierung nicht in irgendeiner Weise das Initiativrecht beschneiden. Das steht ihr nach dem Grundgesetz zu; das ist selbstverständlich. Es ist aber eine Frage des politischen Stils, wieweit man dahinkommen kann, daß gerade im Umgang mit dem Grundgesetz zunächst einmal vorgeklärt wird, für welche Notwendigkeiten und wie eine breite Grundlage geschaffen werden kann, bevor eine öffentliche Polemik entbrennt, die dann normalerweise das Ergebnis gefährdet. Ich habe nach den bisherigen Ausführungen des neuen Bundesinnenministers Höcherl das Gefühl, daß er diesen Zusammenhang richtig erkennt. Wir hoffen, daß er auch die praktischen Folgerungen daraus zieht. Es ist in den vergangenen Monaten manchmal z. B. über die Notwendigkeit gesprochen worden, für Notfälle Vorkehrungen zu treffen. Seien wir uns darüber im klaren, daß das eben nur geht, wenn die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, die Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte, die Gewaltenteilung und die Grundsätze der im Notfall notwendigen Dezentralisation bei gleichzeitiger Gesamtverantwortung respektiert werden. Wir haben eine Fülle von Anmerkungen zu diesem Thema gemacht und werden sicher später darauf zurückkommen. Wir wollen diesen Staat aber nicht nur so stabil wie möglich, so fest auf dem Grundgesetz stehend wie möglich, gestalten, sondern wir wollen uns auch darum bemühen, jedem einzelnen Bürger das Gefühl zu geben: in diesem Staat habe ich das, was in dieser unvollkommenen Welt an Gerechtigkeit gefunden werden kann, auch wirklich verbürgt. Hierher gehört die Justizreform, die Reform des Strafprozeß- und des Verkehrsstrafrechtes. Wir haben vorgeschlagen, eine Familienrechtskommission einzusetzen, die auch auf diesem dornigen Gebiet einmal unabhängig von den politischen Auseinandersetzungen des Tages Grund machen soll. All das muß das Gefühl wecken, daß in der Demokratie der Staatsbürger sein Schicksal und das der Gemeinschaft mitbestimmt. Dazu gehört, daß es in einem demokratischen Staatswesen keine wirkliche Macht geben kann, ohne daß ihr auf irgendeine Weise eine Kontrolle zugeordnet ist. Es gibt hier die vielfältigsten Formen. Im Wirtschaftsleben z. B. ist die wirksamste Form der Machtkontrolle die Gegenmacht im Wettbewerb. Aber da, wo das nicht reicht, muß von Rechts wegen nachgeholfen werden. Kartellgesetz! Ich glaube, wir werden da manches noch neu regeln müssen, um einer ungesunden Machtkonzentration entgegenzuwirken. Hierher gehört auch ein gewisser Einblick in die Machtpositionen unserer großen Wirtschaftsunternehmungen dort, wo sie wirklich Macht darstellen und nicht durch andere Faktoren bereits kontrolliert werden. Hierher gehört eine neue Unternehmensverfassung, die die Unternehmen durchsichtiger macht und damit der öffentlichen Kritik aussetzt; denn ein wichtiger Teil der Kontrolle der Macht vollzieht sich durch die öffentliche Beobachtung und Kritik. Das geht uns so, das geht der Regierung so, und das muß allen so gehen, die Macht ausüben, gleichgültig in welchem Bereich sie sich befinden. Hierher gehört dann auch der Einbau etwa der Erfahrungen mit dem Mitbestimmungsrecht. Ich war vorhin etwas seltsam von dem Vorstoß berührt, den gerade der Kollege Dr. Mende gegen eine bestimmte Zusammenballung von Macht unternahm: nämlich gegen die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen. Herr Kollege Dr. Mende, wenn ich darin Ihre Ankündigung erblicken dürfte, daß sie überall dort - auch im Bereich der privaten Großwirtschaft -, wo große Wirtschaftskomplexe mit Hilfe öffentlicher Mittel - z. B. durch Selbstfinanzierung oder über Steuerbegünstigungen - entstanden sind, den Weg zur breiten Eigentumsstreuung mit uns beschreiten wollen - 1957 stand es in der Regierungserklärung; diesmal ist es vergessen worden, Herr Kollege Barzel -, ({13}) dann wären wir uns sehr bald einig. Was ich aber nicht für richtig halte, ist, daß man sich nur einen Zweig herauspickt. Das Ganze, verehrter Herr Kollege Mende, wird ideologisch nämlich mit schwerer Fracht behaftet, wenn man sich ausgerechnet die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen als einzigen Faktor herausnimmt, bei dem man Macht kontrollieren will. ({14}) Dazu kommt, daß ein großer Teil jener Unternehmen in der Rechtsform der Genossenschaft betrieben wird. Ich wäre sehr froh, wenn überall im Wirtschaftsleben die Mitglieder als Genossenschaftler - oder auch als ehrenamtliche Mitarbeiter, von denen es hier Hunderte und Tausende gibt - in der gleichen Weise Einfluß auf die Unternehmenspolitik hätten, wie es bei diesen Unternehmen der Fall ist. Es Stecken hier Probleme drin, das sei zugegeben; zu passender Zeit wird darüber zu reden sein. Wenn wir schon vom Wohnungsbau hier sprechen - er spielt auch in der Regierungserklärung eine gewisse Rolle -, dann sollten wir auch spüren, wie eng der Spielraum hier durch die Tatsache geworden ist, daß der Bodenwucher für absehbare Zeit eine vernünftige Wohnungsbaupolitik, die auch für den kleinen Mann erträgliche Mieten bringt, geradezu zu verhindern droht. Was sich auf dem Baulandmarkt abspielt, ist erschütternd. Ich habe mit Interesse in der Regierungserklärung gelesen, daß man, um diesem Problem, aber auch noch einigen anderen, zu Leibe zu gehen, ernsthafte Anstrengungen auf dem Gebiet der Raumordnung vorhabe. Ich begrüße das. Nach meiner Meinung kann durch ein entsprechendes gewichtiges Vorgehen erreicht werden, daß auch unsere wirtschaftlich schwachen Gebiete mit an die allgemeine Entwicklung herangezogen werden. Eine Bemerkung aber kann ich mir nicht versagen: wir fangen wirklich etwas spät mit der Raumordnung an, meine Damen und Herren, nachdem wir einige Millionen Wohnungen hingebaut haben und der Raum auf diese Weise erst einmal besetzt ist, den es eigentlich zu ordnen gegolten hätte. ({15}) - O nein, Raumordnung reicht weit über die gemeindlichen Probleme hinaus, - Ballungsproblem und all das; aber darüber wollen wir wohl jetzt keine Fachdebatte führen, die kommt sicher ein andermal. Herr Kollege Mende hat hier das Wohnungsbauproblem angesprochen und daraus - in seiner Sicht - ein Stückchen Eigentumspolitik gemacht. Wir werden uns sehr bald über Vorschläge meiner Freunde zur Vereinheitlichung der Sparförderung unterhalten können und auch darüber, wie der Grundgedanke der Regierungserklärung des Jahres 1953, daß die Ausgabe von Volksaktien nicht auf Betriebe im Bundesbesitz beschränkt bleiben solle, in diesem Bundestag vielleicht doch einmal einer ernsthaften Diskussion zugeführt werden kann. Gerade Herr Kollege Dollinger hat im Zusammenhang mit der Eigentumspolitik sehr ausführlich auf die Mittelstandsprobleme aufmerksam gemacht. Hier gibt es in vielem ein hohes Maß an Übereinstimmung. Endlich hat sich der Gedanke einer wettbewerbsneutralen Umsatzsteuer überall herumgesprochen. Ich möchte das ausdrücklich anerkennen, auch hier, ohne dine Urheberrechtsgebühr für meine Freunde zu verlangen. Das Institut für die Mittelschichten sollte so beschaffen sein, daß die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auch für Selbständige nutzbar gemacht werden können. Nebenbei, Kollege Dollinger - vielleicht haben Sie es gemerkt -: Sehen Sie, jetzt sind einige Teile dran, die der Kollege Brandt aus Zeitmangel weggelassen hat. Sie kommen also auf Ihre Kosten. Nur sagt das jeder halt in seiner Sprache; das ist selbstverständlich. Aber ich halte die Punkte für so wichtig, daß sie nicht der zeitlichen Begrenzung, die sich der Kollege Brandt gesetzt hat, zum Opfer fallen sollten. Ich muß einen Satz zu den Ankündigungen der Bundesregierung bezüglich der Behebung der Verkehrsnöte sagen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn Herr Minister Seebohm seine Gedanken, die er vor der Wahl vorgetragen hat, auch nachher in die Regierungserklärung hineinpraktiziert hätte - das ist leider nicht geschehen -, nämlich daß die vom Verkehr erbrachten spezifischen Verkehrsabgaben so lange für den Straßenbau zweckgebunden werden, bis die Verkehrsnöte wirklich behoben sind. ({16}) Als zweites gehört wohl die Feststellung hierher, daß unsere Bundesbahn erst dann wieder richtig wettbewerbsfähig wird, wenn die Bundesregierung ihr zu einer angemessenen Kapitalausstattung verhilft und ihr die gemeinwirtschaftlichen Sonderlasten abnimmt. Im Ruhrgebiet herrscht von Zeit zu Zeit Unruhe, wenn bestimmte Betriebe von den Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Umstellungsvorgänge in der Energiewirtschaft betroffen sind. Die Bergbauenquete, die Energie-Enquete ist immer noch in der Arbeit. ({17}) Ist sie fertig? - Dann um so besser! - Ich höre das soeben vom Kollegen Friedensburg. - Ich finde, wir sollten dafür sorgen, daß uns die Bundesregierung möglichst bald die Grundzüge einer vorausschauenden Energiepolitik vorträgt, weil es sich um die Bewahrung einer der sicheren Grundlagen für große Teile unseres Wirtschaftslebens überhaupt und um die Existenz von Hunderttausenden von Menschen und von zahlreichen Gemeinwesen in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Sonst werden vielleicht Anpassungsprozessen gegenüber Opfer gebracht, die nur bestimmte Schichten treffen, während heute hier das Wort Opfer in einem ganz anderen Sinne gemeint war. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir von Opfern sprechen, sollten wir uns nicht scheuen: dann muß man auch von Geld sprechen. Mit all dem, was Sie, Kollege Dollinger, zur Steuerpolitik vorgetragen haben - Sie haben sich dabei ja auch eingehend mit dem Regierungsprogramm der SPD beschäftigt -, haben Sie mich nicht davon überzeugt, daß selbst dann, wenn dadurch, daß um der Wiederherstellung eines größeren Maßes an Gerechtigkeit willen Spitzeneinkommen und Spitzenvermögen ein angemesseneres Ausmaß an Lasten auf sich nehmen, keine völlige Umschichtung unseres Steuersystems eintritt, daß selbst dann, wenn dadurch nicht viele, viele Milliarden zusätzlich in unseren Säckel fließen, es sich nicht dennoch lohnt, dahinzukommen, daß jeder Bürger unsere Landes weiß: wenn Opfer gebracht werden, dann werden sie in unserem Lande nach den Maßstäben der Gerechtigkeit gebracht. Das ist doch der Punkt, auf den es ankommt. ({18}) Wir sind nun einmal der Meinung, daß es auf die Dauer nicht angeht, wenn ein Land in unserer Lage, das sich heute noch mit den Folgen des verlorenen Krieges herumzuschlagen hat, wenn ein solches Land Spitzeneinkommen und Spitzenvermögen wesentlich generöser behandelt als etwa - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Hier ein besser ausgewogenes Verhältnis wiederherzustellen - beileibe nicht mit konfiskatorischen Sätzen zu arbeiten -, ist wichtig. Daß das Arbeiten nicht bestraft werden darf daß die Initiative nicht erstickt werden darf, darüber sind wir uns einig; aber hier ist noch ein erheblicher Spielraum für ein höheres Maß an Gerechtigkeit gegeben. Daher eben doch unsere Vorschläge, nicht nur das Steuersystem übersichtlicher zu gestalten, sondern auch die Vermögen- und Erbschaftsteuer für Millionenvermögen gestaffelt zu erhöhen, große Spekulationsgewinne der Einkommensteuer zu unterwerfen, mit der außergewöhnlichen Begünstigung großer anonymer Gesellschaften bei der Körperschaftsteuer Schluß zu machen und für Großeinkommen über 100 000 DM jährlich bei der Einkommensteuer eine etwas stärkere Progression als bisher einzuführen. Gerade wenn man von Opfern spricht, erleichtert es den sonst Betroffenen ihre Opferbereitschaft ganz erheblich, wenn sie wissen, daß sich die hier gemeinten Gruppen in einer angemessenen Weise an den Opfern beteiligen. Was wir auf der anderen Seite vorgeschlagen haben und dem Hohen Hause auf dem Gebiete einiger Verbrauchsteuern demnächst in Form von Vorlagen zuleiten werden, das hat nicht unbedingt etwas mit dem Nikolaus zu tun, sondern das hat auch etwas mit unserer Außenhandelspolitik zu tun und damit, daß sich die Bundesregierung auf einer Reihe internationaler Konferenzen in einer sehr schlechten Lage gesehen hat, als sie den konzentrischen Angriffen der Entwicklungsländer gegenüberstand bei der Forderung, nun endlich einmal durch die Reduzierung von Fiskalabgaben bestimmte tropische Produkte in die Bundesrepublik in größerem Ausmaß einzuführen. ({19}) Wir wissen, daß das für jene Länder in Wahrheit auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber sie spüren dann wenigstens unsere Bereitschaft, ihnen auf diese Weise zu helfen. Wenn das außerdem unsere Hausfrauen freut, warum soll man es dann nicht tun? Nach unseren bisherigen Erfahrungen steigen die Umsätze so, daß bei dem Geschäft kaum Steuerausfälle eintreten. Meine Damen und Herren, da wir hier schon von Steuern sprechen, möchte ich jenes Schuldbekenntnis in Ihre Erinnerung rufen, das die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung zum Thema „Finanzreform" ausgesprochen hat. Sie hat nämlich gesagt, man müsse sich darum kümmern, aus der allzu gelegentlichen Steuerflickarbeit herauszukommen, die Jahr um Jahr hier und dort Kleinigkeiten ändert und die unser Steuersystem als Ganzes auf die Dauer eher verschlechtert als verbessert. Das ist richtig, und wir werden deshalb wie die Bundesregierung dafür eintreten, daß zur Lösung des Gesamtproblems der Finanzreform in all ihren Aspekten möglichst bald eine Sachverständigenkommission eingerichtet wird. Das stand auch in unserem Regierungsprogramm, aber mit einem wichtigen Unterschied: Wir wünschen nicht, daß die Kommission bis ans Lebensende ihrer Mitglieder tätig wird, sondern daß sie Ende 1962 das Ergebnis ihrer Arbeiten vorlegt. Aber auch hier, meine Damen und Herren: ohne Zweidrittelmehrheit und Zusammenarbeit der Parteien und der Länder ist die Aufgabe der Finanzreform nicht zu meistern. Lassen Sie mich noch auf ein anderes für unsere innere Stabilität wichtiges Gebiet eingehen. Es ist hier verschiedentlich vom sozialen Bundesstaat gesprochen worden. Auch der ist nie fertig, auch der ist eine mit dem sich verändernden Fluß unserer technischen und industriellen Entwicklung beständig neu gestellte Aufgabe. Auch der, verehrter Kollege Gerstenmaier, trifft in Wahrheit eben doch nie ganz an die Grenzen, von denen Sie gesprochen haben, sondern auch der muß in Bewegung gehalten werden und darf nicht erstarren. ({20}) - Das nehme ich mit Befriedigung zur Kenntnis. Es ist eine Binsenwahrheit, daß ein Volk nur jene sozialen Leistungen erbringen kann, die sich aus einer gesunden und einer ständig wachsenden Wirtschaft herausarbeiten lassen. Daher wünschen wir, daß die Bundesregierung endlich auf die Forderung eingeht, in Form eines Jahreswirtschaftsberichts eine Übersicht über das, was war, und über das, was vermutlich kommt, sowie über die Ziele zu schaffen, die die Regierung selber mit dem Instrumentarium moderner Konjunkturpolitik erreichen will. Ich habe beide Ohren gespitzt, verehrter Herr Kollege Dollinger, als Sie davon sprachen, daß die Hochkonjunktur kein Naturgesetz sei. Jawohl! Gerade weil das so ist, brauchen wir einen solchen Jahreswirtschaftsbericht und ein Instrumentarium für aktive Konjunkturpolitik. Das erspart uns vielleicht auch manches Geschwätz über die vielbeschrieene Versachlichung der Lohnpolitik. Ich glaube es einfach nicht, daß man, wie Herr Dr. Mende und wie die Bundesregierung es getan haben, einen so engen Sektor aus dem Wirtschaftsablauf herausgreifen und nur auf dem Gebiet der Lohnpolitik den Beteiligten, vor allen Dingen natürlich dem einen Beteiligten, nämlich den Gewerkschaften, gut zureden kann. Das geht gar nicht. Die Lohnbildung gehört genau wie die Preisbildung in den Gesamtzusammenhang unserer wirtschaftlichen Vorgänge hinein. Wenn Sie dieses Gespräch versachlichen wollen, gibt es dafür nur eine einzige vernünftige Grundlage: den von uns geforderten Jahreswirtschaftsbericht. Mit ihm haben Sie dann ein solches Gespräch über diese Probleme. ({21}) Ich habe mich gewundert, daß man sich ebenso wie zur Lohnpolitik auch auf einem anderen Gebiet einseitig nur an eine Adresse gewandt hat. Man hat nämlich vor einem Übermaß an Forderungen, die eine Inflation auslösen könnten, nur bei der Sozialpolitik gewarnt. Andere Gruppen der Gesellschaft, die bei ihren Wünschen an das Parlament nicht gerade zart besaitet auftreten, wurden nicht genannt. Von anderen Haushaltsansätzen, die unter Umständen auch etwas mit der Entwicklung der öffentlichen Ausgaben rund mit möglichen inflationären Gefahren zu tun haben, wurde nicht gesprochen. Genau diese beiden Dinge waren es, die uns zu der Feststellung geführt haben, die Herr von Brentano etwas sehr hart mit dem Wort „Demagogie" glaubte zurückweisen zu müssen, nämlich daß die Gefahr bestehe, daß die Arbeitnehmer angesichts der Regierungserklärung das Gefühl bekommen könnten, sie würden an den Rand der Regierungspolitik gedrückt. Meine Damen und Herren, wenn unser Kollege Katzer dasselbe sagt, dann ist das offenbar keine Demagogie. Ich hoffe auch, daß es nicht etwa als Demagogie betrachtet wird, wenn sich Ähnliches in den Beschlüssen findet, die der Deutsche Gewerkschaftsbund bei seiner Analyse der Regierungserklärung gefaßt hat. Da heißt es: Zu den lebenswichtigen Fragen der Arbeitnehmer hat sich die Regierungserklärung gar nicht oder nur ausweichend geäußert. Es fehlt in der Regierungserklärung jede Kritik an den maßlosen Gewinnsteigerungen der Unternehmungen. Dagegen wird den Gewerkschaften eine maßvolle Lohnpolitik zugemutet und damit die Drohung verknüpft, daß gegebenenfalls neue Lösungen und Formen der Zusammenarbeit der Sozialpartner gefunden werden müßten. Der einseitige und arbeitgeberfreundliche Standpunkt der Regierungserklärung konnte nicht deutlicher dokumentiert werden. Die Drohung mit einem Eingriff in die Tarifautonomie deckt sich auffallend mit den Vorstellungen der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Mit diesem Zitat wollte ich Ihnen lediglich warnend vor Augen führen, daß nicht etwa nur wir allein es gewesen sind, die bei der Durcharbeitung der Regierungserklärung dieses Gefühl gewonnen haben. Deswegen sollte man das Wort des Deutschen Gewerkschaftsbundes in dieser Frage nicht überhören. Hier war davon die Rede, daß die Gewerkschaften in den ersten Jahren nach der Währungsreform ein bemerkenswertes Maß an Einsicht gezeigt hätten. Meine Damen und Herren, Hand aufs Herz! Inzwischen etwa nicht?! Ist die Bundesrepublik Deutschland nicht - bei allen Diskussionen und Auseinandersetzungen, die es natürlich zwischen den Gewerkschaften und ihren Vertragspartnern auch gibt - gleichzeitig dasjenige Land in der westlichen Welt mit dem geringsten Ausfall an Arbeitszeit durch Arbeitskämpfe?! ({22}) Lohnt es sich nicht, einmal darüber nachzudenken, ({23}) ob hier eine volkswirtschaftliche Gesamtverantwortung zum Ausdruck kommt, die wir respektieren und anerkennen sollten?! Und noch eine Bemerkung. Wo wären wir wohl geblieben, wenn nicht auch und gerade durch die Tätigkeit der Gewerkschaften mit den steigenden Produktionsmöglichkeiten und der effektiv gestiegenen Produktion unserer Wirtschaft einigermaßen, nicht einmal voll, das Arbeitnehmereinkommen, aber darüber hinaus auch durch unsere Tätigkeit das abgeleitete Einkommen der Empfänger von Leistungen aus der Sozialversicherung usw. mit der allgemeinen Entwicklung Schritt gehalten hätte?! Wir wurden hellhörig, als hier neulich in der Debatte - nicht über die Regierungserklärung, sondern über die neue Rentenanpassung - von den Sprechern der FDP ziemlich deutlich zum. Ausdruck gebracht wurde, daß man jetzt innerhalb der neuen Bundesregierung beginnt, den Grundsatz der automatischen Rentenanpassung an die Entwicklung der Löhne und Preise in Frage zu stellen. Meine Damen und Herren, seien wir hier wachsam! Unsere Binnenkonjunktur lebt davon, daß der gestiegenen Produktionsfähigkeit auf der einen Seite auf der anderen Seite auch immer die Kaufkraft des Letzten Verbrauchers gegenüberstand. Dafür müssen wir nämlich auch sorgen. ({24}) Ansonsten war Herr Kollege Dr. Mende zu den Gewerkschaften ziemlich freundlich; denn er hat die Gewerkschaften in seine Ahnenreihe einbezogen. Vielleicht gibt es dafür einmal eine Ehrenmitgliedschaft beim DGB. ({25}) Mal sehen, was sich tun läßt, Kollege Dr. Mende. Aber Sie haben hier eine Vokabel gebraucht, die mich etwas erschreckt hat. Sie haben schlicht Kapitalismus und freiheitliche Gesellschaft gleichgesetzt. Das ist genau jene Gegenüberstellung, die die Kommunisten haben wollen, damit sie dann der Gegenpol zum Kapitalismus seien. Verzeihen Sie, Kollege Dr. Mende, das ist noch 19. Jahrhundert! Wir sind inzwischen weiter. ({26}) Die Bundesrepublik Deutschland, in der wir nicht regieren, sondern in der wir in der Opposition stehen, ist inzwischen, wie viele andere westliche Industriestaaten, in einen gesellschaftlichen Transformationsprozeß hineingeraten, bei dem verdammt wenig vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts übriggeblieben ist. Wie wir das taufen, ist mir vollkommen gleichgültig. Entscheidend ist, daß uns der Durchbruch zu neuen Ufern gelingt und daß wir auf dem Wege dahin sind. ({27}) Das Ziel - ich möchte nicht davon abgehen - steht im Grundgesetz. Da steht nicht „Kapitalismus", sondern da steht „der demokratische und soziale Bundesstaat". ({28}) Mir langt das völlig als Umschreibung dessen, was wir haben wollen. ({29}) Das ist natürlich in dem Sinne zu verstehen, daß ein solches Ziel nie ganz erreicht wird. Es bleibt immer noch eine Menge zu tun übrig trotz vielem, was getan worden ist. Da war die Rede, Kollege Dollinger, von der Alterssicherung der Selbständigen. Da ist von uns - Sie werden im nächsten Jahr auf Grund der Zahlen merken, daß dieses Problem immer drängender wird - die Einführung einer Mindestrente zur Debatte gestellt worden, damit die Altersversorgung nicht für viele illusorisch wird und sie nicht doch noch trotz der Rente zum Wohlfahrtsamt laufen müssen. Damit werden wir uns sehr bald zu beschäftigen haben. Deswegen brauchen wir das heute nicht auszudiskutieren. Wir werden uns weiter befassen müssen mit Fragen, die sich im Hinblick auf manche Verbesserungen der Kriegsopferversorgung, aus der Rentenanpassung und mit Rücksicht auf Veränderungen auch der Leistungen an die Vertriebenen im Lastenausgleichsgesetz ergeben. Lastenausgleich! Das führt mich zu einer in der Bundesrepublik sehr wesentlichen Bevölkerungsgruppe, bei der einige Probleme jetzt in diesem Parlament auf die Hörner genommen werden müssen. Wir haben, glaube ich, nachdem ja wohl alle Ausreden, man würde sonst einen Sog auf die Zonenbevölkerung entfalten, dahingeschwunden sind, doch wirklich die Aufgabe, endlich Heimatvertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge einander voll gleichzustellen. Gleiches Schicksal verdient gleiche Hilfe, meine Damen und Herren! ({30}) Das ist das eine. Zweitens sollten wir mit dem nur zu Ungerechtigkeiten führenden System der verschiedenen Stichtage gründlich aufräumen. ({31}) Drittens ist das Notaufnahmegesetz überflüssig geworden. Denn wer heute noch unter der Gefahr, tödlich getroffen zu werden, von drüben herauskommt, der hat wahrhaftig eine Gefahr für Leib und Leben hinter sich gebracht. ({32}) Weiter sollten wir uns darum bemühen, die Vorfinanzierung des Lastenausgleichs mit Energie weiterzutreiben, um dort zu einem Abschlußgesetz zu gelangen. Es müßte jetzt möglich sein - wo doch keine großen Flüchtlingsströme mehr kommen die Mittel bereitzustellen, um die Lager endlich aufzulösen, - was weitgehend eine Frage der Wohnungsbaupolitik ist. Auch für die vertriebenen Bauern genügt, glaube ich, nicht das, was in der Regierungserklärung steht, daß nämlich entsprechend der bisherigen Planung verfahren werden soll. Wir wissen genau, daß die Zahl der nach dieser Planung angesetzten Bauernstellen infolge ungenügender Haushaltsmittel, gestiegener Kasten und eines zu komplizierten Verfahrens von Jahr zu Jahr zurückgegangen ist. Aber abgesehen von den materiellen Dingen wird es wohl heute mehr denn je wichtig, daß die kulturelle Tradition, die unsere Landsleute mitgebracht haben, bei uns nicht verlorengeht, daß wir es ihnen ermöglichen, immer wieder zu zeigen, was alles zur lebendigen Kulturgemeinschaft dieses unseres Volkes gehört, und daß wir dann das ganze deutsche Volk meinen und nicht nur die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn diese die freien Deutschen sind. Ein anderes Thema ist in der Regierungserklärung sehr mager behandelt worden. In der Debatte kam es etwas deutlicher heraus. Wir werden darüber sicher in diesem Hause - das ist heute schon abzusehen - erbitterte Auseinandersetzungen führen. Deswegen sei es ganz freundschaftlich heute schon angekündigt. Ich meine das Gebiet der sozialen Krankenversicherung. Hier wird etwas in die Debatte geworfen, was als Schlagwort dient, was aber, glaube ich, den Tatbestand eben nicht trifft: das Wort von der Stärkung der Selbstverantwortung. Ich will zugeben, daß es in der sozialen Krankenversicherung Leute gibt, die die Versicherungseinrichtungen zum Schaden der Mitversicherten und der Allgemeinheit schamlos mißbrauchen. Jawohl! Laßt uns darüber reden, wie wir denen, die das mißbrauchen, das Handwerk legen können! ({33}) Aber es entspricht geradezu polizeistaatlichem Denken, wenn man, weil einige