Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren! In der alten Reichshauptstadt Berlin tagen wir zum ersten Male nach den Parlamentsferien. Ich begrüße Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, und hoffe, daß Sie einen angenehmen parlamentarischen Urlaub verbracht haben und daß Sie neugestärkt an die Arbeit zurückkehren. Wir haben uns heute hier vereint, um dem unbezwungenen größten Notstand der Nation wieder einmal die Stirn zu bieten.
Hierhergebracht hat uns die Treue zur Einheit der Nation, die Solidarität mit der Bevölkerung dieser tapferen Stadt und die steigende Not von 17 Millionen Menschen, denen nach wie vor gegen alles menschliche und göttliche Recht die Freiheit der Selbstbestimmung und die Einheit des Lebens in der gewachsenen Einheit der Nation verweigert wird. Wir sind der Meinung, daß an dieser Not kein Deutscher vorübergehen darf, und wir sind der Meinung, daß auch die Welt an dieser steigenden Not nicht vorbeigehen darf.
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In dieser Sache, meine Damen und Herren, herrscht Einmütigkeit in diesem Hause, und ich hoffe, daß diese Einmütigkeit heute hier einen überzeugenden Ausdruck findet.
Ich verbinde mit diesem Wunsch den Dank an Rektor und Senat der Technischen Universität von Berlin für die Gastfreundschaft, die sie dem Deutschen Bundestag auch heute wieder gewährt haben.
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Ich verbinde damit auch den Dank an die Stadt Berlin, an ihren Regierenden Bürgermeister und an das Berliner Abgeordnetenhaus für die freundliche Aufnahme, die uns in diesen Tagen zuteil geworden ist.
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Das Wort zu einem Gruß erteile ich dem Herrn Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin.
Brandt, Regierender Bürgermeister: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf sehr herzlich für das danken, was der Herr Präsident soeben gesagt hat. Ich darf Sie alle namens des Senats und der Bevölkerung von Berlin in dieser Stadt herzlich begrüßen. Ich darf Ihren Verhandlungen einen guten Erfolg wünschen und hoffen, daß das Klima dieser Stadt Ihren Verhandlungen zuträglich ist.
Besonders die heutigen Beratungen dieses Hohen Hauses werden von den Berlinern in beiden Teilen der Stadt und von unseren Landsleuten in der uns umgebenden Zone mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt werden. Ich möchte dem Deutschen Bundestag dafür danken, daß er sich zum wiederholten Male der Not unserer Landsleute in der uns umgebenden Zone annimmt, daß er die eigene Bevölkerung zwingt, sich über ihre wirkliche Lage im klaren zu sein und jeden Tag die Last mitzuempfinden, die einem Teil des Volkes aufgebürdet ist, jenem Teil, der ganz gewiß nicht den Krieg allein verloren hat, und daß die ganze Welt sehr eindringlich auf das Unhaltbare eines Zustandes hingewiesen wird, der dreizehn Jahre nach Kriegsende tagtäglich Hunderte zu Landflüchtigen im eigenen Lande werden und sie zu einem großen Teil hierher in diese Stadt kommen läßt.
Wenn von der Not in der Zone die Rede ist, dann kann Berlin nicht schweigen. Wir haben bisher nicht geschwiegen. Wir werden es auch in der Zukunft nicht tun. Denn wir kennen nur zu gut aus täglicher Berührung die Ursachen des seit zehn Jahren nicht abreißenden Flüchtlingsstroms. Die Funktion, die Aufgabe dieses Berlin hat in diesen Jahren neben anderen darin bestanden und besteht weiterhin darin, daß wir eine Stätte der Zuflucht für bedrängte Landsleute in den und aus den uns umgebenden Gebieten sind. Seit Anfang 1949 sind weit über eine Million Flüchtlinge in dieses Berlin gekommen und durch dieses Berlin in den deutschen Westen hinübergegangen.
Wir werden unser Tor weiter offen halten und anerkennen - ich darf das bei dieser Gelegenheit sagen - dankbar die Hilfe, die den Flüchtlingen und uns durch das Zusammenwirken zwischen Bundesregierung, Bundestag und Ländern zuteil .geworden ist. Ich darf Ihnen versprechen, daß wir unseren Beitrag leisten werden, wenn es sich darum handelt, den Abflug der Flüchtlinge so zu organisieren, daß kein übergebührlicher Stau eintritt. Wir werden weitere Mittel für eine angemessene Ausgestaltung der Lager aufwenden und alles tun, um das Verfahren, dem sich die Flüchtlinge nach der gesetzlichen Regelung zu unterziehen haben, nach Möglichkeit abzukürzen. Es bedarf sicherlich noch zusätzlicher Maßnahmen der Betreuung, um der veränderten Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms
Regierender Bürgermeister Brandt
Rechnung zu tragen, und es bedarf bei der Verteilung und Eingliederung der Flüchtlinge einer behutsamen Praxis, die die Bevölkerungsstruktur dieser Stadt berücksichtigt und den hier gegebenen Notwendigkeiten der wirtschaftlichen Weiterentwicklung Rechnung trägt.
In großer Zahl haben sich Mitbürger aus dem Ostsektor dieser Stadt und Landsleute aus der Zone gerade in den letzten Wochen an uns gewandt, und viele haben gefragt - weil sie uns nach den vielen Reiseerschwerungen, die zwischen den beiden Teilen Deutschlands in Kraft getreten sind, hier eher fragen können -, ob es noch einen Sinn habe, dort zu bleiben, wo sie wohnen. Wir sind hier in Berlin bei dem Standpunkt geblieben, den wir seit Jahren eingenommen haben, nämlich einmal, daß wir kein Recht haben, vom sicheren Hort aus Anweisungen zu erteilen, und wissen, daß keiner leichten Herzens Familie und Haus im Stich läßt. Andererseits sind wir dabei geblieben, daß, wenn man uns um Rat fragt, unsere Antwort lautet: Wir bitten euch, jeden einzelnen, solange er kann, dort zu bleiben, wo er wohnt. Denn die Erhaltung der volklichen Substanz wird auch mit darüber entscheiden, ob wir zur Wiederherstellung unserer staatlichen Einheit gelangen.
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Die letzten Wochen und Monate haben uns in dieser Stadt vor einige ganz besondere Fragen gestellt. Wir haben den erneuten und verstärkten Druck auf die etwa 9000 Ostwestgänger aus den Zonenrandgebieten erlebt, deren einziges Verbrechen oder Vergehen oder wie man es nennen will, darin besteht, daß sie einen vielfach seit Jahrzehnten angestammten Arbeitsplatz in diesem Teil der Stadt innehaben. Das ist nur eine der Sorgen dieser geteilten Stadt in unserem gespaltenen Land.
Der Senat von Berlin hat wiederholt seine Bereitschaft zu Regelungen bekundet, die das Leben erleichtem und die besonders unsinnigen Auswüchse der Spaltung beiseite räumen könnten. Wir haben herausfordernde und, wenn man so will, entmutigende Reaktionen auf solche Vorschläge vernommen, die beispielsweise darauf hinausliefen, den innerstädtischen Verkehr über die Sektorengrenzen hinweg zu regeln oder Zehntausenden von Kleingärtnern und Siedlern dazu zu verhelfen, daß ihnen die seit 1952 unterbundene Nutzung ihrer Grundstücke in den Randgebieten wieder ermöglicht wird.
Ich darf hier noch einmal sagen: An unserer Bereitschaft, losgelöst von den großen politischen Fragen, die wir hier in Berlin nun einmal nicht lösen können, praktische Fragen sachlich zu regeln, hat sich nichts geändert. Unvermindert gilt auch, daß wir in Berlin bestrebt sind, als Ort der permanenten gesamtdeutschen Begegnung unsere Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen.
Ein guter Beitrag war, daß wir mit Hilfe der Mittel des Bundes in die Lage versetzt wurden, einen beträchtlichen Teil der Mitbürger aus dem Ostsektor und der Zone am kulturellen, am geistigen Leben dieser Stadt teilhaben zu lassen. Die Gefährdung der ärztlichen Versorgung in weiten Teilen unserer Umgebung, auch unserer unmittelbaren Umgebung, kann uns vor die Notwendigkeit stellen, über das, was auf diesem Gebiet schon heute geschieht, hinaus zusätzliche Anstrengungen zu machen, um Leben zu retten und ernste gesundheitliche Schäden abwenden zu helfen.
Noch ein Wort zu Berlin, das im Bewußtsein unserer Menschen für ganz Deutschland wirkt und das nach dem Beschluß des 2. Bundestages vom 6. Februar 1957 die Hauptstadt Deutschlands ist. Betrachten Sie es bitte nicht als eine unangemessene Einmischung, wenn ich den Wunsch vortrage, das Hohe Haus möge sich zu gegebener Zeit noch einmal mit dem vom 2. Bundestag am 6. Februar 1957 gegen nur vier Stimmen gefaßten Beschluß über Berlin befassen und ihn überprüfen, um daibei festzustellen, was von ihm schon verwirklicht ist - es ist manches von ihm verwirklicht - und was noch zu verwirklichen bleibt.
Wir hier in Berlin haben mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß der Aufbau des Reichstagsgebäudes in sinnvoller Verbindung mit unserer hauptstädtischen Planung zügig vorangehen soll. Ich denke aber auch an den Teil des Beschlusses vom Februar 1957, der besagt, daß unsere Universitäten und unsere geistigen und kulturellen Institutionen in den Stand gesetzt werden sollen, die ihnen obliegenden gesamtdeutschen Funktionen zu erfüllen. Wir vertrauen darauf, daß die noch offenstehenden Fragen positiv beantwortet werden, damit wir auf dem Wege der wirtschaftlichen und sozialen Sicherung unserer Stadt weiter vorankommen.
Sie alle werden sich davon überzeugen können, daß die Mittel, die der Bund für Berlin aufgewandt hat, kein weggeworfenes Geld gewesen sind;
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Sie werden überall in dieser Stadt spüren, daß im Zusammenwirken zwischen dem Aribeitswillen der Bevölkerung dieser Stadt und der Hilfe aus dem deutschen Westen etwas auf die Beine gestellt worden ist, ein Teilergebnis, auf das wir alle miteinander stolz sein können.
Wir wollen dabei, bitte, immer daran denken, daß viele in aller Welt, in allen Himmelsrichtungen, am Beispiel Berlins ablesen, wie ernst wir es mit unserem Anspruch auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit meinen, und daß wir selber am Beispiel dieser Stadt morgen wie heute nachweisen können, wie sicher wir letzten Endes unserer Sache sind.
Lassen Sie mich aus gegebenem Anlaß dem noch eine Bemerkung hinzufügen. Ich bin dem Außenminister der Vereinigten Staaten dankbar, der dieser Tage nochmals unterstrichen hat, daß es seiner Regierung mit den in Berlin übernommenen Rechten und Pflichten bitter ernst ist. Wir wissen ganz genau, daß wir hier nur arbeiten und aufbauen können unter dem Schutzdach, das die Westmächte über dem freien Berlin errichtet haben.
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Es ist nicht meine Sache, mich mit den Problemen und Sorgen zu befassen und zu belasten, denen die Westmächte in anderen Teilen der Welt gegenüberRegierender Bürgermeister Brandt
stehen. Alber ich darf, um Mißverständnisse zu vermeiden, ganz nüchtern feststellen: es gibt in der Berliner Frage nicht nur eine Interessenlage der betroffenen Mächte, sondern es gibt auch eine klare Rechtsbasis für die Stellung der Alliierten in dieser Stadt. Berlin ist und bleibt die Hauptstadt Deutschlands.
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Meine Damen und Herren! Wir begeben uns - das darf ich für meine Mitbürgerinnen und Mitbürger über das hinaus sagen, was ich kürzlich vor dem Abgeordnetenhaus dieser Stadt zu dem Sie heute beschäftigenden Punkt sagen durfte - vertrauensvoll in die Obhut ,dieses Hohen Hauses, das legitimiert ist, für die Deutschen in der Bundesrepublik und in Berlin zu sprechen, und auf dessen Wort der andere Teil unseres Volkes wartet.
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Ich danke dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin. Sein Wort stellt uns nun hinein in das Thema dieses Tages.
Vor Eintritt in die Tagesordnung spreche ich die Glückwünsche des Hauses aus
der Frau Abgeordneten Wessel zum 60. Geburtstag,
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dem Herrn Abgeordneten Dr. Leverkuehn zum 65. Geburtstag,
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der Frau Abgeordneten Welter ({2}) zum 71. Geburtstag,
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dem Herrn Abgeordneten Reitzner zum 65. Geburtstag,
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dem Herrn Abgeordneten Jahn ({5}) zum 73. Geburtstag,
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dem in den Bundestag zurückgekehrten Herrn Abgeordneten Dr. Schneider ({7}) zum 60. Geburtstag,
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dem Herrn Abgeordneten Stauch zum 60. Geburtstag.
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Ich gebe dem Hause bekannt, daß als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Dr. Arnold der Abgeordnete Meis am 2. Juli 1958 in den Bundestag eingetreten ist.
Mit Wirkung vom 31. August 1958 hat der Abgeordnete Schreiner sein Mandat niedergelegt. Sein Nachfolger ist der Abgeordnete Wilhelm.
Mit Wirkung vom 4. September 1958 hat der Abgeordnete Dr. Meyers ({10}) sein Mandat niedergelegt. Sein Nachfolger ist der Abgeordnete Eplée.
Mit Wirkung vom 10. September 1958 hat der Abgeordnete Euler sein Mandat niedergelegt. Sein Nachfolger ist der Abgeordnete Dr. Schneider ({11}).
Ich begrüße diese Kollegen in unserer Mitte und wünsche Ihnen eine gute Mitarbeit.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 4. bzw. 18. Juli 1958 den nachfolgenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht gestellt:
Gesetz über die Sammlung des Bundesrechts
Gesetz über Preise für Getreide inländischer Erzeugung für das Getreidewirtschaftsjahr 1958/59 sowie über besondere Maßnahmen in der Getreide- und Futtermittelwirtschaft ({12})
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Gewichtsbezeichnung an schweren, auf Schiffen beförderten Frachtstücken
Gesetz zu dem Abkommen vom 22. Mai 1957 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Australischen Bund über den Luftverkehr
Gesetz über die Preisstatistik
Gesetz zu dem Vertrag vom 24. September 1956 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über eine Berichtigung der deutsch-belgischen Grenze und andere die Beziehungen zwischen beiden Ländern betreffende Fragen
Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts
Gesetz zur Änderung vermögensteuerrechtlicher Vorschriften
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Gewährung von Prämien für Wohnbausparer ({13})
Neuntes Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({14})
Drittes Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts
Gesetz zu dem Protokoll zur Änderung des Abkommens zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr
Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1958 ({15})
Geetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1957 ({16})
Der Herr Präsident der Versammlung der Westeuropäischen Union hat unter dem 15. Juli 1958 die Entschließung Nr. 12 und die Empfehlungen Nr. 23 und Nr. 27 der Versammlung sowie die Berichte des Ausschusses für Verteidigungs- und Rüstungsfragen zur Kenntnisnahme übersandt, die als Drucksache 542 verteilt sind.
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 26. August 1958 gemäß Artikel 2 Satz 2 des Gesetzes zu den Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft die Finanz und Verwaltungsbestimmungen für den Entwicklungsfonds ({17}) .übersandt, die als Drucksache 540 verteilt sind.
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 20. August 1958 die Zustimmung der Bundesregierung gemäß Artikel 113 GG zu den Beschlüssen des Bundestages zum Haushaltsplan 1958 mitgeteilt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 8. September 1958 gemäß § 1 Abs. 3 der Reichsschuldenordnung die Anleihedenkschrift 1957 übersandt, die im Archiv zur Einsichtnahme ausliegt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen, der Herr Bundesminister für Verteidigung und der Herr Bundesminister für wirtschaftlichen Besitz des Bundes haben unter dem 9. September 1958 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestags in seiner 176. Sitzung über Art und Umfang der Landbeschaffungsvorhaben berichtet. Ihr Schreiben wird als Drucksache 547 verteilt.
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 13. September 1958 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 ({18}) den vom Bundesminister für Verkehr übersandten Wirtschaftsplan der Deutschen Bundesbahn nebst Wirtschaftsplan für die Sonderrechnung der Bundesbahndirektion Saarbrücken für das Geschäftsjahr 1958 sowie die dazu gehörigen Stellenpläne übermittelt. Der Wirtschaftsplan liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Der Herr Bundesminister für Wohnungsbau hat unter dem 15. Juli 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Förderung von Forschungsaufgaben in der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie von Versuchs- und Vergleichsbauten durch das Bundesministerium für Wohnungsbau ({19}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 522 vervielfältigt.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 28. Juli 1958 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kalbitzer, Dr. Leverkuehn und Genossen betr. Vereinheitlichung des europäischen Verkehrs ({20}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 526 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat unter dem 30. Juli 1958 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wacher, Schwarz, Stingl, Bauknecht, Berberich, Dr. Wolff ({21}) und Genossen betr. Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte ({22}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 528 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat unter dem 31. Juli 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP betr. Gewährung von Mitteln für die Unterbringung von Rentenberechtigten in Altersheimen, Kinderheimen oder ähnlichen Anstalten ({23}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 529 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 14. August 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Fortdauernde Beschlagnahme von Wohnräumen durch die Stationierungstruppen ({24}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 536 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 18. August 1958 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kühlthau, Kramel, Hübner, Brück, Dr. Barzel und Genossen betr. Auswirkungen der Zweiten Novelle zum Gesetz nach 131 GG ({25}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 538 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 21. August 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Annahme von Geschenken durch Beamte und Angestellte der Bundesministerien ({26}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 539 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 5. September 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Steuerausfall durch Abzugsfähigkeit von Parteispenden ({27}) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 544 vervielfältigt.
Der Herr Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg hat unter dem 1. September 1958 eine Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Neugliederung des Gebietsteils Baden des Bundeslandes Baden-Württemberg nach Artikel 29 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes ({28}) ({29}) übersandt, die im Archiv zur Einsichtnahme ausliegt.
Damit, meine Damen und Herren, kommen wir zur Tagesordnung. Einziger Punkt:
Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP betreffend Flüchtlingsfragen und Zonenverhältnisse ({30})
Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage, die ich heute zu begründen habe, trägt die Unterschriften der Vorsitzenden der vier Fraktionen unseres Hauses. Sie ist das Ergebnis gründlichen Überlegens und gründlicher Beratungen der Vertreter dieser vier Fraktionen. Sie ist Ausdruck einer gemeinsamen Sorge. Wir hier im Deutschen Bundestag haben ungeachtet unserer politischen Gegensätze - die wir nicht verhehlen und die wir nicht verwischen wollen -auch gemeinsame Sorgen. Sind doch sogar manchmal gemeinsame Sorgen die Ursachen für die Austragung gegensätzlicher Auffassungen über die Überwindung dieser Sorgen. Mit dieser Anfrage aber wird ein Versuch unternommen, eine brennende gemeinsame Sorge durch gemeinsame Bemühungen zu überwinden.
Ein solcher Versuch, meine Damen und Herren, ist etwas anderes als ein taktisches Manöver oder eine bloße Demonstration. Es hieße die Bevölkerung der Stadt Berlin und die Bevölkerung der sie umgebenden Zone nicht nur unterschätzen, sondern sogar beleidigen, wollte man ihnen zumuten, der Deutsche Bundestag komme eigens zu dem Zwecke nach Berlin, hier ein Schaustück aufzuführen. Wenn
Abgeordnete des deutschen Volkes, die sich sonst weder scheuen noch sich daran hindern lassen, gegensätzliche Meinungen offen auszutragen, gemeinsam einen Schritt zu tun sich entschließen, dann muß ein besonderer Anlaß dazu vorliegen. Und er liegt vor. Unsere gemeinsame Sorge gilt dem Zusammenhalt des deutschen Volkes als eines Volkes im gespaltenen Vaterland.
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Und deshalb, meine Damen und Herren, fragen wir im ersten Punkt dieser Großen Anfrage:
Die seit Jahren dauernde Flüchtlingsbewegung aus dem sowjetischen Besatzungsbereich in das Bundesgebiet und nach Westberlin hat sich in letzter Zeit wieder verstärkt. Die Gründe dafür liegen in einer neuen, zutiefst bedauerlichen Entwicklung in. der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage der mitteldeutschen Bevölkerung?
Was sagen uns, meine Damen und Herren, die Zahlen über die Mitbürger, die aus dem anderen Teil unseres Vaterlandes zu uns kommen? Die Zahlen sagen uns nicht alles; aber sie sagen viel. Mehr als drei Millionen Mitbürger sind als Flüchtlinge über die Zonengrenzen zu uns gekommen. Wenn wir es uns einmal vergegenwärtigen, daß allein seit dem Jahre 1949 in jeder Stunde 25 zu uns gekommen sind, dann werden wir daran erinnert, was für ein großer Strom von Menschen, die Menschen sind wie wir, das ist. Sie sind zu uns gekommen, weil sie dem auf ihnen lastenden Druck entweichen wollten; oder sie sind zu uns gekommen, weil sie nicht mehr zu hoffen wagen können auf eine gerechte Behandlung; oder sie sind zu uns gekommen, weil sie drangsaliert und weil sie gehetzt worden sind. Bauern verließen ihren Boden und ihren Hof. Handwerker und Gewerbetreibende trennten sich von Werkstatt und Unternehmen. Schüler und Studenten, Lehrer und Dozenten entschlossen sich zum Abbruch ihrer Laufbahn. Arbeiter und Angestellte kehrten Betrieben und Werken den Rücken, an deren Aufbau in schweren Jahren aus Trümmern und Demontagen sie häufig durch Hingabe kostbarer Lebensjahre mitgewirkt haben. Wissenschaftler und Ärzte trennten sich blutenden Herzens von Stätten des Wirkens, die ihnen gewiß mehr bedeuteten als bloße Erwerbsplätze.
Was treibt diese Menschen dazu, Flüchtlinge im eigenen Vaterland zu werden? Was zwingt sie dazu, die Heimat aufzugeben? Warum bricht nun bei so vielen auch der Halt entzwei, der sie bisher noch manche Unbill, viel Bedrückung und sehr viel Zwang ertragen ließ, nämlich die Hoffnung darauf, daß doch bald auch sie in einem vereinigten Deutschland mit gleichen Rechten werden leben können? Wie erklärt es sich, daß in den letzten Monaten so besonders viele Ausübende akademischer, geistiger Berufe die Flucht antraten, obwohl doch der Ministerpräsident der Regierung der Sowjetunion noch im Sommer dieses Jahres gesagt hatte, die Spezialisten, wie er sich ausdrückte, sollten bessere Gehälter erhalten, als die Amerikaner zahlen und als man in Bonn zahlt?
Niemand kann doch im Ernst behaupten wollen, bei diesem Strom, bei diesen Scharen flüchtender Menschen handle es sich um Menschen, die den Lockungen eines leichteren, eines angenehmeren Lebens bei uns folgten. Denn viele von denen, die den Schritt jetzt tun oder vor ihnen getan haben, haben Jahre, kostbare Jahre, Jahre harter Entbehrungen durchgestanden, in denen sie zäh und verantwortlich gearbeitet haben. Viele von ihnen haben doch jahrelang ihre Einwände, ihre Bedenken oder ihre Gegnerschaft gegen die im sowjetischen Bereich Deutschlands geübten Methoden zurückzustellen versucht. Manche von ihnen haben guten Gewissens versucht, aus der gegebenen Lage das Beste zu machen. Warum mußten auch sie schließlich aufgeben und den dornigen Weg der Flucht gehen? Muß nicht unser gesamtes Volk die Sorgen und die inneren Nöte unserer Landsleute in Brandenburg, in Mecklenburg, in Thüringen, (in Sachsen, in Sachsen-Anhalt wie seine eigenen Sorgen fühlen und in sich bewegen?
Wir fragen somit ferner in Punkt 2 unserer Großen Anfrage:
Neben dem allgemein verschärften Kurs scheint die Erschwerung der menschlichen Verbindungen zwischen beiden Teilen Deutschlands durch das SED-Regime die mitteldeutsche Bevölkerung besonders zu belasten. Wie haben sich die menschlichen Kontakte und der kulturelle Austausch in neuerer Zeit entwickelt? Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, um von sich aus zur Erleichterung und Verbesserung des Verkehrs und der menschlichen Beziehungen beizutragen?
Mit der Verschärfung des Paßgesetzes der DDR ist deutlich erkennbar eine Drosselung des Reiseverkehrs über die Zonengrenze eingetreten. Sie werden sich daran erinnern, daß wir im vergangenen Winter dazu warnend die Stimme erhoben, nicht nur protestierten, sondern mahnten, man möge nicht freventlich Beziehungen in ein und demselben Volk und in zusammengehörigen Familien zerschneiden. Niemand vermag heute noch bestimmt darauf zu rechnen, daß ihm Reiseerlaubnis oder Aufenthaltserlaubnis im sowjetischen Bereich Deutschlands erteilt wird, selbst wenn er dringendste familiäre Gründe vortragen und beweisen kann. Hartherzig ,und kaltherzig wird sogar die Erlaubnis zum Besuch bei der sterbenden Mutter verweigert.
In den letzten Tagen ist auf der anderen Seite der Zonengrenze einige Male von Überspitzungen, deren sich örtliche Organe schuldig gemacht hätten, die Rede gewesen. Wenn es sich in diesen Fällen um Überspitzungen handeln sollte, so sollten diese Übergriffe aus der Welt geschafft werden. Die Möglichkeiten zu einem einigermaßen geordneten freien Reiseverkehr sind unsäglich eingeschränkt worden. Es hat den Anschein, als sollten die Menschen diesseits und jenseits der Zonengrenze einander mit Gewalt entfremdet werden.
Gerade weil ich vor Jahren in unserem eigenen Bereich versucht habe, Bedenken, die in unserem Bereich gegen eine großzügige Auffassung zugunsten des freien Reiseverkehrs bestanden, überwinden zu helfen, was wir dann auch geschafft haben, gerade deshalb konstatiere ich mit Bitterkeit, wie engherzig jenseits der Zonengrenze bei der Erteilung von Reise- und Aufenthaltserlaubnis verfahren wird. Nachdem man sich in unserem Bereich zum Verzicht auf alle Beschränkungen und zu einer wohlwollenden Förderung des Reiseverkehrs entschlossen hat und nachdem erkennbar geworden ist, welche große Erleichterung das für viele unserer Mitbürger in allen Teilen Deutschlands bedeutet hat, wird nun mit fadenscheinigen Gründen jenseits der Zonengrenze jede Reise- und jede Aufenthaltserlaubnis zu einem Staatsakt gemacht. Rund um Berlin sind außerdem in letzter Zeit Arbeiter belästigt und unter peinlichsten Druck gesetzt worden, weil sie Arbeitsverhältnisse in Berlin, die sie zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten haben, nicht aufgeben - Arbeitsverhältnisse, die jetzt diskriminiert werden. Als seien sie Strafvollzugsbehörden, so befassen sich Dienststellen der DDR heutzutage sogar mit Wäschepaketen, die zwischen Familienmitgliedern über die Zonengrenze hin- und hergeschickt werden. Sogar dieser Verkehr wird erschwert und unterbunden.
