Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Chancen-Aufenthaltsrecht bricht mit dem unwürdigen Zustand, dass wir jahre-, ja
jahrzehntelang zugelassen haben, dass Menschen perspektivlos im Zustand der
Kettenduldung leben. Das betrifft allein zum Stichtag 31. Oktober dieses Jahres
über 137 000 Menschen mit einem Aufenthalt von mehr als fünf Jahren.
Zusammen mit der Einführung einer behördenunabhängigen
Asylverfahrensberatung, mit Anpassungen und Modernisierungen im Bleiberecht, mit
der Asylverfahrensbeschleunigung, mit der Öffnung von Integrationskursen für
Asylsuchende ist diese Änderung des Aufenthaltsgesetzes ein Gesetz der Vernunft.
Es ist ein Gesetz des gesunden Menschenverstandes.
({0})
Es ist ein Gesetz der Mitte, der vernünftigen Mitte. Davon reden wir
hier.
Eine herausragend große Zahl der Menschen in unserem Land, all
diejenigen Deutschen, die an einem guten Zusammenleben interessiert sind, finden
es sinnhaft, was wir hier machen. Wir haben ein breites Bündnis hinter uns. Es
reicht von Menschen, die wissen, was es bedeutet, mit Menschen, die in Duldung
leben, zusammenzuarbeiten, von Unternehmerinnen und Unternehmern,
Arbeitgeberverbänden, Industrie- und Handelskammern bis zu denjenigen, die als
Aktivisten oder in Kirchengemeinden, Moscheen und Synagogen Geduldete betreuen
und begleiten. Das ist das breite Bündnis, von dem wir hier reden.
Deshalb sage ich ausdrücklich: Dieses Chancen-Aufenthaltsgesetz ist
kein sozialdemokratisches Gesetz. Es ist auch kein grünes Gesetz. Es ist auch
kein liberales Gesetz, sondern es ist ein Gesetz der Vernunft.
({1})
Wenn wir sagen, es sei ein sozialdemokratisches Gesetz oder ein grünes
oder ein liberales Gesetz, dann gilt genauso, dass es ein Gesetz des
Konservatismus ist. Denn wenn man konservativ denkt, muss man dieses Gesetz
unterstützen. Konservativ bedeutet nämlich auch, Maß und Mitte zu finden, nicht
rigoristisch zu denken und zu erkennen, was für Menschen wichtig ist, wenn sie
Perspektiven haben wollen, wenn sie sich anstrengen und bemühen.
({2})
Deswegen würdige ich auch ausdrücklich, dass mindestens 19 Mitglieder
der CDU/CSU-Fraktion in einer persönlichen Erklärung deutlich gemacht haben,
welche Punkte sie nicht teilen, dass sie im Grundsatz aber die Idee gut finden,
dass langfristig geduldete Menschen, die sich gut integriert haben, die Teil
dieser Gesellschaft geworden sind, aber als solche nicht wirklich leben können,
eine Perspektive erhalten durch den Chancen-Aufenthalt. Das kritisiere ich
überhaupt nicht. Nein, das ist Ausdruck von Demokratie. Das verdient
Hochachtung. Dabei sind Prominente wie Herr Laschet, wie Frau Grütters, wie Frau
Güler, wie Herr Gröhe.
Was ich aber kritisiere, ist, dass der Anschein erweckt wird, als gäbe
es einen geschlossenen Block gegen diese Haltung. Ich habe schon in meiner
letzten Rede in der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass die größte
Landesregierung, CDU-geführt, uns ausdrücklich auffordert, dieses im
Koalitionsvertrag zu machen, und dem durch das Erlassen einer Vorgriffsregelung
vorarbeitet.
({3})
Wir haben – auch das muss man mal sehen – die behördenunabhängige
Asylverfahrensberatung schon unter einem CDU-Innenministerium pilotiert. Die
Sinnigkeit dieser Maßnahmen haben Sie selbst also schon erkannt, und jetzt üben
Sie dagegen Opposition. Das mag verstehen, wer will. Ich verstehe es nicht.
({4})
Wenn in diesen Tagen, in denen es ja wieder üblich geworden ist, das
Thema Migration komplett zu ideologisieren und emotionalisieren,
({5})
davon gesprochen wird – ich zitiere jemanden; er weiß, wer
angesprochen ist –, dass wir die Staatsangehörigkeit „verramschen“ würden, dass
das die Integration nicht fördern würde, dass wir damit Pull-Effekte für
illegale Migration auslösen würden, zeigt das, dass diese Person nicht
verstanden hat, was Staatsangehörigkeit bedeutet, nämlich dass es ein Kompliment
ist, wenn Menschen deutsche Staatsangehörige werden wollen.
({6})
Wer das sagt, hat nicht verstanden, was Integration bedeutet. Es ist
ein Kompliment für dieses Land, dass Menschen hier Deutsch lernen, hier leben
wollen, sich einfügen in dieses Land.
({7})
Wer das sagt, hat nicht begriffen, dass Änderungen im
Aufenthaltsgesetz oder Staatsangehörigkeitsrecht doch nicht die Hauptgründe
sind, warum sich Menschen auf die Flucht begeben. Das ist doch Irrsinn; das ist
eine Fehldeutung.
Die Realität ist folgende: Vor meinem Büro stand vor nicht allzu
langer Zeit Lamarana D. und hat geschildert, wie lange er schon in diesem Land
lebt. Er ist vor fast sieben Jahren aus Guinea gekommen und wäre fast verreckt
auf der Anreise. Er hat sofort Deutsch gelernt. Sein Schriftdeutsch ist besser
als das in jeder Bachelorarbeit. Er hat eine Freundin, ist verlobt, kann aber
nicht heiraten wegen der ungeklärten Identitätsfrage. Er hat sich immer Arbeit
gesucht und nie von Transferleistungen gelebt. Er hat sich sofort einem
Sportverein angeschlossen. Er möchte mit seiner Freundin am liebsten mit einem
Wohnmobil nach Frankreich fahren und campen. Der Mann ist besser integriert, der
ist deutscher, als ich es je sein könnte.
({8})
Was für einen Sinn macht es, diesem Mann eine Chance in diesem Land zu
verwehren? Es macht keinen Sinn.
({9})
Es wird der Anschein erweckt, als ob wir ernsthaft in der Lage wären,
Tausende, Hunderttausende wie ihn abschieben zu können. Dann würden wir unsere
ganzen Landes- und Bundespolizeien lahmlegen. Wir können es im Realfall
nicht.
Wir haben also die Wahl: Akzeptieren wir diesen Istzustand und geben
diesen Menschen eine Chance, oder machen wir weiter so, dass sie ohne
Perspektive hierbleiben, aber auch nicht abgeschoben werden? Für mich ist diese
Entscheidung glasklar. Es ist eine Entscheidung des Pragmatismus, der Vernunft
und auch der Menschlichkeit.
({10})
Es zeichnet nämlich eine Gesellschaft nicht aus, einen Wettbewerb zu
machen, wer am härtesten und am unmenschlichsten ist, sondern es zeichnet eine
Gesellschaft aus, dass sie mit ihrer Gesetzgebung der Realität und den
Erwartungen einer Bevölkerung, die sehr souverän, sehr selbstbewusst mit
Migration umgeht, endlich gerecht wird. Diese Entscheidung haben wir heute; vor
der stehen wir. Sagen Sie Ja.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin: für die Fraktion der CDU/CSU Andrea Lindholz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir brauchen in Deutschland eine umsichtige
Asylpolitik und einen Rechtsstaat, der sich ernst nimmt und der keine
Fehlanreize setzt. Genau diese Voraussetzungen erfüllt dieser Gesetzentwurf
nicht. Ich empfehle hier auch gerne mal, in die Anhörung und die Stellungnahmen
der Sachverständigen hineinzuschauen.
({0})
Deutschland gehört seit Jahren zu den wichtigsten Aufnahmeländern
weltweit. Nur die Türkei und Kolumbien beherbergen heute noch mehr Flüchtlinge
als wir. Diese humanitäre Leistung lässt sich nicht unbegrenzt ausweiten, und
deshalb sollten wir uns auf die wirklich Schutzberechtigten fokussieren.
({1})
Bei dem Gesetzentwurf geht es um ausreisepflichtige Ausländer. Und ja,
es gibt Ausnahmen, in denen man pragmatische Lösungen braucht. Die Ampel tut
aber so, als ob ausreisepflichtige Ausländer, die sich gut integriert haben, in
unserem Land keine Chance hätten, und diese Behauptung ist falsch.
({2})
Von den rund 830 000 abgelehnten Asylbewerbern, die im
Ausländerzentralregister registriert sind, haben heute 75 Prozent einen
regulären Aufenthaltstitel. Und warum ist das so? Weil auch mit uns, weil auch
mit der Union in der vergangenen Legislaturperiode längst pragmatische Lösungen
gefunden worden sind.
({3})
Unser geltendes Aufenthaltsrecht belohnt gute Integration auch bei
Ausreisepflichtigen. Ein Bleiberecht gibt es zum Beispiel, wenn man einen
qualifizierten Beruf ausübt oder wenn man eine Berufsausbildung absolviert hat.
Es gibt Ausnahmen für gut integrierte Jugendliche unter 21 Jahren, für Familien
und gut integrierte Erwachsene.
({4})
Aber die zentrale Voraussetzung für diese Chance ist, dass die
Betroffenen zunächst ehrlich sagen, wer sie sind, woher sie kommen und wie sie
heißen. Genau mit diesem Prinzip will die Ampel jetzt brechen. Für uns gilt:
Erst Identitätsklärung, dann Chance, und nicht umgekehrt.
({5})
Die Ampel will ausreisepflichtigen Menschen auch dann ein
Aufenthaltsrecht geben, wenn sie in Bezug auf ihre Identität aktiv getäuscht
oder die Mitwirkung an der Identitätsklärung verweigert haben.
({6})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, belohnen damit die Falschen. Sie
belohnen Identitätstäuscher, und Sie diskriminieren alle Ausländer, die sich bei
ihrer Einreise an Recht und Gesetz halten und ihren Pass vorlegen.
({7})
Auch wer seinen Pass verloren hat und keinen Ersatz beschaffen kann,
kann seine Identität schon nach den jetzt geltenden Regeln mit anderen Mitteln
belegen. Für uns und für das Gesetz entscheidend ist der Wille zur Mitwirkung.
Sie wollen jetzt die Personen belohnen, die fünf Jahre lang diesen Willen nicht
gezeigt haben.
({8})
Sie nehmen damit den Anreiz, an der Identitätsklärung mitzuwirken. Und
das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist fatal.
({9})
Mindestens genauso fatal ist Ihre Anhebung der Altersgrenze von 21 auf
27 Jahre für Jugendliche, die auch mit der jetzigen Rechtslage eine Chance
haben, obwohl Sie genau wissen, dass zwei Drittel aller unberechtigten
Asylbewerber junge Männer in diesem Alter sind.
({10})
Diese Gruppe soll nach Ihnen künftig schon nach drei Jahren ein
Bleiberecht erhalten, auch wenn sie nicht schutzbedürftig ist.
({11})
Der Entwurf von Frau Faeser hätte sogar dazu geführt, dass man direkt
von der Ablehnung in den legalen Aufenthalt gerutscht wäre. Das haben Sie ja in
letzter Minute gerade noch gestoppt und diesen krassen Fehler notdürftig
repariert.
({12})
Aber was zeigt uns das? Das zeigt uns, dass Sie an wirklicher und
echter Rückführung nicht interessiert sind. Die Ampel und vor allen Dingen die
FDP reden hier seit Monaten von ihrer Rückführungsoffensive. Fakt ist, dass Sie
nach einem Jahr noch nicht mal einen Rückführungsbeauftragten benannt haben.
Ihre Detailregelung zur Abschiebehaft heute ist nichts anderes als ein
Feigenblatt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Seit September 2021 liegt die Evaluation des
Geordnete-Rückkehr-Gesetzes, das noch wir verabschiedet haben, vor, und die
Länder haben viele Maßnahmen in diesem Gesetz begrüßt und weitere Maßnahmen
vorgeschlagen. Fragen Sie sich mal, warum Sie keinen einzigen dieser guten
Vorschläge aufgreifen:
({14})
weil Sie aus ideologischen Gründen überhaupt keine Rückführung wollen!
Im Grunde lehnen Sie sie ab. Und Ihr hier heute eingebrachtes Gesetz hat schon
dazu geführt, dass in Baden-Württemberg ein Gericht mit Verweis auf Ihren
Gesetzentwurf eine Rückführung ausgesetzt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie belohnen die Falschen. Wir als
Union stehen für einen glaubwürdigen Rechtsstaat. Wir stehen für eine
Asylpolitik, die von Humanität und Ordnung geprägt ist. Und das ist auch der
Grund, warum wir Ihren Gesetzentwurf hier und heute ablehnen werden.
({15})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Filiz
Polat.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
Chancen-Aufenthaltsrecht und der Verbesserung der bestehenden
Bleiberechtsregelung für gut integrierte Geduldete, der Einführung – endlich –
einer bundesfinanzierten, behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung, der
Erleichterung des Familiennachzugs mit Wegfall der Spracherfordernis vor der
Einreise, der Öffnung der Integrationskurse in einem ersten Schritt und der
Abschaffung der anlasslosen Widerrufsprüfung setzen wir unsere ersten zentralen
flüchtlingspolitischen Vorhaben um, für die wir Grüne lange gekämpft haben. Das
ist ein Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Es geht um Reformen, die von der Zivilgesellschaft, den Kirchen, Herr
Frei, Gewerkschaften und nicht zuletzt der Wirtschaft seit Jahren als längst
überfällig erachtet wurden. Wer daran noch gezweifelt haben sollte, den muss die
Sachverständigenanhörung zum Chancen-Aufenthaltsrecht vom vergangenen Montag,
liebe Frau Lindholz, nun wirklich eines Besseren belehrt haben.
({1})
Was schaffen wir mit dieser Reform? Wir ziehen die Konsequenz daraus,
dass die bisherigen Bleiberechtsregelungen aus 16 Jahren unionsgeführter
Innenpolitik ins Leere gelaufen sind. Deshalb schaffen wir das
Chancen-Aufenthaltsrecht. Mehr als 137 000 Menschen sollen vom kommenden Jahr an
aus dem System der entwürdigenden Kettenduldung geholt werden und endlich eine
Perspektive in Deutschland bekommen.
({2})
Alle, die seit fünf Jahren geduldet oder gestattet hier leben,
bekommen in dem Chancenjahr einen gesicherten Status, um die Voraussetzungen für
ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen, zu arbeiten, wenn sie bisher keine
Beschäftigungserlaubnis hatten, Sprachkenntnis zu erwerben, wo ihnen bisher der
Zugang zum Integrationskurs verwehrt wurde, und sich Identitätsnachweise zu
besorgen, soweit die Herkunftsländer diese überhaupt ausstellen.
Von was für Menschen sprechen wir, meine Damen und Herren? Beispiele
haben uns und Ihnen allen Flüchtlingsräte, Kirchen, Handwerkskammern,
Handelskammern zugeschickt: der junge Eritreer, der schon fünf Jahre in
Deutschland gelebt, erfolgreich eine Lehre zum Koch abgeschlossen hatte und
dessen Arbeitgeber alles tat, um eine befristete Arbeitserlaubnis zu beschaffen.
Am Ende verhängten die Behörden die unsägliche „Duldung light“, und ihm wurde
eine Beschäftigung dauerhaft verweigert.
({3})
Oder der Afghane, seit sieben Jahren bei uns, erfolgreich die
Ausbildung zum Metallbauer abgeschlossen, von seiner Firma übernommen,
Sozialbeiträge bezahlt, im örtlichen Fußballverein spielend, engagiert in der
Kirchengemeinde:
({4})
Den mündlichen Sprachnachweis packt er, aber nicht den schriftlichen,
weil er Legastheniker ist, belegt durch Atteste und Gutachten. Meine Damen und
Herren, das ist entwürdigend.
({5})
Dagegen helfen keine Dauerparolen der Abgrenzung, der Diffamierung und
der Spaltung, sondern eine Antwort, die Chancen bietet und – letztendlich doch
für uns alle – Perspektiven eröffnet. Daher laden wir Sie herzlich ein,
mitzumachen. Auch in Ihren Wahlkreisen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Union, gibt es unzählige Betriebe, die das alles genauso sehen und Ihnen die
Frage stellen werden, warum Sie diese Reform abgelehnt haben,
({6})
warum die junge Geduldete aus Hannover, als Intensivpflegerin tätig,
abgeschoben werden soll.
({7})
Für die Wirtschaft, den Deutschen Industrie- und Handelskammertag, das
Bündnis aus Unternehmen für ein Bleiberecht aus Baden-Württemberg und auch für
uns ist klar: Ausbildung statt Abschiebung!
({8})
Meine Damen und Herren, die Koalition wird das Chancenjahr nach den
wichtigen Hinweisen aus der Anhörung nun auf 18 Monate verlängern. Die
Verschiebung des Stichtags um zehn Monate wird dazu führen, dass mehr Menschen
von der Regelung profitieren können. Wir werden außerdem mit den Verbesserungen
bei den bestehenden Bleiberechtsregelungen weitere Möglichkeiten für Geduldete
eröffnen. Beim bisherigen Bleiberecht ermöglichen wir für gut integrierte
Jugendliche bereits nach drei Jahren, für Familien nach vier Jahren und für
alleinstehende Erwachsene nach sechs Jahren den Spurwechsel zusätzlich zum
Chancen-Aufenthaltsrecht und einen gesicherten Aufenthaltstitel. Die
Altersgrenze von 21 Jahren – ebenfalls lange gefordert – beim Bleiberecht für
gut Integrierte setzen wir auf 27 Jahre hoch. Auch das ist ein ganz wichtiger
Beitrag, um aus den unsäglichen Kettenduldungen rauszukommen.
({9})
Mit den Änderungen, die wir Ihnen zu diesem Gesetz heute vorlegen,
werden wir auch eine einjährige Vorduldung für Jugendliche und junge Erwachsene
nach dem Bleiberecht für gut Integrierte einführen. Wir halten diese
Vorduldungsfrist für falsch, tragen sie aber als Kompromiss mit.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
FDP, wir sollten aber schon jetzt prüfen, ob nicht alternative Möglichkeiten im
Migrationspaket bestehen. Denn wenn junge Menschen, die sich trotz eines langen
Asylverfahrens gut integriert oder ihren Aufenthaltstitel verloren haben, weil
sie ihren eingeschlagenen Bildungsweg ändern müssen oder mussten, nicht
abgeschoben werden sollen, müssen wir das gesetzlich sicherstellen und nicht
über Härtefallkommissionen heilen.
({10})
Abschließend zwei wichtige Punkte zu den Änderungen im Asylgesetz.
Endlich kommt sie, die gesetzliche Verankerung für eine flächendeckende
behördenunabhängige Asylverfahrensberatung – das wird in jedem Fall zu einer
höheren Qualität der Asylbescheide führen –, und außerdem ist eine
Rechtsberatung vor der Anhörung für uns unglaublich wichtig und auch
europarechtlich geboten.
Last, but not least: Die Praxis der anlasslosen Widerrufsprüfung
positiver Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge war und ist
ebenso unverhältnismäßig wie aufwendig. Beim BAMF wurden unzählige
Personalkapazitäten gebunden, die an anderer Stelle für die Beschleunigung der
Asylverfahren benötigt werden. Die Neuregelung wird zu einer enormen Entlastung
beim BAMF führen.
Am Ende möchte ich mich ganz herzlich beim Innenministerium, heute
stellvertretend bei Herrn Özdemir, und den Kolleginnen und Kollegen für die
guten Beratungen bedanken. Ich empfehle dem Hohen Haus die Zustimmung zu diesen
beiden Gesetzen.
Ich bedanke mich für Ihre und eure Aufmerksamkeit.
({11})
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Bernd Baumann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierung legt heute
zwei Gesetzentwürfe vor und hat einen dritten bereits im Kabinett. Mit diesen
will sie die Einwanderung nach Deutschland noch leichter machen; es soll noch
einfacher werden, einen deutschen Pass zu erhalten. In aktuellen Umfragen lehnen
zwei Drittel der Bevölkerung das ab. Respektieren Sie das! Stoppen Sie diese
Politik!
({0})
Hunderttausende Migranten müssten schon seit Jahren Deutschland
verlassen haben, weil sie ausreisepflichtig sind. Ihre Asylgründe sind endgültig
abgelehnt, weil sie oft nur vorgetäuscht waren. Sie alle will die Ampel jetzt
nicht abschieben; sie will jetzt endgültig alle im Land behalten. Aus Illegalen
sollen Legale werden – was für eine Verhöhnung des Rechtsstaats!
({1})
Schlimmer noch: Zehntausende Beamte mussten jahrelang an den
Asylverfahren arbeiten. Überlastete Richter, Staatsanwälte, Polizisten
verbrachten Millionen Arbeitsstunden damit. Und jetzt kommt die links-gelbe
Regierung und sagt: Interessiert uns alles gar nicht mehr!
({2})
Die Asylanten bleiben alle da. Was für eine Verachtung für die Arbeit
unserer Staatsdiener, meine Damen und Herren!
({3})
Der neue Kabinettsentwurf der Regierung geht ja noch weiter: Ausländer
müssen nicht mehr acht Jahre in Deutschland gelebt haben, bis sie den deutschen
Pass kriegen; künftig reichen fünf Jahre, in vielen Fällen sogar drei. Warum so
kurze Fristen? Weil damit auch die Syrer von 2015 schnell Deutsche werden
können – fast 1 Million –,
({4})
dazu die Hunderttausenden Afghanen, Iraker, Marokkaner, Somalier,
Senegalesen. Alle sollen Deutsche werden – der totale Ausverkauf.
({5})
Das darf doch nicht sein, meine Damen und Herren!