sündigen, alle bestraft (Beifall ({34}) - wir reden sowieso noch im einzelnen darüber; ich kündige es nur an, damit Sie wissen, wo wir stehen - und wenn man ausgerechnet Ärzten und Versicherten mit jenem globalen Mißtrauen gegenübertritt und so tut, als gebe es in unserer Bevölkerung eine übergroße Masse geborener Drückeberger. ({35}) Der Aufstieg unseres Landes ist von fleißigen Leuten vollbracht worden, so daß ein geringeres Maß an Mißtrauen bei der Reform der sozialen Krankenversicherung durchaus angemessen wäre. ({36}) Eine erfreuliche Feststellung habe ich hier heute in der Debatte machen können, nämlich die, daß die Freien Demokraten bereit sind, unseren Vorschlägen auf dem Gebiete des Kindergeldes - Kindergeld auch für das zweite Kind und Finanzierung aus öffentlichen Mitteln - zu folgen. Wir werden Ihnen ({37}) möglichst bald Gelegenheit geben, sich hier im Bundestag zu diesen Vorschlägen zu bekennen. Darauf können Sie sich verlassen. ({38}). Vielleicht läßt sich das auch noch etwas anreichern durch einige Gedanken - deren Ausführung nicht einmal allzuviel Geld kostet - über die Erleichterung der Familiengründung durch Darlehen. Ich habe mich hier heute auch darüber gefreut, daß und wie eine Lanze für eine vernünftige Neugestaltung der Beamtenbesoldung gebrochen worden ist. ({39}) - Das kam ja von den Regierungsparteien! Warum darf ich mich nicht darüber freuen, Herr Kollege? Das werden Sie doch wohl einsehen. Ich nehme an, daß das Wort deswegen so besonders sachkundig und zutreffend hier gesprochen werden konnte, weil ) der Finanzminister der gleichen Partei angehört; dahinter können wohl keine bösen Absichten gesteckt haben. Deswegen bin ich sicher, daß die Neuordnung der Beamtenbesoldung relativ rasch vonstatten gehen wird. Meine Damen und Herren, nach allen diesen Ausführungen noch zwei Schlußbetrachtungen. Ich glaube erstens, daß dieser Überblick über die Notwendigkeit, die Bundesrepublik gerade so hart am Rande der Demarkationslinie zwischen den beiden Welten in Ost und West so stabil und gesund und freiheitlich und gerecht wie möglich zu machen, gezeigt hat, daß die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus natürlich auch ihre sicherheitspolitischen Aspekte hat, aber im übrigen viel weiter reicht, daß sie viel mehr ist als ein militärisches Problem. Wenn wir die Dinge - auch wenn wir uns um Einzelheiten streiten mögen - im Prinzip so sehen, dann wird es uns auch gelingen, die geistigen und seelischen Kräfte der Nation zum Bestehen dieser Auseinandersetzung zu mobilisieren. Ich möchte in dieser weltweiten Auseinandersetzung einen Satz wiederholen, den mein Freund Willy Brandt hier gesprochen hat: daß wir uns alle miteinander schützend vor unser Volk stellen müssen, wenn die sowjetischen Politiker und ihre Gefolgsleute jenseits der Zonengrenze versuchen, ihre Geschäfte gegen das deutsche Volk dadurch zu betreiben, daß sie das deutsche Volk und die Bundesrepublik Deutschland diffamieren, es handle sich um Revanchisten, Militaristen, Kriegsbrandstifter und ähnliches Gelichter. Willy Brandt hat mit großem Nachdruck - ich glaube, wirklich im Sinne von uns allen - dargetan, daß wir Deutschen nach den schmerzlichen Erfahrungen mit unserer jüngsten Geschichte von keinem anderen Volk in der Einsicht uns übertreffen lassen, was ein militärischer Konflikt gerade für uns und auch für unsere Hauptstadt bedeuten würde, und in der Liebe zum Frieden, daß aber gleichzeitig diese Friedensliebe mit der Entschlossenheit gepaart ist, unsere Freiheit gegenüber jedem zu bewahren, der sie uns nehmen zu können glaubt, und mit dem Willen, mit politischen Mitteln, auf friedlichem Wege, nie erlahmend, immer wieder das unsere dazuzutun, daß auch jenen Landsleuten die Freiheit wieder einmal zuteil wird, denen sie heute durch fremde Gewalt vorenthalten wird. Wenn wir das so sehen, dann überkommt uns - mich jedenfalls - ein gewisses Bedauern darüber, daß der Abschnitt über die Gedanken der Bundesregierung zu dem wichtigen Weltproblem der kontrollierten Begrenzung der Rüstungen und der Abrüstung so mager ausgefallen ist. Es genügt nicht, daß wir uns nur allgemein zur kontrollierten Abrüstung bekennen und sagen: die anderen haben einen guten Friedensplan, und dem schließen wir uns hinten an. Aus vielen, vielen Gesprächen weiß ich, daß die anderen darauf warten, daß auch wir beim Mitdenken helfen, daß auch wir unseren Regierungsapparat ein bißchen besser darauf einrichten müssen, als das zur Zeit geschieht. Denn allein das Durchdenken und Durcharbeiten der Literatur geht über die Kraft der wenigen Menschen, die in unseren Regierungsämtern damit befaßt sind. Wir sollten uns, wenn wir nun schon nur zu 'allgemeinen Gedanken ja sagen, auf gar keinen Fall dazu verleiten lassen - wie es die Regierungserklärung tut -, zu spezifischen Gedanken nur blanko nein zu sagen, ohne das im einzelnen sorgfältiger durchzurechnen, als es in der Regierungserklärung geschehen ist. Ich halte es auch nicht für weise - um das ganz offen zu sagen -, daß die Regierungserklärung in einem viel härteren Wortlaut, als ihn der Verteidigungsminister in den Vereinigten Staaten gebraucht hat, der das Thema sehr behutsam behandelt hat, plötzlich unsere Verbündeten mit der Forderung überfällt, die NATO baldmöglichst zur vierten Atommacht zu machen. Sicher steckt darin - Willy Brandt hat darauf aufmerksam gemacht - ein wichtiger Punkt: wenn es um Leben und Tod des eigenen Volkes gehen kann, dann ist es legitim, zu erwarten, daß derartige Entscheidungen nicht über den Kopf der eigenen Regierung hinweg gefällt werden können. Jawohl, darüber muß man mit den Verbündeten reden. Aber die Formel, die in der Regierungserklärung steht, ist vom Verteidigungsminister bei seinen Äußerungen in den Vereinigten Staaten von Amerika vermieden worden. Sie würde gerade dazu beitragen, jener, auch kommunistischen Propaganda gegen uns Nahrung zu geben, die leider in etwas leichtsinnigen Äußerungen des Bundeskanzlers während der Wahlzeit Nahrung gefunden hat, in der er eben zum Unterschied von seinem Verteidigungsminister - ich muß das doch noch einmal sagen - nicht zwischen den Atomwaffen und den Trägern unterErler schieden, sondern sich für die atomare Bewaffnung schlechthin ausgesprochen hat. Wer ein Pfund Literatur zu dem Zweck zu lesen wünscht, dem stelle ich sie gern zur Verfügung; ich will Sie hier mit den Zitaten gar nicht langweilen. Daher teile ich die Kritik, die im „Rheinischen Merkur" zu dem Thema ausgesprochen worden ist mit der Befürchtung, daß Berlin solche atomaren Hochsprünge mit einer weiteren Verschärfung der Krise bezahlen müsse. Ich bitte daher die Bundesregierung, sich sorgsam zu überlegen, ob man hier in der Öffentlichkeit vorpreschen sollte, wohlwissend, daß die Verbündeten zu diesem. Thema entweder eine dezidiert andere Meinung oder noch .gar keine Meinung haben. Der Verteidigungsminister hat in den Vereinigten Staaten gesagt, daß er den Rahmen seines Vortrags überschreiten würde, wenn er mögliche Lösungen und Formeln nennte; denn das würde die kommende Diskussion stören, weil jede öffentliche Erörterung die ruhige Behandlung dieser Frage erschweren und die negativen Kritiker alarmieren würde, die genau alle Möglichkeiten wüßten, wie man eine Frage nicht lösen könne. Genau das scheint mir eingetreten zu sein. Daher bitte ich, die Regierungserklärung nachträglich dahin zu korrigieren, daß wir uns zunächst einmal behutsamer auf das einstellen, was die Verbündeten zu sagen haben; denn ich glaube nicht, die deutsche Politik fährt gut, wenn sie in solchen Fragen als Rammbock auftritt. Hier ist vorhin nach der Rede meines Freundes Brandt noch einmal gefragt worden: Wie ist denn das eigentlich mit eurer Haltung zu den größeren Verteidigungsanstrengungen der Bundesrepublik? Ich will darauf ganz unzweideutig anworten: Wir Deutsche können - auch im Hinblick auf unsere Verhandlungsposition - von unseren Verbündeten nicht verlangen, daß sie in einer Frage, in der unser Schicksal so auf dem Spiele steht wie das ihre, für uns Mehrleistungen auf dem Gebiet der Verteidigung erbringen, während wir mit den Händen in der Hosentasche danebenstehen. Das ist ausgeschlossen. Darüber herrscht in diesem Hause überhaupt kein Streit, und das möchte ich einmal klarstellen. ({40}) Noch etwas anderes: Wie man das am zweckmäßigsten macht, darüber hätte nun weiß Gott die Bundesregierung zu gegebener Zeit auch einmal mit uns ein Wort reden können. ({41}) Am 22. August 1961, also 9 Tage nach dem 13. August, nach der Pariser Außenministerkonferenz, nach dem Besuch des damaligen Ministers in den Vereinigten Staaten, hatte ich darum gebeten, einmal im Verteidigungsausschuß des alten Deutschen Bundestages - denn den gab es doch noch - darüber zu berichten, was im Busche ist und was unter Umständen getan werden muß. Der Minister - so habe ich mir sagen lassen - war bereit zu kommen; die Mehrheitsparteien, FDP eingeschlossen, haben damals unser Begehren niedergestimmt - wahrscheinlich weil gerade Wahlkampf war. Meine Damen und Herren, wir waren bereit, uns unterrichten zu lassen und ernsthaft mit Ihnen darüber zu reden. Und dann wird mir heute gesagt, die Opposition hätte sich ja auch einmal den Kopf darüber zerbrechen können, wie man Mehrleistungen auf dem Gebiet der Verteidigung aufbringt. So geht das nicht. ({42}) Wir sind bereit, ein gebührendes Maß an Verantwortung zu tragen, aber dann, wenn man mit uns geredet hat, bevor man die Entscheidungen ausgebrütet hat, wenn man offen die Karten auf den Tisch gelegt hat, damit wir die Argumente prüfen können und damit wir miteinander darüber reden können, wie man es am besten macht für Volk und Staat. Das ist doch wohl das Minimum dessen, was wir verlangen können. ({43}) Eine bestimmte Form der Dienstzeitverlängerung ist unausweichlich. Die Frage ist, ob das wirklich mit dem richtigen Maß und für alle in der richtigen Weise geschehen ist. Dabei werden z. B. vom Standpunkt der Gerechtigkeit Probleme aufgerissen. Wenn man die Dienstzeit für die, die man hat, verlängert, zieht man noch weniger ein. Wie sieht das aus bei der territorialen Verteidigung? Wie sieht es bei den verschiedenen Waffengattungen aus, wo es welche gibt, bei denen der Mann trotz der Verbandsübungen schon nach einem Jahr eigentlich nicht mehr recht weiß, was er zu tun hat, und andere, wo er auch mit zwei Jahren in einer hochmechanisierten Truppe noch kein ausgebildeter Kämpfer ist? Laßt uns doch über diese Dinge einmal reden! Verehrter Kollege Mende, bei allem Respekt vor Ihrer wackeren Haltung - „wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt" -: der Koalitionsvertrag ist kein Ersatz für eine sachliche Debatte dieser Fragen. ({44}) Auch für die Verteidigung gibt es die Pflicht, daß das Parlament mitdenkt. Auch die Verteidigung entzieht sich nicht dem Gebot der Diskussion auf der Suche nach der besten Lösung. Auch sie braucht eine sachkundige Beratung, und das Finden der besten Form kann man nicht durch stramme Haltung ersetzen. ({45}) Ich glaube nicht, daß man es so machen kann, wie es in Ihren Äußerungen möglicherweise anklang - vielleicht wissen Sie mehr -: Ich kenne zwar die Absichten der Regierung im einzelnen nicht, aber ich billige sie. Das wäre genau so falsch, wie wenn bei uns das Echo lautete: Wir kennen zwar die Absichten der Regierung nicht, aber wir mißbilligen sie. Wir wollen erst die Absichten der Regierung genau kennen, dann wollen wir darüber reden, wie man es am besten macht, und davon wird unsere Entscheidung abhängig sein, von nichts anderem. ({46}) - Sicher, es ist kein Gespräch mit uns geführt worden! ({47}) - Entschuldigen Sie! Genau dies ist ein Thema, bei dem ein verantwortlicher Politiker wissen muß, was die Regierung an Tatsachen mitgebracht hat und wie die Planung aussieht. Wenn ich dieses Thema auf Zeitungsberichte hin zur Entscheidung bringen wollte, wäre ich geradezu verantwortungslos. ({48}) Herr von Brentano hat gesagt, die Verteidigungsbemühungen, die verstärkt werden müßten - damit hat er recht - gälten auch der Bewahrung unserer Position in Berlin. Richtig! Aber da ist es lehrreich, wofür Verteidigungsbemühungen notwendig sind und was man unter Umständen nicht mit ihnen erreichen kann. In der Berliner Frage zeigt sich nämlich, daß man Positionen, die man politisch geräumt hat, in dieser unserer Welt militärisch nicht mehr zurückgewinnen kann. ({49}) Deshalb hat die Verteidigung eine doppelte Seite: die militärischen Anstrengungen und eine zähe, einfallsreiche und auch tapfere Politik, die auch dem Bundestag in der Berlin-Frage früher gemeinsames Bekenntnis war. Mir tut es leid, daß wir eine solche Debatte in den vergangenen Jahren nicht zwischendurch einmal in Berlin abgehalten haben. Weil die Sowjetunion uns aus Berlin weggescheucht hat, ist das heute soviel schwieriger geworden, meine Damen und Herren! ({50}) Wenn wir schon von Verteidigung sprechen: In der Regierungserklärung ist vom Bevölkerungsschutz etwas „mager" die Rede. Er ist ein Teil der Landesverteidigung. Warum wird die Regierung jetzt erst aktiver? Auch hier handelt es sich um eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden und der politischen Kräfte, ohne deren Zusammenwirken sie schon rein organisatorisch gar nicht bewältigt werden kann. Ich bejahe den Grundsatz, daß man die Kräfte für den Bevölkerungsschutz nur gewinnen kann, wenn Klarheit darüber besteht, daß das gleichzeitig als eine Leistung anerkannt wird, die im Dienste der Landesverteidigung erbracht wird. Die Sicherheit für die Bundesrepublik Deutschland, um die wir uns in der jetzigen Lage bemühen, bleibt, auch wenn wir noch viel mehr täten als wir tun können, Stückwerk. Unser Land bleibt gefährdet, solange Deutschland gespalten ist - wir haben es mit der Insellage unserer Hauptstadt zu tun - und solange jenseits der Zonengrenze ein unmenschliches Regime auf unsere Landsleute einen solchen Druck ausübt, daß dort ein Überdruck im Dampfkessel mit unberechenbaren Folgen entsteht. Deshalb gehört zur Sicherheitspolitik - ich wiederhole das noch einmal - außer der militärischen Komponente auch die politische hinzu. Deshalb muß man sogar dieses Berlin-Problem auch im Interesse unserer Sicherheit hineinstellen in die größeren Zusammenhänge, weil sonst die Gefahr bestehen bleibt. Deshalb sollte man etwas weniger selbstgerecht über die Vergangenheit reden. Ich will jetzt gar nicht den Geschichtsschreibern die Aufgabe abnehmen; ich meine nur: es steht doch leider fest, daß das, was viele damals gesagt, angekündigt, erhofft, erstrebt haben, eben heute nicht als Ergebnis auf unserem Tische liegt, sondern leider das Gegenteil. Jetzt haben wir es zu tun mit einer Sowjetunion, die die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges völkerrechtlich zu Papier bringen und in der Berlin-Frage noch mehr nach Hause tragen will. Deshalb wird drüben versucht, die Sowjetzone völkerrechtlich ins Spiel zu bringen, und deshalb ist es gefährlich, die Gefahr einer Isolierung der Berlin-Frage leugnen zu wollen. Leider laufen wir doch zunächst - auch wenn das von Herrn Dr. Mende als Interimsgespräch bezeichnet wird - auf eine isolierte Diskussion zu, bei der niemand weiß, wann und unter welchen Umständen sie je weitergeht. Unter Umständen bezahlen dann wirklich die Falschen. Wir sollten uns da nicht zu Gefangenen eigener Wunschvorstellungen machen lassen. Deshalb war es gut, daß der Bundestag in der Vergangenheit - und in Teilen klang das ja auch heute bei Ihnen erfreulicherweise noch durch - immer wieder auf den unlösbaren Zusammenhang zwischen Berlin, der ganzen deutschen Frage und dem Problem der europäischen Sicherheit aufmerksam gemacht hat. Herr Kollege von Brentano hat davor gewarnt, die europäische Sicherheit mit der Berlin-Frage zu koppeln. Natürlich dari sie nicht mit der BerlinFrage allein gekoppelt werden; das wäre falsch; sie ist zu koppeln auch mit der deutschen Frage; denn Berlin ist eingebettet in die deutsche Frage und von dia her in die Frage der europäischen Sicherheit. Es handelt sich doch um den gesamten Zusammenhang, wie er sehr richtig auch von der NATO im Dezember 1958 unmittelbar nach Vorlage des russischen Ultimatums vorgetragen worden ist. Heute haben wir es also leider nur noch mit dem Rest von West-Berlin zu tun. Jeder Versuch, die Viermächtediskussion über ganz Berlin wieder in Gang zu bringen, ist verdammt schwierig. Hier ist mit Recht vor dem falschen Status-quo-Denken angesichts der Mauer gewarnt worden. Der Koalitionsvertrag, von dem ja niemand weiß, was „geheime Kommandosache" ist unid was nicht und welche Fassung die richtige ist - ich nehme einfach einmal die, die in den Zeitungen stand -, hat verlangt, daß die Bundesregierung hier die Initiative zurückgewinnen müsse, und hat sich dabei bezogen auf unsere gemeinsame Arbeit, die Bundestagsentschließung vom 1. Oktober 1958, und die Rede des Bundestagspräsidenten vom 30. Juni 1961. ({51}) Meine Damen und Herren, es ist schade, daß das, was also in dem Papier steht, eben nicht bis in die Regierungserklärung durchgedrungen ist, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, Kollege Dr. Mende, wenn es Ihrem Einfluß gelänge, hier die Übereinstimmung von Geburtsurkunde und Taufschein in der praktischen Politik wiederherzustellen. ({52}) In der Berlin-Krise hat der alte Bundestag eine Reihe guter Werke getan. Wir haben mehr Zusammenwirken fertigbekommen, als die Regierung uns eigentlich ermöglichte, unter sehr ungünstigen inneren Verhältnissen. Daher noch einmal die Warnung davor, die Verbindung Berlins mit den größeren Fragen auch nur stückweise aufzugeben; und mit der Warnung natürlich die Hoffnung für die Bundesregierung, daß es selbst bei der jetzigen Lage ihr gelingen möge, diesen Zusammenhang wiederherzustellen. Sehr seltsam hat mich berührt, was in dieser Debatte über die Behandlung der Berlin-Frage vor den Vereinten Nationen gesagt worden ist. Meine Damen und Herren, da ist der Regierende Bürgermeister von Berlin damals heftig angegriffen worden, weil er die Unverfrorenheit hatte zu meinen, man sollte die Sache wegen der Verletzung der Menschenrechte vor die Vereinten Nationen bringen. ({53}) und es hat dann sogar, glaube ich - ich weiß es nicht genau -, eine Diskussion !auf der Außenministerkonferenz in Paris gegeben, ({54}) wo auch die Bundesregierung sich dagegen wehrte, daß das Berlin-Problem dort landet. Meine Damen und Herren, ich freue mich über die neue Erkenntnis. In der Regierungserklärung der Bundesregierung erscheint sie nicht. Wir waren nicht der Meinung, daß es gut wäre, etwa unter dem Stichwort „Gefährdung ides Weltfriedens" eines Tages unvermeidlich mit der Berlinfrage im Sicherheitsrat und .damit beim sowjetischen Veto zu landen, sondern wir waren der Meinung, daß es wirklich besser ist, die Sache, solange der Westen die Dinge noch in der Hand hat und nicht alle anderen Völker vor der sowjetischen Drohung zittern, unter dem Gesichtspunkt zertretener Menschenrechte vor die Vereinten Nationen zu (bringen. ({55}) Ich wollte hier nur darauf hingewiesen haben. Ich wäre nicht auf dieses Thema zu sprechen gekommen, wenn nicht plötzlich die Vereinten Nationen attackiert worden wären, warum sie sich nicht mit dem Problem beschäftigt hätten. Aber unsere eigene Politik hat das leider zu verantworten. Die Bundesregierung will sich nach der Regierungserklärung mit aller Kraft für das Zustandekommen des Friedensvertrages einsetzen. Da bleibt ein ganzes Kapitel offen. Wie? Welche Vorbereitungen trifft sie? Trifft das zu, was im Koalitionsvertrag darüber verabredet ist, oder nicht? Hierher gehört noch, daß die Außenpolitik der Bundesrepublik im Zeichen wachsender europäischer Gemeinschaft sich nicht auf die Sorgen beschränken kann, die uns unmittelbar auf den Nägeln brennen. Bin Wort zur europäischen Zusammenarbeit. Wir haben mit Befriedigung registriert, daß sich die Bundesregierung über den Eintritt Großbritanniens freut. Ich glaube, es sollte gemeinsame Aufgabe aller kontinentalen Partner sein, das ihre zu tun, die Briten nicht nur in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hineingehen zu lassen und Hindernisse dagegen aus dem Wege zu räumen, sondern sie gleichzeitig auch in enger Fühlung mit allem zu halten, was sich auf dem Gebiet der politischen Zusammenarbeit entspinnt. Denn es wäre verhängnisvoll, wenn wir eine politische Gemeinschaft ohne Großbritannien und eine wirtschaftliche mit Großbritannien hätten; schon wegen der Verteidigungsprobleme wäre das nahezu undenkbar. Gerade das Engagement der Briten ist ein wertvolles Sicherheitsunterpfand für uns alle. Die gewachsenen Demokratien Großbritanniens und einiger skandinavischer Länder würden dem gesamten politischen Klima innerhalb der europäischen Gemeinschaften nur bekömmlich sein. Wir sind der Meinung, hier ist ein Prozeß in Gang gekommen, der nicht umkehrbar werden darf. Die Gemeinschaft darf nicht aufgelöst, nicht gelockert werden. Sie muß fester werden und trotzdem offenbleiben für die verschiedenen Formen der Mitwirkung oder der Assoziierung anderer. Diese Formen sollte man so wählen, daß nicht etwa die Sowjetunion bestimmen kann, wer sich an den europäischen Gemeinschaften beteiligen darf und wer nicht. Und ein weiteres! Es gilt, die Gemeinschaftseinrichtungen zu stärken, daraufhin auch noch einmal die Pläne unserer französischen Freunde sich anzusehen. Es gilt, die Exekutiven zusammenzufassen und dafür zu sorgen, daß ihnen dann eine funktionierende parlamentarische Kontrolle gegenübersteht. Das Parlament hat eine ungeheuer integrierende Wirkung. Die Arbeit unserer sozialistischen Fraktion etwa ist ein gutes Beispiel dafür, und vielleicht kommen wir dann bald dahin, daß ein solches Parlament auch durch direkte Wahl der Abgeordneten besonders eng mit unseren Bevölkerungen verbunden wird. Denn bei den europäischen Gemeinschaften kommt es darauf an - auch hier spreche ich, glaube ich, für uns alle -, daß sie Gemeinschaften der Völker werden und nicht nur organisierte Bürokratien. Daher ist es wichtig, daß die Bundesregierung die deutschen Absichten auf diesem Gebiete klärt und das Parlament laufend informiert. Meine Damen und Herren, damit habe ich den innen- und außenpolitischen Überblick abgeschlossen. Im letzten Absatz der Regierungserklärung steht ein Satz, der nicht allzuviel Gutes verheißt. Da heißt es in Wahrheit, daß die Bundesregierung den Anschluß der Opposition an ihre Vorstellungen fordert, statt daß sie die Hand bietet zur gemeinsamen Erarbeitung der Vorstellungen, die wir zusammen verwirklichen wollen. Sie sagt dort, sie erwarte, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses den Grundprinzipien der Politik der Regierung zustimmen. Nein, meine Damen und Herren, wichtig sind Diskussion und Mitwirkung an der Entscheidung, bevor die Entscheidungen fallen, und nicht nur das Bitten um nachträgliche Zustimmung. Und ein allerletztes, aus einem ganz anderen Thema! Eine persönliche Anmerkung. Herr Kollege von Brentano sprach von den sittlichen Grundlagen, die sich bei unserer Arbeit auf die verpflichtende Tradition christlichen Denkens gründen müssen. Er erwähnte dabei, daß in der Zeit der Verfolgung durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft die Christen beider Konfessionen sich zusammengefunden und dort also den Weg in die spätere Union vorbereitet hätten. Lassen Sie mich aus eigenem Erleben und Erleiden etwas hinzufügen. Am 15. September 1939, vor mehr als 22 Jahren, stand ich vor dem Volksgerichtshof in Berlin und wurde dort zusammen mit einem evangelischen Geistlichen zu zehn Jahren Zuchthaus wegen der Arbeit gegen das Hitlerregime verurteilt. Jawohl, es haben sich damals Christen aller Konfessionen über die trennenden Gräben hinweg gefunden, aber im Widerstand gegen das „Dritte Reich" und im Wirken für ein neues Deutschland - ich sage das ganz offen und ehrlich -, Christen u n d Nichtchristen. Was uns vorschwebte, uns, den Christen - zu denen zählte ich auch in jenen Jahren in Berlin im. Kirchenkampf mit meinem Freunde -, das war ein demokratisches Deutschland, in dem es verschiedene Kräfte gibt, die miteinander ringen. Da gingen wir nicht von der Vorstellung aus, daß sich dann alle Christen etwa in einer Partei fänden. Deswegen wollte ich als Nachklang sagen: ich sage ja zum Herausstellen der sittlichen Grundlagen, aber ich meine, daß das Christentum nicht auf ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Ordnungsbild verpflichtet; es gibt konservative, liberale und sozialdemokratische Christen. Das wollte ich hier nur gesagt haben, damit wir gar nicht erst falsche Akzente setzen. Die Christen als Salz der Erde wirken in verschiedenen politischen Parteien. Denn sobald sie sich in einem Volk mit unserer im wesentlichen durch das Christentum geprägten Tradition alle in einer Partei fänden, wäre das wieder ein Einparteienstaat, den wir alle nicht wollen. Deshalb wollte ich diese mahnende Bemerkung aus eigenem Erleben hier noch anschließen, weil ich der Überzeugung bin, daß unsere Demokratie der Vielfalt der Kräfte und des Wirkens von Christen in allen demokratischen Parteien bedarf. ({56})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Das Wort hat der Abgeordnete Döring.