Für die Welt außerhalb Deutschlands mag es unverständlich sein, wie Deutsche mit tödlichem Ernst einander das Leben zur Hölle machen.
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Für unser Volk selbst haben diese Schikanen zur Folge, daß es immer schwerer wird, den familiären und den menschlichen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Mit einer heimtückischen Perfektion wird Mißtrauen und Mißgunst gesät. Heimtückisch: ich wähle das Wort nicht zufällig, weil zu den Folgeerscheinungen dieser Art von Knebelung und von Willkür in der Erteilung oder Nichterteilung von Reise- und Aufenthaltserlaubnis auch gehört, daß diejenigen, die sie bekommen, noch dem Verdacht ausgesetzt werden - vielleicht bewußt, wer weiß das? -, sie hätten vielleicht eine besonders begünstigte Stellung bei den Behörden, die darüber zu befinden haben. Deswegen nenne ich das eine heimtückische Perfektion.
Es muß der Eindruck erweckt werden, als werde alles darauf angelegt, die Zonengrenze zu einer unüberbrückbaren Kluft werden zu lassen. Wie verträgt sich damit die Erklärung der Sowjetregierung in ihrer Note vom 18. September dieses Jahres, daß die Sowjetregierung - ich folge ihrem Text - „mit vollem Verständnis und Mitgefühl" der Lage gegenüberstehe, in der sich das deutsche Volk befindet? Sollte die Regierung der UdSSR, wenn sie Verständnis und Mitgefühl hegt, nicht auch den Willen und die Kraft haben, ihren Beitrag zu einer positiven, zu einer gütlichen, zu einer menschlichen Regelung dieser Angelegenheiten zu leisten?
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Die Hoffnungen vieler gedrückter Menschen in allen Teilen unseres Vaterlandes verdichten sich zu der Erwartung, die Bundesregierung möge ihrerseits alle Hebel in Bewegung setzen. Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, in Fortsetzung
etwa der Erwägungen, die der frühere Bundesminister Jakob Kaiser am 30. Mai des Jahres 1956 im Namen der Bundesregierung in Beantwortung einer ebenfalls gemeinsamen Großen Anfrage im Bundestag angestellt hat, solche Hebel in Bewegung zu setzen? Wir fragen deshalb weiter im dritten Punkt unserer Anfrage:
Was gedenkt die Bundesregierung innerdeutsch und international zu tun, um eine Besserung der Situation der mitteldeutschen Bevölkerung zu erreichen?
Meine Damen und Herren! Diejenigen, die diese Anfrage beraten und unterzeichnet haben, waren sich darin einig, daß ,es nicht bei der Feststellung der Nöte und bei dem Protest gegen die dafür Verantwortlichen sein Bewenden haben darf. Sollten nicht - das ist die Frage - Bemühungen angestellt und zu positiven Ergebnissen entwickelt werden können, die wenigstens zu einem menschlich erträglichen Modus vivendi des Zusammenlebens der Deutschen in ihrem eigenen Vaterland führen könnten? Oder gibt es - das wäre festzustellen - Kräfte - gibt es sie? -, die daran interessiert sind, die Deutschen im eigenen Vaterland gegeneinander zu hetzen? Als die Vier Mächte im Jahre 1949 in Paris nach mehrwöchiger Außenministerkonferenz feststellten, daß sie die Spaltung Deutschlands bei jener Gelegenheit nicht zu überwinden im Stande waren, haben sie doch wenigstens in ausführlichen Erklärungen, die nicht frei gegeben wurden, sondern die vereinbart waren und daher ein größeres Gewicht beanspruchen dürfen, ihre Bereitschaft ausgedrückt, am Zustandekommen eines Modus vivendi mitzuwirken, der die Auswirkungen der noch nicht überwundenen Spaltung lindern könnte. Sollte es völlig aussichtslos sein, diesen inzwischen offenbar verschütteten Faden wieder aufzunehmen?
Kürzlich wurde von der Regierung jenseits der Zonengrenze öffentlich erklärt, man könne auch über die Erleichterungen im Reiseverkehr zu Regelungen gelangen, wenn die Bundesrepublik auf Tätigkeiten verzichte, die gegen die Ordnung jenseits der Zonengrenze gerichtet seien. War das nur eine dialektische Redewendung, oder ging es darum, mit der Möglichkeit einer Erleichterung, einer Minderung des auf den Menschen lastenden Druckes zu winken, um damit ein politisches Ziel zu erreichen? Abgesehen davon, daß es - jedenfalls für meinen Geschmack und sicherlich auch für den Geschmack vieler anderer - schrecklich ist, Menschlichkeit und Menschenrecht nur unter ganz bestimmten Bedingungen gewähren zu wollen, sollte es doch nicht unmöglich sein, einwandfrei festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland weder den Bewohnern des sowjetischen Bereichs Deutschlands etwas abverlangt oder auferlegt noch von Bewohnern der Bundesrepublik gegenüber den im sowjetischen Bereich geltenden Ordnungen etwas fordert, was die Behörden im sowjetischen Bereich Deutschlands berechtigen könnte, Repressalien anzuwenden. Sollte um der Menschlichkeit und um des lieben Friedens willen nicht ein Weg gefunden werden können, das einwandfrei zu klären und einwandfrei für alle sozusagen erkennbar zu machen? Ich bin der Überzeugung, daß die Organe der Bundesrepublik nicht zögern würden, dazu ihre Hand zu bieten. Könnten, ja sollten nicht die guten Dienste der Regierungen befreundeter und neutraler Staaten oder hervorragender Persönlichkeiten erbeten und gewonnen werden?
Wir fragen schließlich unter Punkt 4 unserer Anfrage:
Der verstärkte Flüchtlingsstrom hat offenbar zu Schwierigkeiten der Unterbringung geführt. Was hat die Bundesregierung getan und was gedenkt sie notfalls zusätzlich zu tun, um das Los der Flüchtlinge zu erleichtern und ihre Eingliederung zu beschleunigen?
Ich verzeichne mit Dankbarkeit, daß das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte sich für sofort wirkende Maßnahmen zur Entlastung Berlins und zur Vereinfachung der Aufnahmeverfahren eingesetzt und sie ins Werk gesetzt hat. Die Regierungen der Länder haben für sich und haben in Beratungen des Bundesratsausschusses für gesamtdeutsche Fragen geholfen, der Notlage zu steuern. In diesen Richtungen und in dieser Hinsicht wird weitergearbeitet und vereinfacht werden müssen.
Es ist sicher nicht unbescheiden, bei dieser Gelegenheit die Aufmerksamkeit der Bundesregierung auf die Notwendigkeit der Unterstützung Berlins bei seinen Bemühungen um den Ausbau der provisorischen Unterkünfte in Berlin zu lenken; aber es wäre gut, ja, es wäre - das darf ich mir vielleicht erlauben zu sagen - ein Segen, wenn in unserem Volke das Bewußtsein stärker würde, daß auch eine private Pflicht zur Hilfeleistung besteht und erfüllt werden muß.
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Nicht alles und häufig noch nicht einmal das eigentlich Wesentliche ist durch Gesetze, durch Verordnungen oder durch Behörden zu regeln. Sehr wesentlich, wenn nicht am wesentlichsten ist es, den Mitbürgern von jenseits der Zonengrenzen die Herzen zu öffnen und so dazu beizutragen, daß ihnen die Wärme gegeben wird, die sie brauchen nach dem, was hinter ihnen liegt, und auf dem Wege, zu dem sie sich letztlich entschlossen haben.
Drüben weist man offiziell und in Presseverlautbarungen höhnisch darauf hin, daß z. B. Jugendliche nach ihrer Flucht hin- und hergerissen werden zwischen den Teilen Deutschlands und daß manche von ihnen in der Fremdenlegion landen. Wir hier im Bundestag haben das nie bestritten. Wir haben uns damit sehr ernsthaft befaßt. Wir wollen uns nicht damit begnügen, festzustellen, daß diejenigen. die so höhnen, vor allem daran schuld sind, daß junge Menschen in gefährliche Strudel gestoßen oder gedrängt werden.
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Nun, ich greife das heraus, weil wir - wir und alle in unserem Volk - versuchen müssen, besonders den jungen Menschen zur Seite zu stehen. Sie dürfen nicht frösteln, weil sie sich außerhalb unserer
Kreise gesellschaftlicher oder anderer Art fühlen oder außerhalb unserer Vereinigungen oder sonstiger Gemeinschaften fühlen.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, am Schluß noch die persönliche Bemerkung dessen, der diese Große Anfrage der vier Fraktionen dieses Hauses begründet hat. Ich habe in diesem Hause oft mit im Mittelpunkt scharfer Auseinandersetzungen um die Wege zur Lösung nationalpolitischer und anderer Fragen gestanden, und es wird nicht ausbleiben, daß ich es auch weiterhin tue.
Wenn ich, als mir aufgetragen wurde, diese Große Anfrage zu begründen, es übernommen habe, dies zu tun, so auch deshalb, weil ich damit kennzeichnen will, daß es gemeinsame Sorgen auch in dem Hause gibt, in dem wir sonst von der Pflicht nicht entbunden sind, uns auseinanderzusetzen, notfalls zu streiten.
Möge auch diese Bemerkung mit dazu beitragen, nicht irgendein Klima zu erzeugen, das man erst schaffen müßte, sondern draußen deutlich zu machen, daß es sich hier um eine gemeinsame Sorge und um den gemeinsamen Versuch zu Schritten zur Überwindung dieser Sorge handelt. - Ich danke Ihnen.
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Sie haben die Begründung der Großen Anfrage gehört. Das Wort zur Beantwortung hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Befriedigung habe ich die überzeugende Begründung der von den Fraktionen dieses Hauses gestellten Anfrage durch Herrn Abgeordneten Wehner zur Kenntnis genommen. Es entspricht ganz gewiß der Unruhe, von der in steigendem Maße unser Volk erfaßt ist, daß sich dankenswerterweise alle Fraktionen dieses Hohen Hauses zu der Großen Anfrage vereinigt haben, auf die namens der Bundesregierung zu antworten ich die Ehre habe.
Das deutsche Volk hat sich an die Fortdauer der staatlichen Trennung seines Landes keineswegs gewöhnt, wie in der Welt gelegentlich vorausgesagt worden ist und wie heute noch auch hier und da vermutet wird, sondern sein Unmut ist im Wachsen, weil ihm im vierzehnten Nachkriegsjahr immer noch vorenthalten wird, was von allen Völkern als natürliches Recht angesehen und gefordert wird, nämlich seine Geschicke unabhängig von äußerer Bevormundung und äußerer Einmischung selbst zu bestimmen.
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Das kommt auch in der Note zum Ausdruck, die die Bundesregierung auf Grund eines einmütig gefaßten Beschlusses des Deutschen Bundestags Ausgang dieses Sommers an die Regierungen der Vier Mächte gerichtet hat. Die Bundesregierung hat mit Dank davon Kenntnis genommen, wie positiv und realistisch die Regierungen der drei Westmächte gestern auf die Note der Bundesregierung geantwortet haben, und auch mit Befriedigung von der Note Kenntnis genommen, die gleichzeitig an die Regierung der Sowjetunion weitergeleitet worden ist. Nun, auf die Zusammenhänge einzugehen, die durch die Noten angesprochen wurden, ist nicht meine Aufgabe.
Die Anfrage bezieht sich auf akute Zustände und auf Vorgänge, die sich aus der Fortdauer der Spaltung Deutschlands ergeben. Ihre Beantwortung und die Aussprache darüber erfolgen nicht zufällig in dieser Stadt, in der sich die Tragik der Deutschen mehr als in jeder anderen symbolisiert. Die Bevölkerung des geteilten Berlin - darauf wurde bereits vom Herrn Regierenden Bürgermeister dieser Stadt hingewiesen - erlebt Schicksal und Leiden der Menschen in der Zone unmittelbar. Hier findet der größere Teil der Flüchtlinge aus den mitteldeutschen Ländern ihr erstes Asyl. Vor den Augen und Ohren der Berliner offenbart sich die erschütternde Not der Menschen, die täglich zu Hunderten unter Zurücklassung der Heimat, von Hab und Gut einströmen. Davon und von der Not unserer Landsleute im Machtbereich der kommunistischen Herrschaft auf deutschem Boden zu sprechen, kann nach unserer Meinung in keiner Stadt sinnvoller sein als in Berlin.
Bundestag und Bundesregierung sind mit dem ganzen deutschen Volk beunruhigt, daß seit der Spaltung unseres Landes mehr als 3 Millionen Menschen ihre mitteldeutsche Heimat verlassen mußten, von denen vom 1. Januar 1949 bis zum 31. August 1958 allein über 2 Millionen den Antrag auf Durchführung eines Bundesnotaufnahmeverfahrens gestellt haben. Was den Fraktionen dieses Hohen Hauses Anlaß gegeben hat, die Bundesregierung zur Stellungnahme aufzufordern, das ist gewiß der Umstand, daß der Flüchtlingsstrom nicht abreißt und ständig weitergeht. Neuerdings erfaßt er auch hochqualifizierte Bevölkerungsgruppen.
Ich darf versichern, daß diese Entwicklung von der Bundesregierung mit großer Besorgnis verfolgt wird. Wenn sie nach den Gründen gefragt wird, so darf ich zum Ausdruck bringen, daß nach Meinung der Bundesregierung die politische Flüchtlingsbewegung in das Bundesgebiet vor allem auf die tiefe geistige Not und den Gewissenszwang zurückzuführen ist, denen die Bevölkerung in Mitteldeutschland durch die bewußt verschärfte Spaltungspolitik des sowjetzonalen Regimes seit einiger Zeit ausgesetzt ist.
Die beschleunigte Sowjetisierung der Zone, bei der es darauf ankommt, die Bewußtseinsumwandlung der Mitteldeutschen mit ihrer vorherrschend nichtkommunistischen Denkweise rücksichtslos zu erzwingen und die letzten Reste von Bindungen an die Landsleute in der Bundesrepublik zu beseitigen, hat allerdings zu unerträglichen Maßnahmen der sowjetzonalen Machthaber geführt. Auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung wird keine Rücksicht genommen. Ihre Lage hat sich dementsprechend außerordentlich verschlechtert. Da die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor nicht gewillt ist, sich dem Druck und den Terrormaßnah2398
men zu beugen, verlassen allzu viele Haus und Hof, fast immer unter Zurücklassung von Hab und Gut.
Für diese Flucht sind kaum noch materielle Erwägungen maßgebend, sondern seelische Not und Verzweiflung über die zunehmende Unfreiheit und den Gewissenszwang. Feierlich lassen Sie mich für die Bundesregierung versichern, daß sie wohl in dieser Abwanderung von Millionen aus jenem Teil unseres Vaterlandes, der vom Kommunismus beherrscht wird, ein eklatantes Fiasko dieses unserer Tradition und Lebensauffassung widersprechenden Regimes erblickt,
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daß sie aber über diese anhaltende Republikflucht, wie man sich drüben ausdrückt, aufs tiefste besorgt ist.
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Dieser Ausdruck der geschwächten Bevölkerungssubstanz in Mitteldeutschland wird von der Bundesregierung keineswegs gewünscht, geschweige denn gefördert. Die Abwanderung aus diesem Raum muß vielmehr als nationale Gefahr gekennzeichnet werden.
Lassen Sie mich über die Gründe ganz sachlich einiges sagen, und es wäre für die regierenden Herren jenseits des Brandenburger Tores dienlich, wenn sie aufmerksam davon Kenntnis nehmen würden.
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Als besonders beängstigend springt in letzter Zeit die Flucht der Ärzte in die Augen. Wie sich zeigt, ist diese Flucht - wie übrigens bei anderen Bevölkerungsgruppen auch - eine Folge der verstärkten Sowjetisierung. Die nüchternen und so vielsagenden Zahlen sind folgende: Seit dem 1. Januar dieses Jahres bis zum 31. August sind 813 Ärzte, Tierärzte und Zahnärzte gegenüber 260 im gleichen Zeitraum des Vorjahres sowie 115 Apotheker gegenüber 33 im Vorjahre aus Mitteldeutschland in die Bundesrepublik geflohen. Diese Flucht hat zu bedrohlichen Zuständen an einigen Schwerpunkten der öffentlichen Gesundheitspflege in der Zone geführt. Zahlreiche Ortschaften und auch ganze Krankenhäuser sind vorübergehend ohne ärztliche Betreuung.
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Mit größter Sorge beobachtet die Bundesregierung diese Entwicklung und wiederholt auch an dieser Stelle die Bitte an alle Ärzte in der Sowjetzone, im Interesse unserer Menschen so lange auszuhalten, wie es überhaupt nur möglich ist.
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Reichlich spät hat sich das Politbüro der SED unter dem Druck 'dieser Ärzteflucht veranlaßt gesehen, eine Reihe von Maßnahmen zu korrigieren. Wir können nur hoffen, daß die in Aussicht gestellten Lockerungen auch wirklich eintreten und nicht nur für vorübergehende Zeit und nicht nur für die Ärzte bestimmt sind.
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Die Bundesregierung hat - ,das muß hier mit aller Deutlichkeit wiederholt werden - niemals und zu keiner Stunde Ärzte aus der Zone abgeworben oder ihre Hände zu Abwerbungen geboten, wenn das Politbüro der SED dies auch immer wieder zu 'behaupten wagt.
Warum verlassen die Ärzte die Zone? Weil die SED sie zwingen will, auf selbständiges Denken zu verzichten, weil die SED versucht, ihr ärztliches Gewissen auszuschalten und damit auch ihre innere Freiheit zu vernichten. Man ist nachweislich so weit gegangen, den Ärzten aufzugeben, bei der Verschreibung hochwertiger und teurer Medikamente auch die politische Haltung des Patienten zu berücksichtigen.
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Besonders peinlich muß der kommunistischen Regierung in Ost-Berlin die Flucht der in wissenschaftlicher Forschung und Lehre stehenden Menschen sein. Seit Anfang dieses Jahres haben mehr als 250 Professoren, Dozenten und Assistenten die SBZ verlassen. Nicht weil es ihnen dort etwa materiell schlecht ginge; keineswegs! Alle betonen - soweit wir mit ihnen sprechen konnten -, daß sie gut, ja reichlich bezahlt worden seien und materiell keine Not zu leiden gehabt hätten. Für ihre Flucht ist allein ausschlaggebend die sogenannte sozialistische Umgestaltung der Hochschulen, die die SED seit Beginn dieses Jahres betreibt. Diese Sozialisierung verlangt von den Professoren, Dozenten und Assistenten ein eindeutiges und öffentliches Bekenntnis zum dialektischen Materialismus, ein Bekenntnis, das eben viele nicht abzulegen vermögen, da es nach ihrer Ansicht gleichzeitig ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus ist.
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Dazu kommt, daß von einer Autonomie der Hochschulen nicht mehr die Rede sein kann, daß Freiheit der Lehre und Freiheit der Forschung, von der Verfassung der DDR zwar garantiert, nur noch auf dem Papier stehen, daß die Gelehrten durch Reiseverbote von der lebendigen Verbindung mit der wissenschaftlichen Entwicklung in der westlichen Welt abgeschnitten und ihre menschlichen und wissenschaftlichen Beziehungen zu ihren Kollegen unterbunden werden. Wenn ein Gelehrter wie der Rektor der Universität Jena, Professor Dr. Hämel, vier Tage vor dem 400jährigen Jubiläum seiner Alma Mater, der er mit Hingabe und Treue Jahrzehnte gedient hat, flüchtend seine Wirkungsstätte verlassen mußte, weil ihn der SED-Staat zwingen wollte, ein öffentliches Bekenntnis zur Entrechtung seiner Hochschule abzulegen, dann zeigt dieser Vorgang mit aller Deutlichkeit, 'in welche unlösbaren Gewissenskonflikte die SED die wissenschaftlich arbeitenden Menschen stürzt.
An 'den Universitäten und Hochschulen sind im Anschluß an die dritte Hochschulkonferenz der SED im März dieses Jahres weitere Maßnahmen zur Politisierung unternommen worden. Während bisher zwar für alle Studenten das sogenannte gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium, in dem der Marxismus-Leninismus gelehrt wurde, obligatorisch
war, das Fachstudium aber noch bis zu einem gewissen Grade unpolitisch und unausgerichtet danebenstand, geht jetzt die SED mit Eifer daran, auch das Fachstudium völlig im Sinne des dialektischen Materialismus zu politisieren. Die aus der Politisierung des Studiums entstehenden Gewissenskonflikte sind für viele Studenten Anlaß zur Flucht.
Gegenüber der antimilitaristischen Propaganda, die von den Kommunisten selbstverständlich nur außerhalb ihres Herrschaftsbereichs betrieben wird,
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ist der Hinweis angebracht, daß auch die erzwungene Militarisierung der akademischen Jugend von vielen geflüchteten Studenten als Grund angegeben wird. Ihnen wird die Teilnahme an Kursen der Volksarmee oder an Veranstaltungen der vormilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik, die ihre Tätigkeit in enger Verbindung mit der Volksarmee durchführt, zur Pflicht gemacht. Beispielsweise wurde an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin durch akademischen Senatsbeschluß eine militärische Ausbildung für die 5000 männlichen Studenten angeordnet und die Erwartung daran geknüpft - ich zitiere wörtlich , „daß sich jeder Student der Auszeichnung, an der militärischen Ausbildung teilzunehmen, um im Notfall die Errungenschaften der DDR verteidigen zu können, durch vorbildliche Disziplin und Einsatzbereitschaft würdig erweist".
Ungewöhnlich ist auch die zunehmende Lehrerflucht, die ebenfalls auf wachsenden politischen I und weltanschaulichen Druck zurückzuführen ist. Allein im August haben sich 619 Lehrer im Notaufnahmeverfahren gemeldet.
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412 von ihnen, also mehr als zwei Drittel, haben ihre Ausbildung erst nach 1945 erhalten. Seit Jahresanfang flohen bisher mehr als 2500 Lehrer. Da in der sowjetischen Besatzungszone allgemein bekannt ist, daß im Bundesgebiet ein Nachstudium von mehreren Semestern gefordert wird, und der größte Teil der Lehrer bereits längere Zeit im Schuldienst tätig ist und viele auch verheiratet sind, wird deutlich, wie groß der Konflikt ist, der sie zur Aufgabe ihrer beruflichen Existenz veranlaßt.
Das Zentralkomitee der SED hat die Parole, ausgegeben: Sozialistische Erziehungsstätten brauchen sozialistische Lehrer. Um Mißverständnisse auszuschließen, darf ich bemerken, daß in der Sprache der SED nicht der demokratische Sozialismus westlicher, sondern der Sozialismus volksdemokratischer Prägung gemeint ist. Der Leiter der Abteilung Volksbildung im Zentralkomitee dieser Partei hat im Frühjahr betont, daß die bedeutendste Gegenwartsaufgabe für die Parteiorganisation, die staatlichen Volksbildungsorgane und die Gewerkschaften darin läge, alle Lehrer zu sozialistischen Lehrern zu entwickeln und dahin zu wirken, daß sie von der Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung überzeugt würden. Es wird von ihnen erwartet, daß sie sich von „bürgerlich begrenzten" - ich zitiere - „unwissenschaftlichen und religiösen Anschauungen" frei machen, und verlangt, daß sie die Kinder in der dialektisch-materialistischen Weltanschauung erziehen.
Besonders überprüft werden die Lehrer, die noch in irgendeiner Beziehung zu Kirchen und kirchlichen Institutionen stehen. Nachdem man zunächst mit propagandistischen Mitteln wenig Erfolg hatte, geht man jetzt rücksichtslos vor bis zur Forderung von Kirchenaustritt und Androhung fristloser Entlassung.
Dem ärgsten Konflikt aber sind alle diejenigen Menschen ausgesetzt, die als bekenntnistreue Christen ihre Kinder im christlichen Glauben erziehen wollen. Sie müssen es ,ablehnen, sich zu dem staatlich geförderten Atheismus zu bekennen. Der Druck, der dann auf sie ausgeübt wird, ist unerträglich, wenn es auch nach meinen Eindrücken örtliche Unterschiede gibt. Auf Weisung der SED müssen die Lehrer bereits vor Beginn des Schuljahres die Eltern der Schulanfänger besuchen und sie dahingehend beeinflussen, daß sie ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht anmelden. Für die heranwachsenden Jugendlichen wird statt der kirchlichen Konfirmation die staatliche Jugendweihe immer mehr verbindlich gemacht. Von Jahr zu Jahr wächst daher die Teilnahme an dieser Einrichtung - das wollen wir nicht verschweigen - und hat in manchen Städten schon bis zu 45 % der Schulentlassenen geführt; nicht weil die Jugend und die Eltern von der Notwendigkeit der Jugendweihe überzeugt wären, sondern weil die angedrohten Nachteile im Beruf und in der Erwerbstätigkeit für das künftige Fortkommen überaus einschneidend sind. Neuerdings wird neben der Jugendweihe die Kinderweihe und die sozialistische Eheschließung propagiert. Bei der Kinderweihe müssen Eltern und Paten geloben - wie es wörtlich heißt -,
ihre ganze Kraft dafür einzusetzen, das Kind für die große und edle Sache des Friedens und des Sozialismus zu erziehen.
Für die sozialistische Eheschließung lautet das vorgeschriebene Gelöbnis:
mit gemeinsam tätiger Kraft die sozialistischen Errungenschaften und die Macht des Arbeiter- und Bauernstaates zu mehren.
Auf die Gewissensnöte der Geistlichen beider Konfessionen brauche ich in diesem Zusammenhang nur hinzuweisen. Ich darf feststellen: Noch heute befinden sich bis heute! - 32 Geistliche und kirchliche Amtsträger beider Konfessionen in Haft. 440 Mitglieder der christlichen Gemeinde „Zeugen Jehovas" befinden sich ebenfalls um ihres Bekenntnisses willen in den Gefängnissen. Daß einzelnen Oberhirten der Kirchen die Einreise zur Ausübung der Seelsorge verboten wird, ist bekannt.
Hier muß auch festgestellt werden, daß in den Gefängnissen und Zuchthäusern der Zone nach unseren zuverlässigen Berechnungen noch heute mehr als 10 000 politische Häftlinge den Tag ihrer Freiheit herbeisehnen.