({6})
Um den Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft noch schmackhafter zu
machen, dürfen sie sogar den alten Pass behalten. Doppelstaatlichkeit wird zur
Norm. Auch für Analphabeten gibt es neue Regeln für schnelle Einbürgerung.
Selbst orientalische Heiratsverhältnisse mit zahllosen Ehefrauen sind kein
Hinderungsgrund mehr.
({7})
Sämtliche Gesetze zielen in die gleiche Richtung: Alle dürfen kommen,
alle dürfen bleiben, Deutsche werden. Was für eine schreiende Einladung an die
ganze Welt! Kein anderes Land macht das so, meine Damen und Herren.
({8})
Warum also machen Sie das? Es kämen Fachkräfte, haben Sie gesagt.
Dabei belegen alle Zahlen das Gegenteil:
({9})
Fast 70 Prozent der Syrer leben von Hartz IV, auch sieben Jahre nach
ihrer Ankunft; bei Somaliern, Afghanen oder Ghanaern ist es ähnlich
dramatisch.
Also: Warum machen Sie das? „Humanitäre Gründe“, haben Sie gesagt. Wir
müssten Schutzsuchenden helfen. – Für die Ukrainer ist das richtig; da flüchten
Frauen und Kinder. Aber die meisten Migranten der letzten Jahre kamen aus dem
Orient und Afrika, vorwiegend junge Männer.
({10})
Selbst EU-Kommissarin Johansson gibt jetzt zu: Die große Mehrheit
braucht keinen Schutz; sie kommt aus wirtschaftlichen Gründen, wie zum Beispiel
Faisal S., der jüngst in der Presse sagte: Ich kam in zehn Tagen von Damaskus
nach Dresden für 6 500 Dollar. – Wörtlich sagt er weiter: „Jeder will jetzt nach
Deutschland – wenn er das Geld“ – für die Schlepper – „aufbringen kann.“ Solche
Leute kommen nach Deutschland.
({11})
Es sind allzu oft keine humanitären Gründe. Es kommen in der Masse
weder Fachkräfte noch Schutzbedürftige.
({12})
Aber die Ampelregierung öffnet weiter die Schleusen, gegen den Willen
der Deutschen: 80 Prozent fordern besseren Grenzschutz. Gehen Sie darauf ein!
Respektieren Sie das!
({13})
Es bleibt die bohrende Frage: Warum machen Sie das? Schon als
Abgeordneter im Landesparlament in Hamburg habe ich mich gewundert, als eine
Grünenabgeordnete davon redete, dass in einigen Jahren die Deutschen im eigenen
Land in der Minderheit sein werden.
({14})
Und sie ergänzte wörtlich: Das ist gut so.
Frau Göring-Eckardt, langjährige Fraktionsvorsitzende der Grünen hier
im Bundestag, sagte während der Flüchtlingsströme 2015 – ich zitiere –:
Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Ich freue mich
darauf.
({15})
Und die Chefin der Grünen Jugend spricht von einer – ich zitiere –
„ekligen weißen Mehrheitsgesellschaft“, die sie nicht mehr will.
({16})
Allein seit 2014 kamen über 8 Millionen Ausländer nach Deutschland.
Die Linken und Grünen freuen sich darüber; für sie wird hier ein Großprojekt
umgesetzt, das sie herbeisehn: eine Transformation hin zu einer ganz anderen
Republik, die alles aufzulösen droht, was wir „unsere Heimat“ nennen, meine
Damen und Herren.
({17})
Diese Transformation ist radikaler, als es sich die meisten Bürger
überhaupt vorstellen können, und von ihr gibt es, wenn sie weitergeht, kein
Zurück mehr. Es ist die Ideologie einer anonymen, diversen Weltgesellschaft,
eine linke Utopie, eine Heilsvorstellung, deren Schlagworte lauten: „No
borders“ – keine Grenzen mehr –, „No nation“ – keine Nationen mehr, vor allem
keine Deutsche –, „One World“ mit mehr Diversity, also divers.
({18})
Alles mit allem vermengt, grenzenlos bunt, gemischt, alles erreicht
durch Grenzöffnung, Migration und anschließende Quoten, Zwangsquoten. Wir wollen
diese große Umgestaltung nicht, dieses linke Hirngespinst. Das wollen wir nicht,
und das darf es in Deutschland auch nicht geben, meine Damen und Herren.
({19})
Dieses links-grüne Experiment einer Regenbogenweltgesellschaft geht
auch noch einher mit Sprechverboten, mit Cancel Culture gegen alle Kritiker,
mittlerweile mit Verbündeten in allen gesellschaftlichen Organisationen: in
Kirchen und Schulen, in Printmedien und den Öffentlich-Rechtlichen, in Parteien
und Parlamenten, und jetzt auch noch im Sport. Die deutsche Nationalmannschaft
ist mit stundenlangen Diskussionen um einen Regenbogen am Oberarm zugrunde
gegangen. Wir wollen nicht, dass auch noch die deutsche Nation zugrunde geht,
meine Damen und Herren!
({20})
Zwei Drittel aller Menschen in Deutschland sagen, sie trauen sich
nicht mehr, offen ihre Meinung zu sagen. Uniprofessoren schreien auf, weil sie
nicht mehr frei forschen können. Schauspieler und Literaten werden öffentlich
bedrängt, sie sollen Haltung zeigen, im Sinne der Ideologie. Und über alldem
weht dann die Regenbogenflagge.
({21})
Die steht eben nicht für Rechtsstaat, die steht nicht für Freiheit und
Menschenrechte. Sie ist das linke Symbol einer diversen, bunten
Zwangsgesellschaft. Für die historisch erkämpfte Freiheit in der deutschen
Geschichte stehen nicht die Farben des linken Regenbogens; dafür stehen Schwarz,
Rot, Gold. Das sind die Farben von Freiheit und Demokratie. Das sind unsere
Farben, meine Damen und Herren!
({22})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Dr. Baumann hat nun wirklich ein extrem selektives,
düsteres, schwarzmalerisches Bild von der Wirklichkeit gemalt.
({0})
Aber alle Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wie
ist denn die Wirklichkeit bei uns? Deutschland ist ein Land, in das ungeheuer
viele Menschen kommen, weil sie hier ein besseres Leben führen wollen, weil sie
Hilfe und Schutz vor Gewalt, Krieg und Bürgerkrieg suchen. Deswegen müssen wir
uns in zweifacher Hinsicht ehrlich machen: Wirklichkeit eins ist: Deutschland
ist ein Einwanderungsland.
({1})
Seit Jahrhunderten ist Deutschland ein Einwanderungsland. Das haben
nur viele in den letzten Jahrzehnten nicht so richtig wahrhaben wollen, obwohl
die Gastarbeiter der Nachkriegsjahre einen enormen Anteil hatten am Aufbau des
deutschen Wirtschaftswunders. Jetzt sind wir wieder in einer Situation, wo viele
Arbeitgeber händeringend nach Arbeitskräften suchen. Wenn man sich mit
Unternehmern unterhält, dann werden immer zwei Sorgen adressiert, die die
Unternehmen in ihrem Fortkommen und ihrem Bestand bedrohen: Das sind aktuell die
hohen Energiepreise. Das sind aber seit langer Zeit – die Lage verschärft sich
zunehmend – die fehlenden Arbeitskräfte.
({2})
Deswegen müssen wir lernen, Einwanderung als Chance zu verstehen, aber
auch als Notwendigkeit. Das ist die eine Wahrheit.
Und die zweite Wahrheit ist: Ja, nicht alle Menschen, die bei uns Asyl
beantragen, haben auch einen validen Asylgrund, und nicht alle, die gerne bei
uns arbeiten möchten, bringen dafür auch die notwendigen Voraussetzungen mit.
Deswegen müssen wir auf diese beiden Wahrheiten auch auf zweierlei Weise
reagieren: Wir brauchen eine wirksame Migrationskontrolle; wir brauchen aber
auch eine bessere Integrationsförderung bei uns im Land.
({3})
Das ist kluge Migrationspolitik: beides im Blick zu behalten. Deswegen
legen wir heute zwei Gesetzentwürfe vor, die auf diese beiden Aspekte
abzielen.
({4})
Das Erste ist, dass die Asylgerichtsverfahren bei uns viel zu lange
dauern. Sie dauern im Bundesschnitt über 26 Monate. Das ist zu lang. Das müssen
wir beschleunigen, natürlich mit der Behutsamkeit, die wir immer brauchen, wenn
wir rechtsstaatliche Grundsätze nicht über Bord werfen wollen. Deswegen gehen
wir vorsichtig und behutsam vor, versuchen, an verschiedenen Stellen
beschleunigende Schritte zu ergreifen. Wir wissen natürlich genau, dass es nicht
den einen Knopf gibt, mit dem man den Turbo einschalten kann. Wir gehen behutsam
und vorsichtig und doch wirksam vor.
Wir entlasten auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; denn
wir sehen künftig davon ab, dass jeder Asylbescheid regelmäßig wieder überprüft
werden soll. Das bindet beim BAMF enorme Personalressourcen und führt nur in
etwa 5 Prozent der Fälle tatsächlich zu einer Korrektur der Asylbescheide. Das
ist ineffizient. Deswegen wollen wir künftig eine Asylprüfung nur noch
anlassbezogen vornehmen lassen.
Ja, ich weiß. Die einen sehen die Verlängerung der Abschiebehaft sehr
kritisch. Und die anderen sehen die staatliche Förderung einer
behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung sehr kritisch. Aber bei der
Abschiebehaft treten wir nur an Straftäter heran und klammern die Minderjährigen
aus. Und bei der Asylverfahrensberatung haben wir uns das Modell der Schweiz vor
Augen gehalten, wo auch eine Trennung von Beratung und Entscheidung vorgenommen
wird, und das mit viel Erfolg. Und keine Angst, es wird Standards geben, wie
diese Beratung ausgestaltet sein muss. Das ist der eine Gesetzentwurf.
({5})
Der zweite Gesetzentwurf betrifft den Chancen-Aufenthalt. Wir müssen
bei der Integration der Menschen endlich mehr in die Offensive gehen. Über
130 000 Menschen in Deutschland sind seit über fünf Jahren geduldet, können aber
nicht abgeschoben werden, bekommen aber auch keinen Aufenthaltstitel und hängen
im Sozialsystem fest, anstatt in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Da
müssen wir doch vorankommen. Wir dürfen nicht dauernd versuchen, die Falschen
abzuschieben. Wir müssen diejenigen, die sich integrieren wollen, integriert
sind und auch arbeiten wollen, doch arbeiten lassen. Das ist doch ein
Widerspruch: einerseits über Arbeitskräftemangel zu klagen, andererseits aber
diejenigen, die bei uns arbeiten wollen, daran zu hindern, ihnen Steine in den
Weg zu legen.
({6})
Deswegen ist unser Chancen-Aufenthaltsrecht ein wichtiger Baustein. Es
richtet sich an Menschen, die über fünf Jahre hier sind, gut integriert sind und
die Sprache beherrschen, straffrei sind, deren Identität geklärt ist. Der
Gesetzentwurf richtet sich vor allem nur an Vorgänge in der Vergangenheit. Für
die Zukunft wollen wir eine neue Regelung zur Fachkräfteeinwanderung
durchsetzen. Dafür ist in dieser Woche auch ein Eckpunktepapier im Kabinett
beschlossen worden.
Insofern beinhaltet unser Migrationspaket beides: Es schafft
Verbesserungen bei der Migrationskontrolle und Verbesserungen bei der
Integrationsförderung. Das ist ein Beispiel für kluge Migrationspolitik, meine
Damen und Herren.
({7})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Clara Bünger.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stimmen heute über die ersten beiden Asylpakete der Ampelkoalition ab. Beide
sind aus meiner Sicht eine Riesenenttäuschung. Der Gesetzentwurf zum
Chancen-Aufenthaltsrecht schafft nicht wirklich Chancen für die, die sie
bräuchten, und das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz keine Beschleunigung. Ich
weiß auch, dass Sie sich in der Koalition nicht immer einig waren und dass die
FDP teilweise blockiert hat. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Mit uns hätte es
das nicht gegeben.
({0})
Aber nun zurück zum Thema. Der Gesetzentwurf zum
Chancen-Aufenthaltsrecht beinhaltet immer noch viel zu hohe Hürden, um
Kettenduldungen, wie eigentlich versprochen, wirksam zu beenden. Sogar nach
Ihren eigenen Berechnungen werden nur rund 34 000 Personen die Anforderungen
erfüllen. Gegenüber den 240 000 geduldeten Menschen, die in Deutschland leben,
ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
({1})
Die wesentlichen Kritikpunkte von Verbänden und NGOs hat die Koalition
vollkommen ignoriert. So wurde die Identitätsklärung per eidesstattlicher
Versicherung nicht mit geregelt, wodurch weiterhin Menschen ausgeschlossen
werden, die schlicht keine Pässe besorgen können. Frau Lindholz, es gibt
Menschen, die können diese Pässe einfach nicht besorgen; Sie kennen die Realität
einfach nicht.
({2})
– Nein. – Auch der Stichtag wurde lediglich um ein Dreivierteljahr
verschoben, statt gänzlich abgeschafft. Da hätten wir uns mehr gewünscht. Das
ist aus unserer Sicht Ausdruck einer Politik, die nur Zwischenlösungen
schafft.
Helge Lindh hat gesagt, das Chancen-Aufenthaltsrecht sei Ausdruck von
Vernunft und Pragmatismus. Wenn Sie wirklich vernünftig und pragmatisch gewesen
wären, hätte die Koalition unserem Gesetzentwurf für ein Bleiberecht vor der
Sommerpause zugestimmt.
({3})
Dann hätte es die vielen Abschiebungen bis jetzt nicht gegeben.
Zum Gesetzentwurf zum Asylgerichtsverfahren sage ich Ihnen als
Juristin ganz ehrlich: Das ist eine richtige Katastrophe. Im Koalitionsvertrag
wurden faire, zügige und rechtssichere Asylverfahren versprochen. Stattdessen
liefert die Ampel jetzt eine Ausweitung und Manifestation des Sonderrechts im
Asylbereich. Viele wissen gar nicht, dass die Rechte von Geflüchteten in
Deutschland schon maximal eingeschränkt sind. Und das setzt die Bundesregierung
jetzt fort; Frau Polat hat das auch eingesehen. Ich wünsche mir, dass Sie da
wirklich noch einmal nacharbeiten.
Ich möchte dazu ein Beispiel nennen, das auch Herr Rechtsanwalt Münch,
der als Sachverständiger für den Deutschen Anwaltverein am Montag in der
Anhörung war, genannt hat: Wird beispielsweise ein Auto abgeschleppt, steht den
Besitzern, bzw. Besitzerinnen der komplette Instanzenzug offen. Im
Asylverfahren, wo es um Leben und Tod geht, sind die Rechtsmittel dagegen
eingeschränkt und Klagefristen verkürzt. Herr Münch nannte Ihren Gesetzentwurf
einen experimentellen Ausbau dieses Sonderrechts gegenüber Geflüchteten. Ich
möchte an dieser Stelle ergänzen: Diese Ungleichbehandlung per Gesetz ist das
Gegenteil von einem Paradigmenwechsel.
({4})
Dabei wäre doch die Abschaffung dieses Sonderrechts gegenüber
Geflüchteten der erste und ein wichtiger Schritt für eine Gleichberechtigung.
Das haben auch viele Sachverständige bestätigt.
Ein regelrechter Tabubruch hingegen ist die Ermöglichung von
Anhörungen im Asylverfahren mit Videotechnik. Die Anhörung ist das Kernstück des
Asylverfahrens. Dort müssen Geflüchtete von ihrem Schicksal und häufig
traumatisierenden Erlebnissen und Gewalterfahrungen berichten. Das ist über eine
Kamera einfach nicht möglich, weil es keine vertrauensvolle Atmosphäre gibt.
({5})
Außerdem sehe ich die Gefahr, dass Sie hier eine Technik einführen,
die am Ende in Schnellverfahren in Haftzentren an den EU-Außengrenzen zum
Einsatz kommt, womit das Leid dort noch vergrößert wird. Diese Verschärfung
lehnen wir natürlich ab. Und beim Chancen-Aufenthaltsrecht müssen wir uns aus
den genannten Gründen enthalten.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Gülistan Yüksel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf den
Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche mir, dass wir
zusammenhalten, einander wertschätzen und respektieren.
({0})
Diese Worte stammen von einer Schülerin aus meinem Wahlkreis, die für
ihr beeindruckendes Engagement, für ihren Einsatz für Integration in unserer
Stadt geehrt wurde. 2015 floh sie als Dreizehnjährige mit ihrer Mutter und ihren
Geschwistern aus Syrien, fand bei uns ein neues Zuhause und engagiert sich auch
heute für Menschen, die Hilfe benötigen. Ich finde, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dieser Wunsch nach Zusammenhalt, Wertschätzung und Respekt sollte auch
uns leiten, wenn wir hier über Migration und Integration debattieren.
({1})
Einen ersten Schritt gehen wir heute mit den beiden vorliegenden
Gesetzentwürfen. Zum einen beschleunigen wir die derzeit langen
Asylgerichtsverfahren und vereinheitlichen die Rechtsprechung. Zum anderen
setzen wir den Kettenduldungen das Chancen-Aufenthaltsrecht entgegen. Wir geben
Menschen, die bei uns ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben und seit vielen
Jahren hier leben, so eine aufenthaltsrechtliche Perspektive. Für die
Betroffenen bedeutet beides mehr Wertschätzung und Respekt und für die
Gesellschaft mehr Zusammenhalt.
({2})
Damit eine Gesellschaft zusammenhält, müssen wir auch Integration
ermöglichen – von Anfang an. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem
Chancen-Aufenthaltsrecht mehr Menschen den Zugang zu Integrationskursen und
Berufssprachkursen ermöglichen. Auch das zeigt Wertschätzung und Respekt.
({3})
Nicht zuletzt wird Deutschland ganz konkret davon profitieren; denn
wir brauchen Menschen, die bei uns leben, die sich hier engagieren und arbeiten
wollen. Wir können es uns nicht leisten, auf Fach- und Arbeitskräfte zu
verzichten – schon gar nicht auf die Arbeitskraft derer, die schon bei uns sind.
Deshalb ist es gut, dass wir bewährte Regelungen aus dem
Fachkräfteeinwanderungsgesetz entfristen und dass Fachkräften nachziehende
Familienangehörige künftig keinen Sprachnachweis mehr erbringen müssen.
({4})
Es sollte jedem klar sein: Die Sprache eines Landes lernt man am
einfachsten vor Ort und nicht, wenn man zum Teil Hunderte Kilometer zum
Prüfungsort braucht oder Deutschsprachkurse gar nicht erst im Angebot sind.
({5})
Deshalb kann das Chancen-Aufenthaltsrecht an dieser Stelle nur ein
erster Schritt sein.
({6})
Seit Jahren erreichen mich Zuschriften von Menschen, die aufgrund des
Sprachnachweises von ihrem Ehepartner oder ihrer Ehepartnerin getrennt leben
müssen, und das teilweise jahrelang.
({7})
Ich glaube, niemand hier im Raum möchte das selbst durchleben. Darum,
sehr geehrte Damen und Herren, werden wir in unserem nächsten Gesetzespaket die
Regelungen zum Sprachnachweis beim Ehegattennachzug grundsätzlich ändern und
diesen erleichtern.
({8})
Zum Ende möchte ich mich noch kurz an die Kolleginnen und Kollegen der
Union wenden. Frau Lindholz, ich sehe, Sie können das gar nicht ertragen, wenn
wir hier vorne über Integration und Migration reden.
({9})
– Okay.
({10})
Dass Sie sich den Realitäten in diesem Land verweigern, ist nichts
Neues; das haben wir ja auch gestern bei der Debatte zum
Staatsangehörigkeitsrecht gesehen. Aber es ist einfach unerträglich, wie Sie
dies immer wieder auf dem Rücken derjenigen austragen, die besonders
Unterstützung und Hilfe benötigen,
({11})
seien es Beziehende von Bürgergeld – das haben wir gesehen – oder wie
hier Menschen mit Migrationsgeschichte.
({12})
Aber anstatt wie Sie den Kopf in den Sand zu stecken, erkennen wir als
Ampel die Realitäten. Wir gehen voran.
({13})
Das ist gut für unser Land, und das ist gut für die Menschen, die hier
leben. Sie können entweder weiter Sandkörner zählen, oder Sie arbeiten mit
daran, dass wir in einem Land leben, in dem die Menschen zusammenhalten,
einander wertschätzen und respektieren. Ich würde mir Letzteres wünschen.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Silke Launert.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Neustart in der Migrationspolitik, modernes
Einwanderungsrecht,
({0})
Integrationspolitik der Zukunft – das sind wirklich sehr schöne Worte,
mit denen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampelregierung, das
Chancen-Aufenthaltsrecht bezeichnen.
({1})
Aber es geht nicht darum, ob etwas modern, toll, neu, schön formuliert
ist.
({2})
Es geht bei der Migrationspolitik darum, ob sie von
Verantwortungsbewusstsein und Weitblick geleitet ist,
({3})
ob die Folgen analysiert wurden, und zwar nicht nur die unmittelbaren
Jetztfolgen, sondern auch die für die nächsten Jahre, mit all den damit
zusammenhängenden Aspekten wie Wohnungssituation, den Kosten usw. Das gilt auch
für die Folgen für die Wirtschaft. Alles muss genau analysiert werden, und diese
ausreichende Prüfung habe ich bei diesem Gesetzentwurf nicht ansatzweise
feststellen können.
({4})
Wir reden hier nicht über die Fachkräfteeinwanderung; dazu haben Sie
ja einen eigenen Entwurf. Wir reden hier nicht über das
Staatsbürgerschaftsrecht; dazu hatten wir gestern schon eine Debatte. Wir reden
über die, die aus der ganzen Welt zu uns kommen, verständlicherweise eine Chance
wollen, „Asyl“ sagen, allerdings abgelehnt werden und abschoben werden
müssen.