Wolfgang Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000398, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erinnerung des Kollegen Erler an eine sehr böse Zeit in der Geschichte unseres Volkes und sein Rückblenden auf bitterste Stunden, die er in dieser Zeit hat durchmachen müssen, macht es mir gar nicht so leicht, den Anschluß zu finden an einige seiner eingangs gemachten Bemerkungen über die Koalition, die vor wenigen Wochen geschlossen wurde. Aber Herr Kollege Erler kennt mich persönlich lange und gut genug und weiß, daß er mir gewissermaßen die andere Rolle, nämlich hier Sprecher einer Koalition zu sein, doch sehr erleichtert hat. Er hat sehr eindrucksvoll darauf verwiesen, welche Funktion eine Oppositionspartei in der parlamentarischen Demokratie hat. Er hat ihre Kontrollfunktionen sehr eindringlich geschildert und hat sehr einleuchtend demonstriert, daß es auch Aufgabe der Opposition sei, die Regierung ständig zu einer Überprüfung ihrer eigenen Absichten und ihrer Entscheidungen zu zwingen. Er hat sogar hinzugefügt, daß man bei dieser Kontrollfunktion in der Methode sehr unterschiedlich vorgehen und gelegentlich auch über das Ziel hinausschießen könne. Mit dieser letzten Bemerkung, Kollege Erler, haben Sie es mir wirklich sehr erleichtert, als Koalitionssprecher aufzutreten. Sie haben das sicherlich nicht absichtlich getan; aber ich habe das so empfunden. Ich möchte ein Drittes hinzufügen, das Sie, Herr Kollege Erler, nicht erwähnt haben, als Sie über die Funktionen einer Opposition gesprochen haben. Ich meine eine Funktion, die man vielleicht gar nicht so deutlich herausstellen kann, die sich aber aus dem parlamentarischen Wechselspiel ergibt. Eine parlamentarische Opposition zwingt möglicherweise eine Regierung, gelegentlich von gefährlichen Kompromissen im außenpolitischen Bereich Abstand zu nehmen. In einer parlamentarischen Demokratie, wo man sich der Kritik der Öffentlichkeit und der Wähler zu stellen hat, wird eine Regierungspartei und eine Regierungskoalition auch immer an die Zeit denken müssen, wo sie sich dieser Kritik der Öffentlichkeit zu stellen hat. Sie wird zwangsläufig auch immer daran denken, wie sie sich angesichts einer solchen kritischen Betrachtung durch ihre Wähler mit der Opposition mit Aussicht auf Erfolg auseinandersetzt. Herr Kollege Erler, mit Ihrer Definition der Aufgaben einer Oppositionspartei in einer parlamentarischen Demokratie haben Sie selber die besten Argumente gegen eine Allparteienregierung in diesem Hause geliefert. ({0}) Ich hätte das gar nicht so überzeugend tun können, weil man mir vielleicht unterstellt hätte, ich spreche von einer veränderten Situation aus. Herr Kollege Erler, Sie sagten der Eindruck im Ausland wäre dann am stärksten gewesen, wenn man sich in der augenblicklichen Situation zur Bildung einer Allparteienregierung entschlossen hätte. Sie denken wahrscheinlich an das uns befreundete demokratische nachbarliche Ausland. Ich meine, der Eindruck im Ausland wird immer dann am stärksten sein, wenn man dort feststellt, daß bei uns das parlamentarisch-demokratische System im Wechselspiel von Regierung und Opposition funktioniert. Der Eindruck wird vielleicht dann am stärksten sein, wenn dieses System gerade in politisch kritischen Zeiten funktioniert. ({1}) Döring ({2}) Herr Kollege Erler, Sie sagten dann weiter, mein Kollege Mende habe heute morgen übersehen, daß der Bundeskanzler bei der Abstimmung nur acht Stimmen über sein Existenzminimum bekommen habe. Sie sagten, das schwäche das Gewicht der Tatsache, daß die Koalition in diesem Hause mehr als 300 Abgeordnete habe, doch außerordentlich ab. Wenn ich mich recht erinnere, hat der Bundeskanzler bereits einmal mit einem geringeren Existenzminimum eine Kanzlerschaft angetreten; ich glaube mit einer Mehrheit von einer Stimme. Aus seiner Perspektive wird er - davon bin ich überzeugt - es als einen ganz beachtlichen Erfolg betrachten, daß er sich gegenüber 1949 immerhin um sieben Punkte verbessert hat. ({3}) Damit will ich folgendes sagen: gerade diese Abstimmung ist der deutlichste Beweis dafür, daß es bei uns keinen Koalitionszwang gibt und keinen Koalitionszwang geben wird. ({4}) Herr Kollege Erler, damit ist der Beweis erbracht, daß diese Koalition in jedem Fall gewillt ist, den Art. 38 des Grundgesetzes zu respektieren, wenn es auch vielleicht einmal der einen oder anderen Fraktion in dieser Koalition nicht gefallen sollte. Zum Koalitionsabkommen äußerten Sie, Herr Kollege Erler, noch einmal wie Kollege Brandt heute morgen Bedenken. Ich habe mich immer darüber gewundert, daß bei der Betrachtung dieser Koalitionsvereinbarungen niemals Vergleiche gezogen worden sind zu der Koalitionsvereinbarung, die in den Jahren 1957 bis 1961 zwischen der CDU und der CSU bestanden hat, ohne daß jemand auf die Idee gekommen wäre, darin etwas Verfassungswidriges zu sehen. Ich habe mich eigentlich noch mehr darüber gewundert, daß sich die Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion - ich sah heute morgen den Kollegen Steinhoff aus Düsseldorf; vielleicht ist er noch da - nicht daran erinnern, daß wir im Jahre 1956 bei einer Regierungsbildung in Düsseldorf ebenfalls eine Koalitionsvereinbarung getroffen ({5}) und sogar einen Koalitionsausschuß gebildet haben. ({6}) Kollege Steinhoff wird mir sicherlich bestätigen, daß das eine ausgezeichnete Einrichtung war. Ich will mich aber nicht nur an ihn wenden; ich glaube, auch die Kollegen aus der CDU werden feststellen, daß der Koalitionsausschuß, den sie zusammen mit der CSU hatten, sowie die Koalitionsvereinbarung eine ganz gute Basis für die Zusammenarbeit waren. Meine Herren Kollegen von der Opposition, warum soll eine Koalitionsvereinbarung, warum soll ein Koalitionsausschuß, der erprobt ist in der Konstellation CDU-CSU, der erprobt ist in der Konstellation FDP-SPD, im Jahre 1961 in Bonn nicht einmal in der Konstellation CDU/CSU-FDP funktionieren? ({7}) Herr Kollege Erler, Sie haben eine weitere Frage aufgeworfen, die mich doch etwas hat zweifeln lassen, ob Ihre Erinnerung an die März-Debatte des Jahres 1958 noch sehr frisch ist. Sie fragten nämlich meinen Kollegen Mende, warum er eigentlich am 25. März 1958 einen nationalen Notstand gegeben sah, der ihn zu der Forderung nach einer Allparteienregierung veranlaßt habe. Nun, meine Damen und Herren, Sie erinnern sich alle an diese recht leidenschaftliche Debatte im März 1958, und ich glaube, es ist gar kein Geheimnis, daß die Freie Demokratische Partei damals der Meinung war - die Sozialdemokratische Partei war es, glaube ich, mit ihr -, dieser Zeitpunkt, im März des Jahres 1958, könne vielleicht ein bedeutsamer Wendepunkt in der Geschichte der Nachkriegszeit sein. Es ist gar kein Geheimnis, daß wir damals der Meinung waren, im Rahmen der zu diesem Zeitpunkt aufgeworfenen Probleme vielleicht eine erneute Behandlung der deutschen Frage unter günstigeren Aspekten erreichen zu können. Vielleicht gab es damals mehr Spielraum als heute. Angesichts der sehr harten gegenteiligen Auffassung und der Argumente der damaligen Regierung, die allein von der CDU und der CSU getragen wurde, waren wir der Überzeugung, daß man eine Änderung der Situation oder eine Änderung der Auffassung der damaligen Regierungsparteien nur erreichen könne, wenn man in gemeinsamer Verantwortung einen solchen Weg zu gehen versuchte. Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien des Jahres 1958 haben sich dieser Forderung verschlossen. Aber darüber heute noch eine Debatte zu führen, wäre, glaube ich, sehr müßig. Herr Kollege Erler, ich hätte diese Frage gar nicht aufgeworfen, wenn Sie nicht meinem Kollegen Mende den Vorwurf gemacht hätten, er habe die damalige Situation offensichtlich als schlechter beurteilt als die heutige, weil er sich heute gegen eine Allparteienregierung wende. Herr Kollege Erler, ich erinnere mich dieser Nacht noch sehr genau, als mein Kollege Mende einsam und verlassen hier am Rednerpult stand und seine Forderung stellte, und ich erinnere mich noch sehr genau der Unterbrechung der Sitzung. Ich erinnere mich noch sehr genau, daß dann die CDU/CSU-Fraktion, die Regierungsfraktion, und die Freie Demokratische Fraktion mit Spannung darauf warteten, was nun wohl die große sozialdemokratische Fraktion zu dieser Forderung der Freien Demokratischen Partei sagen würde. Auch ich war innerlich sehr »angespannt, Kollege Erler. Und was war das Ergebnis? Aus dem Mund Ihres Fraktionsvorsitzenden haben wir dann zu unserer großen Enttäuschung - das gestehe ich sehr offen, und meine Koalitionskollegen werden auch diese Aussprache sehr wohl verstehen; sie dient nämlich ganz allgemein einer Klärung - gehört, daß die sozialdemokratische Fraktion nicht bereit war, etwa der These, die Erich Mende aufgestellt hatte, zu folgen; vielmehr gab sie damals eine für uns kaum faßbare Erklärung ab. Und das, was drei Tage, nachdem diese »Debatte zu Ende war, öffentlich gesagt wurde, konnte eigentlich ihre Zurückhaltung im entscheidenden Augenblick in keiner Weise mehr kompensieren. Nun, Herr Kollege Erler, ist ein solche Rückerinnerung sicher noch kein Beweis dafür, daß Ihre Döring ({8}) jetzige Forderung nach einer Allparteienregierung deswegen etwa völlig überflüssig oder falsch sei. Aber, Herr Kollege Erler: Ich hätte begriffen, wenn man in der Sozialdemokratischen Partei nach dem 13. August, nach den Vorgängen in Berlin aufgestanden wäre und gesagt hätte: Dies sind Alarmzeichen, die uns veranlassen, nun die Forderung nach einer Allparteienregierung zu stellen. Aber das ist leider unterblieben. ({9}) - Nachdem der Wahlkampf vorüber war! ({10}) Herr Kollege Brandt, eine offizielle Forderung nach einer Allparteienregierung seitens der Sozialdemokratischen Partei ist vor dem 17. September meines Wissens nicht gestellt worden. Ich habe damals sehr aufmerksam, wie man das als Wahlkämpfer ja tun muß, Berichte und Informationen gelesen. ({11}) Aber selbst wenn ich einmal in Betracht ziehe, daß die Sozialdemokratische Partei es für opportun oder besser gesagt für zweckmäßig hielt - ich möchte keinen falschen Akzent setzen -, die Forderung nach einer Allparteienregierung nach dem 17. September zu stellen, dann mag ihr das unbenommen bleiben, und ich glaube ihr, daß sie eine solche Forderung aus Besorgnis um die außenpolitische Entwicklung und die in der Deutschlandpolitik stellt. Ich glaube Ihnen, daß Sie das ehrlichen Herzens tun. Aber, Herr Kollege Erler, ich verwahre mich dagegen, daß Sie denen, die Gegner einer Allparteienregierung sind - auch aus wohlerwogenen innenpolitischen Gründen -, etwa unterstellen, daß sie um das Schicksal Deutschlands und des deutschen Volkes weniger besorgt wären. ({12}) Herr Kollege Brandt, ich habe heute morgen bei einigen Passagen Ihrer Darlegungen - ich meine nicht die über Berlin, ich meine nicht die über die Außenpolitik, sondern ich meine einige Passagen im Bereich der Innenpolitik - das Gefühl gehabt, daß Sie sich von einer Sozialdemokratischen in eine sentimentaldemokratische Partei zu verwandeln gedenken, ({13}) als Sie sagten: „Sie wollen 111/2 Millionen Wähler" - nämlich die, die die Sozialdemokratische Partei gewählt haben - „einfach beiseiteschieben". Herr Kollege Brandt, das ist wohl eine Unterstellung, und sie wird durch keine Äußerung, die heute von Sprechern der Regierungsparteien gemacht worden ist, auch nur im geringsten gerechtfertigt. Weiter, Herr Kollege Brandt! Wenn ich mir die Reden, die heute gehalten worden sind, in Erinnerung rufe oder sie im Protokoll nachlese, dann muß ich sagen: verglichen mit dem, was Sie und der Kollege Erler über Ihre Vorstellungen zur Außenpolitik, zur Deutschlandpolitik gesagt haben, hat sich mein Kollege Mende, bei dem Zurückhaltung begreiflicher gewesen und dem sie mehr zu verzeihen gewesen wäre, bedeutend konkreter darüber geäußert, wie die Regierung ihre Regierungserklärung ausgelegt wissen möchte. Herr Kollege Brandt und Herr Kollege Erler, aus den Worten aller Sprecher der Regierungsparteien müssen Sie entnommen haben - und es besteht an diesem Tage keine Veranlassung, zu unterstellen, daß diese Worte nicht ehrlich gemeint waren -, daß der ehrliche Wille zur Aussprache, zur Diskussion auch auf seiten der Koalition besteht. Lassen Sie mich noch einen Punkt richtigstellen. Herr Kollege Erler, Sie zitierten meinen Freund Mende und sagten, er habe in seinen Ausführungen heute gesagt: Kapitalismus ist .gleich freiheitliche Gesellschaftsordnung, Sozialismus ist gleich Kommunismus. ({14}) Ich habe den Eindruck, man muß bei Debatten seine Vorredner manchmal mißverstehen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das Protokoll der Rede des Herrn Kollegen Mende schon vorgelegen hatte. ({15}) - Herr Erler, ich muß, um es ganz klarzustellen und damit es keine Mißverständnisse über die ideologischen Grundlagen gibt, meinen Kollegen Mende zitieren. Ich darf das - mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten - tun. Er hat gesagt: Der von Chruschtschow ausgerufene friedliche Wettbewerb zwischen Kapitalismus - sprich freiheitliche Gesellschaftsordnung - und Sozialismus - sprich Kommunismus - ... Er hat Herrn Chruschtschow zitiert und ihm richtigerweise unterstellt, daß für ihn diese Übereinstimmung besteht, nicht für uns.