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Alles dieses, meine Damen und Herren, muß verantwortet werden von reiner Regierung, die niemals bisher von ihrer Bevölkerung reine demokratische Legitimation für ihre Maßnahmen erhalten hat.
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Statt nun angesichts der ablehnenden Haltung aller Kreise, ob Arbeiter, Bauern, Akademiker, Mittelständler oder gar selbst von Funktionären in Partei, Staat und Wirtschaft, kritisch mit sich selbst zu verfahren, wird mit unmenschlichen Mitteln versucht, die Republikflucht zu verhindern. Durchsuchungen, Absperrungen, Kontrollen, Beschlagnahmen, propagandistische Beeinflussung und harte Bestrafung sind die Mittel, die täglich zur Anwendung gelangen.
Unter den Maßnahmen, die die größte Unruhe in der Bevölkerung der Sowjetzone hervorgerufen haben, ist in erster Linie das unter dem 11. Dezember 1957 erlassene Änderungsgesetz zum Paßgesetz zu nennen. Danach werden Reisen innerhalb Deutschlands wie Auslandsreisen behandelt.
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Sie sind genehmigungspflichtig, und jede Nichteinhaltung der Vorschriften wird unter schwere Strafe gestellt.
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In dem zu gleicher Zeit erlassenen Strafrechts-Ergänzungsgesetz findet sich neben anderen höchst ungewöhnlichen Straftatbeständen die Bestimmung des § 21, wonach mit Bestrafung mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, in schweren Fällen mit Todesstrafe zu rechnen hat, wer es unternimmt, zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik zu verleiten.
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Vor den Kreisgerichten in der Sowjetzone häufen sich jetzt die Prozesse gegen die sogenannten Republikflüchtlinge, die beim Versuch, die Sowjetzone ohne die vorgeschriebenen Dokumente zu verlassen, festgenommen worden sind. Nicht nur die vollendete Straftat, sondern auch der Versuch und Vorbereitungshandlungen werden bestraft. Selbst indirekte Teilnahmeformen wie das Nachsenden von Paketen durch Eltern an ihre Kinder führen zu Verurteilungen.
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Weitere Drangsalierungen ergeben sich aus der Neukonstruktion einer DDR-Staatsangehörigkeit. Während die sowjetzonale Verfassung in Artikel 1 Abs. 4 noch ausdrücklich bestimmt, daß es nur e in e deutsche Staatsangehörigkeit gibt, wird nunmehr in einer bloßen Verwaltungsanordnung erstmals von einer Staatsangehörigkeit der Deutschen Demokratischen Republik gesprochen. Dies geschieht, ohne daß die damit gebrochene Verfassung vorher oder bisher etwa geändert worden wäre. Aus dieser vorgeblichen Staatsangehörigkeit der DDR wird gefolgert, daß ehemalige Republikflüchtige, die z. B. besuchsweise nach langen Jahren des Aufenthalts in der Bundesrepublik vorübergehend in die SBZ einreisen, festgehalten werden, daß ihnen die Bundespersonalausweise abgenommen, daß sie bestraft und schließlich an der Wiederausreise in das Bundesgebiet gehindert werden, um sie so mit Gewalt zum Verbleib in der Sowjetzone zu zwingen.
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Mit der gleichen Begründung der Staatsangehörigkeit der „DDR" werden Kinder republikflüchtiger Eltern an der Familienzusammenführung oder Heimkehr zu ihren Elterngehindert. Den Eltern werden nicht nur die Kinder vorenthalten, sondern es wird ihnen auch förmlich dais Sorgerecht über ihre Kinder entzogen,
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indem diese Kinder gegen den Willen der Eltern in, wie es heißt, Pflegschaft der DDR übernommen werden.
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Wie es in einem entsprechenden Rundschreiben sowjetzonaler Stellen heißt, soll dieses Verfahren laufend angewendet werden, um zu verhindern -ich zitiere -, „daß diese Kinder uns entzogen werden".
Unter den Flüchtlingen befinden sich begreiflicherweise von Anfang an zahlreiche Angehörige des bäuerlichen und gewerblichen Mittelstandes. Mit Stolz hat die SED verkündet, daß es am 31. August 9290 landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gegeben hat. Über ein Drittel der landwirtschaftlichen . Nutzfläche soll durch sie bewirtschaftet werden. Ende vorigen Jahres waren es nur 6691. Um rund 400 hatte sich die Zahl dieser Genossenschaften im letzten Jahr erhöht. Heute sind es 400 und mehr in jedem Monat.
Man sagt, das geschehe völlig freiwillig, kein Druck und kein Zwang werde ausgeübt. Im „Neuen Deutschland" vom 18. September dieses Jahres lesen wir:
Viele neue, gute Methoden der Überzeugung wurden angewandt, manches alte, bewährte Mittel der Agitation ausgegraben.
Eine bezeichnende Erläuterung für die behauptete Freiwilligkeit!
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Bloße Überzeugungsarbeit dieser Art reicht aber offenbar nicht aus. Die kleineren Funktionäre erhalten ihre Aufträge und wissen nicht, wie sie sie erledigen sollen. Sie wenden deshalb gröbere Mittel an. Wie das vor sich geht, ist im gleichen Artikel des „Neuen Deutschland" zu lesen. Wörtlich heißt es:
Da im Bezirk Kottbus erst 18 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche sozialistisch bewirtschaftet werden, begann nun eine wüste Hektar- und Prozentjägerei. Der Kreis Luckau erhielt z. B. die Auflage, bis zum nächsten Jahr 75 % aller Bauern - heute sind es 30 % - für die Genossenschaft zu gewinnen. So schlossen dann die Funktionäre ihre Büros, schwärmten aufs Land aus, um den Bauern lästig zu fallen, die mit der Ernte zu tun hatten. Niemand wollte sie haben, und so schlugen sie denn Zelte für sich mitten im Dorf auf.
So zu lesen im Zentralorgan der SED!
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Im Zeichen dieser revolutionären Ungeduld - so heißt es weiter entstanden auch Flugblätter, die statt Argumenten und Tatsachen Drohungen und Beschimpfungen enthielten und die zur Zeit der Illegalität nachts an die Hoftore geklebt wurden. Bauern, die noch nicht bereit sind, in die Genossenschaft einzutreten, wurden schlechthin als Verräter gebrandmarkt.
So das „Neue Deutschland". Besser können Druck, Zwang, Zermürbung allerdings nicht gekennzeichnet werden als durch diesen Zeitungsbericht. Solche Methoden werden jetzt zwar gerügt, aber sie werden weiter angewandt.
Wie auf dem Lande geht es auch in der Stadt zu. Die Handwerker hatten sich his vor kurzem noch fast völlig selbständig gehalten, und manchen von ihnen ist es wirtschaftlich nicht übermäßig schlecht gegangen. Nun aber werden sie mit den Mitteln der „Überzeugung" dazu gebracht, sich zu handwerklichen Produktionsgenossenschaften zusammenzuschließen.
Zu diesen Mitteln gehört es beispielsweise, daß man ihnen zu wenig Material zuteilt oder die Preise für ihre Leistungen herabsetzt. Ähnlich verfährt man mit den privaten Kaufleuten, die keinen Kommissionsvertrag mit dem staatlichen Großhandel abschließen, also nicht Handelsangestellte werden wollen. Man gibt ihnen zu kleine Kontingente und die schlechtere Ware, so daß ihre Kunden notgedrungen zur HO abwandern. Industrielle werden schikaniert, wenn sie sich nicht entschließen können, eine staatliche Kapitalbeteiligung anzunehmen und so wenigstens halbsozialistisch zu werden. Man stellt ihnen unberechtigte Steuernachforderungen, beschuldigt sie eines Wirtschaftsverbrechens, wirft ihnen Sabotage des Exportprogramms vor und dergleichen mehr, bis sie schließlich gefügig werden und nachgeben.
Wenn diese Schikanen mit dem Ziel der Ausschaltung ganzer Berufsgruppen aber zu größeren Schwierigkeiten, insbesondere in der Versorgung der Bevölkerung, führen, dann greift Ulbricht oder ein anderer ein und mahnt zur Mäßigung, wie es vorgestern erst wieder geschehen ist.
Wir wollen die Versorgungsschwierigkeiten, die in der Zone immer wieder auftreten, nicht übertreiben. Ich will sogar sagen: dank der Tüchtigkeit der arbeitenden Bevölkerung nimmt auch die Produktion in der Zone zu. Aber von einem Einholen der Bundesrepublik bis 1961 kann wohl keine Rede sein, denn das hätte eine sehr wesentliche Änderung der Wirtschaftsgesinnung und des Wirtschaftssystems in der Zone zur Voraussetzung.
Diese Darstellung der Lage unserer Landsleute in Mitteldeutschland, die den anhaltenden Flüchtlingsstrom erklärt, enthüllt, wie ich meine, den ganzen Jammer deutscher Wirklichkeit.
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Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, daß der geistig-seelische Zustand der Bevölkerung unter den
pausenlosen Schlägen des ideologischen Hammers
der SED trotzdem bewundernswert erscheint. Mit aller Entschiedenheit widerspreche ich dem im Westen hier und da verbreiteten Pessimismus über den inneren Standort unserer Leute in der Zone.
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Zog der Juni-Aufstand des Jahres 1953 die Aufmerksamkeit der Welt auf sie, so muß heute ihre stille, von Besonnenheit gezügelte Haltung von uns mit tiefem Respekt gewürdigt werden.
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Der grausame Versuch des Ulbricht-Regimes, die Einheit unseres Volkes durch die Verweigerung der Freizügigkeit in der gemeinsamen Heimat zu zerstören, ist - davon ist die Bundesregierung überzeugt - auf die Dauer doch zum Scheitern verurteilt.
Wie stellt sich nun angesichts dieser ungeheuerlichen Bestandsaufnahme die Hilfe des Bundes für die Flüchtlinge dar? Die Hilfsmaßnahmen des Bundes müssen notwendigerweise organisatorischer, richtungweisender und finanzieller Art sein, da dem Bund eine unmittelbare Betreuung der Einzelperson nicht zusteht. Ich darf aber im Einvernehmen mit meinem Kollegen Oberländer auf folgendes hinweisen.
Diese Maßnahmen richten sich hauptsächlich auf eine möglichst gerechte Verteilung, auf die einstweilige Unterbringung, die Versorgung mit Arbeit und Wohnraum und auf die zahlreichen Eingliederungsprobleme. Seit 1957 haben wir bei der Finanzierung des Wohnungsbaues die sogenannte Kanzler-Lösung, nach der den Ländern die Hälfte der Kosten, die sich aus dem Jahresdurchschnitt für die Erstellung einer Wohneinheit ergeben, aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt wird. Auf Grund dieser Lösung sind im laufenden Haushaltsjahr 304 Millionen DM eingesetzt. Außerdem gibt eine 1,35 Milliarden DM umfasende Bindungsermächtigung die Möglichkeit des ununterbrochenen Fortgangs der Baumaßnahmen für die in den Rechnungsjahren 1957 und 1958 eingewiesenen bzw. noch erwarteten Flüchtlinge und Aussiedler. Die Verteilung der 304 Millionen DM ist bereits erfolgt. Die Mittel des ersten Teiles der Bindungsermächtigung in Höhe von 804 Millionen DM sind den Ländern zugeteilt. Auch von den 500 Millionen DM des zweiten Teiles wurde über 174 Millionen DM auf begründeten Antrag von zwei Ländern bereits verfügt.
Die Verteilung der Geflüchteten und Aussiedler in die Länder erfolgt zur Zeit nach einem vom Bundesrat für das Jahr 1958 festgesetzten Schlüssel, der die Aufnahmefähigkeit der einzelnen Länder auf Grund spezifischer Merkmale berücksichtigt. Der Rückstau in Berlin wird in kürzester Frist, spätestens bis Ende dieses Jahres, abgebaut sein. Dieser Abbau und die zeitgerecht zumutbare endgültige Unterbringung der neu Hereinkommenden hat zur Voraussetzung, daß auch im kommenden Haushaltsjahr für die wohnungsmäßige Unterbringung Mittel wie im laufenden Haushaltsjahr zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung ist bestrebt, entsprechend dem Antrag des Ausschusses für
Wohnungswesen vom 13. Mai dieses Jahres die in den jeweiligen Haushaltsplänen vorzusehenden Mittel rechtzeitig auf die Länder zu verteilen.
Die Eingliederung der Arbeiter und Angestellten wird voraussichtlich bei gleichbleibender Konjunkturlage ebensowenig Schwierigkeiten machen wie bisher. Es ist Aufgabe der Landesregierungen, im Zusammenwirken mit den berufsständischen Organisationen die Angehörigen der akademischen Intelligenz möglichst an sinnvollen Standorten unterzubringen. Die Begründung selbständiger Existenzen wird nach wie vor durch bewährte Kredithilfen und andere Förderungsmaßnahmen unterstützt.
Auch der Härtefonds des Lastenausgleichs wird mit erheblichen Bundeshaushaltsmitteln zugunsten der Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge eingesetzt. Über den bisherigen Aufwand von annähernd 500 Millionen hinaus hat der Lastenausgleich zugunsten der Sowjetzonenflüchtlinge große Mittel als Ausbildungsbeihilfe, zur Heimförderung und als Wohnraumhilfe zur Verfügung gestellt, so daß der Gesamtaufwand allein des Lastenausgleichs für die Sowjetzonenflüchtlinge etwa auf 700 bis 800 Millionen DM zu beziffern ist.
Um die Einigung und Betreuung der Jugendlichen bemühen sich neben den staatlichen Organen mit Eifer und Erfolg die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die Jugendhilfen und die Jugendsozialwerke.
Bei der Einschulung in die westdeutschen höhern Lehranstalten und bei der Wertung bereits abgelegter Prüfungen ergeben sich naturgemäß Schwierigkeiten, um deren Beseitigung die zuständigen Stellen bemüht sind. Im Jahre 1957 geflüchtete 3100 Abiturienten konnten durch Teilnahme an Sonderlehrgängen die Anerkennung ihres in der Zone abgelegten Abiturs und damit den Anschluß an ein Hochschulstudium erreichen. In der gleichen Weise ist für die im Jahre 1958 geflüchteten Abiturienten gesorgt.
Soweit durch den verstärkten Zustrom von Abiturienten und Studenten die bisher für ihre Förderung zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichen sollten, werden sie, wie der zuständige Ressortminister mir versichert, entsprechend erhöht.
Den geflüchteten Professoren, Dozenten und Assistenten gilt ebenfalls die Sorge der beteiligten Bundesministerien ebenso wie der westdeutschen Rektorenkonferenz und die anderer Institutionen unseres wissenschaftlichen Lebens. Ihre Eingliederung erfolgt im wesentlichen durch die Kultusminister der Länder und die Selbstverwaltung der Hochschulen.
Die Verlagerung des Flüchtlingsstroms auf Berlin hatte, wie Sie wissen, hier vorübergehend vor einigen Wochen zu besonderen Schwierigkeiten geführt. Die Entlastungsmaßnahmen wurden von Berlin, d. h. dem Senat, ihrer Tendenz und Wirkung anerkannt und von den Ländern einmütig übernommen und durchgeführt. Das Notaufnahmeverfahren wurde verkürzt. Der Bundesminister für Vertriebene prüft zur Zeit gemeinsam mit dem
Sozialsenator Berlins alle Möglichkeiten einer ständigen zeitlichen Straffung des Verfahrens. Täglich werden durchschnittlich 150 Personen unmittelbar nach ihrer Meldung in Marienfelde nach Gießen und Uelzen geflogen, um ,das Verfahren dort durchzuführen.
Zur Zeit kann zur Lage Berlins gesagt werden, daß sich die Lagerbelegung wieder normalisiert, wenn man von Normalisierung in dieser unglückseligen Lage überhaupt sprechen kann.
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Sobald der Rückstau abgebaut list, wird es Aufgabe der Bundesregierung und des Berliner Senats sein, dafür zu sorgen, daß ein Rückstau bereits an Länder zugeteilter Personen nicht mehr entsteht. Sollten sich aber wiederum eine Zuspitzung und Schwierigkeiten ergehen, warden die Entlastungsmaßnahmen der letzten Wochen automatisch erneut in Kraft treten.
Die Frage der Beziehungen zwischen den Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze ist vom sowjetzonalen Regime nach Meinung der Bundesregierung zu keiner Zeit als ein menschliches, sondern ausschließlich als ein politisches Problem aufgefaßt worden.
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Der Verkehr über die Zonengrenze wird daher ohne Rücksicht auf die Betroffenen allein nach politischen Erwägungen geregelt und ist aufs engste mit der allgemeinen Situation in der Zone, wie ich sie mir darzulegen erlaubte, verbunden.
Als die Sowjetzonenregierung 1957 erkannte, daß sich die politisch-propagandistischen Erwartungen, die sie an die Belebung der gesamtdeutschen Kontakte geknüpft hatte, nicht erfüllten, wurden die seit 1953 gewährten Erleichterungen von drübenher wieder eingeschränkt. Ende des vorigen Jahres hat infolgedessen der Verkehr zwischen der Sowjetzone und dem Bundesgebiet einen seit 1952 nicht mehr erlebten Tiefstand erreicht. Die Zahl der in das Bundesgebiet eingereisten Mitteldeutschen hat sich im ersten Halbjahr 1958 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres um rund 75 % vermindert. Im ersten Quartal des zweiten Halbjahrs, also bis Ende September, ist sogar eine Verminderung um mehr als 80 % eingetreten. Genehmigungen zum Reisen in das Bundesgebiet werden von den sowjetzonalen Kreisbehörden nur noch in Ausnahmefällen erteilt. Das gleiche gilt für die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen an Westdeutsche zur Einreise in die SBZ. In Besprechungen des sowjetzonalen Ministeriums des Innern mit den Bezirksbehörden ist als Begründung betont worden - was nicht durch Spionage festgestellt wurde, sondern im „Neuen Deutschland" zu lesen war -, daß der weiteren Abwanderung von Arbeitskräften aus der Zone in das Bundesgebiet unbedingt Einhalt geboten werden müsse, weil sonst die wirtschaftlichen Planziele nicht erreicht werden könnten.
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Der innerdeutsche Reiseverkehr müsse schärfer
kontrolliert, das Paßgesetz rigoroser angewendet
werden, Reisen dürften nur noch in Ausnahmefällen genehmigt werden. Um die Republikflucht zu erschweren, müßten verdächtigen Personen die Personalausweise entzogen werden. Ferner sei zu verhindern, daß Möbel und sonstiges Vermögen vor der Republikflucht übereignet und so der Beschlagnahme durch den Staat entzogen würden. Nach neuesten Meldungen sind inzwischen zahlreichen Bewohnern der Sowjetzone die Personalausweise bereits abgenommen und durch Ausweise für einen beschränkten Aufenthaltsbereich ersetzt worden.
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Wer nach dem 8. Mai 1945 die sowjetisch besetzte Zone ohne polizeiliche Abmeldung verlassen hat, gilt zur Zeit als republikflüchtig. Er selbst soll keine Aufenthaltsgenehmigung zur Einreise erhalten. Ebenso soll seinen in der Zone wohnenden Angehörigen die Ausreise ins Bundesgebiet untersagt werden. So lauten die zur Zeit geltenden Vorschriften. Es ist noch nicht bekannt, ob eine Lockerung gemäß dem neuen Beschluß des Politbüros tatsächlich durchgeführt wird.
Die Ablehnungspraxis der sowjetzonalen Verwaltung in den letzten Monaten mag durch drei Beispiele beleuchtet werden.
In einem meinem Ministerium vorliegenden Brief eines Bewohners der Bundesrepublik heißt es:
Mein Vater ist seit Monaten schwer krank, und ich muß in Kürze mit seinem Ableben rechnen. Ich hatte deshalb meine Schwester gebeten, noch einmal herüberzukommen,
- also in die Bundesrepublik da sie später unseren Vater vielleicht nicht mehr lebend antreffen werde. Leider ist ihr aber der Paß mit dem Bemerken verweigert worden, ich müsse als Republikflüchtling erst tot sein, dann könne meine Schwester unseren kranken Vater besuchen.
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In einem mir ebenfalls im Original vorliegenden Brief aus der Zone heißt es:
Mein Vater lag in Westdeutschland im Sterben. Eine Reisegenehmigung konnte ich nicht bekommen. Man sagte mir, es hätte Zeit, bis er stirbt. Als er gestorben war, sagte man mir, er käme auch ohne mich unter die Erde. Dasselbe passierte mir beim Tode meiner Mutter.
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In einem anderen Fall hat die Volkskammer im Juni 1948 einer Beschwerdeführerin folgenden Bescheid erteilt:
Über Anträge auf Erteilung von Ausreisegenehmigungen entscheiden die Räte der Kreise in eigener Verantwortung, weil diese Organe durch ihre enge Verbindung mit den Werktätigen viel besser in der Lage sind, einzelne Fälle zu beurteilen. Wenn Ihnen der Rat des Kreises den Vorschlag gemacht hat, Ihren Ehemann zur Übersiedlung in die DDR zu bewegen, so schließen wir uns ebenfalls dieser Meinung an. Unser Arbeiter- und Bauernstaat geht davon aus, daß die Übersiedlung nach West-Berlin eine Unterstützung des Adenauer-Regimes und einen Verrat am Sozialismus darstellt.
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Einer Frau wurde die Einreise in die Sowjetzone zur Beisetzung ihrer Mutter verweigert, weil die Mutter im sowjetzonalen Sperrgebiet wohnt. Daraufhin wohnte die Tochter von der Ferne her an der Demarkationslinie der Beerdigung bei, die in etwa 500 Meter Entfernung stattfand, und hing zwei Kränze am Stacheldraht auf, der bekanntlich an vielen Stellen den 10-m-Kontrollstreifen begleitet. Die Kränze wurden später von Verwandten abgeholt und am Grabe niedergelegt.
Wenn eine Mitteldeutsche, die die Ehe mit einem Bürger im Westen geschlossen hat, übersiedeln will, wird ihr von der sowjetzonalen Kreisbehörde zu bedenken gegeben, daß sie durch die Übersiedlung den wirtschaftlichen Aufstieg der DDR hemmen und das Kriegspotential des Westens stärken würde, daß die DDR ein Arbeiter- und Bauernstaat sei, in dem eine glückliche sozialistische Zukunft erstrebt werde, weshalb ihr Ehemann den Entschluß, in die Sowjetzone überzusiedeln, um so leichter fassen werde.
Außerdem
- heißt es dann wörtlich bieten sich in unserem Friedensstaat mit seinem rasch wachsenden Wohlstand alle Möglichkeiten einer beruflichen und persönlichen Existenz und weiteren Entwicklung.
So heißt es wörtlich, wie ich hier unterstreichen muß, in einem Bescheid, der vom Präsidenten der Volkskammer Dieckmann persönlich unterzeichnet ist.
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Um das sogenannte illegale Verlassen der Zone auf dem Weg über die Demarkationslinie zu verhindern, wird an der Verbesserung, Vermehrung und Tieferstaffelung der Sperranlagen im Grenzgebiet gearbeitet, nachdem das Kommando der sowjetzonalen Grenzpolizei im November 1957 festgestellt hatte, daß die pioniermäßigen Mittel bei der Sicherung der Demarkationslinie nicht genügend ausgenutzt und die Sperranlagen zum Teil verfallen seien. An der 1381 km langen Demarkationslinie befinden sich zur Zeit Stacheldrahtzäune auf einer Strecke von über 450 km. Außerdem sind etwa 500 hölzerne Wachtürme, Hunderte von Bunkern und Beobachtungsständen vorhanden. Das Hinterland ist vielfach durch Gräben, Wälle, Stolperdrähte, Alarmanlagen zusätzlich gesichert. Neuerdings werden an zahlreichen Straßen innerhalb der 5 km-Sperrzone weitere Schlagbäume aufgestellt und Massierungen von Betonpfählen, befestigte Stacheldrahtzäune neu errichtet.
Noch im August dieses Jahres ist, wie uns bekanntgeworden ist, ein Bewohner des Bundesgebiets, der seine in der Sowjetzone zurückgeblie2404
bene Familie trotz Versagung der Einreisegenehmigung besuchen wollte, nach Überschreiten der Demarkationszone im Sperrgebiet angeschossen worden und kurz darauf verstorben. Seine Beerdigung mußte in aller Stille erfolgen ohne Glockengeläut, ohne Begleitung eines Geistlichen. Kein Wort durfte am Grabe gesprochen werden.
Die Erschwerung der menschlichen Beziehungen trifft die Jugend besonders hart. Neben den zahlreichen Einladungen der sportlichen und jugendlichen Organisationen wird in jeder nur möglichen Weise versucht, eine Zusage zu verhindern.
Wie gering im übrigen aber der Verlaß auf sowjetzonale Versprechen ist, wenn gelegentlich einmal jugendliche Organisationen eingeladen werden, um dann doch wieder kurzfristig eine Ablehnung zu erhalten, ist gerade hier in Berlin in diesen Tagen im Falle der Wiederaufstellung der Quadriga auf dem Brandenburger Tor deutlich geworden. Trotz der festen Zusage des Ostberliner Magistrats, die Quadriga in unveränderter Form wieder aufzustellen, hält die Viktoria, wie Sie wahrscheinlich schon gesehen haben, nun einen Siegeskranz ohne Kreuz und Adler in ihren Händen. Den deutschen Kommunisten kann nur empfohlen werden, sich in dieser Beziehung nach dem Vorbild ihrer russischen Meister zu richten. In Moskau, Leningrad und überall haben die Sowjets keine historischen Verfälschungen zugelassen. Die Baudenkmäler der russischen Geschichte von Peter dem Großen, Katharina der Großen bis zum letzten Zaren sind
in ihre Obhut genommen worden.
Zu der in der Großen Anfrage gestellten Frage, ob die Bundesregierung Möglichkeiten sehe, um von sich aus zur Erleichterung und Verbesserung des Verkehrs und der menschlichen Beziehungen beizutragen, darf ich feststellen, daß der Bundesregierung die Normalisierung der schon einmal in den Jahren 1953 bis 1957 in erfreulicher Weise gut in Gang gekommenen Beziehungen der Deutschen in der Bundesrepublik mit den Deutschen in Mitteldeutschland in einem einigermaßen befriedigenden Umfang gelungen war. Seitens der Bundesrepublik - ich betone das mit Nachdruck - wurden alle Sonderausweise, die im Personenverkehr von der Sowjetzone in das Bundesgebiet und für Reisen aus dem Bundesgebiet in die Sowjetzone verlangt wurden, abgeschafft. Sämtliche Kontrollen an der Zonengrenze werden auf das notwendigste Maß beschränkt. Die Vorarbeiten für die Wiedereröffnung aller Grenzübergänge, die seit der Errichtung der Zonengrenze im Jahre 1945 gesperrt wurden, sind so vorangetrieben, daß jederzeit alle Grenzübergänge geöffnet werden können und der Verkehr von uns her über sie aufgenommen werden kann. Die Verkehrswege zur Zonengrenze sind planmäßig verbessert und wiederhergestellt worden. Im Wege der Verhandlungen zwischen den Eisenbahnverwaltungen wurde die Zahl der Reise-und Güterzüge vermehrt.