({5})
Über die reden wir. Für diese Gruppe ist der zukünftige § 104c
Aufenthaltsgesetz letztlich nichts anderes als ein Amnestiegesetz. Er sagt ganz
klar: Die Rechtsuntreuen, die ihre Identität lange verschleiert haben, zum Teil
sogar getäuscht haben, die profitieren.
({6})
Das wurde in der Anhörung thematisiert. Schade, dass Sie nicht in der
Anhörung waren. Der Sachverständige hat ganz klar ausführt, wer von § 104c
profitiert:
({7})
die, die getäuscht haben und/oder lange nicht aktiv mitgewirkt
haben;
({8})
denn für die anderen gibt es schon ganz viel. Die SPD hat alles
vergessen, was sie in den letzten Legislaturperioden gemacht hat. Ein Beispiel
ist die Ausbildungs- bzw. Beschäftigungsduldung. Wir haben § 25 Absatz 5
Aufenthaltsgesetz. Nach 18 Monaten Duldung und wenn jemand nichts dafür kann,
dass er nicht abgeschoben wird, bekommt er eine Aufenthaltserlaubnis. Es gibt
schon mehr, als man glaubt.
Lassen Sie mich kurz das Bundesverfassungsgericht zitieren:
Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht Prämien auf die
Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur
Rechtsverletzung,
({9})
diskriminiert rechtstreues Verhalten … und untergräbt damit die
Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit.
Kurz: Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein. Auch diese Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts müssen Sie beachten. Wir müssen irgendwo glaubwürdig
bleiben, obwohl wir auch viele Chancen geben wollen.
({10})
Die weitreichendsten Folgen – das wurde auch in der Anhörung
deutlich – ergeben sich allerdings aufgrund der Änderungen in den §§ 25a und
25b. Ich kann die vielen Beispielfälle über die „Alles super toll“-Integrierten
nicht mehr hören.
({11})
Die können übrigens meistens schon bleiben. Für die sind wir
dankbar.
({12})
Sie haben recht: Unser Arbeitsmarkt braucht sie. Aber die §§ 25a und
25b sagen genau das nicht. Da hätte ich mir von der FDP wahrlich mehr
erwartet.
({13})
In der Anhörung waren die Voraussetzungen ganz klar: drei Jahre hier
und bis zum Alter von 27. Als Heranwachsende zählen dieser Ampel hier plötzlich
alle bis 27, im Strafrecht bis 21, wählen darf man ab 16. Aber die, die alle
kommen, dürfen bis 27 bleiben.
({14})
„Drei Jahre zur Schule“ ist Ihnen um die Ohren geflogen. In der
Anhörung haben Sie versucht, es etwas abzuschwächen mit der zwölfmonatigen
Vorduldung; das ändert aber nichts.
({15})
Aufenthaltsrecht nach drei Jahren Schule! Sie wissen alle, wie lange
das Verfahren dauert. Zusammen mit „zwölf Monate nicht abgeschoben“ heißt das:
Nach drei Jahren dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Wenn das keine
Signalwirkung hat!
({16})
Dann haben wir noch § 25b. Da haben Sie auf diese zwölf Monate
Vorduldung gleich ganz verzichtet. Es reichen also mit Kind vier Jahre in
Deutschland.
({17})
Wenn sie es dann schaffen, das Sprachniveau A2 und einen 600-Euro-Job
zu haben: dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland.
({18})
Das sind Signale! Das muss man doch sehen!
({19})
Das wird Auswirkungen haben, und das gerade in der aktuellen Zeit, wo
die Bürgermeister und Landräte nicht wissen, wie sie die Asylsuchenden
unterbringen sollen.
({20})
Verantwortung heißt: Humanität, aber auch mit den Ressourcen
vernünftig umgehen. Wir wollen denen helfen, die wirklich Hilfe brauchen, aber
wir können nicht die ganze Welt einladen.
({21})
Schöne Worte, hört sich toll an, Marketing perfekt – aber im Ergebnis
ist es nicht gut geworden.
({22})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katrin
Göring-Eckardt.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, ich mute Ihnen auch noch
einen Einzelfall zu,
({0})
Samuel D. nämlich.
({1})
Er lebt seit zwölf Jahren in Deutschland, er arbeitete jahrelang für
die DHL und stand auf eigenen Beinen. Als er aus seinem Herkunftsland Äthiopien
endlich einen Pass bekam, endete sein Alltag abrupt.
({2})
Statt die in Aussicht gestellte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen,
verbot ihm die bayerische Ausländerbehörde, weiterzuarbeiten, und entzog ihm
seine Duldung. Jetzt droht ihm die Abschiebung.
({3})
– Lächerliche Einzelfälle? Meine Damen und Herren, Herr Baumann, das
ist ein Mensch, der in unserem Land lebt, der hier gearbeitet hat.
({4})
Das ist nicht lächerlich.
Dieser Samuel D. hat übrigens auch leider deswegen Pech gehabt, weil
er in Bayern lebt. Ein paar Kilometer weiter, nämlich in Thüringen, hat man
Anfang des Jahres entschieden, dass man auf das Chancen-Aufenthaltsrecht wartet,
und hätte ihm ermöglicht, weiter hier bei uns zu arbeiten und auf eigenen Beinen
zu stehen.
({5})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem
Chancen-Aufenthaltsrecht entscheiden wir uns für die Wirklichkeit. Und ja, das
ist ein Signal, so wie beim Staatsbürgerschaftsrecht. Wir passen die Gesetze an
die Einwanderungsgesellschaft an. Darum geht es: anzukommen im Hier und Heute.
Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben gerade in diesen letzten Wochen
das Gegenteil versucht. Sie haben nach dem Motto „Was wir in den 1980er-,
1990er- und 2000er-Jahren falsch gemacht haben, das machen wir jetzt noch mal
falsch“ gehandelt, aber aus „ein paarmal falsch“ wird nicht richtig, sondern es
bleibt falsch. Was wir brauchen, ist ein Einwanderungsrecht, ein Asylrecht und
ein Chancen-Aufenthaltsrecht, das der Wirklichkeit, dem Hier und Heute in
unserem Land gerecht wird, meinen Damen und Herren.
({6})
Vielleicht glauben Sie ja, dass Sie damit die Identitätskrise in den
eigenen Reihen irgendwie bewältigen können. Aber es geht doch hier um unser
Land. Die eigenen Leute sagen Ihnen: Der Kaiser ist gerade nackt. – Deswegen
brauchen wir klare und deutliche Antworten; deswegen brauchen wir Antworten, die
wirtschaftlich vernünftig sind. Das haben gestern und heute schon viele gesagt.
Und ich verstehe nicht, auch heute Morgen noch nicht, wie Sie die ganze Zeit
Signale nach dem Motto „Das ist uns egal, was die Unternehmen sagen; es ist uns
egal, was die Unternehmen brauchen“ aussenden können.
({7})
Mir könnte es egal sein, dass Sie das sagen. Aber ehrlich gesagt: Sie
arbeiten daran, dass nicht nur der Ruf Deutschlands in der Welt
({8})
bei all denen, die überlegen, nach Deutschland zu gehen und dort ihr
Glück zu versuchen, und die wir brauchen, beschädigt wird, sondern dass die
Leute sagen: Nee, dann gehen wir lieber woandershin;
({9})
woanders sind wir willkommen, woanders können wir arbeiten, woanders
können wir zum Wohlstand beitragen.
({10})
Das ist das Problem, das Sie haben, aber das Sie auch diesem Land
machen, meine Damen und Herren.
({11})
Frau Göring-Eckardt, lassen Sie eine Frage aus der AfD-Fraktion von
Frau von Storch zu?
Ich glaube, lieber nicht. Nein.
({0})
Es gibt noch einen zweiten Punkt, der mich noch mehr verwundert. Es
handelt sich um Menschen, die sich für unser Land entschieden haben. Sie finden
es gut hier. Die finden gut, was wir hier machen. Deswegen sagen sie: Wir wollen
Teil davon sein. Wir wollen Teil des demokratischen Gemeinwesens sein. – Sie
arbeiten hier ehrenamtlich und kümmern sich um andere. Das sind Leute, die
tragen zum Wohlstand unseres Landes bei. Denen sollten wir doch als Land das
Signal aussenden: „Ja, herzlich willkommen und vielen Dank, dass ihr zu unserem
Wohlstand beitragen wollt“, statt zu sagen: „Ach nee, eigentlich lieber nicht“.
Und genau das machen wir mit dem Gesetz heute und hier, meine Damen und
Herren.
({1})
Zwei von drei Unternehmen sagen: Ja, es ist gut, dass wir Geflüchtete
beschäftigen. Ja, das führt zu einem positiven Betriebsklima. Das sind Leute,
die sich mehr anstrengen als viele andere. – Deswegen, anders als viele
Kritikerinnen und Kritiker behaupten, sei auch noch mal klar gesagt: Es geht
nicht darum, dass Leute jahrelang abwarten, sondern darum, dass die Motivation
steigt, hier Dinge zu tun. Die geflüchteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
stehen bei den Unternehmen verdammt hoch im Kurs.
Beim Chancen-Aufenthaltsrecht geht es um pragmatische und zeitgemäße
Lösungen. Und es geht darum, wie wir den Menschen entgegentreten, die sich hier
etwas aufbauen wollen, die hier gemeinsam mit uns etwas aufbauen wollen. Die
Frage ist: Machen wir es ihnen schwer, oder haben wir das gleiche Ziel vor
Augen, nämlich Deutschland gemeinsam zu einem Chancenland zu machen? Wir
entscheiden uns dafür, dass wir ein Land der Chancen sein wollen. Ich sage: Die
Einladung steht. Das heute ist erst der Anfang. Die Einladung an Sie steht,
meine Damen und Herren. Nach gestern Abend muss man vielleicht sagen: Lassen Sie
uns doch lieber Weltmeister der Chancen werden. Dieses Land und seine Menschen
haben es verdient.
({2})
Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Robert Farle.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Immer
mehr Menschen leben in Deutschland. Seit 2014 aber viel weniger Deutsche und
viel mehr Ausländer“, so die „Bild“-Zeitung vom 30. November 2022.
({0})
Nach offiziellen Angaben leben derzeit 12,8 Millionen Ausländer bei
uns.
({1})
2015 wanderten circa doppelt so viele bei uns ein, wie neue Kinder
geboren wurden. In westdeutschen Großstädten sind junge Deutsche bereits in der
Minderheit.
({2})
Kein Wunder, dass das Bildungsniveau Jahr für Jahr beständig
absinkt.
({3})
– Weil sie noch nicht einmal Deutsch können. – Fazit: Der
kontinuierliche Multikulti-Bevölkerungsaustausch ist Tatsache, und er ist kein
Zufall.
({4})
Das ist die praktische Umsetzung des Migrationspaktes der Agenda 2030,
die von allen Regierungsparteien konsequent gemacht wird. Ziel dieser Agenda ist
ein globaler Arbeitsmarkt. Dazu sollen traditionelle Gesellschaftsstrukturen in
unserem Land beseitigt werden. Ich mache niemandem einen Vorwurf, kein Patriot
zu sein oder wie Robert Habeck Vaterlandsliebe – Zitat – „zum Kotzen zu finden“.
Aber man muss den Selbstbetrug beenden und damit Schluss machen, den Wählern den
Bevölkerungsaustausch mit Begriffen wie „Bereicherung“, „Integration“ oder
„Fachkräftezuwanderung“ schmackhaft zu machen.
Erstens können sich Mehrheiten nicht in Minderheiten integrieren.
Zweitens werden wir dadurch nicht bereichert, sondern verarmen insgesamt, weil
der Großteil der zu uns strömenden geringer Qualifizierten dauerhaft in der
sozialen Hängematte verbleibt. Die arbeiten nämlich überwiegend nicht.
({5})
Und drittens machen hochqualifizierte Fachkräfte um unser Land einen
großen Bogen, genau aus demselben Grund, weshalb jährlich immer mehr gut
ausgebildete Deutsche auswandern. Sie haben keine Lust, sich für die dümmste
Energie- und Einwanderungspolitik der Welt über die hohen Steuern und
Sozialabgaben ausplündern zu lassen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ihre Vorhaben sind verfassungswidrig. Sie schaffen sich ein neues
Staatsvolk, nur um ein paar mehr Wählerstimmen zu bekommen,
({0})
weil Sie fürchten, abgewählt zu werden, was die logische Konsequenz
Ihrer Politik ist.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Muhanad Al-Halak.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben im Aufenthaltsrecht mit den Kettenduldungen ein
Durcheinander geerbt, das dringend geordnet werden musste.
({0})
Es ist doch absurd, dass Menschen, die länger als fünf Jahre bei uns
geduldet werden, vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, und das, obwohl sie
arbeiten können und wollen.
({1})
Währenddessen sucht die Wirtschaft händeringend Mitarbeiter und
Auszubildende, und der Staat, wir alle haben kein Interesse daran, diese
Menschen im Transferleistungsbezug zu halten. Das Chancen-Aufenthaltsrecht gibt
mehr als 130 000 Menschen in diesem Land eine Zukunft und eine Perspektive,
meine Damen und Herren.
({2})
Wir sagen klar: Wenn jemand zum Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf
Jahren oder länger hier in Deutschland geduldet ist, wenn er straffrei ist, dann
hat er jetzt drei Jahre Zeit, um den Chancen-Aufenthalt zu beantragen. Dann
geben wir diesen Menschen 18 Monate lang die Chance, um die Kriterien für einen
Aufenthaltstitel zu erfüllen. Das bedeutet: Identität nachweisen. Das bedeutet:
Sprache lernen. Das bedeutet: Job finden. Das bedeutet selbstverständlich auch:
„sauber bleiben“.
({3})
Aber wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann sind diese Menschen
hier willkommen, dann sollen sie raus aus dem Aufenthaltslimbo und einen
Aufenthaltstitel bekommen, dann sollen sie hier verlässlich ihr Leben gestalten
und planen können. Kurz, wir sagen: Strengt euch an, dann lohnt es sich auch!
Und das ist der richtige Weg, das ist das richtige Angebot, meine Damen und
Herren.
({4})
Aber dazu gehört genauso klar das Signal: Straftäter, Gefährder,
Menschen, die bewusst täuschen und tricksen, müssen verlässlich ausreisen.
Menschen, die unser Grundgesetz nicht achten oder sogar verachten, haben bei uns
keinen Platz – und auch keinen Chancen-Aufenthalt.
({5})
Deswegen ist es auch richtig, dass wir zum Beispiel die Dauer der
Abschiebehaft verlängern. So ermöglichen wir Abschiebungen konsequenter als
vorher. Das sorgt erstens für Akzeptanz bei den Menschen im Land, die zu Recht
erwarten, dass wir für Sicherheit sorgen und Recht auch durchsetzen. Das sorgt
zweitens aber auch dafür, dass die große Mehrheit der ehrlichen geduldeten
Menschen sieht: Die halten Wort. Und das tun wir, wir halten Wort, bei den
Ausreisen wie bei der ausgestreckten Hand.
({6})
Und noch an die Damen und Herren von der Union: Für mich als Mitbürger
mit Migrationsvordergrund – Sie wissen ja, ich komme aus Niederbayern –
({7})
ist dieses Gesetz ebenso wie das Gesetz zur Beschleunigung der
Asylverfahren der Beginn einer aufmunternden Antwort an den ehemaligen
Innenminister Horst Seehofer, der die Migration als Mutter alle Probleme
bezeichnet hatte. Meine Antwort lautet: Wenn ein Junge wie ich aus dem Irak
hierherkommen und sich integrieren kann und dann heute als Bürger dieses Landes,
das ich meine Heimat nenne, hier stehen kann, dann ist das kein Problem, meine
Damen und Herren.
({8})
Aber was ich dafür brauchte, waren Chancen. Und diese Chance hier und
heute so vielen anderen zu ermöglichen, das macht mich stolz, sehr stolz.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Throm.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland erbringt wahrlich seit Jahren eine große humanitäre Leistung bei der
Aufnahme von Schutzberechtigten. Das zeigt sich gerade auch in diesem Jahr.
Darauf können wir alle zu Recht stolz sein.
({0})
Es galt aber immer auch: Wer keinen Schutz braucht, der hat in letzter
Konsequenz unser Land wieder zu verlassen.
({1})
Das ist die Balance zwischen Humanität auf der einen und Ordnung auf
der anderen Seite.
({2})
Dabei gab es bisher schon viele Möglichkeiten für Ausreisepflichtige,
wenn sie rechtstreu waren, wenn sie Integrationsbereitschaft gezeigt haben, wenn
sie insbesondere auch gearbeitet haben, hier ein Daueraufenthaltsrecht zu
erhalten.
({3})
Nun reduzieren Sie von der Ampel, Frau Kollegin Göring-Eckardt, die
Anforderungen an diese Integrationsvoraussetzungen. Damit bringen Sie die
Balance in unserem System zwischen Humanität und Ordnung in Schieflage.
({4})
Denn erstmals in der Geschichte wird Personen ohne geklärte Identität
ein Aufenthaltsrecht gewährt.
({5})
Die Klärung der eigenen Identität ist aber das Mindeste, was wir von
Menschen erwarten können, wenn sie hier bei uns bleiben wollen.
({6})
Und das machen Sie deshalb, weil nur diese Personengruppe von
Geduldeten Ihr sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht überhaupt braucht; sie
braucht nämlich den Abschiebeschutz von einem Jahr bzw. jetzt eineinhalb Jahren,
um ihre Identität offenbaren zu können. Und – oh Wunder – sofern sie den
Abschiebeschutz über das Chancen-Aufenthaltsrecht von Ihnen bekommen haben, dann
werden sie ihre Identität offenbaren. Das ist nicht in Ordnung, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Herr Kollege Thomae, wenn Sie das jetzt mit Arbeitsmigration, gar von
Fachkräften, begründen wollen, dann reden Sie an der geltenden Rechtslage
vorbei.
({8})
Auch Geduldete haben heute nach geltender Rechtslage grundsätzlich die
Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten,
({9})
mit Ausnahme der Personengruppe, die nicht an ihrer Identitätsklärung
mitwirkt, was zumutbar ist, und derjenigen aus sicheren Herkunftsländern. Das
heben Sie ja aber auch noch auf. Insofern ist Ihr Gesetz nichts Neues in Bezug
auf den Arbeitsmarkt, Sie nehmen damit nur die Personen mit ungeklärter
Identität mit hinein, liebe Kolleginnen, Kollegen.
({10})
Jetzt haben Sie hinsichtlich der Erteilung des Bleiberechts auch das
Alter für gut integrierte Jugendliche auf bis zur Vollendung des
27. Lebensjahres erhöht. Wir wissen, zwei Drittel aller Asylbewerber, die
kommen, sind Männer – das hat damit jetzt nichts zu tun –,
({11})
aber vor allem sind sie genau in dieser Altersgruppe. Deswegen habe
ich Herrn Staatssekretär Saathoff am 9. November bei der Fragestunde gefragt,
wie denn die Rechtsfolgenabschätzung der Ampel aussehe, mit wie vielen Menschen
man denn rechne, die zukünftig über diesen Weg „Alter bis 27 Jahre“ hier ein
Daueraufenthaltsrecht bekommen können. Herr Saathoff sagte:
Daher ist jede Prognose mit Unwägbarkeiten verbunden, und jede Aussage
darüber wäre nicht zu verantworten.
Wie können Sie es dann verantworten, hier ein Gesetz zu machen, von
dem Sie offenkundig selbst nicht wissen, welche Rechtsfolgen es haben wird?
({12})
Dann haben Sie das Problem erkannt, dass es dann, wenn Sie die
Aufenthaltszeiten auf sechs, vier oder gar drei Jahre verkürzen, quasi einen
nahtlosen Übergang vom Asyl- und Klageverfahren, von der Gestattung in das
Daueraufenthaltsrecht gibt, in aller Regel in wenigen Monaten
({13})
– ich komme gleich genau darauf –, und dass deshalb der Rechtsanspruch
des Staates, eine Ausreisepflicht durchzusetzen, gar nicht mehr umsetzbar ist.
Das haben Sie erkannt, sind auf die Kritik eingegangen und machen jetzt eine
Vorduldungszeit von zwölf Monaten. Das heißt, in diesen zwölf Monaten kann bei
den Jugendlichen bis 27 Jahren grundsätzlich noch eine Abschiebung
stattfinden.
({14})
Das führt aber zu dem absurden Ergebnis, dass ein gut integrierter
Jugendlicher, der die Schule besucht hat und einen Abschluss hat, der Deutsch
kann, der rechtstreu ist, weil er nämlich seine Identität geklärt hat, in diesen
zwölf Monaten abgeschoben werden kann.
({15})
Der Rechtsuntreue, der seine Identität nicht offenbart hat, erhält von
Ihnen über das Chancen-Aufenthaltsrecht einen Abschiebeschutz und kann nicht
abgeschoben werden, und zwar an keinem einzigen Tag seit seinem Aufenthalt hier
in Deutschland.
({16})
Das ist das absurde Ergebnis Ihres Gesetzentwurfs, Ihres
Änderungsantrags am heutigen Tag. Frau Polat, ich kann Sie insofern verstehen,
dass Sie dieser Vorduldungszeit nicht zustimmen wollten.
Herr Throm, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Kaddor?
Sehr gerne.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, vielen Dank. – Herr Kollege Throm,
Sie haben ja sozusagen darauf verwiesen, dass es offensichtlich am Arbeitsmarkt
nicht wirklich funktioniert. Den 2,5 Millionen Arbeitslosen, die es gibt, stehen
1,5 Millionen offene Stellen gegenüber. Warum haben Sie denn dieses Problem in
den Jahren während Ihrer Regierung eigentlich nicht gelöst?
Zweitens: Was ist denn Ihr konkreter Vorschlag, der wiederum eine
Modernisierung der Zuwanderungsregeln, wie wir sie hier ja planen und
vorstellen, überflüssig machen würde? Ich bin sehr gespannt auf Ihre Ideen.