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erler?

Wolfgang Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000398, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte, Herr Kollege Erler!

Fritz Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß Herr Chruschtschow den Kapitalismus als freiheitliche Gesellschaftsordnung bezeichnet hat. Das ist Herrn Mendes Interpretation von dem, was Herr Chruschtschow gemeint hat.

Wolfgang Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000398, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es handelt sich um eine Deutung, die Herr Mende gegenüber der Chruschtschowschen Darstellung vorgenommen hat. Herr Kollege Erler, lesen Sie es noch einmal im Protokoll nach, und Sie werden feststellen, daß das, was man Herrn Mende unterstellt hat, gar nicht sein kann, auch nach dem Wortlaut nicht. Döring ({0}) Ein Letztes, Herr Kollege Erler! Ich habe mich gefreut, heute bei dieser Debatte feststellen zu können, daß in einigen Punkten zwischen den Sprechern der Regierungsparteien und den Sprechern der Opposition sogar eine weitgehende Übereinstimmung besteht. Es ist von allen Sprechern festgestellt worden, es sei unser Wunsch und Wille, daß keine isolierten Verhandlungen über Berlin erfolgen. Von allen ist klar zum Ausdruck gebracht worden, daß niemand mehr isolierte Verhandlungen über das Deutschlandproblem für möglich hält. Von allen Seiten ist erklärt worden, daß man eine Lösung dieser Probleme in unserem Sinne nur dann für möglich hält, wenn sie engstens mit dem Problem der europäischen Sicherheit verbunden wird. Es besteht also eine weitgehende Übereinstimmung in dieser Schachteltheorie und in der Betrachtung der gegenwärtigen Situation. Es müßte deshalb eigentlich auch möglich sein, sich in den zuständigen Ausschüssen dieses Hauses, nämlich im Ausschuß für Auswärtiges und im Ausschuß für Verteidigung, über Fragen der Methodik in anderer Form zu unterhalten, als das vielleicht in der Vergangenheit gelegentlich der Fall gewesen ist. Wir glauben jedenfalls eines: wenn man seitens der Westmächte zu Verhandlungen über Berlin bereit ist, wenn es wirklich zu Verhandlungen kommen sollte, die uns den Eindruck vermitteln müssen, als sollte isoliert über Berlin verhandelt werden, dann muß es nach unserer Überzeugung das Bestreben sein, wenigstens für die angestrebten Ziele einer Interimslösung zu erreichen, daß über den Status ganz Berlins verhandelt wird und daß nicht der Ausgangspunkt etwa Verhandlungen über Westberlin sind. Sie werden mit uns wohl darin übereinstimmen, daß am Ende einer isolierten Verhandlung über Westberlin vermutlich nur ein Status quo minus für Westberlin stehen würde. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf ein Problem eingehen, das der Kollege Erler angeschnitten hat, das Problem der Dienstzeitverlängerung für die Streitkräfte der Bundesrepublik. Mein Kollege Mende hat durch einen Zwischenruf bereits klargestellt, daß dieses Problem sich nicht etwa erst seit dem August 1961 stellt. Dieses Problem besteht seit langer Zeit. Wer sich einmal intensiver um die Dienstzeitprobleme in der Bundeswehr gekümmert und bemüht hat - das ist seitens aller Fraktionen geschehen -, der weiß, welch große Schwierigkeiten in der Vergangenheit bestanden. Mein Kollege Mende hat heute morgen nichts anderes zum Ausdruck gebracht als die Tatsache, daß uns dieses Problem seit über einem Jahr bekannt ist und von uns diskutiert wurde und daß wir einer Dienstzeitverlängerung positiv gegenüberstehen. Aber, Herr Kollege Erler, ich stimme Ihnen zu: es gibt keine Vorlagen, und es hat darüber auch noch keine Erörterung im zuständigen Ausschuß gegeben oder geben können. Dieses Problem bedarf einer Erörterung, selbstverständlich auch einer sorgfältigen Erörterung zwischen Koalition und Opposition. Eine solche Entscheidung kann und soll man nicht treffen, ohne sie mit allen Fraktionen des Hauses sorgfältig geprüft und besprochen zu haben. Ich habe aus den Besprechungen über diese Frage in der Vergangenheit den Eindruck, daß auch hier weitgehend Übereinstimmung erzielt werden kann. Ich glaube, Einzelprobleme dieses Komplexes hier im Plenum erörtern zu wollen, führt an den Dingen vorbei. Dafür ist hier wohl nicht der richtige Ort. Aber darin stimme ich mit Ihnen überein: es bedarf einer sorgfältigen Überprüfung und Erörterung. Ich glaube auch, daß sich dann gemeinsam eine sachlich richtige Entscheidung finden lassen wird. Zum Schluß wiederhole ich noch einmal das, was heute morgen der Sprecher der Christlich-Demokratischen Union, der Kollege von Brentano, und was mein Kollege Mende gesagt haben. Sie werden uns immer bereit finden zu einer offenen und freimütigen Aussprache, insbesondere über die Probleme, die uns alle im Augenblick intensiv beschäftigen, die Frage: Wird es uns gelingen, den Frieden zu erhalten? Wird es uns gelingen, eine Veränderung in der Situation des ganzen deutschen Volkes noch in absehbarer Zeit zu erreichen? Niemand kann wohl aus der heutigen Debatte entnommen haben, daß es seitens der Regierung und der Regierungsfraktionen an gutem Willen dazu fehle. ({1})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Ich habe die Ehre, im Namen meiner Freunde zu den allgemeinpolitischen Teilen der Beiträge der Kollegen Brandt und Erler einige Ausführungen zu machen. Zu den außerpolitischen Teilen wird sich mein Berliner Freund und Kollege Gradl hier äußern. Ich glaube, auf die Fragen des Kollegen Erler nach dem Warum dieser Koalition (brauche ich nicht einzugehen. Das hat heute vormittag schon der Vorsitzende unserer Fraktion getan. Ich möchte beginnen mit einem Dank dafür, daß sowohl der Kollege Brandt wie der Kollege Erler heute von „unserer" Regierung gesprochen haben. Ich erinnere mich an frühere Debatten, wo immer mit einem gewissen bösen Unterton von „Ihrer" Regierung gesprochen worden ist. Ich stelle fest, daß das anders geworden ist, und bedanke mich dafür. Ich möchte ein Zweites tun. Der Kollege Brandt war so liebenswürdig, den Herrn Bundeskanzler zu seiner Genesung zu beglückwünschen. Ich möchte das zurückgeben an Sie, Herr Kollege Brandt. Wir haben ja festgestellt, daß der Grippeerreger ein interfraktioneller Bazillus ist: der eine war vor der Reise krank, der andere hinterher. Wir freuen uns, daß beide wieder da sind. Sie haben - damit wir nun nicht nur Blumensträuße austauschen - geglaubt sagen zu sollen, die Regierungserklärung sei „kleinkariert". Nun, ich glaube, unsere Phantasie erlaubt uns ein ähnliches Attribut für verschiedene Reden der Opposition. Für mich wenigstens ist das Karo, auch wenn es klein ist, eine klare Kontur, und die habe ich doch sonstwo gelegentlich vermissen müssen. Ein Wort noch zu einer Frage, die heute immer wieder angeschnitten worden ist, vor allem auch von Herrn Kollegen Brandt, alber eben auch noch vom Kollegen Döring, auch Herr Erler hat davon gesprochen, - zur Frage des Koalitionspapiers und des Koalitionsausschusses. Ich will mich auf die politische Seite beschränken; denn die rechtliche ist ja heute nicht mehr strittig gewesen. Ich lege Wert auf .die Feststellung, daß die Fraktion der CDU/CSU in vollem Umfang, uneingeschränkt, zum Art. 38 des Grundgesetzes steht. Niemand, keine Fraktion, keine Partei, keine Regierung, kein Papier vermag dieses Grundrecht des Abgeordneten, nur seinem Gewissen zu folgen, einzuschränken oder gar aufzuheben. Dieses Recht hat Vorrang vor allem. Ich weiß mich in dieser Interpretation einig mit unseren Koalitionsfreunden von der FDP. Ich lege aber, weil der Kollege Brandt heute morgen meinen verehrten Fraktionskollegen und jetzigen Minister Dr. Krone zitiert hat, Wert auf eine zweite Feststellung: Die Fraktion der CDU/CSU ist nicht willens oder bereit, hier .das entstehen zu lassen, was in Österreich Usance geworden ist und was, wenn es bei uns Wirklichkeit würde, gegen das Grundgesetz wäre. Einem Koalitionsausschuß als Oberregierung oder als Oberparlament werden wir nicht zustimmen. Und ich glaube, daß die Praxis der bisherigen Sitzungen doch zeigt, daß die Taten durchaus diesem Vorhaben entsprechen. Ich möchte aber, weil der Kollege Döring eben auf den Koalitionsausschuß in Düsseldorf bei der von SPD und FDP gebildeten Regierung unter dem jetzigen Kollegen und früheren Ministerpräsidenten Steinhoff von 1956 bis 1958 zu sprechen gekommen ist - einen Koalitionsausschuß, der sich, wenn ich recht informiert bin, sogar über Regierungsgeschäfte und Ministerpersonalien unterhalten hat -, doch sagen, daß wir nicht willens und bereit sind, eine solche Übung hier entstehen zu lassen. ({0}) Die CDU/CSU ist nur bereit, einen Koalitionsausschuß wirksam werden zu lassen, der sich voll und ganz im Rahmen des Grundgesetzes hält, so wie er schon früher bestanden hat, also kurzum: einen Gesprächskreis der Fraktionen, die die Bundesregierung tragen, zum Zwecke des Sich-Zusammenfindens. ({1}) - Ich bedanke mich für die Klarstellung, Herr Kollege Mende. Der Kollege Erler hat von dem Salz gesprochen. Da das Salz sicher nicht auf eine Seite beschränkt ist, möchte ich hier aber noch eines sagen. Die Fraktion der CDU/CSU ist auch nicht etwa bereit, hier eine Praxis einreißen zu lassen, die analog einem Beschluß eines Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wäre. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich diesen Beschluß hier zitieren: Der Parteitag hat beschlossen: Der Parteivorstand ist ermächtigt und verpflichtet, für die Koordinierung der sozialdemokratischen Politik in den einzelnen Ländern Deutschlands Sorge zu tragen. Die Exponenten der deutschen Länderpolitik innerhalb der sozialdemokratischen Partei verpflichten sich, Koordinierungsbeschlüsse und Richtlinien des Parteivorstandes und des Parteiausschusses innezuhalten. ({2}) Sie verpflichten sich ferner, in kritischen Situationen und bei möglichen Überschneidungen von Kompetenzen im Rahmen der Länderpolitik den Parteivorstand zu unterrichten und die in gegenseitiger Aussprache als Richtlinien erarbeiteten Grundsätze jeweils zu vertreten. So weit der Beschluß eines Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ich will nicht fragen, ob das verfassungskonform sei, weil ich überhaupt nicht die Vermutung äußern möchte, daß rechtsstaatliche und demokratische Politiker in unserem Land irgendeine Praxis pflegen, der die Verfassung entgegensteht. ({3}) Aber ich meine, daß man uns das dann auch nicht in die Schuhe schieben sollte. Wenn Sie an der Quelle Interesse haben: Vielleicht lesen wir die Handbücher der SPD etwas sorgfältiger als Sie! ({4}) Ich muß mich nun mit dem zweiten Einwand beschäftigen, mit dem Einwand, die Regierungserklärung sei aus dem Programm der SPD abgeschrieben. Über diesen Einwand kann ich mich nur freuen. Denn ich erwarte nun breite Mehrheiten in wichtigen Fragen, - ein schöner Beitrag zu einem neuen Stil. Aber zweitens, meine Damen und meine Herren - lassen Sie es mich ganz ruhig sagen -: wer hat denn nun eigentlich verbrannt, was er früher angebetet hat? ({5}) Wollen Sie vielleicht ({6}) ein öffentliches Gelächter bewirken und behaupten, Ihre Sozialisierungskataloge seien die Grundlage des Durchbruchs zur Sozialen Marktwirtschaft gewesen oder Ihre „Ohne-mich"-Kampagne hätte etwa die NATO-Politik bewirkt? Das sollten Sie nicht tun. Aber bei allem Streit, den wir über Plagiate und über Urheberrecht anzufangen scheinen: Wir Christlichen Demokraten stellen einfach erfreut fest, daß die 12jährige Politik und das Programm dieser Union inzwischen zum Richtpunkt auch für die anderen geworden sind. ({7}) - Herr Kollege Erler, es ist eben so - ({8}) - Lassen Sie mich das bitte erst abschließen! Es ist eben so: Wenn katholische und evangelische Christen zusammenarbeiten - und sie tun es ohne jeden Monopolanspruch -, dann enstehen eben Dinge, an denen keiner vorbei kann. Das dürfen wir hier, glaube ich, feststellen. Aber ein Zweites, Herr Kollege Erler, als ganz kurze Antwort auf das, was Sie am Schluß über Christlichkeit gesagt haben. Man soll auch niemanden hindern - und hier zitiere ich sinngemäß aus dem Gedächtnis ein Wort des Herrn Präsidenten Gerstenmaier -, eine politische Gemeinschaft zu bilden, die sich freiwillig unter Gottes Gebot stellt. Und wir sind die einzige, die das tut. Das scheint mir doch auch der Beachtung wert. Wenn Sie nun fragen, Herr Kollege Erler: „Welches Programm?" - ich will diese Frage gern beantworten -, so darf ich dazu sagen, daß alle Parteien dieses Hauses eine gewisse Programmgeschichte hinter sich haben. Ich freue mich über alle Entwicklungen, die dem Wohle des Volkes dienen. Ich freue mich darüber, daß wir hier ein bißchen näher zusammenrücken, und da soll man jedenfalls nicht solche Bemerkungen machen. ({9}) - Aber Herr Kollege Erler, Sie sollten doch unsere Publikationen mindesten mit demselben Ernst studieren, mit dem wir Ihre lesen! Tun Sie doch nicht so, als gäbe es kein CDU-Programm. Ich bin bereit, Ihnen die ganzen Sachen zuzustellen. ({10}) Ich möchte ein Wort zu den Befürchtungen sagen, die sowohl der Kollege Erler als auch der Kollege Brandt geäußert haben, hinsichtlich der Tarifvertragshoheit und der Zusammenarbeit der Sozialpartner. Sie haben beide hier sehr harte Befürchtungen geäußert und, wie ich glaube, doch die Vorstellung der Bundesregierung, soweit ich sie richtig zu beurteilen vermag, falsch wiedergegeben. Ich darf Ihnen sagen, daß der § 1 des Tarifvertragsgesetzes auch für uns eine unverrückbare und unabänderliche Grundlage der Politik ist. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Idee der sozialen Partnerschaft aus unserem christlich-sozialen Denken geboren ist und nicht aus irgendwelchen Rudimenten klassenkämpferischer Haltung. Ich darf zum dritten ausdrücklich bestätigen, was der Herr Kollege Erler gesagt hat: Zu einer freiheitlichen Ordnung gehören nicht nur freie Preise - dazu gehören auch freie Löhne. Aber hier ist eine Versachlichung im Interesse des Gemeinwohls notwendig. Nun, das sehen wir alle, und so scheint mir die Regierungserklärung in diesem Punkt nur ein Problem anzusprechen, das wir alle miteinander sehen. Ich möchte mich einigen anderen Fragen zuwenden, die vor allem der Kollege Brandt heute morgen angesprochen hat. Auch der Kollege Erler hat sich länger dazu geäußert. Es ist vom freiheitlichen sozialen Rechtsstaat gesprochen worden. Ich möchte Sie sehr herzlich einladen, diesen Begriff doch als die gemeinsame Heimat für alle hier im Hause vertretenen Parteien gelten zu lassen und nicht demjenigen, der den sozialen Rechtsstaat sozial, aber nicht sozialistisch ausgestaltet, etwa vorzuwerfen, daß er mit diesem Begriff leichtfertig umgehe. ({11}) Ich bitte, hier nicht diese Debatte so zu führen; denn das wäre praktisch der Vorwurf einer verfassungswidrigen Politik. Hier ist ein bißchen unsere soziale Gesinnung angezweifelt worden. Nun, ich will Ihnen nicht die Zahlen über das vorlegen, was geschehen ist. Aber mir scheint doch manchmal, daß wir, ich möchte sagen, über dem Hügel von Problemen, die wir noch vor uns haben, den Berg der Probleme vergessen, den wir trefflich abgetragen haben, den Berg der Probleme, die wir gelöst haben. ({12}) Bevor Sie uns in irgendeiner sozialen Frage Vorwürfe machen, nennen Sie mir bitte den Staat der Welt und die Politik in der Welt, die in diesen 12 Jahren - ausgehend von einer Lage wie bei uns 1949 - Vergleichbares erreicht hätte. ({13}) Ein Wort zum Notstandsgesetz. Ich will mich hier sehr vorsichtig ausdrücken, weil ja der neue Herr Innenminister Verhandlungen angekündigt hat, über die Sie sich freuen, wie ich Ihren Äußerungen entnommen habe. Aber wenn hier schon der Kollege Brandt und auch der Kollege Erler so positiv zum Notstandsgesetz sprechen, dann erlauben Sie mir, in diesem Gemeinsamkeitsbemühen, das wir heute entfachen, Auch einmal eine Bitte an Sie zu richten. Sicher haben Sie genauso wie wir studiert, was einzelne dem DBG angehörende Gewerkschaften zu dieser Frage beschlossen haben. Sie haben sicher in diesen Beschlüssen gelesen, daß man für den Fall, daß ein Notstandsgesetz verabschiedet würde, den Gedanken des Generalstreiks erwägen müßte. Das sind zum Teil doch Gewerkschaften, die sich in ihren eigenen Satzungen das Recht haben geben lassen, auch den politischen Streik auszurufen, ohne vorher ihre Mitglieder zu fragen. Ich will in der Frage nicht insistieren, sondern nur eine herzliche Bitte an Sie richten: Machen Sie Ihren Einfluß auf diesem Gebiet geltend, damit wir wirklich zu einer Notstandsgesetzgebung kommen, wie sie unser Volk braucht! Denn alles das, was hier über Allparteienregierung und Notlage unseres Volkes gesagt wird, kann dabei durch praktische Taten vorzüglich glaubhaft gemacht werden. ({14}) Ich muß leider noch etwas anderes zurückweisen. Die Kollegen Brandt und Erler haben ein Problem etwas vorsichtiger angesprochen, als es die Kollegen Wehner und Ollenhauer in der Vordebatte getan haben. Der Kollege Wehner hat es für richtig gehalten, die Koalition einen „geleimten Bürgerblock" zu nennen. ({15}) - Ich stütze mich auf den „Vorwärts". ({16}) Herr Kollege Ollenhauer nannte sie eine „Besitzbürgerkoalition". Sonst wird in Ihrer Presse vom „sozialen Rückschritt" gesprochen. Ich hätte das nicht angesprochen, wenn nicht der Kollege von Brentano heute in der Debatte an Sie die Frage gerichtet hätte, ob Sie etwa unser soziales Gewissen bezweifeln wollten, und wenn es da nicht aus Ihren Bänken geklungen hätte: Ja! Deshalb muß ich hierzu noch ein paar Worte sagen. Meine Damen, meine Herren, Sie glauben, es gebe eine Gefahr des sozialen Rückschritts. Ich bedanke mich zunächst für diese Formulierung. Denn dann haben wir also bisher einen auch von Ihnen bestätigten, festgestellten Fortschritt gehabt. Ist eigentlich eine Koalition, die wir mit den Freien Demokraten eingehen, automatisch etwas so Scheußliches, wie Sie es bezeichnen? Ist das etwas anderes, als wenn Sie in Hamburg oder in Bremen oder in Niedersachsen oder auch in Düsseldorf solche Koalitionen eingehen? Das sollte man doch nicht tun. Dieses böse Wort vom „Bürgerblock", ({17}) dieses böse Wort vom „geleimten Bürgerblock" von Herbert Wehner und von der „Besitzbürgerkoalition" von Erich Ollenhauer ({18}) kann ich allerdings verstehen; denn es ist geboren aus dem Ärger über die nun vierte verlorene Wahl. ({19}) - Herr Kollege Erler, wir wollen doch nicht anfangen, hier zu erzählen. Soll ich Ihnen die Zitate des Herrn Brandt vorlesen, in denen er sagt, es sei nicht das Ziel der Sozialdemokratischen Partei, in dieser Wahl Stimmen oder Mandate zu gewinnen, sondern es sei das Ziel, die absolute Mehrheit zu erobern? Ich habe Ihre Dürkheimer Rede bei den Akten. Soll ich Ihre Rede vom 28. April verlesen, Herr Kollege Brandt? Da haben Sie doch das alles gesagt! Daß aber dieses böse Wort von einer politischen Partei gesprochen wird, die sich nach ihren Äußerungen nun anschickt, auch Volkspartei zu werden, also, wenn es recht verstanden ist, doch wohl Partei auch der Bürger, das kann ich allerdings nicht verstehen. ({20}) - Ich bin froh, daß Sie diesen Einwand bringen; denn jetzt sind wir endlich dabei, zu erkennen, daß diese Bürger-Terminologie, die von Ollenhauer und Wehner geprägt ist, aus klassenkämpferischem Denken kommt. ({21})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Herr Abgeordneter Dr. Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte!