Der Interzonenhandel' wurde nicht zuletzt im Interesse der besseren Versorgung der mitteldeutschen Bevölkerung erweitert. Auf Initiative aus
diesem Hohen Hause hin wurde für die Besucher aus der Sowjetzone für die notwendigsten ersten Ausgaben eine Beihilfe von 10 DM für jeden Besucher bereitgestellt, der von dieser Vergünstigung Gebrauch machen will. Ich erinnere daran, daß außerdem Rückreisebeihilfen und Krankenhilfen gewährt werden.
Ein großer Teil der von der Bundesregierung gewünschten Maßnahmen hat sich aber leider nicht in vollem Maße positiv für die Bevölkerung der Zone auswirken können, weil sie durch die Obstruktion der anderen Seite verhindert, sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Ich erinnere daran, welche Schwierigkeiten Besucher aus der Sowjetzone hatten, die die Beihilfe von 10 DM in Empfang genommen hatten. Sie sind vielfach polizeilichen Verhören unterworfen worden, in einigen Fällen aus ihren Stellungen entlassen und vor der übrigen Bevölkerung als Verräter an der DDR geschmäht worden.
Hilfsmöglichkeiten sind nach Lage der Dinge und angesichts der noch anhaltenden Obstruktion sowjetzonaler Stellen nicht groß. Die Bundesregierung wird stets alle Möglichkeiten prüfen, die geeignet sind, den Besuchsreiseverkehr wieder zu beleben. Die Bundesregierung verurteilt, wie ich schon im Falle der Ärzte festgestellt habe, jede Art der Abwerbung Deutscher aus Mitteldeutschland. Gerade weil die sowjetzonalen Stellen die angebliche Abwerbung als Vorwand für die Einschränkung des Reiseverkehrs nehmen, wird sie wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft keine Maßnahmen ergreifen oder fördern, die eine Abwanderung von Deutschen aus Mitteldeutschland während der Besuchsreisen erleichtern würden.
Uni das schwere Schicksal der durch die Teilung Deutschlands und die Maßnahmen der sowjetzonalen Stellen getrennten Familien zu erleichtern, wird sich die Bundesregierung auf geeignetem Wege an die Liga der Rotkreuzgesellschaften mit der Bitte wenden, sich für die Zusammenführung von Familien einzusetzen. Die Bundesregierung ist davon unterrichtet, daß das Deutsche Rote Kreuz der Bundesrepublik die Frage der Familienzusammenführung bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit dem Deutschen Roten Kreuz der Sowjetzone besprochen hat. Da diese Gespräche bisher ohne Erfolg waren, wird die Bundesregierung nunmehr die Einschaltung des Internationalen Roten Kreuzes in Erwägung ziehen.
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Die Bundesregierung wird trotz der erheblichen Bedenken gegen die sowjetzonalen Bestimmungen über Geschenksendungen der Bevölkerung in der Bundesrepublik immer wieder dringend die Einhaltung dieser postalischen Bestimmungen der Sowjetzone in der Erwartung empfehlen, daß die sowjetzonalen Behörden bereit sind, Geschenksendungen in Zukunft nicht mehr willkürlich zu beschlagnahmen.
Die Bundesregierung wird ferner für die internationale Öffentlichkeit die Lage der deutschen Bevölkerung in der Sowjetzone, die besorgniserreBundesminister Lemmer
gende Situation der Menschen in Mitteldeutschland noch viel stärker als bisher in den Mittelpunkt des politischen Interesses zu rücken versuchen. Im Juni dieses Jahres wurde ein ausführlicher Bericht über die Verhältnisse in der Zone den in Bonn akkreditierten ausländischen Missionen übergeben. Die Zustände in der Sowjetzone haben seit diesem Bericht aber noch eine erhebliche Verschärfung erfahren. Der Bundesregierung kommt es im gegenwärtigen Zeitpunkt vor allem darauf an, die menschliche Not, die sich aus unmenschlichen Maßnahmen für Hunderttausende jenseits und diesseits der Zonengrenze ergibt, zu lindern und, wenn möglich, zu beseitigen.
Die Bundesregierung wird wie bisher alle technischen Verhandlungen zwischen den zuständigen Behörden fördern, soweit solche Verhandlungen geeignet sind, eine Besserung der Situation der Bevölkerung herbeizuführen. Die Möglichkeiten sind jedoch nach den bisherigen Erfahrungen leider gering, da die sowjetzonalen Stellen, wie es bereits betont wurde, in erster Linie politische Ziele verfolgen, und zwar ohne Rücksicht auf die Situation der Bevölkerung. Die sowjetzonalen Gegenvorschläge, z. B. die Bildung einer Kommission aus Vertretern beider Seiten, die auch innerdeutsche Probleme behandeln soll, laufen bisher nach Meinung der Bundesregierung alle auf das eine Ziel hinaus: auf die Anerkennung der von der Bevölkerung nicht legitimierten Regierung der Zone.
({34})
Zu einer derartigen Anerkennung ist die Bundesregierung - und ich bin überzeugt, auch das Hohe Haus im ganzen - nach wie vor nicht bereit.
({35})
Die Sowjetzonenregierung hat es aber in ihrer Hand, echte, freie, geheime und kontrollierte Wahlen in ihrem Bereich zuzulassen. Die jetzt in der Zone anlaufenden Vorbereitungen für Wahlen zur Volkskammer am 16. November zeigen, daß die Sowjetzonenregierung erneut wieder ein Wahltheater mit einer Einheitsliste inszenieren will, ein Vorgang, der wohl ebenfalls von uns allen im nicht von den Sowjets kontrollierten Teil Deutschlands als völlig undemokratisch abgelehnt werden muß.
({36})
Auch die jüngsten Vorschläge zur Vorbereitung eines Friedensvertrags laufen nach Meinung der Bundesregierung darauf hinaus, die Anerkennung für die Sowjetzonenregierung zu erreichen. Wir müssen darum noch einmal vor aller Welt klar sagen: Wir wollen so schnell wie möglich einen Friedensvertrag vorbereiten und abschließen. Aber der Friedensvertrag, der Anspruch auf Rechtsgültigkeit erhebt und von Dauer sein soll, kann nur mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen werden.
({37})
In diesem Zusammenhang muß darauf verwiesen werden, daß wir es für seibstverständlich halten, bei einer Wiedervereinigung die bisherige Ordnung der Bundesrepublik in einem frei gewählten gesamtdeutschen Parlament genauso zur Debatte zu stellen wie die Ordnung in jenem anderen Teil Deutschlands. Es kann keine Rede davon sein, daß die Bundesregierung danach strebe, Mitteldeutschland praktisch einfach in der Bundesrepublik aufgehen zu lassen. Es wird keine „Entsedifizierung" geben, wenn die staatliche Einheit unseres Volkes wiederhergestellt wird. Die Bundesregierung weiß, daß die Menschen in der Sowjetzone oft nicht mehr in der Lage sind, freie Entscheidungen zu treffen. Das gilt auch für die Mitgliedschaft in der SED und anderen Organisationen. Niemandem wird bei der Wiedervereinigung aus einer solchen bloßen Mitgliedschaft ein Vorwurf gemacht werden können.
({38})
Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit - so darf ich wohl bemerken - hat sich in den letzten Monaten trotz der vielen politischen Brennpunkte in anderen Teilen der Welt in wachsendem Ausmaß der Situation in Mitteldeutschland zugewandt. Sie bewertet die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen eines angeblich sozialistischen Systems nicht zuletzt nach den in der Sowjetzone Deutschlands gezeigten Leistungen. Der andauernde Flüchtlingsstrom, die Drosselung des Reiseverkehrs, die Befestigung und Vertiefung der Zonengrenze und die weitgehende Unterbrechung aller menschlichen Begegnungen innerhalb Deutschlands, wie Eich sie eben schildern mußte, werden in der Welt offensichtlich verurteilt. Auch der sowjetischen Regierung kann das, wie wir meinen, wohl nicht verborgen bleiben.
Die Bundesregierung wird auf direktem Wege in geeigneter Weise aufs neue und immer wieder bei der sowjetischen Regierung auf die sich aus der ernsten Lage der 17 Millionen Menschen in der DDR ergebenden schweren Belastungen der deutschsowjetischen Beziehungen hinweisen. Denn die Bundesregierung und - ich bin überzeugt - alle Parteien des Hohen Hauses wünschen aufrichtig eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion. Aber diese von uns angestrebte Verbesserung hängt entscheidend von der Lage ,der deutschen Menschen in ihrem Besatzungsbereich ab.
({39})
Denn wir sind nun einmal füreinander verantwortlich. Wir sind eine Nation und wollen es bleiben. Wir hoffen, daß sich die ,sowjetische Regierung dieser Einsicht auf die Dauer nicht verschließen wird. Es hängt für beide Völker zu viel davon ab.
Wir fordern ,die Respektierung der Grundrechte der Bürger, so wie sie sogar in der Verfassung der „DDR" niedergelegt sind. Wir verlangen den freien Personenverkehr innerhalb ganz Deutschlands. Wir verlangen einfach Menschlichkeit für 17 Millionen
Deutsche.
({40})
Wir fordern, daß auch wir Deutsche in die Lage versetzt werden, in der staatlichen Einheit unseres
Landes in Frieden und Freiheit zusammenleben zu können. Wir werden zum Erreichen dieses Zieles unsere internationalen Beziehungen in jeder Form und zu jeder Zeit gegenüber dem Westen wie gegenüber dem Osten einsetzen. Dieses Bemühen der Bundesregierung, das von allen Parteien des Bundestags wie von allen Deutschen - dessen bin ich gewiß - gutgeheißen und unterstützt wird, werden wir fortsetzen, bis der Erfolg errungen ist, daß sich wieder jeder Deutsche in seinem ganzen Vaterlande frei bewegen kann.
({41})
Sie haben die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktionen des Bundestages gehört. Wir treten in die Aussprache ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gradl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erschreckende Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms seit der Jahresmitte hat nur den letzten Anstoß zu der heutigen Debatte gegeben. Schon seit einem Jahr wurde für jeden, der sich in den Verhältnissen in der Zone einigermaßen auskennt, ersichtlich, daß das Regime dort einen neuen Anlauf nehmen würde, um seine Ideologie und seine Macht durchzusetzen. Der rigorose Währungseingriff im Oktober 1957, das Paßgesetz vom Dezember 1957, der verschärfte Druck gegen die Kirchen, die man buchstäblich in die Kirchengebäude einschließen will, der zunehmende atheistische Druck auf den einzelnen, die zunehmenden wirtschaftlichen Drangsalierungen und schließlich der 5. Parteitag der SED im Juli mit seinen blasphemischen zehn Geboten, das alles waren Stationen einer Entwicklung, die neue Not und neues Elend und neue Qual für die Menschen in der Zone bringen mußte. Insofern ist der Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms und dessen besondere Zusammensetzung nur ein Beweis dafür, daß die Verhältnisse in der Zone einen neuen traurigen Rekord, einen neuen Höhepunkt der Unerträglichkeit erreicht haben. Dieses Geschehen war sozusagen der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat.
Wir hier müßten politisch versumpft sein, wir müßten keine nationale Moral haben, wenn wir in dieser Situation nicht aufbegehrten.
({0})
Die Bundesregierung und der Bundestag hätten in einer unerhörten Weise ihre Pflicht versäumt, wenn sie nicht die erste passende Gelegenheit benutzt hätten, um sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
Ich glaube, wir sollten bei dieser Gelegenheit auch der deutschen Presse und dem deutschen Rundfunk danken, die während der parlamentarischen Sommerpause laus eigener Verantwortung die Aufmerksamkeit in unserem Lande und in der Welt auf das gelenkt haben, was da geschehen ist.
({1})
Es ist nicht notwendig, daß ich jetzt hier noch Einzelheiten darlege; das wären nur Wiederholungen. Die Begründung, die der Herr Kollege Wehner vorhin für die gemeinsame Große Anfrage gegeben hat, und die Erklärung der Bundesregierung sagen alles, was über die Fluchtbewegung, über die Gründe und über die Zusammenhänge gesagt werden muß. Und was das Geschehen im ganzen bedeutet, ist ohnehin unverkennbar. Dean dieser seit Jahren anhaltende Flüchtlingsstrom ist doch im Grunde eine permanente Bankrotterklärung dieses politischen Systems.
({2})
Wie muß ein System beschaffen sein, wenn jahrein, jahraus Hunderttausende von Menschen alles aufgeben, ihre Wohnung, ihr Haus, ihren Arbeitsplatz, die Kameradschaft des Arbeitsplatzes, die Nachbarn, die Freunde, die Gräber, die Heimat! Wie muß ein System aussehen, das das zuwege bringt!
Man hat gesagt, viele kämen von drüben aus materiellen Gründen, aus materiellen Gründen verließen sie dieses rote Paradies. Nun ja, wer von uns dürfte dafür kein Verständnis haben! Aber was sich jetzt vollzieht - und was die Menschen in der Zone ehrt -, das ist doch die Tatsache, daß sie auch ohne materielle Not kommen, nur weil sie frei sein wollen,
({3})
weil sie den Glauben ihrer Väter nicht aufgeben wollen, weil ihnen wertvoller und wichtiger als irgendwelche materiellen Sondervergünstigungen durch die Zonenmachthaber der Wille und die Möglichkeit ist, nach eigener Art zu leben und auch leben zu lassen.
Wenn wir - und ich darf aufgreifen, was der Herr Regierende Bürgermeister hier am Anfang gesagt hat - es trotzdem wagen, die Menschen (in der Zone zu bitten, daß sie doch drüben aushalten mögen, solange es irgend geht, dann tun wir es nicht wegen der materiellen Leistungen, die wir für jeden Flüchtling, der zu uns kommt, aufbringen müssen; wir richten die Bitte an sie nur ganz einfach um des deutschen Landes willen, um der deutschen Substanz willen dort drüben in diesem Land. in dem doch Städte wie Wittenberg und Naumburg und Eisenach und Dresden sind.
In der Zone spricht das System, die Propaganda jetzt vorwurfsvoll von sogenannten „linken Übertreibungen". Hinter diesem Wort verbirgt sich etwas sehr Schäbiges. Mit diesem Vorwurf verschieben die Spitzenfunktionäre ihre eigene Schuld auf die kleinen, nachgeordneten Funktionäre. Denen wird vorgeworfen, sie hätten die Beschlüsse des 5. Parteitags falsch verstanden und falsch angewendet. Und was ist die Wirklichkeit? In Wirklichkeit haben diese kleinen Funktionäre Herrn Ulbricht damals sehr gut verstanden. Nur Herr Ulbricht - der hat bei seinen fanatischen Versuchen totaler Gleichschaltung vergessen, daß die Zone nicht anderswo liegt, sondern in Deutschland.
I Diese Entwicklung, zu der der 5. Parteitag der SED den Auftakt gegeben hat, richtet sich - das, glaube ich, ist eine Tatsache, die wir mit besonderer Sorgfalt und Sorge beobachten müssen - gegen alles, was noch einigermaßen selbständige Existenz in der Zone bewahren konnte; und das sind noch immer viele Hunderttausende von Bauern, Handwerkern, Einzelhändlern und anderen. Dazu kommen noch die Angehörigen.
Ich meine, wir müßten unsere Aufmerksamkeit und unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, daß das Zonensystem daran gehindert wird, durch seinen ideologischen Fanatismus das Leben auch dieser Menschen materiell und seelisch noch mehr zu belasten, es vielleicht so zu belasten, daß auch diese gewaltige Zahl von Menschen in Bewegung und in Verzweiflung gerät und einen Ausweg schließlich nur noch in der Flucht sieht.
({4})
Eine solche Entwicklung - ich sage das mit allem Ernst -, die neue Hunderttausende in Unruhe versetzt, könnte in mehrfacher Hinsicht zu einer Katastrophe werden.
Als nicht mehr verschwiegen werden konnte, daß die ärztliche Betreuung der Bevölkerung in der Zone immer schwieriger wurde, da entschloß sich, wie Sie gelesen haben werden, das Politbüro der SED am 16. September dazu, wenigstens in dieser Richtung den Druck zu mildern. Man gab ein Kommuniqué heraus, und in diesem Kommuniqué sagt das Politbüro, daß die Ausübung des Arztberufs und die wissenschaftliche Tätigkeit in der DDR - ich zitiere - keiner weltanschaulichen Verpflichtung für den dialektischen Materialismus unterliegt. Und dann heißt es weiter, daß Ärzte und Wissenschaftler, die sich zu einer anderen Weltanschauung bekennen, die Möglichkeit zu ungehinderter schöpferischer Arbeit haben.
Was zeigt sich daran? Daran zeigt sich, daß dieses System durchaus die wirklichen Gründe kennt, die die Menschen zur Flucht treiben. Und da kann man nur fragen: Warum eigentlich macht man nur für Ärzte und für wissenschaftlich Tätige eine Ausnahme, warum dann nicht für alle Menschen in der Zone? In diesem Widerspruch zeigt sich doch die ganze Unwahrhaftigkeit dieses Systems.
({5})
Aber je fremdartiger das öffentliche Leben in der Zone wird und je länger die politische Spannung andauert, um so mehr hängen die Menschen drüben an den persönlichen Beziehungen und an den kulturellen Verbindungen zum freien Teil Deutschlands. Wir haben aus den Mitteilungen der Bundesregierung gehört, wie sehr der mitteldeutschen Bevölkerung durch das Zonenregime der Besuch des Bundesgebiets erschwert ist. Das Politbüro der SED hat jetzt eine Andeutung gemacht, aus der man auf Abbau der Erschwerungen schließen könnte. Es wird sich an den künftigen Zahlen zeigen, was daran ist. Auf unserer Seite jedenfalls kann jeder aus Mitteldeutschland ungehindert kommen. Eines sollten wir noch auf jeden Fall versuchen, weil es den Menschen das Reisen zu uns erleichtern würde: Bundesbahn und Bundesverkehrsministerium sollten noch einmal einen Vorstoß für die Einführung von Rückfahrkarten im Interzonenverkehr machen. Bisher ist das an der anderen Seite gescheitert. Aber die Freiheit des Reiseverkehrs an sich ist - das ist schon gesagt worden - schlicht und einfach eine Frage der Humanität.
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Da werden drüben jetzt alle möglichen Gründe angeführt, fadenscheinige Vorwände gesucht, um zu erklären, warum man den Bewohnern der Zone das Ausreisen so schwer macht. Nun, es ist für uns selbstverständlich, daß sich die Bewohner jeweils im anderen Teil an die geltenden Gesetze und an die behördlichen Vorschriften zu halten haben und daß Sabotage, von wem und wo auch immer sie betrieben werden sollte, mit Entschiedenheit abzulehnen ist. Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Zu allem, was mit dem Reiseverkehr zusammenhängt, bedarf es gar keiner umständlichen Sachverständigenkommission en und Verhandlungen; den Reiseverkehr in Deutschland wirklich freizugeben, dazu bedarf es im Grunde nicht des Verhandelns, sondern ganz einfach des Handelns der SED.
Nun ein kurzes Wort zu der Frage der kulturellen Beziehungen. Zu der kulturellen Verbindung gehört natürlich auch das Hinübergehen in das Zonengebiet. Wenn der Versuch eines groben Mißbrauchs durch Stellen der Zone vorher zu erkennen ist, dann soll man sich ihm entziehen, wie das mit Recht bei dem Jubiläum der Universität Jena geschehen ist. Aber sonst soll man sich ruhig von dem Bewußtsein bestimmen lassen, daß die Überlegenheit unserer freiheitlichen Ordnung und die Überzeugungskraft ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Repräsentanten stärker sind als ein nicht vermiedener Mißbrauch und als ein gelegentlicher Fehler.
Der Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms und seine Konzentration auf West-Berlin hat zu Aufnahmeschwierigkeiten geführt. Wir begrüßen ,es, daß aus den Erklärungen der Bundesregierung geschlossen werden kann, daß alles getan ist, was getan werden kann, um diese Aufnahmeschwierigkeiten so weit wie möglich zu verringern und die Flüchtlinge nicht durch unnötige Bürokratie und technische Dinge noch zu belasten. Das Aufnahmeverfahren selbst steht ja ohnehin auf dem Arbeitsprogramm des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen.
Aber - das wollen wir nicht verschweigen - ein schwieriges Problem bleibt immer die Beschaffung von Wohnungen für die Flüchtlinge. Ich habe, als ich ,darüber nachdachte, versucht, mir einmal die Vorgänge, mit denen wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben und die doch nun in Hunderttausenden zählen, etwas greifbarer zu machen. Ich habe dabei einen ähnlichen Weg wie Kollege Wehner gewählt. Ich habe versucht, dieses Geschehen in kleine, erkennbare Größen herabzumindern. Dabei bin ich auf eine ganz einfache Rechnung gekommen. Es ist eine grobe Durchschnittsrechnung,
aber ich glaube, sie sagt deutlicher als lange Darlegungen, was für das Bundesgebiet und West-Berlin mit diesem Flüchtlingsstrom an Schwierigkeiten verbunden ist.
Im vergangenen Jahr haben wir im Bundesgebiet und West-Berlin in jeder Minute eine Wohnung schlüsselfertig gebaut. Wenn Sie den Flüchtlingsstrom messen, dann stellen Sie fest, daß seit Jahr und Tag alle sechs bis sieben Minuten eine dreiköpfige Flüchtlingsfamilie bei uns Zuflucht sucht. Das ist die Situation.
Ganz besondere Sorge - ich unterstreiche das, was in der Begründung und in der Regierungserklärung gesagt worden ist - müssen uns die jungen Menschen machen. Der deutsche Bundesstudentenring hat in diesen Tagen in einer Denkschrift auf die Situation der geflüchteten Abiturienten, Studenten und Junglehrer hingewiesen. Aber was da gesagt ist, gilt im Grunde für die ganze Jugend, die aus der Zone zu uns gekommen ist und kommt.
Warum verlassen sie die Zone? Sie verlassen sie, weil sie nicht in die militärischen Formationen dort eintreten wollen, denen sie sich in keiner Weise verbunden fühlen. Sie verlassen die Zone, weil sie sich nicht zum Atheismus bekennen wollen, weil sie nicht ihrer Kirche und religiösen Überzeugung untreu werden wollen, weil sie Toleranz statt Zwang, weil sie Verstehen statt Befehl wollen.
Das sind die Gründe, die sie zu uns treiben. Deshalb suchen sie Zuflucht bei uns und ,deshalb haben sie Vertrauen zu uns. Aber das bedeutet auch eine Verpflichtung für uns. Wenn diese Jugend zu uns Vertrauen hat, dann heißt das doch, daß wir gerade dieser Jugend nicht nur mit Worten, sondern im praktischen Verhalten, nicht nur von der Allgemeinheit, sondern auch vom einzelnen her zeigen müssen, daß sie die bessere Seite gewählt hat, als sie die Seite der Freiheit und der Toleranz wählte.
({7})
Der Flüchtlingsstrom ist nur der sichtbare Ausdruck des unsichtbaren Leides drüben. Auf die Frage, wie er wirklich bewältigt werden kann - das steht auch hinter der Frage 3 der Großen Anfrage -, kann man zunächst nur sagen: Wirklich bewältigt werden kann dieses deutsche Unglück nur durch eine einzige Handlung, nämlich durch Wiedervereinigung in Freiheit. Ich habe das so leise gesagt, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich glaubte damit schon wirklich die Antwort gegeben zu haben. Denn natürlich genügt diese hunderttausendfach gebrauchte Formel nicht als Antwort. Die eigentliche Frage nämlich steht dahinter, die Frage, wie wir praktisch zu dieser Wiedervereinigung kommen können.
Nun, so viele Hindernisse auf dem Weg zur Wiedervereinigung, so viele Schwierigkeiten gibt es bei der Beantwortung dieser Frage. Aber es bleibt dabei - das ist auch hunderttausendfach gesagt worden; aber es wird nicht deshalb unwahr und langweilig, weil es immer noch so ist -: das entscheidende Hindernis ist nun einmal die bisherige Haltung der Sowjetunion. Wenn das Pankower Regime nicht unter dem Schutz der Sowjetmacht seine Gräben quer durch Deutschland ziehen und wenn es nicht unter dem Schutz ,dieser Sowjetmacht in Mitteldeutschland eine absolut fremdartige Staats- und Lebensordnung aufbauen könnte, dann gäbe es gar kein innerdeutsches Hindernis mehr für die Wiedervereinigung.
({8})
Sicherlich ist die Sowjetregierung wie jede Regierung daran interessiert, nicht selber den eigenen Ruf und den Ruf der von ihr für richtig gehaltenen Gesellschaftsordnung zu untergraben. Aber kann sie denn noch immer nicht einsehen, wie sehr es ihr in aller Welt schadet, daß sie sich mit den Torheiten und Schandtaten dieser Pankower Machthaber belasten läßt?
({9})
Und in wie bedrückender Weise wird dadurch das Verhältnis der Sowjetunion zu unserem Volk belastet! Wir wissen, daß unsere Rolle als Großmacht 1945 zu Ende gespielt worden ist. Unser Volk will nicht mehr Machtpolitik. Es will nur Ruhe und Frieden. Aber soll es nach sowjetischer Auffasssung künftig Grundsatz der Weltmoral und der Weltpolitik sein, daß Große und Kleine nach verschiedenen Maßstäben gemessen werden? In seiner von Präsident Eisenhower zurückgewiesenen Botschaft zum Formosa-Streitsagt Ministerpräsident Chruschtschow rhetorisch:
Ist es denn aber nicht offensichtlich und zeugt nicht die ganze Erfahrung des Kampfes der Völker für die nationale Befreiung und Unabhängigkeit davon, daß eine große Weltmacht niemals mit der Abtrennung eines Teils ihres Territoriums einverstanden sein wird?
So argumentiert er für Rotchina. Aber gilt dieses Argument nicht auch für kleine und mittlere Mächte? Gilt das nicht ,auch für ein Volk mit mehr als tausendjähriger Geschichte im Herzen Europas?
