Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Bei der Bundestagswahl am 26. September hat sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für Aufbruch und Fortschritt entschieden.
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Der Aufbruch soll gelingen, während noch die Coronapandemie unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft erfordert. Aber umso wichtiger ist es, jetzt nicht zu zögern. Es gibt viel zu tun.
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Vor uns liegen große Aufgaben und entscheidende Weichenstellungen – Weichenstellungen, die wir jetzt vornehmen, weil wir jetzt den richtigen Kurs in die Zukunft einschlagen müssen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
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Meine Damen und Herren, das gilt zuallererst für den Kampf gegen die Coronapandemie. Die neue Bundesregierung übernimmt den Staffelstab in außergewöhnlich bedrückenden Wochen. Dezember – das bedeutet ohnehin die dunkelsten und kürzesten Tage des Jahres. Das schlägt aufs Gemüt. Aber Dezember bedeutet sonst immer auch Adventszeit. Das ist die Zeit, in der wir normalerweise stimmungsvolle Weihnachtsmärkte erleben, gemütliche Stunden mit Familie, Freunden und Bekannten am Glühweinstand, gesellige Weihnachtsfeiern im Kreis von Kollegen und Vereinskameraden. In diesem Jahr ist das anders – jetzt schon zum zweiten Mal.
Die Bürgerinnen und Bürger verfolgen Abend für Abend auf ihren Bildschirmen die Entwicklung der Coronapandemie: viel zu hohe Infektionsraten, erschöpfte Ärztinnen und Krankenpfleger, dramatische Verlegungen von Intensivpatienten per Flugzeug und Hubschrauber, Schlangen vor Impfzentren, die Sorge vor der neuesten Variante des Virus.
Mir ist bewusst: In diesen Tagen fällt es manchmal schwer, den Mut nicht zu verlieren. Ich weiß, dass Abstand halten und glücklich sein sehr schlecht zusammenpassen, dass viele unter Einsamkeit leiden, dass endlich mal damit Schluss sein müsste, dass das Leben und die Unbeschwertheit wieder losgehen müssen.
Niemandem geht es richtig gut in diesen Zeiten – mir nicht, Ihnen nicht, den Bürgerinnen und Bürgern nicht. Und viele fragen sich: Geht das jetzt immer so weiter, oder wird es wieder besser? Heute sage ich den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes: Ja, es wird wieder besser. Ja, wir werden den Kampf gegen diese Pandemie mit der größten Entschlossenheit führen. Und ja, wir werden diesen Kampf gewinnen. Wir werden die Krise überwinden.
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Die Lage ist schwer, aber die Lösung liegt auf der Hand. Nach 20 Monaten Pandemie wissen wir längst: Das Virus mag viele Kontakte und verbreitet sich darüber rasend schnell. Darum war das oberste Gebot im letzten langen Winter, Kontakte zu reduzieren. In diesem Winter sind wir etwas weiter. Jeder kann und sollte sich regelmäßig testen. Wir alle sollten unsere Kontakte weiter behutsam einschränken. Aber am allerwichtigsten ist: Jeder kann und sollte sich impfen lassen. Darum geht es mir. Deshalb habe ich uns Ende November ein ehrgeiziges Zwischenziel gesetzt: Ich möchte, dass wir alle zusammen in Deutschland 30 Millionen Impfdosen bis Jahresende in die Oberarme kriegen, als erste Impfung, als zweite Impfung und als Boosterimpfung.
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So kriegen wir es hin, die vierte Welle hinter uns zu lassen.
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Heute kann ich sagen: Wir haben bereits 19 Millionen Impfungen erreicht. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn wir mit aller Kraft weitermachen, werden wir die 30 Millionen bis Jahresende auch erreichen. Meine dringende Bitte ist: Liebe Bürgerinnen und Bürger, machen Sie alle mit! Dann schaffen wir die 30 Millionen, und dann sind wir am Ende dieses Monats diesen einen entscheidenden Schritt vorangekommen.
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Es ist mir wichtig, dass wir es weiter gemeinsam angehen, dass wir uns weiter unterhaken und so Corona besiegen.
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Deshalb habe ich einen Krisenstab aufgebaut, der aus dem Kanzleramt heraus jeden Tag neu die Lage bewertet und auch handelt. Er wird von einem erfahrenen General geleitet. Und wir haben Experten zusammengerufen, die die Regierung ständig beraten. Deshalb erhöhen wir die Kapazitäten der Impfzentren deutlich. Deshalb sind mobile Teams in Stadt und Land unterwegs. Deshalb beziehen wir jetzt auch Zahnarztpraxen und Apotheken mit ein. Deshalb sagen wir jetzt: Es ist sehr wichtig, dass alle dreifach geimpft sind. Wir werden weiter impfen und noch mehr boostern, um die Verbreitung des Virus zu erschweren.
Die Pandemie, die Epidemie ist global. Deshalb engagieren wir uns international für Impfstoffe in den armen Ländern. Und auch in Europa werden wir gemeinsam handeln. Schon morgen werden wir uns im Europäischen Rat intensiv mit der Coronalage in Europa beschäftigen. Wir werden alles tun, was notwendig ist. Es gibt da für die Bundesregierung keine roten Linien.
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Die Bundesregierung wird nicht einen einzigen Augenblick ruhen, und wir werden jeden nur möglichen Hebel bewegen, bis wir alle unser früheres Leben und alle unsere Freiheiten zurückbekommen haben.
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Dass die notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden, ist meine Aufgabe. Dafür trage ich die Verantwortung, und das hat meine oberste Priorität. Darum hier nochmals meine inständige Bitte an Sie alle, an alle Bürgerinnen und Bürger: Helfen Sie mit, diese Aufgabe zu bewältigen! Helfen Sie uns allen, vermeidbares Leid zu verhindern! Lassen Sie sich impfen! Schützen Sie Ihr Leben und das Leben der anderen!
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Zur Wahrheit dieser Pandemie gehört aber auch: Heute, im Dezember 2021, könnte jede und jeder Erwachsene in Deutschland längst zweifach geimpft sein. Mindestens alle besonders gefährdeten Bürgerinnen und Bürger könnten geboostert sein. Dann hätten wir die Pandemie jetzt im Griff. Dann würden wir alle jetzt mit unseren alten Freiheiten und unseren Familien und Freunden eine besinnliche Vorweihnachtszeit erleben. Die Kraft des wissenschaftlichen Fortschritts hätte uns genau das ermöglicht. Darum verstehe ich auch den Unmut vieler Bürgerinnen und Bürger. Das sind ja die, die in der Zeit der Pandemie immer vorsichtig gewesen sind, die alles richtig gemacht haben, die sich an alle Regeln gehalten haben, die doppelt und dreifach geimpft sind. Sie haben alles dafür getan, dass wir unser früheres Leben und unsere frühere Freiheit zurückbekommen.
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Ihnen allen danke ich im Namen der gesamten Bundesregierung von Herzen.
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Und ich danke ausdrücklich auch den Bundesländern, ihren Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten für die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit in dieser schwierigen Zeit.
Allen verspreche ich: Diese Bundesregierung wird immer fest an Ihrer Seite stehen. Sie wird immer an der Seite derjenigen in unserem Land stehen, die sich solidarisch verhalten, an der Seite derjenigen, die mit ihrer Vorsicht und ihrer Rücksichtnahme den Zusammenhalt unserer Gesellschaft möglich machen.
Aber was es eben heute in Deutschland auch gibt, das ist Wirklichkeitsverleugnung, das sind absurde Verschwörungsgeschichten, mutwillige Desinformation und gewaltbereiter Extremismus. Um es klar zu sagen: Eine kleine extremistische Minderheit in unserem Land hat sich von unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserem Gemeinwesen und unserem Staat abgewandt, nicht nur von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft.
Für die gesamte Bundesregierung sage ich: Wir haben Respekt vor ernstgemeinten Einwänden. Wir hören zu. Wir suchen die Debatte. Wir sind offen für Kritik und Widerspruch.
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Wir geben auch den Versuch nicht auf, bislang noch Zurückhaltende davon zu überzeugen, dass sie sich doch impfen lassen – mit der Kraft der Fakten, der Kraft der Vernunft oder der Kraft des besseren Arguments.
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Aber genauso klar ist: Wir werden es uns nicht gefallen lassen, dass eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten versucht, unserer gesamten Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.
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Dieser winzigen Minderheit der Hasserfüllten, die mit Fackelmärschen, mit Gewalt und Morddrohungen uns alle angreift, werden wir mit allen Mitteln unseres demokratischen Rechtsstaats entgegentreten. Unsere Demokratie ist eine wehrhafte Demokratie.
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Viel ist ja zurzeit von der angeblichen Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Dazu stelle ich fest: Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.
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Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land verhält sich solidarisch, vernünftig und vorsichtig. Die Bundesregierung ist die Regierung dieser überwältigenden Mehrheit. Sie ist die Regierung aller solidarischen, vernünftigen und vorsichtigen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land,
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und sie ist ausdrücklich auch die Regierung derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die noch Zweifel haben oder vielleicht ganz einfach noch nicht dazu gekommen sind, sich impfen zu lassen. Die Regierung ist die Regierung der Bürgerinnen und Bürger, die sich an die Regeln halten und die umgekehrt erwarten, dass ihr Staat sie in Notlagen beschützt und ihre Freiheit sichert.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ausdrücklich und gerade an dieser Stelle danke ich der bisherigen Bundeskanzlerin. Frau Dr. Merkel hat der Bundesrepublik Deutschland 16 Jahre lang in eindrucksvoller Weise als Bundeskanzlerin gedient, jederzeit orientiert an der Sache und an den Tatsachen, stets völlig uneitel und ohne Allüren, immer mit Mut und mit Klugheit, mit Pragmatismus und mit Umsicht.
In den Wochen des Regierungswechsels mitten in dieser schwierigen Zeit der Pandemie hat Bundeskanzlerin Merkel alles nur Mögliche getan, um die Staffelübergabe an ihren Nachfolger so reibungslos wie nur irgend möglich zu gestalten. Die unaufgeregte, demokratische Zivilität des Übergangs von der einen Bundesregierung zur nächsten Bundesregierung wurde weltweit mit viel Bewunderung und Respekt aufgenommen.
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Auch hierfür, genauso wie für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und Kollegialität in den vergangenen Jahren, sage ich: Danke, Frau Dr. Merkel!
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die neue Bundesregierung wird unser Land in dieser Wahlperiode zielstrebig auf die kommenden Jahrzehnte vorbereiten. Ein modernes Deutschland, jederzeit auf der Höhe der Herausforderungen unseres Jahrhunderts – das ist das Ziel.
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Das ist die Aufgabe, die wir ab sofort anpacken.
Die Bundesregierung, die jetzt unter meiner Führung ihre Arbeit aufnimmt, wird eine Fortschrittsregierung sein. Wir sind eine Regierung des technischen Fortschritts, weil wir nur mit technischem Fortschritt klimaneutral werden können und weil Deutschland und Europa nur so mithalten können im globalen Wettbewerb. Wir sind eine Regierung des sozialen Fortschritts, weil Respekt, Gerechtigkeit und Lebenschancen für alle eben kein Gegensatz sind zu wirtschaftlicher Stärke, sondern deren Voraussetzung. Und wir sind eine Regierung des gesellschaftlichen und des kulturellen Fortschritts, die Gesetz und Recht an die Lebenswirklichkeit unseres vielfältigen Landes anpasst.
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Die Kraft des Fortschritts – jetzt in der Coronapandemie erleben wir sie doch gerade wieder. Den mRNA-Impfstoff haben Ugur Sahin und Özlem Türeci hier bei uns in Deutschland erdacht und entwickelt. Nicht zuletzt ihnen und ihrem bahnbrechenden Impfstoff verdanken wir es, dass diese Pandemie nicht noch um ein Vielfaches verheerender wüten konnte.
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Es ist keine Übertreibung: Diese beiden Forscher aus Mainz haben Millionen von Menschen auf der ganzen Welt das Leben gerettet. Ihr Impfstoff ist der beste Beweis dafür, dass kluger Fortschritt, kluge Innovation und kluge Modernisierung die Welt besser machen.
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Darum setzen wir auf die Kraft und auf die Möglichkeit des Fortschritts, und zwar gerade jetzt, in dieser Zeit. Wir brauchen Fortschritt, denn die Aufgaben, die vor uns liegen, sind riesengroß. Die Klimakrise erfordert entschlossenes, systematisches und international abgestimmtes Vorgehen. Die menschengemachte Erderwärmung muss gestoppt werden. Die Pariser Klimaziele gelten.
Hinter uns liegen 250 Jahre, in denen unser Wohlstand auf dem Verbrennen von Kohle, Öl und Gas gründete. Jetzt liegen vor uns etwa 23 Jahre, in denen wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen müssen und aussteigen werden. Denn wir haben uns verpflichtet: Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral sein. Damit liegt vor uns die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren.
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Hinzu kommen die Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung. Beide Prozesse haben die Welt verändert, neue Lebenschancen und neuen Wohlstand gebracht, auch bei uns in Deutschland. Aber zugleich macht die schiere Dynamik der Entwicklung vielen hier in unserem Land auch Sorgen. Sie fragen sich: Geht das alles gut aus für mich, für meine Familie, für meine Kinder – in 10, 20, 30 Jahren? Wird es in Zukunft noch gutbezahlte Arbeit, sichere Renten und ein gutes Gesundheitssystem geben für Leute wie mich? Was kommt da zu auf die Stadt, auf die Region, in der ich lebe?
Das sind alles große Herausforderungen, und es sind nicht die einzigen. Allen muss klar sein: Die vor uns liegenden 20er-Jahre werden Jahre der Veränderung, der Erneuerung und des Umbaus sein. Alle in unserem Land wissen das: Wir brauchen diese Erneuerung. Aber zugleich wollen wir, dass diese Erneuerung allen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land zugutekommt. Das ist unser Versprechen: Wir werden neue Sicherheit durch Wandel schaffen und werden für Sicherheit im Wandel sorgen.
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Natürlich, Reform, Veränderung, Fortschritt, das ist niemals Selbstzweck. Mit der angeblichen Notwendigkeit des Fortschritts wurden in der Vergangenheit immer wieder auch problematische Entwicklungen begründet. Die ökologischen Krisen, mit denen wir es heute weltweit zu tun haben, sind nicht zuletzt auch Folgen früherer Vorstellungen von Fortschritt. Manche Entwicklungen wurden zu ihrer Zeit als großer Fortschritt gefeiert. Im Rückblick sehen wir sie aber kritisch. Denken wir an die Vorstellung von der autogerechten Stadt, denken wir an die Atomenergie oder bestimmte Formen der industriellen Landwirtschaft. Aber damit ist doch nicht die Idee des Fortschritts selbst widerlegt!
Im 21. Jahrhundert brauchen wir nicht weniger Fortschritt, sondern mehr Fortschritt.
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Aber wir brauchen besseren Fortschritt, wir brauchen klugen Fortschritt. Fortschritt für eine bessere Welt, für ein besseres Land, für eine bessere Gesellschaft, für mehr Freiheit für jede einzelne Bürgerin und jeden einzelnen Bürger, das ist der Fortschritt, den wir wollen. Diesen Weg des Fortschritts, der Erneuerung und Transformation wird die neue Bundesregierung auf allen Ebenen konsequent einschlagen. Unser Wohlstand, unsere Lebensqualität und die Arbeitsplätze des 21. Jahrhunderts hängen davon ab, dass uns diese Modernisierung gelingt, und darum fangen wir jetzt an.
Dabei wissen wir: Veränderung fällt schwer, Aufbruch ist nicht einfach. Im internationalen Vergleich ist Deutschland ein starkes, ein erfolgreiches, ein sehr wohlhabendes Land. Gute Ideen, hochwertige Produkte und Verfahren haben den Aufstieg unseres Landes zu einer der weltweit führenden Industrienationen begründet: „Made in Germany“ – das ist seit über 100 Jahren weltweit ein Gütesiegel, und gerade darum ist die Versuchung manchmal ein bisschen groß, weiter auf die schon vorhandenen Erfolgsrezepte zu setzen. Es ist ja immer verlockend, bislang Erfolgreiches einfach weiterzumachen. Kaiser Wilhelm II. wird das Zitat zugeschrieben: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ – Das war ein Irrtum. Hätte sich diese Sichtweise seinerzeit durchgesetzt, dann wäre Deutschland heute ein anderes Land, ein ärmeres Land, ein rückständigeres Land. Darum werden wir in Deutschland neue Wege einschlagen, auch da, wo das Bestehende auf den ersten Blick noch oft gut funktioniert.
Heute ist Deutschland ein starkes Land. Aber gerade darum muss uns jetzt der Aufbruch gelingen. Gerade jetzt müssen wir handeln. Darum will die Regierung mehr Fortschritt wagen.
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Ja, es ist ein Wagnis, von bewährten Rezepten abzukehren; es ist ein Wagnis, aufzubrechen und den Weg der Veränderung einzuschlagen. Aber dieses Wagnis müssen wir eingehen; denn weitaus waghalsiger als Aufbruch und Fortschritt wären jetzt Stillstand und Weiter-so. Es geht nicht um weniger als die Lebensbedingungen heutiger und zukünftiger Generationen auf der Erde. Es geht um die Zukunft von Wohlstand und Arbeitsplätzen hier bei uns in Deutschland. Darum müssen wir den Aufbruch hinbekommen, und das werden wir auch, wenn wir uns auf unsere Stärken konzentrieren, wenn wir auf unseren Erfolgen aufbauen.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine der großen Stärken unseres Landes und auch eine der wichtigsten Voraussetzungen unseres wirtschaftlichen Erfolgs war immer unser gesellschaftlicher Zusammenhalt. Nicht erst in der Coronapandemie spüren, nein, erleben viele Bürgerinnen und Bürger: Dieser innere Zusammenhalt, diese gesellschaftliche Solidarität ist gefährdet.
Mein Leitbild, das Leitbild der neuen Bundesregierung in dieser Lage ist eine Gesellschaft des Respekts. Respekt, Anerkennung, Achtung – das bedeutet, dass wir uns bei aller Verschiedenheit gegenseitig als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen. Respekt heißt: Niemand schaut auf andere herab, weil er oder sie sich für stärker hält, für gebildeter, für reicher. Damit allein wären wir schon ein großes Stück weiter.
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Denn viele der Verletzungen und Kränkungen in unserer Gesellschaft haben ihre Ursache darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht genügend wahrgenommen fühlen.
Aber wenn uns die Coronapandemie eines gelehrt hat, dann doch dies: Es gibt keine höherwertigen und minderwertigen Tätigkeiten in unserem Land. Kassiererinnen oder Krankenpfleger, Reinigungskräfte, Paketboten oder Bahnschaffnerinnen – sie alle leisten ihren unverzichtbaren Beitrag zu unserem Gemeinwesen.
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Administrative, akademische oder künstlerische Tätigkeiten sind keine besseren oder würdigeren Tätigkeiten, sie sind andere Tätigkeiten. Auch sie verdienen natürlich Respekt.
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Mehr Zuwendung, mehr Augenhöhe und weniger Herablassung, das ist das eine, wenn wir eine Gesellschaft des Respekts wollen. Das andere ist eine tatkräftige Politik für mehr Respekt, und das wird die Bundesregierung leisten. Denn Applaus für Krankenpflegerinnen oder das Trinkgeld für den Paketboten, das ist gut und richtig, aber das reicht nicht. Wir brauchen eine aktive Politik, die Respekt ermöglicht, Respekt bewahrt und immer wieder erneuert.
Dabei geht es um harte materielle, soziale und ökonomische Fragen. Niedrige Löhne für anstrengende Arbeit, prekäre Beschäftigung ohne Tarifvertrag, Armut im Alter, Wohnungsmangel und explodierende Mieten, fehlende Lebensperspektiven in manchen ländlichen Regionen, nicht zuletzt in Ostdeutschland – in solchen Missständen kommt aus Sicht der Betroffenen oft fehlender Respekt vor ihrer Leistung und ihrer Anstrengung zum Ausdruck. Missstände wie diese sind deshalb Gift für unseren Zusammenhalt. Darum werden wir sie beheben, und wir fangen jetzt damit an.
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Klar ist auch: Zu jeder Politik des Respekts gehört, dass sie sich konsequent gegen Rassismus, Sexismus und jede andere Diskriminierung richtet. Hier werden wir nicht nachlassen. Auch vom weiteren Fortschritt in diesen Fragen hängt der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ab.
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Gerade auch im Kontext unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit nichtdeutschen Wurzeln ist der Begriff des Respekts besonders wichtig. Millionen von ihnen sind hier geboren. Viele Familien leben schon seit Generationen in Deutschland. Ihre Eltern und Großeltern haben als sogenannte Gastarbeiter massiv zum Aufbau und Wohlstand unseres Landes beigetragen. Wir sprechen hier von fast einem Viertel unserer Bevölkerung. Sie haben Anspruch auf volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in unserem Land.
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Wir sind ein Einwanderungsland bzw., um einen Begriff unseres Bundespräsidenten aufzugreifen, ein „Land mit Migrationshintergrund“.
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Aber wir müssen ein noch besseres Integrationsland werden. Dafür fühle ich mich verantwortlich.
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Und alle, die sich hier bei uns in Deutschland für ihre persönliche Zukunft anstrengen, haben mich und die Bundesregierung auf ihrer Seite.
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Meine Damen und Herren, diese konkreten Aufgaben mit einer Politik des Respekts anzugehen, das ist auch wichtig, um das soziale Vertrauen in unserem Land zu stärken, das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen. Die Bürgerinnen und Bürger, besonders die schutzbedürftigen unter ihnen, erwarten von ihrem Staat, dass er sie so gut wie möglich vor Krisen und deren Folgen schützt. Wo dem Staat dies nicht gelungen ist, da muss er für die Zukunft lernen. Das wird eine der großen politischen Aufgaben der nächsten Jahre.
Dazu gehört auch, dass wir das, was wir Globalisierung nennen, so angehen, dass diese Entwicklung unsere Gesellschaft nicht in Lager spaltet. Wenn wir dem gefährlichen Trend der Renationalisierung etwas entgegensetzen wollen, dann darf nicht der Eindruck entstehen, die Globalisierung sei der demokratischen Kontrolle entglitten.
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Darum wird diese Bundesregierung konkrete politische Initiativen vorantreiben, die deutlich machen: Wir können eine gerechtere Globalisierung durchsetzen. Am Projekt einer internationalen Mindestbesteuerung zum Beispiel beteiligen sich inzwischen 136 Staaten. Das ist nicht nur aus fiskalischen Gründen ein wichtiges Anliegen,
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sondern gerade auch deshalb, weil es die Gerechtigkeit und das Vertrauen in die Demokratie stärkt.
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Um es klar zu sagen: Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ist keine Frage, der wir uns erst dann zuwenden müssen, wenn wir irgendwann alle anderen großen Probleme gelöst haben, von der Pandemie über die industrielle Transformation bis zur Klimaneutralität. Es ist genau umgekehrt: Die großen Probleme unserer Zeit werden wir überhaupt nur dann bewältigen, wenn uns unterwegs nicht der Zusammenhalt unserer Gesellschaft abhandenkommt.
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Soziales Vertrauen und sozialen Zusammenhalt zu organisieren, das ist die Voraussetzung schlechthin dafür, dass Deutschland in diesem Jahrhundert eine gute Zukunft haben wird. Gelingen wird uns das nur mit einer Politik des Respekts, einer Politik, die immer alle Bürgerinnen und Bürger im Blick behält.
Meine Damen und Herren, in der Tat: Wir haben große Aufgaben vor uns. Deutschland muss und Deutschland wird in den 2020er-Jahren den Aufbruch hin zu einer klimaneutralen und digitalisierten Gesellschaft vollziehen. Die Bundesregierung wird die Arbeit aufnehmen, damit Deutschland gestärkt aus diesem Wandel hervorgeht, damit das Leben der Bürgerinnen und Bürger besser wird, damit unsere Wirtschaft prosperiert und viele gut bezahlte neue Arbeitsplätze entstehen.
Die kommenden vier Jahre werden wir auch dafür nutzen, Deutschland strukturell fit zu machen für die Welt des 21. Jahrhunderts. Damit die Transformation gelingt, brauchen wir eine moderne Verwaltung, die den Wandel vorantreibt, statt ihn zu verzögern. Es geht um technische und gesellschaftliche Innovationen, es geht um milliardenschwere Investitionen in neue Wohnungen, Schienenwege, Ladesäulen, Offshorewindparks, PV-Anlagen, Stromnetze und vieles, vieles mehr. Es geht darum, die Fundamente für ein neues technologisches Zeitalter zu legen – von der Wasserstoffpipeline über die dezentrale Stromversorgung bis hin zur Elektroladesäule. Darum werden wir ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen einläuten.
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Der größte Teil dieser Investitionen wird privatwirtschaftlich erbracht werden. Die Regierung wird sicherstellen, dass die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Wir werden langfristig verlässliche Politik machen, die im Dialog mit Unternehmen und Beschäftigten steht und klare Orientierung bietet. Wo es möglich ist, werden wir Marktmechanismen nutzen, etwa einen starken europäischen Emissionshandel. Wo es nötig ist, werden wir das Ordnungsrecht einsetzen, zum Beispiel bei der Klimafreundlichkeit von Gebäuden. Und wo es sinnvoll ist, werden wir Förderprogramme schaffen, um anfangs höhere Preise neuer Technologien auszugleichen und Investitionen in klimafreundliche Technologien zu unterstützen.
Deshalb werden wir eine Superabschreibung für Investitionen in Klimaschutz und digitale Wirtschaftsgüter schaffen.
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Diese Investitionsprämie wird es in den Jahren 2022 und 2023 möglich machen, einen Anteil der Kosten der im jeweiligen Jahr angeschafften oder hergestellten Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens vom steuerlichen Gewinn abzuziehen. Zusätzlich werden diese Wirtschaftsgüter entsprechend ihrer Nutzungsdauer linear abgeschrieben. Von dieser Superabschreibung profitieren somit alle, die in besonderer Weise in Klimaschutz und Digitalisierung investieren.
Außerdem werden wir die in der Coronakrise ausgeweitete Möglichkeit, dass unternehmerische Verluste bei der Berechnung von Steuerzahlungen rückwirkend stärker berücksichtigt werden können, verlängern und erweitern. Auch das schafft finanziellen Spielraum für Unternehmen.
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Ein wichtiger Treiber für Innovationen und Investitionen sind Start-ups. Wir werden das Potenzial, das von solchen innovativen Unternehmensideen für die Transformation ausgeht, stärker nutzen und unser Land zum führenden Start-up-Standort in Europa machen.
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Auch die Rolle der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei der Finanzierung von Start-ups werden wir ausbauen. Und wir verbessern die steuerlichen Bedingungen, wenn Mitarbeiter sich an ihren Unternehmen beteiligen. Gerade für Start-ups ist das eine wichtige Maßnahme.
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Damit die Transformation unseres Landes gelingt, wird die Bundesregierung in den kommenden vier Jahren viele Milliarden Euro einsetzen müssen. Dafür werden wir den verfassungsgemäß zulässigen Spielraum nutzen. Ein wichtiger Kern für diese Zukunftsinvestitionen ist der Energie- und Klimafonds, den wir zu einem Klima- und Transformationsfonds ausweiten und besser ausstatten werden.
Zugleich kommt es jetzt darauf an, dass wir genau überprüfen, auf welche Ausgaben wir verzichten können und wo dem Staat Einnahmen vorenthalten werden. Darum wird die Bundesregierung den Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung weiter vorantreiben und weltweit eine Vorreiterrolle übernehmen.
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Wir werden Steuerumgehung weiter erschweren. Diejenigen, die für sich selbst und ihre Kundinnen und Kunden Steuertricks entwickeln und vermarkten, müssen diese den zuständigen Behörden jetzt auch für rein nationale Fälle melden. So kann der Gesetzgeber schnell auf neue Umgehungsmöglichkeiten reagieren.
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Deshalb werden wir die bereits eingeführte Mitteilungspflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltung auch auf nationale Steuergestaltung für Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 10 Millionen Euro ausweiten.
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Insgesamt gilt für die Haushaltspolitik der kommenden Jahre: Nicht alles, was wünschenswert ist, wird sofort machbar sein. Die notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Transformation können und werden wir aber sicher finanzieren.
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Und auch das ist wichtig: Neue Finanzspielräume entstehen durch Wachstum. Wachstum wiederum ist das Ergebnis kluger Investitionen. Darum war und ist es richtig, nicht gegen die Krise anzusparen, sondern auch breite Hilfen und hohe Investitionen möglich zu machen, sodass wir aus der Krise herauswachsen.
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Meine Damen und Herren, für den Erfolg der Transformation ist die Höhe der eingesetzten Mittel aber nur die eine Seite. Erfolgreich wird die Transformation nur sein, wenn Investitionen deutlich schneller wirksam werden. Darum werden wir innerhalb des ersten Jahres dieser Bundesregierung ein umfassendes Paket zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung vorlegen. Unser Ziel ist, die Dauer der Verfahren zu halbieren. Dafür werden wir die personelle und technische Ausstattung der Behörden und Gerichte ausbauen. Das wollen wir mit einem Beschleunigungspakt gemeinsam mit den Ländern angehen.
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Große und besonders bedeutsame Infrastrukturmaßnahmen, also etwa wichtige Bahnstrecken oder Stromtrassen, werden wir per Gesetz auf den Weg bringen, und wir werden Regelungen treffen, die das Verhältnis von Klima- und Artenschutz klären.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Klimaschutz wird in dieser Bundesregierung zu einer zentralen Querschnittsaufgabe,
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und wir wollen uns gemeinsam daran messen lassen, wie erfolgreich wir diese Aufgabe lösen. Schon im kommenden Jahr werden wir ein umfassendes Sofortprogramm beschließen, das unsere Anstrengungen, Treibhausgase quer durch alle Sektoren zu verringern, verstärkt.