Vielleicht erklären Sie noch kurz, warum Sie gerade auf junge Männer
verwiesen haben, wie Ihre Kollegin davor übrigens auch. Was hat dieser
Sachverhalt mit jungen Männern zu tun?
({0})
Liebe Frau Kollegin, ich habe darauf hingewiesen, dass eben in
dieser Altersgruppe überwiegend Männer kommen, habe aber gleich gesagt, dass das
mit diesem Gesetz nichts zu tun hat. Das ist die Statistik, die besagt: Zwei
Drittel sind Männer bis zum Alter von 27 bzw. 29 Jahren.
({0})
Was den Arbeitsmarkt anbelangt – darauf habe ich ja gerade
hingewiesen –: Die meisten Geduldeten könnten heute schon arbeiten, eine
Arbeitserlaubnis erhalten,
({1})
sie arbeiten nur nicht. Es sind 27 000 Geduldete, die tatsächlich in
einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis sind. Unseren
Lösungsvorschlag sehen Sie in § 60b Aufenthaltsgesetz mit der sogenannten
Duldung light, die wir seinerzeit gemeinsam mit unserem Koalitionspartner SPD in
einem Kompromiss eingeführt haben. Damals waren wir beide gemeinsam der
Auffassung, dass wir alles von den Menschen Zumutbare erwarten können
hinsichtlich ihrer Identitätsklärung und der Passbeschaffung und dass dann
natürlich auch eine Arbeitserlaubnis gegeben werden kann. Solange das nicht
passiert, gibt es keine Arbeitserlaubnis. Es handelt sich aber genau um diese
Personengruppe, also die ohne geklärte Identität. Und es ist auch richtig, dass
wir nur die belohnen, die auch tatsächlich rechtstreu sind, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Und Sie, die Ampel, wollen genau diese Lösung bei Ihrem nächsten
Migrationspaket abschaffen.
({2})
Herr Throm, lassen Sie noch eine Frage des Kollegen Thomae aus der
FDP-Fraktion zu?
Natürlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe
den Widerspruch, den Sie aufgezeigt haben, vernommen, glaube aber, dass es ein
Scheinwiderspruch ist. Denn bei den Personen, die Sie als die rechtstreuen
Erwachsenen darstellen und die schlechtergestellt würden als die rechtsuntreuen
jungen Erwachsenen, handelt es sich um solche Personen, die sich schon mehr als
fünf Jahre im Inland befinden. Der Chancen-Aufenthalt ist ja der Clou des § 104c
Aufenthaltsgesetz. Er behandelt einen in der Vergangenheit abgeschlossenen
Vorgang. Deswegen war es hier schon möglich, diese Menschen fünf Jahre
abzuschieben. Da brauchen wir nicht noch einmal ein Jahr, während wir bei der
anderen Personengruppe noch ein Jahr brauchen, um die Abschiebung
durchzuführen.
Herr Kollege Thomae, danke für die Frage.- Sie gibt mir die
Gelegenheit, noch ein paar Erklärungen zu machen. Sie haben den Stichtag
angesprochen, indem Sie gesagt haben, dass es nach hinten wirkt. Wissen Sie, was
ein Stichtag eigentlich bedeutet? Der bedeutet, dass man als Gesetzgeber weiß,
dass man etwas macht, was eigentlich falsch ist.
({0})
Deswegen will man sich durch einen Stichtag vor den weiteren Wirkungen
dieses Gesetzes schützen. Das ist so. Sie wollen Nachahmer vermeiden, die sich
dann auf dieses Gesetz berufen können. Sie erkennen also, dass etwas falsch ist.
Das Problem bei Stichtagen, Fristen und wie auch immer in der Gesetzgebung – das
war bei uns ganz genau so, wie es bei Ihnen zukünftig sein wird – ist: Sie
werden meistens aufgehoben, entfristet, und es wird daraus eine Dauerlösung
gemacht. Dadurch, dass Sie die Frist jetzt schon zum 31.10. dieses Jahres
verlängert haben, zeigen Sie, dass Sie auch an dem Stichtag weiter drehen
werden.
({1})
Herr Kollege Thomae, Sie haben gefragt nach dem Widerspruch bei § 104c
zwischen den Jugendlichen, die, wenn sie gut integriert sind, in diesen zwölf
Monaten Vorduldungszeit abgeschoben werden können, und den sogenannten
Erwachsenen, die nicht unter § 25a Aufenthaltsgesetz fallen. Nein, Sie haben die
Situation nicht richtig erkannt. Es geht nicht um die Frage, wann, nach wie
vielen Jahren jemand abgeschoben werden kann – nach drei oder nach fünf
Jahren –, sondern es geht darum, dass Sie ein Gesetz machen, bei dem der
rechtstreue Jugendliche bis 21, 27 Jahren, der eine Schule besucht hat, einen
Abschluss gemacht hat, Deutsch spricht, bestens integriert ist – die wollen wir
auch hier behalten, jedenfalls bis 21 Jahre –, nach Ihrem Änderungsantrag über
diese zwölf Monate Vorduldungszeit abgeschoben werden kann. Der Rechtsuntreue,
der von mir aus zwei Jahre länger hier ist – fünf Jahre –, der nicht gut
integriert ist, weil er seine Identität nicht geklärt hat – wer seine Identität
nicht offenbart, kann schon per Gesetzesdefinition nicht gut integriert
sein –,
({2})
erhält von Ihnen über das Chancen-Aufenthaltsrecht quasi einen
Abschiebeschutz. Nicht einen Tag in der Zeit, in der er sich in Deutschland
befindet, kann er abgeschoben werden. Das ist der Widerspruch. Das ist der Murks
in Ihrer Gesetzgebung, Herr Kollege Thomae.
({3})
Liebe Kollegen, ich bedanke mich grundsätzlich für jede
Zwischenfrage.
Zur Rückführungsoffensive. Für die Vergangenheit bereinigen Sie die
Statistik, für die Zukunft gibt es großzügige Bleiberechte, und für die
Problemfälle schaffen Sie im nächsten Migrationspaket die eidesstattliche
Erklärung zur Identitätsklärung. Es bleiben zum Schluss nur noch die Straftäter
übrig, die abgeschoben werden. Ihre Rückführungsoffensive, die der FDP so
wichtig ist, ist ein reiner Etikettenschwindel. Deswegen lehnen wir das Gesetz
heute ab.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Adis Ahmetovic.
({0})
Jetzt muss man sich die nächste schmerzhafte Schicksalsgeschichte
anhören. Aber ich kann sie erzählen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Kind hatte
ich als erste Videokassette, VHS, „König der Löwen“ – vielen bekannt. Dort gibt
es den Titelsong „Der ewige Kreis“. Wissen Sie, was schön ist? Heute schließt
sich dieser Kreis nicht nur für mich, sondern auch für viele andere
Hunderttausende und mehr Menschen,
({0})
die zu unserer Gesellschaft und zu unserem Land gehören; denn wir
beschließen heute im Deutschen Bundestag das Chancen-Aufenthaltsrecht. Damit
beginnen wir einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik. Wir
schaffen eine neue Grundlage für eine notwendige Anerkennungskultur.
({1})
Ich freue mich, als hannoverscher Bundestagsabgeordneter und Bürger
dieses Landes an diesem Redepult zu stehen und zu diesem Gesetz zu sprechen. Ob
ich mir das jemals hätte erträumen können? Ich weiß es nicht. Aber jetzt ist es
Realität geworden. Wenn man sich jedoch die Jahre davor anguckt, war es nicht
vorhersehbar.
Meine Geschichte beginnt 1993 in Hannover, in der Bundesrepublik
Deutschland. Meine Eltern sind zusammen mit meinem älteren Bruder aus
Bosnien-Herzegowina nach Deutschland gekommen. Ich bin in Hannover geboren, ein
waschechtes Hannover-Kind: Schule, Studium und Arbeit, alles in Hannover
gemacht, mein Zuhause. Das klingt so weit erst einmal nach einer normalen
Kindheit. Das war sie jedoch nicht. Ich habe mir bewusst von dem zuständigen
Ordnungsamt einen Auszug meiner Aufenthaltsgeschichte geben lassen, um gemeinsam
mit Ihnen den behördlichen Spießrutenlauf nachzuvollziehen.
Adis Ahmetovic: von 1993 bis 2001 18 Duldungen, zwischen einem Monat
und drei Monaten, dazwischen eine Androhung auf Abschiebung und eine
Ausreiseaufforderung. Wie Sie sehen können, hat es nicht geklappt. Jetzt bin ich
direkt gewählter Bundestagsabgeordneter.
({2})
Dann fast vier Jahre Einbürgerungsprozess mit Abgabe der
bosnisch-herzegowinischen Staatsbürgerschaft, die mir nicht leichtfiel. Aber
auch an der doppelten Staatsbürgerschaft arbeiten wir, und das ist auch ein
richtiges Zeichen.
({3})
Seit 2015 glücklicher deutscher Staatsbürger. Und eine Meldung nach
rechts: Schwarz, Rot, Gold, die Farben gehören mir, nicht Ihnen.
({4})
Sie gehören den Demokratinnen und Demokraten. Das lassen wir uns nicht
nehmen. Das ist nämlich das Grundgesetzbuch.
({5})
Mit diesen behördlichen Gängeleien, dieser unsäglichen Praxis der
Kettenduldungen ist ab heute Schluss. Das ist auch gut so, meine Damen und
Herren. Das ist gut so.
({6})
Es ist ein Zeichen im Sinne von Fairness, Partizipation, Anerkennung
und Respekt. Aber es ist auch ein Zeichen für viele Bundesbürgerinnen und
Bundesbürger: ein spätes Eintreffen von Gerechtigkeit für so viele harte
Schicksalsjahre. Die Gerechtigkeit siegt heute mit dem Beschluss des
Chancen-Aufenthaltsrechts. Für viele Menschen beginnt damit ein neues Leben.
Deutschland hat dieses neue Gesetz nötig. Die Menschen haben es
verdient, in einem Einwanderungsland zu leben, mit Anerkennung, Respekt und
Wertschätzung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen Dank für dieses
Engagement.
({7})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Detlef Seif.
({0})
Vielen Dank, Herr Ahmetovic, für Ihren Redebeitrag. Sie sind ein
gutes Beispiel dafür, dass es auch in den 16 Jahren funktioniert hat, dass
Menschen, die qualifiziert sind, ohne Chancen-Aufenthaltsrecht hier
Möglichkeiten erhalten. Vielen Dank für Ihren Beitrag.
({0})
Jetzt kommen wir zu einem Punkt, über den wir noch gar nicht
gesprochen haben, jedenfalls nicht vertieft.
({1})
Sie öffnen die Integrationskurse und auch die Sprachkurse für alle,
die zu uns kommen.
({2})
Alle wissen, die Kapazitäten dieser Kurse sind begrenzt. Wir haben zu
wenig Lehrer. Das heißt, die, die wir integrieren wollen, haben jetzt schon
Schwierigkeiten, Kurse zu erhalten.
({3})
Sie setzen sie jetzt mit den Menschen, die aus sicheren
Herkunftsstaaten kommen, die demnächst vollziehbar ausreisepflichtig sind, in
direkte Konkurrenz, und das ist nicht verantwortungsvoll, meine Damen und
Herren.
({4})
Das vorgesehene Chancen-Aufenthaltsrecht – Kollegin Launert, Kollege
Throm haben es schon gesagt, aber ich vertiefe das noch einmal – ist ein
Sonderrecht für die Menschen, die nicht mitgewirkt haben, die getäuscht haben.
Warum ist das klar? Sie geben anderthalb Jahre die Gelegenheit, die
Voraussetzungen nachzubessern. Eine Voraussetzung ist nach § 5
Aufenthaltsgesetz, dass die Identität geklärt ist. Meine Damen und Herren, warum
soll es denn bei jemandem, der mitgewirkt hat, der alles offengelegt hat, nun
plötzlich in anderthalb Jahren möglich sein, dass seine Identität geklärt wird?
Das ist nicht möglich, nur in Ausnahmefällen. Das heißt, das trifft im Ergebnis
nur die, die getäuscht haben, die nicht mitgewirkt haben. Da machen wir nicht
mit.
({5})
Herr Seif, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der
Fraktion Die Linke?
Ja.
Frau Bünger.
Danke für das Zulassen der Zwischenfrage. – Herr Seif, Sie waren
doch am Montag in der Anhörung. Da haben unsere Expertinnen und Experten
ausgeführt, wie die Situation der Menschen ist, die ihre Papiere nicht
beibringen können, und dass es Länder und Botschaften gibt, die Papiere einfach
nicht ausstellen. Das ist die Realität, in der viele Menschen leben.
({0})
Möchten Sie das negieren? Möchten Sie sagen: „Diese Realität existiert
nicht“? Wie können Sie die Realität der Menschen, die einfach alles getan haben,
um die Papiere zu besorgen – das wurde auch von den Sachverständigen gesagt –,
denen das aber faktisch unmöglich ist, so negieren? Wie können Sie das den
Menschen einfach so krass verwehren? Ich verstehe es einfach nicht.
({1})
Frau Bünger, Sie gehen auch hier der Argumentation der Ampel auf den
Leim.
({0})
Den Personenkreis, von dem Sie gesprochen haben, gibt es. Dessen
Problem wird durch das Gesetz aber nicht gelöst werden. Denn wenn diese
Personen, die ja vorher die Dokumente nicht liefern konnten, diese auch in den
anderthalb Jahren nicht liefern können, kommen sie trotzdem nicht über den § 5
Aufenthaltsgesetz hinaus.
({1})
Das heißt, darüber werden wir in der Zukunft nachdenken müssen. Die
CDU/CSU-Fraktion wird demnächst intern Asylkonferenzen machen.
({2})
Das Thema ist nicht gelöst. Danke, dass Sie das in Ihrer Frage noch
mal gesagt haben. Es gibt das Problem; aber dieses Chancen-Aufenthaltsrecht
begünstigt nur die Täuscher und diejenigen, die nicht mitgewirkt haben.
({3})
Meine Damen und Herren, man sollte auch immer gucken: Wie sind
Behörden belastet? Was bringt ein Gesetz denn überhaupt? Sie reden hier von
136 000 Personen, die betroffen sind. Die Bundesregierung selbst sagt in ihrem
Entwurf: 96 000 werden voraussichtlich einen Antrag stellen. Und sie schätzt
dann großzügig, dass 33 000 Menschen letztlich die Voraussetzungen erfüllen
werden. Die Behörden müssen rund 100 000 Anträge prüfen. Wir haben einen
Rechtskreiswechsel von Asylbewerberleistungen ins SGB II.
({4})
Das heißt, es sind zwei Behörden beteiligt. Demnächst werden
65 000 Menschen wieder zurück in die Duldung kommen. Behörden werden hier
doppelt belastet, und das ist auch in der Anhörung deutlich gesagt worden.
Deshalb – ich kann es nur noch mal sagen –: Das Gesetz ist nicht durchdacht, ist
Murks, hält nicht das, was Sie versprechen. Das ist kein
Chancen-Aufenthaltsrecht für Geduldete, die nicht getäuscht, sondern mitgewirkt
haben. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig: Das ist abzulehnen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Sebastian Hartmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Ich glaube,
dass die Debatte heute Morgen noch mal deutlich gezeigt hat, wo eigentlich das
Problem ist.
({0})
Auf der nationalkonservativen Seite in diesem Land verweigern sich
immer mehr Menschen der Realität, was das Einwanderungsland Deutschland angeht.
Damit machen wir heute Schluss.
({1})
Es ist der CDU/CSU-Fraktion nicht gelungen, die Meinungsbreite, die in
Ihrer Fraktion offenbar existiert, in der Rednerliste und in den Reden, die wir
heute vernommen haben, vernünftig abzubilden; denn wir haben aus der CDU/CSU
auch ganz andere Stimmen vernommen. Wir laden Sie herzlich zum Austausch
ein.
({2})
Konzentrieren wir uns mal auf die Fakten. Der erste Fakt ist: Wer hat
uns in diese Lage gebracht? CDU/CSU-Innenminister, liebe Mitbürgerinnen und
Mitbürger! Sie sind verantwortlich für den Rechtsstaat, und sie haben diese
Realität im Land herbeigeführt.
({3})
Es ist unwürdig, Menschen in Kettenduldungen zu lassen wie den
Kollegen, der in 18 Kettenduldungen war. Wollen Sie das fortführen? Das kann
doch nicht die Antwort sein, meine Damen und Herren.
({4})
Wir stellen uns der Realität. Das bedeutet, dass es um eine
Viertelmillion Menschen geht, von denen 137 000 Menschen endlich eine echte
Perspektive bekommen. In Wirklichkeit geht es um viel mehr als um diese
137 000 Menschen, die schon lange in Deutschland leben, die sich integrieren,
die dabei sind, sich für unser Land zu entscheiden, die etwas wollen. Davon
brauchen wir noch viel mehr Menschen. Millionen von Menschen erwarten
pragmatische, progressive Politik und dass wir endlich mit dieser verkrampften
Einwanderungs- und Asylpolitik aufhören, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wir wollen pragmatische Lösungen. Wir wollen nicht „Wünsch dir was“,
sondern wir sind hier in der Realität angekommen. Wir beenden den bisherigen
Zustand, und wir schaffen damit ein Bleiberecht. Wir haben eine Lösung gefunden,
dass die erforderlichen Unterlagen innerhalb von 18 Monaten beigebracht werden
können und eine echte Chance gegeben wird. Darum heißt es
Chancen-Aufenthalt.
Und hören Sie bitte auf, immer wieder neue Fake News zu verbreiten;
das kann man nicht anders bezeichnen.
({6})
Es ist eine einmalige Regelung, um die Zeit zu nutzen, zu einer
dauerhaften Lösung im Aufenthaltsrecht zu kommen, um die Fragen der
Staatsbürgerschaft zu beantworten, um endlich ein modernes Land zu schaffen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland, und wir bilden das ab. Und die
Fachkräfteeinwanderung kommt auch noch dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Ihnen ist es nicht gelungen, zurückzuführen. Werfen Sie uns nicht
einen fehlenden „Rückführungsbeauftragten“ vor! Wir haben in unserem
Koalitionsvertrag einen „Beauftragten für Migration“ benannt. Sie verhetzen es
mit diesen Worten! So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Im Übrigen haben Sie dieser ganzen Situation ein einziges Dagegen und
ein Weiter-so entgegengesetzt. Alles, was fehlt, ist ein einziger Vorschlag aus
der Union. Das ist keine konstruktive Oppositionspolitik, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Das ist viel zu wenig.
({9})
Wir haben eine klare Botschaft gesendet. Diejenigen, die gut
integriert sind, die unsere Sprache sprechen, die auch ihren Lebensunterhalt
nachweisen können – all das sind klare Anforderungen und klare Regeln; und das
ist nicht nur im Interesse der 137 000 Menschen, die davon betroffen sein
können –, laden wir herzlich dazu ein, einen solchen Antrag zu stellen. Es ist
im Interesse von 82 Millionen Menschen in diesem Land. Es geht um uns alle,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Die Menschen, die sich jetzt für unser Land entscheiden können, fehlen
doch in den Betrieben; die fehlen doch in der Wirtschaft. Das sind Menschen, die
wir hier herzlich einladen. Das, was hier jetzt gemacht wird, ist, eine Lösung
zu bieten. Das ist in den vergangenen Jahren nicht gelungen. Darum lade ich alle
Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen Jahren noch und nöcher eine
Verweigerungshaltung der Union im Innenausschuss erlebt haben, dazu ein:
Springen auch Sie in der CDU/CSU über Ihren Schatten! Sie haben die großartige
Chance, heute für ein modernes Chancen-Aufenthaltsrecht zu stimmen. Das ist
nicht ausschließlich auf die Ampel beschränkt.
Wenn Die Linke sich nur zu einer Enthaltung durchringen kann: Glauben
Sie uns, wir haben mit unserem Koalitionsvertrag einen grundlegenden
Paradigmenwechsel angestoßen. Sie müssen sich nur darauf einlassen. Wir erkennen
ohne Scheu und Träumereien die Realitäten an, wir müssen endlich ein modernes
Land schaffen. Daran arbeiten wir jeden Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was macht eine
Autobahnsperrung mit den Menschen vor Ort? Wir können es uns ansehen in
Lüdenscheid, im Sauerland an der A 45, wo die Rahmedetalbrücke nun seit einem
Jahr gesperrt ist. Heute seit einem Jahr leiden die Menschen im Sauerland. Heute
seit einem Jahr suchen die Menschen im Sauerland nach einer Perspektive.
Lassen Sie uns deshalb heute auch darüber sprechen, was das für die
Menschen vor Ort bedeutet, für eine Familie, die vielleicht gerade ein Haus
gekauft hat, damit die Kinder endlich mal draußen spielen können. Das geht jetzt
nicht mehr, weil Lkw an Lkw, Pkw an Pkw an den Umleitungsstrecken im Dauerstau
stehen, Stoßstange an Stoßstange. Und seit einem Jahr haben sie nicht mehr
richtig geschlafen. Aber trotz des Schlafmangels müssen sie morgens noch früher
aufstehen, damit die Kinder pünktlich im Kindergarten und in der Schule sind,
damit sie selber pünktlich am Arbeitsplatz ankommen. Die Pflegekraft, die beim
mobilen Pflegedienst arbeitet, schafft es nicht mehr pünktlich zu ihren
Patienten. Sie kann es nicht mehr schaffen, pünktlich die Medikamente zu
verabreichen. Vielleicht schafft sie es zu dem einen oder anderen Patienten gar
nicht mehr.