({10})
Nun, glaubt die Sowjetregierung etwa, weil wir keine große Macht mehr sind, könnte sie uns zumuten, was sich heute in Mitteldeutschland abspielt und was dort auf Abtrennung hinzielt?
Als der Deutsche Bundestag am 2. Juli seinen Beschluß zugunsten der Schaffung eines Viermächtegremiums faßte, hat er sich ausschließlich von dem Willen leiten lassen, die deutsche Frage endlich wieder auf den Verhandlungstisch der vier Mächte zu bringen. In dem Beschluß wurde jede Gereiztheit peinlichst vermieden. Es wurde jede Belastung ausgeschaltet. Es war ein ganz einfacher, aber, wie wir alle überzeugt sind, der Wirklichkeit, den Notwendigkeiten durchaus gemäßer Schritt. Einen Erfolg hat dieser Schritt bisher nur zum Teil gehabt. Die drei Westmächte haben den Vorschlag des Bundestags inzwischen angenommen, und wir sind ihnen dankbar, wie wir ihnen überhaupt für die Unterstützung unseres nationalen Verlangens dankbar sind.
({11})
Die Sowjetunion hat zwar auch geantwortet, aber sie ist dem Versuch, den der Bundestag begonnen hat, bisher nicht gefolgt. Der Gedanke der Schaffung eines Viermächtegremiums wird zwar bejaht, aber wieder verlangt die Sowjetunion, wie schon im Frühjahr, die Beschränkung der Verhandlungsaufgabe auf das Thema Friedensvertrag. In den sowjetischen Antwortnoten finden sich zwar Äußerungen, die eine sowjetische Geneigtheit andeuten könnten, Wiedervereinigung und Friedensvertrag als eine komplexe Einheit zu behandeln. Es ist z. B. ganz allgemein von der Verantwortung der vier Großmächte für die friedliche Regelung der Deutschlandfrage die Rede. Es wird auch auf den sowjetischen Friedensvertragsentwurf von 1952 hingewiesen. In diesem Entwurf ist die Wiederherstellung Deutschlands als einheitlicher Staat ein ausdrücklicher politischer Leitsatz. Aber diese sowjetischen Andeutungen sind leider sehr verhüllt und sehr problematisch.
Nun, sowjetische Noten muß man wie alle diplomatischen Schriftstücke und vielleicht noch mehr als andere mit der Lupe untersuchen. Auf jeden Fall ist es die Aufgabe der verantwortlichen Politiker und Diplomaten, jeder Andeutung nachzugehen. Wir sind überzeugt, daß die Bundesregierung das tun wird, und meine Fraktion wird in dem zuständigen Parlamentsausschuß das ihre tun, um an der Klärung und Förderung mitzuwirken. Es kann sein, daß sich bei weiterer Klärung herausstellt, daß wir tatsächlich einer Illusion erlegen sind. Aber wenn es um die deutsche Einheit geht, muß man dieses ) Risiko auf sich nehmen.
Der Gedanke läge nahe, nachdem die Sowjetunion zu einem Viermächtegremium an sich bereit ist, einfach mit der von der Sowjetunion gewünschten Tagesordnung „Friedensvertrag" anzufangen. Wenn die Verhandlungsaufgabe unter diesem Thema so verstanden werden könnte, wie es der Sache eigentlich entspricht, dann könnte man davon ausgehen, daß auch die deutsche Wiedervereinigung uneingeschränkt von diesem Thema Friedensvertrag erfaßt wird. Denn ein Friedensvertrag kann mit Deutschland nur geschlossen werden, wenn Deutschland wiederhergestellt ist. Das Unglück ist, daß die Sowjetregierung bisher diese normale Deutung der Verhandlungsaufgabe betont abgelehnt hat. So verhüllt, so ungewiß, so problematisch jene Bemerkungen in den sowjetischen Noten sind, die eine bessere Deutung in dieser Hinsicht zulassen könnten, so klar und so hart sind jene Äußerungen, die das Gegenteil aussagen, und diese Äußerungen sind eben so negativ, daß man nicht das Risiko eingehen kann, schnell einen Anfang zu wagen. Das auch deshalb nicht, weil die Realitäten, die seit Jahr und Tag und gerade bis in diese Wochen im sowjetischen Besatzungsbereich geschaffen werden, nicht eine Spur von Willen erkennen lassen, sich auf eine neue konstruktive Lösung des Deutschlandproblems einzustellen. Solange sich das nicht ändert, so lange fehlt eben die entscheidende Grundlage für die Bildung eines Vertrauenselementes auf unserer Seite hinsichtlich der Deutung sowjetischer Politik.
({12})
Von der Sowjetregierung wird immer wieder gesagt, die sogenannten beiden Staaten sollten sich über die Wiedervereinigung verständigen. Sie alle kennen diese Äußerungen aus dem Aide-memoire und aus den letzten Noten. Diese Aufforderung der Sowjetunion und die andere Frage, was wir innerdeutsch tun können, laufen auf die bekannte Frage nach Verhandlungen mit Pankow hinaus.
Bei der Beantwortung dieser Frage muß sorgfältig differenziert werden. Über eine Normalisierung der menschlichen, der kulturellen, der ökonomischen und technischen Verbindungen zwischen beiden Seiten, zwischen beiden Teilen Deutschlands kann verhandelt werden und wird seit Jahren mannigfach verhandelt. Die Regierungserklärung hat darauf mit Recht hingewiesen. Sieht man von der sachlichen Problematik, von sachlichen Gegensätzen ab, so gibt es für solche Verhandlungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands nach unserer Auffassung nur eine Grenze, nämlich die der Anerkennung. Verhandlungen dürfen nicht so gestaltet werden, daß daraus in der Welt der Schluß gezogen werden könnte, die Bundesrepublik erkenne das Pankower Regime als einen zweiten deutschen Staat an.
({13})
Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Pankow, die durch Verhandlungsebene und Aufgabenstellung auf eine Anerkennung der Spaltung Deutschlands, auf eine Anerkennung Pankows als deutscher Staat, auf eine Anerkennung der Pankower Machthaber als deutsche Regierung hinauslaufen, sind für uns nicht möglich.
({14})
Deshalb hat meine Fraktion auch allerstärkste Bedenken gegen eine Konstruktion, wie sie gestern zwischen den Fraktionen plötzlich zur Erörterung kam. Eine solche Konstruktion widerspricht nach unserer Auffassung zutiefst den Prinzipien unserer Verfassung. Man kann durchaus darüber reden, ob die Verhandlungstische der sogenannten technischen Kontakte gewissermaßen zu einem Tisch zusammengerückt werden sollen. Aber wir dürfen Pankow und Moskau nicht die Hoffnung machen - und ich bin überzeugt, daß auch Sie ({15}) das nicht wollen -, daß wir auch nur auf Umwegen bereit sein könnten, unser Nein gegen Pankow als angeblichen deutschen Staat und gegen das Zonenregime als angebliche deutsche Regierung aufzugeben.
({16})
Ich will diese Frage hier nicht vertiefen, ich will auch nicht die verfassungsrechtlichen Einwände im einzelnen darlegen; das soll den vorgesehenen weiteren interfraktionellen Erörterungen überlassen bleiben. Es ist vorstellbar, daß bei einer Viererkonferenz oder bei einem Viermächte-Gremium deutsche Sachverständige aus beiden Teilen Deutschlands assistieren. Aber es ist nicht annehmbar, der sowjetischen These der beiden deutschen Staaten zu folgen, wie sie auch in den jüngsten Noten wieder verteidigt wird.
Die Machthaber der Zone lassen auch gar keinen Zweifel daran, daß Verhandlungen mit ihnen über die Wiederherstellung der deutschen Einheit völlig sinnlos sind. Das zeigt ihre tatsächliche Politik, über deren Folgen wir hier heute debattieren. Und das sagen sie selber auch ganz offen. In dem Fernsehinterview am 12. September ließ sich Walter Ulbricht fragen, wie er sich die Wiedervereinigung denke. Auf diese Frage antwortet er - und er betont ausdrücklich, er gebe diese Antwort mit allem Nachdruck -, daß es für ihn nur einen Weg zu friedlicher Wiedervereinigung gibt, nämlich die Bildung einer Kommission, damit eine Vereinbarung über die Bildung einer Konföderation beider deutscher Staaten zustande kommt. So sagt er wörtlich. Dann erklärt er, was er unter Konföderation versteht: „Wir lassen uns nicht vergewaltigen und wir wollen auch niemand anderen vergewaltigen." Nun, über „vergewaltigen" will ich jetzt nicht mit ihm rechten. Aber was heißt denn seine Antwort wirklich? Diese Antwort heißt doch in Wahrheit, daß dieses System, das unter der Führung von Walter Ulbricht den 17 Millionen aufgezwungen ist, eben beibehalten werden soll und daß es nicht der freien demokratischen Entscheidung überlassen werden soll. Das aber sind die Erklärungen eben derer, mit denen wir nach sowjetischer Meinung über die Wiedervereinigung verhandeln sollen!
Den Pankower Machthabern kommt es doch nur darauf an, daß die Bundesregierung sich gewissermaßen von Staat zu Staat ein einziges Mal mit der Zonenregierung an einen Tisch setzt. Dann hat jedenfalls Ulbricht sein Verhandlungsziel erreicht, nämlich die faktische Anerkennung als zweiter deutscher Staat, und an dem weiteren, an einem erfolgreichen Ablauf der Verhandlungen, erfolgreich im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Wiedervereinigung, ist er dann nicht mehr interessiert.
({17})
Das ist die Situation, wie sie sich völlig klar aus den Handlungen und aus den eigenen Worten der Zonenmachthaber ergibt. Deshalb sind eben politische Verhandlungen mit Pankow für die Wiederherstellung der deutschen Einheit kein gangbarer Weg.
Die Sowjetregierung hat uns in ihrer letzten Note vorgeworfen, wir wollten die Verantwortung auf die Vier Mächte verlagern. Das ist nicht wahr! Die Vier Mächte haben die Verantwortung; sie haben sie und auch die Sowjetunion hat sie 1945 nach eigenem Willen bewußt übernommen.
({18})
Niemand denkt doch bei uns daran, neben der Vier-Mächte-Verantwortung nicht auch die eigene deutsche Verantwortung für unser nationales Schicksal anzuerkennen. Aber wenn wir diesem Wege folgten, den die Sowjetregierung empfiehlt, nämlich mit Pankow über die Wiedervereinigung zu verhandeln, dann würden wir damit praktisch die Sowjetregierung von ihrer Verantwortung befreien, und das können wir schon deshalb nicht, weil es der wirklichen Machtlage völlig widerspricht.
Wir werden immer wieder versuchen müssen, die Sowjetunion eines Besseren zu überzeugen. Wir wissen alle, daß unser Volk das ehrliche und dringende Verlangen hat, auch mit Sowjetrußland friedlich und freundschaftlich zu leben. Die gegenwärtige Situation entspricht diesem Verlangen gar nicht. Das, was die Sowjetregierung drüben geschehen läßt und schützt, kann in allen Deutschen - ich sage es bewußt sehr vorsichtig - nur sehr unfreundliche Gefühle wecken. Das freiheitliche Deutschland hat doch gezeigt, daß es Willen und Bereitschaft zu echter Verständigung hat. Das Verhältnis zu Frankreich ist nicht das einzige, aber ein besonders gutes Beispiel dafür, nach allem, was zwischen den beiden Völkern in ihrer Geschichte gewesen ist. Wenn die Sowjetunion dem deutschen Volke den Weg zur Wiedervereinigung öffnete, dann würde damit dem Frieden ein so fundamentaler Dienst erwiesen, daß manches möglich würde, was uns und unseren westlichen Freunden heute unmöglich ist.
In der sogenannten Berliner Erklärung der drei Westmächte und der Bundesregierung vom 27. Juli 1957 ist merkwürdigerweise der Abschnitt wenig beachtet worden, der Beweglichkeit und Entgegenkommen ausdrücklich verspricht, wenn es zu ernsten Verhandlungen kommt. Daß die Wiedervereinigung ohnehin nur im Rahmen einer europäischen Sicherheitsordnung möglich ist, ist auch klar. Wir wissen, daß vieles zusammenkommen muß, damit eine gute Lösung entstehen kann, die für uns, für unsere Verbündeten und auch für die Sowjetunion tragbar ist.
Lassen Sie mich zum Schluß nur noch ein ganz kurzes grundsätzliches Wort sagen. Die Welt hat viele Sorgen, und darunter sind sehr brennende Sorgen. Wir wissen, daß wir mit unserem Drängen auf Wiedervereinigung einmal hier und einmal da lästig fallen. Aber wir drängen ja nicht nur uni unseretwillen. Natürlich begehren wir sehnsüchtig danach, als Volk wieder in Einheit und frei nach unserer Art zu leben. Das ist auch unser gutes Recht. Was man jedem kleinen Volk in den Weiten Afrikas und Asiens zubilligt, das kann man auch einem Volk unserer Größe, unseres Standortes und unserer Geschichte nicht verweigern.
({19})
Aber es ist doch noch ein anderes im Spiel, nämlich die Gefahr für den Frieden. Ich will die Gefahr gar nicht ausmalen. Die Ereignisse vom Juni 1953 können jeden belehren, der belehrt sein will. Ob sie sich wiederholen, weiß niemand. Niemand von uns kann es wollen. Im Gegenteil, wir beschwören unsere Landsleute, und ich wünschte, ich hätte Engelszungen, um das jetzt richtig zu sagen: wir beschwören unsere Landsleute, sich nicht provozieren zu lassen. Aber wer weiß es denn, wer weiß denn, welche Kettenreaktion ausgelöst würde, wenn einmal der Faden der Geduld reißen würde? Ist das nicht Anlaß, besorgt zu sein, ja sogar Angst zu haben?
Weil wir diese Situation am besten beurteilen können, ist es unsere Pflicht, unseren Freunden,
unseren Nachbarn, unseren Gegnern und der ganzen Welt immer wieder diese Gefahr vor Augen zu halten. Denn sonst könnten sie uns einmal mit Recht vorwerfen, daß wir nicht früh genug und nicht genügend gemahnt und gewarnt haben. Die Gewißheit, daß keine Gefahr mehr in der Mitte Europas ist, gibt es erst, wenn Deutschland wieder vereint ist.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schmid ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat die heutige Sitzung des Bundestags in Berlin in der Presse der sowjetischen Besatzungszone als einen Angriffsakt im kalten Kriege zu denunzieren versucht, und Ministerpräsident Grotewohl hat sogar davon gesprochen, uns habe offensichtlich Hysterie befallen. Nein, dieses Haus unterliegt nicht hysterischen Anfällen. Ihm kommt es auch nicht darauf an, jemanden zu provozieren oder gar zu bekriegen.
({0})
Wir wollen durch unsere Beratungen in Berlin lediglich denen, die Hilfe brauchen, helfen, hüben wie drüben. Wir möchten jene, in deren Hand das Schicksal von Millionen Deutscher liegt, mahnen, über ihren politischen Überlegungen die Menschlichkeit nicht zu vergessen, über dem, was sie in der Sache für zweckmäßig halten mögen, nicht den Menschen zu vergessen.
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Wir wollen auch keine Anklagen erheben, nur um anklagen zu können. Aber wir wollen unsere Klage darüber hinausschreien, daß man die Hälfte unseres Volkes von der anderen Hälfte wegzureißen versucht und ihr vorenthält, was zum elementarsten Bestand dessen zählt, was der Mensch irgendwo und irgendwann in der Welt im Namen der Ideen unserer Zeit beanspruchen darf.
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Und wir tun dies deshalb in Berlin - nicht um zu provozieren, ich wiederhole das -, sondern um sichtbar zu machen, daß, wenn .auch Bonn der Sitz der obersten Organe der ,Bundesrepublik, dieses Gebildes des Übergangs, ist, Berlin die offenkundige Hauptstadt aller Deutschen ist.
({3})
Von dieser Hauptstadt aus muß unsere Stimme ausgehen, wenn wir die Welt und uns selber aufrufen, das Notwendige zu tun, einen Zustand zu beseitigen, der zu den Schandmalen unserer Zeit gehört.
Die Zerreißung Deutschlands mochte unmittelbar nach dem Kriege, aus der damaligen Lage heraus gesehen, eine aus der politischen Hilflosigkeit der Sieger für notwendig gehaltene Maßnahme gewesen sein, mit der man glaubte, den drohenden Zusammenbruch der Koalition der Siegermächte verhindern zu können. Diese Spaltung heute nach 13 Jahren noch aufrechterhalten zu wollen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!
({4})
Wenn wir Deutsche dieses Wort aussprechen, dürfen wir freilich einiges nicht vergessen. Wir dürfen z. B. nicht vergessen, daß auch hier die Grundschuld, wenn ich so sagen darf, bei dem vermessenen Wahnsinn des „Dritten Reichs" liegt, das die Welt durch seine Verbrechen in diese Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit gestürzt hat. Immer wieder müssen wir daran erinnern, daß hier die Wurzel allen Übels zu sehen ist.
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Wenn wir uns dessen nicht immer, je und je, bewußt werden, wenn wir glauben, das Recht zu haben, andere anzuklagen -- und wir haben manchmal dieses Recht -, dann ist nicht nur unsere Anklage nicht glaubwürdig, sondern dann werden wir in uns selber den Abszeß nicht ausräumen, der aus unserer unbewältigten Vergangenheit stammt und uns eines Tages vergiften könnte.
Sicher haben auch andere Schuld auf sich geladen, die Sieger z. B. Da gibt es eine Schuld - denn durch Siege sollte man sich zu mehr verpflichtet fühlen als zu einer Politik von Aushilfen, die auf Kosten der Prinzipien gehen, in deren Namen man um den Sieg gekämpft hat.
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Und ich möchte auch nicht verschweigen, daß meiner Meinung nach auch von deutscher Seite nicht alles getan worden ist, was nützlicherweise hätte getan werden können, um uns allen zu helfen, aus der Ausweglosigkeit herauszufinden. Man weiß, daß meine Fraktion die Politik der Bundesregierung darum heftig kritisiert hat und kritisiert. Aber Fehler hin, Fehler her - die moralische Schuld liegt in erster Linie bei denen, die heute noch Menschen, die nichts wollen als wie ihre Brüder leben, unter das Joch dessen zu beugen versuchen, was sie für Politik halten.
({7})
Denn es ist schlecht, Millionen Deutscher zu Geiseln und zu Pfändern zu degradieren,
({8})
nur um, in der Rückwirkung, sie und uns alle in den Herrschaftsbereich von Vorstellungen zwingen zu können, die wir nur unter Verzicht auf unser Gewissen und das Recht auf Selbstachtung annehmen können.
({9})
Es ist davon gesprochen worden - in sehr eindringlicher Weise davon gesprochen worden -, wie sich seit Jahren ein Strom von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone in das Gebiet der Bundesrepublik ergießt. Mehr als 3 Millionen sind bisher landflüchtig geworden. Vor Jahrzehnten noch hätte ein winziger Bruchteil dieser Zahl genügt, um die ganze Welt vor Entsetzen aufschreien zu lassen.
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Dr. Schmid ({11})
Aber das „Dritte Reich" hat uns alle stumpf gemacht;
({12})
auch das dürfen wir nicht übersehen.
Diese Zahlen zeigen besser, als jede Beschreibung es könnte, was die Menschen dieses Teiles Deutschlands empfinden und wonach sie sich sehnen. Jede Woche kommen immer noch einige Tausend zu uns, aus allen Ständen. Bedeutsamer als die Zahl aber scheint mir die Struktur, die dieser Flüchtlingsstrom heute angenommen hat. Es sind heute mehr Lehrer als früher, mehr Ärzte, mehr Professoren, mehr Ingenieure, mehr junge Menschen vor allem, die zu uns kommen, Leute also, denen es, rein wirtschaftlich gesehen, in vielen Fällen sicher einigermaßen gut geht, Leute, die in der großen Mehrzahl nicht der Hunger aus dem Lande treibt, die sich nicht durch die Apfelsinen, die Bananen und die Kühlschränke angezogen fühlen, die es bei uns vielleicht leichter und reichlicher geben mag als drüben. Denn ein großer Teil von 'ihnen sind sogenannte „Spezialisten"; die könnten sich das ja auch drüben verschaffen.
Was diese Leute veranlaßt, zu fliehen, das ist, daß sie den moralischen Druck nicht mehr aushalten können, der auf ihnen lastet. Sie fliehen, weil sie es nicht mehr ertragen, zu einem Doppelleben gezwungen zu werden, einem Leben, in dem sie lügen und heucheln müssen, wenn sie den Machthabern nicht in gefährlicher Weise mißfallen wollen, einem Leben, in dem sie ihre Kinder zu Lügnern und Heuchlern erziehen müssen, um ihnen die Wege
der Bildung offen zu halten.
Ich habe oft Gelegenheit, mit Jugendlichen zu sprechen, die zu uns geflohen sind. Immer höre ich von ihnen dieselben Gründe. Aber - und auch das muß hier gesagt werden - ich höre auch manche Kritik an uns, an uns braven Wirtschaftswunderkindern. Den Besten jener, die kommen - ich wäge jedes Wort, das ich hier spreche -, gefällt die satte Selbstzufriedenheit der Menschen gar nicht, in der sich so viele bei uns wohlgefallen und wohlfühlen.
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Diese Jungen vermissen bei uns manchmal den Schwung der Idee, von dem sie glaubten, daß er in einer freien Welt immer und überall spürbar sein müßte. Sie möchten nicht so sehr Apfelsinen und Bananen haben. Sie möchten, daß man von ihnen etwas fordere und daß man ihnen zeige, wo die Aufgaben liegen, die die Freiheit uns doch stellen müsse, die die Freiheit dem Menschen immer stellen muß, wenn er wirklich frei sein soll z u etwas und nicht nur frei sein soll von etwas.
({14}) Das erst ist Freiheit.
Wir haben, was jetzt drüben geschieht und was sich bei uns an Rückwirkungen einstellt, unter einer Reihe von Gesichtspunkten zu betrachten. Einmal unter dem Gesichtspunkt der Sorge für die, die schon zu uns gekommen sind; dann unter dem Gesichtspunkt der Sorge für die Zurückgebliebenen; denn auch für die müssen wir einiges tun. Es genügt nicht, daß wir laut sagen, wie sehr es uns empört, daß man sie unter den Bedingungen zu leben zwingt, die wir kennen. Wir müssen durch die Tat zeigen, daß ihre Sorgen auch unsere Sorgen sind, und das erfordert von uns immer mehr und immer Besseres, als wir bisher tun. Es gibt hier nur die Möglichkeit der Steigerung, keine Möglichkeit des Verharrens in dem, was heute ist.
({15})
Weiter erfordern diese Dinge von uns, daß wir uns politisch so verhalten, daß unsere Brüder und Schwestern drüben die Hoffnung bewahren können, ihr Elend werde einmal zu Ende gehen, auch für sie werde einmal die Stunde der Freiheit schlagen, so daß es einen Sinn haben könnte, auszuharren, so schwer dies auch sein mag - und wie sehr jeder von uns zuerst dreimal schlucken sollte, ehe er dieses Wort ausspricht: Ihr sollt ausharren!
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Denn wir haben es leicht und die haben es schwer.
Jeder, der fortgeht, nimmt denen, die bleiben, einen Bundesgenossen, einen Helfer in der Not und einen Trost weg. Vor allen Dingen auch macht jeder Arzt, macht jeder Lehrer, der weggeht, denen, die zurückbleiben, das Leben noch ärmer, noch grauer, noch hoffnungsloser.
Sicherlich ist die entscheidende Aufgabe, die richtige Wiedervereinigungspolitik zu treiben. Aufhören wird das Elend ja erst, wenn wir wieder alle zusammen in einem Haus wohnen, in dem wir alle miteinander die Herren sind. Aber solange wir die Wiedervereinigung noch nicht erzielt haben, müssen wir 'eine Politik betreiben, die zwischen beiden Teilen Deutschlands einen Modus vivendi möglich macht, der denen in der Zone gestattet, zu hoffen, wenigstens einigermaßen erträgliche Lebensbedingungen gewährt zu erhalten. Auch eine solche bescheidene Politik - eine Politik mit beschränkter Zielsetzung - wird Initiativen erfordern, wird Mut, Kühnheit und Phantasie erfordern.
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Wir müssen für die Geflüchteten sorgen. Es ist hier manches geschehen, das lobenswert ist. Aber es ist noch nicht genug, was geschieht, und was geschieht, geschieht manchmal in Formen, die das Gewollte in sein Gegenteil verkehren könnten. Was in den Durchgangslagern in Berlin geschieht, ist nicht alles lobenswert, und manches ist ganz und gar schlecht. Man sollte endlich damit aufhören, von alliierter Seite aus diese Durchgangslager als Vernehmungslager zu mißbrauchen.
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Die Menschen, die zu uns kommen, wollen nicht Nachrichtendiensten Stoff liefern, und würde dieser Stoff auch für die besten Zwecke der Welt gewollt. Sie wollen endlich aus der Atmosphäre des Kalten Krieges heraus! Und dann fragt man sie aus - und bringt damit diese Atmosphäre wieder zu ihnen hin. Das trifft sie schwer, das enttäuscht sie bitter.
Dr. Schmid ({19})
Man sollte diese Durchgangslager besser ausgestalten, als es bisher geschehen ist. Das kann die Stadt Berlin nicht allein tun. Man muß von Bundes wegen ,die Kosten aufbringen. Man hat mir Zahlen vorgelegt, die glaubwürdig sind. Es handelt sich dabei um Millionenbeträge; ein Betrag von 6 Millionen DM ist mir genannt worden. Wir sollten hier handeln und sehr rasch handeln. Es kommt wirklich auf Wochen an und nicht auf halbe Jahre &der gar auf Jahre.
Das Notaufnahmeverfahren bedarf dringend einer grundlegenden Änderung. Es muß entbürokratisiert und abgekürzt werden. Ich glaube, daß es besser wäre, die Flüchtlinge sofort in den Westen auszufliegen, als sie noch einen Monat in Berlin zu belassen mit all dem, was dort an Unangenehmem auf sie wartet. Ich weiß, was alles dagegen sprechen mag. Aber man sollte bei diesen Dingen weniger polizeilich als schlicht und einfach menschlich denken!
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Auf die Dauer wird dies unserer Sicherheit gut bekommen.
Schließlich ist zu bedenken, daß der Altersaufbau Berlins in bedenklicher Weise durch das Zurückbleiben gerade .der älteren, im Arbeitsprozeß schwer unterzubringenden Flüchtlinge noch mehr denaturiert wird, als er es heute schon ist. In Berlin sind 16 % der Bewohner über 60 Jahre alt; im Bundesdurchschnitt sind es 10 %. Beim jetzigen Aufnahmeverfahren besteht die Gefahr, daß dieser Prozentsatz steigen wird. Berlin darf aber kein Altersheim werden. Die Berliner Wirtschaft muß expansiv gestaltet werden. Dazu bedarf man in erster Linie der jungen Menschen. Man sollte dafür Sorge tragen, daß die älteren eine neue - hoffentlich vorübergehende - Heimat mehr im Westen der Bundesrepublik finden.