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Wir werden die Europäische Kommission aktiv dabei unterstützen, ihr Klimapaket „Fit for 55“ zu verwirklichen. Wir wollen gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die europäische und die internationale Klimapolitik voranbringen. Wir werden auch unsere internationalen Bemühungen für den Klimaschutz erhöhen. Wir sind dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet und werden zu seinem Erfolg beitragen.
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Gleichzeitig werden wir zusammen mit unseren Partnern die Gründung eines offenen Klimaklubs voranbringen, der sich auf gemeinsame Standards verständigt und deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb vor Carbon Leakage schützt.
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Meine Damen und Herren, der Wohlstand unseres Landes hängt an unserer Fähigkeit, die Infrastrukturen für das klimaneutrale Zeitalter aufzubauen. Bei der Energieversorgung wird das besonders deutlich. Im kommenden Jahr beenden wir das Zeitalter der Atomkraft in Deutschland nach Jahrzehnten des gesellschaftlichen Konflikts.
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Gleichzeitig arbeiten wir am zügigen Ausstieg aus der Kohleverstromung, idealerweise schon im Jahre 2030. Es hat ja um das Wort „idealerweise“ Debatten gegeben. Es bedeutet aber ganz einfach: Voraussetzung eines vorgezogenen Ausstiegs ist Versorgungssicherheit.
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Voraussetzung ist, dass wir einen großen Teil unseres Strombedarfs aus Windkraft und Photovoltaik decken können, dass wir neue Gaskraftwerke bauen und diese baldmöglichst mit Wasserstoff betreiben können.
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Meine Damen und Herren, heute liegt der Strombedarf in Deutschland bei 560 Terawattstunden. Wir rechnen damit, dass er im Jahr 2030 zwischen 680 bis 750 Terawattstunden betragen wird. Wir müssen also mindestens 120 Terawattstunden zusätzlich decken. Das ist ungefähr der heutige Strombedarf der Niederlande, ein Land mit fast 18 Millionen Einwohnern. 80 Prozent unseres Strombedarfs sollen bis 2030 aus erneuerbaren Energieträgern gedeckt werden. Das bedeutet: Wir müssen die Produktion von erneuerbarem Strom bis 2030 mehr als verdoppeln. Ja, das ist eine gigantische Aufgabe,
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aber ich bin der festen Überzeugung: Das wird uns gelingen.
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Auf die Grundlagen haben wir uns verständigt: Schon im kommenden Jahr werden wir Hürden und Hemmnisse beseitigen, und es sollen 2 Prozent der Fläche in Deutschland für die Windkraft reserviert werden.
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Photovoltaikmodule sollen auf deutschen Dächern zur Regel werden. Bei gewerblichen Neubauten werden sie verbindlich vorgeschrieben. Wir werden den Ausbau unserer Offshorewindkapazitäten voranbringen und mit unseren Nordseepartnern stärker kooperieren. Wir fördern den Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber wir fordern auch: Auf Dauer müssen sich die erneuerbaren Energien auf dem Markt finanzieren. Darum werden wir den förderfreien Zubau stärken. Wenn der Kohleausstieg vollendet ist, muss auch die Förderung der erneuerbaren Energien auslaufen.
Frau Präsidentin, ein zentraler Pfeiler unserer Klimapolitik ist die Verkehrswende. Dass die Bürgerinnen und Bürger heute deutlich mobiler sind als vor 30, 50 oder 100 Jahren, ist eine große Errungenschaft. Mobilität erweitert den Horizont, ermöglicht Teilhabe, Begegnung und Lebenschancen. Wir werden in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass Mobilität einfacher, komfortabler und klimafreundlicher wird und dabei für alle bezahlbar bleibt.
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Unser Schwerpunkt wird auf dem Ausbau der Schiene liegen. Wir werden die Großstädte besser an den Fernverkehr anbinden und das europäische Nachtzugnetz ausbauen. Wir werden die Bahn wieder stärker im ländlichen Raum verankern und, wo es sinnvoll ist, stillgelegte Trassen reaktivieren.
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Wir wollen den Anteil des Schienengüterverkehrs bis 2030 deutlich erhöhen und die Fahrgastzahl im Personenverkehr deutlich steigern. Dafür werden wir in den kommenden Jahren die Schienenwege ausbauen und mit digitaler Technik ausstatten. Und: Wir werden das finanzielle Engagement des Bundes für den Nahverkehr noch einmal steigern. Mit den Ländern und Kommunen werden wir einen Ausbau- und Modernisierungspakt für einen besseren ÖPNV schließen.
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Gleichzeitig wollen wir die Nutzerfreundlichkeit über die verschiedenen Verkehrsverbünde hinweg erhöhen, zum Beispiel durch gemeinsame Qualitätsstandards und eine klarere Tarifstruktur.
Zugleich wissen wir: Für viele Bürgerinnen und Bürger wird das Auto weiter unverzichtbar sein. Viele fahren gern mit dem Auto, und das soll auch so bleiben.
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Aber die Antriebe müssen klimafreundlich werden. Nach mageren Jahren hat sich die Elektromobilität zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. Wir werden dafür sorgen, dass sie weiter Tempo aufnimmt.
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Viele Hersteller haben ehrgeizige Pläne, ihre Produktion auf klimafreundliche Antriebe umzustellen. Mit dem Ausbau der heimischen Batteriezellenfertigung werden wir dafür sorgen, dass ein hoher Teil der Wertschöpfung rund ums Automobil in Deutschland bleibt. Wir werden die staatliche Förderung für 2022 fortschreiben und danach schrittweise abbauen und gerade im Bereich der Plug-in-Hybride stärker an der elektrischen Fahrleistung ausrichten.
Unser Ziel ist, dass im Jahr 2030 in Deutschland 15 Millionen Elektroautos unterwegs sind.
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Der Schlüssel hierfür liegt in der Ladeinfrastruktur. Laden muss so einfach werden wie Tanken. Das Angebot an Ladesäulen muss dem Bedarf zunächst vorausgehen. Die Förderung des Ausbaus der Ladeinfrastruktur werden wir effektiver und effizienter ausgestalten. Hemmnisse in Genehmigungsprozessen bei Netzinfrastruktur und Netzanschlussbedingungen werden wir abbauen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in Staat und Gesellschaft streben wir einen digitalen Aufbruch an. Dazu gehört zunächst – für alle wichtig und erfahrbar – die digitale Infrastruktur. Unser Ziel ist die flächendeckende Versorgung mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard. Wir werden besonders dort investieren, wo der Nachholbedarf am größten ist, um Funklöcher zu schließen. Deutschland muss als Technologiestandort wieder an die Spitze kommen.
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Darum werden wir Investitionen in künstliche Intelligenz und Quantentechnologien, in Cybersicherheit, Robotik und weitere Zukunftstechnologien stärken. Und wir wollen auch die Halbleiterproduktion ausbauen. Auch die Digitalisierung der Verwaltung werden wir entschieden vorantreiben und an einheitlichen digitalen Lösungen für Bund und Länder arbeiten.
In Europa werden wir uns dafür einsetzen, dass die Datenschutzbestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung besser und einheitlicher durchgesetzt werden. Wir brauchen aber auch ambitioniertere Regelungen für einen fairen Wettbewerb in der Digitalwirtschaft. Das Bundeskartellamt werden wir für den Umgang mit Plattformen deshalb stärken.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, lösen werden wir all diese großen Aufgaben nur, wenn alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland klarkommen können, und das hat Voraussetzungen. Eine davon ist die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro.
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Das soll im Laufe des kommenden Jahres geschehen. Der Bundesarbeitsminister wird dafür zeitnah einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen.
Der gesetzliche Mindestlohn wurde schon vor sechs Jahren eingeführt; er lag zu Beginn bei 8,50 Euro. Die Erfahrungen sind positiv. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben profitiert. Die Warnungen vor Geschäftsaufgaben und Entlassungen waren unbegründet.
Das Mindestlohngesetz sieht die regelmäßige Anpassung durch eine unabhängige Kommission vor. Diese Regelung werden wir beibehalten.
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Und doch werden wir einen einmaligen Anpassungsschritt des Gesetzgebers vornehmen. Das ist in einem reichen, wirtschaftlich starken Land wie unserem möglich, und das ist auch nötig, meine Damen und Herren.
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Bis zu 10 Millionen Erwerbstätige werden davon profitieren und ihren Lebensunterhalt besser bestreiten können. Es ist der ganz konkrete Ausdruck einer Politik des Respekts.
Dasselbe gilt für die Gleichstellung von Frauen und Männern; die muss in diesem Jahrzehnt in unserem Land endlich Realität werden und nicht erst in irgendeiner fernen Zukunft.
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Wirkliche Gleichstellung bedeutet, über den gleichen Einfluss, die gleiche Macht und die gleichen Möglichkeiten zu verfügen. Gleichstellung bedeutet auch: Für gleiche Arbeit muss gleicher Lohn gezahlt werden. Dazu werden wir die Möglichkeiten ausbauen, die das Entgelttransparenzgesetz bietet, meine Damen und Herren.
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„Respekt vor Leistung“ heißt auch „Respekt vor Lebensleistung“. Das bedeutet, im Alter nach einem langen Berufsleben eine angemessene Rente zu erhalten. Wir wissen um die Herausforderung in einer älter werdenden Gesellschaft, ein hohes Niveau sozialer Sicherheit zu garantieren und zugleich das System bezahlbar zu halten. Darum sichern wir das Mindestrentenniveau bei 48 Prozent.
({78})
Wir sehen auch keine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze vor. Und zugleich werden wir den Nachholfaktor wieder gelten lassen und bauen in die gesetzliche Rentenversicherung eine teilweise Kapitaldeckung ein.
({79})
Aus dem Haushalt werden der Rentenversicherung im kommenden Jahr zunächst 10 Milliarden Euro zugeführt, die rentabel angelegt werden können und als Demografiereserve dienen.
Wichtig ist uns auch, dass möglichst viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf eine Betriebsrente haben. Eine weitere Aufgabe in dieser Legislaturperiode wird es sein, in Zeiten der anhaltenden Niedrigzinsen bessere Angebote in der dritten Säule der privaten Altersvorsorge zu entwickeln, gerade für solche, die staatlich gefördert werden.
({80})
Alle Selbstständigen, sofern sie nicht über Versorgungswerke abgesichert sind oder eine entsprechende private Altersvorsorge aufbauen, werden in Zukunft gesetzlich versichert sein, damit einer etwaigen Armut im Alter vorgebeugt wird.
({81})
Meine Damen und Herren, auch unsere Gesundheitsversorgung und unser Pflegesystem müssen den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden. Was besser werden muss, haben wir gerade auch in der Pandemie erlebt. Wir brauchen heimische Kapazitäten der medizinischen Produktion, um nicht wieder in Abhängigkeit zu geraten. Wir werden den Öffentlichen Gesundheitsdienst besser ausstatten und das medizinische Personal konkurrenzfähiger bezahlen.
({82})
Wir werden die Chancen der Digitalisierung auch im Gesundheitssystem heben. Wir werden die ambulante Versorgung verbessern, die Krankenhausplanung und ‑finanzierung reformieren.
({83})
Meine Damen und Herren, die Pflegekräfte, die Frauen und Männer in der Pflege, haben Großartiges geleistet, oft über das Erträgliche hinaus. Ihnen gilt unser Dank.
({84})
Wir haben deshalb einen Pflegebonus vereinbart und werden die Steuerbefreiung anheben. Doch wir wissen, dass das noch keine strukturelle Lösung ist.
({85})
Darum werden wir die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, indem wir eine bessere Personalausstattung in Krankenhäusern möglich machen werden.
({86})
Wichtig ist auch, dass wir die Lücke zwischen den Löhnen in der Kranken- und Altenpflege schließen.
Wenn Bürgerinnen und Bürger pflegebedürftig werden, ist das für sie und ihre Angehörigen oft finanziell überfordernd. Darum werden wir die Eigenanteile an den Kosten in Pflegeheimen begrenzen.
({87})
Und, meine Damen und Herren, wir werden prüfen, wie eine freiwillig wählbare Pflegevollversicherung im Alter für alle Pflegekosten, die zusätzlich anfallen, aufkommen kann.
Meine Damen und Herren, Dreh- und Angelpunkt für die Zukunft der sozialen Sicherung bleibt der Arbeitsmarkt. Darum ist es wichtig, dass wir weiterhin ein hohes und möglichst noch steigendes Beschäftigungsniveau in Deutschland haben, am besten mit Sozialpartnerschaft, mit Tarifbindung und Mitbestimmung. Gerade in Zeiten des Wandels brauchen wir starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände.
({88})
Ein hohes Beschäftigungsniveau ist auch aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen nötig. Wir werden die Situation in der Pflege nur dann nachhaltig verbessern, wenn mehr Pflegekräfte dort tätig sein können. Wir werden viele unserer Vorhaben, vom Wohnungsbau bis zur Energiewende, nur dann hinbekommen, wenn ausreichend qualifizierte Fachkräfte im Einsatz sind. Für eine bessere Pflege, für den Bau von Wohnungen, für die industrielle Transformation, für innovative Unternehmen – überall brauchen wir qualifizierte Arbeitskräfte.
Das ist im Übrigen ein fast schon symbolhaftes Projekt der neuen Fortschrittsregierung, weil wir hier wirtschaftliche Ziele mit sozialen und gesellschaftspolitischen Zielen verbinden.
({89})
Wir müssen daher auch für gute Aus- und Weiterbildung sorgen.
({90})
Das ist mir auch persönlich sehr wichtig; denn auch dabei geht es wieder um Respekt. Ich will, dass eine berufliche Ausbildung im dualen System in Deutschland genauso viel Anerkennung erhält wie das Studium.
({91})
Darum sollen alle Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, auch einen Ausbildungsplatz bekommen. Damit das klappt, haben wir eine Ausbildungsgarantie vereinbart.
({92})
Für viele junge Leute, die sich für ein Studium entscheiden, werden wir die Ausbildungsförderung verbessern. Vor 50 Jahren wurde das BAföG eingeführt. Es war eine Errungenschaft für mehr Chancengleichheit. Wir werden das BAföG elternunabhängiger machen.
({93})
Die geplante Kindergrundsicherung ist eine Basisfinanzierung für Studierende. Wir werden zugleich die Freibeträge und die Altersgrenzen anheben, damit mehr Studierende Zugang zum BAföG bekommen, und wir werden prüfen, ob wir den Darlehensanteil senken können.
({94})
Zugleich gilt: Die berufliche Bildung endet nicht mit der Erstausbildung; erst recht nicht angesichts der Transformationen, die wir schon jetzt erleben und in den nächsten Jahrzehnten noch erleben werden. Die Welt wird digitaler. Wir müssen klimaneutral werden. Viele Tätigkeiten können von Robotern und künstlicher Intelligenz erledigt werden, aber bei Weitem nicht alle. Die Arbeit – da bin ich sicher – wird uns nicht ausgehen, aber die Tätigkeiten und Aufgaben werden sich verändern; berufliche Weiterbildung wird immer wichtiger.
({95})
Darum verbessern wir das Aufstiegs-BAföG für diejenigen, die sich für diesen Weg entscheiden. Mit höheren Fördersätzen und Freibeträgen sorgen wir dafür, dass auch eine zweite vollqualifizierte Ausbildung gut möglich ist. Auch die Arbeitsförderung richten wir stärker auf Weiterbildung aus mit einer Bildungszeit und einem Qualifizierungsgeld, das sich am Kurzarbeitergeld orientiert.
Klar ist ebenfalls, dass wir in Deutschland deutlich mehr Arbeitskräfte brauchen. Darum werden wir unser Einwanderungsrecht modernisieren und ergänzen. Auf der Basis eines neuen Punktesystems erleichtern wir ausländischen Arbeitskräften die Jobsuche in Deutschland. Gleichzeitig steuern wir damit gezielt den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das ist ein Fortschritt, den wir brauchen.
({96})
Wichtig ist deshalb auch, dass wir Bildungs- und Berufsabschlüsse aus dem Ausland leichter und schneller anerkennen.
({97})
Meine Damen und Herren, mehr Förderung wollen wir auch in der Grundsicherung. Es ist gut, dass wir ein Sozialsystem mit einer Grundsicherung für alle haben, die nicht oder nicht mehr über andere Systeme abgesichert sind. Aber besser ist es, wenn eine Grundsicherung nicht oder zumindest nicht lange in Anspruch genommen werden muss. Was im Volksmund „Hartz IV“ heißt, ersetzen wir durch ein neues Bürgergeld.
({98})
Es hat sich in der Pandemie bewährt, in den ersten beiden Jahren das Vermögen stärker zu schonen und die Angemessenheit der Wohnung nicht zu überprüfen. Das ist fair und entlastet die Betroffenen.
({99})
Die Eingliederungsvereinbarung ersetzen wir durch eine Teilhabevereinbarung. Wir verzichten nicht auf Mitwirkungspflichten, aber wir schaffen ab, dass man sich nicht gleich qualifizieren kann, wenn das gut ist. Wer zum Beispiel einen qualifizierten Beruf gelernt hat und in die Grundsicherung rutscht, sollte die Chance haben, sich weiterzubilden oder einen neuen Beruf zu erlernen.
({100})
Auch das ist Respekt vor dem Beruf und der Lebensleistung. Es bleibt beim Prinzip „Fördern und Fordern“, aber wir fördern mehr, und wir fördern besser als bisher.
({101})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir wollen Frauen und Männern gleichermaßen eine gute Beschäftigungsbiografie ermöglichen und zugleich den Fachkräftebedarf sichern. Das geht, wenn wir Beruf und Familie noch besser vereinbar machen. Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell, und wir wollen es noch besser machen. Es soll sich lohnen, wenn Eltern die Zeit für Erziehung, Pflege und Erwerbsarbeit partnerschaftlich teilen. Dazu gehört, dass die Partnerin oder der Partner nach der Geburt zwei Wochen Zeit bekommt, für die Familie da zu sein, ohne den Urlaub anzutasten. Wir sprechen von einer vergüteten Freistellung, und es geht uns darum, gleichzeitig die Anzahl der Kinderkrankentage dauerhaft anzuheben. Das alles hilft Familien.
({102})
Eine große und technisch anspruchsvolle Reform nehmen wir uns vor mit der Einführung einer neuen Kindergrundsicherung. Derzeit haben wir noch verschiedene Leistungen und steuerliche Regelungen, die nebeneinander existieren. Das ist zu kompliziert, nicht gut verständlich und in vielen Fällen auch nicht bedarfsgerecht. Die Kindergrundsicherung, die wir im Laufe dieser Legislaturperiode einführen werden, wird aus einem Sockelbetrag für jedes Kind bestehen sowie aus einem Zusatzbetrag, der vom Einkommen der Eltern abhängt. Die Kindergrundsicherung wird unbürokratisch digital zu erhalten sein. Das ist ein großer Fortschritt hin zu einem modernen Sozialstaat.
({103})
Gemeinsam mit den Ländern werden wir die frühkindliche Bildung in den Kitas stärken, bessere Startchancen in sozial benachteiligten Schulen schaffen, schulische Ganztagsangebote verbessern und mit dem DigitalPakt 2.0 die Digitalisierung unserer Schulen vorantreiben.
({104})
Eine der sehr großen sozialen Fragen unserer Zeit ist das Wohnen. Guter und bezahlbarer Wohnraum ist ein menschliches Grundbedürfnis. Aber für viele Bürgerinnen und Bürger gibt es heute gerade in unseren Städten zu wenig bezahlbare Wohnungen. Sie müssen endlos suchen, finanziell an ihre Grenzen gehen oder lange Pendelwege zur Arbeit in Kauf nehmen. Der Traum vom Häuschen am Stadtrand oder von der Eigentumswohnung im Kiez bleibt für normalverdienende Familien immer öfter unerfüllt.
({105})
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt erfordert, dass die neue Bundesregierung entschlossen handelt, und das tun wir. Wir schaffen ein neues Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, damit wir alle Kraft auf diese Aufgabe konzentrieren können.
({106})
Wir wollen, dass in Deutschland pro Jahr 400 000 neue Wohnungen gebaut werden, darunter 100 000 öffentlich geförderte. Wir werden ein Bündnis für bezahlbaren Wohnraum einberufen. Zusammen mit den Ländern und Kommunen, der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie den Mieterverbänden werden wir beraten, wie wir schneller und günstiger mehr Wohnraum in Deutschland schaffen.
({107})
Das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt kann aber nicht von heute auf morgen ausgeglichen werden. Darum werden wir auch in der Zwischenzeit etwas tun, um den Anstieg der Mieten in Grenzen zu halten: Wir verlängern die bestehende Mietpreisbremse bis zum Jahr 2029, und wir senken in angespannten Wohnungsmärkten die Kappungsgrenze. In drei Jahren darf die Miete dann um nicht mehr als 11 Prozent steigen, wenn sie noch unterhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete liegt.
Mehr Fairness zwischen Vermietern und Mietern setzen wir auch beim Klimaschutz durch. Für das Heizen mit fossilen Energien gibt es ja bereits den CO2-Preis. Dieser dient aber dazu, dass auf klimafreundliches Heizen umgerüstet wird.
Mittelfristig wollen wir eine Teilwarmmiete einführen: Die Grundversorgung wird Teil der Miete, alles darüber hinaus zahlt der Mieter. So besteht für beide Seiten der Anreiz zum Umrüsten und Energiesparen. Jetzt in der Übergangszeit wollen wir im kommenden Jahr eine differenzierte Kostenteilung durchsetzen. Das ist gerecht.
({108})
Meine Damen und Herren, die Transformation, die jetzt vor uns liegt, wird auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn sie von einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land getragen wird. Darum werden wir die Kohleregionen in Ostdeutschland und Nordrhein-Westfalen weiterhin solidarisch unterstützen. Unser Versprechen gilt: Niemand wird ins Bergfreie fallen. Die Folgen des Strukturwandels bewältigen wir gemeinsam.
({109})
Das gilt auch im Hinblick auf die großen Veränderungen in der Industrie insgesamt. Wir werden eine vorausschauende Strukturpolitik betreiben, gezielt neue Wertschöpfung schaffen, zum Beispiel beim Wasserstoff oder der Batteriezellenfertigung. Und wir werden den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zur Seite stehen. Gerade in Zeiten steigender Energiepreise werden wir darauf achten, dass Energie kein Luxusgut wird – nicht für Unternehmen in unserem Land und nicht für die Bürgerinnen und Bürger.
Richtig ist: Langfristig wird fossile Energie auf berechenbare Weise teurer. Das darf aber Menschen mit kleinem Geldbeutel nicht überfordern. Eine warme Wohnung ist ein Grundrecht. Die Fahrt mit dem Auto zur Arbeit oder zum Supermarkt ist für viele schlichtweg notwendig.
({110})
Gute Klimapolitik fordert nicht Verzicht, sondern sie ermöglicht den Umstieg auf klimafreundliche Alternativen. Vor allem deshalb werden wir private Haushalte und Unternehmen schon im Jahr 2023 von der EEG-Umlage befreien und diese zukünftig aus dem Bundeshaushalt refinanzieren.
({111})
Das entlastet eine vierköpfige Familie pro Jahr im Vergleich zu 2021 um rund 300 Euro, und es reduziert den bürokratischen Aufwand für Unternehmen und Staat, der in den vergangenen 20 Jahren rund um die EEG-Umlage entstanden ist. So entsteht auch ein neuer Rückenwind für den Umstieg auf E-Autos und Wärmepumpen.
Der CO2-Preispfad bleibt stabil. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, dass wir Benzin, Öl und Gas nicht zusätzlich verteuern. Wir werden außerdem das Wohngeld modernisieren, eine Klimakomponente einführen und einen einmaligen Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger zahlen.
Auch an anderer Stelle sorgen wir dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Geld zur Verfügung haben. So werden wir die Bedingungen für Midijobs verbessern, indem wir die Verdienstgrenze auf bis zu 1 600 Euro erhöhen. Dadurch profitieren mehr Beschäftigte von den reduzierten Sozialbeiträgen.
({112})
Wir verstärken die Anreize für derzeitige Midijobber, ihre Arbeitszeit in Richtung einer Vollzeitstelle weiter zu erhöhen. Mit der Erhöhung des Mindestlohns heben wir auch die Grenze für Minijobs auf 520 Euro an.
({113})
Das Urteil des Bundesfinanzhofs zur Rentenbesteuerung werden wir rasch umsetzen. Nicht erst 2025, sondern schon ab dem übernächsten Jahr werden die Beiträge zur Rentenversicherung als Sonderausgabe voll abzugsfähig sein. Das ist eine Steuerentlastung für Millionen Bürgerinnen und Bürger.
({114})
Zudem werden wir den steuerpflichtigen Teil der ausgezahlten Rente langsamer ansteigen lassen als bisher im Gesetz vorgesehen. Das ist eine Steuerentlastung für viele künftige Rentnerinnen und Rentner.
({115})
Meine Damen und Herren, heute ist Deutschland ein Land von ungeheurer innerer Vielfalt. Die Bundesregierung begreift diese gesellschaftliche Vielfalt als eine der großen Stärken unseres Landes.
({116})
Sie verwechselt Zusammenhalt nicht mit Homogenität, sondern sie schafft die Rahmenbedingungen dafür, dass Zusammenhalt aus der Vielfalt heraus möglich ist. Sie schützt die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und schafft die Voraussetzungen für eine Gesellschaft des Respekts. Zum demokratischen Gemeinwesen gehört ein handlungsfähiger Rechtsstaat, der Freiheit und Sicherheit garantiert.
({117})
Wer bei der Polizei oder beim Zoll, bei Sicherheitsbehörden oder Ordnungsämtern arbeitet, verdient unseren Respekt, meine Damen und Herren.
({118})
Die Arbeit ist oft hart, und die Aufgaben werden immer umfangreicher, gerade jetzt etwa bei der Durchsetzung der notwendigen Auflagen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Im Namen der gesamten Bundesregierung danke ich allen, die Tag und Nacht auf der Straße und in schwierigen Situationen die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und die Ordnung unseres Gemeinwesens gewährleisten.
({119})
Aber diese Anerkennung muss auch Hand und Fuß haben. Darum werden wir für die gute Personal- und Sachausstattung der Bundespolizei sorgen und diese als Dienstherr attraktiver machen. Die Schwerpunkte der Arbeit der Sicherheitsbehörden in den nächsten Jahren werden auf den Kampf gegen Extremismus und Organisierte Kriminalität gelegt werden. Dazu gehören Prävention, Deradikalisierung und Gefahrenabwehr.
({120})
Ausdrücklich teile ich die Einschätzung der Bundesinnenministerin: Die größte Bedrohung für unsere Demokratie ist der Rechtsextremismus. Darum werden wir diese Gefahr mit aller Entschlossenheit bekämpfen.
({121})
Die vorliegenden Konzepte für Demokratieförderung, für die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Beratung und für Präventionsangebote werden wir jetzt nutzen und ein Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen.
({122})
Wir werden entschieden gegen Organisierte Kriminalität in jeder Form vorgehen. Das effektivste Mittel dafür besteht darin, diesen Strukturen den Geldhahn abzudrehen. Darum werden wir die Geldwäschebekämpfung stärken. Immobilien werden künftig nicht mehr mit Bargeld bezahlt werden können.
({123})
Den Pakt für den Rechtsstaat werden wir verstetigen und um einen Digitalpakt für die Justiz erweitern. Wir brauchen schnelle und effiziente Gerichtsverfahren. Gerichtsverhandlungen sollen deshalb auch online geführt werden können. Und wir werden sicherstellen, dass Täter von Hass und Hetze im Netz identifiziert und strafrechtlich belangt werden können.
({124})
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Darum ist es höchste Zeit, dass wir uns auch als Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft begreifen. Dazu gehört, dass wir den Weg zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern.
({125})
Nur so ermöglichen wir volle politische Teilhabe und damit bessere Integration. Einbürgerungen werden künftig in der Regel bereits nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland möglich sein.
({126})
Und wir werden die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen. Es entspricht der Lebenswirklichkeit vieler Eingewanderter in unserem Land, dass sie ihre Herkunftsidentität in rechtlicher Hinsicht auch nach der Einbürgerung beibehalten wollen.
({127})
Mit dem Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft geht einher, dass wir viel stärker als bisher Repräsentanz möglich machen werden. Das gilt gerade in der öffentlichen Verwaltung. Darum werden wir ein Partizipationsgesetz vorlegen, um diesen Anforderungen besser gerecht zu werden.
({128})
Wir werden eine vernunftgeleitete Migrationspolitik betreiben, die legale Migration befördert und irreguläre Migration reduziert.
({129})
Dazu gehören zügige Asylverfahren sowie gute Perspektiven für diejenigen, die in Deutschland gut integriert sind.
({130})
Dazu gehört aber auch die konsequente Rückführung, besonders im Fall von Straftätern und Gefährdern.
({131})
Meine Damen und Herren, nicht selten war unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren moderner als Staat und Regierung. Längst überfällig ist daher die nachholende Modernisierung, die diese Bundesregierung auf den Gebieten der Gleichstellung,
({132})
der körperlichen Selbstbestimmung sowie im Familienrecht auf den Weg bringen wird.
({133})
Wir werden dafür sorgen, dass unser Familienrecht, unser Personenstands- und Strafrecht in der gelebten Wirklichkeit ankommen.
({134})
Wir werden das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einführen und das Adoptionsrecht reformieren.
({135})
Das Transsexuellengesetz werden wir durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen.
({136})
Wir wollen, dass Ärztinnen und Ärzte öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.
({137})
Daher werden wir den § 219a aus dem Strafgesetzbuch streichen.
({138})
Und wir sind uns einig: Wir werden den Gleichbehandlungsartikel 3 des Grundgesetzes um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität ergänzen,
({139})
und wir werden den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz ersetzen.