({0})
Das macht eine Sperrung mit einer Region. Es nimmt jegliche
Perspektive. Deshalb ist es richtig, dass es so weit ist, dass auf den
Umleitungsstrecken zumindest Tempo 30 gelten wird. Es ist gut, dass die
Transitverkehre aus der Region verbannt werden. Aber, liebe Kollegen, das hilft
nur begrenzt. Es sind die Symptome, die wir damit bekämpfen. Wir müssen doch
endlich an die Ursachen heran. Wir müssen Familien, Unternehmen, Einzelhändlern,
der Region insgesamt helfen. Die beste Hilfe ist eine so schnell wie möglich
aufgebaute Brücke. Das ist Ursachenbekämpfung, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({1})
Es ist richtig, dass es auch in diesem Hause fraktionsübergreifend
eine Haltung gibt: Diese Region braucht Hilfe. Aber da ist doch bislang viel zu
wenig passiert. Die Hoffnung der Menschen, was diese Aussage betrifft, nimmt ab;
sie sind inzwischen verunsichert. Sie haben zum Teil die Nerven verloren, die
Nerven sind strapaziert. Die Region ist dabei, den Glauben an die Berliner
Politik zu verlieren. Und es gibt doch Handlungsmöglichkeiten, es gibt
Hilfsmöglichkeiten. Wir haben sie vorgeschlagen. Wir haben sie Ihnen
vorgeschlagen. Und was haben wir gehört in der letzten Woche? Dass sich das
Verkehrsministerium mit dem Umweltministerium darüber streitet, ob die
Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren denn auch für
Autobahnbrücken gelten soll. Und das ein Jahr nach der Vollsperrung! Was für
eine traurige Botschaft für diese Region!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute wollen wir nach vorne schauen.
Wir wollen Ihnen heute einen Vorschlag machen, einen Vorschlag für ein
Schnellspurgesetz für Brückensanierung. Wir wollen damit die Planungs- und
Genehmigungsverfahren bei sanierungsbedürftigen Brücken um zweieinhalb Jahre
verkürzen. Das ist eine Perspektive für diese Region und für viele andere
Regionen in Deutschland.
({3})
Es ist richtig, wenn wir darauf achten, dass wir künftig in solchen
Fällen bei Ersatzneubauten keine Planfeststellungsverfahren mehr brauchen. Wir
sorgen dafür, dass wir das Vergaberecht in dringenden Fällen extrem straffen
können. Und lassen Sie uns doch da, wo es besonders dringend ist, wo eine Region
so massiv betroffen ist wie das Sauerland, wie Lüdenscheid, dafür sorgen, dass
das Bundesverkehrsministerium eine Ausnahme bei der
Umweltverträglichkeitsprüfung zulassen kann.
({4})
Am Ende geht es doch darum, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass es
eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur in Deutschland gibt. Damit sorgen wir
für eines: Wir sorgen dafür, dass die Regionen vor Lärm, vor Immissionen und vor
Deindustrialisierung geschützt sind, und wir sorgen dafür, dass es wieder einen
ruhigen Schlaf gibt.
Das ist ein Vorschlag zur Zusammenarbeit. Wir reichen Ihnen heute die
Hand. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam den Menschen im Sauerland helfen. Wir
wollen dafür sorgen, dass es nicht nur im Sauerland Hilfe gibt, sondern dass es
auch in anderen Regionen nicht einen solchen Verkehrs-Super-GAU geben wird. Das
hilft den Regionen, das hilft unserem Land. Und das ist heute die wichtige
Botschaft: Lassen Sie uns gemeinsam die Bremsklötze lösen! Lassen Sie uns
gemeinsam mehrere Gänge hochschalten! Lassen Sie uns gemeinsam auf die
Schnellspur gehen!
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner: für die SPD Fraktion Jürgen Berghahn.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Tribünen! Kollege Müller, Ihr Antrag in
allen Ehren, aber er kommt für die Menschen in Lüdenscheid viel zu spät. Da
hätten Sie schon einmal eher etwas auf den Tisch legen sollen.
({0})
Grundsätzlich hat der Entwurf einige gute Punkte vorzuweisen; denn
selbstverständlich müssen Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich schneller
ablaufen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Nur, dafür braucht es diesen
Antrag jetzt nicht mehr; denn die Koalition hat in den letzten Monaten
zahlreiche Maßnahmen verabschiedet bzw. bereits umgesetzt und arbeitet natürlich
an weiteren Verbesserungen.
({1})
Das Oster- und das Sommerpaket zeigen bereits Wirkung, und mit dem
Herbstpaket wird die Regierung sehr bald einen Gesetzentwurf vorlegen, dem Sie
dann eigentlich auch zustimmen können.
Erst vor zwei Tagen hat die Ampelkoalition einen Gesetzentwurf zur
Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich
beschlossen. Dieser sieht unter anderem eine deutliche Verschlankung von
Gerichtsverfahren vor, die es vor allem bei großen Bauprojekten oftmals gibt.
Verfahren zum Planungsrecht sollen erst- und letztinstanzlich beim
Bundesverwaltungsgericht liegen, das dafür zusätzliche Stellen erhält.
Die CDU/CSU fordert eine Kürzung der Planfeststellungsbedürftigkeit.
Das wollen wir umsetzen, indem zum Beispiel bei Ersatzneubauten die
Genehmigungsfreiheit ausgeweitet und der Bau direkt nach neuestem Stand der
Technik und der tatsächlichen Verkehrsbelastung gebaut wird. Hinzu kommt, dass
bei Ersatzneubauten die Voraussetzungen für geplante bzw. vorhersehbare
Erweiterungen ebenfalls direkt mitgeschaffen werden. Das bedeutet erstens eine
Verkürzung der Genehmigungsphase, zweitens mittel- und langfristige
Verbesserungen der Infrastruktur und drittens die komplette Einsparung eines
weiteren Genehmigungs- und Bauverfahrens. Das bedeutet Zeitgewinn.
({2})
Die CDU/CSU fordert, Vergabeverfahren zu verschlanken und damit zu
vereinfachen. Auch dies ist längst umgesetzt, beispielsweise durch die
funktionale Ausschreibung. Planung und Bau liegen in einer Hand und werden nicht
mehr an verschiedene Auftragnehmer vergeben. Das war auch ein Wunsch aus der
Bauindustrie. Bei der Ausschreibung ist die Baugeschwindigkeit in Zukunft ein
wichtiges Vergabekriterium. Auch da wieder: Zeitgewinn! Dazu gibt es einen
Verfahrensplan, der den gesamten Prozess von Anfang bis Ende aufzeigt und somit
einen konkreten Fahrplan liefert.
Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass die Regierung längst an der
Arbeit sitzt und ganz konkrete Lösungen erarbeitet, während die Opposition noch
Anträge stellt oder Gesetzentwürfe einbringt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, Sie haben in Ihrem Entwurf
übrigens die Bevölkerung vergessen. Sie haben zwar jetzt angesprochen, wie es
dort aussieht. Aber das ist wirklich bemerkenswert, da Baustellen und
Umleitungen für die Anwohnerinnen und Anwohner eine echte Belastung darstellen,
oft auch über mehrere Jahre. Da ist es nicht nur menschlich, sich der Sorgen und
Probleme der Leute anzunehmen, sondern für die Beschleunigung von Projekten auch
unerlässlich. Durch Transparenz und Mitsprache werden die Betroffenen mit ins
Boot geholt, was erfahrungsgemäß dann auch zu mehr Akzeptanz und als Folge
dessen zu weniger Klagen führt. Auch das wieder Zeitgewinn! Aus diesen Gründen
hat die Ampel bereits im März das „Zukunftspaket leistungsfähige
Autobahnbrücken“ vorgelegt und deutlich gemacht, dass eine frühzeitige
Abstimmung mit allen Beteiligten vor Ort äußerst wichtig ist.
Herr Kollege Müller, das kann ich Ihnen nicht ersparen – mit
freundlicher Genehmigung der Präsidentin –: Die Autobahnbrücke Rahmedetal hätte
gar nicht in einen so katastrophalen Zustand kommen müssen, wenn die
CDU-NRW-Regierung ihren Job richtig gemacht hätte.
({4})
– Ich kann Ihnen das nicht ersparen. – Im August 2018 hat der damalige
NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst einen Bericht herausgegeben, der den Zustand
und die Sicherheit von Brücken bewertet. Die Rahmedetalbrücke hat damals die
Zustandsnote 3, „nicht ausreichend“, erhalten. Es wurde festgehalten, dass eine
Verstärkung sowie ein Ersatzneubau nötig sind, die Brücke aber bis 2025 nutzbar
sein soll. Dies war eine katastrophale Fehleinschätzung von Herrn Hendrik
Wüst.
({5})
Denn die Zustandsnote zeigt zwar auf, dass dringend Maßnahmen
eingeleitet werden müssen; sie gibt aber keinen direkten Aufschluss über Art und
Umfang der Schäden. Die logische Konsequenz wäre wohl gewesen, dass man genau
dies prüft und nicht nur darauf hofft, dass die Brücke bis 2025 schon irgendwie
durchhält. Das ist allerdings nicht passiert, und somit musste die Brücke 2021
gesperrt werden.
Alles in allem müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen, da er sich durch
die vorausschauende Arbeit der Bundesregierung erledigt hat.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, komme ich noch einmal zu
Tagesordnungspunkt 30 zurück. Für die namentliche Abstimmung sind noch fünf
Minuten Zeit. Sollte es jemanden hier im Raum geben, der noch nicht abgestimmt
hat, dann besteht jetzt noch fünf Minuten lang die Möglichkeit dazu.
Ich rufe jetzt den nächsten Redner zu Tagesordnungspunkt 31 auf: aus
der AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
reden heute über eine Beschleunigung von Bauvorhaben und Planungsfeststellungen
für Sanierungen und für Neubauten. In Wirklichkeit ist die Situation in unserem
Land eine katastrophale. Das kann man nicht anders sagen; das bestätigen ja auch
alle Aussagen hier. Wir haben eine marode, nicht mehr ausreichende Infrastruktur
in Deutschland. Wir haben eine Bauzeit inklusive der Planungen von ungefähr
20 Jahren. Jeder, der hier im Parlament sitzt und über ein Bauvorhaben
diskutiert, muss davon ausgehen, dass er nicht mehr im Parlament sitzt, wenn es
realisiert wird. Das ist ein untragbarer Zustand.
({0})
Warum ist das so? Das ist nicht so, weil wir eine unfähige
Bauindustrie hätten; die baut in vier Jahren im Schnitt. Das ist so, weil wir
16 Jahre lang klagen und planen können in diesem Land. Warum können wir 16 Jahre
lang klagen und planen? Weil Sie hier Gesetze gemacht haben, die dazu führen,
dass eine beliebige Organisation praktisch zu jedem Zeitpunkt in das
Planungsverfahren eingreifen und dieses Verfahren verzögern kann.
({1})
Da hilft es auch nichts, Herr Berghahn, wenn Sie die Gerichtsverfahren
beschleunigen wollen. Das ist alles Augenwischerei.
({2})
Sie sabotieren die Infrastruktur dieses Landes, und das seit vielen
Jahren.
({3})
Ihre Ausrede ist in diesem Zusammenhang immer, dass das so sein muss
wegen der europäischen Gesetzgebung.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, in Italien stürzt eine Autobahnbrücke
ein, und zwei Jahre später steht eine neue Autobahnbrücke an dieser Stelle. Ist
Italien keine Demokratie? Gehört Italien nicht zu Europa? Das ist doch alles
Unsinn, was Sie hier erzählen.
({5})
Sie wollen das nicht.
Den Schlüssel, um die Probleme in diesem Land zu beheben, kennen Sie
ganz genau. Der liegt nämlich in der Umweltverträglichkeitsprüfung, der
sogenannten UVP. Wenn Sie die UVP herausnehmen, schaffen Sie es, in kürzester
Zeit ein LNG-Terminal in diesem Land zu bauen. Sie wissen auch, dass der
Schlüssel in dieser Umweltverträglichkeitsprüfung liegt, weil Sie die nämlich
bei den Projekten, die Ihnen wichtig sind, zum Beispiel Schienenprojekten,
({6})
gezielt herausgenommen haben. Diese Projekte, die Schienenprojekte,
können Sie in diesem Haus durch Maßnahmengesetze beschließen und schnell
umsetzen. Und weil Sie diese Ausnahme kennen, muss ich unterstellen, dass, wenn
Sie das nicht auch für Straßen anwenden, es reine Sabotage ist, Sabotage an den
Menschen in Lüdenscheid.
({7})
– Jawohl, Herr Berghahn, so ist es.
Deshalb begrüßen wir den Entwurf der Union. Wir können uns in weiten
Teilen den Gedanken, die dort formuliert sind, anschließen.
({8})
Ich muss hier einmal sagen: Ich finde es toll, dass Sie diesen Schritt
machen. Aber – das müssen Sie sich jetzt anhören – wer hat noch mal die letzten
zwölf Jahre im Verkehrsministerium gesessen? Da sehen Sie es. Es ist ganz
einfach: Wenn Sie vernünftige Politik für dieses Land machen wollen, dann können
Sie das nicht mit der Sabotagepartei Deutschlands machen. Das geht halt
nicht.
({9})
Es geht auch nicht, dass hier eine FDP, die in der letzten Legislatur
fast die gleichen Vorschläge wie die Union jetzt ins Parlament eingebracht hat,
wenn sie im Verkehrsministerium sitzt – in einer Koalition mit Leuten, die
dieses Land eben nicht voranbringen wollen –, nicht mehr der Meinung ist, dass
die Vorschläge aus der letzten Legislatur gut waren. Lieber Herr Wissing, Sie
haben Ihre Wähler getäuscht. Sie hätten alle Möglichkeiten gehabt, hier ein
Gesetz zu machen, das dem Entwurf der Union und auch dem Entwurf der AfD aus der
letzten Legislatur entspricht. Wir haben nämlich das Gleiche, was Sie hier
fordern, gefordert. Infolgedessen sehen wir hier eine komplette Verdummung der
Wähler in diesem Land.
({10})
Sie wollen keine schnelle Sanierung von Autobahnbrücken. Sie täuschen
die Wähler, wenn Sie Gegenteiliges behaupten.
Liebe Kollegen von der Union, wenn Sie Politik für die Infrastruktur
unseres Landes machen wollen, finden Sie die Partner dazu rechts von Ihnen.
Vielen Dank.
({11})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte
Damen und Herren! Ich bin vor zwei Wochen im Ahrtal gewesen. Herr Müller, die
Dramatik der Situation, über die Sie gerade berichtet haben, möchte ich
aufgreifen, um kurz auf die arg gebeutelte Region Ahrweiler und den wirklich
dramatischen Zustand vor Ort einzugehen, zum Beispiel auf den dortigen Abschnitt
der B 266, vierspurig, weggerissen von der Ahr nach einem katastrophalen
Umweltereignis. Wir mussten feststellen, dass es Menschen, die seit Jahren Geld
in ihre Häuser investiert haben, um dort weiterhin wohnen zu können, nun nicht
mehr möglich ist, weil zum Beispiel Erdöltanks in den Häusern umgekippt sind und
das ausgelaufene Öl die Wände verseucht hat. Das sind Katastrophen, die auch
damit zusammenhängen, dass die Infrastrukturplanung mit dem Natur- und
Umweltschutz überhaupt nicht kompatibel gemacht worden ist.
({0})
Trotz dieser Erfahrungen im Ahrtal wird aufgrund des herkömmlichen
Planungsrechts und der damit verbundenen UVP, die auch von Ihnen immer als
Störfaktor betrachtet wird, gesagt: Wir müssen alles genau so wieder aufbauen. –
Dabei machen die Menschen, die in der Fluthilfe engagiert sind und die
Arbeitsgruppen gebildet haben, uns politischen Akteurinnen und Akteuren
deutlich, dass das nach dieser Flutkatastrophe keine kluge Antwort sein kann. Da
wir wissen, dass wieder Starkregenereignisse folgen werden, können wir doch
nicht dort, wo jetzt ein ganz harmloser Fluss seine Kurven zieht, sagen: Wir
müssen es genauso wieder herrichten. – Denn sonst stehen wir, weil die Situation
nicht beherrschbar ist, bei der nächsten Flutkatastrophe vor der gleichen
Herausforderung. Dann müssten wir wieder etliche Milliarden und Millionen
investieren, um in der Region Leben zu ermöglichen. Es geht vielmehr um andere
Faktoren. Es geht darum, dem Umwelt- und Naturschutz endlich den Stellenwert
einzuräumen, den er verdient.
({1})
Ich möchte ein zweites Beispiel nennen, den Lückenschluss der A 1 in
der Region Adenau. Die Planfeststellung musste erneuert werden, weil wiederum
Akteurinnen und Akteure aus der Zivilgesellschaft deutlich gemacht haben, dass
Planungsrechte, die das Umweltrecht tangieren, genutzt werden müssen, um zum
Beispiel wasserrechtliche Voraussetzungen zu berücksichtigen. Schon bei der
Planung muss daran gedacht werden, dass Katastrophen zu verhindern sind. Das ist
hier überhaupt nicht eingeplant gewesen. Insofern ist festzustellen:
Klimaschutz, Umweltschutz und Flächenschutz sind unbedingt notwendig. Die
zivilgesellschaftliche Expertise ist unbedingt notwendig, um Planungsfehler zu
verhindern.
({2})
Ich möchte auf das Beispiel von Herrn Spaniel eingehen, der gesagt
hat, eine Verkürzung der Verfahren hätte bei den LNG-Terminals doch auch
funktioniert. Ich weise darauf hin, dass die Verfahrensanforderungen die
LNG-Terminals betreffend einen klar definierten Ausnahmefall darstellen.
({3})
Das ist auf den Straßen- und Brückenbau nicht übertragbar.
({4})
Ich werde jetzt nicht näher auf die verfehlte Infrastrukturpolitik
eingehen. Ich zitiere Herrn Groschek aus dem Jahr 2012, der über den Zustand der
Rheinbrücke in Leverkusen sagte, das sei ein Mahnmal für den katastrophalen
Zustand der deutschen Infrastruktur. Der Mann hat schmerzlich erfahren müssen,
was Fehlplanungen bedeuten und was passiert, wenn nicht investiert wird, um
marode Infrastruktur zu sanieren.
({5})
Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2015 und
der Expertenkommission von 2016, eingesetzt vom damaligen Wirtschaftsminister
Gabriel, zeigen: Die ganzen Jahrzehnte ist auf Verschleiß gefahren worden.
({6})
Das ist das, was wir jetzt zu bearbeiten haben,
({7})
was wir mit aller Kraft und mit allem Engagement versuchen müssen auf
Spur zu bringen. Das heißt, wir bekämpfen an dieser Stelle die Symptome. Das ist
notwendig, um die Infrastruktur sicher und befahrbar zu machen. Darum geht
es.
({8})
Ihr Gesetzentwurf wird dem selbst formulierten Anspruch überhaupt
nicht gerecht. Sie fokussieren sich wieder nur auf zwei Sachen – ich habe das
eingangs erklärt –: Umweltrecht und Planungsformalitäten. Es gibt kluge,
wichtige Vorschläge, die in ihre Problemanalyse gehört hätten; die tauchen da
aber leider nicht auf. Wir versuchen nun, das umzusetzen. Deshalb muss es an
dieser Stelle dabei bleiben: Klima- und Umweltschutz sind ein hohes Gut in
dieser Republik.
({9})
Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Thomas Lutze.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was die
Union hier unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus vorschlägt, bedeutet
erstens das Begrenzen von Rechten der Anlieger und zweitens ein Beschneiden der
Mitwirkungsrechte gesellschaftlich relevanter Organisationen. Zu diesem
Demokratieabbau bei Bauprojekten sagen wir ganz klar und deutlich Nein.
({0})
Der Neubau und die Erweiterung von Infrastruktur wie Autobahnen oder
Bahntrassen sind eigentlich klar geregelt. Und ja, Verzögerungen bei Planung und
Bau sind ärgerlich für alle Beteiligten. Wenn Sie aber zum Beispiel aus einer
vierspurigen Autobahn bei einer Komplettsanierung eine sechsspurige
Autobahnbrücke bauen, dann ist das baurechtlich ein neues Bauwerk.
({1})
Warum? Weil bei einer derartigen Vergrößerung auch ein erhöhtes
Verkehrsaufkommen eingeplant wird; sonst würde man die Brücke ja nicht
vergrößern. Dieses erhöhte Verkehrsaufkommen kann beim Umweltschutz und bei den
Rechten der Anlieger sehr wohl zu gravierenden Veränderungen führen. Deswegen
machen wir genau diesen Abbau der Mitwirkungsrechte nicht mit.
({2})
Wenn Sie etwas für unsere zum Teil heruntergekommene Infrastruktur
machen wollen, dann müssen Sie an die Belastung der Bauwerke gehen.
Autobahnbrücken müssen in der Regel nach 30 bis 40 Jahren nicht komplett saniert
oder komplett erneuert werden, wie das heute der Fall ist, weil so viele Autos
darüber fahren. Sie müssen auch nicht saniert oder erneuert werden, weil
Witterung oder Temperaturschwankungen den Beton angefressen haben. Diese Brücken
gehen kaputt, weil täglich viele Tausende Lkw mit bis zu 40 Tonnen Belastung
oder Gesamtgewicht darüber fahren.
({3})
Einer dieser Lkw belastet eine Brücke circa 60 000‑mal mehr als ein
1 Tonne schwerer Pkw. Ihre Entscheidung aus den 90er-Jahren, möglichst viel
Güterverkehr von der Schiene auf die Autobahnen zu verlagern, kommt uns jetzt
teuer zu stehen.
({4})
Und bevor hier weiter an demokratischen Mitwirkungsrechten
herumgedoktert wird, sollte man die Qualität einiger neuer Autobahnbrücken
genauer unter die Lupe nehmen. Ein Beispiel aus Thüringen bzw. Bayern gefällig?