Fritz Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Barzel, ist Ihnen bekannt, daß Herbert Wehner und Erich Ollenhauer sich ausdrücklich gegen diese aus der Mottenkiste des Deutschen Industrieinstituts herausgeholte Terminologie gewandt haben? Daher kommt es nämlich.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber Herr Kollege Erler, es ist doch einfach nicht wahr. In zwei Leitartikeln im „Vorwärts" hat der Kollege Wehner nicht zitiert, sondern dieses Wort uns vorgeworfen. Er hat nicht gesagt, er zitiere etwas. Ich möchte an diesem Punkt die Debatte aber nicht verschärfen. ({0}) - Aber meine Damen, meine Herren, ich habe mich doch für meine Verhältnisse bisher sehr sanft benommen. Ich habe - wie Sie sehen - für die vierte Periode gute Vorsätze gefaßt. Lassen Sie mich doch dabei! - Herr Brandt geht schon hinaus. Das ist auch ein Beitrag zum Stil. Ein Wort zur Gemeinsamkeit! Ich möchte Sie sehr herzlich bitten, das in Ruhe sagen zu dürfen, damit wir hier nicht hitzig werden. Der Kollege Brandt hat davon sehr oft und sehr stark gesprochen. Das deckt sich durchaus mit unseren Vorstellungen, die sowohl die Bundesregierung in ihrer Erklärung wie der erste Sprecher unserer Fraktion hier vorgetragen haben. Ich möchte mich besonders bei dem Kollegen Erler für sein Wort von der praktischen Tat der Gemeinsamkeit bedanken, mit dem er all denen eine Absage gab, die es künftig noch wagen, irgendeinen von uns einen Revanchisten zu nennen. Vielen Dank! Das war ein wesentlicher Beitrag zu dieser gemeinsamen Politik in den großen Fragen. Die Bundesregierung hat sich erfreulicherweise genau wie wir zu einer Kooperation mit der Opposition bekannt, und sie hat bekundet, daß sie in den Lebensfragen zur Gemeinsamkeit aller kommen möchte. Wir bitten die Bundesregierung, das wirklich zu tun. Sie braucht sich dabei nicht an den schlechten Beispielen zu orientieren, wie sie etwa gelegentlich in der Zusammenarbeit zwischen dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin und seinem dortigen Koalitionspartner praktiziert werden. ({1}) Meine Damen, meine Herren, wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Wir sind zu einer Kooperation aller im Parlament bereit. Ich möchte allerdings dies sagen: Ich glaube, daß am Beginn gemeinsamer Politik das Ja zum Wehrhaushalt stehen muß, das der Kollege Mende so betont hat; auch das Ja zur Wehrpflicht, das der Kollege Erler, wenn ich ihn richtig verstanden habe, heute gesprochen hat. Es waren dann noch einige Fragen, über die man wahrscheinlich sprechen muß; hoffentlich war das kein verklausuliertes Nein. Meine Damen und Herren, es ist heute von den beiden Herren, mit denen ich mich zu befassen habe, sehr oft und sehr nachhaltig und zum Teil sehr schön und sehr ernst über die Notwendigkeit gesprochen worden, die Verfassung zu achten. Es ist vom Grundgesetz, von der Demokratie, und es ist besonders vom „Stil" gesprochen worden. Nun, lassen Sie mich hierzu eines sagen. Ich will mich auf einen Punkt beschränken; aber erlauben Sie mir gütigerweise, Ihnen den vorzutragen, sehr viel zarter vorzutragen, als Sie heute morgen etwa den Herrn Bundeskanzler angepackt haben. Nach herrschender Staatsrechtslehre sind die Am-ter des Bundestagsabgeordneten und des Mitglieds einer Landesregierung unvereinbar, wenn der betreffende Abgeordnete zugleich Mitglied des Bundesrates ist. Das gilt insbesondere, wenn dieser Abgeordnete in seinem Lande als Regierungschef das Recht zur Bestimmung der Richtlinien der Landespolitik hat. Ich will diese Rechtsfrage hier nicht vertiefen, ich will auch nicht etwa eine Verfassungsklage androhen; aber ich meine, daß im Interesse unseres freiheitlichen Rechtsstaates davon gesprochen werden muß. Denn wenn diese Inkompatibilität verletzt wird, dann wird nicht nur Recht beeinträchtigt, sondern dann wird der demokratische Stil wesentlich beschädigt; ({2}) und ich meine, daß die Demokratie zu ihrer Existenz nicht nur der formellen Rechtlichkeit, sondern auch des Stils und des geistigen Gehalts bedarf, der im Stil der Handelnden Ausdruck finden muß. Deshalb möchte ich hier ein ganz offenes Wort an den Kollegen Brandt richten, ein Wort, meine Damen und Herren, das ich mir nicht etwa als persönliches Wort anzukreiden, sondern wirklich aus diesem sachlichen Zusammenhang zu werten bitte. Zu seiner Rede kam der Kollege Brandt von dort, von seinem Sitz als Abgeordneter. Herr Kollege Brandt hätte ebenso von dort, von seinem Sitz als Mitglied des Bundesrates, kommen können. Und weil ihm nun die Wähler den Weg nach dort, dem Sitz des Bundeskanzlers, nicht freigegeben haben, wollen Sie, wie man hört, Herr Kollege Brandt, auf die Mitarbeit in diesem Hause verzichten. Das nenne ich nicht einen Beitrag für einen neuen Stil und auch nicht einen Beitrag für die Achtung der Institutionen. ({3})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Herr Abgeordneter Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Barzel, erinnern Sie sich daran, daß der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg noch über ein Jahr lang diesem. Hause angehört hat? ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verzeihen Sie gütigerweise; meine Erinnerung reicht nicht so weit. ({0}) - Eine Sekunde! Wenn ich mich recht erinnere, hat der Kollege Dr. Reinhold Maier - ich bitte mir auf die Sprünge zu helfen - sein Ministerpräsidentenmandat niedergelegt und das Amt hier im Hause bevorzugt. ({1}) Aber ich meine, Herr Kollege Jahn, allein dies zeigt, .daß wir auf ein Problem hinweisen. ({2}) - Aber, meine Damen und Herren, man wird doch von einer solchen Stilfrage hier in Ruhe sprechen können! Sie haben ja auch über unseren angeblich mangelnden Stil gesprochen; da lassen Sie mich das doch in Ruhe vortragen! - Ich glaube, es ist kein guter Stil, hier auszuscheiden, „weil nicht alle Blütenträume reiften". Meine Damen und meine Herren, es gibt auch ein Ansehen des Parlaments und ein Ansehen der Kleinarbeit der Mitglieder dieses Hauses, und ich bitte Sie, sich zu überlegen, ob diese Schritte dem gedient haben. Meine Damen und Herren, ich möchte auch wenige Worte an den Kollegen Mende und an den Kollegen Döring richten. Ich glaube, daß diese Debatte ein guter Anfang war; ,die Beiträge unserer Koalitionsfreunde waren durchaus koalitionsfreundlich; ich möchte mich dafür sehr herzlich bedanken. ({3}) Herr Kollege Mende, Sie kennen mich - wir haben zusammen studiert -; Sie werden erwarten, daß ich da noch etwas dahinter habe. Sie haben im zweiten Teil Ihrer Rede zahlreiche innenpolitische Probleme angesprochen. Ich bin gespannt auf die - darf ich das ganz schlicht und freundschaftlich sagen - Deckungsvorschläge. Wir werden die Deckung sicherlich nicht durch Steuersenkungen bekommen können. Nun aber ein Wort, Herr Kollege Mende, weil Sie von der „Schlüsselposition" der Freien Demokraten in diesem Hause gesprochen haben. Ich will das sehr nüchtern und ernst tun, weil es, glaube ich, wirklich ein Problem ist, das uns alle miteinander angeht. Sie sind die einzigen - so, glaube ich, muß man objektiv zugeben -, die ihr Wahlziel wirklich erreicht haben. Allerdings war es weniger weit gesteckt als das der beiden anderen Parteien. Wir sagten: Die absolute Mehrheit sichert die Stabilität der staatlichen Ordnung und die Kontinuität der Politik. Sie sagten, wenn ich Sie recht verstanden habe: Es ist besser, die Mehrheit zu brechen und eine Partnerschaft mit uns zu begründen. Der Wähler hat nun entschieden, und er hat Ihnen, wie ich glaube, mit dem Recht zugleich die Pflicht übertragen, zweierlei zu tun. Erstens: Darzutun, daß auch eine Koalition und ein Dreiparteiensystem Stabilität und Kontinuität sichern können. Zweitens: Die Wähler haben Sie verpflichtet, nun gemeinsam mit uns für vier Jahre Verantwortung zu tragen. Ich bedanke mich, daß Sie beiden Punkten durch Kopfnicken zustimmen, und ich will deshalb darauf verzichten, noch auf andere Dinge einzugehen. Aber erlauben Sie mir ein Wort zu der partnerschaftlichen Formulierung, die Sie auch heute wieder in Ihrem Debattenbeitrag vorgetragen haben. Vermuten Sie bitte keinen Hintergedanken, wenn ich Ihnen sage, daß ich eine bessere Formulierung dessen, was Partnerschaft ist, nicht kenne als die, die der verstorbene Ministerpräsident Karl Arnold einmal gegeben hat. Arnold sagte: „Partnerschaft bedeutet keine Gleichschaltung und keine Verwischung der Verschiedenartigkeit. In der Bezeichnung Partner liegt auch eine Anerkennung der Unterschiedlichkeit." Ich denke, daß wir auch insoweit übereinstimmen, und es ist gut für die Öffentlichkeit, wenn das sichtbar wird. Und nun erlauben Sie mir noch - ich hoffe, daß Sie mir nicht verübeln werden, wenn ich mich auch unter Ihren Ahnherren umgesehen habe -, mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten ein Wort aus einer Schrift von Friedrich Naumann zu zitieren, einer Schrift aus dem Jahre 1900 mit der Überschrift „Demokratie und Kaisertum". Friedrich Naumann schreibt dort: Bei allen Wahlakten und Abstimmungen entscheidet die Majorität. Damit aber die Majorität regieren kann, muß erst eine Majorität vorhanden sein, und zwar nicht eine Majorität für in einzelnes Gesetz oder eine einzelne Handlung. Regieren besteht bekanntlich in zusammenhängendem Handeln auf verschiedenartigen Gebieten, im Ausführen größerer Gedankengänge. Eine Majorität, die nur auf ein oder zwei Leitsätzen aufgebaut ist, wird stets in Gefahr ein, an der Vielartigkeit der politischen Probleme zu zerschellen. Man erinnert sich, wie der Liberalismus am preußischen Militärproblem zerbrochen ist. - So weit Friedrich Naumann. Die Stelle, Herr Kollege Mende, geht weiter, aber was dann kommt, gebe ich Ihnen lieber privat. ({4}) - Sie kennen es. Dann wissen Sie, daß jetzt die Sätze von Friedrich Naumann darüber kommen, warum nur das Zweiparteiensystem eine stabile Ordnung herstelle. Aber ich wollte sie nicht zitieren. ({5}) - Ausgezeichnet. Ich freue mich, daß wir aus unserer gemeinsamen Studienzeit den Friedrich Naumann nicht vergessen haben. Die Fraktion der CDU/CSU steht loyal zu dieser Koalition. Da aber nun unterschiedliche Fraktionen hier mit unterschiedlichen Programmen und Auffassungen zusammenarbeiten, können auch wir nicht darauf verzichten, einige eigene Akzente zu setzen. Ich glaube, daß unser Fraktionsvorsitzender Heinrich von Brentano heute morgen dazu schon Wichtiges gesagt hat. Darf ich daran noch einige Ergänzungen knüpfen. Ich begrüße es, daß die Bundesregierung den Mut fand, von Opfern für Freiheit, Sicherheit und Einheit zu sprechen. Es ist klar - und hier besteht keine Unterschiedlichkeit unter uns, wie die Rede von Heinrich von Brentano klargemacht hat -, daß alle diese Opfer gerecht verteilt werden müssen. Es ist aber ebenso unerläßlich, daß diese Opfer unserem Volk sinnvoll erscheinen müssen und verständlich gemacht werden müssen. Die Bundesregierung muß - und das ist eine herzliche Bitte - gerade in dieser Situation im ständigen Kontakt mit dem Volk sein. Dem Volk muß offen gesagt werden, was ist, warum dieses oder jenes gefordert werden muß. Ich glaube, der Gebende muß heute innerlich davon überzeugt sein, daß das Geforderte notwendig ist, daß sinnvoll von ihm gefordert wird. Dies list deshalb nicht die Zeit für Versprechungen. Wir werden, meine Damen, meine Herren, auf manches verzichten müssen, weil Freiheit und Sicherheit bedroht sind. Mir scheint aber, daß das Geld, das wir hierfür aufwenden, gut angelegt ist. Lassen Sie mich zur allgemeinen Innenpolitik noch ein Wort sagen, das, glaube ich, auch ein Wort von Gemeinsamkeit hier unter uns sein könnte, ein Wort von Gemeinsamkeit hinweg über alle Unterschiede zwischen christlich-sozial und neoliberal und neosozialistisch, Unterschiede, die sicherlich sehr beachtlich sind und im Detail sehr deutlich werden. Mir scheint es nötig, von gewissen Tendenzen zu sprechen, die uns alle gemeinsam angehen, nämlich von neo-feudalistischen Tendenzen und Erscheinungen in unserer Gesellschaft. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich bin ein Feind der Uniformität, der Gleichmacherei und der Nivellierung. Ich huldige auch nicht der Ansicht, daß Macht alles das sei, was mißbraucht werden könnte. Ich bin aber zugleich dagegen, daß sich innerhalb unseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates neue Fürstentümer entwickeln, - Fürstentümer, mit der Tendenz, zu Kurfürstentümern zu werden. Solche Fürstentümer gründen sich nicht nur auf Geld, sie gründen sich auch auf Verbände, auch auf Konzentrationen jedweder Art. Darüber wird noch zu sprechen sein. Wir begrüßen auch unter diesem Gesichtspunkt die Erklärung der Bundesregierung über das Parteiengesetz, über Kartell- und Aktienrecht, über den Fortgang der Eigentumspolitik, über die Strukturpolitik, über die Reform der Umsatzsteuer, über die Mittelstandspolitik und so fort. Wir hoffen, daß wir recht bald Vorlagen zu diesen wirklich wichtigen gesellschaftspolitischen Problemen bekommen, die der Lösung dienlich sind. Wir werden uns in den Antworten wahrscheinlich unterscheiden. Ich möchte aber doch schon jetzt unsere Kollegen von der Opposition herzlich einladen, niemals so zu tun - ich weiß nicht, ob es hier geschehen ist; aber ich sage es für die künftigen Debatten -, als sei dieses Problem, das ich nur ganz flüchtig ansprechen kann, ein Problem, das auf unser Land beschränkt sei, oder etwa ein Problem, das sich in sozialistisch regierten Ländern nicht stelle. Ich glaube, daß Sie sehr wohl wissen, was in dem Programm der schwedischen Sozialisten zu diesen Fragen ausgeführt ist. Die schwedischen Sozialisten regieren nun seit 30 Jahren und haben I nach 30 Jahren in ihrem Programm vom vorigen Jahr die „Konzentration wirtschaftlicher Macht" beklagt und - ich darf mit Genehmigung des Präsidenten einen Satz zitieren - festgestellt: Die große Masse .der Arbeitnehmer ist von Beschlüssen abhängig, die von einer Minderheit gefaßt werden, die nur an ihr eigenes Interesse denkt. Ich sage das nicht, um jetzt zu polemisieren und etwa die Frage zu stellen: „Ich denke, der Sozialismus löst das auf?", nein, um darzutun, daß dies ein Problem ist, das uns wirklich alle miteinander angeht. Wir sollten deshalb aus dieser Sache ein bißchen von den Schärfen herausnehmen, die auch heute in einigen Reden aufgetreten sind. Ich habe mit großer Freude - und ich glaube, daß es einem großen Teil meiner Kollegen so ergangen ist - die Ausführungen über die Wirtschaftspolitik gehört, weil sie wirklich den Geist der sozialen Marktwirtschaft atmen, also einer Politik, die der Würde des Menschen, der Entfaltung der Familie und der Wohlfahrt des Volkes dient. Es hat sich also - ich sage das ganz offen, weil das einige befürchtet hatten - nicht jene These durchgesetzt, die ein Mitglied der Fraktion der FDP einmal außerhalb des Hauses so formuliert hatte: „Unheilvoll waren und sind die unter falschem Namen - etwa der sozialen Gerechtigkeit - erfolgenden Eingriffe in die Wirtschaft." Ich freue mich, daß wir bei der sozialen Marktwirtschaft geblieben sind. Über die Fragen der Agrarpolitik, die heute in der Debatte eine Rolle spielten, wird sicherlich noch ausführlich gesprochen werden. Ich möchte uns alle nur einladen, wenn wir immer von Erfahrungen unserer Generation sprechen, die Erfahrung des Hungers nicht auszuschließen und daraus gewisse Folgerungen für die Pflege der heimischen Produktion zu ziehen. Wir begrüßen deshalb, daß sich die Bundesregierung gerade in dieser Etappe erneut zu den Zielen des Landwirtschaftsgesetzes bekannt hat. Denn Disparität als Dauerzustand wäre weder volkswirtschaftlich vernünftig noch ein Beitrag zu einer Sozialordnung, die allen als lebenswert, auch als verteidigenswert erscheint. Einen Satz möchte ich einem Punkte widmen, der, wie ich glaube, in der Regierungserklärung zu vermissen ist. Ich möchte daran erinnern, daß uns das Problem der Einschränkung der Sonntagsarbeit von der Verfassung auf die Tagesordnung gesetzt ist. Das ist ein Befehl des Grundgesetzes, nicht etwa ein Leitsatz, dessen Befolgung zur Disposition unserer Meinungen gestellt wäre. Im Zusammenhang hiermit und insbesondere im Hinblick auf den Schlußteil der Rede des Herrn Kollegen Erler möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß man sich in all den anderen Parteien offensichtlich darum bemüht, ein besseres Verhältnis zu den Kirchen und zur Christlichkeit zu bekommen. Ich glaube, daß wir sehr bald Gelegenheit finden werden, das glaubhaft zu machen, wenn wir hier über Ehe und Familie und auch über das Strafrecht sprechen, oder auch dann, wenn es darum geht, die Gesetzgebung über Jugendschutz, Jugendhilfe und Sozialhilfe erneut zur Debatte zu stellen. Dem Herrn Familienminister möchte ich einen sehr herzlichen Glückwunsch sagen. Wenn ich sehe, wie nun von allen Parteien familienfreundliche Programme und Erklärungen vorgelegt werden, dann freue ich mich über den Wettbewerb, der hier im Hause über die besten Ideen dazu eintreten wird, und auch darüber, daß wir die entsprechenden Vorlagen mit breiter Mehrheit werden verabschieden können. ({6}) Der Herr Kollege von Brentano hat über die Jugend gesprochen. Lassen Sie mich ein Wort zur Familie sagen. Ich möchte anregen, daß wir Studien anfertigen, und zwar nicht zuletzt über die gesamte Stellung der Familie in der Rechts- und Sozialordnung; da gibt es wirklich noch ein paar verstaubte individualistische Zöpfe. Ich denke ferner an eine Studie über die Erwerbstätigkeit der Mütter und der Landfrauen; an eine Studie über die Lage der alten Menschen und auch über die Lage der kinderreichen Familien. Unsere Familienpolitik muß - wie bisher - sichtbar werden beim Wohnungsbau, bei der Reform der Kranken- und Unfallversicherung, auch bei der Eigentumsbildung. Mir scheint, daß stärker als bisher sichtbar werden muß, daß unsere Politik, die wir für den Mittelstand, für die Landwirtschaft, für die Eigentumsbildung betreiben, nicht allein aus materiellen Erkenntnissen lebt, sondern doch vor allem aus der Sorge um die Funktion und die Erhaltung der Familie und des Familienbetriebes. So wie es eine Frage unserer Menschlichkeit ist, wie wir für die Jugend und für die Alten sorgen, so scheint es mir auch eine Frage unserer Grundüberzeugung zu sein, ob wir es zulassen wollen, daß mitten im Wohlstand oftmals allein die Mütter die Zechen für diesen zu zahlen haben. Ich weiß, daß für viele dieser Fragen, die ich andeute, der Bund nicht direkt zuständig ist. Ich denke hier auch an die Ausbildung der Jugend, an die Lage der Krankenhäuser und an die Situation der sozialen Berufe. Wir sind nicht überall zuständig. Aber wer eigentlich will uns hindern, Studien hier vorzulegen und das öffentliche Bewußtsein weiter zu mobilisieren? ({7}) Es stünde uns schlecht an, wenn inmitten verbreiterter und verbesserter Wohlfahrt alle die Bereiche notleidend würden, die sei je mehr aus dem Ideellen und aus dem Opfer gestaltet werden als aus dem materiellen Vorteil. Alles das sind Fragen der rechten Wertordnung, aber auch Fragen unserer Selbstachtung. Deshalb stelle ich mit Genugtuung fest, daß die Koalition in diesen für uns sehr wichtigen Sätzen einig ist. Ich zitiere: Die Grundwerte des Grundgesetzes sind die Basis der Koalition. Die Herstellung einer gerechten Sozialordnung sowie die Förderung des Mittelstandes und der Landwirtschaft sind kon114 krete Ziele der Politik der Koalition. Die Koalition erstrebt eine Struktur der Gesellschaft, die der menschlichen Person Freiheit und Entfaltung, der Familie den ihr zukommenden Rang, dem -breiter gestreuten Privateigentum seine ordnende Funktion, allen Schichten Gerechtigkeit und Freiheit von Not gewährt. Das will die Koalition. Ich meine, die Unkereien über die sozial- und gesellschaftspolitische Haltung dieser Koalition werden nach vier Jahren eher peinlich sein. Wir werden unsere Politik der Freiheit fortsetzen. Sie beginnt beim Menschen, bei der Familie und steigt dann auf über die Gesellschaft zum Staat. Ich erinnere an die Debatte, die wir mit Herrn Kollegen Arndt über diese Frage hatten. Der östlichen Bedrohung unserer °Freiheit werden wir nicht mit dem Abbau von Freiheit bei uns begegnen, sondern mit Ausbau und Pflege der Freiheit, der Rechtlichkeit und der Redlichkeit in unserem Staat. Wer aber die in unserem Grundgesetz gesetzte Grenze der Freiheit überschreitet, muß mit der ganzen Kraft der Verfassung zur Ordnung gezwungen weden. Damit der Rechtsstaat in der Stunde der Not nicht untergehe, brauchen wir um des Rechtsstaates willen bald ein Notstandsgesetz. Meine Damen! Meine Herren! Zur Freiheit gehört auch die Freiheit für die kirchlichen, für die geistigen, für die weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte. Eine solche Politik der Freiheit stärkt unsere moralische und geistige Überlegenheit gegenüber dem Kommunismus. Wir glauben daran, daß Gott den Menschen auf Freiheit angelegt hat. Darum glauben wir auch, daß nicht der Kommunismus, der auf Zwang gegründet ist, sondern der Westen, der aus der Kraft der Freiheit lebt, überlegen ist und bleiben wird. ({8}) Unsere Außen- und unsere Innenpolitik haben in der Freiheit wie in der Würde der menschlichen Person und dem Vorrang der Familie eine gemeinsame Wurzel. Militärische Sicherung der äußeren Freiheit, soziale Sicherheit für jedermann, soziale Marktwirtschaft, Verstärkung der personalen Verantwortung unserer inneren Ordnung, - alles das lebt aus einem Geist, ist eine Politik in verschiedenen Bereichen. Über die Fortsetzung der sozialen Marktwirtschaft wird noch gesprochen werden. Sie ist Freiheit in Ordnung, und ich glaube, daß der gesellschaftspolitische Akzent dieser Politik noch stärker hervortreten wird. Einer der Kollegen der Sozialdemokratischen Partei hat bemängelt, daß wir zur Sozialreform nichts gesagt haben. Nun, einer meiner Freunde hat bereits gesagt, daß Selbstverständlichkeiten nicht mehr festgestellt werden. Also dann noch einmal: Wir werden unsere Politik der Sozialreform fortsetzen. Wir sind ein wenig stolz darauf, daß es uns gelungen ist, die Proletarität in diesem Lande zu beseitigen, und ich glaube, daß auch dadurch die Abkehr der Deutschen vom Marxismus in allen Bereichen verstärkt worden ist. Sozialreform ist für uns nicht nur Revision der Reichsversicherungsordnung. Sozialreform ist für uns eine Politik, gerichtet auf die Struktur und das Ganze der Gesellschaft. Dazu gehört, um auch das noch einmal klarzustellen, auch der deutsche Arbeiter. Darum sind alle unsere verschiedenen Politiken, wenn ich so sagen darf, ob es nun um Eigentum oder Familie oder Landwirtschaft oder Mittelstand geht, doch gespeist aus einem Geist; sind, wie ich sagte, eine Politik in verschiedenen Bereichen. Ich meine auch - und deshalb beklage ich sehr die Absage, die der Kollege Brandt an die Politik der sozialen Privatisierung gegeben hat -, daß wir diese Politik des „Eigentums für jeden" fortsetzen müssen; denn wie sonst wollen wir der kommunistischen Parole „Enteignung aller" eigentlich begegnen? ({9}) Herr Kollege Erler, wir werden unsere Politik auch künftig aus letzter Verantwortung gestalten. Sie wissen, daß ein Streit zwischen uns besteht, ein Streit, den wir hier einmal ausgetragen haben darüber, ob Politik eine Sache der vorletzten, wie der Kollege Arndt ausführte, oder eine Sache der letzten Verantwortung sei, wie wir ausgeführt haben. Ich meine, wenn wir darin einig wären, wären wir auch ein Stück weiter in der Frage, die Sie am Schluß angedeutet haben. Den vielfältigen Gefahren und Gefährdungen dieser Zeit wollen wir - wenigstens ist das unser Vorsatz - begegnen, nicht durch die Flucht in Äußerlichkeit und Nebel und Quantität und Unverbindlichkeit, sondern durch Besinnung auf das Wesentliche, durch - wenn ich so sagen darf - Kraft aus der Qualität und durch Bindung der Freiheit an ewige Normen. Aus diesem Geist stehen wir hier in Verantwortung, aus eben diesem Geist stehen wir auch zu Berlin, stehen wir auch zur Zone. Meine Damen, meine Herren, hierzu wird Kollege Gradl sprechen. Darf ich ihm die Überleitung geben: ich glaube, das Recht ist auf unserer Seite. Mir scheint, wenn gelebte Freiheit, wenn eine gute Sozialordnung und wenn eine im Letzten begründete Verantwortung dazukommen, werden wir überlegen bleiben, dann wird am Ende das Recht, dann wird am Ende nicht der Kommunismus siegen. Und das ist das Thema, mit dem wir uns gemeinsam in den nächsten vier Jahren zu beschäftigen haben. ({10})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Atzenroth.