({140})
Meine Damen und Herren, im kulturellen Leben liegen die Fundamente, auf denen unser Zusammenleben gegründet ist. In ihrer ganzen Vielfalt fördern kulturelle und künstlerische Impulse den Aufbruch, den unsere Gesellschaft jetzt braucht.
({141})
Der Kampf gegen die Pandemie hat es nötig gemacht, Entscheidungen zu treffen, die genau dieses kulturelle Leben besonders hart getroffen haben. Umso mehr wird sich die neue Bundesregierung darum kümmern, die soziale Lage der Künstlerinnen und Kreativen zu verbessern und das kulturelle Leben in unserem Land zu einer neuen Blüte zu führen.
({142})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung bekennt sich zur europäischen Einigung.
({143})
Sie wird aber auch hier nicht bei Bekenntnissen stehen bleiben. Das Gelingen Europas ist unser wichtigstes nationales Anliegen.
({144})
Europas Einigung wurde betrieben mit dem Ziel des Ausgleichs zwischen früheren Feinden. Sie gründet auf den Erfahrungen der düstersten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte, in denen unser Land so viel Leid über Europa und die Welt gebracht hat. Diese zentrale Mission der Europäischen Union, die Wahrung des inneren Friedens Europas, hat nichts an ihrer Aktualität verloren.
({145})
Nehmen wir dieses kostbare Gut, welches mutige Frauen und Männer über Jahrzehnte aufgebaut haben, niemals als gegeben. Es bedarf unseres andauernden Engagements.
({146})
Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Worum geht es heute?
({147})
Wollen wir in einer Welt von bald 10 Milliarden Menschen noch vorkommen, wollen wir gehört werden, wollen wir nicht zum Spielball fremder Mächte werden und wollen wir unseren europäischen Way of Life selbstbewusst verteidigen, dann geht das nur gemeinsam als Europäische Union.
({148})
Zusammenhalt und Souveränität – das ist die Aufgabe für Europa. Für das Gelingen des souveränen Europas trägt unser Land eine besondere Verantwortung, nicht nur wegen unserer Geschichte. Als größte Volkswirtschaft im Zentrum unseres Kontinents mit einer Geschichte von Teilung und Wiedervereinigung können wir nicht kommentierend am Rand stehen. Das Instrument unserer Europapolitik darf nicht die schnelle innenpolitische Schlagzeile sein. Es muss in der beharrlichen Bereitschaft bestehen, Brücken zu bauen durch beständiges Engagement und Verhandlungen. So haben es meine Vorgängerin und meine Vorgänger gehalten, und das wird auch mein Handeln leiten.
({149})
Die europafreundliche Ausrichtung aller demokratischen Parteien in diesem Haus ist keine Selbstverständlichkeit; sie ist ein Schatz. Bei allen Differenzen in der Sache: Lassen Sie uns diesen Schatz bewahren.
({150})
Zu Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass Europa handlungsfähiger wird. Wir wollen hierfür die Möglichkeiten des Lissabonner Vertrags nutzen. Es muss zur Regel werden, dass wir in Europa, im Rat, mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können,
({151})
auch auf den Gebieten, wo das heute nicht der Fall ist. Das ist kein Verlust, das ist ein Gewinn an Souveränität.
({152})
Wir müssen auch immer bereit sein, in Gruppen von Staaten Lösungen auszuprobieren, wenn noch nicht alle so weit sind, so wie wir es bereits bei Schengen gemacht haben, beim Euro oder auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
({153})
Wir brauchen eine europäische politische Kultur, eine Kultur des konstruktiven Streits im Sinne eines gemeinsamen Ringens um den besten Weg – respektvoll in Anerkennung unserer sehr unterschiedlichen Geschichte, der Vielfalt unserer politischen Geografie, aber stets im Bewusstsein all dessen, was uns als Europäer verbindet.
({154})
Europapolitik ist – das ist uns doch allen klar – schon lange keine Außenpolitik mehr. Europäische Politik betrifft längst den Alltag jeder einzelnen Bürgerin und jedes einzelnen Bürgers. Europapolitik ist zu einem großen Teil unserer Innenpolitik geworden.
({155})
Europa muss zusammenstehen. Jedes europäische Land hat seine nationalen Interessen; die müssen sie nicht verstecken. Aber alle – und gerade wir – müssen kompromissfähig sein. Keine Auseinandersetzung darf den Zusammenhalt Europas oder zentrale Errungenschaften wie offene Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten oder die gemeinsame Währung infrage stellen. Das europäische Wiederaufbauprogramm in Reaktion auf die Coronakrise ist beispielhaft für diese neue Einigkeit Europas in Stunden der Krise.
({156})
Wir wollen es nutzen, um Europa resilienter und zukunftsfähig zu machen.
Meine Damen und Herren, Europa ist eine wehrhafte Demokratie, gegründet auf Freiheit, Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Alle Mitgliedstaaten haben sich auf diese Werte verpflichtet, als sie unserer Gemeinschaft beitraten. Die Bundesregierung bekennt sich zu diesen Werten, und sie wird bei ihrer Verteidigung klar und eindeutig an der Seite der Europäischen Kommission als der Hüterin der Verträge stehen.
({157})
Ich freue mich, dass sich der französische Staatspräsident bei seiner jüngsten Rede im Europäischen Parlament ausdrücklich auf unseren Koalitionsvertrag bezogen und Unterstützung für einige unserer Reformvorschläge bekundet hat. Frankreich ist unser engster Verbündeter und die deutsch-französische Freundschaft das unverzichtbare Fundament der Europäischen Union.
({158})
Die Bundesregierung wird keinen europapolitischen Vorstoß unternehmen ohne engste Konsultationen mit unseren französischen Freunden. Die deutsch-französische Verständigung ist die notwendige Bedingung für Fortschritt in Europa. Aber wir wissen auch: Sie ist noch keine hinreichende Bedingung. Die Zukunft Europas wird weder in Paris noch in Berlin entschieden. Gerade unser Land hat eine besondere Verantwortung, auch die Interessen der östlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und unserer osteuropäischen Nachbarn mitzudenken. Gerade habe ich mit dem polnischen Ministerpräsidenten über die Lage an der Grenze zu Belarus gesprochen und ihm unsere Solidarität versichert.
({159})
Grenzen müssen unantastbar bleiben, und der zynische Missbrauch von Geflüchteten für hybride Attacken auf unsere östlichen Nachbarn muss aufhören; das werden wir beim Europäischen Rat morgen noch einmal bekräftigen.
Wir blicken in diesen Tagen auch mit großer Sorge auf die Sicherheitslage an der russisch-ukrainischen Grenze. Wir werden hierüber beim Europäischen Rat und beim heutigen Gipfel der Östlichen Partnerschaft intensiv beraten. Lassen Sie mich – sollten es noch nicht alle verstanden haben – hier wiederholen, was meine Amtsvorgängerin gesagt hat: Jede Verletzung territorialer Integrität wird einen hohen Preis haben, und wir werden hier mit unseren europäischen Partnern und unseren transatlantischen Verbündeten mit einer Stimme sprechen.
({160})
Gleichzeitig sind wir zum konstruktiven Dialog bereit. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte muss dies im Verhältnis zu Russland gerade für unser Land gelten. Gerade wir müssen bereit sein, immer einmal öfter den Versuch der Verständigung zu unternehmen, den Versuch, aus der Eskalationsspirale auszubrechen, so wie es etwa mit dem Normandie-Prozess zeitweilig gelungen ist.
Das darf aber nicht missverstanden werden als eine neue deutsche Ostpolitik. Ostpolitik kann im vereinten Europa nur eine europäische Ostpolitik sein.
({161})
Diese gründet auf den Prinzipien des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung, auf die sich auch Russland verpflichtet hat und die es mit der Annexion der Krim so schwerwiegend verletzt hat.
Wir werden uns als Europäische Union nicht spalten lassen. Das gilt auch mit Blick auf Länder, deren Systeme nicht demokratisch sind; etwa China mit seinem rasanten Aufstieg zur Technologie- und Militärmacht. Die chinesische Führung vertritt ihre Interessen mit großem Selbstbewusstsein. Deutschland und Europa haben allen Grund, unsere Interessen ebenso selbstbewusst und engagiert zu vertreten. Wir müssen unsere China-Politik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden.
({162})
Das heißt auch, dass wir unsere Augen nicht verschließen vor der kritischen Menschenrechtslage und Verstöße gegen universelle Normen beim Namen nennen. Das ändert nichts daran, dass ein Land von der Größe und Geschichte Chinas einen zentralen Platz im internationalen Konzert der Völker hat. Deshalb bieten wir China Zusammenarbeit an bei Menschheitsherausforderungen wie der Klimakrise, der Pandemie oder der Rüstungskontrolle. Wir bieten China einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb zu beiderseitigem Nutzen an, mit gleichen Spielregeln für alle.
Deutschland und Europa investieren in unsere eigene politische, wirtschaftliche und technologische Stärke. Wir nutzen die Stärke eines geeinten Europas und des Binnenmarkts, um für faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen einzutreten und auch global den Wettbewerb aufzunehmen.
Meine Damen und Herren, unser wichtigster Partner hierbei sind die Vereinigten Staaten. Mit Präsident Biden eint mich die Überzeugung, dass die liberalen Demokratien der Welt neu beweisen müssen, dass sie die besseren, die faireren und die gerechteren Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liefern können.
({163})
Das gilt für jedes einzelne Land; das gilt aber auch für das Verhältnis der Länder untereinander.
Der Multilateralismus ist herausgefordert und muss sich neu beweisen. Deshalb wird sich die Bundesregierung immer für die multilaterale Zusammenarbeit und ihre Institutionen starkmachen. Die deutsch-amerikanische Freundschaft und die NATO sind das unverzichtbare Fundament unserer Sicherheit. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unentbehrlichen Beitrag zum Schutz unseres Landes, für Frieden und internationale Sicherheit. Sie können sich auf die Bundesregierung und auf dieses Parlament verlassen.
({164})
Wir werden morgen auf dem Europäischen Rat erstmals über ein neues sicherheitspolitisches Grundlagendokument sprechen, den sogenannten Strategischen Kompass. Deutschland wird sich an dieser Diskussion aktiv beteiligen, ebenso wie an der Überarbeitung des neuen strategischen Konzepts der NATO, das auf dem Gipfel im nächsten Jahr verabschiedet werden wird. Wir werden investieren, um – in enger Abstimmung mit unseren Partnern – die NATO-Fähigkeitsziele zu erreichen. Für uns ist wichtig: Europäische Sicherheit und transatlantische Sicherheit gehen Hand in Hand.
({165})
Deutschland unterstützt deshalb eine neue EU-NATO-Erklärung, die wir nun rasch verabschieden wollen; auch dazu wollen wir uns beim Europäischen Rat beraten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zu Beginn der 20er-Jahre unseres Jahrhunderts stehen wir vor großen Aufgaben und vor großen Veränderungen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen das. Ich habe eingangs dieser Rede die große Frage zitiert, die ich immer wieder gestellt bekomme: Geht das alles gut aus, für meine Familie, für meine Kinder, für ganz normale Leute wie mich? – Meine Antwort, die Antwort der Bundesregierung, ist sehr klar: Ja, das kann gut ausgehen, und ja, das wird auch gut ausgehen. Wir nehmen die Herausforderung unserer Zeit an, und wir sind zuversichtlich: Wir werden sie bewältigen;
({166})
nicht weil wir die Probleme unterschätzten, sondern weil wir einen präzisen Plan dafür haben, wie wir sie lösen können und wie es gut werden kann. Das moderne Deutschland, unser Deutschland, ist ein starkes Land. Wir alle gemeinsam haben nicht den geringsten Grund, uns vor der Zukunft zu fürchten – ganz im Gegenteil.
Wenn wir zusammenhalten in einer solidarischen Gesellschaft des Respekts, wenn wir uns ehrgeizige Ziele setzen und dem Fortschritt die richtige Richtung geben, wenn wir den Aufbruch jetzt entschlossen beginnen, dann werden wir nicht nur die Coronapandemie hinter uns lassen, dann werden wir Deutschen auch gemeinsam erfolgreich sein. Und dann werden die Bürgerinnen und Bürger am Ende dieses Jahrzehnts sagen: Ja, es geht gut aus, es geht gut aus für mich, es geht gut aus für meine Familie und für unser Land. – Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Dafür arbeiten wir mit all unserer Kraft, und mit dieser Arbeit fangen wir jetzt an.
Vielen Dank.
({167})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Vorbereitung auf den heutigen Tag habe ich mir mal die Oppositionsreden der letzten 70 Jahre durchgelesen,
({0})
von bemerkenswerten Persönlichkeiten: Kurt Schumacher, Fritz Erler, Erich Ollenhauer. Da waren Leute dabei wie Rainer Barzel, wie Helmut Kohl, wie Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und viele, viele andere. Das waren teilweise brillante Reden, es waren begeisternde Reden, die dort gehalten worden sind, Reden mit viel Inhalt; aber es waren Reden in der Opposition, die immer auch durchzogen waren von zwei Elementen: Bitterkeit und Enttäuschung und Empörung darüber, dass man nicht selbst in der Regierung ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte deswegen hier und heute ganz anders anfangen. Es ist so: Wir haben eine Bundestagswahl gehabt. Olaf Scholz ist mit der Mehrheit der frei gewählten Abgeordneten zum deutschen Bundeskanzler gewählt worden. Das ist Demokratie. Das haben Sie sich verdient. Und deswegen: Herr Bundeskanzler, herzlichen Glückwunsch, alles Gute und Gottes Segen für Ihre Aufgabe!
({1})
Wir wollen eine gute Bundesregierung, weil eine gute Bundesregierung gut für das Land ist. Und das allein ist der Maßstab für Regierungspolitik, aber auch für Oppositionspolitik: Was ist gut fürs Land? Ich habe es Ihnen auch schon persönlich gesagt: Großer Respekt vor dem Weg, den Sie bis dahin zurückgelegt haben, der von Höhen und Tiefen geprägt war.
Herr Habeck, großer Respekt auch vor den Grünen, die sich aus 16 Jahren Opposition herausgearbeitet haben.
Herr Lindner, auch Ihnen großer Respekt. Ich habe Ihr Buch aus der APO-Zeit noch mal durchgeblättert. Sie hatten dunkle Tage gehabt. Sie sitzen jetzt hier, und darauf können Sie zu Recht stolz sein. Das respektieren wir.
({2})
Meine Damen und Herren, Respekt ist aber keine Einbahnstraße. Eine Demokratie braucht eine starke Opposition auf Augenhöhe. Ob Sie das begriffen haben, können Sie in den nächsten Tagen zeigen. Sie können das zeigen im Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministerien, die nicht Ihr Parteibuch haben. Und Sie können es auch dadurch zeigen, dass Sie die 70 Jahre alte Sitzordnung in diesem Parlament respektieren und nicht mit Ihrer Mehrheit umwerfen.
({3})
Ich habe mitbekommen, meine Damen und Herren, dass Sie das morgen mit einem Antrag ohne Debatte hier durch den Deutschen Bundestag peitschen wollen. Wie klein ist das? Wie klein ist das, meine Damen und Herren?
({4})
Sie werden eins respektieren müssen: Sie werden respektieren müssen, dass wir in dieser Opposition auch zuspitzen; denn das ist unsere Aufgabe. Wenn ich mit dem Zuspitzen gleich anfangen kann, meine Damen und Herren: Ich erwarte von einem Bundeskanzler in der ersten Regierungserklärung nicht, dass er kleinteilig den Koalitionsvertrag referiert,
({5})
sondern ich erwarte, dass er die großen Linien zeigt.
Bitte, Herr Scholz, noch eins kann man von Ihnen erwarten: Sie sprechen viel über Fortschritt und Zukunft. Fortschritt und Zukunft braucht Begeisterung. Diese Begeisterung habe ich in den letzten 90 Minuten nicht gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Meine Damen und Herren, Opposition bedeutet auch, dass wir uns natürlich die Freiheit nehmen, da, wo es notwendig und nötig ist, Nein zu sagen, wie wir das auch bei den ersten Versuchen des Infektionsschutzgesetzes gemacht haben. Aber Opposition bedeutet auch, dass wir uns die Freiheit nehmen, da, wo es möglich ist, Ja zu sagen, weil wir unsere Verantwortung in diesem Land sehen. Wir wissen auch, dass nicht jeder Entwurf perfekt sein kann; da sind wir Profi genug. Deswegen haben wir letzte Woche auch Ja zu einem Infektionsschutzgesetz gesagt, das wir alleine besser gemacht hätten.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins gehört auch zu Regierung und Opposition dazu: Zu Regierung und Opposition gehört, dass Sie sich Ihre Mehrheiten alleine besorgen müssen,
({8})
dass wir erwarten, dass Sie Position beziehen, auch zu Fragen wie beispielsweise der Impfpflicht, und das nicht an das Parlament delegieren, weil Sie sich selber in Ihrer Regierung nicht einig sind.
({9})
Um mal aus einer Rede einen Gedanken von Kurt Schumacher aufzugreifen – das war der erste SPD-Fraktionsvorsitzende –: Es ist nicht Aufgabe der Oppositionspolitik, der Regierung zu gefallen. – Ein zweiter Gedanke: Es ist auch nicht das Recht und die Aufgabe der Regierung, Oppositionspolitik zu bewerten, zu bewerten, was konstruktiv ist und was nicht konstruktiv ist. Sie können nicht gleichzeitig Regierung, Partei und Richter sein, und das werden wir uns hier auch nicht bieten lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Aber um eine andere Sache auch mal ganz, ganz klarzustellen: Es wird keine Koalition in der Opposition geben. Aus unterschiedlichen Gründen werden wir nicht mit den Linken und der AfD zusammenarbeiten.
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Ich will Ihnen das bei der AfD auch begründen: Wir verstehen uns als Opposition innerhalb unserer repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Sie verstehen sich als Opposition zur parlamentarischen Demokratie. Und deswegen können wir nicht zusammenarbeiten.
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Um den neuen Kolleginnen und Kollegen der AfD, die da vielleicht noch zögernd sind, einen Satz mit auf den Weg zu geben: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Meine Damen und Herren, zu Respekt gehört auch dazu, Respekt zu zeigen vor dem, was die Vorgängerregierungen geleistet haben.
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Sie, Olaf Scholz, haben die Haltung von Angela Merkel gelobt. Wir loben auch die Ergebnisse der Arbeit von Angela Merkel, weil die letzten 16 Jahre gute Jahre für dieses Land waren.
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„Gute Jahre für dieses Land“ heißt, dass wir ein Ansehen in der Welt haben und in Europa, wie wir es noch nie gehabt haben. Das ist eine hohe Latte für Sie. „Gute Arbeit“ heißt, dass wir gegenüber der Regierungszeit von Gerhard Schröder die Arbeitslosigkeit halbiert haben, dass die Beschäftigung gestiegen ist, dass die Löhne gestiegen sind, dass wir es sechsmal hintereinander geschafft haben, die schwarze Null zu kriegen,
({16})
dass die Straftaten zurückgegangen sind, dass wir mehrere internationale Klimapakete auf den Weg gebracht haben, dass es so ist, dass wir die erneuerbaren Energien vervierfacht haben, dass wir den CO2-Ausstoß um 25 Prozent gesenkt haben trotz Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, trotz Bevölkerungswachstum und trotz mehr Mobilität, und das als Industrieland. Dazu gehört auch, dass wir unglaublich viel für Familien getan haben, und das war beileibe nicht nur die Erhöhung des Kindergeldes.
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Herr Scholz, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach mit dem Finger auf die Vorgängerregierung gezeigt. Ich habe während Ihrer Rede eine SMS gekriegt: War der eigentlich dabei? – Ja, Sie waren dabei, Herr Scholz! In den letzten 16 Jahren haben Sie 12 Jahre mitregiert.
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Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen, dass Sie sich aus der alten Regierung rausschleichen und so tun, als wenn Sie nichts damit zu tun gehabt hätten. Ich kann Sie nur vor einer Sache warnen: Wenn Sie mit dem Finger auf die alte Regierung zeigen, dann zeigen Sie immer mit dem Finger auf sich selbst, meine Damen und Herren.
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Ist alles gut in diesem Land? Nein, natürlich nicht. Es ist viel zu tun; das haben Sie auch richtig adressiert. Um mal einen Satz aus dem alten italienischen Roman „Der Leopard“ zu zitieren: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“ Auch das Gute! Deswegen müssen wir uns weiterbewegen, deswegen müssen wir was tun in diesem Land. Und das wollen wir auch, das wollen wir mit Begeisterung.
Meine Damen und Herren, ich habe dort vorne oft gesessen und mir Oppositionsreden angehört, gute Reden von Herrn Lindner, von Herrn Bartsch. Herr Bartsch, weil Sie jetzt nicken: Ich habe immer sehr genau verstanden, was Sie nicht wollten; aber ich habe nie verstanden, was Sie eigentlich wollten.
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Dementsprechend wollen wir eine andere Opposition machen. Wir wollen eine gestaltende Opposition machen. Wir wollen eine Opposition machen, wo wir unser Bild vom Land durch unsere Anträge, Debattenbeiträge und durch unsere Diskussionen dieser Regierung aufzwingen werden. Das wird unser Ansatz in den nächsten vier Jahren sein, meine Damen und Herren.
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Wir haben ein Bild von diesem Land. Wir wissen, wo wir hinwollen. Wir haben die großen Linien, und wir haben auch die kleinen Linien.
Natürlich – Sie haben es auch gesagt – ist das Wichtigste erst mal, dass wir aus dieser Coronakrise rauskommen, dass wir gemeinsam aus dieser Coronakrise rauskommen. Wir wissen nicht, wie viel Mutanten und Wellen noch vor uns stehen. Aber wir wissen eins: Wir wissen, dass schnelles und beherztes Handeln notwendig ist. – Das kann ich Ihnen jetzt leider nicht ersparen, Herr Scholz: Dieses schnelle und beherzte Handeln war nicht Ihre Politik in den letzten Monaten. Im Gegenteil: Sie und die A-Ministerpräsidenten, die Ministerpräsidenten der SPD, haben notwendige Konferenzen aufgehalten; das gehört zur Wahrheit auch dazu.
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Ich kann nur eins machen: Ich kann Ihnen die Hand dazu reichen, dass meine Fraktion, dass unsere Fraktion jederzeit bereit ist, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, übrigens auch, wenn es unpopuläre Maßnahmen sind; da haben Sie uns an Ihrer Seite.
Meine Damen und Herren, wir wollen aber auch ein nachhaltiges, generationengerechtes Land. Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit bedeuten, dass wir natürlich dafür sorgen müssen, dass die nachfolgenden Generationen in einer intakten Umwelt leben. Das kriegen wir hier in Deutschland nicht alleine hin, Herr Habeck; aber wir können unseren Teil dazu leisten, und das haben wir auch gemacht. Wir haben 2019 – übrigens zusammen, Herr Mützenich, in der Großen Koalition – das ehrgeizigste Klimaprojekt einer Industrienation auf den Weg gebracht. Wir haben viel, viel Geld für Technologie und Innovation ausgegeben.
Es war die damalige Bundesregierung, die den Kohleausstieg beschlossen hat. Wir waren übrigens auch diejenigen, die den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen haben.
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Die Gesetze sind da. Das Geld ist da. Jetzt geht es ums Umsetzen: umsetzen, umsetzen und umsetzen.
Herr Habeck, Sie haben die Wahl nicht damit gewonnen – das hat nicht ganz geklappt –, aber Sie haben die Wahl damit erfolgreich gestaltet, dass Sie da viel versprochen haben. Wir werden Sie daran messen. Wir werden jedes Gramm CO2 zählen; wir werden jede Kilowattstunde Windenergie zählen;
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wir werden jedes Kilo Müll zählen; wir werden jeden Meter Stromleitung zählen; wir werden jeden Kilometer Bahntrasse zählen. Das wird unsere Politik sein.
Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, weil Sie im letzten Bundestag noch nicht dabei waren: Wir hatten zusammen mit der SPD in der letzten Legislaturperiode beschlossen, dass es in diesem Bundestag Nachhaltigkeitstage gibt, nicht nur Haushaltstage und Haushaltswochen, sondern Nachhaltigkeitstage; dass wir uns einmal im Jahr Zeit nehmen, darüber zu diskutieren und Rechenschaft abzulegen, inwieweit wir unsere Nachhaltigkeitsziele erreicht haben. Wir sollten das fortsetzen.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Lassen Sie uns gemeinsam nicht nur einen Finanzhaushalt, sondern auch einen Klimahaushalt aufstellen, wo wir die wichtigen Kennzahlen, die wir brauchen, messen und hier im Deutschen Bundestag debattieren, meine Damen und Herren.
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Zum Thema Nachhaltigkeit gehört auch das Thema „nachhaltige Finanzen“. Jetzt ist es ja so – das muss ich Ihnen zugestehen –: Sie von der SPD und Sie von den Grünen sind nicht unbedingt gewählt worden für nachhaltige Finanzen;
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Sie von der FDP aber schon. Das war die Erwartungshaltung: FDP sorgt für nachhaltige Finanzen. FDP sorgt mit dafür, dass die nachfolgenden Generationen nicht die Schulden ihrer Eltern abbezahlen müssen.
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FDP sorgt dafür, dass diejenigen Leute, die hier in 30 Jahren sitzen, auch noch Gestaltungsspielraum haben und nicht allein damit beschäftigt sind, Schulden abzubezahlen oder Zinsen aufzubringen.
Wie lange hat dieses Versprechen gehalten? Keine fünf Tage. Fünfmal ist die Sonne aufgegangen, danach brach Christian Lindner das Versprechen zu soliden, nachhaltigen Finanzen.
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Herr Lindner, zu dem, was Sie morgen mit Ihrem Nachtragshaushalt machen wollen, wo Sie Coronamittel für Ihre Ampelprojekte umschreiben wollen, hat jemand gesagt: Da macht der Herr Lindner einen Taschenspielertrick. – Nein! Ich mag diesen Begriff auch nicht: Taschenspielertricks in der Politik. Es ist kein Taschenspielertrick, sondern es ist ein Sägen an den Fundamenten der Schuldenbremse und der finanziellen Solidität.
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Herr Lindner, wissen Sie, wenn Sie bei den Staatsfinanzen nach fünf Tagen schon mit so was anfangen, dann warte ich nur darauf, wie lange es dauert, bis Steuererhöhungen kommen. Wir sind gespannt, meine Damen und Herren.
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Zum Thema Nachhaltigkeit gehört auch Nachhaltigkeit der Sozialsysteme. Wir hätten bei der Rente liefern müssen, Hubertus Heil. Wir haben es nicht gemacht. Sie haben es nicht gemacht; wir haben auch nicht drauf gedrängt. Keine Kritik! Aber wir müssen jetzt liefern, weil wir genau wissen, dass unser Rentensystem 2025 eine Reform braucht. Ich finde es gut und richtig, dass Sie eine Aktienrente und kapitalgedeckte Elemente einführen wollen. Aber wir alle wissen doch: Das reicht nicht. Wir brauchen eine grundlegende Rentenreform.
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Sie hingegen machen Versprechen. Sie machen Versprechen über Mindesthaltelinien, die nicht gegenfinanziert sind. Sagen Sie den Menschen doch bitte: Das wird zu höheren Abgaben führen. Das wird zu weniger Leistungsgerechtigkeit führen. Das wird dazu führen, dass die Leute weniger Netto vom Brutto haben.
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Ich kann Ihnen eins anbieten, Herr Scholz und Herr Heil. Ich glaube, die Auswirkungen der Reform des Rentensystems werden mehrere Regierungen überdauern. Auch wenn Sie sich wahrscheinlich vorgenommen haben, hier lange zu regieren, wird es länger wirken, als Sie hier regieren werden. Da sind wir uns einig. Deswegen brauchen wir da einen nationalen Konsens. Diesen nationalen Konsens bieten wir Ihnen an. Lassen Sie uns bei der Rente zusammenarbeiten. Das Thema ist zu wichtig für Parteipolitik. Herzliche Bitte: Kommen Sie auf uns zu, meine Damen und Herren.
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Es geht aber nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern wir wollen ein Land der wirtschaftlichen Stärke, weil wir der Meinung sind – das hätte man im Koalitionsvertrag an der einen oder anderen Stelle vielleicht ein bisschen ausführen können –, dass all das, was verteilt wird, auch erwirtschaftet werden muss. Und erwirtschaftet wird es durch möglichst viele gut bezahlte Arbeitsplätze. Diese gut bezahlten Arbeitsplätze müssen wir sicher machen. Meine Damen und Herren, zu diesen gut bezahlten Arbeitsplätzen – das sage ich hier ganz ausdrücklich auch für meine Fraktion – gehören auch Industriearbeitsplätze.
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Es muss als Industrienation unser Ansatz sein, dass wir die industrielle Basis, die Stärke dieses Landes, nach vorne bringen und stärken.
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Meine Damen und Herren, dazu brauchen wir ein wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht. Ich sehe das nicht. Dazu brauchen wir ein Arbeitsrecht, das in das 21. Jahrhundert passt. Ich sehe das nicht. Dazu müssen wir uns vor allen Dingen mit zwei großen Herausforderungen beschäftigen:
Herr Scholz, Sie haben es gesagt: Da sind die großen Techunternehmen, die großen Plattformen, die mittlerweile mehr Macht haben als einzelne Staaten, die mehr investieren als Staatengemeinschaften. Wir müssen die deutschen Mittelständler vor dieser Herausforderung schützen. Wir müssen daran arbeiten, dass wir in Europa wettbewerbsfähig bleiben.