Nach der deutschen Einheit wurden hier die Autobahnen A 71 und A 73 neu geplant,
gebaut und fertiggestellt. Bereits nach weniger als 20 Jahren musste die
Talbrücke Albrechtsgraben komplett und aufwendig saniert werden, und das bei
einem Bauabschnitt mit verhältnismäßig geringem Lkw-Verkehrsaufkommen. Da muss
man doch mal ein Fragezeichen dransetzen und sich überlegen, was bei
Bauprojekten in unserem Land eigentlich los ist. An den Mitwirkungsrechten liegt
es auf jeden Fall nicht.
({5})
Fazit: Anstatt die Mitwirkungsrechte von Anliegern und Verbänden zu
begrenzen, sollten wir uns sehr viel ernsthafter Gedanken machen, welche
Mobilität wir wollen und uns auch leisten können. Straßenbau und die Sanierung
von Straßen und Brücken – das wissen wir alle – sind sehr teuer und aufwendig.
Und ja, wir brauchen auch Lkw, um Waren und Güter im Nahbereich anliefern zu
können. Aber der notwendige Güterfernverkehr quer durch Europa gehört auf die
Schiene.
({6})
In der Wirtschaftspolitik, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
müssen wir regionale Wirtschaftskreisläufe noch viel mehr fördern. Das vermeidet
Güterfernverkehr und letztendlich die Belastung unserer Autobahnbrücken. Denn
jeder Lkw, der nicht im Fernverkehr fahren muss, entlastet unsere Infrastruktur.
Das wäre dann auch tatsächlich nachhaltig.
Ein herzliches Glückauf.
({7})
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung bekannt: abgegebene
Stimmen 654. Mit Ja haben gestimmt 371, mit Nein haben gestimmt 226,
Enthaltungen 57. Damit ist der Gesetzentwurf zur Einführung eines
Chancen-Aufenthaltsrechts angenommen.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegen der Union! Herr Müller, ich freue mich, dass wir heute
Morgen hier über ein so wichtiges Thema wie die Planungsbeschleunigung reden
können; denn das ist ein wichtiges Thema für Deutschland. Ich bin wirklich froh,
Herr Müller, dass die Union jetzt ihr Herz für die Planungs- und
Genehmigungsbeschleunigung entdeckt hat.
({0})
Leider gilt das nur für Brücken und Fernstraßen,
({1})
aber ganz ehrlich: Ich hätte mir gewünscht, dass diese Einsicht früher
einsetzt. In der Opposition die Versäumnisse der letzten Jahre
aufzuarbeiten,
({2})
mag jetzt psychologisch für Sie ein großes Ding sein. Für mich ist
Ihre emotionale Gesetzeseinbringung heute Morgen vor allen Dingen eins:
({3})
Sie ist ein Dokument Ihres eigenen Versagens in den letzten
Jahrzehnten.
({4})
Ihr Minister Scheuer formulierte Masterpläne, Sonder- und
Innovationsprogramme. 2018 hat er noch behauptet, mit den Rekordinvestitionen –
wir erinnern uns: Geld löst immer alles – müsse man sich keine Sorgen machen,
man habe die Brücken im Griff. Was für eine Fehleinschätzung, wie wir heute
wissen!
({5})
Was für eine Fehleinschätzung! Das mussten wir, das musste Volker
Wissing erfahren, kurz nachdem wir hier Verantwortung übernommen haben.
({6})
Sie haben die Rahmedetalbrücke erwähnt. Diese Vollsperrung macht uns
doch erst bewusst, wie wichtig intakte Verkehrsinfrastruktur in unserem Land
ist. Diese müssen wir gewährleisten.
({7})
Seitdem diese Brücke gesperrt ist, quälen sich tagtäglich Zehntausende
Fahrzeuge durch die Umleitungsstrecken.
({8})
Anwohner sind genervt. Unternehmen können Lieferzeitpunkte nicht mehr
einhalten. Handwerker erreichen ihre Baustellen nicht, und Krankenwagen stehen
im Stau.
({9})
Die Situation um Lüdenscheid herum ist kein Einzelfall in unserem
Land. Dieses Chaos ist die Verantwortung Ihrer Verkehrspolitik in Bund und
Ländern der letzten Jahre.
({10})
Die Verantwortung für diese Mangelwirtschaft jetzt von sich zu
weisen,
({11})
das versuchen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf. Aber glauben Sie
wirklich, so könne man Probleme lösen?
({12})
Glauben Sie wirklich, dass die Schuldweitergabe ein Lösungsangebot für
die Menschen ist, die sich jetzt tagtäglich quälen müssen? Ich glaube das
nicht.
Wir als Freie Demokraten sind hier angetreten, um diese Probleme zu
lösen.
({13})
Das ist nicht einfach. Für diese Koalition ist Planungs- und
Genehmigungsbeschleunigung ein zentrales Anliegen. Das wird an vielen Stellen im
Koalitionsvertrag deutlich, und den haben wir alle drei unterschrieben.
({14})
Wir bauen jetzt die Hürden ab, die Sie jahrzehntelang aufgebaut
haben.
({15})
Denn, ja, es herrscht gravierender Nachholbedarf beim Neubau, beim
Ausbau und auch beim Erhalt aller Verkehrswege.
({16})
Dazu gehören die Schienen, dazu gehört die digitale Infrastruktur, und
dazu gehören auch die Brücken und die Bundesfernstraßen. Ja, das heißt auch,
Verkehrswege zu ertüchtigen, damit unser Land nicht Weltmeister bleibt bei
Schlaglöchern und bröckelnden Brücken.
({17})
Ja, dazu müssen wir auch Planung beschleunigen. Wie man Planung
beschleunigen kann, haben wir in diesem Jahr an vielen Stellen erfolgreich
gezeigt.
Frau Kollegin, ich muss Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage aus
der AfD zulassen möchten.
Nein. – Das LNG-Beschleunigungsgesetz hat das Potenzial offenbart,
was im Thema Planungsbeschleunigung steckt.
({0})
Nach nur sieben Monaten steht das erste LNG-Terminal. Beim Ausbau der
Erneuerbaren haben wir einen Paradigmenwechsel eingeleitet.
({1})
Der Artenschutz wird weiter gesichert. Dennoch ist ein einzelnes Tier
in Zukunft kein Genehmigungshindernis mehr, wenn die Population insgesamt stabil
ist.
({2})
Die VwGO-Novelle, die Bundesjustizminister Marco Buschmann vorgelegt
hat, wurde auch schon erwähnt. Denn auch Planungsbeschleunigung in
Verwaltungsgerichten ist dringlich und notwendig für die zügige Umsetzung von
Infrastrukturvorhaben.
Wir werden diesen Weg weitergehen, weil wir ihn weitergehen müssen. Er
wird beschwerlich sein; denn diese Knoten zu lösen, die Sie über die letzten
Jahrzehnte gebastelt haben, ist nicht einfach. Man kann auch nicht einfach
sagen, man weiß es jetzt besser, weil man in der Opposition ist,
({3})
und wischt mal manche Dinge einfach beiseite. So funktioniert es
nicht.
({4})
Es muss uns am Herzen liegen, dass wir das Fernstraßenausbaugesetz
angehen, dass wir das Bundesschienenwegeausbaugesetz angehen und auch das
Bundeswasserstraßenausbaugesetz.
({5})
Denn Infrastruktur insgesamt sicherzustellen, ist zentral für die
Wirtschaft und für die Zukunft unseres Landes.
({6})
Wenn wir schneller werden wollen und Sie uns dabei unterstützen, dann
sind Sie dazu herzlich eingeladen. Aber psychologische Aufarbeitung durch
Planungsbeschleunigungsvorhaben, die hier so emotional präsentiert werden und an
vielen Stellen fachlich so unklug gemacht sind, bringt uns keinen Meter
weiter.
({7})
Das Wort hat Felix Schreiner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich vor
wenigen Wochen als zuständiger Berichterstatter meiner Fraktion auf Einladung
von Florian Müller und Paul Ziemiak in der Region in Lüdenscheid war und die
gesperrte Rahmedetalbrücke angeschaut habe, habe ich eine Verkehrssituation
erlebt, die ich sonst noch nirgends erlebt habe und die wir – da sind wir uns
doch einig – hoffentlich nirgendwo in Deutschland so jemals wieder erleben
werden.
({0})
Ich hatte da eine Begegnung, die ich nicht vergessen werde. Als ich
mit einem jungen Mann von der „Bürgerinitiative A 45“ in der Lennestraße
gesprochen habe, da hat er gesagt: Ich glaube hier an gar nichts mehr. Ich
glaube nicht mehr daran, dass hier was passiert. Da habe ich gefragt, woran er
nicht mehr glaubt. Da sagte er: Seit Dezember 2021 ist die Brücke gesperrt, und
nichts passiert. Keinen einzigen Schritt sind wir vorangekommen.
({1})
Das ist doch bedrückend, das ist enttäuschend. Wir müssen heute zur
Kenntnis nehmen, dass wir hier ein offensichtliches Problem haben, meine sehr
geehrten Damen und Herren.
({2})
Ja, es ist eine Brücke, die gesperrt ist. Es ist eine schwierige
Situation für die Menschen. Aber es geht um mehr. Diese Brücke steht für die
Glaubwürdigkeit von Politik in diesem Land. Wir müssen es hinkriegen, dass wir
unsere Infrastruktur erhalten, aber auch, dass wir gesperrte Brücken durch einen
Ersatzneubau erneuern können.
Frau Kollegin, was Sie gerade zur Planung gesagt haben, finde ich
nicht ganz richtig. Ich finde schon, dass man darüber reden muss, wenn man fünf
Jahre für Planungsprozesse braucht, wenn man eine Lebensader in einer Region
gesperrt hat. Man muss doch wirklich zur Kenntnis nehmen, dass wir hier eine
Lösung brauchen.
Damit Sie es nicht falsch verstehen: Auch ich bin sehr für den
Naturschutz.
({3})
Aber wenn ein Jahr lang jeder Käfer gezählt und umgesiedelt wird, am
Ende aber nichts rauskommt
({4})
und wir immer noch am selben Punkt stehen, dann haben wir doch ein
offensichtliches Problem. Wir müssen in die Prozesse gehen. Wir müssen einen
Modus finden, wie wir die Planungsprozesse in diesem Land beschleunigen, meine
Damen und Herren.
({5})
Der volkswirtschaftliche Schaden in Lüdenscheid ist immens:
1,8 Milliarden Euro; 1 Million Euro am Tag. Deshalb müssen wir uns doch hier
diese Fragen stellen, und – Florian Müller hat das gesagt – wenn wir Ihnen die
Hand reichen, dann meinen wir das ja ernst. Denn wir als Deutscher Bundestag
müssen doch die Kraft haben, uns um diese Themen zu kümmern und die Planungs-,
die Genehmigungs- und die Verfahrensbeschleunigung auf den Weg zu bringen, und
zwar gemeinsam.
({6})
Es ist uns übrigens gelungen, zum Einsatz des verflüssigten Erdgases,
des LNG, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen. Wir haben dies als
Union unterstützt, weil es richtig war. Aber auch das ist die Wahrheit: Es war
aber der einzige Gesetzentwurf, den Sie als Koalition hier zu diesem Thema
überhaupt auf den Weg gebracht haben. Das ist leider die bittere Wahrheit.
Es gibt, wie wir der Presse entnommen haben, einen Entwurf von
Bundesverkehrsminister Volker Wissing für den Bau von Fernstraßen. Er wird
derzeit von der grünen Seite blockiert. Sie haben keine Kraft, die wesentlichen
Infrastrukturprojekte zu beschleunigen und auf den Weg zu bringen. Das ist
sicherlich auch eine bittere Pille, die wir gemeinsam schlucken müssen: Wir
brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung, weil wir ein Problem beim Erhalt der
Infrastruktur haben.
Es geht schlichtweg darum, dass wir die wirtschaftliche Prosperität
von morgen sicherstellen. Nur wenn wir Planungsbeschleunigungen, die
Genehmigungsverfahren, nur wenn wir den Investitionshochlauf auch sicherstellen
können, dann werden wir in diesem Land unseren Wohlstand halten können. Lassen
Sie uns doch deshalb gemeinsam auf den Weg machen. Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass wir gemeinsam auch Großprojekte in diesem Land umsetzen, aber vor allem
auch, dass wir Ersatzneubauten realisieren können. Denn sonst werden wir mit
unserer Infrastruktur so nicht vorankommen können, wenn wir es ernst damit
meinen – auch darüber diskutieren wir immer wieder im Verkehrsausschuss –, dass
wir eine klimafreundliche Mobilität von morgen wollen.
Hören Sie auf mit Klein-Klein. Das sieht man am Beispiel der A 45 ganz
genau. Wir müssen gemeinsam eine Lösung für die Menschen in der betroffenen
Region finden.
Herr Kollege.
Dafür sind wir hier gewählt.
({0})
Kaweh Mansoori ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende!
Der heutige Gesetzentwurf der Union ist ein guter Anlass, um festzuhalten, was
die Regierungskoalition im ersten Jahr für die Beschleunigung von Planungs- und
Genehmigungsverfahren auf den Weg gebracht hat. Ich halte fest: Es ist mehr als
das, was die Union in zwölf Jahren Verkehrsministerium geschafft hat.
({0})
Warum machen wir das? Weil die Modernisierung unseres Landes keinen
Aufschub duldet, weil es um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen geht,
weil es um die Sicherheit der Energieversorgung geht und weil wir das nur
schaffen werden, wenn wir neue Technologien und eine moderne Infrastruktur
hinbekommen. Deswegen handelt die Koalition ab dem ersten Tag der
Regierungsübernahme. Umfangreiche Pakete haben den Bundestag bereits passiert
oder sind im Geschäftsgang. Das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang.
({1})
Viele Menschen in unserem Land sind frustriert von ewigen und
kostspieligen Baustellen, von fehlender Digitalisierung auf dem Bürgeramt, von
verspäteten und überteuerten Zügen, vom fehlenden Mobilfunknetz und schlechtem
Internet.
({2})
Die Beschleunigung von Planungs-, Genehmigungs- und Gerichtsverfahren
ist deswegen kein Selbstzweck, sondern die Antwort auf die Probleme der Menschen
in dieser Republik.
Im Frühjahr haben wir uns um die massive Beschleunigung des Ausbaus
der erneuerbaren Energien gekümmert. Dazu gehört die Festschreibung der
erneuerbaren Energien und des Netzausbaus als überragendes öffentliches
Interesse sowie die Einführung verbindlicher Flächenziele für Windkraft an Land.
Schluss gemacht hingegen haben wir mit der 10‑H-Abstandsregel; das ist sozusagen
ihr bayerisches Herzensanliegen.
Im weiteren Verlauf des Jahres haben wir auch Anpassungen beim
Artenschutz vorgenommen, nicht durch Absenkung des Schutzes, wie die Kollegin
ausgeführt hat, sondern durch Standardisierung. Das ist ein gelungener Ausgleich
von Arten- und Klimaschutz. Lassen Sie uns mehr Pragmatismus wagen.
({3})
Wir beenden mit einer weiteren Gesetzesinitiative die unnötigen
Doppelprüfungen zwischen sich überschneidenden Planungsverfahren. Ebenso haben
wir die in der Pandemie bewährte digitale Bürgerbeteiligung verlängert.
Als in diesem Jahr letzter Baustein unserer Beschleunigungspakete hat
das Kabinett am Mittwoch einen Beschluss zur Änderung der
Verwaltungsgerichtsordnung und weiterer Gesetze gefasst. Hiermit soll im
gerichtlichen Verfahren großen Infrastrukturprojekten Vorfahrt gegeben werden.
Behörden werden Fristen zur Klageerwiderung gesetzt. Nicht jeder formelle Fehler
behindert im vorbeugenden Rechtsschutz. Eine schnelle gerichtliche
Konfliktbeilegung wird damit gestärkt. Das ist eine gute Nachricht.
({4})
Aber bei den bisher aufgezählten Maßnahmen kann und wird es nicht
bleiben. Neben weiteren Beschleunigungspaketen, zum Beispiel im Bereich Verkehr,
brauchen wir mehr Personal, eine flexible Behördeninfrastruktur und die
vollständige Digitalisierung des Antragswesens; denn die Beschleunigung beginnt
beim Kampf gegen Leitz-Ordner und Aktenberge.
({5})
Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Ausnahmen von der
Umweltverträglichkeitsprüfung für Brücken verkennen hingegen europarechtliche
Hürden; denn die Ausnahmen von der UVP-Pflicht werden sehr streng und restriktiv
ausgelegt. Dazu gehören meistens Katastrophenfälle wie zum Beispiel die
Möglichkeit einer Energiemangellage. Beschleunigung darf für die Politik jedoch
niemals bedeuten, rechtswidrige Entscheidungen zu produzieren; denn das wäre das
Modell Scheuer.
({6})
Ich stimme der Union allerdings zu: Nicht jede Maßnahme an einer
Brücke braucht unbedingt eine Umweltverträglichkeitsprüfung.
({7})
Wir müssten dann als Gesetzgeber allerdings schon regeln, wo die
Grenze zwischen Bau, Erneuerung und Verbesserung verläuft, wann wir eine Prüfung
brauchen und wann nicht. Sie schlawinern um dieses Thema herum, indem sie es mit
einer Verordnungsermächtigung regeln wollen.
({8})
Ich habe meine Zweifel, ob das nach einem Verkehrsminister Andi
Scheuer eine gute Idee ist.
In letzter Zeit hat Kollege Ploß ebenfalls kritisiert, dass die Ampel
eher am Verbandsklagerecht festhalte als an der Planungsbeschleunigung. Seine
Lösung lautet, das Verbandsklagerecht einzuschränken. Auch dieser Vorschlag –
das wissen Sie – ist europarechtswidrig. Die Urteile des EuGH aus dem Jahr 2015
haben Sie sicherlich, wenn Sie ehrlich sind, zur Kenntnis genommen.
Wir als Koalition versuchen – und das sollten Sie zur Kenntnis
nehmen –, eine europarechtskonforme Lösung zu finden. Das Justizministerium
schlägt vor: Wer innerhalb gerichtlicher Frist im Prozess ein Argument nicht
einbringt, ist damit im weiteren Verlauf ausgeschlossen. Das ist ein
pragmatischer europarechtskonformer Weg. Es finden sich weitere Vorschläge auch
im Bund-Länder-Papier.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Es ist gut, dass wir in den Zielen
übereinstimmen. Die Ampel bringt ein Gesetz nach dem anderen ein, um
Planungsverfahren zu beschleunigen. Sie hingegen beschleunigen nur das Tempo
halbgarer Vorschläge.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die AfD hat René Bochmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe
Zuschauer auf den Tribünen und an den Fernsehgeräten!
({0})
Wir debattieren heute in der ersten Beratung über den von der CDU/CSU
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Beschleunigung von Planungs-
und Genehmigungsverfahren an Brücken auf Bundesfernstraßen. Insbesondere
bemängelt dabei die Union die langen Zeiträume für notwendige Planungsverfahren.
Das Paradoxe und etwas Lustige dabei ist, dass Sie zur Beseitigung dieser
Missstände mehr als zwölf Jahre Zeit hatten und die dafür verantwortlichen
Minister stellten.
({1})
Beispielhaft erwähnen Sie in Ihrem Antrag die Sperrung der Talbrücke
Rahmede der Bundesautobahn 45 im Dezember 2021. Dabei geht es hier um viel mehr.
4 000 Brücken sind sanierungsbedürftig. Ich wiederhole: 4 000 Brücken! Die
Bewertung erfolgt seit Kurzem durch sogenannte Lastmodelle, die Zustand und
Tragfähigkeit der Brücke beschreiben. Ähnlich wie bei Schulnoten beschreiben
LM 1 bis LM 5 den aktuellen Brückenzustand. LM 1 steht für „keine Abweichung“,
LM 5 für „absolut kaputt“. Mit LM 5 werden circa 16 Prozent der Autobahn- und
Bundesstraßenbrücken bewertet; sie sind in derart schlechtem Zustand. Das ist
der Stand des Brückengipfels im März dieses Jahres und gleichzeitig Resultat
Ihrer jahrelangen Vernachlässigung unserer Verkehrsinfrastruktur. Gleiches gilt
auch für die deutschen Bundeswasserstraßen mit maroden Schleusen und die Bahn
mit schadhaften Bahntrassen.
Ein weiteres Beispiel für diese Misswirtschaft ist die Rader
Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal. 2018 antworte die Bundesregierung auf der
Drucksache 19/728 auf die Kleine Anfrage des damaligen Bundestagsabgeordneten
Andreas Mrosek und der AfD-Fraktion – ich zitiere mit Erlaubnis der
Präsidentin –:
Eine statische Nachrechnung der bestehenden Rader Hochbrücke ergab,
dass das Bauwerk erneuert werden muss. Die Vorplanung für das Ersatzbauwerk
wurde Anfang 2015 begonnen.
Meine Einzelanfrage im Februar 2022 zum gleichen Sachverhalt, Rader
Hochbrücke, also vier Jahre später – zu finden in Drucksache 20/894 –, ergab
fast die gleiche Antwort. Die gesamte Verkehrsinfrastruktur wurde
unverantwortlich und systematisch vernachlässigt.
({2})
Hinzu kommen immer wieder Blockaden der Umweltverbände, die zu
weiteren unnötigen Verzögerungen und Kostenexplosionen führen. Beim Anschluss
der Bundesstraße 6n an die Bundesautobahn 9 ist es beispielsweise die
Knoblauchkröte – unfassbar.
({3})
Auch unter der Ampel hat sich bisher nichts zum Besseren geändert, wie
die geplante Nutzung der innerstädtischen Berliner Parkplätze an
Bundesfernstraßen als Abstellfläche für Fahrräder oder der Stillstand beim
Neubau der Bundesautobahn 100 zeigen. Deshalb stimmen wir diesem Antrag zu.