Dr. Karl Atzenroth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Freien Demokraten war ein entscheidender Grund für den Eintritt in diese Koalition auch die Erwartung, daß wir unsere liberale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik innerhalb einer Koalition in stärkerem Maße durchsetzen können, als das in den vergangenen Jahren möglich gewesen ist. Das war umgekehrt auch der Grund weshalb wir uns einer Koalition mit der Sozial demokratischen Partei versagt haben; denn dort hätten wir diese Erwartung nicht hegen können. Wir haben in den Jahren der Opposition unsere Meinung vertreten, Anträge stellen können. Aber wir sind doch nur sehr selten zum Zuge gekommen. Wir erwarten von unserem neuen Koalitionspartner, daß er uns, ebenso wie wir auf manche unserer Forderungen schließlich verzichten müssen, an einer Reihe von Stellen behilflich sein wird, unsere Forderungen, die im wesentlichen die gleichen sind, die wir seit zwölf Jahren hier im Bundestag vertreten, zu erfüllen. Dabei wollen wir uns als ein loyaler Koalitionspartner erweisen. Wir wollen aus dieser Koalition nicht einseitig Rechte beziehen, sondern wir sind bereit, auch die Pflichten zu erfüllen, die Sie von uns erwarten, so wie wir sie von Ihnen erwarten. Wir wollen in diesen vier Jahren - ich wiederhole es - ein loyaler Koalitionspartner sein und zu einer echten Partnerschaft kommen. Herr Barzel, wie Sie für Ihre Fraktion eigene Akzente gesetzt haben, so will auch ich das auf dem beschränkten Gebiet zu tun versuchen, zu dem ich hier für unsere Fraktion spreche. Wir Freien Demokraten haben es nicht nötig, das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft zu erneuern. Wir haben sie mit Intensität und konsequent seit dem Wirtschaftsrat verfochten. Allein konnten wir nicht immer durchdringen. Aber wir haben sie immer so vertreten und werden sie auch in der Folgezeit in der gleichen Weise vertreten. Wir erwarten, daß auch unser Partner bei diesem System nicht nur verbleibt, sondern es zu verstärken hilft. Eine zustimmende Erklärung zur sozialen Marktwirtschaft hat ja sogar auch die Oppositionspartei gegeben, allerdings nur einmal in Godesberg. In der heutigen Rede des Kollegen Brandt habe ich einen Hinweis auf das Wort „Marktwirtschaft" jedenfalls vermißt. Für uns war immer der freie Wettbewerb die Grundlage des Wirtschaftsystems, bei dem das Können, das Wissen und auch der Wagemut des einzelnen die Voraussetzung des Handelns bilden. Herr Kollege Erler, das mag man Kapitalismus nennen. Und da zeigt sich schon, Herr Kollege Erler - ich finde leider seine Aufmerksamkeit nicht; und die Worte sollen sich gerade an ihn richten -, die Verschiedenheit in den Begriffen. Mit dem Wort allein kann man nichts anfangen. Wenn Herr Chruschtschow von Kapitalismus spricht, dann meint er die freie Welt, zu der Sie sich doch sicherlich auch zählen und wir uns auch zählen. ({0}) - Herr Kollege Wehner, Sie brauchen nicht anzunehmen, daß ich damit irgendwelche Bedenken zum Ausdruck bringen wollte. ({1}) Ich bin völlig ehrlich davon überzeugt - ich gebe Ihnen diese Ehrenerklärung durchaus freiwillig -, daß sie, die Sozialdemokraten, voll und ganz zur freien Welt gehören und daß Sie in Ihrem Kampf gegen den Kommunismus nicht hinter uns zurückstehen. Es war also nichts hinter meinen Worten zu suchen. Aber wenn Herr Chruschtschow von Sozialismus spricht, dann meint er ja nicht das, was wir unter Sozialismus verstehen, etwa eine sozialdemokratische Partei, sondern dann meint er den Kommunismus. Insoweit, Herr Erler, ist wohl auch das Mißverständnis gegenüber den Worten meines Freundes Mende zu verstehen, Mit 'diesen Worten kann man trefflich spielen; aber es muß erst ein Sinn dahinter gefunden werden. Bei aller Anerkennung unseres Wirtschaftssystems sind wir allerdings nicht der Meinung, daß in der vergangenen Zeit alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Deshalb muß es unser Ziel sein, nicht auf diesem einmal eingeschlagenen Wege stehenzubleiben, sondern die Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. Große Bereiche unseres Wirtschaftslebens stehen außerhalb dieses Systems. Es muß endlich gelingen, auch hier einen Einbruch zu erzielen. Die Zeit ist reif. Die Gegner eines solchen Wirtschaftssystems warnen immer wieder; es sei noch zu früh, die Wohnungswirtschaft oder den Verkehr stärker in den Wettbewerb einzuordnen. Aber das sagen sie schon seit Jahren. Hätten wir nicht im Jahre 1949 unter Führung von Ludwig Erhard den Mut gehabt, das kalte Wasser zu springen, dann könnten wir allesamt heute nicht schwimmen. Heute ist das Wasser wesentlich wärmer geworden. Wir werden deshalb unseren ganzen Einfluß für mehr Marktwirtschaft als bisher einsetzen; es muß allerdings auch gleichzeitig heißen: für weniger Staat als bisher. In der Regierungserklärung ist in dem nächsten Absatz von der Aufrechterhaltung der Stabilität unserer Währung gesprochen. Diese Forderung wird von allen Parteien unterstrichen. Einzig bezeichnend ist für mich die Tatsache, daß diese Unterstreichung in dem Wahlaufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes fehlt. Aber bei solchen Forderungen kann man sich natürlich verschiedene Vorstellungen machen. Nicht jeder, der für die Währungsstabilität eintritt, ist auch bereit, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Man kann wirklich nicht behaupten, daß unsere Währung in den letzten acht Jahren übermäßig stabil geblieben ist. Dabei braucht man nicht gleich das harte Wort Inflation zu verwenden. Aber denken wir an die Sparguthaben! Sie sind in ihrem Wert leicht verringert worden. Der Zins hat diesen Wertverlust kaum ausgleichen können. Wenn wir die Menschen in der Bundesrepublik zum Sparen ermahnen - und erfreulicherweise folgen sie dieser Mahnung in starkem Maße -, dann ist es unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Wert der Ersparnisse voll und ganz erhalten bleibt und nicht jedes Jahr kleine Prozente davon abgeknabbert werden. In erster Linie ist dafür eine Politik übermäßiger Ausgaben der öffentlichen Hand verantwortlich, die heute mehr als 40 % des Sozialprodukts für sich verbraucht. Man hat den Eindruck, daß an vielen Stellen in der Verwaltung kein ernster Sparwille besteht. Herr Erler, hier sind auch Haushalte gemeint, bei denen Sie die Forderung nach Einschrän116 kung vermissen. Wir fordern nicht allein eine Mäßigung in der Lohnentwicklung, wir sind auch bereit, Forderungen in bezug auf Ausgaben der öffentlichen Hand zu stellen, die nach unserer Meinung an vielen Stellen überhöht sind. Wir sind überzeugt, daß die auf uns zukommenden neuen Lasten auch mit wesentlich geringeren Geldaufwendungen getragen werden können, als sie zunächst angefordert werden. Wir sind bereit zu den Opfern, die uns insbesondere die Verteidigung auferlegen wird. Aber wir glauben nicht immer, daß das, was nun als Höhe des Opfers gefordert wird, auch wirklich notwendig ist. Hier muß ein Maßstab der Sparsamkeit in allerstrengstem Sinne angelegt werden. Wir dürfen auch nicht davor zurückschrecken, etwa überhöhte Ansprüche aus alter Zeit mindestens für die Zukunft auf ein angemessenes Maß zurückzuschrauben. Auch Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum um jeden Preis dürfen keine Dogmen sein, wenn sie unsere Währung bedrohen. Die Bundesregierung sucht in dem Bericht nach einem neuen Instrumentarium für ihre Konjunkturpolitik, nachdem die alten, klassischen Mittel mehr oder weniger versagt haben. Solche Hilfen wird sie bitter nötig haben; denn alle Anzeichen deuten darauf hin, daß wir mit unserem Wirtschaftswachstum demnächst in stärkere Schwierigkeiten geraten werden. An vielen Stellen zeigt sich deutlich, wie unser Wettbewerbsvorsprung gegenüber dem Ausland, gegenüber anderen Ländern schwindet. Wir produzieren von Jahr zu Jahr teurer. Wenn auch die Entwicklung der Löhne in diesen Ländern parallel mit der unseren verläuft, so steigen doch bei uns unverhältnismäßig stark die Kosten durch Arbeitszeitverringerung, Erhöhung der Lohnzuschlagkosten und ähnliche Ausgaben. Die zu treffenden Maßnahmen müssen also das Ziel haben, die Produktivität der deutschen Wirtschaft zu erhalten, möglichst aber weiter zu steigern. Diesem Ziel können steuerliche Maßnahmen dienen, die 'die Investition begünstigen, vor allem aber Maßnahmen zur Förderung unserer Produktionsintensität. Herr Erler, Sie haben gesagt, daß unsere Binnenkonjunktur davon lebt, daß der steigenden Produktion ein gleiches Maß an Kaufkraft gegenüberstehe. Völlig einverstanden! Aber unsere Sorge ist, daß das Maß an Kaufkraft dem Maß an Produktionssteigerung vorauseilt. Dann könnten Gefahren auftreten; denn es ist eindeutig, daß das Einkommen aus unselbständiger Arbeit dem Bruttosozialprodukt vorausgeeilt ist. Man wird nun einwenden, daß gleichzeitig auch der Unterschied zwischen Brutto- und Nettoeinkommen größer geworden ist, weil sowohl der Steuerfiskus als auch die Sozialversicherung einen immer größeren Anteil am Arbeitslohn für sich fordern. Aber auch die Steigerung des Nettoeinkommens liegt noch immer über der unseres Sozialprodukts. Leider kommt hinzu, daß die einbehaltenen Steuern und Sozialbeiträge nicht eine Geldstillegung darstellen, sondern ebenfalls zu einem großen Teil wieder zurück in den Konsum fließen. Hier müssen die neuen Instrumente des Wirtschaftsministers einsetzen. Hier liegt aber auch die große Aufgabe für die Sozialpartner, deren Autonomie wir als liberale Partei bejahen. Wir werden unsererseits nichts unterlassen, um sie immer wieder auf die Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit hinzuweisen. Man kann sich nicht einfach auf den Markt berufen, auf das Gesetz von Angebot und Nachfrage, da der Gesetzgeber dieses System durch seine Bestimmungen wie Kündigungsschutz, Arbeitszeitverordnung, Mindesturlaubsbestimmung und andere soziale Verpflichtungen einschränkt. Wir haben in den vergangenen Jahren versucht, dieser Mahnung stärkeres Gewicht zu verleihen, als wir eine Ergänzung des Tarifvertragsgesetzes beantragten. Diese Anträge sind in der vergangenen Legislaturperiode abgelehnt worden. Wir werden trotzdem wieder auf sie zurückkommen und hoffen, gerade hier auf besseres Verständnis unseres Koalitionspartñers zu stoßen, als das in den vergangenen Jahren der Fall gewesen ist. Wir werden der Bundesregierung darüber hinaus noch andere Vorschläge mit gleichen und ähnlichen Zielen unterbreiten. Die Bundesregierung selbst ist aber nicht davon befreit, ihrerseits dem Parlament Vorschläge darüber zu machen, wie sie der bedrohlichen konjunkturellen Entwicklung begegnen will. Die Gefahren drohen nicht nur von der ausländischen Konkurrenz. Herr Erhard wird uns auch deutlich sagen müssen, bis zu welchem Grade die deutsche Wirtschaft die Lasten tragen kann, die sich aus der unvermeidlichen Vermehrung unproduktiver Leistungen, etwa durch erhöhte Verteidigungsausgaben, ergeben. Meine Damen und Herren, die Förderung des Mittelstandes gehört zu den Forderungen und Wünschen aller Parteien. Auch diese Regierungserklärung nimmt wieder zu diesem Thema Stellung, nach meinem ,Gefühl aber etwas weniger deutlich als die Regierungserklärung des Jahres 1957. Darin war der Wunsch nach Mittelstandsförderung viel schärfer zum Ausdruck gekommen. Wir können das hinnehmen, wenn es uns gelingt, in der vor uns liegenden Legislaturperiode die Erfolge zu vergrößern. Dann verzichten wir gern auf ein umfangreiches Versprechen. Die Frage der Mittelstandsförderung steht natürlich in enger Verbindung mit der Frage der Konzentration wirtschaftlicher Macht, auf die in der Regierungserklärung sehr wenig eingegangen wird. Sie darf jedoch nicht zurückgestellt werden, und, Herr Dollinger, wir können nicht warten, bis hier das Ergebnis der Untersuchungen der Enquete-Kommission vorliegt; denn dieser Kommission haben wir ja selber die Frist von zwei bis .zweieinhalb Jahren zur Verfügung gestellt, und sie wird - wie man solche Kommissionen kennt - ihr Ergebnis sicherlich nicht früher vorlegen. Wir müssen früher han- deln, und wir sind auch gar nicht in vollem Umfang auf das Ergebnis dieser Untersuchungen angewiesen. Die bisherigen steuerlichen Maßnahmen zur Unterstützung des Mittelstandes haben nur die kleinsten Betriebe betroffen. Für die große Masse ist noch wenig geschehen. Sicher hat man in. verstärktem Maße bei der Kreditgewährung geholfen. Andererseits gibt man im Rahmen der EntwicklungsDr. Atzenroth hilfe fremden Ländern - allerdings durch dirigistische Maßnahmen - Kredite zu einem Zinssatz von etwa 2 %, während man gleichzeitig dem Mittelstand, dem man helfen will, Belastungen in Höhe des Vier- und Fünffachen dieses Satzes auferlegt. Hier muß etwas geschehen. Hier muß mehr geschehen, als ,die Regierungserklärung es bisher verspricht. Was die Regierungserklärung zur Anpassung an die veränderten Marktverhältnisse sagt, wird von uns unterstützt. Diese Anpassung muß in erster Linie von der Wirtschaft selbst vorgenommen werden, die sich den Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs unterzuordnen hat. Hilfen des Staates durch Subventionen sollen zur seltenen Ausnahme werden. Aber da, wo der Staat zu unserem Leidwesen immer noch so stark als Auftraggeber tätig ist, also vor allem im Bauwesen, müßte er in den Zeiten übermäßiger Konjunktur mit größerer Verantwortung bremsen, um es nicht zu einer wirtschaftlichen Übersteigerung kommen zu lassen, die dann mitunter recht merkwürdige Blüten treibt. Zur Frage der Kartellgesetzgebung will ich nur wenig sagen. Unsere Haltung ist bekannt. Auch Herr Brandt hat nicht versäumt, darauf einzugehen. Allerdings empfiehlt es sich, neue Maßnahmen so lange nicht zu treffen, wie im Bereich der EWG die Entscheidungen nicht gefallen sind. Dort aber müssen wir unsere Gedanken durchzusetzen versuchen. Wir begrüßen alle Maßnahmen, die der Förderung des Wettbewerbs dienen, geben uns allerdings nicht der Hoffnung hin, daß durch Abschaffung der Preisbindung der zweiten Hand etwa plötzlich wesentliche Preissenkungen zu erreichen sind. Dafür müssen andere, wirksamere Maßnahmen getroffen werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zur Privatisierung sagen. Diese Forderung ist von uns seit einem Jahrzehnt erhoben worden. Wir können nicht anerkennen, daß, wie Herr Brandt gesagt hat, solche Unternehmen für eine fortschrittliche und freiheitliche Wirtschaftspolitik unentbehrlich seien. Hat etwa das Volkswagenwerk diese Aufgabe erfüllt, nämlich - wie der Kollege Brandt sagte - die einseitige Beherrschung eines Industriezweiges durch wenige Unternehmen zu verhindern? Es hat im Gegenteil selbst geherrscht. Aber wenn wir privatisieren, meine Kollegen aus der CDU, dann wollen wir es nicht so tun, wie es bei dem Volkswagenwerk geschehen ist. Sprechen wir nicht über den Sozialbonus, lassen wir den beiseite! Aber trotzdem sind rund eineinhalb Milliarden D-Mark unnütz verschwendet worden. ({2}) - Durch den falschen Ausgabekurs der Aktien, und zwar so, daß die Vermögensbildung durch Geschenke erfolgt ist, hinter denen jedoch kein System stand. Ziemlich wahllos sind diese Geschenke auf die Staatsbürger verteilt worden. Wenn man Geschenke verteilen will, muß man das auch systemvoll tun unter wirklicher Berücksichtigung von sozialen Beweggründen. Wir wollen die Unternehmen, die zu privatisieren sind, zu den günstigsten Preisen veräußern, und wir sind auch bereit, zu warten, eine solche Veräußerung durchzuführen, wenn der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Der Erlös muß in das Bundesvermögen fließen. Wie über die Verwendung entschieden wird - ob für soziale Zwecke, ob für Förderung von Wissenschaft und Kunst oder ob für andere dringend notwendige Aufgaben - steht auf einem ganz anderen Blatt. Man sollte sie nicht mit dem System der Privatisierung verknüpfen, wie das leider geschehen ist. Mit der Bundesregierung und mit unserem Koalitionpartner treten wir für eine Förderung der Eigentumsbildung bei breiten Schichten der Bevölkerung ein. Wir lehnen es aber ab, daß diese Förderung in Gestalt von Geschenken auf Kosten der Allgemeinheit erfolgt; denn das wäre eine Umverteilung von Eigentum, ein Gedanke, der unserer Rechtsauffassung widerspricht. Wir denken uns die Förderung der Vermögensbildung in der Weise - darin gehen wir mit Ihnen einig -, daß die Leistungen der Menschen - beruhend auf Konsumverzicht, aber auch besonders intensiver und längerer Arbeit - belohnt werden. Wir wollen also den Erwerb von Eigentum fördern, nicht aber das In-den-Schoß-fallen. Erst wenn dann noch die freie Verfügbarkeit hinzukommt, ist echtes Eigentum geschaffen. Ich will nicht auf das Gebiet der Finanzen eingehen. Mein Kollege Mende hat schon unsere Vorstellungen darüber im großen Rahmen dargelegt. Auch wir fordern eine Finanzreform, und wir sind froh, daß die Sozialdemokratische Partei ihre Bereitschaft erklärt hat, daran mitzuwirken. Dann können wir wahrscheinlich auch zu einer wirklichen Lösung kommen, denn dazu bedarf es ja einer Grundgesetzänderung. Wir werden uns insbesondere der Umsatzsteuerreform annehmen, über die mein Kollege Mende schon sehr viel gesagt hat. Wir können uns heute noch nicht festlegen, ob wir das alte System verändern oder ein neues oder neue Systeme in Betracht ziehen. Wir haben zwar intensiv an diesem Problem gearbeitet, sind aber auf eine Reihe von Schwierigkeiten gestoßen, die es uns heute nicht möglich machen, die bindende Erklärung abzugeben, für welches System wir uns heute schon entscheiden. Aber das Problem muß mit aller Dringlichkeit angepackt werden. Wir sind mit dem Kollegen Erler darin einig, daß die Fiskalabgaben allmählich beseitigt werden müssen. Das ist eine Forderung, die die Freien Demokraten schon seit Jahren erhoben haben. Seine Hinweise auf die Förderung der Entwicklungsländer halten wir auch in diesem Rahmen ebenfalls für sehr wichtig. In der Frage der Wohnungswirtschaft sind wir vielleicht nicht ganz so einig mit der CDU. Die Regierungserklärung kündigt - allerdings in sehr vorsichtiger Form - den Übergang des Wohnungsbestandes in die Marktwirtschaft an. Wir drängen auf eine Beschleunigung und hoffen, daß die dann erzielte Freiheit nicht durch andere Maßnahmen wieder eingeschränkt wird. Ein Wort an den Kollegen Erler zu der Frage der großen Wohnungsbaugesellschaften. Mein Kollege Mende hat nicht in erster Linie eine Kontrolle dieser Gesellschaften gefordert, sondern darauf hingewiesen, daß diese ursprünglich als gemeinnützig gebildeten Gesellschaften ihren Charakter dadurch verloren hätten, daß sie Nutznießer der Zuwendungen geworden seien, Eigentum verwalteten und die von ihnen abhängigen Menschen auch weiterhin abhängig blieben. Wir wollen gerade, daß die Menschen, die in den Wohnungen der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften wohnen, recht bald dazu kommen, ein echtes Eigentum daran zu erwerben. Gestatten Sie mir noch einige Ausführungen zur Verkehrspolitik. Wir bejahen die Bemühungen der Bundesregierung zur Schaffung eines leistungsfähigen Gesamtstraßennetzes und werden uns dafür einsetzen, daß entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden. Unsere 'besondere Sorge gilt den Menschen im Verkehr und den Verkehrsnotständen in den Gemeinden und Städten. Der Bund wird gerade bei der Lösung der innerstädtischen Verkehrsverhältnisse mit entscheidenden Mitteln helfen müssen. Zusammenfassend möchte ich noch einmal sagen, daß wir Freien Demokraten alles tun werden, um unsere Vereinbarungen mit unserem Koalitionspartner ehrlich und getreulich zu erfüllen. Wir werden dabei unsere Eigenständigkeit bewahren und versuchen, unseren Partner davon zu überzeugen, daß die Forderungen, die wir stellen, berechtigt und nicht übertrieben sind. Aber noch ein Wort zur sozialen Verantwortung. Den Freien Demokraten ist häufig, besonders von der Opposition, der Vorwurf gemacht worden, daß sie ein geringeres Gefühl für soziale Verantwortung hätten als die anderen Parteien. Das ist eine Verleumdung. Die FDP läßt sich von keiner anderen Partei in ihrer sozialen Verantwortung übertreffen. Aber nicht derjenige ist der Sozialste, der mit seinen Forderungen an die Allgemeinheit an der Spitze marschiert. Die höchsten Renten können ein sozialer Fehler sein, wenn sie nur durch eine übermäßige Belastung der arbeitenden Menschen aufgebracht werden können. Die SPD hat sich in Godesberg für eine freiheitliche Wirtschaftspolitik eingesetzt. Sie ist aber nicht bereit, die Folgerungen auch auf dem sozialpolitischen Gebiet zu ziehen. Die Bundesregierung sagt mit Recht, daß die Grenze der sozialen Sicherheit dort liege, wo die persönliche Freiheit des einzelnen gefährdet werde. Nur wer diese Grenze richtig erkennt, ist wirklich sozial. Wer sie überschreitet, handelt in letzter Konsequenz unsozial. Herrn Kollegen Erler muß ich noch ein Wort zum Kindergeldgesetz sagen. Sie haben soeben erklärt, daß wir nunmehr Ihren Wünschen nachzukommen bereit seien, eine Änderung in der durch das Kindergeldgesetz geschaffenen Organisation vorzunehmen. Herr Erler, ich darf daran erinnern, daß der Ausgangspunkt bei der FDP zu suchen ist; unsere Forderung ist das gewesen. Sie haben ihr allerdings bei dem ersten Kindergeldgesetz voll und ganz zugestimmt. Ich darf aber daran erinnern, daß wir im Juni dieses Jahres noch einmal eine gemeinsame Entschließung vorgeschlagen haben, die in dieselbe Richtung wies, und daß die sozialdemokratische Fraktion sich dieser Entschließung versagt hat. Sie können also auf diesem Gebiet nicht das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen. ({3}) - Es lag voll und ganz an dem System, von dem Ihr Kollege Erler gesprochen hat. Meine Damen und Herren, wir begrüßen als Koalitionspartner die Regierungserklärung als die Grundlage der in den nächsten vier Jahren zu verfolgenden Politik. Sie hat nur allgemeine Ausführungen enthalten, und das konnte nicht anders sein. Ich habe versucht, in einigen Punkten unsere besonderen Wünsche kenntlich zu machen. Wir hoffen, daß wir von den Gedanken, die ich hier entwickelt habe, möglichst viele verwirklichen können. Wir hoffen dabei in weitem Maße auf unseren Koalitionspartner, in kleinerem Maße auch auf die Oppositionspartei. In diesem Sinne glauben wir auch zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Opposition kommen zu können. ({4})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000364