Es gibt eine zweite große Herausforderung – ich glaube, es ist wichtig, dass wir an dieser Stelle über diese Herausforderung reden –: Das ist das Thema China. China ist für unseren Mittelstand, für unsere Wirtschaft, für unseren Wohlstand eine größere Herausforderung als alle Steuer- und Sozialgesetze, die wir falsch oder richtig zusammen machen können. Deswegen brauchen wir eine China-Strategie. Deswegen müssen wir uns auch in der Außenpolitik damit beschäftigen.
Frau Baerbock, eine wertegeleitete Außenpolitik ist wichtig. Menschenrechte sind wichtig. Aber Sie haben auch eine Funktion: Sie haben die Funktion, unsere Interessen, unsere wirtschaftlichen Interessen zu vertreten. Auch daran werden wir Sie messen, Frau Baerbock.
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Sie, Herr Scholz, haben leider erst am Ende Ihrer langen Rede über Sicherheitspolitik gesprochen. Die äußere Sicherheit ist in Gefahr, ist bedroht, und zwar – nennen wir es beim Namen; auch Sie haben es beim Namen genannt – in Europa durch Russland. Punkt! Ich würde mir wünschen, Herr Mützenich, dass auch Sie das mal so eindeutig benennen
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und in der SPD nicht immer wieder changieren zwischen Ihrer Russlandfreundlichkeit und dem, was tatsächlich ist. Ich sage das auch für meine Fraktion: Wir wissen, auf welcher Seite wir stehen. Wir sind überzeugte Transatlantiker, weil wir wissen, wer unsere Freunde sind und wer nicht unsere Freunde sind, meine Damen und Herren.
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Sicherheit bedeutet aber auch innere Sicherheit. Da reicht es nicht, mehr Bundespolizei auf den Weg zu bringen, da reicht es nicht, den Pakt für den Rechtsstaat fortzusetzen, sondern dazu gehören auch Respekt für und Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden. Diesen Respekt und dieses Vertrauen sehe ich nicht in Ihrem Koalitionsvertrag.
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Ich sehe da immer wieder Misstrauen. Das ist nicht gut. Die brauchen unsere Unterstützung. Die brauchen auch die gesetzlichen Grundlagen, um ermitteln zu können. Dazu gehört auch der Zugriff auf Daten. Daten bekämpfen Terror, Daten bekämpfen Kindesmisshandlung.
Ich weiß, dass diese Koalition da ganz besonders ist: Die SPD sind Datenschützer. Die Grünen sind noch größere Datenschützer. Die FDP sind die allergrößten Datenschützer, meine Damen und Herren.
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Aber vielleicht ein Hinweis dazu: Der Datenschutz muss den Menschen dienen und nicht die Menschen dem Datenschutz, und da ist einiges durcheinandergeraten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Meine Damen und Herren, zu Sicherheit und Ordnung gehört auch das Thema Migration. Ich sage: Jedes Land hat das Recht, Migration zu steuern und zu kontrollieren.
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Jedes Land hat das Recht, auch zu definieren, was seine Aufnahmebereitschaft und Aufnahmefähigkeit ist und was nicht. Sie sagen, Sie wollen das anders machen. Mir persönlich macht das Angst, was Sie vorhaben. Sie wollen offenere Grenzen haben. Sie wollen einen schnelleren Zugang zum Sozialsystem. Sie wollen einen besseren Zugang zum Gesundheitssystem, und Sie wollen vor allen Dingen durch Ihren Spurwechsel illegale Migration schneller legalisieren. Ich halte das für eine gefährliche Mischung. Das werden wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Sie das Thema Integration ansprechen, was Sie dankenswerterweise gemacht haben, muss ich sagen: Wir haben es leider nicht geschafft, die Menschen, die 2015 und 2016 gekommen sind, in den Arbeitsmarkt zu integrieren, Hubertus Heil.
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Wir haben viel zu hohe Zahlen von Menschen, die im Hartz-IV-System sind. Ich denke, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, das zu ändern. Das haben Sie in der letzten Legislaturperiode nicht geschafft. Das müssen wir hinkriegen, und das müssen wir schaffen.
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Damit sind wir bei unserem Sozialstaat. Sozialstaat ist für uns die DNA. DNA bedeutet, dass wir einen behütenden Sozialstaat wollen, dass sich die Menschen darauf verlassen können, dass ihnen, wenn sie fallen, geholfen wird, dass ihnen, wenn sie in schwierigen Situationen sind, geholfen wird. Aber das bedeutet auch, dass sich die Gesellschaft darauf verlassen kann, dass jeder, der in diesem Sozialstaat drin ist, alles dafür tut, um da wieder rauszukommen. Deswegen geht es nicht nur um einen fördernden Sozialstaat, sondern es geht auch um einen fordernden Sozialstaat, und das Bürgergeld, das Sie auf den Weg bringen wollen, ist das Gegenteil davon. Das ist die Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen. Das werden wir nicht mitmachen, und das können wir nicht mitmachen.
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Vielleicht noch ein Aspekt, wenn es darum geht, wie wir uns das Land vorstellen: Wir stellen uns das Land und die Politik so vor, dass auch Politik für die leise Mitte und nicht nur für die Lauten, die Aggressiven und diejenigen gemacht wird, die sich besonders gut artikulieren können, die in den Talkshows, in den Medien vertreten sind.
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Diese leise Mitte der Gesellschaft, das sind insbesondere die Familien.
Die Familien müssen Kern unserer Politik sein, und zwar zuallererst Familien mit Kindern. Da geht es um das Thema Bildung – darüber ist in Ihrer Regierungserklärung viel zu wenig gesprochen worden –, gerade in Zeiten von Corona. Und es geht weiter mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und hört auf, wenn es um das Ende des Lebens geht. Ich kann Ihnen eins versprechen: Das wird Kern unserer Sozialpolitik sein: Familie in den Generationen. Wenn Sie da gute Dinge auf den Weg bringen, dann werden Sie uns an Ihrer Seite haben, Herr Scholz.
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Eine weitere Sache, die uns im Wahlkampf wichtig war, weil wir in der letzten Legislaturperiode gesehen haben – das ist auch Selbstkritik –, dass wir da große Defizite haben, ist: Wir müssen unseren Staat modernisieren. Wir haben einen guten Staat, eine gute Verwaltung, wir haben ein gutes Gesundheitssystem, aber, ehrlich gesagt, wenn wir nichts tun, werden wir das alles in den nächsten Jahren verlieren.
Wir haben bei Corona gesehen, wo die Defizite sind, und ich möchte zwei Aspekte nennen:
Wir sind nicht genügend vorbereitet auf Katastrophen, wir sind nicht genügend vorbereitet auf Pandemien. Wahrscheinlich wird die nächste Katastrophe keine Pandemie sein. Wir haben da kein gutes Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern; wir haben keine Notstandsgesetzgebung dafür.
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Wir müssen da was tun; da haben Sie uns an Ihrer Seite.
Wir sind in der Verwaltung nicht digital genug. Da beißt die Maus keinen Faden ab: Da sind wir wirklich schlecht. Was ich nur nicht verstehe, Herr Scholz: Warum machen Sie das nicht zur Chefsache? Warum lagern Sie alle Kompetenz für diesen Bereich – Digitalisierung der inneren Verwaltung – an andere Ministerien aus? Ist Ihnen das nicht so wichtig? Uns ist es wichtig, und wir werden in den nächsten Jahren dafür kämpfen.
({50})
Meine Damen und Herren, wir haben viele Dinge zu tun, und wir haben als Unionsfraktion viele Ideen. Diese Ideen werden wir auch einbringen – selbstbewusst und wohl wissend, wo wir herkommen.
An dieser Stelle möchte ich auch noch mal eins klarstellen: Wir haben unsere Wurzeln, und unsere Wurzeln liegen in unseren Werten. Diese Werte sind christlich. „Christlich“ bedeutet nicht, dass wir in der katholischen oder evangelischen Kirche sind, sondern „christlich“ bedeutet, dass wir wissen, dass wir nicht die letzte Instanz sind, dass wir nicht alles regeln müssen, dass wir nicht alles regeln können. Das immunisiert uns als Union gegen jegliche moralische Überheblichkeit,
({51})
und das wird uns auch weiterhin immunisieren.
({52})
„Christlich“ bedeutet, dass wir ein Menschenbild haben, das von Eigenverantwortung, ein Menschenbild, das von Solidarität ausgeht, ein Menschenbild, das auch von Freiheit ausgeht.
({53})
Es ist vor allen Dingen ein Menschenbild, wonach das Leben bedingungslos geschützt werden muss, und zwar vom Anfang des Lebens bis zum Ende des Lebens.
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Und wir sind demokratisch. „Demokratisch“ bedeutet, dass wir hier für diese parlamentarische Demokratie kämpfen – gegen die Feinde von rechts. Aber es gibt auch Feinde von links, und auch gegen die werden wir kämpfen.
Es gibt eine Entwicklung, die mir Sorgen macht. Es macht mir Sorgen, dass Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen, die alle ihren Zweck, die alle ihre Berechtigung haben, zunehmend an Bedeutung gewinnen und Räte und Kommissionen mehr Bedeutung haben als die frei gewählten, repräsentativ gewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Deswegen ist es so, dass wir darum kämpfen sollten. Wir hier sind das höchste frei gewählte Verfassungsorgan, und das sollten wir auch sehr, sehr selbstbewusst verteidigen.
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Wir sind die Union, und das bedeutet: Wir haben ein tiefes Verständnis dafür, dieses Land zusammenzuhalten. Übrigens: Die soziale Union ist auch deswegen sozial, weil wir wissen – und das haben wir bei Corona weidlich diskutiert –, dass Freiheit auch immer die Freiheit der Schwachen und nicht nur die Freiheit der Starken ist. Wir sind die Union und haben den tiefen Anspruch, dieses Land zusammenzuhalten –
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nicht um jeden Preis, das wird nicht gehen; wir werden nicht immer alle mitnehmen können.
Wir haben daneben auch den tiefen Anspruch, Europa zusammenzuhalten, weil wir wissen, Herr Scholz, dass Europa die Lösung für ganz viele unserer Probleme ist – ob es außenpolitische Dinge sind, ob es die Integrationspolitik ist, ob es um ein Europa geht, das Technologie- und Industriepolitik macht und einen gemeinsamen Digital- und Kapitalmarkt hat. Deswegen müssen wir auch dieses Europa zusammenhalten.
Wir werden dieses Europa aber nicht zusammenhalten, wenn wir aus diesem Europa eine Schuldenunion machen.
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Wir werden dieses Europa nicht zusammenhalten, indem wir eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung haben. Herr Lindner, Sie werden Anfang Januar hier Ihre Ausführungen machen. Wir setzen dabei auf Sie, dass Sie das verhindern, was Olaf Scholz und die Grünen eigentlich wollen, und wir werden das auch sehr genau bewerten.
Wir sind christlich, wir sind demokratisch, wir sind sozial. Wir sind die Union, wir sind getragen vom tiefen Willen, dieses Land in den nächsten Jahren zusammenzuhalten. Herr Bundeskanzler, deswegen bieten wir Ihnen auch die Zusammenarbeit an, wenn es um die Fragen der nationalen und europäischen Interessen geht. Sie werden aber Verständnis dafür haben, dass es uns nicht ganz gefällt, dass Sie da sitzen. Wir würden da lieber jemanden von uns sitzen haben – das ist doch überhaupt keine Frage –, weil wir glauben, wir könnten es besser.
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Sie sehen das natürlich anders. Aber das ist Demokratie, und das kann auch Spaß machen.
Deswegen bieten wir Ihnen eins an: Wir bieten Ihnen an, dass wir die Debatte und den Streit führen, dass wir uns ringend darum bemühen, gute und bessere Lösungen für dieses Land zu finden. Wir haben, glaube ich, eine große Chance: Wenn wir das richtig machen und wenn wir das gut machen, wenn wir bei diesem Streit faire Standards setzen, dann können wir auch ein Vorbild für eine Gesellschaft sein, die insbesondere in den sozialen Medien, aber nicht nur dort, immer harscher und rauer wird. Ich glaube, es sollte unser Anspruch hier als Deutscher Bundestag sein, dass wir da ein Vorbild sind, indem wir die Diskussion so führen, dass die Menschen sich an diesen Diskussionen orientieren können.
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Meine Damen und Herren, wir alle haben jetzt sicherlich das ganz große Ziel, Corona zu überwinden. Aber es geht nicht nur um die Überwindung der Infektion. Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich noch an den Sommer 2006 erinnern kann, als wir die Fußballweltmeisterschaft gehabt haben und die Welt erstaunt war, dass Deutschland ein Land ist, das lächeln kann. Wir haben dieses Lächeln in den letzten Jahren – insbesondere in den letzten zwei Jahren – verloren. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dass wir dieses Lächeln wieder zurückgewinnen, und so wollen wir Politik machen, so wollen wir engagiert Politik machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brinkhaus, ich habe Ihnen wirklich sehr aufmerksam zugehört, und ich danke Ihnen für das Angebot, konstruktiv mit uns als neuer Regierung zusammenzuarbeiten. Wir Grüne waren selber viele Jahre in der Opposition und wissen das zu schätzen. Ein gutes Verhältnis zwischen Regierung und Opposition ist gerade in Zeiten von Krisen, ist angesichts der Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen, notwendig.
({0})
Aber: Ich habe Ihnen auch sehr genau bei dem zugehört, was Sie im Einzelnen gesagt haben, und da kann ich nur sagen: Es wurde dringend Zeit! Es wurde dringend Zeit, dass dieses Land endlich eine neue Regierung bekommt,
({1})
eine Regierung, die handelt, eine Regierung, die die Herausforderungen der Zukunft endlich angeht, die hier was möglich macht und nicht nur darüber spricht, was nicht geht.
Herr Brinkhaus, Sie haben hier einen sehr energischen Vortrag gehalten, aber so energisch haben Sie nicht regiert in den letzten Jahren.
({2})
Ihre Regierungspolitik bestand immer nur aus den kleinen Schritten. Ihre Regierungspolitik bestand immer nur daraus, etwas dann zu tun, wenn es wirklich gar nicht mehr anders möglich war.
Das größte Thema, an dem man exemplarisch sieht, dass Sie eben nicht gehandelt haben, ist der Kampf gegen die Klimakrise. Nirgends wurde in den letzten Jahren so wenig das Notwendige getan wie hier.
({3})
Es ist bezeichnend, Herr Brinkhaus, dass das Konkreteste, was Sie zum Thema „ökologische Nachhaltigkeit“ in Ihrer Rede gesagt haben, die Nachhaltigkeitswochen im Deutschen Bundestag sind. Das ist keine konkrete Maßnahme.
({4})
Wir legen einen Koalitionsvertrag vor, mit dem wir endlich ins Handeln kommen. Diese Koalition hat sich darauf verpflichtet, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Eigentlich, Herr Brinkhaus, sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Wir schulden es unseren Kindern, wir schulden es kommenden Generationen, dass alle, die in diesen Bundestag gewählt worden sind, um Verantwortung zu tragen, dafür sorgen, dass unsere Kinder im Jahr 2050, das der Pariser Klimavertrag als Ziel definiert hat, in einer Welt leben, die noch lebenswert ist. Das sollte selbstverständlich sein.
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Natürlich ist das, was vor uns liegt, eine große Herausforderung. Das Tempo des Wandels, das wir jetzt brauchen, um diese Ziele noch zu erreichen, ist eine große Herausforderung. Aber auf der anderen Seite liegt darin auch eine große Chance. Wir können, wenn wir miteinander handeln, die 2020er-Jahre, die im Kampf gegen die Klimakrise so entscheidend sind, zum Jahrzehnt des Klimaschutzes machen.
Im Bereich der Energieerzeugung bringen wir endlich Tempo in den Ausbau der erneuerbaren Energien. Jahrelang haben wir in diesem Land Energieminister erlebt, die sich absurderweise als Ausbaubremse der erneuerbaren Energien verstanden haben und nicht als Motor. Das ändern wir jetzt.
({6})
Wir hatten im Deutschen Bundestag sogar die absurde Situation, dass die Wirtschaft darum betteln musste, dass der Ausbau der Erneuerbaren vorankommt. Sie musste Briefe an Peter Altmaier schreiben, damit endlich etwas passiert. Mit diesem Koalitionsvertrag leiten wir die Wende ein. Wir haben gesagt: 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien bis zum Jahre 2030! Das ist das konkrete Ziel.
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Wir unterlegen das auch mit Maßnahmen: mit einer Solarpflicht bei allen geeigneten Dächern, mit verbindlichen Flächenzielen für die Windkraft und mit einer deutlichen Beschleunigung von Planungsprozessen.
({8})
Gleichzeitig ziehen wir den Kohleausstieg vor und retten damit die Dörfer im Rheinischen Revier. Es ist eine Frage des Schutzes von Heimat, dass Menschen nicht mehr ihre Dörfer verlassen müssen, die sinnlos zugunsten einer Kohlepolitik abgebaggert werden, die der Zukunft unserer Kinder entgegensteht.
({9})
Aber wir denken die Klimaneutralität in allen Sektoren, auch in der Verkehrspolitik. Diese Koalition hat klar gesagt: Wir steigen aus dem Verbrennungsmotor aus. Wir schaffen 15 Millionen neue Elektroautos bis 2030. Wir bauen die Infrastruktur für die Elektromobilität. Wir stecken auch mehr Geld in den Ausbau der Schiene und in den ÖPNV, und wir werden den Bundesverkehrswegeplan überprüfen.
({10})
Ich freue mich, dass wir in dieser Koalition jetzt einen Verkehrsminister haben, der sagt, er sei der Anwalt der Fußgänger und Radfahrer/-innen. Herr Wissing, da nehmen wir Sie beim Wort. Wir wünschen uns eine gute Zusammenarbeit.
({11})
Im Bereich der Wirtschaftspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, begründen wir eine neue Zeit. Indem wir ausgerechnet das Wirtschaftsministerium zum Klimaschutzministerium machen, machen wir Schluss mit alten Gegensätzen. Wir Grünen haben schon vor vielen Jahren plakatiert: „Zwischen Umwelt und Wirtschaft gehört kein Oder“. Und es ist gut, dass diese Erkenntnis jetzt endlich auch in der deutschen Bundesregierung angekommen ist.
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Ich sage Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen: Große Teile der Wirtschaft muss man davon gar nicht mehr überzeugen; denn sie wissen, dass nur in der Klimaneutralität ihre wirtschaftliche Zukunft liegt. Die alten großen Industrien in diesem Land – Stahl, Chemie, Aluminium, Kupfer und Zement – warten nur darauf, dass diese Regierung endlich den Startschuss zum Umbau Richtung klimaneutrale Produktion gibt. Auch die Automobilindustrie, die Luftfahrt, der Schiffbau, sie alle wissen, dass sie nur mit einer klimaneutralen Mobilität bzw. klimaneutralen Produktion in Zukunft wettbewerbsfähig sein können.
({13})
Alle eint übrigens der Wunsch, dass Deutschland eine funktionierende Infrastruktur hat. Herr Brinkhaus, Sie haben ja eben gesagt, die Grünen stünden finanziell nicht für Nachhaltigkeit. Ich halte es für absolut nicht generationengerecht und für absolut nicht nachhaltig, unsere Infrastruktur so verrotten zu lassen, dass die Rechnung von künftigen Generationen bezahlt werden muss.
({14})
Das ist finanziell nicht nachhaltig; im Gegenteil. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem ich mich dafür schämen muss, dass die Autobahnbrücken für den Lkw-Verkehr gesperrt werden, weil sie einsturzgefährdet sind, weil in den vergangenen Jahren niemand in sie investiert hat.
({15})
Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem ich mich dafür schämen muss, dass es Regionen gibt, in denen das Internet für die Menschen gerade mal so schnell ist, dass sie eine E-Mail hochladen können, in denen sie in einem einzigen Funkloch wohnen. Ich möchte auch nicht in einem Land leben, in dem ich mich ständig darüber ärgern muss, dass die Bahn zu spät oder gar nicht kommt, dass es keinen Anschluss gibt, weil Sie nicht in das notwendige Schienennetz investiert haben.
({16})
Deswegen ist es wichtig, dass wir in dieser Woche einen Nachtragshaushalt vorlegen, der finanzielle Spielräume ermöglicht. Die unterlassenen Investitionen in Zeiten der Coronakrise können wir jetzt tätigen und gleichzeitig zur Bekämpfung der Klimakrise einsetzen.
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Auf der anderen Seite wissen wir: Die Veränderungen, die vor uns liegen, verursachen auch Verunsicherung. Wir als Koalition geben darauf eine Antwort. Mich hat im Sommer eine junge Frau, die in einem großen Chemiekonzern ihre Ausbildung macht, gefragt: Wird das, was ich hier lerne, in Zukunft eigentlich noch gebraucht? – Darauf geben wir als Koalition eine klare Antwort. Das, was sie gelernt hat, das, was alle Menschen in diesem Land als Fähigkeiten mitbringen, wird nicht nur weiterhin gebraucht; wir brauchen das sogar dringender denn je.
({18})
Ihre und eure Fähigkeiten, die Innovationen, die Ideen der Menschen in diesem Land sind das, was dieses Land stark macht. Deswegen haben wir in diesem Koalitionsvertrag erklärt, dass dieses Land zur Weiterbildungsrepublik umgebaut werden muss, dass wir in allen Lebenslagen, sei es in der Ausbildung, im Beruf oder auch in der Arbeitslosigkeit, die Weiterbildung so fördern, dass jeder und jede in Zukunft auch in einer neuen Arbeitswelt die bestmöglichen Chancen hat.
({19})
Sicherheit bedeutet übrigens auch, dass ein Land ein Sozialstaat ist, der die Menschen auffängt, wenn es einmal nicht so gut geht, der sie bei Arbeitslosigkeit unterstützt, der Respekt, Förderung und Unterstützung in den Mittelpunkt stellt und nicht Sanktionen. Auch da leitet dieser Koalitionsvertrag eine Wende ein.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt kurz vor Weihnachten. Meine Kinder haben den Wunschzettel an den Weihnachtsmann schon geschrieben. Sie freuen sich auf Weihnachten, und ich freue mich mit ihnen. Ich finde Heiligabend etwas Wunderschönes. Aber für viele Familien in diesem Land wird das anders sein. Es wird zu viele Eltern geben, die mit großen Bauchschmerzen auf Heiligabend schauen, weil sie wissen, dass das Geld vielleicht nicht für die Geschenke reicht, und die ihren Kindern nachher, wenn sie zurück in die Kita gehen, erklären müssen, warum der Weihnachtsmann ihnen so viel weniger Wünsche erfüllt hat als anderen Kindern. Das bricht mir das Herz. Ich finde es richtig und wichtig, dass dieser Koalitionsvertrag darauf jetzt eine Antwort gibt, dass wir klar sagen: Kinder haben im Hartz-IV-System nichts verloren. Sie gehören da nicht rein.
({21})
Kinder sind keine kleinen Arbeitsuchenden. Kinder sind Kinder. Sie haben ein Recht darauf, dazuzugehören. Sie haben ein Recht auf ein gutes Aufwachsen und darauf, dass dieser Staat ihnen alles garantiert, was sie dafür brauchen. Genau deshalb ist es so ein Riesenerfolg, dass in diesem Koalitionsvertrag eine Kindergrundsicherung verankert wurde, die das den Kindern ermöglicht.
({22})
Dringend Zeit ist es übrigens auch, dass wir in einem Land leben, in dem eine Politik gemacht wird, in der die Menschen mit all ihrer Vielfalt akzeptiert werden, mit all ihren Lebensentwürfen willkommen geheißen, anerkannt, unterstützt und respektiert werden. Das hat dieser Koalitionsvertrag noch einmal deutlich gemacht mit wichtigen Reformen wie der Abschaffung des Transsexuellengesetzes, mit mehr Rechten für alle Familienformen, mit einem echten Schutz vor Diskriminierung und mit einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.
({23})
Ich muss insbesondere in Richtung der CSU sagen: Es ist gut, dass dieses Land nicht mehr von einer Partei regiert wird, die in familien- und gesellschaftspolitischen Debatten unterschiedliche Familien-, Gesellschafts- und Lebensentwürfe immer wieder gegeneinander ausspielt, so wie Frau Bär das vor Kurzem beim Thema Verantwortungsgemeinschaften gemacht hat.
({24})
Ich kann das nicht verstehen. Was ist so schlimm daran, Menschen mehr Rechte und mehr Sicherheit zu geben?
({25})
Niemandem, wirklich niemandem wird etwas weggenommen, wenn jemand anderes mehr Rechte bekommt.
({26})
– Diese Gemeinschaften sind sogar mit Pflichten verbunden. Lesen Sie sich das mal ordentlich durch.
Diese neue Regierung hat ihre Arbeit in einer extrem schwierigen Zeit aufgenommen. Wir befinden uns mitten in der vierten Welle der Coronapandemie. Es war richtig und wichtig, dass wir die Arbeit miteinander schon aufgenommen haben, bevor sich diese Regierung überhaupt konstituiert hat; denn wir mussten die Menschen schützen. Dafür sind wir hier gewählt. Ich finde es auch richtig und wichtig, dass wir die Debatten über Corona endlich wieder an den Ort zurückgebracht haben, wo sie hingehören, nämlich in den Deutschen Bundestag.
({27})
Wir sind diejenigen, die schwierige Entscheidungen treffen müssen. Wir sind diejenigen, die miteinander abwägen müssen. Und wir haben gezeigt, dass wir das schnell und verantwortungsvoll machen können. Jetzt steht es an, so viele Menschen wie möglich dabei zu unterstützen, dass sie sich impfen lassen, und Eltern zu beraten, dass sich auch die Kinder impfen lassen werden.
Wir müssen uns aber einmal die Zeit nehmen, auf den vergangenen Sommer zurückzuschauen; denn wir alle gemeinsam haben es nicht geschafft, Millionen von Menschen davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Wir müssen uns alle miteinander fragen, warum das nicht funktioniert hat. Denn Impfen ist der einfachste, der sicherste, der unkomplizierteste, der beste Weg raus aus dieser Krise. Aber wir haben es nicht geschafft. Meine Antwort darauf ist: Prävention ist unheimlich schwierig. Es ist schwierig, Menschen von Prävention zu überzeugen, sie davon zu überzeugen, zu handeln, wenn sie noch nicht so genau erkennen, dass es wirklich notwendig für sie ist. Da müssen wir alle besser werden. Prävention hat in der Vergangenheit zu wenig Spielraum in den Debatten im Deutschen Bundestag erhalten.
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Herr Brinkhaus, Sie haben ja ein Angebot zur konstruktiven Zusammenarbeit gemacht. Beim Thema Prävention möchte ich Sie wirklich dazu einladen. Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, das mit Blick auf Prävention entscheidend sein wird. Wir sind die Generation, die es in der Hand hat, die Klimakrise zu bekämpfen. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist so groß, dass wir das nur gemeinsam schaffen. Dafür braucht man die demokratische Opposition genauso wie die Regierungsfraktionen.
Meine Kinder werden im Jahr 2050 ungefähr so alt sein wie ich heute. Sie werden mich einmal fragen: Was habt ihr damals eigentlich gemacht? – Und ich möchte, dass wir alle, die wir hier Verantwortung übernehmen, unseren Kindern, all den Kindern in diesem Land, in Zukunft sagen können: Wir haben das geschafft, und wir haben das gemeinsam gemacht.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dröge. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Alice Weidel, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Werte Damen und Herren! Der lärmende Fehlstart, den Ihre aus links-grünen Betonköpfen und umgefallenen Liberalen zusammengezimmerte Regierung hingelegt hat, sucht seinesgleichen.
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Von der ersten Minute an gehen Sie und Ihre Minister auf Konfrontationskurs mit der Realität, mit der Freiheit, mit den Bürgerrechten, mit den Bürgern und mit den europäischen Nachbarn und Partnern.
Herr Habeck und sein Staatssekretär haben sich als erstes Projekt die Aushebelung des Artenschutzes vorgenommen, um das Land noch dichter mit Windrädern vollstellen zu können. Der Natur- und Artenschutz hat als Sympathiewerbung bei den Grünen offenbar an Bedeutung verloren.
Das unsägliche Zensurgesetz NetzDG wollte die FDP im Wahlkampf noch abschaffen. Jetzt stellt sie den Justizminister, der die Anwendung des NetzDG sogar noch verschärfen will.
Innenministerin Faeser erklärt, kaum im Amt, den Rechtsextremismus zur größten Gefahr.
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– Ich wusste, dass Sie da klatschen. – Der allgegenwärtige Links- und Islamextremismus kommt bei ihr genauso wenig vor wie im ganzen rot-grün-gelben Koalitionsvertrag, nicht mit einem Wort. Zu dem soeben mit knapper Not in Hamburg verhinderten islamistischen Terroranschlag haben wir von der Innenministerin bis heute noch kein Wort gehört.
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Dieselbe Innenministerin kam aus Brüssel zurück mit der Zusage, von 40 000 Afghanen, die aus unerfindlichen Gründen in die EU umgesiedelt werden sollen, gleich 25 000 allein nach Deutschland zu holen – Spanien und Frankreich übernehmen gerade mal ein Zehntel dieser Zahl –, und das, obwohl die Zahl der Asylanträge ohnehin wieder stark ansteigt und Deutschland EU-weit mit Abstand die meisten Asylbewerber aufnimmt. Damit ist klar: Deutschland bleibt nicht nur auf seinem Sonderweg als Migrationsmagnet der Vorgängerregierung. Ihre Regierung gibt in dieser Sackgasse sogar noch Vollgas.
Die gleiche moralische Anmaßung steckt hinter den Belehrungen, die Frau Baerbock als Außenministerin gegenüber Polen meinte verteilen zu müssen, weil das Land Polen seine europäische Verantwortung ernst nimmt und die EU-Außengrenze wirksam gegen illegale Migration schützt.
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Herr Lindner von der Umfallerpartei FDP, der in ferner Vergangenheit gern und viel von soliden Staatsfinanzen sprach und sie versprach, legt als Erstes einen Nachtragshaushalt von 60 Milliarden Euro Schulden vor.