Oder: Fragen Sie ganz einfach mal Ihr Navigationssystem, wie wir jetzt am
schnellsten ans Ziel kommen. Es würde wahrscheinlich die AfD empfehlen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen allen ein
angenehmes Wochenende, einen schönen zweiten Advent.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Wiederaufbau nach dem Hochwasser im vergangenen Jahr, der Aufbau
klimaresilienter Städte, der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dadurch
ausbleibenden Gaslieferungen – wir stehen vor riesigen Herausforderungen, was
Planungs- und Genehmigungsverfahren angeht. Die Klimakrise, die Energiekrise,
die Überbleibsel der Coronapandemie – all das stellt unsere Behörden vor riesige
Herausforderungen. Ihre Antwort, liebe Union: die Schaffung des überragenden
öffentlichen Interesses für Bundesfernstraßen. Im ganzen Land zerfallen die
Brücken, weil Sie und Ihre Verkehrsminister in den letzten zwölf Jahren mit
Flugtaxis und rechtswidrigen Mautverfahren beschäftigt waren, anstatt das
Problem endlich anzugehen.
({0})
Fast nirgends wird das so deutlich wie bei der schon erwähnten
Rahmedetalbrücke. Die Kosten für die Sperrung gehen in die Milliarden. Aber,
liebe Union, wer hat uns den Murks denn eingebrockt? Ihre Kritik ist an dieser
Stelle wohlfeil.
({1})
Ich möchte betonen: Niemand leugnet, dass wir eine schnellere
Sanierung von Brücken brauchen. Ich bin in der Eifel groß geworden. Mir brauchen
Sie nicht zu sagen, dass wir eine vernünftige Verkehrsinfrastruktur brauchen,
gerade dort, wo wir noch keinen ÖPNV und keine Alternativen haben. Aber wir
brauchen sie nicht so, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf schreiben.
({2})
Wir als Ampelkoalition haben uns das Thema Planungs- und
Genehmigungsbeschleunigung ganz oben aufgeschrieben.
({3})
Am Mittwoch war die VwGO bereits Thema im Kabinett. Ich kann Ihnen
sagen: Es werden noch viele Gesetze folgen. Dass wir im Jahr 2022 noch zig
Aktenordner brauchen, um eine Windkraftanlage zu genehmigen, ist völliger
Irrsinn. Für uns Grüne ist klar: Bei der Beschleunigung des Neubaus von
Infrastruktur brauchen wir ganz klare Priorisierungen. Wer alles beschleunigen
will, beschleunigt am Ende gar nichts. Deswegen muss es um Windenergie,
Stromtrassen und Bahnstrecken gehen
({4})
und nicht primär um Autobahnen und Flughäfen.
({5})
Denn es geht darum, Energiesouveränität herzustellen, und um eine
nachhaltige, funktionierende Infrastruktur.
Thema Nachhaltigkeit: In Ihrem Gesetzentwurf kommt das Wort
„Schadstoffimmissionen“ genau einmal vor, und zwar bei der Begründung der
Forderung, noch breitere Straßen zu bauen. Der zweite wichtige Punkt: Im
Hinblick auf Planungsbeschleunigung ist zu betonen, dass Umweltschutz nicht das
Problem ist. Nicht Feldhamster und Rotmilan verhindern Planungen in diesem Land,
sondern Faxgeräte und mangelndes Personal.
({6})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns aufhören,
Gegensätze aufzumachen! Die unmittelbaren Reformen müssen zielgenau sein.
Anstatt falsche Gegensätze, die häufig mehr Klischee als Realität sind,
aufzumachen, sollten wir anpacken und pragmatisch sein.
Vielen Dank.
({7})
Der nächste Redner ist Christian Hirte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele der
Vorredner haben darauf hingewiesen, dass wir ein akutes Problem haben, und zwar
nicht nur bei der Brücke in Lüdenscheid, sondern auch bei vielen anderen
infrastrukturpolitischen Themen. Wir haben 4 000 Brücken, die saniert werden
müssen,
({0})
viele Straßen, die saniert werden müssen, und andere
Infrastrukturprojekte. Viele bestätigen das.
Aber wenn wir gerade vom Redner der Grünen gehört haben, dass wir als
Union in der Vergangenheit falsch darauf reagiert haben, dann zeigt das doch
eher, dass Sie ideologisch mit der Situation umgehen, vor allem, wenn Sie
meinen, dass wir heute nur punktuell, an der einen oder anderen Stelle, etwas
erreichen wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie erkennen, dass wir an einigen
Punkten schneller werden müssen. Beispiele wurden schon genannt, etwa der
schnelle Ausbau des LNG-Terminals. Das unterstützen wir als Union, weil wir das
für richtig erachten. Auf der anderen Seite sind wir in unserem Land aufgrund
sich seit Langem aufbauender Probleme in einer so herausragenden Krise und
stehen auch aufgrund der aktuellen Krisensituation durch den Krieg in Europa und
die großen Transformationsprozesse vor so großen Herausforderungen, dass wir in
nahezu jedem Bereich schneller, besser werden müssen.
({1})
Jetzt war es in der Vergangenheit so, dass wir in Deutschland gerade
nicht dafür berühmt waren, dass wir beim Thema „Pragmatismus und Tempo“ gut
waren. Warum das so ist, haben wir von einigen Rednern gerade gehört. Sie lehnen
es schlicht ab, das, was möglich wäre, auf den Weg zu bringen.
({2})
Tatsächlich ist es doch so – lieber Kollege Müller –, dass wir das
nicht nur zum Beispiel bei dem Infrastrukturprojekt im Watt, wo wir im
Weltnaturerbe neue Infrastrukturen ganz schnell mit abgekürzten
Umweltverträglichkeitsprüfungen auf den Weg bringen, machen könnten, sondern
auch in anderen Bereichen. Genau das ist die Forderung der CDU/CSU-Fraktion:
dass wir schauen, wo es noch notwendig ist, zum Beispiel auch bei
Straßenbauprojekten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den
Transformationsherausforderungen in unserem Land geht es eben darum, den Ausbau
nicht nur der Energieinfrastruktur auf den Weg zu bringen, sondern auch den der
restlichen Infrastruktur.
({3})
Das hören wir ja gelegentlich; aber das, was bei Ihnen passiert, ist
leider zu wenig. Wir als Union machen einen konkreten Vorschlag. Wir
unterstützen nicht nur das, was Sie richtigerweise auf den Weg bringen, sondern
wir machen bessere, darüber hinausgehende Vorschläge, zum Beispiel auch für die
Bundesstraßen, um vor allem die Beschleunigung von Verfahren und die
Vereinfachung von Verfahren zu ermöglichen.
Wir haben die Situation, dass das aktuelle Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz
Verbandsklagen ermöglicht, dass diese aber häufig instrumentalisiert,
missbraucht werden für die Wahrnehmung von Partikular- und von Einzelinteressen
vor Ort. Das ist der falsche Weg.
({4})
Wir müssen schneller werden. Wir müssen Verfahren abkürzen,
vereinfachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann, wenn nicht jetzt, ist es an
der Zeit, Gas zu geben und unser Land voranzubringen?
Vielen Dank.
({5})
Bernd Reuther ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Kollege Müller, ich fange mal mit etwas Positivem
an. Es gibt ein bekanntes Lied, in dem es heißt: „Mein Herz schlägt für das
Sauerland“.
({0})
Gleich spricht auch noch der Kollege Ziemiak. Ich will euch nicht
absprechen, dass euer Herz für diese Region schlägt; aber auch das Herz der
Freien Demokraten schlägt für das Sauerland.
({1})
Das zeigt allein die Tatsache, dass Minister Volker Wissing die
Rahmedetalbrücke zur Chefsache gemacht hat. Ich glaube, es gibt kein
Infrastrukturprojekt in diesem Land, bei dem so viele hochrangige Vertreter des
Ministeriums – der Minister voran – vor Ort gewesen sind, mit den Menschen vor
Ort gesprochen und ihnen versprochen haben, dass sie sich um dieses Projekt
schnellstmöglich kümmern und es schnellstmöglich nach allen Regeln der Kunst
umgesetzt wird.
({2})
Aber zur Wahrheit gehört auch – Kollege Berghahn hat es
angesprochen –: Wir hätten dort an der A 45 schon längst eine neue Brücke haben
können. Das muss man einfach mal so konstatieren.
Jetzt will ich auch noch – hört gut zu! – die Große Koalition loben.
Denn vor vielen Jahren ist die Autobahn GmbH auf den Weg gebracht worden.
({3})
Da ist dafür gesorgt worden, dass nicht mehr die Länder, die das alle
ganz unterschiedlich geregelt haben, sondern jetzt die Autobahn GmbH zuständig
ist.
({4})
Minister Volker Wissing hat dann zu Beginn dieses Jahres endlich eine
einheitliche Überprüfung der gesamten Autobahnbrücken in diesem Land
vorgenommen. Das hat viel Trauriges zutage gefördert: 4 000 Autobahnbrücken in
diesem Land sind sanierungsbedürftig. Diese Koalition, die Regierungsfraktionen
gehen es mit Hochdruck an, die Sanierung schnellstmöglich auf den Weg zu
bringen.
({5})
Ich will noch eines sagen: Hier wurde gerade von den Kollegen – auch
Kollege Schreiner hat es erwähnt – von „Hand reichen“ gesprochen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Union, ihr habt in der letzten Wahlperiode mehrere
Gesetze zur Planungsbeschleunigung auf den Weg gebracht. Da haben wir als Freie
Demokraten Vorschläge gemacht, die ihr jetzt in euren Gesetzentwurf geschrieben
habt.
({6})
Wir haben euch damals die Hand gereicht. Ihr habt sie in der letzten
Wahlperiode nicht ergriffen. Das gehört auch dazu. Ihr habt die Hand nicht
ergriffen!
Die Bundesregierung wird ein Gesetz vorlegen, das viele dieser Punkte,
die wir schon in der letzten Wahlperiode vorgeschlagen haben, aufgreift,
({7})
was die Priorisierung von wichtigen Infrastrukturen angeht, was das
Abschaffen von Doppelüberprüfungen angeht, ein Gesetz, das Bürger- und
Öffentlichkeitsbeteiligung von Beginn an garantiert – ein ganz wichtiger
Punkt –, das das Pingpong zwischen Landes- und Bundesbehörden beendet, das den
digitalen Datenfluss sicherstellt und das Building Information Modeling enthält,
was ein ganz wichtiger Punkt ist. Wir wollen das beschleunigte Verfahren, das
wir bei LNG-Terminals angewendet haben, zum Standard machen,
({8})
und zwar auch für die Schiene, für Wasserstraßen, für
Bundesfernstraßen, für Brücken.
({9})
Das muss alles mit dabei sein.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Sie haben jahrelang
gebummelt; wir machen jetzt Geschwindigkeit.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Martina Englhardt-Kopf hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, in einer Sache sind wir uns heute
einig: Die Planung und die Umsetzung von wichtigen Infrastrukturmaßnahmen in
unserem Land müssen deutlich schneller gehen.
({0})
Es dauert einfach zu lange: Jahre, Jahrzehnte. Es wird vieles
blockiert und verhindert, und daraus müssen wir endlich unsere Lehren ziehen.
Als Exportnation und Transitland im Herzen Europas sind wir auf eine gut
funktionierende Infrastruktur, auf ein gutes Verkehrsnetz angewiesen. Es ist
unverzichtbar für unsere Wirtschaft, für das wirtschaftliche Handeln, aber auch
für die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger.
70 Prozent der gesamten Verkehrsleistungen erfolgen über die Straße,
und das ist einfach ein Fakt, den wir heute auch ganz klar bewerten müssen. Wir
brauchen in der Zukunft nicht nur kräftige Investitionen – ich denke hier an die
drohende Auflösung des Finanzierungskreislaufes „Straße finanziert Straße“, ein
völlig fatales Zeichen; die Ampel ist sich hierüber bereits einig –,
({1})
sondern dürfen uns auch den Luxus langwieriger Verfahren nicht länger
leisten. Denn Mobilität in der Zukunft wird, egal welche Antriebstechnologien
wir haben, auch auf der Straße stattfinden müssen.
Wir leben gegenwärtig in multiplen Krisenzeiten und unterliegen
dynamischen Veränderungen; tagtäglich passiert Neues. Aufgrund dessen müssen wir
hier einfach unsere Infrastruktur weiter ertüchtigen und das Ganze auch vor
diesem Hintergrund betrachten.
({2})
Folgende Konsequenz: Eine gut funktionierende Infrastruktur liegt im
überragenden öffentlichen Interesse. Auch Bundesfernstraßen sind
Lebensadern.
({3})
Darüber laufen Gütertransporte, aber auch die Mobilität unserer
Bürgerinnen und Bürger.
In der aktuellen Periode ist bisher wenig in diesem Bereich passiert,
wenn wir auf das Bundesverkehrsministerium blicken. In der Vergangenheit, auch
mit der Unterstützung der SPD, wurden viele Planungsbeschleunigungsgesetze auf
den Weg gebracht; aber wir dürfen hier nicht nachlassen. Wir müssen schneller
werden. Die Infrastruktur muss hier viel schneller angepasst werden.
Es gibt ja auch ein gutes Beispiel aus der Praxis dafür, dass es eben
doch gehen kann. Es wurde heute bereits das LNG-Beschleunigungsgesetz
angesprochen. Nach diesem Vorbild müssen wir weiter voranschreiten. Die FDP hat
das soeben angesprochen. Aber wenn ich richtig informiert bin, liebe FDP,
konnten Sie sich auch nicht bei der Verkürzung des Rechtswegs durchsetzen, was
möglich wäre, wenn Bundesfernstraßen im überragenden öffentlichen Interesse
liegen. Aber es wurde gestrichen; somit gilt hier der verkürzte Rechtsweg
nicht.
({4})
Das ist Fakt; die Meldung ist vom 1. Dezember. Das sei an dieser
Stelle auch erwähnt, wenn Sie hier solche großen Töne spucken, dass die
beschleunigten Verfahren bei LNG künftig auch als Grundlage für andere Bereiche
dienen sollen.
({5})
Dafür, wie es schneller gehen kann, liefert unser Gesetzentwurf viele
wertvolle Ansätze.
Frau Kollegin.
Greifen Sie ein, damit wir unsere Infrastruktur fitmachen für die
Zukunft – besser heute als morgen!
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Dr. Zanda Martens hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
demokratischen Parteien! Es ist interessant, über einen Gesetzentwurf der Union
zu sprechen, der sich mit Geschwindigkeit befasst. Leider sind Sie bei Ihrem
Gesetzentwurf mit hoher Geschwindigkeit bereits aus der ersten Kurve
geflogen.
({0})
In wesentlichen Teilen haben Sie bei genauem Hinsehen nämlich nichts
anderes getan, als das von uns verabschiedete LNG-Beschleunigungsgesetz zu
kopieren.
({1})
Aber Sie haben es offensichtlich versäumt, sich die wesentlichen
Unterschiede zwischen kritischer Energieinfrastruktur und einer Autobahnbrücke
klarzumachen.
({2})
Zunächst ist zu begrüßen, dass Sie in § 3 Ihres Gesetzentwurfs eine
Änderung des Fernstraßenbaugesetzes anregen, die einen Instandhaltungsplan
schaffen soll. Bedauerlich ist nur, dass Ihnen dieser zwingende Gedanke nicht
bereits in der letzten Dekade gekommen ist.
({3})
Immerhin sind in den letzten 12 – nicht 16 – Jahren vier verschiedene
Bundesminister einer christsozialen Regionalpartei im Verkehrsministerium
verschlissen worden. Verwunderlich ist die Zielrichtung dieses
Instandhaltungsplans. Hier schlagen Sie nämlich vor, dass die Sanierung der im
Plan genannten Bauvorhaben teilweise oder ganz von der
Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen werden soll.
({4})
Derartige Einschnitte sind im Fall von kritischer Energieinfrastruktur
bedauerlich, aufgrund der wenigen Fälle aber vielleicht noch verkraftbar.
({5})
Im Fall von Bundesfernstraßen und Brücken kommt Ihr Vorschlag hingegen
einer grundsätzlichen Schleifung der Umweltverträglichkeit gleich. Schlimmer
noch: Mit Ihrer Gesetzeskopie navigieren Sie blind in den Geltungsbereich des
Europarechts, und das auch noch wider besseres Wissen, oder?
({6})
Denn in der Begründung zum Gesetzentwurf erläutern Sie ausgiebig, dass
gemäß EU-Recht und ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs das
Aussetzen von Umweltverträglichkeitsprüfungen für den Bau und in weiten Teilen
auch für die Instandhaltung von Bundesfernstraßen und notwendigen Brücken nicht
möglich ist.
({7})
Man hätte doch annehmen können, dass die Union gerade im
verkehrspolitischen Bereich ausreichend Erfahrung mit dem Europarecht gesammelt
hat, Stichwort „Pkw-Maut“.
({8})
Insofern verwundert mich, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
erneut eine Klatsche vor dem Europäischen Gerichtshof riskieren.
Nicht verwundert mich hingegen, dass Sie Ihren fragwürdigen Umgang mit
dem geltenden Recht gleich auch noch auf das Bundesnaturschutzgesetz
übertragen.
({9})
So schlagen Sie vor, die Fristen zur Genehmigung und zum
Umsetzungsbeginn von Ersatz- und Ausgleichsmaßnahmen auf insgesamt fünf Jahre
auszudehnen.
({10})
Auch das ist eine Kopie aus dem LNG-Beschleunigungsgesetz, was Sie
immerhin in der Begründung kenntlich machen.
({11})
Wo sich aber der Anwendungsbereich des LNG-Gesetzes auf insgesamt vier
Terminals beschränkt, umfasst der Anwendungsbereich Ihres Vorschlags Zigtausende
Kilometer Bundesfernstraßen und Brücken
({12})
und „vergleichbare Bauprojekte“ – Definition offen und Anzahl
unbekannt. Was hier deutlich wird: Vier Terminals lassen sich keinesfalls mit
dem gesamtdeutschen Bundesfernstraßennetz vergleichen, weder qualitativ noch
quantitativ.
({13})
Selbiges gilt auch für Ihren Vorschlag, das Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen zu beschneiden, und zwar dahin gehend, dass
mittelständische Interessen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nicht mehr
vornehmlich berücksichtigt werden sollen.
({14})
Es ist überraschend, dass die Union sich immer mehr nicht mehr als die
Partei des Mittelstandes darstellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wie mein Vorredner Jürgen
Berghahn erläutert hat, arbeiten die Bundesregierung und unsere Fraktionen
gerade emsig an einem Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung von Planungs- und
Genehmigungsverfahren. In der Beratung des Gesetzentwurfs freuen wir uns
selbstredend auf Ihre konstruktive Zuarbeit.
Bis dahin, aber auch für die weitere Zukunft möchte ich Sie jedoch
bitten: Sosehr Ihnen beim Schreiben Ihrer Vorlagen die Geschwindigkeit am Herzen
liegen mag,
({15})
so sehr kann es doch lohnenswert sein, beim Abschreiben zumindest kurz
über Fliehkraft und Kurvengeschwindigkeit und somit über den Inhalt zu
reflektieren.
Gute Fahrt.
({16})
Paul Ziemiak hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Katastrophe begann vor genau einem Jahr: Eine der wichtigsten Verkehrsadern in
Deutschland hat einen Infarkt erlitten. Es begann ein großer Horror für die
Menschen in Lüdenscheid, im Sauerland, im Märkischen Kreis, in ganz
Südwestfalen. Die Menschen leiden unter dieser Situation. Wenn jeden Tag
40‑Tonner an ihren Schlafzimmerfenstern vorbeidonnern, dann werden sie am Ende
krank. Das ist Körperverletzung, was viele an den Umleitungsstrecken jetzt
erleben, und es ist eine große Belastung für die gesamte Region. Wir haben diese
Situation bisher gemeinsam bewältigt und versucht, aus dieser schlimmen
Situation noch das Beste zu machen. Aber wir sind in großer Sorge um die
Zukunft.
Herr Minister Wissing, Sie sind heute da. Das ist ja keine
Selbstverständlichkeit bei dieser Ampelregierung, dass sich bei wichtigen Themen
auch die Minister blicken lassen.
({0})
Sie tun es heute; das ist gut.
Ich weiß, dass das dem Minister ein Anliegen ist. Sie waren vor Ort,
Herr Minister. Sie setzen sich ein; wir sind dazu im Gespräch. Aber Sie haben
heute in der „Westfalenpost“ in einem Interview richtig gesagt: Alles, was es an
Ideen gibt, muss auch einer rechtlichen Überprüfung standhalten. – Damit hat der
Minister recht, und deswegen legen wir heute diesen Vorschlag vor, damit die
Rahmedetalbrücke so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden kann und die
Menschen endlich entlastet werden können, meine Damen und Herren.
({1})
Ich war heute sehr gespannt auf Ihre Vorschläge. Das ist keine
parteipolitische Frage; auch vor Ort arbeiten wir alle zusammen. Jetzt legt eine
Fraktion, in diesem Fall CDU/CSU, einen Vorschlag vor. Ich war gespannt: Was
haben Sie denn für Ideen? Was haben wir vielleicht nicht so gut gemacht? Was
kann man besser machen? Was fehlt noch, damit die Brücken, diese Brücke und
andere, schneller aufgebaut werden können? – Dann vernehme ich hier einfach
blanke Ignoranz.
({2})
Die AfD sagt: Merkel ist schuld. – Die Grünen sagen: Der Brückenbau
kann jetzt nicht beschleunigt werden wegen der globalen Klimakrise. – Die SPD
sagt: Wir machen jetzt erst einmal gar nichts. – Die Linke schaut die ganze Zeit
auf das Handy und sucht Lüdenscheid.
({3})
Das ist doch keine Haltung.
({4})
Bringen Sie doch Ihre Ideen ein, damit wir einen noch besseren
Gesetzentwurf erarbeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Kollege Ziemiak, es gibt zwei Wünsche nach Zwischenfragen:
einmal aus der SPD, einmal aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Möchten Sie
beide zulassen?