Wir werden nachzuprüfen haben, ob die Grundsätze, nach denen jemand als politischer Flüchtling anerkannt wird, richtig sind. Es geht meines Erachtens nicht an, jemandem die Anerkennung nur deshalb zu versagen, weil einer bis zum heutigen Tag versucht hat, als Beamter, als Richter oder sonst in einer Stellung in der Zone wenigstens noch etwas an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu erhalten. Ich kenne solche Fälle. Viele von uns haben das Recht auf politischen Irrtum in Anspruch genommen; ich glaube, mit Recht. Wir sollten auch anderen gestatten, dieses Recht für sich in Anspruch zu nehmen!
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Und dann: Es gilt, V o r sorge zu treffen; nachvzusorgen genügt nicht. Nun gibt es freilich manche, die meinen, wenn wir allzu gut v o r sorgten, würden wir geradezu Anreize zur Flucht schaffen. Wer heute flieht, weiß, was er aufgibt. Ich glaube - es ist darüber heute schon manches Zutreffende gesagt worden -, daß es für jedermann eine bittere Sache ist, die Heimat zu verlassen. Früher sagte man von einem, der die Heimat verließ, schlicht: „er geht ins Elend".
Es ist davon gesprochen worden - auch ich darf es in wenigen Worten tun -, daß wir versuchen müßten, jenen, die bleiben, Erleichterungen zu verschaffen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, auf den verschiedensten Ebenen. Ich habe mich gefreut, daß einer meiner Vorredner gesagt hat, das Entscheidende sei, diesen Menschen von uns aus ein bißchen Wärme zu vermitteln. Das können wir, indem wir zu ihnen hinübergehen, so oft wir können,
({22})
und uns bemühen - auch wenn es uns schwer gemacht wird -, uns immer wieder um die Möglichkeit zu bewerben, zu ihnen hinübergehen zu dürfen.
Wir werden wahrscheinlich nicht sehr viel Unmittelbares tun können, denn die Machthaber in der Zone haben ihre eigenen Vorstellungen. Man wird wahrscheinlich nur auf dem mittelbaren Weg das eine oder andere zu erreichen vermögen. Aber wir sollten uns bemühen, solche mittelbaren Wege ausfindig zu machen.
Es ist heute von Herrn Bundesminister Lemmer davon gesprochen worden, daß man das Internationale Komitee vom Roten Kreuz anrufen wolle. Das ist sicher ein vortrefflicher Gedanke. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß dieses Komitee nur tätig wird - tätig selbst in dem Sinne, daß es sich bereit erklärt, eine solche Einladung zu erwägen -, wenn die Einladung von beiden Seiten ausgeht. Also wird es nicht tätig werden, wenn nicht auch die Regierung der Zone darum bittet, daß es tätig werden möge. Freilich kann eine solche Bitte als moralischer Appell an die ganze Welt wirken; und dann ist sie eine nützliche Maßnahme. Vielleicht können wir sogar davon ausgehen, daß moralische Appelle, die in glaubwürdiger und eindringlicher Weise vorgebracht werden, auch bei den Machthabern der Zone Resonanz finden. Schließlich müßte ihnen ja einiges daran liegen, nicht vor der ganzen Welt als Kerkermeister zu erscheinen. Und wir sollten die Regierung der Sowjetunion durch unseren Botschafter in Moskau bitten, ihren Einfluß geltend zu machen, um diese Zustände zu ändern, die doch letztlich auch ihr nicht immer lieb sein können.
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Ich habe, und mit mir einige andere, bei unserm Besuch in Moskau die Erfahrung gemacht, daß den Männern dort einiges daran liegt, nicht für Förderer der Barbarei angesehen zu werden!
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- Sicher, verehrte Frau Kollegin, sie sollen sich auch danach benehmen; Sie haben ganz recht. Aber wir könnten ihnen vielleicht durch unser Verhalten einige Gelegenheiten geben, zu zeigen, daß sie imstande sind, sich so zu benehmen.
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Am schwersten lastet auf den Bewohnern der Zone das Verbot, zu uns auszureisen. Einige kön2414
Dr. Schmid ({26})
nen es. Sie haben es manchmal nicht ganz leicht bei uns, sich mit dem Geld und anderen Dingen zurechtuzufinden. Ich glaube, wir sollten ihnen aile Möglichkeiten geben und nicht fürchten, unsere Währung könnte in Gefahr kommen, wenn wir dabei großzügig sind. Man könnte ihnen z. B. Rückfahrkarten geben, ohne zuerst zu prüfen, ob ein Fall der Bedürftigkeit - auch bei den Gastgebern - vorliegt. Ich kenne solche Fälle. Das sind kleine Dinge, aber sie reihen sich aneinander zu großen Linien.
Noch ein Wort dazu: Ist es nicht eine Groteske - man muß sich das manchmal ganz klar vor Augen halten -, daß ein Deutscher aus der Bundesrepublik heute frei in alle Welt reisen kann; nur nach Deutschland, nach dem Deutschland da drüben darf er nicht reisen!
Es versteht sich von selbst, daß die Wiedervereinigung Deutschlands das Ziel Nummer eins einer jeglichen deutschen Politik sein muß. Diesem Ziel haben wir - das ist oft gesagt worden - alles andere unterzuordnen. Auch für die Erledigung von Aufgaben großer Wichtigkeit, die uns und die Welt angehen, ist die Lösung des Wiedervereinigungsproblems eine wichtige und notwendige Voraussetzung. Es wird aber leider Gottes noch eine gute Weile dauern, bis wir die Wiedervereinigung haben werden. Daß ich das nicht leichten Herzens sage, werden Sie mir glauben. Aber ich meine, wir sollten es uns verbieten, von Illusionen zu leben
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und das Wünschbare auch für das jetzt Erreichbare zu halten - ich betone: jetzt Erreichbare zu halten. Ich finde es gut, daß der Entschließungsentwurf, der uns vorliegt, von diesem Gedanken ausgeht. Denn nicht die Wünsche kommandieren die Möglichkeiten und die Mittel, sondern die Tatsachen kommandieren die Möglichkeiten und die Mittel.
Die Wiedervereinigung Deutschlands ist keine innerdeutsche Angelegenheit in der Stufe, auf der sich das Problem heute befindet. Die Spaltung Deutschlands ist das Produkt eines Stückes Weltpolitik, und nur Weltpolitik wird diese Spaltung beenden können.
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Die Wiedervereinigung Deutschlands wird das Ergebnis einer Normalisierung des Verhältnisses der beiden Weltreiche sein, die heute in der Welt sich den Rang streitig machen. Solange diese Reiche nicht wissen, welches der militärische und politische Status eines wiedervereinigten Deutschlands sein wird, werden wir leider Gottes nicht sehr viel für die Wiedervereinigung Deutschlands zu erwarten haben. Denn keiner dieser beiden wird Gefahr laufen wollen, daß das wiedervereinigte Deutschland auf die Seite des anderen geht, - sicher so lange nicht, als der kalte Krieg dauert.
Eine Verständigung der Weltreiche über diesen Status Gesamtdeutschlands scheint mir also eine Vorbedingung dafür zu sein, daß die Deutschen selbst sich um die besten Wege zur Verwirklichung der Wiedervereinigung kümmern können. Sicherlich wird es keine Wiedervereinigung geben können, wenn nicht an dem entscheidenden Punkt des Prozesses freie, unmittelbare gesamtdeutsche Wahlen stehen;
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es scheint mir aber ein Irrtum zu sein, zu glauben, daß diese Wahlen am Anfang stehen werden.
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Ich wünschte heiß, es möchte so sein. Aber es wäre unrealistisch von mir, diesen Wunsch für eine heute zu verwirklichende Chance zu halten. Man wird uns diese Wahlen erst gestatten, wenn man sich über den Status Gesamtdeutschlands geeinigt hat.
Ich bedauere es darum, daß die jüngste Note der Alliierten, von der heute gesprochen wurde, an der alten Reihenfolgetheorie festhält. Ich halte diese heute für unrealistisch. Wir werden zu nichts kommen, wenn wir als ersten Schritt freie Wahlen, dann eine gesamtdeutsche Regierung, dann einen Friedensvertrag verlangen. Leider wird zunächst einmal unter den Siegermächten eine Einigung darüber erzielt werden müssen, was denn dieses wiedervereinigte Deutschland sein soll. Das ist für uns nicht erhebend, nicht tröstlich und nicht schön. Ich glaube aber, daß, wer realistisch denkt, davon wird ausgehen müssen. Dann erst wird man den Schritt weiter zu freien Wahlen und einer gesamtdeutschen Regierung tun können, mit der ein Friedensvertrag ausgehandelt werden muß; denn es ist ganz klar, daß nur eine gesamtdeutsche Regierung ihre Unterschrift unter einen Friedensvertrag setzen kann. Ich halte es für keine gute Politik, sich in Illusionen zu wiegen. Gerade wenn man die Freiheit zum Ziel seiner Politik macht, muß man - ich zitiere hier Jaspers' Rede vom letzten Sonntag - den Mut zur Wahrheit haben.
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Wir werden also zunächst eine Politik betreiben müssen, die die Siegermächte anspornt, in Verhandlungen über Deutschland einzutreten. Ist es dazu gekommen, haben sie sich geeinigt, dann werden wir Deutschen selbst das tun müssen, was nötig ist, um den besten technischen Weg für die Wiedervereinigung zu suchen und zu finden.
Und noch eines: ich glaube, daß wir zu sehr vielem bereit sein müssen, wenn uns die Wiedervereinigung wirklich das oberste Ziel ist, und ich danke dem Herrn Kollegen Gradl für die Worte, die er dazu gesprochen hat. Eine Grenze wird freilich absolut gelten müssen: Die Wiedervereinigung darf uns nicht die Freiheit kosten.
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Denn auch unsere Schwestern und Brüder hätten von einer Wiedervereinigung nichts, wenn ihr Ergebnis sein müßte, daß nun auch wir, die wir frei atmen können, in die Knechtschaft ziehen müßten!
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Ich begrüße den Entschließungsentwurf, der dem Hause vorliegt. Ich glaube aber nicht, daß wir uns auf die Dauer mit Entschließungen solcher Art werden begnügen können. Bis verwirklicht sein wird,
Dr. Schmid ({34})
was die Entschließung fordert, wird noch ein langer Weg zurückzulegen sein. Bis das Ziel erreicht sein wird, werden hüben und drüben Dinge geschehen, die das Schicksal von uns allen bestimmen werden.
Es muß auch für die Zwischenzeit etwas getan werden! Wir müssen alles tun, um einen modus vivendi zu finden, der die Zeit von heute bis zur Wiedervereinigung erträglicher macht, als es die Zeit bis heute gewesen ist. Wir müssen so viele der heutigen Kontaktflächen als möglich aufrechterhalten, und wir müssen versuchen, neue zu schaffen. Wir müssen die Methoden und die Institutionen ausbauen, die das Nebeneinander der beiden Hälften Deutschlands erträglicher machen. Solange die Lösung nicht möglich ist, sollten wir es mit der Regelung von Einzelproblemen versuchen. Wir sollten nicht vergessen, daß gelegentlich auch im heißen Kriege Dinge geregelt wurden, die zwischen den Schützengräben lagen ...
Meine Fraktion wird einen Antrag einbringen, den wir in Bonn beraten und verabschieden werden, einen Antrag, der auf Maßnahmen abhebt, die den gegenwärtigen Notständen abhelfen könnten, und der darüber hinaus Möglichkeiten aufzeigen will, von denen wir wünschen möchten, daß sie uns in die Lage versetzen, neue Wege zu erschließen. Wir stellen diesen Antrag, weil wir gesehen haben, wohin es führt, wenn man sich die Lage immer weiter festfahren läßt und wenn man darauf verzichtet, Apparaturen zu schaffen, die diese Lage ändern könnten.
Wir haben dabei im Auge zu halten, daß uns nicht jede beliebige Möglichkeit offensteht. Wir müssen dem Umstand Rechnung tragen, daß die Deutschen drüben für die Machthaber Pfänder sind, die wir ihnen nicht einfach entwinden können. In einer solchen Lage gibt es, wenn man sich mit den Zuständen nicht abfinden will, keine andere Möglichkeit als die, den Versuch zu machen, miteinander zu reden. Entscheidend ist, daß man dies auf der richtigen Ebene tut. Auch wir glauben nicht, daß es richtig wäre, von Regierung zu Regierung zu sprechen. Das kann sinnvoll werden in dem Augenblick, da sich die vier Mächte über die Modalitäten der Wiedervereinigung geeinigt haben und es nur noch darauf ankommt, in Ausführung dieser Einigung, dieser Vereinbarung, die richtige Technik zu ihrer Verwirklichung zu finden.
Möglich aber erscheint es uns, auf bestimmten Spezialgebieten, z. B. auf den Gebieten des Handels, der Justiz, des Verkehrs und der Post, zu Vereinbarungen technischer Art zu kommen. Hier gibt es schon seit geraumer Zeit Institutionen, und es finden auch Verhandlungen statt; aber oft weiß dabei die Rechte nicht, was die Linke tut. Diese Institutionen bedürfen der Zusammenfassung. Ich glaube nicht, daß es richtig wäre, sie bei dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zusammenzufassen. Dieses Ministerium hat politisch zu bleiben, und seine Vorhaben engagieren unmittelbar, schon im Vorfeld, die Politik der Bundesregierung. Ich glaube nicht, daß es gut wäre, dies zu übersehen.
Wir meinen darum, es müsse eine besondere Stelle geschaffen werden, die zwar legitimiert, aber nicht imstande ist, auf gleicher Stufe wie eine Regierung zu operieren. Wir wissen, daß dies eine Sache ist, die nicht recht in das normale Schema unseres Staates hineinpaßt. Aber hier erlaube ich mir den Herrn Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, dem Sinne nach, zu zitieren: Außergewöhnliche Lagen erfordern außergewöhnliche Mittel.
({35})
Die Stelle, die wir geschaffen sehen mochten, denken wir uns als eine Art von - in Anführungszeichen - „Der Beauftragte der Bundesregierung". Doch möchten wir diesen Beauftragten kollegial organisiert sehen, damit eine überparteiliche Leitung möglich ist. Denn ich glaube, daß dies der Sache nur nützen könnte. Wir wissen, daß andere Regierungen auch gelegentlich zu dem Mittel, einen Beauftragten zu ernennen, greifen, wo ihre staatliche Apparatur nicht ausreicht, um mit bestimmten Sonderproblemen fertig zu werden. Herr Kollege Gradl, ich erinnere an den Sonderbeauftragten, den der Präsident der Vereinigten Staaten an den Vatikan entsandt hat, weil die Verhältnisse in den USA nicht erlauben, dorthin einen Botschafter zu senden.
Das Dilemma, in dem man sich bei einem solchen Vorhaben befindet, ist, daß die Stelle, von der eine wirksame Initiative ausgehen soll - ich sagte es schon -, zwar legitimiert sein muß, daß sie aber nicht über das Gebiet des Technischen, also über das Gebiet des Vorfeldes der Politik hinausgreifen darf. Sie muß in der Lage sein, ihrerseits auf dem Wege der Klärung, der Orientierung, der Beseitigung von Mißverständnissen Tatbestände aufzustellen und zu erhellen, die es der Regierung erlauben könnten, ihre Entscheidungen auf gesicherterer Grundlage zu fällen und auch auf der Grundlage neuer Erkenntnisse neue Initiativen zu ergreifen.
Dieses Amt muß an Weisungen der Regierung überall dort gebunden sein, wo es sich um die Schaffung von Verpflichtungen begründender Vereinbarungen handelt. Vereinbarungen über den Interzonenhandel, über Verkehrsangelegenheiten können natürlich nur geschlossen -werden, wenn der zuständige Minister es will. Das ist ganz klar. Aber dort, wo es sich nur darum handelt, das Vorfeld für weitere Möglichkeiten zu sondieren, soweit es sich also um die technische Ebene handelt - ich wiederhole das -, sollte dieses Amt auf Grund seiner eigenen Vorstellungen handeln können. In der Tat kann die Beseitigung von Meinungsverschiedenheiten auch im weisungsfreien Raum erfolgen. Nur dort, wo Regelungen im strikten Sinne des Wortes erfolgen sollen, ist die Zustimmung und möglicherweise die Weisung der Regierung unerläßlich. Wo es sich nur darum handelt, Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen und zu verbessern, kann meiner Auffassung nach ein an feste Weisungen nicht gebundenes Amt nützlicher wirken als eine in der üblichen Weise funktionierende Bürokratie.
({36})
Ich bitte, die Privatbesprechungen so weit zu dämpfen, daß der Redner überall gehört werden kann.
Herr Präsident, ich gebe mir Mühe, zu übertönen. Es ist nicht ganz leicht, aber es gehört ja auch mit zu den Obliegenheiten eines Sprechers, seine Kollegen nicht allzu sehr in dem zu behindern, was ihnen gerade im Augenblick das Wichtigere zu sein scheint.
({0})
Wir sind uns bewußt, daß durch diesen Antrag eine Reihe schwieriger politischer und rechtlicher Probleme aufgeworfen wird. Wir geben uns keiner Täuschung hin; dessen können Sie versichert sein. Wir wissen auch, daß manche uns mißverstehen werden. Man wird fürchten, daß es uns darauf ankomme, die Zonenherrschaft unmerklich und auf Umwegen zu legitimieren. Nun, ich meine, daß unser bisheriges Verhalten noch nie den Weg zu solchen Mißverständnissen freigegeben hat.
({1})
Wir wollen genau das Gegenteil einer Legitimierung der Machthaber in der Zone. Was wir wollen, ist folgendes: Wir wollen den Menschen drüben wirksamer helfen, als es bisher möglich war; wir wollen für diese Möglichkeiten brauchbare Institutionen schaffen; wir wollen damit den Menschen drüben Hoffnung geben; wir wollen aus der Versteinerung herauskommen, die alles zu ersticken droht; wir wollen aus der Lethargie heraus, die uns umklammert hält; wir wollen, daß jedem spürbar werde, daß wir nicht nur erleiden und protestieren; wir wollen zum Ausdruck bringen, daß wir uns aufgefordert wissen, immer zu versuchen, das Notwendige möglich zu machen.
({2})
Es wird nicht genügen, unseren Mitbrüdern Mut zuzusprechen, ihnen zu sagen, sie möchten doch durchhalten. Wir müssen ihnen durch unsere Taten die Gewißheit geben - hier möchte ich einen von Ihnen ({3}) wörtlich zitieren, der vor einigen Tagen hier gesprochen hat -, daß sie nicht der „dämlichere - DDR-liche - Rest" sein werden, wenn sie bleiben, sondern daß ihr Bleiben einen Sinn hat, daß ihr Bleiben mit dazu beitragen wird, einmal Deutschland, das ganze Deutschland möglich zu machen.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei hat am 1. September dieses Jahres an den Bundestagspräsidenten, an die Fraktionsvorsitzenden und an den Bundesminister für gesamtdeutsche Angelegenheiten die Anregung gerichtet, die Tagesordnung der Berliner Plenarsitzungen zu erweitern. Angesichts der Entwicklungen in Mitteldeutschland, der Fluchtbewegung und der immer stärkeren Drosselung des Reiseverkehrs erschien uns eine Beschränkung auf die bisherigen Tagesordnungspunkte nicht gerechtfertigt. Es wäre geradezu ein parlamentarischer Schildbürgerstreich gewesen, wenn wir uns hier in Berlin auf eine Debatte über den Gemeinsamen Markt und die Freihandelszone beschränkt hätten.
({0})
Wir begrüßen es, daß die Aussprache über eine gemeinsame Anfrage aller Fraktionen in Berlin Gelegenheit gibt, nicht nur eine Dokumentation des Unrechts, sondern auch eine Demonstration für die deutsche Wiedervereinigung vor aller Welt sichtbar zu machen.
Die vielfachen Schwierigkeiten, die sich aus der Zweiteilung Deutschlands, aus der besonderen Lage seiner Reichshauptstadt Berlin ergeben, sind in der Welt bei weitem nicht so bekannt, wie wir das immer anzunehmen pflegen. Es ist naheliegend, daß jedes Volk in erster Linie seine eigenen Angelegenheiten als die wichtigsten ansieht und das Interesse für entfernter liegende Probleme entsprechend geringer ist. Ich weiß nicht, ob bei uns alle Landsleute wissen, daß zu den 9 Millionen Heimatvertriebenen, die in den letzten zwölf Jahren zu uns gekommen sind, auch noch 3 Millionen Flüchtlinge aus Mitteldeutschland hinzuzuzählen sind, so daß über 12 Millionen deutscher Menschen in der Bundesrepublik und in West-Berlin im Rahmen der größten Binnenwanderung der Geschichte neu Fuß fassen mußten. Um wieviel weniger ist diese tragische Lage den Amerikanern oder Sowjetrussen, den Engländern oder Franzosen bekannt.
Das gleiche gilt für die Drosselung des Reiseverkehrs innerhalb Deutschlands. Wer weiß denn in der Welt, daß es heute einfacher ist, von Westdeutschland nach Rom, Paris und London zu reisen als nach Magdeburg und Weimar? Vier Millionen Bundesrepublikaner sind in diesem Jahre als Ferienreisende nach Italien gelangt, aber - wie Bundesminister Lemmer soeben erklärte - es konnten nur eine halbe Million Mitteldeutscher nach Westdeutschland reisen - umgekehrt ist es nicht anders -, während wir immerhin im vergangenen Jahre noch 21/2 Millionen Reisende hatten, die von Mitteldeutschland nach Westdeutschland und umgekehrt reisen konnten.
Als durch die Zuspitzung der Lage in Indonesien 35 000 holländische Flüchtlinge Hals über Kopf nach Holland fliehen mußten, haben die niederländischen Behörden dafür gesorgt, daß dieses Unglück wochenlang nicht nur in Holland, sondern in der ganzen Welt stärkste Beachtung fand. Wir Freien Demokraten sind der Meinung, daß wir nicht alles tun, um das Unglück der Zweiteilung Deutschlands mit allen seinen verhängnisvollen menschlichen Folgen immer wieder in das Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken.
({1})
Wir erlauben uns daher die Anregung, bei sämtlichen diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Referate für gesamtdeutsche AngelegenDr. Mende
heiten einzurichten. Es erscheint uns wichtiger, bei jeder Botschaft oder Gesandtschaft einen Referenten dafür zu haben als für andere weniger wichtige Dinge. Diese Referate sollten in enger Zusammenarbeit mit dem gesamtdeutschen Ministerium mit allem die deutsche Frage betreffenden Material versorgt werden, so daß der deutschen Frage in der Weltöffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit zuteil würde.
({2})
Wer von uns, meine Kolleginnen und Kollegen, die Grundsätze der Atlantikcharta, der Charta der Vereinten Nationen und die Konvention über die Menschenrechte liest, muß erschüttert sein, wie weit sich in der Praxis die Mächte, die diesen Konventionen zugestimmt haben, auf deutschem Boden von ihren Prinzipien entfernt haben.
({3})
Ich unterstreiche das, was soeben Kollege Professor Schmid dazu gesagt hat. In der Atlantikcharta, die auch von der Sowjetunion anerkannt wurde, hieß es beispielsweise, daß nach dem zweiten Weltkrieg die Menschen leben sollten „frei von Furcht und Not"; „es sollten keine Gebietsveränderungen stattfinden außer mit dem frei geäußerten Willen der davon betroffenen Bevölkerung". Die Lage des zweigeteilten deutschen Volkes und seiner Reichshauptstadt Berlin, die man glaubt wie ein mitteleuropäisches Hongkong behandeln zu können, ist ein Hohn auf die Prinzipien dieser Charta
({4})
und nur eine einzige Anklage gegen jene Mächte, die nicht in der Lage waren, diese Prinzipien gegenüber dem besiegten Deutschland in Anwendung zu bringen.
Wir Freien Demokraten bejahen schon aus unserer geistigen Haltung heraus die freie Bewegung von Menschen, Gütern und Gedanken über die engen nationalstaatlichen Grenzen hinweg. Uns bedrückt daher besonders die Drosselung des Reiseverkehrs im eigenen Lande, und wir versuchen, hier den Ursachen nachzuspüren. Meine Damen und Herren. es mag vielleicht etwas hart klingen, was ich jetzt ausspreche in Erweiterung dessen, was ebenfalls mein Vorredner, Herr Kollege Schmid, schon zu dem Problem nachrichtendienstlicher Verhöre hier dargelegt hat: eine beklagenswerte Hypothek, die auf dem zweigeteilten Deutschland und einer zweigeteilten Hauptstadt ruht, ist die Installierung von Geheim- und Nachrichtendiensten aus aller Welt auf unserem Boden. Deutschland ist in der Nachkriegszeit geradezu ein Tummelplatz für Agentenzentralen, und Berlin ist ein Umschlags-platz für den Nachrichtenhandel geworden. In beiden Teilen Deutschlands steigert man propagandistisch gegenseitig die Spionenfurcht, und manche Maßnahmen der Sowjetzonenmachthaber sind in dieser Spionenfurcht begründet. Je mehr ein demokratischer Staat sich zur Diktatur entwickelt, um so höher sind seine Ausgaben für den aktiven und passiven Nachrichtendienst, dessen Ausweitung in allen Staaten der Welt mit zu den beklagenswertesten Erscheinungen des 20. Jahrhunderts gehört. Der Staatssicherheitsdienst der Zone ist das böseste Beispiel!
Wir Freien Demokraten wissen, daß kein moderner Staat auf das Mittel nachrichtendienstlicher Tätigkeit zu seinem Schutz ganz verzichten kann. Wir glauben aber, daß es an der Zeit ist, der Überwucherung unseres politischen Lebens durch eine Übertreibung nachrichtendienstlicher Tätigkeit Einhalt zu gebieten. Dies gilt insbesondere hier für das zweigeteilte Berlin, in dem neben der legalen nachrichtendienstlichen Tätigkeit sogenannte halbamtliche private Nachrichtendienste auf eigene Faust ihr Unwesen treiben.