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Als Notar der kommenden grün-roten Ausgabenorgien zweckentfremdet der Bundesfinanzminister also überdimensionierte Kreditermächtigungen seines Vorgängers und des Bundeskanzlers,
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um künftig noch mehr Geld für grüne Klimaschutz- und Energiewende-Planwirtschaft verpulvern zu können. Was für ein Start ins Amt mit unseriösen und verfassungsrechtlich bedenklichen Finanztricksereien!
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Vor vier Jahren, Herr Lindner, hieß es bei Ihnen noch: Lieber gar nicht regieren als schlecht regieren. – Heute lautete die Devise: Hauptsache in der Regierung sitzen, als Steigbügelhalter für grün-linke Projekte und Allmachtsfantasien.
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Von dem einstigen Geist der FDP – das muss man hier mal ganz klar sagen – ist nichts, aber auch gar nichts übrig geblieben.
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Inmitten dieses dissonanten Konzerts steht als Kapellmeister ein Bundeskanzler, der vor allem eines gerne tut: schweigen, vor allem zu seinen eigenen Verfehlungen von Cum-ex über Wirecard bis zur millionenschweren Steuer- und Spendenaffäre der Warburg-Bank. Und Ihre orakelhaften Zweideutigkeiten nach Merkel-Art machen die Sache nicht besser. Sie sagen, Sie seien auch der Kanzler der Ungeimpften und sortieren genau damit die Bürger in brave Geimpfte und ungeimpfte Abweichler, die Sie zum Wohlverhalten zwingen wollen. Genau das ist die Wortwahl eines Kanzlers der Spaltung.
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Den eklatantesten Wählerbetrug haben Sie sich noch vor Amtsantritt geleistet, den Einstieg in die vor wenigen Wochen noch hoch und heilig dementierte Impfpflicht. Die Novelle zum Infektionsschutzgesetz wurde gegen alle guten parlamentarischen Sitten durchgepeitscht, mit weiteren schweren Grundrechtseinschränkungen auf unabsehbare Zeit. Warum Sie es damit so eilig hatten, ist leicht zu durchschauen. Das Virus schert sich nämlich nicht um Ihre Maßnahmen, Ihr ständiges Immer-mehr, was bisher schon nicht funktioniert hat. Sie wollen an der Verfassung vorbei einen unerklärten permanenten Ausnahmezustand etablieren.
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Und Sie befürchten, dass die von Ihnen geschürte Panik zu schnell abebbt, wenn das Infektionsgeschehen auch ohne Ihr Zutun wieder zurückgeht.
Sie brauchen Dauerpanik und Ausnahmezustand, damit weniger über das gesprochen wird, was Ihre Regierung sonst noch auf der Agenda hat:
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eine Migrationspolitik, die noch mehr als die Vorgängerregierung die Tore für Einwanderung in die Sozialsysteme öffnet, die mit erleichtertem Zugang zu Sozialleistungen und Aufenthaltserlaubnissen lockt, die über die großzügige Ausweitung von Einbürgerung und Familienzusammenführung unumkehrbare Tatsachen schafft, eine Klimaschutzpolitik, die allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen übergeordnet ist und über staatliche Lenkung und staatliches Geldverteilen faktisch in Sozialismus und Klimaplanwirtschaft mündet und in die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten,
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in Energieunsicherheit und absehbare Blackouts, eine Europapolitik, die von eigenen nationalen Interessen nichts wissen will, die Schulden- und Transferunion zum Nachteil der deutschen Steuerzahler weiter ausbaut und die EU in einen europäischen Bundesstaat umbauen möchte. Mit diesem Wunsch nach Auflösung des eigenen Nationalstaates in einen EU-Zentralstaat stehen Sie in Europa übrigens völlig alleine da. Das alles steht bei Ihnen unter dem Schlagwort „Transformation“.
Aber eine solche Machtanmaßung ist nicht die Aufgabe einer demokratischen Regierung, die den Bürgern dient. Auf die realen Sorgen und Nöte, welche die ganz normalen Bürger dieses Landes umtreiben, haben Sie keine Antwort. Die Inflation läuft aus dem Ruder und lässt Mittelstand und Mittelschicht verarmen. Die EZB ist hilflos. Sie müsste mit höheren Zinsen gegensteuern, aber sitzt gefangen in der Falle der Staats- und Unternehmensfinanzierung von Null- und Negativzinsen, die den Notenbanken im Übrigen eigentlich verboten ist. Statt die Bürger zu entlasten, treibt Ihre Regierung Steuern sowie Sprit- und Energiepreise noch in die Höhe. Das ist unverantwortlich, sehr geehrte Damen und Herren.
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Die Angst um den Arbeitsplatz geht um. Sie aber blasen im Namen des Klimaschutzes zum Generalangriff auf den produktiven industriellen Kern und die Energieversorgung dieses Landes. Sie schauen dem Niedergang der Automobil- und Zulieferindustrie sogar mit Genugtuung zu und vergeuden Steuergeld für grün-linke Identitätspolitik, indem Sie Jobs auf Kosten der Allgemeinheit für Ihre Lobbygruppen schaffen.
Die innere Sicherheit erodiert. Vor eskalierender Messergewalt, Rohheitsdelikten und der wachsenden Unsicherheit auf den Straßen verschließen Sie die Augen. Dafür kriminalisieren Sie mit größerem Eifer umso mehr regierungskritische Proteste. Während rechtstreue Bürger ohne digitalen Impfpass kein Restaurant betreten dürfen,
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bleiben die Grenzen offen für illegale Einwanderer, auch ohne Ausweisdokumente. Das ist eine unhaltbare, völlig rechtswidrige Politik, die diese Regierung verschlimmert und verstetigt.
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Herr Bundeskanzler Scholz, Ihre Regierung hat bereits in den ersten Tagen überdeutlich gemacht, wohin die Reise mit dieser Koalition gehen soll. Es ist eine Geisterfahrt. Korrigieren Sie diesen Kurs! Sorgen Sie für die Einhaltung des Rechts, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit! Einen Sie dieses Land, statt es weiter zu spalten!
Ich bedanke mich.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Weidel. – Als nächsten Redner rufe ich den Fraktionsvorsitzenden der FDP auf, den Kollegen Christian Dürr.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie haben es eingangs Ihrer Rede gesagt: Die Coronapandemie hält unser Land nach wie vor in Atem. Wir sind in einer vierten Welle. Aber anders als vor einem Jahr reden wir in Deutschland zurzeit nicht über eine flächendeckende Schließung des Einzelhandels. Anders als vor einem Jahr haben wir in Deutschland derzeit keine nächtlichen Ausgangssperren. Anders als vor einem Jahr haben wir in Deutschland glücklicherweise keine flächendeckenden Schulschließungen. Wir haben in Deutschland seit einigen Tagen die erfolgreichste Boosterkampagne in der Europäischen Union. In diesen Tagen wird in Deutschland so viel geimpft wie noch nie seit Beginn der Impfkampagne. Es waren in der letzten Woche 6,4 Millionen Dosen. Die Impfbereitschaft der Menschen in Deutschland – und dafür will ich einmal Danke sagen – ist da. Deswegen – auch das sage ich zu Beginn meiner Rede – bin ich dem Bundesgesundheitsminister dankbar, dass er sich jetzt explizit darum kümmern wird, dass das nicht abreißt. Es darf nicht passieren, dass die Impfstoffbeschaffungspläne jetzt nicht eingehalten werden können, meine Damen und Herren.
({0})
Man muss auch – mit Verlaub, Herr Brinkhaus, da bin ich nach Ihrer Rede in Teilen etwas überrascht – etwas selbstkritisch mit der eigenen Regierungsarbeit umgehen. Was die Schwierigkeiten bei der Impfstoffbeschaffung anbetrifft, haben wir das heute bedauerlicherweise den Tageszeitungen entnehmen müssen. Aber Sie haben auch von Stil gesprochen. Diese Koalition hat bereits vor Regierungsbeginn einen anderen Stil gezeigt, wie man miteinander umgeht. Ich fand es spannend, dass Sie, Herr Brinkhaus, zu Beginn Ihrer Rede gesagt haben, dass Sie keine beleidigte Opposition sein wollen und dass Sie dem Bundeskanzler Scholz Respekt aussprechen. Das freut uns. Aber der allererste Punkt Ihrer Rede, Herr Brinkhaus, betraf die Sitzordnung im Deutschen Bundestag. Für mich jedenfalls klingt das, als wären Sie beleidigt. Ich glaube, Sie sollten an der Stelle noch an sich arbeiten, lieber Kollege Brinkhaus.
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Jetzt werden sofort die Ärmel hochgekrempelt; denn es geht bereits in den kommenden Wochen und Monaten um ganz wichtige Entscheidungen in Deutschland. Es geht um die Frage, ob wir es schaffen, Deutschland nach dieser coronabedingten Wirtschaftskrise auf den Wachstumspfad zurückzubringen. Dabei geht es nicht um irgendwelche volkswirtschaftlichen Statistiken, sondern um die Lebenschancen und Lebensträume der Menschen in unserem Land. Deswegen hat sich diese Koalition sehr klar auf die Fahnen geschrieben, dass es keine Steuererhöhungen geben wird. Die Menschen in Deutschland sollen nicht stärker belastet werden, meine Damen und Herren.
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Damit wir sie auch in Zukunft nicht stärker belasten müssen, hat sich diese Koalition auf die Fahnen geschrieben, dass wir finanzielle Solidität walten lassen und an der grundgesetzlichen Schuldenbremse festhalten.
An dieser Stelle will ich noch etwas in Richtung der heutigen Oppositionsparteien der Union sagen – Sie hatten es in Ihrer Rede erwähnt, Herr Brinkhaus –: Mit Verlaub, Sie sind die falschen Stichwortgeber. Es war der aktuelle Kandidat für den CDU-Bundesvorsitz, Helge Braun, der die Schuldenbremse schleifen wollte.
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Es waren, mit Verlaub, im Bundestagswahlkampf Armin Laschet und insbesondere Markus Söder, die die Schuldenbremse im Grundgesetz ändern wollten. Die Union ist hier für uns der falsche Ratgeber.
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Damit die wirtschaftliche Dynamik, die die Lebensträume erst verwirklichen lässt, wieder in Gang kommt, werden wir die Wachstumspotenziale unseres Landes stärken müssen. Dabei werden wir – der Bundeskanzler hat es gesagt – Planungsbeschleunigung betreiben. Unsere Nachbarländer in der Europäischen Union sind teilweise doppelt so schnell. Deswegen ist es ein richtiges Ziel dieser Regierung, dass wir die Planungszeiten in Deutschland halbieren, meine Damen und Herren. Das ist ein ganz wichtiges Signal an Unternehmerinnen und Unternehmer, an Gründer in Deutschland, die einen Traum verwirklichen und Arbeitsplätze für unser Land schaffen wollen.
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Wir werden Superabschreibungen einführen, damit gerade jetzt, während dieser Krise, in Deutschland investiert wird, damit wir in Zukunft in Wohlstand leben und Arbeitsplätze schaffen können. Ein ganz, ganz wichtiges Ziel dieser Regierungskoalition auch für den deutschen Mittelstand, gerade weil die Energiekosten in den letzten Jahren gestiegen sind, besteht darin, dass wir ab dem Jahr 2023 die EEG-Umlage abschaffen werden. Das schafft Wachstum und Wohlstand für Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zuallererst ist unser Ziel, mehr private Investitionen zu erreichen; das haben Sie richtigerweise gesagt, Herr Bundeskanzler. Damit das gelingt und auch öffentliche Investitionen, beispielsweise in die Infrastruktur, finanziert werden können, hat die Bundesregierung dem Bundestag einen Nachtragshaushalt zugeleitet, mit dem bereits bewilligte Kreditermächtigungen in den zukünftigen Klima- und Transformationsfonds überführt werden sollen. Das Ziel – das ist ganz klar – ist die schnelle Beseitigung der Haushaltsnotlage in Deutschland. Ich habe vorhin über Solidität gesprochen. Das Ziel muss sein, dass wir ab 2023 nicht mehr den Notfallmechanismus der Schuldenbremse ziehen müssen. Deswegen werden wir mit diesem Nachtragshaushalt gerade keine neuen Schulden machen.
Besonders gewundert habe ich mich über die angekündigte Normenkontrollklage der CDU/CSU-Fraktion; denn anders als die Ampelkoalition bei diesem Nachtragshaushalt, lieber Herr Kollege Brinkhaus, haben Sie mit Ihrer Stimme im Jahr 2020 einem Nachtragshaushalt zugestimmt, mit dem zusätzliche Schulden gemacht wurden, um das Ganze dann in ein Sondervermögen zu überführen. Wenn Sie jetzt gegen diese Regierung klagen wollen, müssen Sie zuallererst gegen sich selbst klagen, Herr Brinkhaus.
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Der Volksmund nennt so etwas Heuchelei, um das mit Verlaub zu sagen.
Ich habe vorhin über Zukunftschancen gesprochen. Besonders gelitten in den letzten 16 Jahren einer unionsgeführten Bundesregierung hat in Wahrheit das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft. Die Chancen vor allem junger Menschen hängen in Deutschland zu sehr von der Herkunft, zu sehr vom Elternhaus ab. Deswegen haben wir uns vorgenommen, massiv in Bildung zu investieren. 4 000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Kinder werden wir besonders fördern. Wir werden einen DigitalPakt 2.0 auf den Weg bringen. Wir werden das BAföG in Deutschland endlich elternunabhängiger machen.
Meine Damen und Herren, dazu gehört selbstverständlich auch bezahlbares Wohnen. Das gelingt aber nur, wenn in Deutschland schneller und mehr Wohnungen gebaut werden. Der bisherige Innenminister von der CSU, Herr Seehofer, der dafür zuständig war, hat verdammt viele Wohngipfel gemacht, aber es wurden verdammt wenig Wohnungen in Deutschland gebaut. Diese Koalition will es genau umgekehrt machen, meine Damen und Herren, um das Aufstiegsversprechen zu gewährleisten.
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Wir werden die Menschen dabei entlasten. Die Abschaffung der EEG-Umlage für die Unternehmen in Deutschland – ich erwähnte es vorhin – gilt natürlich ganz genauso für die privaten Haushalte. Wir werden eine vollständige Abzugsfähigkeit der Rentenbeiträge bereits ab dem Jahr 2023 durchsetzen. Das ist eine Entlastung in Milliardenhöhe für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Wir werden den Sparerpauschbetrag und den Ausbildungsfreibetrag erhöhen. Und – das ist mir besonders wichtig –: Wir werden in Deutschland ein Bürgergeld einführen. Wir werden die Hinzuverdienstmöglichkeiten massiv ausweiten. Wir werden die Anrechnung von Schüler- und Studentenjobs auf Sozialleistungen der Eltern vollständig abschaffen.
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Menschen, die es im Leben besonders schwer haben, aber trotzdem die Arme hochkrempeln und etwas leisten wollen, die sollten dafür auch belohnt werden. Ich weiß, dass genau das, dass diese Menschen belohnt werden, ein Herzensanliegen unseres verstorbenen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle war. Es erfüllt mich mit Stolz, dass diese Ampelkoalition das jetzt umsetzen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will zum Schluss ein Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt: Deutschland ist mit einem massiven demografischen Wandel konfrontiert. Der erfordert beherztes Handeln auch der neuen Bundesregierung. Damit ist insbesondere die Tatsache verbunden, dass immer weniger Menschen ins Erwerbsleben eintreten, während immer mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das ist eine große Gefahr für Wachstum und Wohlstand in unserem Land. Deswegen braucht Deutschland gezielte Einwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt.
Herr Brinkhaus, Sie haben es eben und in einem Interview vom letzten Wochenende erwähnt. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem strammen Linkskurs und offenen Grenzen. Das sind Worte, die normalerweise Rechtspopulisten verwenden, um Ängste zu schüren. Ich weiß, dass das nicht Ihre Haltung ist; aber Ihnen muss klar sein, welche Wirkung diese Worte entfalten. Ich sage ganz klar, Herr Brinkhaus: Das ist nicht konservativ. Das ist einfach nur dumm.
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Denn seit 16 Jahren blockiert hier die Union die deutsche Wirtschaft. Die Start-ups in Deutschland, die Bauwirtschaft, die Logistikbranche, der Pflegebereich – ich könnte die Liste unendlich fortsetzen –, sie alle suchen händeringend kluge Köpfe und fleißige Hände. Die Konservativen haben hier seit vielen Jahren eine moderne und eine unideologische Einwanderungspolitik verhindert. Diesen historischen Fehler werden wir korrigieren.
({12})
Die Ampel hat es sich zum Herzensanliegen gemacht, dass Deutschland endlich Platz nimmt in der Mitte der Länder der Welt, die ein Einwanderungsland moderner Natur sein wollen. Wir wollen ein modernes Einwanderungsland werden! Das ist die Botschaft der Ampelkoalition, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Es steht als Titel auf dem Koalitionsvertrag: „Mehr Fortschritt wagen“. Ich habe eben über Demografie gesprochen. Wir werden beispielsweise den Einstieg in eine Aktienrente schaffen. Wir wollen dekarbonisieren und bis 2045 klimaneutral sein; dazu brauchen wir Technologieoffenheit. Den europäischen Emissionshandel haben Sie erwähnt. Und wir wollen ein digitalisiertes Deutschland, einen unkomplizierten Staat, in dem das Versprechen eines sozialen Aufstiegs endlich wieder gilt.
Ich danke Ihnen.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege Dürr. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Scholz, in Ihrer Rede fanden Sie wieder Worte des Dankes für die Pflegerinnen und Pfleger; auch Ankündigungen hat man wieder gehört. Das kennen die Pflegerinnen und Pfleger bereits zur Genüge aus Ihrer Zeit als Vizekanzler. Ankündigungen reichen nicht aus.
({0})
Sie haben einen Pflegebonus versprochen. Er soll erst im nächsten Jahr kommen. Dabei haben wir letzte Woche hier beantragt, dass er sofort kommen soll, und zwar für alle. Sie haben das abgelehnt. Außer der Linken hat keine Fraktion in diesem Hause unserem Antrag zugestimmt. Ich muss sagen: Ich finde das unglaublich.
({1})
Die Begründung ist, Sie bräuchten noch Zeit, um genau zu klären, wer den Pflegebonus bekommen soll und wer eben nicht. Mit anderen Worten: Sie wollen gerade nicht alle Pflegerinnen und Pfleger bedenken. Da frage ich Sie: Warum denn nicht? Wir wissen doch, dass im gesamten Gesundheitswesen die Pflegerinnen und Pfleger seit Jahren an der Belastungsgrenze arbeiten. Und hier können Sie nicht einfach mal sagen: „Alle bekommen etwas“? Wissen Sie: Diese Aufmerksamkeit, diese Genauigkeit wünsche ich mir in Zukunft mal, wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher für Großkonzerne oder Multimillionäre zu stopfen, oder wenn es darum geht, Korruptionsskandale in der Politik aufzudecken.
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Kolleginnen und Kollegen, im Gesundheitsbereich muss sich wirklich grundlegend etwas ändern. Es ist längst Zeit, zu klotzen und nicht immer nur zu kleckern, Herr Scholz.
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Aktuell können rund 4 000 Intensivbetten weniger betreut werden als Anfang des Jahres. Und warum? Weil noch mehr Pflegerinnen und Pfleger ausgebrannt und ernüchtert ihren Beruf an den Nagel gehängt haben. Sie halten diese Zustände einfach nicht mehr aus. Pflegerinnen und Pfleger müssen doch jetzt aktiv für den Beruf zurückgewonnen werden! Unser konkreter Vorschlag lautet: 10 000 Euro Prämie für alle, die zurückkehren, und auch für alle, die geblieben sind. Das ist eine sinnvolle Maßnahme; das sollten Sie umsetzen.
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Außerdem muss das Gesundheitssystem insgesamt endlich wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Das heißt allem voran: Schluss mit dem zerstörerischen Fallpauschalensystem!
({5})
Denn was bedeutet das konkret? Überall da, wo jemand mehr Hilfe und Behandlung braucht als der Durchschnitt, müssen die Mehrkosten an anderer Stelle wieder hereingeholt werden. Ich kann es nicht anders sagen: Diese Logik, dass sich im Gesundheitswesen im Ergebnis alles rechnen muss, die ist einfach pervers.
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Herr Lauterbach – er ist heute nicht da –, Ihre medizinische Expertise in allen Ehren, aber Sie haben das damals mit eingeführt, als Sie die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt beraten haben. Sie haben dabei mitgemacht, als unser Gesundheitssystem auf Profit getrimmt wurde. Jetzt ist die Chance da. Lernen Sie aus diesen Fehlern! Im Gesundheitssystem darf es nur um eines gehen: um die Gesundheit der Menschen.
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Viele sind mit dem Coronamanagement unzufrieden. Wir erleben Chaos, schlechte Kommunikation. Was ist Ihr Plan? Herr Scholz, Sie haben gesagt: „Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.“ Das ist sie leider doch. Sie ist sozial gespalten; das müssen Sie doch endlich einmal sehen. Dass viele den letzten Rest Vertrauen in die Politik verlieren, müssen Sie auch sehen. Damit meine ich ausdrücklich nicht die Coronaleugner, die den Boden der Realität vollkommen verlassen haben, angeführt von Rechtsradikalen, mit Fackeln durch die Straßen laufen, Menschen bedrohen. Das ist völlig inakzeptabel. Hier ist jedes Verständnis fehl am Platz.
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Was ich meine, ist der Skandal, wie viele Menschen nach wie vor im Regen stehen gelassen werden: immer noch die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler, die Rentnerin, die es nicht schafft, einen Boostertermin zu ergattern, weil sie kein Internet hat. Wer sich heute impfen oder testen lassen möchte, steht tatsächlich vielerorts buchstäblich im Regen – in den langen Schlangen vor den Test- und Impfzentren. Das geht doch so nicht.
Ich meine auch die Gastronomie, den Einzelhandel, die Kulturschaffenden. Die müssen doch endlich ganz konkret wissen, wie es für sie weitergehen soll. Hier braucht es endlich Sicherheit und Planungssicherheit. Auch hier: Ankündigungen, blumige Versprechen. Das können die Leute nicht mehr hören. Wir brauchen konkrete Lösungen, meine Damen und Herren.
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Die braucht es auch für das Problem, dass seit geraumer Zeit praktisch alles teurer wird: Lebensmittel, Energie, Miete. Bloß die Löhne, die steigen nicht entsprechend. Ihre Antwort darauf ist der höhere Mindestlohn von 12 Euro. Höherer Mindestlohn ist gut, aber das reicht doch nicht. Was sagen Sie denn zum Beispiel der Paketbotin mit 13 Euro Stundenlohn, aber ohne Tarifvertrag? Wir wissen, dass unsichere, schlecht bezahlte Arbeit direkt in die Altersarmut führt. Sie werben mit stabilen Renten, ja gut. Aber dagegen, dass vielen Menschen in diesem Land die Rente eben nicht zum Leben reicht, dass sie viel zu niedrig ist und vielen die Altersarmut droht, tun Sie nämlich leider nichts. Es gibt kein Konzept gegen niedrige Renten. Das geht so nicht.
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Auch ein Mietenstopp ist nicht vorgesehen, und das erpresserische Hartz-IV-System, durch das die Betroffenen seit Jahren an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, soll im Ergebnis bleiben. Es bekommt einen schöneren Namen. Aber diese Scharade machen wir nicht mit, Kolleginnen und Kollegen. Das möchte ich einmal ganz klar sagen.
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Die steigenden Energiekosten sind für immer mehr Menschen ein ernsthaftes Problem; das müssen Sie doch bitte endlich sehen. Was wir brauchen, ist ein sofortiger Preisstopp der Energiekosten für Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich bin sofort dabei, wenn es heißt, dass Konzerne, die viel Energie verbrauchen, durch klare Regelungen dazu gezwungen werden, ihren Verbrauch zu reduzieren; das ist sehr sinnvoll. Aber Ihre Energiepolitik führt dazu, dass sich immer mehr Menschen ernsthafte Sorgen darüber machen müssen, über die Feiertage in dunklen, kalten Wohnungen zu sitzen. Das geht doch so nicht!
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Insgesamt geht es nicht, dass das normale Leben immer teurer und teurer wird, besonders wenn die Löhne nicht entsprechend steigen.
Außerdem: Völlig inakzeptabel ist, dass das, was alle drei Ampelparteien noch im Wahlkampf versprochen haben, eben nicht kommen soll, nämlich dass kleine und mittlere Einkommen endlich steuerlich entlastet werden; davon ist keine Rede mehr. Liebe Grüne, liebe SPD, von Ihren Wahlkampfversprechen, dass endlich die Multimillionäre und Milliardäre steuerlich zur Kasse gebeten werden sollen, auch davon hört man leider nichts mehr. Herr Scholz, wenn Ihre sogenannte gerechte Steuerpolitik ein Buch wäre, dann wäre es ein Buch mit leeren Seiten, aber mit einem zufrieden lachenden Christian Lindner vorne drauf.
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Zur Außenpolitik. Wie Deutschland hier agiert, ist von großer internationaler Bedeutung. Wir erleben momentan Konflikte innerhalb Europas. Insbesondere der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine macht uns große Sorgen. Doch statt mäßigender Töne und Bemühungen um Verhandlungen hört man aus Ihrem Außenministerium vor allem verschärfende Töne. Was unser Land außenpolitisch braucht, ist aber eine Politik, die wieder konsequent den Dialog und die Entspannung ins Zentrum setzt, eine Außenpolitik im Sinne von Willy Brandt, nicht im Geiste von Joschka Fischer.
({14})
Wenn es Ihnen mit der Frage der Menschenrechte und der Pressefreiheit wirklich ernst ist, dann zeigen Sie das bitte im Fall des Journalisten Julian Assange. Sie wissen, ihm droht die Auslieferung aus Großbritannien in die USA, wo ihn eine lebenslange Haft erwartet, weil er Kriegsverbrechen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan öffentlich gemacht hat. Mitglieder Ihrer Regierung haben noch vor Kurzem den Appell für seine sofortige Freilassung unterzeichnet. Darum fordere ich Sie auf: Geben Sie Julian Assange politisches Asyl in Deutschland!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Mohamed Ali. – Als nächsten Redner rufe ich auf Dr. Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erleichtert – erleichtert, dass bei aller Deutlichkeit und vielleicht auch Laustärke der Debatte offensichtlich ein Stil in unsere Aussprache zurückkehrt, der der politischen Kultur, aber auch dem Selbstverständnis dieses Parlaments angemessen ist. Attacke, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist richtig. Aber ich habe zu meiner Genugtuung festgestellt: Die stärkste Oppositionspartei im Haus versprüht kein antidemokratisches Gift mehr, mit dem uns die AfD hier jahrelang überzogen hat.
({0})
– Nein, ich habe gesagt: Sie versprüht kein antidemokratisches Gift mehr in diesem Haus, wie die AfD es getan hat. – Dafür bin ich dankbar. Diese Debatte brauchen wir hier im Deutschen Bundestag.
({1})
Deswegen sage ich auch sehr klar: Ja, Streit gehört zur Demokratie; aber zur Demokratie gehören keine Demokratieverächter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD.
({2})
Herr Brinkhaus, es mag sein, dass Sie gerne dort auf diesem Platz einen Kanzler von der Union gesehen hätten. Aber die Menschen in diesem Land wollten es anders. Auf diesem Platz sollte ein Sozialdemokrat Platz nehmen. Dafür bin ich dankbar, und wir werden dieses Vertrauen in den nächsten vier Jahren erfüllen, meine Damen und Herren.
({3})
Wie Sie, Herr Brinkhaus, biete auch ich Ihnen Kooperation an, und ich würde mich freuen, wenn alles das, was in den letzten Jahren von Ihnen blockiert worden ist, vielleicht auch von Ihnen etwas überprüft wird. Aber ich danke Ihnen, dass Sie insbesondere in existenziellen Fragen auf die Debattenkultur, die dieses Parlament braucht, zurückkommen.
Die Menschen beschäftigt die Pandemie in erster Linie – gerade auch vor Weihnachten und mit Blick auf die nächsten Monate –, weil sie eine Existenzfrage ist, nicht nur eine Existenzfrage für die Demokratie, für dieses Parlament, sondern für jeden Einzelnen, für Familien, für Betriebe, für Vereine und für die gesamte Gesellschaft überall in unserem Land. Deswegen haben wir versucht, den Menschen so gut wie möglich beizustehen. Wir haben Hilfen bereitgestellt, wir haben Arbeit gesichert, und wir haben auch die dafür nötigen rechtlichen Möglichkeiten geschaffen.
Ich sage sehr deutlich: Wir wissen um die Sorgen in dieser Gesellschaft. Aber wir wissen auch: Die Mehrheit der Menschen steht zu einem Kurs, der lautet: Impfen ist der beste Schutz in dieser Pandemie. Deswegen sage ich: Impfen, impfen, impfen. Wir brauchen keine Quertreiber; denn es sind Quertreiber, keine Querdenker, die die Vernunft aus dieser Gesellschaft herausbekommen wollen. Wir wollen eine vernünftige Politik machen, um diese Pandemie zurückzudrängen, und dafür steht diese Koalition.
({4})
Ja, wir haben schon vor einem Jahr gemeinsam hier die Befürchtung geäußert, dass sich Teile der Menschen in diesem Land radikalisieren werden. Es ist eine Schande für die Demokratie, dass versucht wird, mit Fackelzügen vor die Häuser von Entscheidungsträgern zu kommen und davor zu demonstrieren, und es ist eine Schande, dass die AfD bei diesen Demonstrationen hilft, dass sie sie lenkt und dass sie die Logistik dafür bereithält. So etwas, meine Damen und Herren, gehört nicht ins Parlament!