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gradl.

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sinn einer solchen Debatte ist doch wohl unter anderem, daß man sich am Anfang einer vierjährigen Bundestagsperiode darüber klar wird, wo man steht. So verstehe ich auch eine Bemerkung, die der Herr Kollege Brandt heute morgen in seiner Rede gemacht hat. Er sprach dort davon, daß die bisherige Wiedervereinigungspolitik gescheitert ist. Ich gehe auf diese Bemerkung ein, nicht um zu polemisieren - wir sind sicher alle darüber einig, daß der Hintergrund für eine Polemik zu ernst ist -, sondern weil ich anregen möchte, noch einmal über dieses Wort nachzudenken und dann vielleicht - vielleicht! - zu dem Ergebnis zu kommen, daß man es besser nicht mehr gebrauchen sollte. Man sollte es einmal deshalb nicht mehr gebrauchen, weil es ein gefährliches Wort ist, nicht nur gefährlich in dem Sinne, in dem mein Freund Brentano darauf erwiderte, daß man nämlich damit der sowjetischen Politik irgendwie ein Alibi zuschieben könnte, sondern auch deshalb gefährlich, weil es die Menschen mutlos macht, zumindest dann mutlos macht, wenn es keine Alternative gibt. Und es gibt keine. Herr Kollege Brandt hat heute morgen mit Recht gesagt: Es gibt heute offensichtlich keinen erkennbaren Preis für die Wiedervereinigung außer dem der Aufgabe der Freiheit. Ich halte das Wort auch deshalb für unglücklich, weil es falsch ist. Sicher, wer wollte bestreiten, daß die Politik bisher nicht zu dem Ziel geführt hat, das wir alle ersehnen. Wer wollte das zumal nach dem 13. August bestreiten? Aber vielleicht gibt dieses Wort auch Anlaß, daß wir einmal darüber nachdenken und uns alle fragen, ob wir, jeder von uns, und ob unser ganzes Volk sich bisher, insbesondere bis zum 13. August - danach scheint es erfreulicherweise besser zu werden - genügend vergegenwärtigt haben, was die Ereignisse von 1945 nicht nur für das Einzelschicksal, sondern auch für das Schicksal des ganzen Volkes gebracht haben, ({0}) wie tief wir als Ergebnis dieser zwölf Hitlerjahre tatsächlich gesunken sind, wie ohnmächtig wir damals wirklich geworden sind und wieweit die Macht über Deutschland an andere Mächte übergegangen ist. Diese Situation muß man, glaube ich, doch vor Augen haben; und wenn man sie vor Augen hat, dann, meine ich, muß man sagen, daß es ein geschichtliches Unglück ist, das sich da an unserem Volk vollzogen hat, und angesichts der geschichtlichen Tiefe unseres Unglücks kann main bei einer unvoreingenommenen Wertung heute wirklich nicht sagen, daß die Politik zur Bewältigung dieses Unglücks gescheitert ist. Man kann es nicht sagen, und man sollte es nicht sagen. ({1}) Dazu ein weiteres. Was hat denn, konzentriert auf das engere Feld der Wiedervereinigung unmittelbar, diese Politik getan? Sie hat Unterstützung gesucht, sie hat um Verständnis geworben, sie hat Freunde gesammelt; sie hat damit die Konsequenz gezogen aus der Erkenntnis, daß wir allein ohnmächtig sind. Was hat sie weiter getan? Sie hat versucht, dem deutschen Verlangen nach Wiederherstellung der Einheit und Wiedergewinnung der Freiheit für alle Kraft und Nachdruck wiederzugeben. Damit hat sie die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, daß wir eben in der Ohnmacht geteilt worden sind, und auch die Konsequenz aus der Tatsache, daß man in der Politik in der Welt nichts durchsetzen kann, wenn man nichts ist und nichts hat. Man zählt nur, wenn man etwas ist und wenn man etwas hat. ({2}) Das war das Tun dieser Politik. Es war richtig, und es ist weiter richtig. Denn nur so läßt sich überhaupt eine Basis schaffen, auf der man Politik für Deutschland real betreiben kann. Deshalb, meine ich, sollten wir uns - bei aller Kritik, die geübt werden mag und die in diesem und jenem vielleicht auch berechtigt sein mag - nicht darauf einlassen, von dieser Politik zu sagen, daß diese Politik gescheitert ist. Die Aufgabe ist doch vielmehr, nach vorn zu sehen und darauf aus zu sein, daß man von der Basis aus, die mittlerweile gewonnen worden ist, zusammen mit unseren Freunden das Rechte sucht und tut, wenn einmal eine Chance kommt. Dazu noch eine andere Bemerkung. Die Frage liegt nahe, wenn man sich mit diesem Thema überhaupt auseinandersetzt: Wann trägt denn diese Politik einmal ihre Frucht? Der Herr Kollege Brandt hat heute morgen einen erschütternden Brief eines Mannes aus der Zone verlesen. In diesem Brief steht der Satz: „Geben Sie der Bevölkerung eine Hoffnung!" Nun, wir stimmen sicher überein: um Gottes willen soll man die Menschen drüben in der Zone in all dieser Not nicht noch belügen. Wir haben kein Patentrezept, und wir können keinen Termin sagen. - Aber auch das nicht, um zu polemisieren, sondern um gemeinsam darüber nachzudenken. - Der Herr Kollege Brandt hat heute auf diese Frage dann später in seiner Rede indirekt eine Antwort gegeben. Er hat gesagt: Wiedervereinigung ist auf unabsehbare Zeit aussichtslos. Meine Damen und Herren, jeder von uns kennt verzweifelte Stunden in dieser Sache. Aber ich meine, das sollten wir den Menschen nicht sagen. Wir wissen - das ist die Wahrheit - nicht, was morgen ist. Wir kennen die Aussichten nicht. Wir kennen die Zukunft nicht. Aber darauf kommt es auch nicht an, sondern worauf es ankommt, ist doch, daß wir unseren Willen anstrengen und unsere Zielstrebigkeit zeigen und den Menschen damit Hoffnung geben.

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte Sie nicht unterbrechen, Herr Dr. Gradl; denn ich weiß, wie sehr wir im Grunde übereinstimmen. Weil Sie aber jetzt den Abgeordneten Brandt wegen einer Äußerung zur Rede stellen, die die Aussichten betrifft, muß ich Sie bitten, mir jetzt eine Frage nach der Äußerung des Ministers für gesamtdeutsche Fragen am 9. August im Deutschen Fernsehen zu beantworten, wo er gesagt hat: „Meine Landsleute, die Sie jetzt optisch, akustisch und sonst mit mir verbunden sind, seien Sie versichert: der Weg über Berlin wird Ihnen nie abgeschnitten werden; das sind die Verträge, die das gewährleisten". Und am 13. August hat er im selben Deutschen Fernsehen gesagt: „Das, was am 13. geschehen ist, hat mich nicht überrascht". ({0}) - Das ist die Frage. Denn es geht hier um die Frage, ob man denen drüben eine Hoffnung geben kann oder machen soll und worin sie besteht. Meine Frage ist, ob etwa dies die Art sein soll, in der wir zu denen sprechen, die jetzt hinter der Mauer leben. ({1})

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wehner, ich muß hier also für den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen antworten. Ich meine, daß jeder, der damals gesprochen hat, in dem Augenblick, in dem er gesprochen hat, aus den Einsichten heraus geredet hat, die er hatte. Ich habe auch von anderen, die damals gesprochen haben, genau dasselbe gehört wie das, was Herr Lemmer gesagt hat. ({0}) Wenn wir uns einmal darüber aussprechen sollten, was damals gesagt worden ist, würde das ein bitteres Kapitel für uns alle hier werden, Herr Kollege Wehner; denn wir alle haben doch wohl zu den Menschen in der Zone gesagt: Bleibt drüben und haltet aus! Ich brauche nicht fortzufahren; Sie wissen, was ich damit meine. Ich hoffe, alle hier wissen, welche Verantwortung wir alle damals auf uns genommen haben, als wir so zu den Menschen in der Zone sprachen. ({1}) Da ich Berliner Abgeordneter bin, möchte ich auch ein Wort zu den besonderen Fragen sagen, die Berlin betreffen. Sie alle haben die Erklärung der Regierung dazu gehört. Kaum war die Erklärung in der Welt, gab es eine Fülle von Gerüchten und Mutmaßungen darüber, was denn nun in ganz anderer Weise etwa in und mit Berlin geschehen würde. Auch Herr Kollege Brandt hat heute morgen mit Recht von den Gerüchten und Spekulationen über die bisherigen staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Berlin und Westdeutschland gesprochen. Das Bild, das dadurch in der Öffentlichkeit entstanden ist, ist in der Tat einigermaßen verwirrend. Ich glaube, um so mehr sollten wir uns an das halten, was klar von verantwortlicher Stelle gesagt worden ist. Erstens ist in der Regierungserklärung die Aussage des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu den drei vitalen Interessen in Berlin wiedergegeben. Diese Erklärung des Präsidenten Kennedy ist ebenso wichtig und, ich glaube, man kann auch sagen, beruhigend wie die andere, daß die Vereinigten Staaten bereit sind, für die Verteidigung dieser vitalen Interessen auch die größten Risiken zu übernehmen. Das ist die eine Aussage. Die zweite Aussage ist: Die Bundesregierung ihrerseits hat klargestellt, daß ein unabdingbarer Grundsatz bei Verhandlungen die Erhaltung der bestehenden politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik sowie der freie Zugang der Zivilbevölkerung ist. - Das sind klare Feststellungen. Ich glaube, wir tun alle gut daran, uns entgegen allen Gerüchten an diese verantwortlichen Aussagen zu halten. Nun ein Wort zu den Spekulationen. Sie kommen zum Teil aus sehr trüben Quellen. Ich glaube nicht, daß es richtig wäre, an dieser Stelle auf das Für, wenn es das überhaupt gibt, und auf das Wider dieser Spekulationen auch nur theoretisch einzugehen, schon deshalb nicht, weil die. Sowjetunion jedes Für und Wider in unseren öffentlichen Aussprachen mithört. Ich meine aber, wir sollten auch nichts tun, um durch Spekulationen unsere eigene Verhandlungsposition zu zersetzen. Dies ist eine Bitte auch an diejenigen, die nicht hier im Hause sind, aber draußen mit der Feder oder dem Wort ein Gewichtiges zu der Formung der deutschen Position beitragen können. Was die politischen Bindungen angeht, beschränke ich mich deshalb auch nur auf einige kurze, grundsätzliche Feststellungen: Erstens. Die politische Verbundenheit gehört zur Lebensfähigkeit Berlins genauso wie die Verbundenheit in Wirtschaft und Währung. Zweitens. Die politische Verbundenheit Berlins mit der Bundesrepublik - eine Verbundenheit, die seit mehr als einem Jahrzehnt besteht - entspricht dem freien und vollen Willen der Bevölkerung Berlins; über ihn kann man nicht hinweggehen. Drittens. Berlin ist nun einmal die deutsche Hauptstadt, heute im Grunde wohl mehr als früher. Eine Lockerung der Bindungen würde bedeuten, daß die ohnehin beschränkten Positionen des freien Deutschland in Berlin abgebaut würden, die Pankower Separatistenregierung aber Rang und Namen Berlins, der Hauptstadt, für sich mißbrauchen könnte und dürfte. Das ist für unsere legitimen nationalen Interessen nicht zumutbar. Dies ist unser Standpunkt, auch gegenüber allen Spekulationen dieser Frage; er entspricht der Erklärung der Bundesregierung über die Erhaltung der bestehenden politischen Bindungen. Nun ein Wort zu der Frage der Konzentrierung der vielleicht kommenden Ost-West-Verhandlungen auf die Berlin-Frage. Stichwort: Berlin soll isoliert behandelt werden. Man hat dieser Taktik, die da offenbar eingeschlagen wird, entgegengehalten: Es gibt keine isolierte Berlin-Lösung. Nun, meine Damen und Herren, das ist kein Widerspruch. Natürlich ist die Berlin-Frage ein Teil der deutschen Frage. Natürlich bleibt es mit seiner Insellage ein Problem, solange Deutschland geteilt ist. Natürlich gibt es erst eine Lösung der Berlin-Frage, wenn Berlin wieder Hauptstadt des geeinten Deutschland ist. Aber jetzt - in dieser Situation - geht es ja offenbar nicht um Lösung, sondern es geht zunächst darum, die Berlin-Krise zu entschärfen - jedenfalls um den Versuch -, einen Modus vivendi herzustellen, der, wenn der Versuch gelingt, eine bessere Atmosphäre und Basis für eine spätere Behandlung der weiterreichenden Fragen schaffen würde, jener Fragen, die natürlich einmal auf den Tisch kommen müssen: die deutsche Frage und Friedensordnung in Mitteleuropa. Der Herr Kollege Erler hat dem Sinne nach gesagt, das sei ein gefährlicher Weg; man dürfe die Gefahr einer Isolierung der Berlin-Frage nicht unterschätzen. Das ist zweifellos richtig. Natürlich ist das Bewegungsfeld Berlin eng, und natürlich muß man sich bei einer Konzentrierung auf Berlin ganz sicher sein, daß man auf dem engen Manövrierfeld, das Berlin darstellt, die Bewegungsgrenzen unter allen Umständen und auf jedes Risiko hin einhält. Man muß wissen, daß man dann notfalls eben fest widersteht. Die Erklärungen aus Washington zur unbedingten Verteidigung der vitalen Interessen Berlins und die mannigfachen militärischen und sonstigen Anstrengungen der Verbündeten - einschließlich derer der Bundesrepublik - lassen das als gewiß erscheinen. Ich glaube, wir sollten an dieser Gewißheit nicht zweifeln. Ein Wort zu dem Thema europäische Sicherheit! Der Herr Kollege Erler sagte vorhin, die europäische Sicherheit habe, so meine die Bundesregierung, mit Berlin nichts zu tun, das sei richtig, aber sie habe sehr wohl mit der deutschen Frage zu tun. I Dieser Zusammenhang kommt mit einer besonderen und, wie ich sagen möchte, sehr erfreulichen Deutlichkeit in der Erklärung der Bundesregierung in dem Abschnitt über die europäische Sicherheit zum Ausdruck. Den Kernpunkt dieses Abschnitts bildet die Feststellung der Regierung, daß die Probleme der europäischen Sicherheit nur in Verbindung mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit zu erörtern sind. Das besagt doch wohl zweierlei: Erstens, daß das Ziel, die Wiedervereinigung, mit dem Problem der europäischen Sicherheit engstens verbunden ist, daß eines im Zusammenhang mit dem anderen gesehen und angegangen werden muß. Wir müssen uns in der Tat in das Faktum fügen, daß nach den Erlebnissen der jüngeren Vergangenheit die Wiederzusammenführung der Deutschen für die Umwelt auch die Frage der Sicherheit aufwirft. Zweitens besagt diese Aussage der Bundesregierung, daß militärische und politische Entspannungsmaßnahmen in Europa - und zumal in der Mitte Europas - Hand in Hand gehen müssen. Darin stimmen wir doch wohl alle überein. Es nützte der Ruhe und dem Frieden in Mitteleuropa gar nichts, wenn gewisse militärische Potenzen zwar beschränkt würden, aber die Bürgerkriegsituation, die jeden Tag mit den Schüssen an der Mauer in einer so schrecklichen Weise zum Ausdruck kommt, erhalten bliebe. Wenn das so ist, hat, so glaube ich, die Bundesregierung auch recht, wenn sie sagt, daß die Frage der europäischen Sicherheit nicht in den Zusammenhang mit der Berlin-Krise gehöre. Die Sowjetregierung macht kein Hehl daraus, wie sehr ihr an einer Beschränkung und Schwächung der militärischen Verteidigungskraft des Westens in Europa liegt. Der Kreml würde es mit Recht als einen großen Erfolg buchen, wenn er mit dem Hebel der Berlin-Drohung eine Schwächung der Bundesrepublik und damit der NATO erreichen könnte, das Ganze vielleicht schön frisiert unter dem Begriff der europäischen Sicherheit. Das wäre dann ein sehr ungleiches Geschäft; das wäre eine Geschäft, von dem neulich jemand gesagt hat, daß es der Tausch eines Apfels gegen einen Obstgarten wäre. Ich glaube, daß man die Auffassung der Bundesregierung richtig deutet, wenn man sagt: Wenn ein wirklicher Ausgleich gefunden werden soll, müssen Konzessionen und Gegenkonzessionen der gleichen Ebene, der gleichen Dimension angehören, also Apfel gegen Apfel, Obstgarten gegen Obstgarten. Berlin-Verhandlungen sind eine Dimension, Sicherheit und Wiedervereinigung sind eine andere Dimension. Das hat, glaube ich, Herr Kollege Erler, auch bei der Einstellung der Bundesregierung zu der Frage isolierter regionaler Sicherheitsmaßnahmen eine Rolle gespielt. Das ist eine schwierige Frage. Wir sind dabei in der schwierigsten Situation; denn je mehr regionale Maßnahmen in Mitteleuropa räumlich begrenzt sind - und soweit sie uns angehen, sollten sie das ja sein -, um so mehr - und das ist das Ziel aller regionalen Maßnahmen, die der Osten bisher in die Debatte geworfen hat - würden diese Maßnahmen auf östlicher Seite im Grunde Randpotenzen, das Randgebiet treffen, auf westlicher Seite aber ein Kerngebiet, das die Bundesrepublik als Potenz im Bereich des Westens immerhin darstellt. Das wäre also eine sehr einseitige Verschiebung, die da jedesmal droht. Deswegen muß man wohl Verständnis dafür haben, daß die Bundesregierung so zurückhaltend ist und daß sie an idem generellen Satz festhält: militärische plus politische Entspannung, europäische Sicherheitsordnung plus Wiedervereinigung. Alle diese Überlegungen sind heute leider reine Theorien, solange uns Moskau seine Konzeption der sogenannten zwei deutschen Staaten präsentiert, und es gibt ja nicht die geringste Andeutung irgendeiner Korrekturbereitschaft auf sowjetischer Seite. Wir sollten uns nur einen Augenblick klarmachen, was das letzten Endes bedeutet: zwei deutsche Staaten. Es bedeutet, daß die ,Sowjetunion ihr Sprungbrett in Mitteldeutschland behalten will. Solange die Sowjetunion auf dieses Sprungbrett nicht verzichtet, sind wir in echter Gefahr und das freie Europa mit uns, müssen wir in unserer Sicherheitspolitik die harten Konsequenzen ziehen, die wir zu ziehen jetzt bereit sind. So lange können wir gar nichts anderes tun als die Position des freien Deutschland so fest und so sicher zu machen wie nur irgend möglich. Ich füge hinzu: wir Deutsche sind vom Schicksal und von der Geschichte nun einmal verurteilt, die westliche und die östliche Welt von heute als Nachbarn zu haben. Wir müssen wünschen, auch nach Osten, auch zur Sowjetunion in ein gutes Verhältnis zu kommen. Wir fordern nichts als jenes fundamentale Recht der Völkergemeinschaft, das man sich beinahe schon nicht mehr auszusprechen traut, weil es immer und immer wieder gesagt worden ist, aber auch gesagt werden muß: die Selbstbestimmung. Ein Wort zu den Bemerkungen der Regierungserklärung über den Gewaltverzicht. Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung ihre wiederholte Versicherung erneuert, daß sie auf Drohung mit Gewalt und auf Gewaltanwendung verzichte. Das ist natürlich nicht nur unser aller oberflächliche Meinung, sondern das ist unsere tiefste Überzeugung, unser tiefstes Empfinden. Wir haben zuviel vom Krieg kennengelernt, als daß wir anders eingestellt sein könnten. Wir haben nationale Ziele, aber wir wollen sie mit friedlichen Mitteln verfolgen. Dennoch will ich hier eine zwar nicht kritische Anmerkung, aber doch ein Wort zum Bedenken in dieser Frage anfügen. Es ist ja so: im Grundsätzlichen ist man in der Politik schnell einig; die Schwierigkeiten fangen an, wenn man ins Konkrete geht. In der Erklärung der Bundesregierung heißt es, daß sie in diesen Gewaltverzicht auch die Wiedervereinigung einzubeziehen (bereit sei und daß sie den Gewaltverzicht insgesamt zum Gegenstand internationaler Verhandlungen zu machen bereit sei. Nun, .auch hier könnte man ohnehin sagen - das ist ja immer unsere Aussage gewesen -: Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Und 'doch gestatten Sie eine Bemerkung dazu: Gewaltverzicht darf nicht nur ein Verzicht auf Gewalt für die Wiedervereinigung sein, er muß auch ein Verzicht auf Gewalt gegen die Wiedervereinigung sein. ({2}) Was ich meine, das sagt vielleicht eine Erinnerung an den 17. Juni 1953. Ein weiteres. Ein Gewaltverzicht in Sachen Wiedervereinigung muß auch zugunsten aller Deutschen gelten. Was seit dem 13. August an der Mauer geschieht und was lange vorher schon an der Zonengrenze geschehen ist, das ist aber Anwendung von Gewalt. Solange Deutsche mit Gewalt gehindert werden, von einem Teil Deutschlands in 'den anderen zu gehen, wäre ein Gewaltverzicht einseitig. Wir fordern immer: Die Mauer muß weg! Wenn wir das fordern, dann meinen wir damit doch, daß die Gewaltanwendung und Gewaltdrohung wegmuß, die das Zonenregime anwendet und für die die Mauer das drastische Beispiel ist. Meine Damen und Herren, ich will das Thema der Gewaltanwendung und des Gewaltverzichts hier nicht bis ins letzte ausleuchten; das tun wir vielleicht besser in den Ausschüssen. Aber ich wünsche von der Bundesregierung, daß wir in den Ausschüssen die Gelegenheit erhalten, gründlich darüber zu sprechen, ehe verbindliche Verhandlungen darüber geführt werden. Für diejenigen, denen es vielleicht zu lange wird, zum Trost ein vorletztes Wort. Es handelt sich um die Frage: Kann man die Vereinten Nationen den deutschen Nöten, dem, was uns bewegt, dienstbar machen, kann man sie für unsere Belange nutzen? Herr Kollege Erler hat diese Frage gestellt, und ich glaube ihn richtig verstanden zu haben, wenn ich sage: er ist eher dafür, daß man die Vereinten Nationen nutzbar zu machen versucht. Nun muß ich zunächst, Herr Kollege Erler - Herr Kollege Erler, wenn Sie einen Augenblick noch einmal herhören würden -, auf Wunsch meines Freundes Brentano eines richtigstellen. Sie haben ihn - ich habe es inzwischen in seiner Rede nachgelesen, tun auch Sie es - heute morgen falsch verstanden. Er wollte nicht zum Ausdruck bringen und er hat nicht zum Ausdruck gebracht, 'daß man die deutsche Frage vor die Vereinten Nationen bringen sollte, sondern das, was er sagen wollte und auch gesagt hat, war: Die Vereinten Nationen befassen sich mit vielen Notständen in der ganzen Welt, in sehr abgelegenen Erdteilen; deshalb sollten sie sich eigentlich ex officio auch einmal um die Dinge kümmern, die sich in Europa - nicht nur in Deutschland -, in Osteuropa vollziehen. Diese Frage, ob man die Vereinten Nationen für unsere Zwecke nutzbar - das ist kein schönes Wort, aber mir fällt im Augenblick kein anderes ein - machen kann, ist heikel, nicht deshalb, weil es hier Differenzen zwischen Regierung und Opposition gibt, sondern weil man sich dabei mit einer Institution befassen muß, in der wir nicht Mitglied sind - unser Beobachter hat ja nur Gastrecht -, und weil man bei der Beurteilung der Vereinten Nationen unter den besonderen deutschen Gesichtspunkten durchaus kritische Betrachtungen nicht vermeiden kann. Es gibt hinsichtlich des Befassens der Vereinten Nationen mit solchen Dingen wie den unseren einige Präzedenzfälle, die nicht ermutigend sind. Ich denke z. B. an Ungarn und an Tibet. Ich erinnere im Hinblick auf die Zusammensetzung der Vereinten Nationen auch daran, wie die Vertreter der nicht gebundenen Staaten auf der Belgrader Konferenz nach dem Beginn der sowjetischen Atomversuchsreihe reagiert haben; das war auch nicht ermutigend. Wir wissen, daß vor allen Dingen die jungen Staaten eine Scheu vor der Parteinahme haben, sofern es nicht an ihren eigenen Lebensnerv geht. Im Grunde ist das dasselbe Problem, wie es hinsichtlich einer Mammutfriedenskonferenz mit 52 oder mehr Staaten auftritt; da stellt sich die Problematik fast in derselben Weise. Wir sollten in unserer Haltung dazu zunächst bei dem Standpunkt bleiben, den wir bisher eingenommen haben. Es wird nicht ausgeschlossen, daß die Vereinten Nationen unter Umständen ,als ein letzter Ausweg in einer ganz besonderen Situation benutzt werden können. Aber grundsätzlich sollten wir daran festhalten, daß die Vier Mächte die Verantwortung für Deutschland haben. Wir sollten nichts tun, was die Gefahr in sich birgt, daß diese Verantwortung verwässert oder zersetzt wird. Wir sollten vielmehr darauf zielen, daß die 'deutsche Frage im Bereich und im Gremium der Vier zu einer stetigen und in unserem Sinne zielstrebigen Erörterung kommt. Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schließen. Die drei Schutzmächte Berlins, unsere Verbündeten, haben in den letzten Monaten sehr Erhebliches getan, um ihren Willen zum Schutz und zur Verteidigung der freiheitlichen Position in Berlin durch Taten greifbar deutlich zu machen. Das wird zu oft - nicht hier im Hause, aber ansonsten - gedankenlos hingenommen. Es ist doch nicht einfach eine Selbstverständlichkeit, daß der amerikanische Präsident vielen zehntausenden von jungen Männern zumutet, Beruf, Lehre, Studium, Familie zu verlassen, um für die Verteidigung eines Platzes bereit zu sein, der viele tausende von Kilometern entfernt jenseits des Atlantiks liegt und die Hauptstadt des ehemaligen Kriegsgegners 'ist: Und es ist doch nicht einfach selbstverständlich, daß die Drei Mächte bereit sind, das äußerste Risiko auf sich zu nehmen. Jeder weiß, was es heißt, wenn eine Aggression gegen Westberlin das notwendig machen sollte. Sicher, wir wissen, hier geht es nicht nur um Berlin, nicht nur um deutsches Interesse, hier geht es um die Selbstbehauptung der freien Welt insgesamt. Gott sei Dank stimmen unsere nationalen Interessen da mit den umfassenderen Interessen dieser Mächte überein. Dennoch, so meine ich, sollte man sich bei uns im Lande die Leistungen und die Bereitschaft unserer Verbündeten im westöstlichen Ringen um Berlin und Deutschland eindringlicher vor Augen halten, und nicht nur das, sondern sich auch stärker bewußt werden, daß wir materiell und moralisch nachzuholen haben. ({3}) Ich glaube, es ist gut - es ist heute verschiedentlich schon begrüßt worden -, daß die Bundesregierung in ihrer Erklärung ausgesprochen hat, daß Opfer und Leistungen notwendig sind. Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten hat man so viel von dem gesprochen, was auf uns zukommt. Das st so gesagt und geschrieben worden, als ob wir sehr unerwünschte Dinge sozusagen nur noch fatalistisch hinzunehmen hätten. In Wirklichkeit ist doch die Aufgabe, nicht hinzunehmen, sondern zu verhindern. Und um zu verhindern, müssen sowohl unsere Verbündeten als auch die Sowjets erkennen, daß es uns Deutschen selbst jetzt bitterernst ist. Solchen Ernst erweist man nicht mit Worten, sondern mit lebendiger Anteilnahme, mit Leistung, Wagnis und Opfer. Die Deutschen hinter der Mauer und die Deutschen hinter dem Todesstreifen, die Menschen in der Zone und in Ostberlin erwarten diesen Nachweis von hier; sie haben wahrhaftig ein Recht darauf ihn zu erwarten. Auf dem konservativen Parteikongreß Mitte Oktober in Brighton hat der britische Außenminister Lord Hume für sein Land gesagt: In diesen dunklen Zeiten sind Mut und Opferbereitschaft die einzigen Heilmittel. Die Nation muß den Sinn ihrer Existenz und ihres Lebens wiederfinden. Ich glaube, genau dasselbe müssen wir selbst uns auch sagen. Die Bundesregierung hat erklärt, daß die Bundesrepublik bereit sei, die Opfer und Risiken auf sich zu nehmen, die zur Verteidigung der vitalen Interessen in Berlin notwendig sind. Die Aufgabe, meine ich, ist, diese Bereitschaft zur Erhaltung unseres ganzen Volkes im freien Teil Deutschlands zu wecken, eine Aufgabe nicht nur der Regierung, sondern eine Aufgabe des ganzen Hauses, eine Aufgabe für uns alle. ({4})