Die Bundesregierung wird daher von uns aufgefordert, mit Vertretern aller vier Mächte über die diplomatischen Verbindungen in Verhandlungen zu treten, um der nachrichtendienstlichen Tätigkeit dieser Mächte auf deutschem Boden gewisse Grenzen zu setzen. Es sollte geprüft werden, ob man nicht durch strafrechtliche Bestimmungen den Mißbrauch junger und unerfahrener Menschen zu nachrichtendienstlicher Tätigkeit ahnden sollte, wo immer er auftritt. Wie der Deutsche Bundestag das Anwerben junger Deutscher für den Dienst in der Fremdenlegion unter Strafe gestellt hat, so sollte auch das Anwerben junger Deutscher, die man unter Ausnutzung ihrer Notlage für nachrichtendienstliche Tätigkeit fremder Mächte anwirbt, in Zukunft strafbar gemacht werden.
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Im übrigen sollten wir selbst dafür sorgen, daß der Nachrichtenhandel auf deutschem Boden nicht noch weiter floriert. Denn das bekannte Sprichwort, daß nirgendwo mehr gelogen wird als vor einer Wahl, in einem Krieg und nach einer Jagd, gilt für den Nachrichtendienst in besonderem Maße. Wir sollten die nachrichtendienstliche Tätigkeit nicht ernster nehmen, als sie von den dafür Tätigen selbst gewertet wird. Man braucht nur auf die zahlreichen Versager und Falschmeldungen internationalen Ausmaßes in der letzten Zeit zu verweisen. Die Sowjetzonenregierung stellt sich hier selbst ein Armutszeugnis aus, wenn sie in einer Spionenhysterie in jedem Zonenbesucher einen Agenten vermutet.
Vor dieser Berliner Sitzung wurden hier und da Stimmen laut, diese Plenarsitzung würde die Reihe der Dokumentationen für die Wiedervereinigung fortsetzen, ohne einen realen Effekt erreichen zu können. Wir Freien Demokraten sind hier anderer Meinung. Auch ein autoritärer Staat kann sich der Wirkung der öffentlichen Meinung nicht entziehen, und gewisse in der Sowjetzone in der letzten Zeit zu beobachtende Einlenkungsversuche scheinen schon darauf hinzuweisen, daß das Bekanntwerden vieler Dinge den Sowjetzonenmachthabern bereits jetzt auf die Nerven geht. „Der beste Anwalt aller Leidenden und Unterdrückten ist immer noch das öffentliche Gewissen." Dieses Wort des verstorbenen Göttinger Universitätsprofessors Leonhard Nelson ist nach wie vor aktuell.
Allerdings darf sich das Parlament nicht auf bloße Dokumentationen und Demonstrationen beschränken. Es wäre schlimm, wenn wir uns mit bloßen Bekenntnissen zur deutschen Wiedervereinigung begnügten. Viel wichtiger sind uns Freien Demokraten konstruktive Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage, an denen es seit den Äußerungen unseres leider zu früh verstorbenen Bundestagskollegen und späteren Botschafters in Belgrad Dr. Karl-Georg Pfleiderer seitens der Freien Demokraten nicht gefehlt hat.
Die Ursache der Flüchtlingsnot liegt in der Teilung Deutschlands. Man mag noch soviel menschliches Versagen, man mag noch soviel unmenschliche Machtgier und bösen Unterdrückungswillen mit in Betracht ziehen, die Wurzel des Übels ist die Spaltung Deutschlands. Wer also die Flüchtlingsnot, die wir heute so beklagen, beheben will, muß die deutsche Spaltung beseitigen.
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Aus der Teilung Deutschlands wächst nicht nur die Flüchtlingsnot; sie kann auch noch andere, größere Not über uns bringen. Es ist kein leeres Wort, daß die Teilung Deutschlands den Frieden Europas gefährdet und daß es in Europa nicht zur Entspannun kommen kann, solange die deutsche Frage ungelöst ist.
Die gegenwärtige Lage, in der das halbe Deutschland dem einen großen Bündnissystem und das andere halbe Deutschland dem anderen Bündnissystem verhaftet ist mit allen sich ergebenden Bindungen und Rückwirkungen, ist gefährlich und schließt das Risiko des Krieges in sich ein. Als unsere Freunde bei den überraschenden Unternehmen „Libanon" und „Transjordanien" stutzten und sich fragten, welcher Gefahrenherd sich dort bilde, wurde unsere mangelnde Begeisterung für solche Überraschungsmanöver mit dem Hinweis gerügt: Was Berlin recht ist, ist dem Libanon billig. Und jetzt, da wir wiederum zweifeln, ob das „mourir pour Quemoy", das Sterben für Quemoy der Weisheit letzter Schluß ist und ob ein Weltkrieg um eine chinesische Insel wirklich verantwortbar ist, mahnt uns der amerikanische Außenminister, daß Quemoy mit Berlin eins gemeinsam habe, nämlich das Risiko eines Krieges. Am vorigen Donnerstag sagte der amerikanische Außenminister in New York, die Vereinigten Staaten würden eher das Risiko eines Krieges eingehen als Berlin aufgeben, und genauso handelten sie auch im Fernen Osten.
Meine Damen und Herren! Hier ist allerdings ein Einwand fällig. Man sollte nicht mit der guten Sache Berlins jedes Risiko rechtfertigen, das man irgendwo in der Welt eingeht.
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Vielleicht sind wir zu befangen, um das weltpolitisch richtig beurteilen zu können. Vielleicht sind wir auch als Europäer und Deutsche verpflichtet, vor dem Irrtum zu warnen, der Ehrgeiz der Berliner erschöpfe sich darin, von 10 oder 100 möglichen Kriegsschauplätze wenigstens einen abzugeben.
Berlin wird niemals den Dank vergessen, den es Amerika für das Sicherheitsversprechen schuldet.
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Aber im Unterschied zu Formosa ist Berlin keine waffenstarrende Bastion, die mit dem größeren Vaterland im Kriegszustand lebt, sondern die waffenlose Hauptstadt Deutschlands, die nur einen Wunsch hat: daß die Verantwortlichen mit Umsicht, Tatkraft und Eile an dem Frieden arbeiten, der die staatliche Einheit wiederbringt. Berlin denkt nicht an Kanonaden, sondern an den Friedensvertrag!
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Der Deutsche Bundestag ist nach Berlin gekommen, um hier einen weiteren Schritt in seiner gemeinsamen Deutschlandpolitik zu machen. Es ist in der Tat absurd, gerade diesem Bundestag, der sich zu gemeinsamem Handeln in der deutschen Frage aufgerafft hat, vorzuwerfen, er wolle die Verantwortung für die Wiedervereinigung auf die vier Mächte abschieben.
Nein, meine Damen und Herren, es bedarf nicht erst der Belehrung durch eine Sowjetnote, um klarzumachen, daß jede Nation erst einmal selbst verpflichtet ist, ihre staatliche Einheit zu schaffen und zu wahren. Infolgedessen wendet sich ja auch die Präambel unseres Grundgesetzes nicht an die vier Mächte, sondern an das deutsche Volk, um es aufzufordern, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir Freien Demokraten sind fest davon überzeugt, daß der erste und entscheidende Beitrag zur Wiedervereinigung von den Deutschen selbst geleistet werden muß. Das war an der Saar so, und das ist an der Elbe und der Spree nicht anders.
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Vom Volk her muß der Antrieb kommen, und ihm können sich die Volksvertreter nicht entziehen. Deshalb haben wir Freien Demokraten im März dieses Jahres den Anstoß gegeben, daß sich die Parteien zur ständigen Arbeit an einer gemeinsamen Deutschlandpolitik zusammenfinden. Der Bundesminister für gesamtdeutsche Angelegenheiten ist dafür der natürliche Kristallisationspunkt, und auf dieser Linie liegt auch der Beschluß dieses Hauses vom 2. Juli dieses Jahres, der die Bildung einer ständigen Deutschlandkonferenz anregt. Nachdem wir diesen Beschluß einmal in die Welt gesetzt haben, werden wir unsere Kräfte vereinigen müssen, damit die ständige Konferenz auch wirklich zustande kommt. Sicherlich wird es noch viele Schwierigkeiten auf unserem gemeinsamen Wege geben, sachliche Schwierigkeiten, vielleicht auch menschliche Unzulänglichkeiten. Aber wir Freien Demokraten werden auch fernerhin das Gemeinsame über das Trennende stellen. Wir werden das schon deshalb tun, weil wir uns neben dem nationalen Notstand der Teilung Deutschlands und neben dem bevölkerungspolitischen Notstand des nicht versiegenden Flüchtlingsstroms nicht noch einen dritten Notstand leisten können, nämlich den parlamentarischen Notstand einer fehlenden deutschen Initiative.
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Das würde in der Tat dann den Vorwurf gegen uns rechtfertigen, daß wir unsere eigene Verantwortung auf die vier Mächte verlagern.
Aber es geht auch nicht, daß die Mächte wiederum die Verantwortung, die sie im Jahre 1945 mit der Zoneneinteilung übernommen haben, leugnen und sie auf die Schultern der Deutschen abzuwälzen suchen. Die Sowjetregierung macht hier eine merkwürdige Unterscheidung. Sie gibt wohl zu, daß es - ich zitiere wörtlich - „eine Verantwortung der vier Großmächte für die friedliche Regelung der Deutschlandfrage gibt" - ,so in der Note an die DDR vom 18. September 1957 -, aber sie will nichts von einer Verantwortung der vier Mächte für die Wiedervereinigung Deutschlands wissen. Die Sowjetregierung sagt unentwegt, daß die Vereinigung Deutschlands eine innerdeutsche Angelegenheit sei, zuletzt wörtlich in der Note an die Bundesrepublik vom 19. September 1958. Mit anderen Worten: Die Sowjetregierung ist bereit, über einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland zu verhandeln, lehnt es aber ab, über die Wiedervereinigung zu verhandeln. Das ist eine sehr hintergründige Unterscheidung. Die Sowjetregierung liefert dem, der dem Verhandlungswege unter allen Umständen ausweichen will, bereitwillig das Argument zur Verhandlungsflucht. Sie macht es ihm leicht, sich damit zu entschuldigen, daß alles Verhandeln ohne Wiedervereinigung zwecklos sei.
Über diese sowjetische Taktik sollten einmal alle nachdenken, die aus den jüngsten Noten Moskaus herausgelesen haben, daß der von der Sowjetregierung vorgeschlagene Friedensvertrag ein Vertrag zur Verewigung der Teilung Deutschlands sei. Ich kann mir denken, daß die Sowjetregierung einige Gründe hat, uns in diese Falle der Mißverständnisse tappen zu lassen. Vielleicht hat sie gar kein Interesse daran, mit uns über Friedensvertrag und Wiedervereinigung zu sprechen, wenn wir nicht verhandlungswillig und darüber hinaus auch opferwillig sind. Wir sollten den Mut haben, meine Kolleginnen und Kollegen, der westdeutschen Bevölkerung zu sagen, daß die Wiedervereinigung auch Opfer erfordert.
Allerdings - und hier wiederhole ich nur, was alle Vorredner bereits festgestellt haben - darf dieses Opfer niemals die Freiheit sein.
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Auch uns Freien Demokraten ist ein zweigeteiltes Deutschland, in dem wir 52 Millionen Bundesrepublikaner frei sind und die Grund- und Freiheitsrechte ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens sind und woraus 17 Millionen Mitteldeutsche die Hoffnung schöpfen, daß sie es auch einmal erreichen, immer noch lieber als ein einiges Deutschland von 70 Millionen unter dem Sowjetstern, unter Hammer und Sichel.
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Jegliche Kompromißbereitschaft hört auf, wo die Grund- und Freiheitsrechte der rechtsstaatlichen Ordnung eingeschränkt werden sollen.
Vielleicht ist es der Sowjetregierung nur recht, wenn wir uns gegen den Friedensvertrag und damit die Wiedervereinigung sträuben, da sie aus der Teilung Deutschlands ja zumindest immer noch sichtbaren Nutzen zieht. Andererseits kennt die Sowjetregierung das deutsche Volk gut genug, um nicht so töricht zu sein, ihm gegenüber eine Politik der ewigen Teilung Deutschlands zu vertreten. In Wirklichkeit weiß sie längst, daß man nicht über einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland verhandeln kann, ohne über die Wiedervereinigung zu sprechen. Lassen wir uns doch nicht durch diese Unterscheidung Moskaus bluffen. Friedensvertrag ist Wiedervereingiung, wenn wir es selber wollen. In Moskau wie in Berlin wie in Bonn gilt der banale Satz: Man kann nicht über einen Schimmel verhandeln, ohne ein Pferd zu meinen. Es ist an uns, dafür zu sorgen, daß der Friedensvertrag mit der Wiedervereinigung in eins zusammenfällt und daß das eine den vertraglichen Rahmen für das andere abgibt.
Deshalb interessiert die Fraktion der Freien Demokraten in der Sowjetnote vom 19. September 1958 ein einziger Satz; er lautet:
Die Sowjetregierung hat den Regierungen der USA, Englands und Frankreichs ihre Bereitschaft mitgeteilt, an der Arbeit der Kommission aus Vertretern der vier Mächte zur Durchführung von Konsultationen zur Vorbereitung eines deutschen Friedensvertrages teilzunehmen, und hat ihrerseits die Regierungen dieser drei Mächte aufgerufen, alles Erforderliche für ihre baldigste Einberufung zu tun.
Das ist kein Njet, sondern ein klares Ja zum Vorschlag einer ständigen Deutschlandkonferenz. Gewiß, auch ich hätte es angenehmer empfunden, wenn die Sowjetregierung mit diesem Ja zur Sache auch ein Ja zur Geste des Bundestages vom 2. Juli dieses Jahres verbunden hätte, statt in eine von uns nicht gesuchte und nicht gewünschte Polemik einzutreten. Aber das ist zweitrangig! Halten wir die Hauptsache fest: die Sowjetregierung ist bereit,
I sich an einer ständigen Deutschlandkonferenz zu beteiligen, die baldigst mit den Vorarbeiten für einen deutschen Friedensvertrag, in dem ich nichts anderes als den notwendigen neuen Deutschlandvertrag sehe, beginnt.
Wie verhalten sich demgegenüber die Westmächte? Mit dankenswertem Eifer haben die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs sowie die Sprecher Italiens, Chiles und Islands sich vor den Vereinten Nationen in New York für das deutsche Anliegen der Wiedervereinigung ausgesprochen. Aber bei aller Dankbarkeit möchte ich nicht verhehlen, daß es mich mit Sorge erfüllt. wenn von westlicher Seite unrealistische Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorgebracht werden, die sich zwar auf dem Papier wunderbar ausnehmen, in den nächsten 50 bis 100 Jahren aber keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Sie wissen ja, meine Berlinerinnen und Berliner, von wem das Zitat der „50 bis 100 Jahre" stammt; nicht von einem deutschen Politiker! Selvyn
Lloyd hat vor der UNO wieder einmal den Primat der gesamtdeutschen Wahlen als die einzige mögliche und gerechte Lösung der Deutschlandpolitik hingestellt. Die Berliner Erklärung, die während des Bundestagswahlkampfes am 29. Juli 1957 hier verkündet wurde, tat das gleiche.
Längst aber hat sich im Deutschen Bundestag und in der realistischen Beurteilung der Welt die Erkenntnis durchgesetzt, daß es mit einzigen Lösungen nicht getan ist, daß es auch keine einzige Alternative gibt, sondern daß man neue Modelle suchen muß, wenn die alten Modelle uns nicht weiterbringen. Niemand in diesem Bundestag verzichtet darauf, daß ein wiedervereinigtes Deutschland frei wählen darf. Aber freie Wahlen sind kein Zauberwort, das uns die Wiedervereinigung etwa über Nacht bringen kann. Freie Wahlen werden nicht am Anfang, sondern am Ende erfolgreicher Deutschlandverhandlungen stehen, gewissermaßen als Krönung unserer Bemühungen, nicht aber am Beginn als Zauberlösung. Es wäre schmerzlich, wenn unsere westlichen Verbündeten optimale Forderungen wiederholten, deren Ergebnis darin bestünde, daß es beim toten Punkt in der deutschen Frage bleibt und wir uns in der deutschen Frage gegenseitig selber blockieren.
Am Vorabend unserer heutigen Plenarsitzung in Berlin haben die drei Westmächte überraschend - vielleicht als günstige Anregung für diese Debatte - in einem Aide-memoire an die Bundesregierung die Initiative des Bundestages vom 2. Juli dieses Jahres begrüßt und sich bereit erklärt, das deutsche Problem in einem gesonderten VierMächte-Gremium zu erörtern. In dieser bereitwilligen Zusage sehe ich einen Fortschritt, der für Deutschland und seine Wiedervereinigung entscheidende Bedeutung erlangen kann.
Überhaupt scheint mir das für die Bundesrepublik bestimmte Aide-memoire der Westmächte erfreulicherweise genügend Spielraum zu lassen, um über die bekannten Hindernisse hinweg zwischen Ost und West eine Verständigung über den Zusammentritt des Vier-Mächte-Gremiums erzielen zu können. Dagegen entnehme ich den heutigen Presseberichten, daß die westlichen Antwortnoten an die Sowjetregierung offenbar von dem Willen beseelt sind, dem russischen Njet ein nicht minder kräftiges westliches Nein entgegenzusetzen. Es wäre schade, wenn der genannte Spielraum durch dieses Nein wieder eingeschränkt würde.
Wir Freien Demokraten vertreten die Auffassung, daß die Bundesregierung gut daran tat, am 20. und 21. März dieses Jahres im Deutschen Bundestag zu erklären, sie werde eine Deutschlandkonferenz der vier Mächte nicht an einer Teilnahme Ostberliner Vertreter scheitern lassen; so nachzulesen in den Protokollen des Deutschen Bundestages. Wenn aber die Bundesregierung ihre Bedenken gegen eine solche Teilnahme zurückstellt, ist schwerlich einzusehen, warum die Westmächte in diesem Punkte unnachgiebiger sein sollten als die Bundesregierung.
Noch vor dem Zusammentritt einer ständigen Deutschlandkonferenz wird es schwierige Fragen zu lösen geben. Ist sie erst zusammengetreten, werden sich die Dinge noch härter im Raum stoßen. Wir sind keine Illusionisten. Deshalb können wir es uns ersparen, über dieses oder jenes im jüngsten Notenwechsel zu streiten. Legen wir uns nicht selber durch voreilige Festlegungen den Stolperdraht vor die eigenen Füße. Im Ringen der Mächte um die Wiedervereinigung ist es nicht Aufgabe der Deutschen, Schwierigkeiten zu machen, sondern Aufgabe der Deutschen ist es, Schwierigkeiten auszuräumen.
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In diesem Punkte dürfen und müssen wir von den Österreichern lernen, ohne daß ich das österreichische Modell unbesehen für die Lösung der deutschen Frage übernehmen möchte.
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- Die anderen sorgen schon, Frau Kollegin Weber, daß es Schwierigkeiten geben wird. Sorgen wir dafür, daß die deutsche Frage endlich aus dem Stadium dieser ewigen Deklamationen herauskommt und in das Stadium der Verhandlungen mit konkreten Vorschlägen kommt.
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Uns Freie Demokraten interessiert daher kein Auslegungsstreit zwischen West und Ost, zwischen Moskau und Bonn, sondern nur das Datum des Zusammentritts der ständigen Deutschland-Konferenz, das Datum des ersten Konferenztages, der die deutsche Frage auf eine Tagesordnung setzt, von der sie nicht mehr herunterkommen darf, bis Deutschland wiedervereinigt und damit auch die Ursache des Flüchtlingselends, das wir hier in Berlin diskutieren, beseitigt wird.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Deutschen Partei wünscht, daß diese Stunde, in der wir in der Reichshauptstadt Berlin mit allen Fraktionen uns in gemeinsamer Sorge um die Lösung der brennenden Not unserer deutschen Brüder und Schwestern bemühen, nicht nur eine historische, sondern eine gesegnete Stunde sein möge; und wir hoffen, daß das Gespräch und die Verhandlungen, die wir heute führen, denen, die hierher hören und die hierher denken, Mut, Glauben und Hoffnung stärken mögen, daß aber denen, die an der Bilanz des Unrechts, die in dieser Aussprache so sichtbar geworden ist, schuldig geworden sind, das Gewissen geschärft werden möge und ihnen erneut klar wird, daß die deutsche Einheit eine geschichtliche Tatsache ist, eine geschichtliche Tatsache, auch wenn sie durch Gewalt gegen den Willen des Volkes beseitigt worden ist.
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Nur die staatliche Organisation Deutschlands ist gespalten. Wir bekennen hier heute erneut, daß
Volk und Nation auch heute noch eine Einheit sind. Darum protestieren wir gemeinsam gegen alle Maßnahmen des Terrors und der Unmenschlichkeit, mit denen unsere Brüder und Schwestern in dem unfreien Teil Deutschlands gehindert werden, das Bewußtsein der geschichtlichen und politischen Einheit unseres Volkes durch freie Willensentscheidung deutlich zu machen.
Um diese Einheit zu erhalten, bedarf es der menschlichen Kontakte unter den Angehörigen des Volkes. Wer, gleichgültig welchen Glaubens, welcher Partei, ob Mann oder Frau, kann, wenn er Herz und Verstand prüft, abstreiten oder verschweigen, daß in unserer Welt so vieler eingeschläferten und beschwichtigten Gewissen auch manche Desinteressiertheit sich breitmacht, ein Nichtteilhabenwollen an dem peinlichen Gedanken, daß es morgen anders sein könnte und daß wir morgen schon bar aller Sicherheiten bereit sein müssen zu Entscheidungen, die ungewöhnliche und ungewohnte Opfer von uns fordern können. Wir leben in einer Welt, in der nicht nur die Grundfreiheit der Lebensführung, sondern die Freiheit des Geistes für Millionen gefährdet ist.
Ich hoffe, daß die Verständigung, die heute so erfreulich erreicht zu sein scheint, durch nichts gestört wird, was geeignet sein könnte, die Lösung der Probleme unserer großen nationalen Not zur Parteipolitik herabzuwürdigen.
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Ich hoffe vielmehr, daß Regierung und Opposition nicht nur heute in Berlin, sondern auch in der Zukunft immer wieder bereit sein mögen, alle die Entscheidungen zu treffen, die in der ungeheuren Not unseres Volkes nur gemeinsame Entscheidungen sein können.
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Ich hoffe, daß wir uns als Gesamtvolk bereit finden, gegen die teuflische Macht der Unfreiheit, die nicht nur das geteilte Deutschland bedroht, die Schroffheit unserer parteipolitischen Gegensätze in allen Fragen des gesamtdeutschen Anliegens zu mildern, den Ton der Auseinandersetzungen zu mäßigen und gemeinsam nach Wegen der Lösung zu suchen.
Ich begrüße daher jede Möglichkeit und jede vernünftige Aktivität, die geeignet ist, international und national die gestörten Kontakte und menschlichen Beziehungen wiederherzustellen, eine Aktivität, die dazu beitragen könnte, die Situation der mitteldeutschen Bevölkerung zu mildern und zu bessern. Darum können wir heute nicht darauf verzichten, nicht nur von der Sowjetregierung, sondern von allen Menschen, die Einfluß auf die Politik nehmen können, besonders aber von den russischen Machthabern und den Völkern der Sowjetunion das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf Freizügigkeit, das Menschenrecht der Familienzusammenführung zu fordern und sie immer wieder zu mahnen, daß die Anerkennung der Gebote der reinen Menschlichkeit den deutschen Menschen in der Zone nicht länger versagt werden möge.
Gefährlicher aber, meine Damen und Herren, als die Spaltung der staatlichen Organisation Deutschlands scheint mir die zunehmende Entfremdung unserer Sprache, der Begriffe und ihrer Deutung. Lebensgefährlich, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze freie Welt scheint mir die unsere geistige und soziale Ordnung bedrohende Spaltung der sozialen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Da kann es keine internationalen Auflagen, sondern nur noch ein nationales Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen geben, und dieses Selbstbestimmungsrecht unserer Nation muß gegen jede Intervention geschützt werden. Die These von der sozialen Abwehr ohne mutige Entscheidung zu einem Nein gegenüber allen Versuchungen, die Sozialpolitik zum Aushandelsobjekt zu machen, bringt daher keine Freiheit, sondern kann vielmehr den Verlust aller Freiheit für alle bedeuten. Der gesellschaftspolitische Gegensatz kann nur durch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Prinzips der Nichteinmischung entschärft werden.
Es gibt heute sicher Menschen in allen Parteiungen, die nicht nur das Risiko der wirtschaftlichen und sozialen Existenz, sondern auch das Risiko der geistigen Entscheidung auf den Staat abwälzen möchten, und sicher auch manchen, der den Verlockungen glänzender Sicherheitsversprechen der sogenannten sozialen Errungenschaften des kommunistischen Sozialismus nachgeben möchte. Wir müssen wachsam sein, damit unser Volk und alle Selbstzufriedenen unseres Volkes, die nichts mehr wagen wollen, sich der Gefahr bewußt bleiben, daß der Beschränkung unserer Freiheit durch freiwillige Aufgabe der Selbstverantwortung und der Risikobereitschaft der Verlust der Freiheit für alle folgen wird.
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Eine staatliche Sozialpolitik und eine staatliche Gesundheitspolitik nach kommunistisch-sozialistischen Vorstellungen könnte daher die Ausbreitung dieses Virus eher fördern als bekämpfen. Der soziale Wettbewerb zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist sichtbar und wird täglich neu ausgetragen. In der DDR hat er zu einer Tragödie ohnegleichen geführt. Der uns heute beschäftigende Flüchtlingsstrom, dessen Unglück und dessen Probleme der Minister für gesamtdeutsche Angelegenheiten heute so überzeugend, aber auch so erschütternd und erregend deutlich gemacht hat, ist nur ein Teil dieser Tragödie.
In diesem Wettbewerb zwischen unserer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung und der kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die einem Teil unseres Volkes gegen seinen Willen aufgezwungen wurde, wird die Arbeitsleistung der deutschen Menschen in Ost und West sehr unterschiedlich bewertet, und der Anteil an dem Erfolg der Arbeit wird sehr unterschiedlich verteilt. Niemand von uns ist im Besitz der ganzen Wahrheit. Wir sollten bekennen, daß auch unsere soziale Ordnung - nur insofern stimme ich mit dem Kollegen Schmid überein -, daß auch unsere Freiheiten - dabei denke ich an die Koalitionsfreiheit der arbei2422
tenden Menschen ebenso wie an die Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern - einer Bewährungsprobe ausgesetzt werden.