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Aber auf der anderen Seite will ich sehr deutlich sagen: Wir wären keine Volksvertretung, wenn wir nicht auch die Nuancen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis nehmen würden. In meiner Heimatstadt müssen sich Menschen rechtfertigen, warum sie sich nicht haben impfen lassen. Aber es gibt immer noch Regionen in Deutschland, wo sich Menschen fragen lassen müssen: Warum hast du dich geimpft? – Genau das müssen wir umkehren, auch in der Debatte hier im Deutschen Bundestag, wenn wir in den nächsten Wochen über die Frage einer verbindlichen Impfpflicht in diesem Land diskutieren.
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Deswegen sage ich sehr deutlich: Diese Debatte, meine Damen und Herren, muss gewissenhaft, differenziert und offen geführt werden. Denn auch in meiner Fraktion sind nicht alle Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht. Es gibt in meiner Fraktion eben auch Kolleginnen und Kollegen, die das ein oder andere Bedenken vorbringen möchten. Ich will ermöglichen, dass diese Kolleginnen und Kollegen mit ihren Bedenken auch hier im Deutschen Bundestag zu Wort kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns großen Spielraum bei der möglichen Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in diesem Land eingeräumt. Dennoch: Es ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Deswegen brauchen wir eine Grundsatzdebatte in diesem Haus, und ich sage für meine Fraktion: Wir wollen sie ermöglichen.
({7})
Umso mehr muss bis zu dieser Debatte sehr eindeutig geklärt werden, ob der Staat alle umfassenden Maßnahmen ergriffen hat, damit sich eben auch alle Menschen impfen lassen können. Wenn wir heute erfahren, dass zu wenig Impfstoff sowohl für die erste und zweite als auch für die Boosterimpfung im Lande ist, dann ist klar: Hier muss nachgearbeitet werden. Wenn nicht ausreichend Impfstoff vorhanden ist, können wir diese Debatte auch nicht verantwortungsvoll führen. Wenn wir nicht genügend niedrigschwellige Angebote vorhalten oder auch die Aufklärung für alle Menschen, die in unserem Land leben, nicht so leisten, dass sie sich impfen lassen wollen, dann gehören auch diese Fragen zu dieser differenzierten Debatte.
Umso wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen – da danke ich der Bundesregierung, die dies im Übergang bereits auf den Weg gebracht hat –, ist, dass jetzt ein Expertenrat gegründet worden ist, der auch schon getagt hat. Dieser Expertenrat ist pluralistisch angelegt. Das kann Vertrauen in diesem Land schaffen; denn es hat auch in der Wissenschaft unterschiedliche Meinungen zu diesen Fragen gegeben.
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Genau das ist die Voraussetzung, um Vertrauen in den nächsten Monaten zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es mit den Maßnahmen, die in den letzten Wochen auf den Weg gebracht worden sind, gelingt, noch mehr Menschen vom Impfen zu überzeugen.
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Meine Damen und Herren, ja, die Pandemie ist eine große Belastung. Aber bereits ohne Pandemie wären die Herausforderungen für eine künftige Bundesregierung riesengroß und umfassend. Der Bundeskanzler hat hier, wie andere Rednerinnen und Redner auch, davon gesprochen, dass die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts der Anfang einer großen, neuen Transformation sind.
({10})
Diese Transformation ist nicht etwas ganz Neues in der deutschen oder europäischen Geschichte;
({11})
aber diese Transformation wird rasanter und letztlich auch bahnbrechender sein als viele Transformationen zuvor. Weil sie rasanter ist, ist auch die Herausforderung für die Gesellschaft, für die Menschen so groß.
Der Weg zur fossilen Industriegesellschaft hat über 100 Jahre gedauert.
({12})
Wir sind sicher, dass diese rasante, bahnbrechende Transformation innerhalb von wenigen Jahrzehnten geschafft werden muss, sonst erfüllen wir nicht die Ziele, die wir uns im Koalitionsvertrag gegeben haben.
Auf der einen Seite steht das, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Auf der anderen Seite müssen die Maßnahmen ergriffen werden, die den Menschen Halt in einer bahnbrechenden Transformation geben, die jeden erreichen wird.
({13})
Das sind Schutzgesetze. Es geht darum, Innovationen zu fördern, aber auch um die Kunst, frühzeitig neue Ideen für diesen Weg zu erkennen. Diese neuen Ideen liegen zurzeit vielleicht in den Laboren, befinden sich vielleicht in den Köpfen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wir haben die Aufgabe, diese Ideen zu fördern und in die Transformation einzubringen.
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Die großen Chancen, die sich daraus ergeben, sind offensichtlich. Es kann gute Arbeit bedeuten, wenn wir sowohl mit Unternehmerinnen und Unternehmern als auch mit den Gewerkschaften und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusammenarbeiten. Im Kern – das ist, glaube ich, der Unterschied zu den früheren Transformationen – haben wir heute das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeiten, diese Transformation zu gestalten und nicht zu Getriebenen zu werden. Wir wollen das Heft des Handelns in der Hand behalten! Ich bin sicher: Das kann diese Fortschrittskoalition. Genau das ist die große Chance für die nächsten vier Jahre.
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Fortschritt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wagen wir in dieser Koalition gemeinsam auf Augenhöhe. Ich habe 206 Talente in meiner Fraktion, davon 104, die erstmals in den neuen Deutschen Bundestag eingezogen sind. Diese Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion werden genau darauf achten, ob kluge Investitionen vorangetrieben werden und ob die erneuerbare Energie so ausgebaut wird, dass wir auf sie setzen können. Sie achten darauf, wie wir in Zukunft Netze ausbauen und Verkehre erweitern können und wie wir Forschung ermöglichen. Die große Herausforderung ist: Es muss länger halten als nur ein Haushaltsjahr. Wir investieren nämlich in die Zukunft, meine Damen und Herren.
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Die Aufgabe meiner Fraktion wird insbesondere sein, das Augenmerk gleichzeitig auf diejenigen zu lenken, die zu wenig oder gar keine Lobby haben, die es – um es mit anderen Worten zu sagen – schwer haben, sich im Leben durchzusetzen. Deswegen ist im Wahlkampf die Frage des Respekts so wichtig gewesen. Es geht darum, dass wir sie in die konkrete Regierungsarbeit überführen. Gute Arbeit, Qualifizierung und Weiterbildung, der Mindestlohn, eine Ausbildungsplatzgarantie, eine Reform des BAföGs und vieles andere – das, meine Damen und Herren, müssen die Leitplanken einer Politik sein, um die Menschen auch in dieser großen Transformation mitnehmen zu können.
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Wir schauen heute natürlich auf uns; das haben wir auch in den letzten Tagen getan. Aber vieles um uns herum bereitet große Sorgen. Ich sage sehr deutlich: Diese Transformation, die die Menschen mit ihren eigenen Fähigkeiten in ihre Hand nehmen können, ist darauf angewiesen, dass in Europa Frieden herrscht. Deswegen müssen wir über unsere eigenen Grenzen, über das, was dieses Parlament ausmacht, hinausschauen. Deswegen, muss ich sagen, bin ich erschrocken, dass in dieser Pandemie die weltweite Wirtschaftsleistung zurückgegangen ist, aber die Rüstungsindustrie in diesen Jahren die größten Gewinne eingefahren hat. Das ist ein Menetekel, und diese Entwicklung muss zurückgedrängt werden.
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Friedenspolitik ist notwendig, damit Transformation überhaupt gelingt. Ich bin auch nicht der Meinung einiger Kommentatoren, die sagen: Der Kalte Krieg ist zurückgekehrt. – Das Problem in unseren Köpfen – zumindest bei einigen – ist, dass die Reflexe des Kalten Kriegs zurückgekehrt sind. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.
Ja, Demokratien untereinander können am besten Frieden halten, und Demokratien können auch am besten Frieden stiften – im Innern wie im Äußeren. Gerade in einer Welt, in der sich offensichtlich nicht mehr an Regeln und das Völkerrecht gehalten wird, müssen wir die Verantwortlichen benennen. Es besteht doch gar kein Zweifel, dass Russland die Regeln gebrochen und das Völkerrecht verletzt hat, dass mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim ein Spaltpilz nach Europa zurückgekommen ist. Deswegen kann Russland nicht die Bedingungen für die freien Länder in Europa diktieren; denn das würde Unterordnung heißen.
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Der Unterschied, meine Damen und Herren, ist: Demokratien sind in der Lage – deswegen haben sie die Freiheit –, kluge Antworten auf diese Herausforderungen zu geben. – Herr Brinkhaus, ich würde Sie gerne daran erinnern, dass in den 90er-Jahren ein Verteidigungsminister von Ihrer Partei, Volker Rühe, einmal gesagt hat, dass Staaten nur einem Bündnis beitreten können, wenn sie keine ungelösten Konflikte in dieses Bündnis hineintragen, wenn sie Demokratie und Marktwirtschaft achten und wenn sie auch die Freiheit im Inneren achten. Ich kann nur sagen: Die in Rede stehenden Länder tun dies zurzeit nicht.
Kluge Antworten auf diese Herausforderungen sind gefragt. Wir können – das ist der Unterschied, Herr Brinkhaus, zwischen Ihnen und mir – Konfliktstoff aus der Debatte herausnehmen. Das habe ich von einer sozialdemokratischen, klugen Außenpolitik gelernt, die gesagt hat: Grenzen müssen wir setzen, aber auch Auswege aufzeigen. – Das ist genau die Politik, die ich mir wünsche.
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Das, meine Damen und Herren, haben in der vergangenen Woche – vielleicht zu Ihrer Überraschung – der amerikanische und der russische Präsident getan; denn sie wollen über eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss von NATO-Ländern nachdenken. Deswegen, glaube ich, ist es richtig, diesen Weg in aller Deutlichkeit zu gehen.
Unsere Koalition hat eine große Verantwortung für unser Land und für Europa. Durch Vernunft, Konzentration und Überzeugung wollen wir helfen, Gutes zu schaffen, meine Damen und Herren. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Bundeskanzler Scholz, auch ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute, eine glückliche Hand und Gottes Segen zum Wohl unseres Landes. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihre selbsternannte Fortschrittskoalition fair, fordernd und auch fortschrittlich begleiten werden – sowohl konstruktiv kritisch als auch, wenn es sein muss, lautstark.
Wir sind die Opposition der Mitte in diesem Deutschen Bundestag, und wir repräsentieren die breite Mitte der Gesellschaft. Wenn Sie für diese breite Mitte der Gesellschaft arbeiten, haben Sie unsere Unterstützung. Wenn Sie dieser breiten Mitte schaden, dann haben Sie unsere Kritik. Wir sind diejenigen, die in diesem Deutschen Bundestag fair mit Ihnen umgehen. Aber wir sind nicht Ihre Claqueure; wir sind Ihre Kontrolleure, und diese Aufgabe nehmen wir wahr.
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Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler, ich hatte den Eindruck, dass Sie hier weniger eine Regierungserklärung als eine Regierungsverklärung abgegeben haben. Die Prosa stimmt, aber der Plan verstimmt. Sie sprechen über Chancen, planen aber Belastungen für Millionen von Bürgern. Sie sprechen über gleichwertige Lebensverhältnisse, planen aber Belastungen für die ländlichen Räume, für Pendler, für Landwirte.
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Sie sprechen über solide Finanzen, schleusen aber mit Ihrem ersten Haushalt 60 Milliarden Euro an der Schuldenbremse vorbei und planen die gemeinsame Haftung für Schulden in Europa. Das ist nicht „Fortschritt wagen“; das ist „neue Risiken eingehen“, meine Damen und Herren.
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Die Ampel hat ja in ihren Verhandlungen vor einem kleinstmöglichen Nenner gewarnt. Und ich kann Sie beruhigen: Sie haben ihn in weiten Teilen auch überhaupt nicht gefunden. Stattdessen haben Sie jetzt schon an vielen Stellen für unterschiedlichen Widerspruch innerhalb der Koalition gesorgt.
Für die FDP scheint ja zu gelten: Was vor der Wahl grundfalsch war, ist jetzt plötzlich goldrichtig.
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Steuersenkungen versprochen, versteckte Steuererhöhungen vereinbart. Solide Haushalte gefordert, Schlupflöcher für neue Schulden gefunden. Ordnung der Migration beschworen, Anreize für irreguläre Migration beschlossen. „Nie gab es mehr zu tun“, haben Sie im Wahlkampf gesagt. Ich kann Ihnen sagen: Das heißt doch nicht, dass man alles von Links-Grün mitmachen muss, liebe FDP.
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In Ihrem Koalitionsvertrag steht das Bekenntnis zu soliden Finanzen und zur Einhaltung der Schuldenbremse ab 2023. Ich muss ausdrücklich sagen: Das gefällt mir gut. Aber Ihr Nachtragshaushalt, Herr Bundeskanzler, ist nicht solide; er ist dreist. Sie, Olaf Scholz, haben jetzt mit Ihrem Nachtragshaushalt Ihren eigenen Haushalt korrigiert: nicht um Mehrausgaben in diesem Jahr zu finanzieren, nicht um Mehreinnahmen ins nächste Jahr zu übertragen, nicht um Bürger zu entlasten, wie Sie es versprochen haben. Nein, Sie nehmen heute Schulden auf, die Sie nicht brauchen, um in der Zukunft Ausgaben zu finanzieren, die Sie heute noch nicht kennen. Das hat einen einzigen Grund: Sie wollen die Schuldenbremse betrügen.
Herr Bundesfinanzminister, Finanzpolitik lässt sich nicht durch Finanzakrobatik ersetzen. Finanzpolitik durch Finanzakrobatik zu ersetzen, das heißt, sich schnell außerhalb des Rechtsrahmens zu befinden. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Dürr: Ob dieser Haushalt verfassungswidrig ist, das wird ein Gericht entscheiden.
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Aber für die FDP wäre er auf jeden Fall früher sittenwidrig gewesen; da bin ich mir ganz sicher.
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Man muss Sie, Herr Dürr, nach Ihrer eindrucksvollen Rede für diesen Nachtragshaushalt vielleicht einmal daran erinnern, was Sie im Deutschen Bundestag noch vor wenigen Monaten, am 2. Juli, gesagt haben. Ich zitiere wörtlich:
Ich verstehe nicht, warum man in der SPD … nur Karriere machen kann, wenn man verfassungswidrige Haushalte vorlegt …
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Möglicherweise machen Sie gerade eine Lernkurve durch; ich bin mir da nicht ganz sicher.
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Nehmen Sie Ihre Wahlversprechen doch einfach mal ernst! Sie wollten einen Tilgungsturbo für Coronaschulden. Jetzt starten Sie einen Verschuldungsturbo für die Ampel. Das hat mit soliden Finanzen schlichtweg nichts zu tun.
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– Weil Sie hier ständig dazwischenrufen, Herr Dürr:
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Ich könnte hier weitere Teile aus Ihrer Rede zitieren, die Sie hier vor wenigen Monaten gehalten haben. Ich könnte sie eigentlich auch ganz vorlesen;
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sie würde zu diesem Haushalt eindrucksvoll passen. Aber lassen wir’s!
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Besonders große Freude habe ich an einer Textstelle: die „Helfershelfer eines möglichen Verfassungsbrechers“. – Wunderbar! Vielleicht wollen Sie sich Ihre eigene Rede an der Stelle noch mal durchlesen.
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Ich rate Ihnen, Christian Lindner – Sie haben es ja jetzt umgeframt –: Passen Sie auf, dass Ihr wirtschaftspolitischer Booster nicht zum finanzpolitischen Rohrkrepierer wird! Genau das werden wir überprüfen lassen.
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Sie sparen ja in Ihrem Koalitionsvertrag und in Ihren Reden jetzt auch nicht mit ganz großen Worten: Klimaschutzziele haben oberste Priorität. Die soziale Marktwirtschaft soll neu begründet werden. Das Regelwerk soll den Weg frei machen für Innovationen. – Ich finde das alles ausdrücklich gut. Vieles von dem, was man da findet, kenne ich übrigens auch aus der letzten Wahlperiode: Den Emissionshandel haben Sie übernommen. Die CO2-Preisgestaltung haben Sie übernommen. Neue Klimaschutzziele haben Sie nicht formuliert. Ein neues, fixes Ausstiegsdatum für die Kohle haben Sie auch nicht gefunden. Es kann ja sein, dass das, was früher grundfalsch war, heute grünrichtig ist; alles okay. Aber die Geschichte mit dem Rotmilan müssen Sie noch klären und auch in der Koalition besprechen.
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich unterstütze Ihre Initiative an dieser Stelle, zu mehr Planungsbeschleunigung zu kommen. Ich fordere Sie sogar auf: Legen Sie dem Deutschen Bundestag schnell ein Planungsbeschleunigungsgesetz vor!
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Aber gestatten Sie mir den Hinweis: Die Blockierer sitzen in Ihren eigenen Reihen und nicht bei uns, und das war in der Vergangenheit auch schon so.
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– Sie haben es abgelehnt.
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Herr Bundeskanzler, Sie haben hier über die Sicherung der Rente, über das Mindestrentenniveau, über die Stabilität der Rentenbeiträge gesprochen und als neues Element die Aktienrente eingeführt. Sie haben dabei verschwiegen, dass diese Aktienrente ein einziges Mal mit 10 Milliarden Euro gestützt wird und vollkommen unterdimensioniert und unambitioniert ist. Sie wissen, dass es deutlich mehr braucht. Sie hätten die Chance gehabt, mit einem Paradigmenwechsel bei der Rente jetzt eine echte vierte Säule aufzubauen: eine Generationenrente als Altersvorsorge von Anfang an. Aber es fehlt Ihnen offensichtlich die Bereitschaft,
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für jedes Kind jeden Monat bis zum Erreichen des 18. Lebensjahrs bereits in die Rente einzuzahlen, renditeorientiert anzulegen. Das vermeidet Altersarmut. Das stellt die Rente auf neue Füße. Ihre 10 Milliarden Euro einmalig eingezahlt, das ist nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Der jährliche Zuschuss des Bundes in die Rente beträgt über 100 Milliarden Euro.
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Was Sie machen, ist zu wenig, es ist falsch, und es reicht schlichtweg nicht aus, die Rente zu sichern.
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Sie beschreiben Deutschland in Ihrer Rede als ein modernes Einwanderungsland. Wenn das heißen soll, dass wir ein weltoffenes Land sind, dass wir Leistungsbereiten Perspektiven geben, dass wir Verfolgten Schutz bieten, dann kann man das auch so formulieren. Aber dazu gehört zuvorderst ein klares Konzept für gelingende Integration, und das beginnt mit der Ordnung der Migration. Oder um es anders zu formulieren: „ Die Kontrolle des Zugangs zu einer Gesellschaft ist die Voraussetzung für soziale Stabilität und für jede öffentliche Ordnung“ , so Christian Lindner hier im Bundestag am 24. Juni.
Aber das, was Sie heute hier tun, ist das krasse Gegenteil. Sie schaffen neue Anreize in Ihrem Koalitionsvertrag: keine Zurückweisung mehr an den Außengrenzen, Bleiberecht nach drei Jahren, Identitätsklärung an Eides statt, Erhöhung der Asylleistung, Spurwechsel. Sie glauben offensichtlich nicht, dass das, was Sie hier tun, in der Welt neue Fluchtbewegungen auslösen kann. Das ist kein modernes Einwanderungsrecht, das ist das Gegenteil davon, nämlich das Auflösen der Unterscheidung zwischen Arbeitsmigration und Asyl. Wir wollen aber, dass genau diese Unterscheidung bestehen bleibt. Es muss ein Unterschied sein, ob man in den Arbeitsmarkt integriert werden will oder ob man für sich Asyl und Flucht in Anspruch nimmt, meine Damen und Herren.
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Ich teile übrigens, Herr Bundeskanzler, Ihre Leidenschaft für Europa. Aber Europa ist kein föderaler Bundesstaat. Europa ist ein Friedensprojekt, ein Wohlstandsprojekt, ja, für mich und die meisten auch ein Herzensprojekt. Gerade deswegen darf es auch keine Überforderung von europäischen Partnern geben. Das heißt, dass man dafür sorgt, dass es keine gemeinsame europäische Schuldenunion gibt, dass es keine Vergemeinschaftung der Schulden gibt, dass es keinen Eintritt in eine Schuldenunion gibt. Das, was Sie tun, ist, dass Sie überzeugten Europäern ihre Leidenschaft für Europa nehmen. Sie bringen Europa nicht näher zusammen, Sie treiben Europa auseinander mit Ihrem Bekenntnis zu einer Schuldenunion in Europa.
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Herr Scholz, was mich ausdrücklich gefreut hat, war Ihr klares Bekenntnis zum Auto, zumindest gegenüber dem Pferd.
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Sie haben deutlich gemacht, dass viele Menschen gern mit dem Auto fahren, und so soll es auch bleiben. Ich will Ihnen sagen: Die meisten Menschen fahren gar nicht gern mit dem Auto; sie sind schlichtweg darauf angewiesen. Sie sind in den ländlichen Räumen darauf angewiesen. Sie brauchen das Auto für ihre Familie. Sie brauchen das Auto, um zur Arbeit zu fahren. Deswegen brauchen sie auch mehr als warme Worte. Sie haben verschwiegen, dass Sie das Autofahren teurer machen werden, dass Sie die Mobilität verteuern, dass Sie den Dieselpreis erhöhen wollen. Sie schaden damit den Familien und den Pendlern in den ländlichen Räumen. Das ist eine Politik, die ausdrücklich gegen die ländlichen Räume gerichtet ist, und wir werden kritisieren, dass Sie die Mobilität so massiv verteuern.
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Aber ich vermute hinter diesem klaren Bekenntnis zum Auto noch einen weiteren Grund, nämlich dass Sie erklären wollten, dass in der Vergangenheit das Auto einen erheblichen Teil zum Wohlstand in Deutschland beigetragen hat. Das ist richtig. Das Auto hat aufgrund seiner Innovation und aufgrund seiner Modernisierungskraft mit zum Wohlstand in Europa und Deutschland beigetragen. Deswegen: Ja, wir brauchen in Deutschland und Europa auch in Zukunft eine stabile Automobilindustrie. Um die zu entwickeln, brauchen wir auch Technologieoffenheit. Ja zum Fortschritt – da bin ich bei Ihnen –, Ja auch zur Elektromobilität – da bin ich bei Ihnen –, aber dass ein Hightechprodukt, entwickelt in Deutschland, das den Wohlstand über Jahrzehnte mitgesichert hat, jetzt nicht mehr weiterentwickelt werden soll, weil Sie den Verbrennungsmotor aufgeben wollen, das ist grundfalsch. Der Verbrennungsmotor kann mit synthetischen Kraftstoffen weiter existieren. Das ist technologische Neutralität.
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Herr Bundeskanzler, wir werden Sie kritisch-positiv begleiten. Sie können sich auf uns verlassen, wenn Sie mit guten Vorschlägen dieses Land weiter modernisieren wollen. Wir sorgen aber nicht dafür, dass Sie Mehrheiten, die Sie nicht haben in Ihrer eigenen Koalition, bekommen. Deswegen, es bleibt dabei: Es gab nie mehr zu tun, vor allem für die Opposition bei so einer Regierung. Wir sind nicht die Claqueure. Wir sind Ihre Kontrolleure. Alles Gute! Wir packen es gemeinsam an. Ich freue mich auch auf die Zeit in der Opposition, nicht weil wir sie gern machen, sondern weil wir wissen: Sie brauchen Kontrolle, meine Damen und Herren.
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Danke sehr, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Zu einer Regierungserklärung gehört natürlich auch der Widerspruch aus der Opposition. Aber ich muss an dieser Stelle sagen: Nie zuvor war der Druck Richtung Veränderung so groß, wie er jetzt in dieser Situation ist, und gleichzeitig war das Fragezeichen nie so groß. Wie können wir eigentlich bei diesem Regierungswechsel die Probleme, die so drängend vor uns stehen, lösen? Das, denke ich, muss man an dieser Stelle deutlich betonen.
({0})
Herr Brinkhaus, Herr Dobrindt, Sie haben konstruktive Opposition angekündigt; dafür sind wir dankbar. Denn natürlich können im Widerstreit der Parteien und der Fraktionen tatsächlich gute Lösungen entstehen. Aber ich habe von Ihnen keinen einzigen Vorschlag für eine Lösung der Probleme gehört. Da, glaube ich, müssen Sie noch deutlich nachlegen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Einigkeit, die Sie uns absprechen, bei Ihnen eigentlich vorhanden ist.
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Das fängt damit an, wenn wir uns anschauen, in welcher Lage wir jetzt bei der Coronabewältigung sind. Ich muss sagen: Ich war gestern einigermaßen erschüttert, zu hören, dass der Impfstoff für das erste Quartal 2022 nicht ausreichend ist, um wirklich alle Menschen boostern zu können. Mit einer großen Kraftanstrengung werden wir vielleicht 30 Millionen Menschen bis zum Jahresende geimpft haben. Hier gilt an erster Stelle ein großer, großer Dank an alle, die sich jetzt so ins Zeug legen.
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Das ist wirklich eine große Leistung, und sie ist für unser aller Wohlergehen unglaublich wichtig, weil wir wissen: Auch bei der neuen Virusvariante wird das Boostern helfen. Es wird vielleicht nicht zu 100 Prozent helfen, aber sehr, sehr deutlich. Deshalb ist es so wichtig. Es ist ein enormes Versäumnis, dass die entsprechenden Impfdosen nicht bestellt wurden. Wir können auch nicht sicher sein, dass für die Kinderimpfung eine ausreichende Anzahl an Dosen bestellt wurde. Ob wir sie am Markt noch erhalten werden, ist unklar. Insofern starten wir durchaus mit großen, großen Beschwernissen in ein neues Jahr. Das will ich an dieser Stelle deutlich sagen.
Und wir sehen, dass das Prinzip der vorausschauenden Arbeit, der vorausschauenden Politik, der vorsorgenden Politik insgesamt in dieser gesellschaftlichen Lage von besonderer Bedeutung ist. Ebenso wichtig ist es, die Wissenschaft, die wissenschaftlichen Erkenntnisse einzubeziehen. Ich bin sehr froh, dass das nun regelmäßig geschieht, dass wir den Expertenrat haben, dass wir den Krisenstab haben, der sich jetzt mit den logistischen Fragen auseinandersetzen wird.
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Da bin ich sehr, sehr froh. Wir gehen einen entscheidenden Schritt. Aber wir alle müssen uns klarmachen: Das, was vor uns liegt, ist nicht leicht. Das wird Zusammenhalt nötig machen. Das wird Respekt nötig machen, insbesondere vor denjenigen, die sich jetzt unermüdlich für uns einsetzen. Wenn wir sehen, was auf den Intensivstationen vor sich geht, wenn wir die Belastung dort sehen, wenn wir sehen, dass auf den Stationen bald die 5 000er-Grenze erreicht sein wird – alle Fachleute sagen, dass das eigentlich das Limit für eine verantwortbare Arbeit ist –, dann wissen wir: Wir haben noch einiges vor uns. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir alle miteinander den Zusammenhalt deutlich nach draußen tragen, dass wir dafür sorgen, solidarisch zu sein, und dass wir dafür werben, dass alle Menschen diesen Weg mitgehen. Deshalb muss ich in Richtung AfD ganz klar sagen: Was Sie da betreiben, ist unverantwortlich, und zwar gegenüber jedem Einzelnen und der Gesellschaft.
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Wir sind als Koalition der Veränderung angetreten,
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nicht nur weil wir Veränderung wollen, sondern weil Veränderung dringend geboten ist.
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Wir werden die ökologischen Herausforderungen nicht ohne Veränderung stemmen. Wir werden sie auch in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen nicht ohne Veränderung stemmen. Ich nenne da als Erstes all das, was mit der Gesundheitsversorgung zu tun hat. Wir wissen, dass wir drängende Fragen wie den enormen Fachkräftemangel, der gerade in der Pflege besteht, vor uns haben. Wir werden die Herausforderungen, die wir zu stemmen haben, nicht stemmen, wenn wir nicht insgesamt dafür sorgen, dass es eine Aufwertung in diesen Bereichen gibt, wenn wir nicht für deutlich bessere Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen sorgen und wenn wir nicht dafür sorgen, dass die Wertschätzung der Gesellschaft für diesen wichtigen Bereich unseres Gemeinwesens enorm gesteigert wird. Da sind wir alle gefordert, nicht nur die, die Regierungsfraktionen stellen, sondern alle hier im Hause. Denn es geht um das Wohlergehen der Gesellschaft insgesamt.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Klein-Schmeink. – Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eines wurde den Zuhörern hier heute im Saal und den Bürgern unseres Landes vor Augen geführt: Die Ampelkoalition ist eine reine Kompromisslösung, die zur reinen Machtfrage der beteiligten Parteien wurde. Herr Bundeskanzler Scholz – der leider bereits gegangen ist –, wir wissen nun, dass Sie mit ihrer Ampelregierung dem Sanierungsfall Deutschland und seinen Bürgern auf Dauer nichts anzubieten haben. Die Regierungserklärung, mit Verlaub, hatte etwas von Volkskammer; das kann man nicht anders sagen.
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Es ist uns allen klar, dass Sie ein schweres Erbe angetreten haben. Wir wissen allerdings auch, dass die Sozialdemokraten davon acht Jahre mit an der Regierung waren – Sie, Herr Scholz, persönlich als Bundesfinanzminister. Für uns alle ist aber wichtig, dass Sie die Frage beantworten, wie Sie Deutschland nach 16 Jahren Stagnation wieder zurück auf einen sicheren Pfad, beispielsweise wirtschaftlich, aber auch sozial, führen werden. Darauf warten die Bürger.