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollenhauer.

Erich Ollenhauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001646, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hält es für richtig, diese Aussprache über die Regierungserklärung von unserer Seite zu beenden. Es war, wenn man den Sinn dieser Aussprache richtig nimmt, eine etwas einseitige Aussprache; denn die Regierung selbst hat an dieser Debatte heute nicht teilgenommen. Wir nehmen das zur Kenntnis, aber wir werden bei den verschiedenen sachlichen Aufgaben, vor die Regierung und Parlament in den nächsten Monaten gestellt sein werden, alle die Argumente und sachlichen Vorstellungen erneut vorbringen, die uns bei den einzelnen Punkten bewegen. Ich möchte jetzt nur einige abschließende Feststellungen treffen, um die Position der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion in diesem 4. Bundestag noch einmal darzustellen. Es ist hier sehr viel über die Geschichte und die Umstände dieser Koalitionsbildung gesagt worden, und Herr Barzel hat es für richtig gehalten, noch einmal eine Debatte über sogenannte prinzipielle Begriffe aufzubringen. Ich werde sie nicht aufnehmen. Ich will nur eines feststellen: es kann nicht bestritten werden, daß einflußreiche Institutionen und zentrale Zeitungen in der Bundesrepublik nach dem 17. September nicht nur einmal, sondern mehrmals der FDP dringend nahegelegt haben, die Bildung einer bürgerlichen Regierung durch die Verweigerung einer Koalition mit der CDU/CSU nicht zu verhindern. Ob es überhaupt dieser eindringlichen Fürsprachen und Zureden bedurft hätte, will ich hier nicht untersuchen. Wahrscheinlich war die Neigung von vornherein stark genug, um alle Schwierigkeiten zu überwinden. Aber das Resultat ist jedenfalls: es ist eine Regierung dieser beiden Fraktionen gebildet worden, wobei für maßgebende Teile dieser beiden Fraktionen der Gesichtspunkt entscheidend war, daß eine Regierung zustande gebracht würde unter Ausschluß der Sozialdemokratie, unter Ausschluß von 111/2 Millionen Wählern, von mehr als 36 % der Wähler, die sich am 17. September für unsere Partei entschieden haben. Es ist in ihrer Entstehungsgeschichte und in ihren Kundgebungen eine Regierung ohne und gegen die Sozialdemokratie. Wir stellen das ohne jede Bewertung fest. Aber wir wollen hier nicht so tun, als ob eine andere Lösung nicht möglich gewesen wäre. Wenn es in diesem Lande normale demokratische Grundsätze gegeben hätte, wäre die Antwort auf das Wahlresultat gewesen, daß die beiden bisherigen Oppositionsparteien, die jetzt zusammen die Mehrheit hätten, den Versuch gemacht hätten, eine Regierung zu bilden. ({0}) Das ist nicht geschehen. Das muß die FDP verantworten. Wie sich das praktische Verhältnis zwischen der n. unter diesem Vorzeichen gebildeten Regierung und der Sozialdemokratie gestalten wird, werden wir sehen. Es ist nur eines festzustellen: es hat nicht an der Weigerung der Sozialdemokratie gelegen, in dieser besonders schwierigen Situation ihren Teil an Verantwortung auch in der Regierung zu übernehmen. Das ist eine wesentliche Feststellung auch noch für die Zukunft. Denn, meine Damen und Herren, viele von Ihnen wissen, daß diese Lösung unter den gegebenen innen- und außenpolitischen Umständen nicht die glücklichste und keine Lösung ist, die den Lebensinteressen unseres Volkes am besten entspricht. ({1}) Ich 'habe hier keinerlei Angebote zu machen. Nach ihrer Position muß die Sozialdemokratie nicht in jeder Regierung sein. Es wird sich zeigen, daß es falsch ist, in einer solchen Lage einen so beachtlichen Teil unseres Volkes trotz seines loyalen Angebots aus der Regierungsverantwortung auszuschalten. ({2}) Das ist eine Feststellung. Wir werden Gelegenheit haben, uns später miteinander .zu überlegen, welche Konsequenzen sich aus Ihrer Entscheidung ergeben haben. Die jetzt gebildete und hier vorgestellte Regierung entspricht nicht den Vorstellungen der Sozialdemokratie, und zwar vor allem im Hinblick auf die außergewöhnlichen Umstände, unter denen wir jetzt und in der nächsten Zeit zu arbeiten und zu leben haben werden. Ein Zweites. Ich möchte die Debatte um Berlin und das Problem der Wiedervereinigung hier nicht vertiefen. Wir haben uns sowohl in der Rede meines Freundes Willy Brandt als auch in der Rede meines Freundes Fritz Erler mit vollem Bedacht zurückgehalten, dieses sehr komplizierte Problem im einzelnen unter Aufnahme aller möglichen Gerüchte und Kombinationen zu diskutieren. Wir respektieren den Wunsch der Regierung, in den kommenden schwierigen Verhandlungen nicht durch öffentliche Parlamentsverhandlungen belastet zu werden, ({3}) die unter Umständen ihre Bewegungsfreiheit einschränken könnten. Ich füge aber hinzu, wir können unsere Besorgnisse über den Gang der Verhandlungen nicht unterdrücken, ({4}) und ich möchte hier im Namen meiner Fraktion nur dem einzigen Wunsch Ausdruck verleihen, ({5}) daß wir in den kommenden Wochen die Möglichkeit haben, von den Verhandlungsführern der Bundesregierung in den kommenden internationalen Verhandlungen im zuständigen Ausschuß informiert zu werden und in voller Kenntnis der Sachlage an den endgültigen Entscheidungen mitzuwirken. Denn wenn das Wort von der „gemeinsamen Verantwortung" mehr als eine Deklamation sein soll, dann muß die Zusammenarbeit in diesem Geiste erfolgen. Ich warte diese Informationen ab und enthalte mich jeder Äußerung über einzelne Kombinationen und Spekulationen. Ich will nur auf eines hindeuten. Wir dürfen in den nächsten Wochen und Monaten in keinem Augenblick vergessen, daß es sich bei der Frage unseres Verhältnisses zu Berlin und zum gesamtdeutschen Problem, zum Problem der Wiedervereinigung nicht um eine Frage handelt, die wir nach politischen oder taktischen Zweckmäßigkeiten zu entscheiden haben, sondern daß wir hierbei alle dem Grundgesetz verpflichtet sind. ({6}) Ich hoffe, daß wir uns alle - jeder auf seinem Gebiet und im Bereich seiner Verantwortung - der entscheidenden Bedeutung dieser Sachlage bewußt sind. Drittens. Ein anderer Punkt wird ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des vierten Bundestages sein, ich meine - wenn man so will - das ganze Kapitel der inneren Ausgestaltung der Bundesrepublik zu einem sozialen Rechtsstaat. Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung gesagt, daß dieser Grundsatz unseres Grundgesetzes sozusagen erfüllt sei. Wir werden im Laufe unserer parlamentarischen Arbeit, wie wir es heute schon für eine Reihe von Punkten angekündigt haben, dem Hause auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Wegen unsere Vorschläge in bezug auf die nach unserer Meinung notwendige Ausgestaltung der Bundesrepublik zu einem sozialen Rechtsstaat für alle vorlegen. Wir werden dann sehen, wie Sie sich zu dem verhalten, was nach unserer Meinung zur Erfüllung dieses Grundsatzes nötig ist. Ich will auch hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Man sollte nicht so tun, als habe man es herrlich weit gebracht. Gewiß, es gibt sehr bemerkenswerte Leistungen der Bundesrepublik. Ich darf aber daran erinnern, daß in den meisten Fällen die entsprechenden Gesetze von Regierungskoalition und Opposition gemeinsam verabschiedet worden sind. Ich will Ihnen aber eines sagen, ohne auf weitere Beispiele eingehen zu wollen. Ich habe vor zwei Tagen aus einem persönlichen Grund eine Unterhaltung mit einer Frau gehabt, die 45 Jahre als Hausangestellte tätig war und die in einer großen menschlichen Not zu mir kam, weil sie einfach vor der Frage steht, was aus ihr nach Vollendung deis 65. Lebensjahres werden wird, weil sie, obwohl sie 40 Jahre gezahlt hat, von ihrer heutigen Rente nicht leben kann. ({7}) Das ist ein Fall. Sie kennen alle solche Fälle. Ich bin immer berunruhigt, wenn ich so viel Selbstzufriedenheit und Selbstsicherheit sehe ({8}) und auf der anderen Seite weiß, daß unter uns heute noch Hunderttausende wie diese Frau leben. ({9}) Sie leben in Furcht vor dem Alter, und sie brauchten es nicht. Ich sage das nur als Beispiel, weil es uns hier nicht um irgendeinen Wettlauf geht, sondern um die Erfüllung der elementarsten Dinge in jeder geordneten menschlichen Gemeinschaft unserer Zeit. Ich sage das noch aus einem anderen Grunde. Hier ist von der Notwendigkeit der Verteidigung der Freiheit gesprochen worden. Einverstanden! Wir werden da wie immer in unserer Geschichte unseren Teil übernehmen. Dazu brauchen wir weder Belehrungen noch Ermahnungen. ({10}) Aber ich will Ihnen eines sagen: wir werden die Freiheit - nicht auf militärischem, sondern auf geistigem, politischem und sozialem Gebiet - nicht auf die Dauer erfolgreich gegen die weltweite Intervention des Kommunismus sichern können, wenn wir nicht den Menschen das Gefühl der Freiheit auch dadurch geben, daß sie in einer wirklichen Freiheit von Not und Sorge leben können. ({11}) Da gibt es eben noch viel zu tun, und da liegt das Problem. Ich will das nicht vertiefen. Haben Sie keine Sorge; wir haben genug darüber reden können. Ich bin aber etwas beunruhigt durch eine Bemerkung des Herrn Barzel. Er hat gesagt: Wir müssen die Freiheit sichern; darum ist das Notstandsrecht vordringlich. ({12}) - Entschuldigen Sie, das kann man nachlesen; wir können es beide zusammen tun. Sie haben ihm einen sehr großen Vorrang gegeben. Ich kann Ihnen hier nur sagen, daß meine Freunde erklärt haben: Wir sind bereit, in einer sachlichen Weise über Notwendigkeiten auf diesem Gebiet zu reden. Das ist unsere Haltung. - Bitte sehr!

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, darf ich eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Bitte sehr!

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000102, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ollenhauer, lassen Sie mich das durch eine Frage klarstellen. Erinnern Sie sich, daß ich folgendes gesagt habe: Der Rechtsstaat und die Freiheit dürfen im Falle der Not nicht untergehen; deshalb brauchen wir das Notstandsgesetz?

Erich Ollenhauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001646, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Art von Betrachtungsweise halte ich eben nicht für die entscheidende. Auch dazu nur eine Bemerkung. Was auf dem Gebiet der Notstandsregelung zur Debatte steht, ist ein ganz anderes Kapitel; denn eine innere Gefährdung dieses Rechtsstaates gibt es in Augenblick überhaupt nicht. ({0}) Wo ist sie denn? Was ich bedaure, ist - und das ist der zweite Teil meiner Bemerkung Ihnen gegenüber -, daß Sie als Beweis für Ihre Auffassung gewisse Statuten von Gewerkschaften über politische Streiks zitieren. Mir ist übrigens nicht bekannt, wieweit das zutrifft. Aber das macht doch die Menschen gerade hellhörig. Was ist denn unsere Aufgabe? Unsere Aufgabe ist hier, gemeinsam ein großes Plus für die Demokratie nach 1945 und nach 1949 lebendig zu erhalten, nämlich die staatserhaltende Kraft und Aktivität von 6 Millionen Gewerkschaftlern. Das ist doch die eigentliche Frage. ({1}) Wir müssen hier sehr vorsichtig sein; und ich möchte nicht, daß dieser Akzent von unserer Seite unwidersprochen bleibt. Schließlich - ich will mich darauf beschränken - hat Herr Barzel gemeint, wir seien über unsere Wahlniederlage am 17. September enttäuscht. Nun, solche Niederlagen werden Sie mehr ins Gedränge bringen als uns; ({2}) denn Sie haben die absolute Mehrheit verloren, und Sie werden noch merken, was Sie da noch für Trouble kriegen. ({3}) Uns hat das Zwiegespräch heute schon großen Spaß gemacht. ({4}) Wir werden von der Sache her etwas dazu tun, um es noch ein bißchen anzuregen. Insofern wird dieser neue Bundestag sicher lebhafter als der alte. Wir sollten uns heute durch den trüben Anfang nicht erschüttern lassen. ({5}) Noch ein letztes Wort von meiner Seite aus, und zwar zum Verhältnis von Regierung und Opposition. Wir akzeptieren diese Regierung als die rechtmäßig zustande gekommene, von der Mehrheit des Hauses gebildete Regierung. Unsere Position ist die Opposition. Wir erklären noch einmal, daß wir bereit sind, auch als Opposition, als Vertreter unserer 11,5 Millionen Wähler unseren Teil von Verantwortung, vor allem in den großen nationalpolitischen Lebensfragen, zu übernehmen. Aber ich füge hinzu - und ich hoffe, daß wir hier übereinstimmen -: Mitarbeit und ein gutes, positives Verhältnis zwischen Regierung und Opposition heißt, daß man der Opposition nicht nur zumutet, wenn Not am Mann ist, die bereits bezogene Position der Regierung zu unterstützen, sondern daß man sie in der Weise verantwortlich auch von Ihrer Seite beteiligt, ({6}) daß man sie voll informiert und daß wir an der Gestaltung der Entscheidung dieser großen Lebensfragen auch den uns zugemessenen Anteil haben. ({7}) Von Ihrem Verhalten wird es abhängen, welcher Stil in diesem Hause hier gebraucht wird. ({8})

Dr. Eugen Gerstenmaier (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000669

Meine Damen und Herren, keine Aufregung - mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor -, es ist gar kein Anlaß zur Aufregung! Die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung ist geschlossen, Punkt 2 der Tagesordnung ist erledigt. Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung ein für Donnerstag, den 7. Dezember, vormittags 9 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.