Die Flucht nicht nur der Unselbständigen, sondern nun auch der Angehörigen der freien Berufe und der Selbständigen aus der Zone, die Massenflucht der geistig Schaffenden in die Freiheit und soziale Ordnung unseres Rechtsstaates darf nicht zu sozialen Enttäuschungen führen. Hier entstehen Regierung und Parlament Aufgaben, die wir vordringlich lösen müssen. Mögen auch die Erkenntnisse und Bekenntnisse, die bei der Tagung des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland" manchen gemeinsamen Ausdruck fanden, dazu beitragen, daß unsere freiheitliche Ordnung nicht durch egoistisches oder übersteigertes Machtstreben organisierter Gruppen gefährdet wird, sondern daß sie vielmehr mit allen Kräften, die guten Willens sind, verteidigt wird, damit keine politische Macht die Axt an die Wurzeln unserer Freiheit legen kann.
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Die Menschen in der Zone wissen, daß mit dem Verlust der Freiheit in der Bundesrepublik auch ihre Hoffnung auf Freiheit im vereinten Deutschland verlorengeht.
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Sie wissen auch - was viele Plänemacher nicht zu wissen scheinen -, daß Drohungen einerseits und Angebote zweifelhaften staatsrechtlichen Inhalts nur denen nützen, die alles Entgegenkommen und ) alles Suchen nach Entspannung für Schwäche halten.
Ich wehre mich auch entschieden gegen den Begriff sogenannter sozialer Errungenschaften. Was dort als Fortschritt gepriesen wird, ist, gemessen an der Not der Menschen, die hier heute so deutlich geworden ist, sozialer Rückschritt.
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Was dort als Errungenschaft gerühmt wird, ist Verlust der Freiheit, und ohne sie gibt es keine wirkliche soziale Sicherheit.
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Daher muß jedermann wissen, daß jeder Vorschlag und jeder Kompromiß, der einer Ausbreitung des kommunistischen Sozialismus Vorschub leistet oder seine sogenannten und recht fragwürdigen Errungenschaften ganz oder teilweise, offen oder versteckt übernehmen will, die Chancen echter Entspannung vermindert. Wirtschaftspolitische Gegensätze solchen Ausmaßes sind nicht durch Kompromisse zu überwinden, weil die Freiheit unteilbar ist, weil die Entscheidung über alle hier so leidenschaftlich diskutierten Fragen bei Moskau liegt und die sowjetische Regierung heute erneut an die Grundlagen des Völkerrechts, die von der ganzen Welt anerkannt wurden, erinnert werden mußte.
In der neueren Geschichte Rußlands ist das Wort von der Humanität genauso oft und, ich nehme an, genauso ernst gebraucht worden wie in der neueren Geschichte Europas und der übrigen freien Welt, wo die Ideale der allverbindenden Humanität seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein neues politisches Denken eingeleitet haben. Politischer Ausdruck unseres Denkens ist unsere moderne, freiheitliche, an die Selbstverantwortung wie an die Solidarität appellierende Sozialpolitik,
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ist das Zustandekommen und die Arbeit der UNO, ist vor allem der Inhalt der Konvention der Menschenrechte, zu der sich auch Rußland verpflichtend bekannt hat. So verschieden die Doktrinen, so unterschiedlich die Ideale der Völker sein mögen, die Humanitätsidee als Basis der Konvention der Menschenrechte wird von allen Menschen in allen Völkern gleich verpflichtend empfunden. Zu welcher Religion und welcher Konfession die Regierenden sich auch bekennen mögen, angesichts der weltweiten Not und Angst, die niemanden unberührt lassen darf, sollten die Machthaber der Welt erneut bedenken, daß für die Staatsmänner in unserer Zeit nichts bedeutsamer sein kann, als den Völkern endlich den Frieden zu schenken. Für alle gilt die Mahnung, die der chinesische Verfasser der großen Lehre schon vor über 2000 Jahren schrieb: sich menschlichen Herzens gegenüber seinen Nächsten zu bezeigen.
Lassen Sie mich aber, meine Herren und Damen, als Frau und als Mensch des deutschen Ostens, der seine Heimat verloren hat, sie aber wie die Millionen unserer Vertriebenen nie aufgeben kann und wird, jetzt vor allem noch einige Worte im Namen der Frauen sprechen. Wir Frauen, die wir die Last zweier Kriege, das Elend der Austreibung, die Not des Krieges hier im Lande und das Grauen der Nachkriegszeit erfahren und ertragen haben, sind mißtrauisch gegen phantastische Pläne und große Versprechen. Wir wollen endlich reale, also sichtbare Zeichen des guten Willens erkennen. Wir wollen bei denen, die so viel von Frieden und Menschlichkeit sprechen und so viel Unmenschliches und Unfriedliches zu verantworten haben, endlich diesen guten Willen sehen.
Deshalb wenden wir uns heute an das Gewissen der ganzen Welt, vor allem aber an Moskau mit der Bitte, dem unendlichen Leid der deutschen Mütter, der Not so vieler von ihren Familien getrennter Kinder und Jugendlichen,
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der Sorge, der Ausweglosigkeit der alleinstehenden alten Menschen, die die Geborgenheit der Familie und der Heimat verloren haben, endlich ein Ende zu bereiten.
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Trotz der Bitterkeit aller Enttäuschungen, trotz der Bitternis des ewigen Neins, trotz aller leidvollen Erfahrungen mit dem Gegensatz von Worten und Taten, von Versprechen und Halten sollten wir zäh und geduldig an der Bereitschaft zum Verhandeln und zum Gespräch festhalten, und wir sollten nicht müde werden, ebenso geduldig alle Vorschläge und Schritte zu prüfen, die durch Verhandlungen dem Abbau des Mißtrauens und damit der Entspannung dienen könnten. Wenn es einen Friedenswillen der Völker im Osten und im Westen
wirklich gibt - und wer kann daran zweifeln? -, dann wird, so hoffen wir Frauen für alle Mütter und Väter der Welt, unsere Bitte gehört werden. Wir hoffen aber auch, daß wir endlich die Wahrheit erfahren, damit wir der Wahrheit dienen können.
Ich glaube nicht, daß wir die Freiheit unserer deutschen Menschen mit einem materiellen Preis bezahlen können. Ich hoffe aber auf die wachsende Einsicht und glaube an den Durchbruch moralischer Prinzipien bei denen, die allein den Schlüssel zur Freiheit und Selbstbestimmung unseres deutschen Volkes haben. Das deutsche Volk, in leidvollen Erfahrungen geprüft, arbeitsam und friedfertig in Ost und West, will ebenso wie seine Vertretung in diesem Hause den Frieden mit allen Völkern. Es will keinen Krieg gegen das sozialistische Lager, und es kennt keinen Gedanken an Revanche, wie er uns immer wieder unterstellt wird. Das deutsche Volk wird den Männern und Frauen der Völker in der Sowjetunion ewig dankbar sein, die dazu beitragen, der Knebelung der Freiheit und den kalten und unmenschlichen Methoden des Zwanges in der DDR endlich ein Ende zu bereiten.
Weil jedes Volk über seine Staats- und Gesellschaftsform selbst entscheiden muß, fordern wir so leidenschaftlich die freie Selbstbestimmung und Entscheidung für die Teile unseres Volkes, denen sie noch versagt ist. Wir hören heute erschüttert die bittere Klage der Menschen der Zone, die nicht am Abgrund, sondern schon mittendrin stehen. Wir sehen zutiefst bewegt immer wieder die von Not und Angst geprägten Gesichter der Flüchtlinge, und wir fragen: Wie verträgt sich solches mit der Erklärung, die Chruschtschow unlängst Stevenson gab, „daß sich keine Großmacht in der Welt über die öffentliche Meinung hinwegsetzen kann" und ihre Entscheidungen von ihr abhängig machen muß. Das gilt nicht nur für das Paßgesetz, das heute schon genannt worden ist, sondern vor allem für das tägliche Unrecht gegenüber den Menschen in der Zone. Wenn der Versicherung des ostzonalen Länderkammerpräsidenten Bach anläßlich des Ost-CDU-Parteitages in Dresden geglaubt werden soll, „daß die DDR ein Rechtsstaat ist, in dem es keinen Platz für Willkür und selbstherrliche Bestimmungen gibt", wenn Ulbricht „das friedliebende demokratische Deutschland", von dem er immer wieder spricht, wirklich will, wenn er, wie wir, „den Frieden und das Glück aller Bürger" wirklich will, wenn es ihm wirklich ernst ist mit seinen Erklärungen, niemanden vergewaltigen zu wollen, dann möge er noch heute den Vorhang hochziehen, damit die Sonne der Menschlichkeit und der Freiheit unseren gequälten Brüdern und Schwestern wieder strahlt, damit Deutsche mit Deutschen sprechen, arbeiten und leben können.
Wir Frauen sind dankbar für jedes Zeichen guten Willens. Wir begrüßen daher jeden ehrlichen Versuch, die Sache der großen deutschen Not zur gemeinsamen Sache aller Deutschen zu machen. Lassen Sie uns hier in Berlin, in unserer Reichshauptstadt, gemeinsam versprechen, keine Opfer zu scheuen, damit der Weg von Deutschland nach Deutschland frei wird, damit die Grundfreiheiten, wegen deren Versagung Millionen flüchten müssen, endlich allen Deutschen zuteil werden. Es geht um die Freiheit von Not und Furcht, um die Freiheit des Glaubens, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit des Lernens und Lehrens. Es geht um die Freiheit unserer Eltern und Erzieher, dem Rat ihres Gewissens zu folgen, und es geht um die Freiheit, die Gräber unserer Toten besuchen und pflegen zu dürfen. Es geht aber auch um die Freiheit, alle Bande der Liebe, der Freundschaft, der Nachbarschaft zu pflegen und wieder zu erneuern.
Die Herzen der Menschen, die aus Sorge um das Vaterland und seine Not nicht schlafen, sind schwer von Problemen, von gegenwärtigen und zukünftigen. Die Seelen vieler Menschen sind erfüllt von Angst und Panik, von Sorge, Not und Unsicherheit. Das Gewissen vieler Deutscher ist belastet mit der drückenden Frage, ob wir auch immer ausreichend geholfen haben, ob wir auch wirklich alles getan haben, ob wir wirklich immer bereit waren, als Christen für unsere Nächsten, die in Not sind, zu tun, was in unseren Kräften steht.
Darüber hinaus ist jedem deutschen Menschen, aber auch der ganzen freien Welt die Gewissensfrage gestellt, ob wir der unter dem Motto der Neutralität sich einschleichenden Schwäche auch immer entschieden genug begegnet sind. Trotzdem ich in vielen Mahnungen mit dem Kollegen Schmid übereinstimme, muß ich ihm doch sagen, daß ich ihm in der Kritik, daß der Westen keine zündende Idee hat, nicht folgen kann. Unsere zündende Idee ist die Freiheit, die Freiheit, die unteilbar ist. Es ist das Wesen der freiheitlichen Ordnung, daß sie keine Kollektivzündungen und keine Suggestivbegeisterung in Richtung ideologischer Wunschbilder und keine sogenannten Gesellschaftskorrekturen zuläßt.
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Mir scheint, man vermißt hier vielleicht den nationalsozialistischen, kommunistischen und im Grunde noch vielen Sozialisten nahen Stil der Begeisterung, von dem ich nicht wünschen möchte, daß er bei uns noch einmal auflebt. Ich stimme aber mit dem Kollegen Schmid überein in der Beurteilung der Idee, die dem Appell Jaspers' zur Wahrhaftigkeit zugrunde liegt. Wer wäre nicht fasziniert gewesen von dem Mut und der Aufrichtigkeit, von der Kritik und der Mahnung zur politischen Selbsterziehung, mit der Jaspers an die Parteien appelliert hat, und von seinem Aufruf zur Besinnung, seiner Mahnung, die bevorstehenden Prüfungen zu bestehen!
Ich hoffe, meine Herren und Damen, Sie stimmen mit mir darin überein, daß die gedankenlose Angst vor Experimenten, der Schrei nach immer mehr und immer höherem Wohlstand, der wachsende Egoismus einzelner und ganzer Institutionen mit ihren organisierten Wünschen, das Verschließen der Augen vor der nüchternen Wahrheit - der Wahrheit, daß staatliche Hilfen und soziale Leistungen ihren Preis kosten - und manche mangelnde Bereitschaft, für die unersetzlichen Werte der Freiheit zu opfern und zu kämpfen, mutig überwunden werden muß, wenn die große Aufgabe der
Wiedervereinigung gelöst werden soll. Unsere Verpflichtung besteht gegenüber allen Brüdern und Schwestern, vor allem denjenigen, die die Zeche einer verfehlten Politik ,am härtesten mit dem Verlust der Freiheit und der Heimat bezahlen mußten. Bei dem Bukett sozialpolitischer Forderungen werden wir zu prüfen haben, wieweit die vordringliche Behandlung von Flüchtlingsfragen das Gebot der Stunde ist und wieviel wir denen zumuten müssen, die in der Lage sind, zugunsten neuer Schichten von Schutzbedürftigen zu verzichten und zu opfern.
Lassen Sie mich zum Schluß
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- es ehrt Sie nicht, meine Herren und Damen, daß Sie wegen dieses Wortes Beifall klatschen -, getrost und mutig ein Wort aus dem Zonenvokabular übernehmen: Lassen Sie uns auch „immer bereit sein", bereit zum Opfer, bereit zur rettenden Tat! Lassen Sie uns die Stunde der Entscheidung, die täglich schlagen kann, nicht durch Schwäche und Lauheit versäumen, sondern den Bedrohungen unserer gefahrvollen Zeit tapfer Widerstand leisten! Es geht nicht um halb- oder totalsozialistische Ideen und Theorien, es geht auch nicht mehr um liberale oder konservative oder christliche Thesen, es geht ganz einfach um das Leben unseres Volkes in Freiheit, für das uns kein Opfer zu groß sein darf. Es genügt auch nicht, an die Unteilbarkeit Deutschlands zu glauben; es gilt, für das unteilbare Deutschland zu leben, zu arbeiten, zu opfern und darum zu beten, daß sich das Wort Hölderlins erfüllen möge: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!"
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Zur Begründung einer Entschließung hat das Wort der Herr Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe am Schluß dieser Sitzung die Ehre und die in unserem Hause seltene Freude, dem Hohen Hause eine gemeinsame Entschließung aller Fraktionen vortragen und zur Annahme empfehlen zu dürfen. Erlauben Sie mir, dieser Entschließung, bevor ich den Entwurf verlese, angesichts der vorgerückten Stunde eine kurze Begründung vorauszuschicken.
Der Deutsche Bundestag ist auch dieses Mal nach Berlin gekommen, um in der Hauptstadt Deutschlands seinen Willen zur Einheit unseres geteilten Vaterlandes und seine tiefe Verbundenheit mit unseren deutschen Landsleuten in der sowjetischen Zone feierlich kundzutun. Er appelliert bei dieser Gelegenheit zugleich an die Staatsmänner und an alle Menschen guten Willens in der Welt: das Unrecht der Teilung unseres Volkes und Landes und die Unterdrückung der Freiheit von 18 Millionen Deutschen darf nicht ins Unabsehbare fortgesetzt, die friedliche Lösung dieses keineswegs nur das deutsche Volk berührenden Problems darf nicht von Jahr zu Jahr verschleppt werden.
({0}) Wir müssen darum unsere Stimme eindringlich, ja beschwörend erheben. Kein freies Volk, das sich selbst achtet und das sich die Achtung der anderen Völker bewahren will, könnte anders handeln als wir.
Wir erwarten die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht etwa von einem zwischen der Bundesrepublik und dem Zonenregime ausgehandelten Staatsvertrag, wie man ihn uns anbietet. Es gibt heute nur einen freien demokratisch legitimierten deutschen Staat, die deutsche Bundesrepublik, die Sachwalterin des nationalen Anliegens aller Deutschen ist, bis das ganze deutsche Volk und die Form seiner politischen Existenz in freier Selbstbestimmung vollendet.
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Unsere Verbündeten, insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, haben uns wiederholt und feierlich versprochen, uns bei der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit zu helfen. Wir sollten ihnen in dieser Stunde für dieses Versprechen und für ihre bisherigen Bemühungen danken.
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Aber wir bitten sie zugleich, allen Schwierigkeiten
zum Trotz ihre Anstrengungen im Bunde mit uns
zu verstärken, damit das große Ziel erreicht wird.
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Die Lösung dieses Problems wird schwieriger und die Lage gefährlicher mit jedem Jahr, das ergebnislos dahingeht.
Wir wissen wohl, daß die staatliche Einheit Deutschlands nur mit der Zustimmung der Sowjetunion erreicht werden kann. Darum appellieren wir in dieser Stunde besonders an sie. Das deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze verachtet zwar die Gewalthaber in der Zone, die sich nur durch den Willen der Sowjetunion an der Macht halten und die diese Macht nur nach dem Willen der Sowjetunion ausüben können. Das deutsche Volk hat aber weder Feindschaft noch Haß gegen die Völker der Sowjetunion. Es möchte mit ihnen im Gegenteil in guter friedlicher Nachbarschaft leben. Das deutsche Volk denkt auch nicht daran, sich in innere Verhältnisse der Sowjetunion einzumischen. Aber es verlangt sein gutes Recht, in einem ungeteilten Vaterland in einer von ihm selbst frei bestimmten staatlichen Ordnung zu leben.
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Wenn der Sowjetunion nach den unglückseligen Ereignissen der Vergangenheit ebenso viel wie uns an der Entwicklung eines guten Verhältnisses zwischen unseren Staaten und Völkern gelegen ist, dann kann sie nicht hoffen, dieses Ziel zu erreichen, wenn sie ein Viertel des deutschen Volkes in Gefangenschaft hält.
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Es mag für die Sowjetunion im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands Probleme
geben, deren Lösung ihr schwierig scheint. Politische Klugheit und weitblickender Verständigungswille auf allen Seiten - unsere Entschließung appelliert an diese geistige Bereitschaft - würden solche Schwierigkeiten sicher überwinden können. Der vom Deutschen Bundestag vorgeschlagene Vier-Mächte-Ausschuß für die Vorbereitung der Lösung der deutschen Frage könnte, wenn die Verhandlungen im Geiste einer solchen weitblickenden Verständigungsbereitschaft geführt würden, zur Überwindung solcher Schwierigkeiten die wertvollsten Dienste leisten. Die drei Westmächte haben in ihrer jüngsten Note unsere Vorschläge akzeptiert. Wir bitten die Sowjetunion, ihnen beizutreten und mitzuarbeiten in einem ständigen Ausschuß, der die Lösung der ganzen deutschen Frage einschließlich der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit vorbereiten soll.
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Unsere unmittelbarste Sorge gilt den in den letzten Monaten getroffenen Maßnahmen des Zonenregimes und der dadurch herbeigeführten erneuten Erschwerung des ohnehin kaum erträglichen Loses unserer Landsleute in der Zone. Unsere Entschließung bringt den Willen, den Flüchtlingen aus der Zone nach allen Kräften zu helfen, zum Ausdruck. Aber sie erstrebt darüber hinaus auch eine Besserung der menschenunwürdigen Verhältnisse in der Zone selbst, solange die politische Lösung des deutschen Problems noch nicht möglich ist. Auch hier ist der wirkliche Adressat unseres Appells die Sowjetunion. Denn in ihrer Macht liegt es, die Verhältnisse drüben zu ändern und zu bessern.
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Unser dringlichstes Anliegen ist und bleibt die Wiedervereinigung der Deutschen, und wir müssen alle Kräfte daransetzen, daß sie sobald wie möglich herbeigeführt wird. Solange wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben, müssen wir wir, das heißt dieses Parlament, Bund und Länder, aber auch jeder Deutsche in der Bundesrepublik - tun, was in unserer Macht steht, um die materielle, geistige und seelische Not in der Zone zu mindern.
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Wir müssen dies tun, weil wir die schwere Last unserer Landsleute wenigstens zu einem wahrhaftig bescheidenen Teil mittragen wollen. Wir müssen aber auch mit allen unseren Kräften helfen, um ihren Mut und ihre Kraft zum Durchhalten ihres unsäglich schweren Lebens zu 'stärken. Mir scheint, daß wir auf diesem Gebiet noch vieles nachzuholen haben. Je mehr wir dies alle gemeinsam im Vertrauen und in vertraulicher Zusammenarbeit tun und je mehr wir dabei auf einseitige Aktionen verzichten, desto mehr Aussicht auf Erfolg haben wir.
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In der letzten Zeit sind mancherlei Vorschläge für eine solche geistige und materielle Hilfe für die Zonenbevölkerung verlautbart worden. Zwar zählt unsere gemeinsame Entschließung solche Maßnahmen nicht auf, aber ihr Aufruf zu helfender Tat gilt auch und gilt besonders hier.
Herr Kollege Wehner sprach am Schluß seiner Rede von dem, was uns trennt und eint. Ich tat dasselbe am vergangenen Sonntag in der Kongreßhalle. Auch ich halte nichts vom Vertuschen und Verwischen unserer gegensätzlichen Auffassungen über den Weg zur deutschen Einheit. Wir haben auch heute nichts verwischt und nichts vertuscht, und wir haben gut daran getan. Denn uns ging es nicht darum, eine Volkskammerschau vorzuführen.
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In dieser Stunde aber und hier angesichts des gefangenen und leidenden Viertels unseres Volkes, ihm zum Trost und uns zur Mahnung, darf ich es einmal wagen auszusprechen: was wir nicht aufgeben dürfen, ist Wahrhaftigkeit unseres Strebens und Streitens, Respekt voreinander und das immer wache Bewußtsein unseres gemeinsamen Schicksals und der schweren Verantwortung, die es uns allen zusammen auferlegt.
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In diesem Geiste, meine Damen und Herren, wurde der gemeinsame Entschließungsentwurf verfaßt. Er hat folgenden Wortlaut:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die heutigen Erklärungen der Bundesregierung über die politischen Verhältnisse im sowjetischen Besatzungsbereich Deutschlands und über das sich aus diesen Verhältnissen ergebende Flüchtlingsproblem veranlassen den Deutschen Bundestag zu folgenden Feststellungen:
I.
Seit mehr als zehn Jahren dauert jetzt der Flüchtlingsstrom an, trotz aller Bemühungen und Sperren, die das Zonenregime zwischen die beiden Teile Deutschlands legt. Die Zahl von mehr als drei Millionen Flüchtlingen allein aus Mitteldeutschland ist der erschütternde Ausdruck der Existenz- und Gewissensnot, die auf der deutschen Bevölkerung zwischen Elbe und Oder lastet. Es ist der Beweis, daß das, was den Menschen in Mitteldeutschland zugemutet wird, über die Grenze der Leidensfähigkeit hinausgeht. Es ist aber auch der klare Beweis, daß die Mitteldeutschen nicht in den ihnen aufgezwungenen Verhältnissen leben wollen. Der Bundestag protestiert gegen die fortdauernde Verletzung der Gesetze der Menschlichkeit. Es ist nicht nur ein Gebot politischer Klugheit und weitblickenden Verständigungswillens, sondern der reinen Menschlichkeit, den Deutschen in der Zone den Weg zu freier demokratischer Selbstbestimmung und zur gesamtdeutschen Gemeinschaft freizugeben.
II.
Der Deutsche Bundestag erhebt besonders Einspruch gegen die kaltherzige und heimtückische Knebelung der Freizüzigkeit, durch die den Einwohnern der sowjetisch besetzten Zone das Reisen über die Zonengrenze hinweg nahezu unmöglich gemacht ist. Das krasseste Zeichen der Unterbrechung der menschlichen Beziehungen ist der Rückgang des Reiseverkehrs um
fast 85 % gegenüber dem Vorjahr. Der Deutsche Bundestag wiederholt sein Verlangen, allen Deutschen das Reisen innerhalb Deutschlands endlich freizugeben. Daß von den Besuchern die jeweils im anderen Teil Deutschlands geltenden gesetzlichen und behördlichen Vorschriften zu beachten sind, ist eine Selbstverständlichkeit.
III.
Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, gemeinsam mit den Regierungen der Länder und insbesondere auch mit dem Senat von Berlin weiterhin dafür zu sorgen, daß den Flüchtlingen bei ihrer ersten Aufnahme in die Obhut des freiheitlichen Deutschland jede mögliche menschliche Rücksicht und Hilfe zuteil wird, und daß alles, was geschehen kann, für ihre wirtschaftliche und soziale Eingliederung getan wird. Aber die Aufnahme der Flüchtlinge darf nicht nur eine Pflicht der Behörden sein. Jeder einzelne Deutsche im Bundesgebiet ist aufgerufen, zu seinem Teil mitzuhelfen, um dem Flüchtling das tröstliche Gefühl wirklicher Geborgenheit zu geben. Der Welt muß gezeigt werden, daß sich die Deutschen nicht nur in Worten zu der Einheit ihres Volkes bekennen, sondern auch mit helfender Tat.
IV.
Die Bundesrepublik Deutschland ist sich bewußt, daß sie als Ordnung des staatlichen Lebens für die Zeit bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands geschaffen wurde. Der Bundestag wiederholt feierlich den im Grundgesetz enthaltenen Appell, daß das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Die Verpflichtung der Vier Mächte zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird hierdurch nicht berührt.
Der Deutsche 'Bundestag erwartet die Wiederherstellung der ,staatlichen Einheit Deutschlands von einem unmittelbaren freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes in seinen heute noch getrennten Teilen, der nach der
Beseitigung der nicht in deutscher Zuständigkeit liegenden Hindernisse herbeizuführen ist.
Der Deutsche Bundestag erklärt seine Bereitschaft, jede Verhandlung zu unterstützen, die die Wege zu einem solchen Willensentscheid des deutschen Volkes, sobald eine Vereinbarung der Vier Mächte diese Möglichkeit erschlossen hat, ebnet.
V.
Der Bundestag bekennt sich erneut zu seinem einmütigen Vorschlag eines Vier-Mächte-Gremiums, das gemeinsame Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorbereiten soll. Die Bundesregierung wird beauftragt, sich bei den Vier Mächten weiterhin für die Realisierung des Vorschlages nachdrücklich einzusetzen.
Dies, meine Damen und Herren, ist der Wortlaut des Entschließungsentwurfs. Ich bitte das Hohe Haus, diese Entschließung anzunehmen.
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Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den vorgelegten Entwurf einer Entschließung. Um vollkommen genau zu sein, frage ich, ob jemand gegen diese Entschließung zu stimmen wünscht. Ich bitte in diesem Fall um ein Handzeichen. - Keine Stimme dagegen. - Ich frage, ob sich jemand der Stimme enthalten will. Ich bitte dann um ein Handzeichen. - Niemand wünscht sich zu enthalten. - Dann bitte ich lalle diejenigen, die der Entschließung zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. - Ich stelle fest, daß der Deutsche Bundestag einstimmig diese Entschließung angenommen hat. Ich danke Ihnen.
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Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf den 2. Oktober vormittags 9 Uhr.
Die heutige Sitzung ist geschlossen.