Beim gemeinsamen Start konnte die gesamte Bundesregierung eben nicht überzeugen. Wie wollen Sie mit einer derart großen Hypothek wie dem Vertrauensbruch beim Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, umgehen? Davon war heute kein Wort zu hören. Als Alternative für Deutschland setzen wir uns seit Monaten für die Freiwilligkeit bei der Entscheidung für oder gegen eine Impfung ein. Wir sind die einzige Partei in diesem Hohen Haus, die allen Bürgern eine Stimme gibt.
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Wir teilen die Menschen eben nicht nach ihrem Status ein und grenzen sie aus.
Wie wir haben Ihnen Millionen Menschen von Bürgern in diesem Land auch den Glauben geschenkt, dass Sie die Normalität wiederherstellen. Familien und insbesondere die Ältesten in unserer Gesellschaft werden ein weiteres Weihnachtsfest allein verbringen müssen.
Der neue Bundesgesundheitsminister ruft bei vielen Menschen mittlerweile nur noch Angst und Panik hervor. Die anvisierten Maßnahmen von Herrn Lauterbach sind anscheinend auch alternativlos. Die neue Virusvariante Omikron wird vonseiten der Wissenschaft im Hinblick auf ihre Gefährlichkeit mehr als unterschiedlich beurteilt. Sie wiederum propagieren eine Impfung, die Sie selbst als nicht wirksam gegen diese Virusvariante bezeichnen, als wahrscheinlich einzigen Ausweg. Ebenso stimmen Sie Deutschland schon einmal auf dauerhafte, sich wiederholende Impfdurchgänge ab 2022 ein, und die Geboosterten unter uns müssen sich nicht mehr testen lassen. Können Sie, Herr Bundesgesundheitsminister, hier und heute wirklich glaubwürdig erklären und bestätigen, dass das nun endgültig ist? Das glaube ich nämlich nicht.
Immer mehr Bürger fragen sich: Wie lange hält denn der Impfschutz bei den mehrfach geimpften Menschen überhaupt? Warum sollen sie sich sonst im nächsten Jahr überhaupt wieder impfen lassen? Die fragen sich auch: Was sind das eigentlich für Impfstoffe, bei denen man sich wahrscheinlich monatlich nachimpfen lassen muss? – Merken Sie eigentlich, wie unberechenbar Ihre Politik für die Menschen da draußen ist? Sie machen sich selbst und die politische Arbeit jeder Person hier im Plenarsaal unglaubwürdig.
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Eine Bitte bzw. auch eine Forderung: Lassen Sie unsere Kinder in Ruhe!
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Sie waren und sind nie Pandemietreiber gewesen. Hören Sie auf mit dem Druck in Kindergärten und Schulen! Hören Sie auf, dort die Eltern zu bedrängen und auch noch zu belehren! Liefern Sie uns bitte Antworten darauf, wie Sie die Pflegekräfte, die aus verschiedenen Gründen nicht länger in ihrem Beruf arbeiten möchten, zurückholen wollen. Ich appelliere an diese Bürger, sich einer Rückkehr nicht zu verschließen, verstehe aber auch, dass unter diesen Bedingungen Arbeiten nicht mehr möglich ist. Wir haben die berufsbezogene Impfpflicht. Diese Bürger haben ein Wissen – übrigens ein Wissen über die medizinische Praxis, also gerade in diesen Bereichen – und haben mit ihrer Entscheidung gegen eine Impfpflicht ihr Grundrecht wahrgenommen. Lange Arbeitszeiten, mäßige bis schlechte Entlohnung und der steigende Verwaltungsaufwand, der die eigentliche Pflege von Kranken und Alten behindert: Das ist die Heil- und Gesundheitspflege hier und heute.
Werte Bundesregierung, anstatt gerade in diesen Zeiten weiter Krankenhäuser zu schließen und damit die Gesundheitsökonomie über die Behandlung von kranken Menschen zu stellen, kommen Sie endlich der staatlichen Kernaufgabe der Gesundheitsversorgung nach und liefern Sie uns endlich Antworten!
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Nicht die Ungeimpften sind ursächlich für die geringe Bettenanzahl. Es ist das jahrzehntelange Versagen der Gesundheitspolitik von SPD und CDU. Exemplarisch ist hier die Einführung der Bettenpauschale, die Herr Lauterbach immer wieder gefordert hat.
Die wohl größte Enttäuschung in diesem Theaterstück – das muss man wirklich sagen – ist die Haltung der Freien Demokraten. Da fällt mir nur eine Beschreibung ein, und die lautet: purer Machthunger. Dieser wurde nun von Rot-Grün gestillt. Herr Lindner hat endlich seinen Ministerposten erhalten und plant sogleich eine milliardenschwere Neuverschuldung. Das ist die erste Amtshandlung – wir haben es gehört –, der nächste Wortbruch, Herr Lindner.
Verstehen Sie mich auch in diesen Punkten nicht falsch: Auch die AfD würde sich guten Investitionsvorhaben ganz sicher nicht verschließen. Aber – das mahne ich seit Langem an – schauen Sie doch bitte endlich einmal auf die Ausgabenseite. Ich hoffe, dass das Herr Lindner mal macht. Machen Sie einen Kassensturz, und Sie werden enormes Sparpotenzial entdecken. Ihr Vorgänger kann Ihnen da sicherlich behilflich sein.
Meine Damen und Herren, unser aller Ziel im Deutschen Bundestag ist es doch, dass wir unser Land in eine sichere Zukunft führen. Dabei sind wir auf gute Beziehungen, auch zu unseren Partnern im Ausland, angewiesen. Es macht mich deshalb schon sehr betroffen, dass sich die deutsche Außenpolitik nunmehr von einer souveränen Stellung unseres Landes hinein in eine transatlantische Abhängigkeit begibt. Von der NATO bis hin zum Klimaschutz werden die Vereinigten Staaten zu unserem Hauptpartner erklärt; wir haben es heute mehrfach gehört. Die ersten Äußerungen und Auftritte von Außenministerin Baerbock bestätigen genau diesen Eindruck.
Ziel muss es doch aber sein, souverän mit allen Ländern im Gespräch zu bleiben und keine Vorverurteilung vorzunehmen, sondern vielmehr den Nationen Achtung entgegenzubringen. Als AfD sprechen wir uns gegen ein Hineinregieren in nationale Angelegenheiten aus und werben für gegenseitiges Interesse und auch Unterstützung. Sie hingegen möchten sich am liebsten mit Ihrer Politik in die nationalen Entscheidungen anderer Länder einmischen, insbesondere in Staaten der nichtwestlichen Welt. Sie bekräftigen sehenden Auges einen neuen Ost-West-Konflikt.
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Sie und Ihre Bundesregierung, Herr Scholz, führen das Feindbildprinzip Ihrer Vorgänger fort. Ihre Außenpolitik erklärt Russland – und selbst Herr Brinkhaus hat das heute bestätigt – zum neuen Gegner. Damit wollen Sie die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 legitimieren und setzen die Energiesicherheit Deutschlands aufs Spiel.
In der Gesundheitspolitik sind für Sie die Ungeimpften die Sündenböcke, im innenpolitischen Bereich die Demonstranten. Die sind mindestens rechts und auch die Schmuddelkinder. Linksextreme Gewalt wird auch von dieser Bundesregierung allenfalls wahrgenommen. Doch auch diese gehört zum Alltag in unserem Land und ist wie jede Form des Extremismus stark abzulehnen.
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Die politische Ausrichtung der links-gelben Regierung führt die Spaltung der Gesellschaft jedoch munter weiter, und – schlimmer noch – diese Muster breiten sich mittlerweile in ganz Europa aus. Herr Bundeskanzler Scholz, Ihre aktive Aufspaltung unserer Gesellschaft bedeutet gleichzeitig die Abspaltung der Politik vom Bürgerwillen – Sie haben die Pflicht, Bundeskanzler aller Bürger zu sein und nicht nur der Mehrheit, wie Sie es heute selbst gesagt haben –, und Sie wollen das mit Verboten und der Erhöhung gesellschaftlichen Drucks erreichen. Sie sehen keine Spaltung. Kommen Sie aus dem Elfenbeinturm – und das fordere ich von der gesamten Regierung – heraus! Besuchen Sie Betriebe im Einzelhandel, in der Gastronomie! Dann sehen Sie, warum die Bürger in diesem Land Gründe haben, auf die Straße zu gehen. Der fortwährenden Stigmatisierung einzelner Gruppen werden wir jedenfalls entgegenwirken. Ihnen fehlt anscheinend die Akzeptanz für unterschiedliche Meinungen in der Gesellschaft.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Oder weshalb sonst lassen Sie nicht endlich von der Kriegsrhetorik gegenüber den Bürgern ab, die ihr verbrieftes Versammlungsrecht wahrnehmen? Es ist ein wichtiges Ventil für die Bürger einerseits, ein Signalgeber für uns Politiker andererseits.
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Herr Kollege Chrupalla, bitte kommen Sie zum Schluss.
Letzter Satz. – Ihr ideologisch getriebenes Vorgehen befördert unser Land dahin, wo die DDR 1989 schon einmal stand. Das Vertrauen und der Glauben in die Parlamente und die Politiker schwinden mehr und mehr. Wachen Sie auf, und machen Sie eine respektvolle und verhältnismäßige Politik für die Bürger Deutschlands!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Chrupalla. – Es ist Vorweihnachtszeit, und wir sind ziemlich gnädig heute; aber ich bitte, künftig tatsächlich auf die Redezeit zu achten und auch den Bitten des Präsidenten Folge zu leisten.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Was wir heute Morgen hier vom Bundeskanzler gehört haben, war die Regierungserklärung einer Fortschrittskoalition. Wir haben uns verabredet zu gesellschaftlichem Fortschritt, zu ökologischem Fortschritt und zu ökonomischem Fortschritt. Und nein, liebe Union, das bedeutet nicht, dass wir eine Partei geworden wären. Wir sind nach wie vor drei unterschiedliche Parteien; aber uns eint der Wille, unser Land entschlossen voranzubringen. Das steht so im Koalitionsvertrag, das haben wir uns vorgenommen, und das werden wir auch erreichen, meine Damen und Herren.
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Ich sage Ihnen noch was: Wir freuen uns sogar darauf. Wir freuen uns auf die Arbeit; wir freuen uns auf das gemeinsame Projekt. Ich freue mich auf das nächste Jahr, auch wenn nicht alles leicht ist; das ist vollkommen klar. Alleine die Covid-Krise, die unser Land noch im Griff hat, ist nicht leicht für eine Bundesregierung. Aber es hat sich eines gezeigt: In der Covid-Krise hat unser Land auf Forschung, auf Innovation, auf Technologie, auf hochqualitative Produktion gesetzt, auf all die Dinge, bei denen wir stark sind. Diese Form des Fortschrittsoptimismus und der Technologieoffenheit ist etwas, was wir als Leitfaden für die Arbeit unserer Koalition nehmen wollen. Es ist uns gelungen, hier in der Bundesrepublik Deutschland Impfstoffe zu entwickeln, durch Forschung, Technologie und Innovation. Das wollen wir auf anderen Feldern, beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung, beim wirtschaftlichen Wachstum, genauso machen, meine Damen und Herren.
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Nun ist es so: Wir haben Covid im nationalen Rahmen bearbeitet, aber Covid steht auch beim Europäischen Rat auf der Tagesordnung, und das ist auch gut so. Ich finde es genau richtig, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgenommen haben, die Gültigkeit der europaweiten digitalen Impfzertifikate unter den Mitgliedstaaten abzustimmen. Wir wollen nicht noch einmal die Freizügigkeit im Schengenraum riskieren, meine Damen und Herren. Europa ist ein Raum der Freiheit. Die Menschen müssen auch in diesen Zeiten die Gelegenheit haben, zu reisen.
Aber – und das will ich hier auch sagen – weder national noch europäisch werden wir der Coronakrise wirklich Herr. Wir können das nur schaffen, wenn wir global handeln. Nur so können wir das Virus langfristig in den Griff kriegen.
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Und deswegen ist es gut, dass diese Koalition für eine weitere Stärkung der Impfkampagne weltweit eintritt. Die Unterstützung für Covax und die Unterstützung für die Weltgesundheitsorganisation sind genau richtig.
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Denn eines ist auch klar: Die letzten Mutationen kamen aus Brasilien, Indien und Südafrika. Wenn wir weniger Mutationen haben wollen und wenn sie in langsamerer Folge auftreten sollen, dann müssen wir in der Coronakrise global handeln. Sonst reden wir im nächsten Herbst nicht von Delta, nicht von Omikron, sondern von Phi, Rho oder Sigma. Meine Damen und Herren, ich möchte das nicht. Deswegen brauchen wir diese globale Orientierung. Wir brauchen Außenpolitik nicht nur für Frieden und Sicherheit, wir brauchen nicht nur aktive Klimaaußenpolitik. Eine erfolgreiche Coronaaußenpolitik wird ganz konkrete positive Ergebnisse für die Menschen in unserem Land haben.
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Lassen Sie mich zum Schluss auf den brisantesten Punkt der Tagesordnung des Rates eingehen: die Spannungen an der ukrainisch-russischen Grenze. Wir wissen: Der Schlüssel zur Entspannung liegt in Moskau. Wir wollen diese Entspannung. Aber wir haben gerade die Rede des Präsidenten Putin in seinem Außenministerium, an seine Botschafter gerichtet, gehört, in der er seiner Freude über die Anspannung Ausdruck verliehen hat. Meine Damen und Herren, Russland hat nationale Interessen – das ist legitim –, es möchte seine Sicherheit stärken, es möchte Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa besprechen. Dafür haben wir eine Organisation: die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Russland ist herzlich eingeladen, jedes der Themen, die es besprechen will, dort vorzubringen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Ich finde es richtig, dass wir mit den Amerikanern, dass wir mit den NATO-Verbündeten, sowohl den großen Partnern als auch den kleineren Partnern, hier dauernd im Gespräch sind. Die Lage in Europa darf sich im nächsten Jahr nicht dramatisch zum Nachteil der Ukraine verändern. Russland muss eines wissen: Der Westen steht hier geschlossen. Eine solche Entwicklung hätte dramatische Folgen für die Russische Föderation, und das muss allen im Kreml klar sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Graf Lambsdorff. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jede Wahl ist ein Vertrauensvorschuss, und das gilt in ganz besonderem Maße für die Bundestagswahl. Es geht um das Vertrauen der Menschen in unser demokratisches System. Es geht um das Vertrauen in ein starkes Parlament, das im demokratischen Wettstreit um die besten Lösungen ringt und das, ja, auch seiner Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle gerecht wird. Es geht um das Vertrauen in eine Regierung, die nicht nur ihre Vorhabenliste abarbeitet, sondern die Tag für Tag und zuverlässig die drängenden Probleme löst und gleichzeitig vorausschauend den Wandel zum Wohle der Menschen gestaltet.
Und nicht zuletzt geht es um das Vertrauen in einen Bundeskanzler – einen Bundeskanzler, der gerade auch in schwierigen Zeiten Orientierung bietet, nicht nur für die Menschen, die ihn gewählt haben, und die ihn tragenden Parteien, sondern für die ganze Gesellschaft. Das ist die Aufgabe von Olaf Scholz, und wir haben heute erfahren können, wie er dieser Aufgabe gerecht werden will.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, um mit dieser Koalition erfolgreiche, den Menschen und dem Land dienende Politik zu machen, brauchen wir dieses Vertrauen auch untereinander; denn diese Ampelregierung ist ein ganz besonderes, ein neuartiges Bündnis. Wir sind Parteien mit recht unterschiedlichen Traditionen und Grundhaltungen. Wo für die Grünen die ökologische Nachhaltigkeit als Gründungsimpuls und Kernthema gelten darf, ist das für die Liberalen der Gedanke der freien Entfaltung des Individuums. Die SPD ist seit über 150 Jahren die Partei der Arbeit, der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer, und wir stehen für eine solidarische Gesellschaft.
In ganz zentralen Fragen sind wir uns in der Ampel einig, bei anderen ergänzen wir uns. Und in manchen Fragen haben wir auch in aller Härte gerungen. Aber wir haben ein Grundvertrauen aufgebaut, ein Grundvertrauen gefunden, auf das wir bauen können. Ich bin überzeugt: Das ist ein Vertrauen, das auch über Jahre tragen wird.
Wie ist es entstanden? Wir sind mit Neugierde und mit Offenheit auf die Haltungen und Positionen der anderen eingegangen – nicht um Unterschiede gleichzumachen, sondern um uns und die eigenen Haltungen weiterzuentwickeln. Wir haben dabei nicht nur viel über die anderen gelernt, sondern auch über uns selbst, uns sozusagen noch mal ganz neu verstanden. Ein solcher Diskurs auf der Basis von Respekt, aus dem Vertrauen und Zusammenhalt erst erwachsen, lässt sich nicht verordnen. Er lässt sich vorleben, er lässt sich fördern, unterstützen und stärken; denn das, was uns als Koalition stark gemacht hat, das kann auch die Gesellschaft stärken.
Politik, Medien und Wissenschaft spielen in einem solchen Diskurs bedeutende, aber sehr unterschiedliche Rollen, und die sollten wir auch auseinanderhalten. Gute politische Entscheidungen sollten von der Wissenschaft informiert getroffen werden, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis. Deshalb laden wir zu Expertenanhörungen ein und nehmen uns die Zeit für Enquete-Kommissionen; wahre Lernveranstaltungen für das Parlament. So verstehe ich auch den Expertenrat, der die Regierung in diesen schwierigen Zeiten beraten wird. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass die Währung der Wissenschaft Erkenntnis ist, reine Erkenntnis; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auftrag der Medien wiederum ist es, die Dinge zu erklären, zu hinterfragen, in Zusammenhang zu bringen und einzuordnen. Um dieser Aufgabe nachzukommen, ist Unabhängigkeit unabdingbar: Unabhängigkeit vom politischen Druck, von allzu viel ökonomischem Druck und auch vom Druck der Straße.
Natürlich ist die Welt einem steten Wandel unterzogen, und so ist es eben auch die wissenschaftliche Erkenntnis. Auch politische Entscheidungen werden manchmal von der Realität eingeholt. Dazu kommen Phänomene, die das Erklären von Regierungshandeln in Krisenzeiten besonders erschweren. Maßnahmen, die schwere Ausbrüche und hohe Infektionszahlen verhindert haben, wurden als Gängelung empfunden. Warum? Weil sie eine Katastrophe verhindert haben! Das Ausbleiben der Katastrophe führt dazu, dass die vorbeugenden Maßnahmen als überzogen empfunden werden. Durch das sogenannte Präventionsparadox fehlt dann späteren Maßnahmen, notwendigen Maßnahmen scheinbar die Legitimation. Anders gesagt: Nicht alle Maßnahmen, die wir im vergangenen Jahr für angemessen hielten, als wir noch keinen Impfstoff hatten, wären heute aus der aktuellen Sicht noch richtig.
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Recht haben und recht behalten ist dieser Tage also nicht einfacher geworden.
Die Coronapandemie und unser guter, weil lernender Umgang mit diesem Virus macht uns deutlich, dass wir bereit sein müssen, dazuzulernen und das auch anderen zuzugestehen. Wir sind dazu bereit.
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Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass viele, die meisten, mit viel Anerkennung auf das Dazulernen von Joshua Kimmich reagiert haben. Denn es ist doch beeindruckend, es ist eine Leistung, seine Meinung zu revidieren und zu sagen: Ja, vielleicht habe ich mich getäuscht. Ich habe jedenfalls dazugelernt und etwas verstanden, was mir bisher verschlossen war.
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Manch einer, manch eine hat sich verirrt im Dickicht der wilden Geschichten über Corona. Es gibt ein Raunen über die ganz große Verschwörung, und manche wissen dann gar nicht mehr, was sie glauben sollen. Familien zerbrechen über diesen Geschichten. Andere stehen der Wissenschaft schon immer skeptisch gegenüber, weil sie in Stellung gebracht wurde gegen ihre Philosophie. Aber, liebe Leute, hier geht es nicht um Philosophie; hier geht es um Menschenleben. Bitte, gebt euch einen Ruck, und lasst euch impfen!
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Milliarden Menschen haben es getan und sind dadurch vor einer schwerwiegenden Erkrankung geschützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Politik muss ihre Entscheidungen erklären, muss begründen, muss rechtfertigen, und das Parlament ist genau der richtige Ort dafür. Gleichzeitig stellen wir uns natürlich dem Austausch mit der Wissenschaft, mit den Medien und auch der Debatte mit einer kritischen Öffentlichkeit. Aber am Ende der Debatte treffen wir die Entscheidungen. Wir tragen dazu bei. Wir tragen die Verantwortung, und wir sind dann dafür zu kritisieren, nicht Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, nicht Journalisten und Journalistinnen. Klar, wer sich engagiert, wer seinen Kopf rausstreckt, egal ob in der Wissenschaft, im Journalismus oder in der Politik, der muss Kritik und Widerspruch aushalten, aber der muss sich auch auf den Schutz des Rechtsstaats verlassen können. Auch dafür steht diese Koalition; denn die Attacken, die nicht nur Politiker/-innen, sondern auch Wissenschaftler/-innen und Journalist/-innen derzeit von rechtsradikalen Querdenkern erleben müssen, sind inakzeptabel.
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Wir erleben Beleidigungen. Wir erleben Drohungen im Netz und ganz analog. Wir haben erlebt, dass Hass und Hetze in schrecklichen Taten enden können, bis hin zu Mord und Totschlag. Wenn Kamerateams bei den sogenannten Spaziergängen ihrer Arbeit nur noch mit Sicherheitspersonal nachgehen können, wenn Fackelmärsche vor Privatwohnungen veranstaltet werden mit dem Ziel, uns und unsere Familien einzuschüchtern, dann können und dann werden wir uns das nicht gefallen lassen.
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Wir müssen es klar beim Namen nennen: Diese kriminellen Übergriffe treffen zwar einzelne Personen, aber gerichtet sind sie gegen die Demokratie. Hier geht es längst nicht mehr um gesundheitspolitische Fragen; hier geht es um die Systemfrage.
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Und das sage ich den Spaltern hier im Parlament und den Trollen im Netz genauso wie diesen Fackelträgern: Ihr macht unsere Gesellschaft nicht kaputt.
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Diese Koalition und die Parteien, die sie tragen, werden jeden Tag hart arbeiten, für ein besseres Leben der Menschen, für gerechten Fortschritt und für das, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Vertrauen und Respekt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Esken. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Regierung tritt ihre Arbeit an in einer Welt, die Frank-Walter Steinmeier mal als „aus den Fugen geraten“ beschrieben hat. Wenn wir uns umschauen – im Jemen, in Äthiopien, in Libyen, an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine –, dann merken wir: Das ist so.
Mitten in einer globalen Krise wie der Coronakrise erleben wir, wie erneut Grenzen gezogen werden und Menschen meinen, sie könnten Pandemien mit dem Rückzug auf den Nationalstaat bekämpfen. Globale Herausforderungen brauchen globale Antworten, nicht den Rückzug auf den Nationalstaat. Das ist die Botschaft dieser Koalition.
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Dafür brauchen wir ein starkes Europa. Deutsche Außenpolitik muss europäisch sein. Nur ein gemeinsames Europa verschafft uns Souveränität. Souveränität heißt doch nichts anderes als politische Handlungsfähigkeit. Die Rückkehr in den Nationalstaat führt nicht zu mehr Souveränität, sondern zu mehr Anpassungszwang; das ist doch genau das, was Großbritannien gerade erfährt.
Ja, wir haben in diesem Europa unterschiedliche Interessen. Aber wir haben auch eine gemeinsame Grundlage, nämlich diese unterschiedlichen Interessen friedlich und im Wege des Kompromisses miteinander auszutragen und dann gemeinsam handlungsfähig zu werden.
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Und weil das so ist, war es wichtig, dass Annalena Baerbock wie ihre Amtsvorgänger – in guter Tradition an dieser Stelle – nach Paris, nach Brüssel – in die Hauptstadt Europas – und nach Warschau gefahren ist. Alles, was dazu gesagt werden muss, hat mein ehemaliger Kollege und geschätzter Ausschussvorsitzender, Ruprecht Polenz, gesagt.
Soweit das durch Presseberichte möglich ist
– ich zitiere ihn aus Twitter –,
habe ich die erste Arbeitswoche von @ABaerbock als Außenministerin mitverfolgt. Besonders der Besuch in Polen war nicht einfach. Ich finde, sie hat ihre Sache sehr gut gemacht.
So ist es.
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Zum Thema Respekt. Der Bundeskanzler hat von Respekt gesprochen. Ich finde, Respekt muss wieder eine Leitlinie auch der internationalen Politik werden. Das gilt gerade, wenn wir uns über den Systemwettbewerb mit autoritären Staaten unterhalten. Denn was ist Respekt? Respekt ist nichts anderes, als die Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren hochzuhalten.
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Wir respektieren die Sicherheitsinteressen Russlands. Das ist übrigens der Grund, warum die NATO keine dauerhaften Truppen in Osteuropa stationiert. Das ist auch der Grund, warum zurzeit der Beitrittsprozess Georgiens und der Ukraine nicht sehr schnell zu einem Ergebnis führen wird. Aber umgekehrt hat Russland auch die Sicherheitsinteressen und die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren.
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Und es muss wissen: Wenn es diese Grenze militärisch überschreitet, muss es dafür einen hohen Preis zahlen. Wir setzen auf eine politische, auf eine wirtschaftliche Lösung. Wir wollen keine militärische Lösung, aber es wird ein hoher Preis sein.
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Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt: Wir müssen unsere China-Politik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden. – Ich will mal darauf hinweisen: Das ist ein neuer Ton. Es hat andere Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler unterschiedlicher Parteien gegeben, die jahrelang China-Politik nach dem Motto „Handel schafft Wandel“ gemacht haben.
Was ist das für ein China, das wir real vorfinden? China hat eine große Geschichte, ist eine bedeutende Wirtschaftsmacht. Wir wissen auch: Ohne China werden wir nicht auf den 1,5-Grad-Pfad kommen. China baut unzählige Kohlekraftwerke auf der einen Seite, und auf der anderen Seite investiert es in erneuerbare Energien zehnmal so viel wie Deutschland. Es ist dabei, einen großen eigenen CO2-Handel aufzubauen. Es gibt also gute Gründe, mit China zu kooperieren.
Aber das reale China, das wir vorfinden, wird immer autoritärer nach innen, regelverletzend nach außen. Ich will aus der letzten Woche die Inhaftierung von Jimmy Lai, dem Verleger aus Hongkong, nennen, der einen Artikel über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschrieben und dafür 13 Monate Knast kassiert hat. Das ist nicht nur eine innere Angelegenheit Chinas, sondern mit diesem Urteil tritt China einen völkerrechtlichen Vertrag, den es mit Großbritannien geschlossen hat, mit Füßen.
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China missachtet die Urteile des Internationalen Seegerichtshofs im Südchinesischen Meer. Dagegen müssen wir Klartext reden.
Ich sage allen: Universale Werte und Menschenrechte, internationale Normen wie das Klimaabkommen und Normen der Internationalen Arbeitsorganisation sind keine Erfindungen des Westens. Das sind international normierte Verträge. Diese Dinge stehen nicht im Widerspruch zu europäischen Interessen. Wenn wir künftig über ein ambitioniertes Lieferkettengesetz beispielsweise keine Produkte aus Zwangsarbeit mehr in Europa zulassen, dann schützt das auch unsere Industrie und nicht nur die Menschenrechte.
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Neben Respekt brauchen wir Fortschritt, zum Beispiel bei der nuklearen Abrüstung. Das ist der Grund, warum die Außenministerin beim Treffen der Stockholm-Initiative war, warum wir der zweite NATO-Staat werden wollen, der einen Beobachterstatus beim Atomwaffenverbotsvertrag bekommt.
Fortschritt brauchen wir in der internationalen Klimapolitik. Deswegen wollen wir die G‑7-Präsidentschaft nutzen, um eine starke Initiative für den Ausbau erneuerbarer Energien zu ergreifen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Für diese Grundhaltung – ambitionierte Klimaaußenpolitik, Respekt vor dem Völkerrecht und ein stärkeres Europa – steht diese Koalition.
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Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Georg Link, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren unmittelbar vor dem Beginn des Europäischen Rates, dem ersten des neuen Bundeskanzlers. Viele in Europa kennen den Politiker Olaf Scholz bereits, aber alle in Europa sind neugierig auf den neuen Kanzler und auf diese neue Koalition. Deshalb haben wir uns in den Koalitionsverhandlungen bemüht, unseren europäischen Partnern klar und deutlich zu signalisieren, wie wir zu Europa stehen, welches Langfristziel wir formulieren und wie wir bezüglich Europas ticken.
Deshalb haben wir das ambitionierte Ziel aufgestellt, einen dezentral verfassten europäischen Bundesstaat erreichen zu wollen, föderal organisiert, entlang der Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Ein solcher Bundesstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist handlungsfähiger und krisenfester als die EU von heute, und er ist insbesondere auch das Gegenmodell, das ausdrückliche Gegenmodell zu einem Zentralstaat mit einer Art Kompetenzkompetenz, aber auch das Gegenmodell zu dem lockeren Staatenverbund, den wir heute haben, der immer auch unter der Gefahr des Zerfalls steht.
Also, es ist eine Langfristvision, es ist ein mutiges Projekt. Es ist beileibe noch nicht mehrheitsfähig, aber alle Visionen – sei es der Binnenmarkt, sei es die europäische Währung, selbst das Schengener Abkommen – haben damit begonnen, dass mutig vorausgedacht wird und man sich auf den langen Weg zum Ziel macht. Deshalb dieses klare Signal dieser Koalition, wohin wir wollen – in und für Europa.
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Die Reformdebatte ist übrigens keine Beschäftigungstherapie, wie manche Kritiker sagen. Nein, das ist sie nicht. Das sind auch keine Sonntagsreden. Wir brauchen jetzt diese Weichenstellungen. Gerade die Zukunftskonferenz zeigt uns das. Über diese hätten wir übrigens gerne schon längst im Bundestag debattiert, was leider bisher noch nicht geklappt hat. Wir müssen auch da zeigen, wohin wir wollen. Es ist gesagt worden: mehr Außen- und Sicherheitspolitik, mehr Resilienz, mehr strategische Souveränität, aber bitte ohne dabei in Protektionismus zu verfallen. Auch das ist sehr wichtig.
Wenn wir mehr strategische Souveränität wollen – es ist heute erstaunlich wenig über Sicherheit und Verteidigung im engeren Sinne, also auch über die Bundeswehr, geredet worden –, dann wollen wir natürlich auch mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen nationalen Armeen. Wir als FDP wünschen uns, dass wir den Weg hin zu einer europäischen Armee gehen. Wir bleiben darüber in der Koalition im Gespräch.
Wir wollen diese neuen europäischen Sicherheitsstrukturen aber nicht auf Kosten der NATO aufbauen. Deshalb werden wir sehr genau darauf achten, dass beim strategischen Kompass der EU, der jetzt erarbeitet wird und der im März verabschiedet werden soll, die Interoperabilität, die Kompatibilität mit der NATO auf allen Ebenen und in allen Strukturen erhalten bleibt, ja sogar noch dort verstärkt wird, wo es heute zwischen EU-Strukturen und NATO-Strukturen teilweise ruckelt.
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Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das müssen wir als Parlament einfordern.
Ich denke, wir sind mit diesem Koalitionsvertrag gut aufgestellt, in dem Sinne, dass wir klar und wirklich deutlich gegenüber unseren europäischen Partnern kommunizieren: mit einem klaren Bekenntnis für die Rechts- und Wertegemeinschaft der EU, für mehr strategische Souveränität, ohne uns transatlantisch abzukoppeln, und vor allem auch für eine global wettbewerbsfähige EU mit fairen Regeln.
Jetzt muss ich auf ein Thema zu sprechen kommen – Kollege Dobrindt hat es vorhin angesprochen –, weil es immer wieder aufkommt: die sogenannte Schuldenunion. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen allergrößten Wert darauf gelegt, noch einmal ausdrücklich auszusprechen, was der Europäische Rat beschlossen hat, nämlich die Einmaligkeit der Finanzierung von „Next Generation EU“. Da habe ich von der alten Regierung, die daran mitgebaut hat, teilweise ganz andere Töne gehört.
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Nein, dieser Koalitionsvertrag spricht deutlich aus, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben: solide Finanzen auch auf europäischer Ebene. Deshalb hat dieses Parlament – nicht nur die Regierung, sondern auch dieses Parlament – jetzt die Verantwortung, das einzuhalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Link. Punktlandung! – Nächster Redner ist der Kollege Lars Klingbeil, SPD-Fraktion und SPD-Vorsitzender.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist ein bedeutender Tag: die erste Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz. Es sind insgesamt bedeutende Tage hier im Parlament: Wir haben eine neue Regierung aus FDP, Grünen und Sozialdemokraten, wir haben in der letzten Woche den Kanzler gewählt, wir haben das neue Kabinett vereidigt, und eine Fortschrittsregierung hat die Arbeit aufgenommen.
Es sind aber noch in anderer Hinsicht bedeutende Tage, und den Dank dafür will ich, ebenso wie Rolf Mützenich das am Anfang seiner Rede getan hat, an Sie adressieren, Herr Brinkhaus. Das ist eine neue Rolle für die Union, Oppositionskraft zu sein, stärkste Oppositionskraft zu sein. Aber ich glaube, Ihre Rede, an der mir vieles nicht gefallen hat –
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auf manches komme ich zu sprechen –, hat gezeigt, dass wir jetzt endlich wieder eine stärkste Oppositionskraft in diesem Parlament haben können, die diesen Anspruch hat und diese Rolle mit Würde wahrnimmt. Das halte ich für ganz wichtig für die demokratische Kultur in diesem Land.
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Herr Brinkhaus, eine Kritik von Ihnen war, dass Olaf Scholz zu viele Inhalte vorgetragen hat.
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Das gebe ich zu. Aber daran müssen Sie sich gewöhnen.
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In der letzten Regierung war es so, dass wir vieles wollten und Sie nicht. Jetzt haben sich drei Partner gefunden, die vieles vorhaben in diesem Land. Deswegen wird das eine Ampelregierung sein, die viele Inhalte in diesem Land umsetzen will und bei der nicht mehr so auf die Bremse getreten wird, wie Sie das in der letzten Legislatur getan haben.
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Darauf freuen wir uns. Aber Sie werden das ja entsprechend begleiten.
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– Ja, das können Sie gerne tun.
Was ich am Anfang der Rede hier aber auch sagen will, ist Folgendes – und ich bitte darum, dass wir als Parlament, als Demokratie in Deutschland insgesamt stolz darauf sind –: Das, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war ein sehr würdevoller Übergang der Macht, die Übergabe von Regierungsverantwortung. Wenn wir auf andere Länder dieser Welt gucken, dann wissen wir: Das ist nicht selbstverständlich, was wir hier in den letzten Tagen, in den letzten Wochen in diesem Parlament, in der Regierung erlebt haben. Und deswegen auch von mir noch mal ein großer Dank an die ehemalige Bundeskanzlerin, an alle, die in der ehemaligen Regierung Verantwortung getragen haben. Das war sehr würdevoll, und das ist wichtig, auch als Zeichen für die Menschen in diesem Land, dass das Gemeinsame und nicht das Trennende hier im Mittelpunkt unserer parlamentarischen Arbeit steht.
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Ich halte dieses Gemeinsame auch für wichtig, weil wir als Politik insgesamt große Herausforderungen vor uns haben in den nächsten zehn Jahren. Darüber ist heute schon viel geredet worden. Die nächsten zehn Jahre werden von Umbrüchen gekennzeichnet sein, die rasend schnell sind. Der Taktschlag der Veränderung wird schneller werden. Wir haben als Politik die Aufgabe, diesen Weg zu gestalten. Unser Anspruch muss sein, dass aus den Veränderungen, die auf uns zu kommen, Verbesserungen werden für unser Land und die Menschen in diesem Land. Das muss uns einen hier im Parlament.
Bevor ich auf die großen Veränderungen der nächsten zehn Jahre zu sprechen komme, möchte ich auch etwas zur aktuell größten Herausforderung in diesem Land sagen, nämlich zur Coronapandemie. Die Bewältigung der Coronapandemie hat oberste Priorität; dafür bin ich der neuen Bundesregierung dankbar. Die Ernsthaftigkeit, mit der die neue Regierung jetzt die Pandemiebekämpfung begonnen hat und dabei auch an das anknüpft, was die alte Regierung getan hat, ist sichtbar: Die Logistik wird professioneller organisiert, wissenschaftliche und fachliche Expertisen werden systematischer einbezogen, beispielsweise durch den neuen Krisenstab im Kanzleramt. Das unterstreicht den Anspruch der neuen Regierung, die Pandemie zu bekämpfen.
Ich sage hier aber auch für uns als Parlament: Pandemiebekämpfung sollte weiterhin keine Parteifarben kennen. Es ist wichtig, dass wir – mit der Regierung, der Opposition, mit dem Bund, mit den Ländern – uns alle zusammen unserer gemeinsamen Verantwortung bewusst werden. Wir haben als Politik die Verantwortung, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sicher durch die kommenden Monate zu bringen, und dafür muss jede Maßnahme ergriffen werden, die wichtig ist. Das muss uns einen in der Bekämpfung dieses furchtbaren Virus.
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Es geht um das Zusammenbringen von wissenschaftlicher und praktischer Expertise; es würde uns übrigens guttun, wenn wir das in vielen anderen Bereichen der Politik auch machen würden, so wie wir das gerade in der Pandemiebekämpfung machen.
Ich will aber auch auf etwas zu sprechen kommen, was in den letzten Tagen öffentlichkeitswirksam immer eine Rolle gespielt hat. Mit Blick auf die Coronapandemie ist viel über die Spaltung des Landes geredet worden. Ich sage Ihnen aber: Da lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Ja, es gibt Sorgen, es gibt Unsicherheiten, es gibt Zweifel, es gibt berechtigte Fragen. Politik muss hinterfragt werden. Politik muss kommunizieren. Sie muss erklären, und sie muss auf die Sorgen der Menschen eingehen. Da, wo Menschen Sorgen haben, beispielsweise dass das Impfen einen gesundheitlichen Schaden für sie bedeuten könnte, da muss aufgeklärt werden, da muss diskutiert werden, da muss mit Argumenten überzeugt werden. Ich glaube, das können wir als Politik insgesamt noch besser machen. Das sage ich auch selbstkritisch.
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Aber, ich will hier in aller Klarheit sagen: Es ist keine gesellschaftliche Spaltung, wenn auf der einen Seite Zigmillionen Menschen dieses Landes stehen, die seit 20 Monaten einen solidarischen Weg des Miteinanders, einen solidarischen Weg des Impfens, des Boosterns gehen, und auf der anderen Seite wenige Tausend stehen, die sich radikalisiert haben. Das ist keine Spaltung dieses Landes. Wir können froh sein, dass so viele Menschen diesen Weg solidarisch mittragen. Nur weil die anderen, die wenigen, laut sind, ist das nicht ansatzweise eine große Gruppe in diesem Land. Das sollten wir uns in diesen Tagen immer wieder bewusst machen.
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Ich sage in aller Deutlichkeit: Wer mit Fackeln vor den Wohnhäusern von Politikerinnen oder Politikern aufmarschiert, wer in Telegram-Gruppen Mordpläne an Politikern schmiedet, der nimmt nicht mehr an demokratischen Debatten über die Coronapolitik teil. Das sind Menschen, die sich aus dem demokratischen Miteinander rausgezogen haben. Sie säen ein Klima des Hasses; sie wollen diese Gesellschaft zersetzen. Wir haben erst vor wenigen Monaten an diesem grausamen Mord in Idar-Oberstein gesehen, wohin dieses gesellschaftliche Klima führen kann. Deswegen muss jedem, der sich da einreiht, ganz deutlich gesagt werden: Wer sich in die Reihen von rechten Hetzern einsortiert, wer mit Fackeln durchs Land marschiert, wer versucht, andere einzuschüchtern, der ist kein besorgter Bürger; der ist ein rechter Hetzer. – Daran darf es keinen Zweifel geben. Das muss klar benannt werden, auch hier im Parlament.
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Ich bin unserer neuen Bundesinnenministerin Nancy Faeser dankbar, dass sie deutlich gemacht hat, hier eine klare Priorität zu setzen. Wir lassen uns von Querdenkern, Fackelträgern, Hetzern und Spaltern nicht unsere Politik diktieren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Zusammenhalt, von dem ich gerade geredet habe, brauchen wir aber auch für andere große Herausforderungen, die vor uns liegen. Die 20er-Jahre werden ein Jahrzehnt des Umbruchs in diesem Land. Wir wollen das Land sozial gerecht gestalten. Die neueste Studie des ZEW hat gerade aufgezeigt, dass der Koalitionsvertrag insbesondere Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zugutekommen wird, dass genau für diese Gruppen Politik gemacht wird.
Herr Brinkhaus, Sie haben vorhin kritisiert, dass Olaf Scholz zu wenig zum Thema Familien gesagt hätte. Aber ich sage Ihnen: In diesem Koalitionsvertrag steht ganz viel dazu. Sie fordern ein. Wir handeln – das ist die Politik dieser Regierung. Wenn Sie den Koalitionsvertrag genau lesen, sehen Sie: Darin enthalten sind 12 Euro Mindestlohn, die neue Kindergrundsicherung, das stabile Rentenniveau, bezahlbare Mieten für 400 000 Wohnungen, die gebaut werden. Das sind ganz konkrete Maßnahmen für eine Politik des sozialen Zusammenhalts, und das wird diese Ampelregierung umsetzen.
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Wir brauchen eine langfristige Politik, die die Weichen Richtung Zukunft stellt. Deutschland hat die Chance, Technologieführer in Europa zu sein. Wir haben die Chance, langfristig Innovations- und Industriestandort zu sein, das Ganze abzusichern, Standards zu setzen und die Arbeitsplätze der Zukunft hier in Deutschland zu schaffen. Das, was BioNTech geschafft hat, muss keine Ausnahme sein. Medizinischer Fortschritt, ökologische Transformation, digitale Transformation – es geht jetzt darum, in einem klugen Zusammenspiel aus Staat und Markt dafür zu sorgen, dass Erfolge hier in Deutschland, in Europa stattfinden.
Das heißt übrigens auch für Sie als Union, aus den Grabenkämpfen der 90er-Jahre rauszukommen. Es geht darum, dass der Staat das Ganze klug gestaltet, dass er in Bildung, Qualifizierung, Forschung, Infrastruktur investiert und dafür sorgt, dass neue Geschäftsmodelle entstehen können. Ich will das hier mal sagen: Ich bin Christian Lindner dankbar dafür, dass er jetzt einen solchen Nachtragshaushalt vorgelegt hat, der genau diese Zukunftsinvestitionen ermöglicht. Sie als Union sind dagegen; Sie blockieren das. Sie wissen gar nicht, was Sie wollen. Aber passen Sie bitte auf, dass Sie nicht die neue Dagegen-Fraktion sind. Wir müssen Zukunft in diesem Land ermöglichen, und das tut die Ampel hier sehr konkret.
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Der letzte Punkt, Herr Präsident, ist, dass Transformation nur gelingt, wenn es mit der Politik des Abwartens vorbei ist. Wir brauchen eine Regierung, die handelt, eine Regierung, die Entscheidungen trifft, eine Regierung, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist. Ich bin mir sicher – das haben die Koalitionsverhandlungen gezeigt; das hat der Aufbruch in der neuen Regierung gezeigt –: Wir wissen, was zu tun ist in den nächsten vier Jahren und darüber hinaus. Ich bin froh, dass wir diese neue Regierung haben. Packen wir es an!
Vielen Dank.
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Zu seiner ersten Rede erteile ich das Wort Stefan Seidler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Moin, liebe Kollegen! Deutschland erlebt mit der Ampelkoalition nicht nur eine neue Regierungskoalition; wenn wir uns in diesem Hohen Hause umschauen, dann sehen wir: Der Deutsche Bundestag ist so vielfältig geworden wie noch nie zuvor. Zum ersten Mal seit 1953 ist auch der Südschleswigsche Wählerverband, der SSW, wieder im Deutschen Bundestag vertreten.
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Dass heute ein Vertreter einer nationalen Minderheit hier am Rednerpult steht, zeigt, wie modern und offen unser aller Deutschland geworden ist. Es zeigt aber vor allem, dass wir hier in Deutschland verstanden haben, dass Demokratie nicht nur durch ihre Mehrheiten funktioniert, sondern dass eine intelligente und gesunde Demokratie immer auch daran gemessen wird, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.
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Der SSW vertritt aber nicht nur die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe und das Niederdeutsche, sondern wir kämpfen für alle Minderheiten hierzulande. Wir arbeiten für die Entwicklung unserer Heimat in Schleswig-Holstein, schauen auf skandinavische Lösungen, beispielsweise bei der Digitalisierung, im Sozialstaat, in der Bürgerbeteiligung, die auch Deutschland sehr guttun würden.
Deshalb muss ich gestehen, dass ich mir vom Koalitionsvertrag mehr versprochen hätte, vor allem mit Blick auf die Rechte unserer Minderheiten. In Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen sind die Rechte der Minderheiten bereits in der Landesverfassung festgeschrieben. Das wünschen wir uns auch auf Bundesebene für das Grundgesetz. Schon in der Paulskirchenverfassung oder in der Weimarer Reichsverfassung waren Minderheitenrechte verankert. Was vor 100 Jahren möglich war, sollte doch auch heute gehen. Wir wünschen uns, dass die kulturellen und Bildungseinrichtungen der Minderheiten verstärkt vom Bund gefördert werden – nicht mehr nur mit Kleckerbeträgen in Form von Projektförderung.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Norden ist in den vergangenen Jahren bei der Vergabe von Fördermitteln des Bundes sträflich vernachlässigt worden. Klimawandel, Breitbandausbau, Verkehrswege, Wohnungsmangel, medizinische Versorgung und hohe Strompreise beschäftigen uns sehr. Das sind Probleme, die besonders in Grenzregionen und in der ländlichen Region hart zu Buche schlagen.
Trotz der offenen Punkte sehe ich im Koalitionsvertrag insgesamt sehr viele positive Ansätze, und auch wenn meine Stimme in diesem Hause nur eine von vielen ist, so reichen ich und der SSW der künftigen, der neuen Bundesregierung die Hand dafür, dass wir gemeinsam an notwendigen und nachhaltigen Veränderungen für dieses Land arbeiten.
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Dabei werde ich hier als konstruktive Opposition die Stimme für Minderheiten erheben, den Blick in den Norden richten, aber auch dafür plädieren, dass wir in Deutschland verstärkt auf regionale und grenzüberschreitende europäische Lösungen setzen, um die großen globalen Herausforderungen zu bewältigen.
Erlauben Sie mir, der Ampelkoalition und der neuen Regierung in meiner Sprache zu wünschen: Held og lykke og god vind! Viel Glück und guten Wind!
Danke.
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Ich erteile das Wort Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten mehr als eindreiviertel Jahre Pandemie haben etwas mit uns gemacht. Niemand ist davon unbetroffen geblieben; aber es hat die Menschen eben unterschiedlich hart getroffen. Es macht in dieser Zeit einen Unterschied, ob man Verantwortung für eine Familie trägt oder nicht, ob man alleinerziehend ist, ob man auch weiter ein sicheres Einkommen hat, ob man mobil ist oder nicht, ob man gesund ist oder ob man ein Handicap hat oder chronisch krank ist. Alles das macht in dieser Pandemie einen großen Unterschied.
Kinder und Jugendliche haben besonders viel durchgemacht: Kitas, Schulen und zu Beginn sogar die Spielplätze waren dicht, und Treffen mit Freunden, Sport und Musik wurden eingeschränkt. Einmalige Erlebnisse wie der Schulabschluss, der Gesellenbrief, der 18. Geburtstag: Nichts davon konnte anständig gefeiert werden. – Praktika, Berufsorientierung, der Start in die Ausbildung oder in das Studium: Nichts davon war so, wie es sein sollte.
Die Pandemie hat Familien an ihre Grenzen gebracht, sie hat Sorgen verschärft und neue Sorgen bereitet – finanzielle Sorgen, Sorgen um die Gesundheit von Eltern, Großeltern, Kindern und Freunden. Die Angst um den Arbeitsplatz, der Verlust der Arbeitsmöglichkeiten: Künstlerinnen, Schausteller, Messebauer, Veranstaltungstechniker und viele andere mehr haben das erlitten und tun es teilweise immer noch.
Die Pandemie hat etwas mit uns gemacht, und sie hat viele Menschen verunsichert. Deswegen haben wir auch schon vieles gemacht, und das, was wir gemacht haben, haben wir immer wieder verlängert, um in einer solchen Krise Unterstützung und Halt zu geben: mit den Überbrückungshilfen für Unternehmen, mit den Neustarthilfen für Soloselbstständige, mit dem Kurzarbeitergeld, um Arbeitsplätze zu erhalten, mit dem vereinfachten Zugang zur Grundsicherung und der Verbesserung der Grundsicherung, um Not zu lindern, durch mehr Kinderkrankentage, die Kinderboni, das Aufholprogramm für Kinder und Familien. Und alles das setzen wir fort.
Familien, die es besonders schwer haben, unterstützen wir mit einem Sofortzuschlag für Kinder und einer Kindergrundsicherung, die alle Familien einfach und unbürokratisch unterstützt – vor allem aber die, die es nicht so leicht haben und die es besonders brauchen –, mit mehr Ganztag an Schulen und mehr Unterstützung von Schülerinnen und Schülern, die es eben schwerer haben als andere, und mit einer Ausbildungsgarantie und einem besseren BAföG, damit junge Menschen gut ins Leben starten können und dann mit 12 Euro Mindestlohn und guten tariflichen Löhnen auch besser zurechtkommen.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles hat uns gefordert. Aber wir haben auch viel Positives erlebt: Menschen, die sich gekümmert haben, die sich der Pandemie an vorderster Front entgegengestellt haben. – Ja, es gibt sie, die Egoisten, diejenigen, die nur ihr eigenes kleines Karo sehen, und diejenigen, die die Krise und Verunsicherung für Hass und Hetze nutzen. Aber die allermeisten, die vielen, vielen anderen, die Leisen, nicht die Lauten, haben Hilfe gegeben, haben die Familie, die Nachbarn, die Kinder und Freunde unterstützt – und manchmal auch alle gleichzeitig. Sie haben betreut, gepflegt, versorgt, Lebensmittel und Medikamente verkauft, Pakete geliefert, die Busse und Bahnen gefahren, sich um unsere Gesundheit und darum gekümmert, dass alles weiter funktioniert und der Laden eben am Laufen bleibt.
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Sie haben aus Nöten Tugenden gemacht, waren kreativ, haben neue Ideen produziert, haben uns zum Lachen gebracht, haben Unterhaltung ins Netz gestellt, haben draußen musiziert und vieles andere mehr. Diesen vielen, den allermeisten, möchte ich dafür ein großes Dankeschön sagen.
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Genau all denen sind wir es eben auch schuldig, dass diese Pandemie so schnell es geht zu Ende gebracht wird. Ich sage ganz ehrlich: Da ist noch nicht alles getan worden, was geht, und da ist noch einiges zu erledigen, bevor wir eine Impfpflicht diskutieren.
Wurde wirklich schon genug aufgeklärt über das Virus, die Folgen einer Erkrankung auf der einen Seite und den Schutz einer Impfung für sich selbst und für andere auf der anderen Seite – überall, einfach, verständlich, in allen Sprachen? Wurden damit wirklich schon alle erreicht, die erreichbar wären? Genau das Gleiche gilt für unsere Impfangebote: Werden alle Möglichkeiten, die wir haben, schon genutzt?
Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt einen Neustart hinlegen, dass Olaf Scholz im Kanzleramt einen Coronakrisenstab eingerichtet hat, dass unser neuer Gesundheitsminister Karl Lauterbach eine Coronainventur hinlegt, erste Konsequenzen zieht und loslegt. Wir haben jetzt eine starke wissenschaftliche Begleitung und mehr Schutz für besonders Gefährdete durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Wir haben die Krankenhäuser gestärkt und schützen uns durch 3 G und 2 G am Arbeitsplatz, in Bus und Bahn und in der Freizeit. Und das Wichtigste: Wir stärken das Impfen! Das bleibt unser Weg aus der Pandemie.
Das schönste Weihnachtsgeschenk an Ihre Lieben ist, geimpft und geboostert das Fest zu feiern. In diesem Sinne allen ein schönes Weihnachtsfest, und bleiben Sie gesund!
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Der nächste Redner ist Matthias Helferich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder von uns Abgeordneten hat wohl einen Grund oder hatte gar ein Erlebnis, das ihn immer wieder antreibt, Politik zu machen. Mein Grund ist eine Frau, die ich im vergangenen Bundestagswahlkampf traf. Sie berichtete mir: Ich wähle nicht mehr; denn es geht mir doch von Jahr zu Jahr nur schlechter – egal wer unser Land regiert. Sie berichtete mir, dass es aufgrund der Strompreise am Ende des Monats immer knapper aussehe, sie ihr Auto kaum noch finanzieren könne und sie jedes Wochenende Angst um ihre Töchter hätte, wenn diese in die Dortmunder Innenstadt fahren. Ihr Viertel erkenne sie nicht mehr wieder, doch zum Wegziehen fehle das Geld. – Meine Damen und Herren, wir aus dem patriotischen Lager machen Politik für diese Frau, für diese Leute.
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Das kürzlich geschmiedete Bündnis, das diese Regierung trägt, besteht hingegen aus einer Sozialdemokratie, die ihre ehemaligen Arbeitermilieus verachtet, einer grünen Oberschicht, die sich fetischhaft der Weltenrettung verschrieben hat, freilich ohne hierfür selbst Konsequenzen zu tragen, und einer FDP, die den deutschen Mittelstand schon lange aus den Augen verloren hat und dem Woke Capitalism internationaler Konzerne frönt.
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Die Ampelregierung ist, wie Sie es selbst mehrfach betonen, die Allianz der Transformation, eine Allianz, die die vertritt, für die Ortsbindung und Geschichte bedeutungslos sind, die, die eine grenzenlose Welt anstreben, in der sich Kapital-, Waren- und natürlich auch Migrantenströme ungehindert bewegen können. Es ist die Allianz derer, die Deutschlands Nationalstaatlichkeit in supranationalen Strukturen aufgelöst wissen wollen.
Die Ampel verspricht den Bürgern vollmundig den Neubau von 400 000 Wohnungen pro Jahr. Hier lässt die Ankündigung von FDP-Fraktionschef Dürr aufhorchen. Er fordert die Aufnahme von 400 000 Migranten pro Jahr. Soll hier lediglich der Wohnraum für die Transformation unseres Volkes geschaffen werden? Die Pläne der Ampel, unser Staatsangehörigkeitsrecht noch weiter zu liberalisieren, sprechen hierfür. Das, was Sie eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts nennen, ist eine weitere Entwertung der Zugehörigkeit zu unserem Staatsvolk, eine Verwässerung der tiefen und unteilbaren Loyalität zu Deutschland.
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Sehr geehrte Kollegen, das stellt einen Anschlag und einen Schlag ins Gesicht all jener Migranten dar, die hart für den Platz in unserer Gemeinschaft kämpfen und diesen auch verdient haben. Auch ihre deutsche Heimat wird von der von Ihnen avisierten Transformation bedroht.
Doch es gibt ja auch Grund zur Hoffnung. Immerhin haben Sie eine große Rückführungsoffensive angekündigt. Doch wie schaut die Realität aus? Schauen wir mal nach NRW, wo die FDP mit Integrationsminister Stamp für Abschiebungen zuständig ist. Hier sind im Sommer 2021 von 376 hochgefährlichen Islamisten lediglich 11 abgeschoben worden. Das ist FDP-Abschiebepolitik. Glückwunsch, liebe FDP! Da fühlt man sich in Nordrhein-Westfalen gleich sicherer. Nicht die AfD gefährdet die Sicherheit in unserem Land, weil sie den Vorsitz im Innenausschuss bekleidet.
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Es ist Ihre Migrationssucht, die unser Land gefährdet. Es ist Ihre Migrationssucht, die die Heimat der von mir erwähnten Frau gefährdet.
Eins sei Ihnen für die kommenden vier Jahre versprochen: Wir werden die rote Linie sein.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist Christian Petry, SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist für mich schon ein stolzer Tag, nach der ersten Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz hier was zu Europa sagen zu dürfen.
Er hat gesagt – ich finde es gut, dass er es für die Bundesregierung erklärt hat –, dass Europa das wichtigste nationale Anliegen ist. In unseren sämtlichen Politikfeldern, die wir in allen Ausschüssen bearbeiten, ist viel mehr Europa drin, als das dem einen oder anderen Kollegen vielleicht direkt bewusst ist. 70 Prozent der Rechtsetzung haben ihren Ursprung oder sind eine Überleitung aus Europa; es ist also ein ganz wichtiges Feld. Dies ist als zentrales Feld der Bundesregierung benannt. Wir wollen Europa weiterentwickeln, und wir können Europa weiterentwickeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Im Koalitionsvertrag steht es: Unser Leitthema ist ein souveränes Europa, ein Europa, das schützt. Es geht also um Verbraucherschutz, Umweltschutz, äußere Sicherheit. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das Gefühl haben „Europa schützt uns“, und es darf nicht umgekehrt sein, nämlich dass wir die Bürger vor Europa schützen müssen. Dieser Paradigmenwechsel ist in unserem Vertrag enthalten, und das wollen wir in Europa mehrheitsfähig machen, auch gegen Nationalisten und andere Bestrebungen. Europa muss in die Herzen der Menschen zurück, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es freut mich ganz besonders, dass auch die FDP hier einen wirklich beachtlichen Begriff mit eingebracht hat, nämlich den des „föderalen europäischen Bundesstaates“ als Basis für Subsidiarität und für Individualitäten; denn Europa lebt ja die Einheit in Vielfalt. Das ist doch klar, das macht uns doch stark, und das haben wir im Koalitionsvertrag verankert.
Wir haben einen großen Auftrag: Wir werden die Rechtsstaatlichkeit verbessern. Wir werden den Weg zur Fiskalunion ebnen. Da wird es noch unterschiedliche Diskussionen geben.
Herr Brinkhaus, ich habe Ihnen sehr gut zugehört und bin natürlich anderer Meinung als Sie. Es geht hier nicht um eine Schuldenunion. Es geht um ein seriöses Finanzieren des Wiederaufbaus des solidarischen Europas mit den neuen Eigenmitteln, die wir haben. Das ist alles andere als eine Schuldenunion; denn es ist ein Rückzahlungspfad dabei. Sie haben dies in Ihrer aktiven Politik bisher bekämpft. Ich finde das schade. Wir möchten Sie überzeugen: Das ist der richtige Weg in ein künftiges starkes Europa, das allen Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere in Deutschland, nützen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es gäbe hierzu noch viel zu sagen. Aber meine Redezeit ist auf drei Minuten begrenzt. Wir werden, glaube ich, den Auftrag sehr ernst nehmen. Ich denke, wir werden hier den Weg in dieses solidarische, souveräne Europa ebnen, diesen Ort der liberalen Demokratien stärken, diesen Ort, in dem die Freiheit oben steht, auch die Freiheit ohne Grenzen, einem Europa, das schützt. Das ist unser Ziel. Das steht in diesem Koalitionsvertrag. Dafür arbeiten wir. Dafür unterstützen wir die Bundesregierung. Ich bitte alle Demokraten: Machen Sie hier mit!
Glück auf!
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