Ja, selbstverständlich. Es geht um die Sache.
Dann, bitte schön.
({0})
Stellen Sie doch eine Zwischenfrage wie die Kolleginnen, und
plappern Sie nicht dazwischen.
({0})
An dieser Stelle haben Sie auch recht, aber nicht nur an der.
({1})
Jetzt ist zuerst die Kollegin Baradari mit einer Zwischenfrage
dran.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Vielen Dank, Herr Kollege Ziemiak,
dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben davon erzählt, wie schwierig die
Situation vor Ort ist. Das wissen wir sauerländischen Abgeordneten, die vor Ort
sind, auch. Übrigens: Auch das Herz der SPD schlägt für das Sauerland; das
möchte ich an dieser Stelle einmal festhalten.
Ich möchte Sie gerne fragen: Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass es
einen Beschlussvorschlag des Bundeskanzleramts zusammen mit den Chefs der
Kanzleien der Länder vom 17. November zu genau diesem Punkt gibt, und zwar mit
dem Titel „Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung“?
Genau darin, Herr Ziemiak, sind unsere Vorschläge nämlich schon längst
enthalten. Da kommen Bund und Land zusammen. Sie stellen es hier so dar, als
liefe überhaupt nichts. Ich möchte Sie einladen, in nächster Zeit einmal zur
Brücke zu gehen und zu schauen, wie dort gearbeitet wird.
Bitte stellen Sie auch klar, dass das Problem nicht der Brückenbau
ist, sondern dass die Umleitungsstrecken das Problem sind; da ist die
schwarz-grüne Landesregierung in der Pflicht.
({0})
Das ist Horror für die Anwohnerinnen und Anwohner vor Ort. Ihre
Polemik ist hier unangebracht.
Jetzt nehme ich gleich noch die Frage von Frau Menge dazu. – Dann
kann Herr Ziemiak, der sich gut Dinge merken kann, das im Kontext beantworten
und dann in die Schlusskurve seiner Rede kommen. Es ist nämlich nicht mehr viel
Redezeit übrig.
Danke schön, Herr Ziemiak, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben
gesagt, dass Sie hier keine Vorschläge gehört haben, dass niemand etwas zur
konkreten Umsetzung gesagt habe. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Kollege
Mansoori einzelne Vorschläge vorgelegt hat, bei denen es vor allen Dingen um
Planungseffizienz und Planungsmanagement geht. Wir haben aufgezeigt, wo Sie in
Ihrem Gesetzesvorschlag falsch liegen, weil bestimmte rechtliche Vorgaben nicht
eingehalten werden. Meine Kollegen, vor allem der Kollege Benner, haben darauf
hingewiesen, was machbar und umsetzbar ist. Warum ignorieren Sie das an dieser
Stelle?
Vielen Dank für die Zwischenfragen. – Zunächst einmal, Frau Kollegin
Baradari, der Beschlussvorschlag vom Bundeskanzleramt und von den Ländern zur
Beschleunigung der Verfahren steht, wenn ich es richtig sehe, nicht mehr auf der
Tagesordnung für die nächste MPK. Vielleicht können Sie sagen, woran das liegt.
Das werden Sie wissen. Also, mir geht das nicht schnell genug. Ich will Ihnen
das ganz ehrlich sagen.
Sie haben gerade gesagt, ich solle zu der Brücke kommen, an der ich
schon häufig war, und mir anschauen, was dort alles an Bauarbeiten passiert.
Wissen Sie, die Menschen in Lüdenscheid und im Märkischen Kreis haben nichts
davon, wenn sie sich anschauen, wie dort Bagger herumfahren. Die Menschen
interessiert nur eins: Wann steht endlich die neue Brücke, damit der Verkehr
raus ist aus der Stadt und die Region wieder leben kann?
({0})
Es bringt doch nichts, wenn wir die ganze Zeit darüber diskutieren,
wie viele Bagger vor Ort sind.
({1})
Sie haben gefragt: Wer ist schuld? Wer trägt Verantwortung? Darüber
können wir gerne diskutieren. Nur, wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen
den Handwerkern, den Unternehmen, den Menschen im Sauerland auf der einen und
manchen hier im Deutschen Bundestag auf der anderen Seite: Sie zeigen immer auf
andere und dorthin, wo es Probleme gibt,
({2})
sagen aber nicht, wie es gehen kann. – Das ist nicht meine Mentalität.
Ich würde Ihnen in der SPD wünschen, dass auch Sie mehr sauerländische
Mentalität haben und einfach mal anpacken und nicht nur die Schuld auf andere
schieben.
({3})
Nun zu Frau Menge. Ihre Vorschläge sind insofern nicht konstruktiv,
als dass Sie grundsätzlich nicht auf unseren Gesetzentwurf eingehen wollen.
({4})
Das würde ich mir aber sehr wünschen. Sie haben gerade selbst gesagt:
Wegen des Klimaschutzes und wegen der Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner
könnten wir das Planungsrecht nicht ändern. Ich sage Ihnen: Die Emissionen im
Zusammenhang mit der Autobahnbrücke werden vor allem dadurch verursacht, dass
sich die Lkws und die Autos durch die Stadt quetschen müssen. Die Menschen sind
durch die Abgase belastet. Von dieser Brücke geht keine Hochwassergefahr aus.
Wissen Sie, wenn Sie über die Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner
sprechen: Ich kenne keinen Einzigen, der will, dass dieser Zustand lange so
bleibt.
Also, wenn Ihnen die Anliegen der Menschen in der Region am Herzen
liegen, dann wissen Sie, was zu tun ist: Diese Brücke muss so schnell wie
möglich gebaut werden. Das ist der Grund, warum Florian Müller und alle anderen
Verkehrspolitiker aus der Union diesen Gesetzentwurf vorgelegt haben.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in Südwestfalen, wir im
Märkischen Kreis brauchen Ihre Hilfe, damit wir endlich entlastet werden. Seien
Sie konstruktiv, denken Sie nicht in Parteigrenzen, sondern lassen Sie uns
zusammenarbeiten, dass wir möglichst schnell die Brücke hochziehen und unsere
Region wieder richtig stark werden kann, damit wir unseren großen
Wirtschaftsstandort Südwestfalen, der für Deutschland so wichtig ist, wieder neu
beleben können.
Vielen Dank.
({6})
Stefan Gelbhaar hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Politische Amnesie, Herr Ziemiak, ist anscheinend weit verbreitet in diesem
Haus. 13 000 Brücken landauf, landab – 13 000, nicht 4 000 – haben Sie verfallen
lassen. Dann beklagen Sie sich: Hey, das dauert zu lange mit dem Wiederaufbau. –
Sorry, aber das geht nicht. Sie müssen schon Ross und Reiter benennen. Wie ist
denn das passiert? Wie sind denn diese Brücken zerbröselt? Wer hat denn in zwölf
Jahren die Prioritäten gesetzt? Welche Prioritäten wurden gesetzt? Wurden sie so
gesetzt, dass Brücken zerbröseln, dass man sie sperren muss, dass sie jetzt
saniert werden müssen? Das fällt doch nicht vom Himmel. Jetzt stellen Sie sich
hier an das Pult und erzählen was vom Pferd. Das passt nicht zusammen, Herr
Ziemiak.
({0})
Ja, dieses Land ist zu langsam beim Bau von Infrastrukturprojekten.
Das ist vollkommen unbestritten. Aber was Sie da vorschlagen, hilft doch
nicht.
Möchten Sie eine Frage von Herrn Ziemiak zulassen, Herr Kollege?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Sie haben eindrucksvoll bewiesen, dass das, was ich
Ihnen unterstellt habe, stimmt: Das Einzige, was Sie tun, ist, auf andere zu
zeigen und über die Vergangenheit zu sprechen.
({0})
Meine Frage ist: Sind Sie bereit, in Ihrer Rede noch etwas darüber zu
sagen, wie wir die Brücke jetzt so schnell wie möglich aufbauen können und
welche Verbesserungsvorschläge Sie zu unserem Gesetzentwurf haben?
({1})
Na klar. Es lohnt immer, erst abzuwarten, dann merkt man auch, was
im Vortrag noch so kommt.
Erster Satz dazu. Sie haben in der letzten Legislatur vier
Planungsbeschleunigungsgesetze vorgelegt, und keines davon hat dieses Thema
adressiert. Ich finde es schön, dass Sie jetzt den fünften Gesetzentwurf
vorlegen. Bisher hat keiner Ihrer Gesetzentwürfe irgendeine Planung
beschleunigt. Das kann man festhalten. Auch dieser wird es, ehrlich gesagt,
nicht tun.
({0})
Zweiter Punkt. Sie stellen die Umweltverträglichkeitsprüfung infrage.
Wenn besonders viel Verkehr generiert werden kann, dann wollen Sie das
beschleunigen. Nein, wir sagen: nicht mehr Verkehr. Wir sagen: mehr Mobilität. –
Das muss auch in Ihrem Vorschlag mitgedacht werden. Das passiert nicht. Und das
ist verrückt.
({1})
Dritter Punkt. Sie schlagen in § 6 Ihres Gesetzentwurfs vor – und das
finde ich bemerkenswert –, dass Sie die Überprüfung massiv einschränken wollen.
Sie wollen ganz viel herauskürzen, dem Auftraggeber freie Hand lassen. Und, ganz
ehrlich, das ist der Weg in die Vetternwirtschaft.
Ganz ehrlich: Bürokratie ist kein Selbstzweck; da sind wir
beieinander. Aber gerade die Unionskollegen haben nicht nur in der Pandemie,
({2})
sondern auch bei der Maut, bei den Beraterverträgen, beim Deutschen
Zentrum Mobilität gezeigt, dass es gerichtliche Überprüfung braucht, dass wir da
klare, saubere Verfahren brauchen und eben keine nach Feudalherrenart.
({3})
Dann zum Fokus des Gesetzes: Straßenbau. Es gibt kein Wort zu
Wasserstraßen, kein Wort zu Fahrradwegen, zur Bahninfrastruktur oder zum ÖPNV,
noch nicht mal ein Wort zur Ladeinfrastruktur oder Digitalisierung.
({4})
Nur Straßenbau, und das bei einem der dichtesten Straßennetze der
Welt!
Herr Ziemiak, noch eins: Sie haben gefragt, wie man das beschleunigen
kann. Ja, bauen wir die Brücke doch in gleicher Art und Weise auf;
({5})
dann brauchen wir auch keine Umweltverträglichkeitsprüfung. Das wissen
Sie, und trotzdem gibt es die Vorschläge, die Brücke breiter zu machen. Das
braucht dann Zeit. Das sind die Probleme, die Ihre Vorschläge aufwerfen.
({6})
Herr Hirte, Sie haben kritisiert, dass wir uns hier nicht auf die
Straße fokussieren, und haben gesagt: Genauso wie beim beschleunigten Bau von
LNG-Terminals und Windkraftanlagen müssen wir es auch hier machen. – Dieser
Gedanke ist falsch. Das eine wird dringend gebraucht, beim anderen haben wir
bereits eines der dichtesten Straßennetze der Welt, neben Belgien und den
Niederlanden.
({7})
– Ja, natürlich brauchen wir die Brücke. Aber auf Ihrem Entwurf steht
nicht „Beschleunigungsgesetz für die Lüdenscheid-Fragen“,
({8})
sondern da steht: Bundesfernstraßen und Brücken.
({9})
– Nein, da steht viel mehr drin.
({10})
Deswegen müssen Sie sich fragen lassen: Was brauchen wir denn wirklich
in diesem Land? Diese Frage beantworten Sie nicht,
({11})
sondern Sie stellen einfach nur in den Mittelpunkt: Straßen, Straßen,
Straßen und Straßen. Da frage ich Sie mal zurück: Wo ist denn die
Technologieoffenheit, von der Sie immer reden?
({12})
Wo ist denn der Klimaschutz, den Sie im Munde führen? Nichts davon ist
da, und deswegen taugt Ihr Gesetzentwurf auch einfach nichts. Wir lehnen ihn
ab.
Vielen Dank.
({13})
Mathias Stein spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, dass
ich zu diesem Thema sprechen kann. In der letzten Wahlperiode haben wir
gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion versucht, Planungsbeschleunigung zu erreichen
und Dinge schneller zu machen. Wir haben auch einiges erreicht. Beim Thema
Planungs- und Baubeschleunigung ist Knüppel für Knüppel zu beseitigen. Das ist
wirklich eine Kärrnerarbeit. Das darf sich nicht nur allein auf
Gesetzesänderungen beschränken, meine Damen und Herren.
Wir stehen vor einem gewaltigen Transformationsprozess; das ist hier
angesprochen worden. Wir wollen in einer sehr großen Geschwindigkeit
klimaneutral werden, wir wollen unsere Energieversorgung sichern, und wir müssen
auch dazu beitragen, dass wir Industrienation bleiben. Das sind wirklich
Kärrnerarbeiten. Wir haben es gleichzeitig damit zu tun, dass unsere
Infrastruktur in die Jahre gekommen ist. Sie wurde auch auf Verschleiß gefahren.
Wir haben viel zu viele Belastungen auf die Brücken übertragen, und das holt uns
jetzt ein.
Die Lieferketten sind angespannt; davon hört man.
({0})
Wir erleben jetzt bei der Rahmedetalbrücke einen GAU. Es ist aber auch
in meinem Wahlkreis zu einem GAU gekommen. Am Mittwoch ist ein Kran am
Nord-Ostsee-Kanal in die Holtenauer Hochbrücke hineingefahren. Die Messungen
waren leider fehlerhaft, die Ladepapiere waren vermutlich fehlerhaft. Die Brücke
ist immer noch für den motorisierten Verkehr gesperrt. Das heißt, ich habe jetzt
auch in meinem Wahlkreis am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn Brücken an
Bundesstraßen ausfallen.
Ich glaube, wir müssen wesentlich sorgsamer mit unserer Infrastruktur
umgehen. Ein Bereich gehört dazu, der an dieser Stelle ganz wichtig ist: Wir
müssen all denjenigen den Rücken stärken, die im Bereich Infrastruktur arbeiten,
die den Betrieb der Infrastruktur gewährleisten. Das sind die Planerinnen und
Planer, das sind unsere Ingenieurinnen und Ingenieure.
({1})
Das sind aber auch unsere Handwerkerinnen und Handwerker,
({2})
die jetzt wirklich in mühsamer Arbeit bei jedem Unglück, das wir
haben, versuchen, den Laden am Laufen zu halten. Ich finde, dafür müsste mal ein
großes Dankeschön vom gesamten Haus kommen.
({3})
– Nein, das ist nicht Ironie, Herr Spaniel. Ich habe selber auf
Baustellen gearbeitet. Ich weiß, wie es ist, in Nachtschichten zu arbeiten.
Wir können uns nicht hierhinstellen und einfach so tun, als würden wir
mit einer bloßen Gesetzesänderung etwas ändern. Wir brauchen Personal, wir
brauchen ein Fitnessprogramm, wir brauchen mehr Wissenschaft im Bereich
Bauindustrie. Das alles wissen wir.
({4})
Dafür müssen wir kämpfen, und wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten sind dazu bereit. Wir zollen diesen Menschen wirklich Respekt.
Wir werden zehn Jahre harte Arbeit vor uns haben, bis wir unsere Infrastruktur
auf einen wirklich guten Stand gebracht haben.
Da hilft es auch nicht, so zu tun, als seien die Hauptverursacher
dafür, dass es nicht vorangeht, die schlimmen Umweltverbände. Wissen Sie, ich
habe mit Planungsbeschleunigung viel zu tun gehabt. Es sind manchmal nicht
Umweltverbände, sondern tatsächlich Anwohner, die Angst vor Lärm und
Erschütterung haben. Wenn wir das einfach ignorieren, dann werden wir nicht
schneller, sondern langsamer bauen.
({5})
Diese Fortschrittskoalition, diese Ampelkoalition ist bereit, einen
Infrastrukturkonsens auf den Weg zu bringen, um schneller zu bauen. Wir packen
an, mit den Menschen. Ich glaube, das werden Sie auch bei der
Planungsbeschleunigung sehen. Wir werden für mehr Personal und mehr Fachlichkeit
sorgen, und wir werden diesen Menschen den Rücken stärken.
Ich wünsche allen ein schönes Wochenende.
Vielen Dank.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes
Jahr ist das Jahressteuergesetz ein Gesamtkunstwerk,
({0})
das bei unserem ohnehin sehr komplexen Steuerrecht noch mal in ganz
viele Bereiche eingreift. Das ist in diesem Jahr das erste Jahressteuergesetz
der Ampelkoalition. Und siehe da: Es führt nicht zu mehr Komplexität – das
kennen wir aus der Vergangenheit –, sondern in vielen Bereichen zu deutlichen
Vereinfachungen, Entlastungen und auch Modernisierungen.
({1})
Bei der inhaltlichen Vorstellung des Gesetzes will ich mich auf einige
wenige Punkte konzentrieren. Zunächst sei auch festgestellt, dass es Vorhaben
enthält, die nicht zu den Lieblingsprojekten der Liberalen zählen. Auf die nach
EU-Recht umzusetzende EU-Sonderabgabe auf Vorschlag von Frau von der Leyen
hätten wir ebenso gerne verzichtet wie auf die – verfassungsmäßig aber
gebotene – Neubewertung von Immobilien im Rahmen der Erbschaftsteuer.
({2})
Auch wir halten es für nicht fair, wenn der Staat hier von einer
höheren Bewertung der Immobilien zusätzlich profitiert. Allerdings ist die
Kritik der Union an Bundesfinanzminister Christian Lindner sehr scheinheilig.
Ihm ein Interesse zu unterstellen, eine reine Ländersteuer zu erhöhen, das ist
schon merkwürdig.
({3})
So leidensfähig ist in meinen Augen auch Christian Lindner nicht, dass
er sich freiwillig verprügeln lässt für etwas, von dem ausschließlich andere
profitieren.
({4})
Die Union ist aufgefordert, hier über die Länder eine Änderung
herbeizuführen; unsere Unterstützung haben Sie dabei.
({5})
Nun aber zu den erfreulicheren Punkten dieses Gesetzes. Kernpunkt des
Jahressteuergesetzes sind die Neuregelungen zur Photovoltaik. Wenn wir die
Energiewende ernst nehmen, dann müssen wir das riesige Potenzial der dezentralen
Stromversorgung aus Photovoltaik nutzen. Das gehen wir an zwei Fronten an: Wir
machen in deutlich höheren Grenzen als bisher Erlöse und Entnahmen aus diesen
Anlagen bei der Ertragsteuer steuerfrei, und zwar rückwirkend zum 1. Januar
2022. Darüber hinaus entbürokratisieren wir diesen Prozess im Hinblick auf die
Umsatzsteuer sehr deutlich; ganz lange bestehende Hürden werden endlich
abgebaut. Zukünftig wird es bestenfalls so sein, dass der Bürger, der eine
solche Anlage installiert, mit dem Finanzamt deshalb nichts mehr zu tun haben
wird. Das ist Entbürokratisierung.
({6})
Zweiter Punkt. Wir hatten uns auch gemeinsam vorgenommen, die
Regelungen zum Homeoffice und zum Arbeitszimmer zu vereinfachen. Das ist uns
gelungen, indem wir die Anzahl möglicher Fallkonstellationen in diesem Bereich
signifikant auf eigentlich nur noch zwei Varianten reduziert haben. Zukünftig
werden die Jahrespauschalen dann 1 260 Euro betragen. Das entspricht einer
Tagespauschale von 6 Euro; das ist also auch noch mal erhöht und zusätzlich
entfristet worden. Durch die Neuregelung erhoffen wir uns auch sehr viel mehr
Rechtssicherheit und weniger Streit zwischen Steuerbürgerinnen und ‑bürgern und
der Verwaltung.
Dritter Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte. Der
Koalitionsvertrag sieht vor, die Klimawende voranzutreiben und neuen Wohnraum zu
schaffen, und in beiden Bereichen werden wir aktiv. Wir erhöhen die lineare
Abschreibung für Investitionen in Mietgebäude auf 3 Prozent – eine Forderung,
die wir Liberalen schon lange erheben.
({7})
Darüber hinaus nehmen wir die Sonder-AfA für Investitionen in
Mietwohnungsneubau neu in den Blick, die Ende 2021 eigentlich ausgelaufen ist.
Wir bieten Bauherren ab 2023 eine neue Sonder-AfA an, die aber als zusätzliches
Kriterium auch an die Einhaltung des Klimaschutzstandards EH 40 geknüpft ist. So
verbinden wir beides miteinander: Klimaschutz und Bauen.
Außerdem entlasten wir weiter. Endlich wird der Sparerfreibetrag auf
1 000 Euro erhöht – eine längst überfällige Maßnahme. Und wir gehen einen ersten
Schritt im Hinblick auf die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Rentnern, indem
die vollständige Absetzbarkeit der Beiträge zur Rentenversicherung vorgezogen
wird. Weitere Schritte werden diesbezüglich folgen. Außerdem erhöhen wir
nochmals den Werbungskostenpauschbetrag sowie den Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende um 252 Euro auf jetzt 4 260 Euro.
({8})
Alle vier Vorhaben stellen weitere Entlastungen dar. Modernisieren,
vereinfachen, entlasten: Diesen Dreiklang der Koalition führen wir auch mit
diesem Gesetz fort.
Herzlichen Dank.
({9})
Antje Tillmann hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ja, Herr Kollege Herbrand, dieses Gesetz hat durchaus Regelungen,
denen wir zustimmen können. Das betrifft die Verbesserungen beim Wohnungsbau.
Wir brauchen bezahlbaren, energieeffizienten und auch mehr Wohnraum; deshalb ist
die Sonder-AfA richtig, die Sie auf den Weg bringen, um Wohnungsneubau
anzureizen.
({0})
Wir finden auch richtig, dass die Gebäude-AfA auf 3 Prozent erhöht
wird und dass Sie im Laufe des Verfahrens nun doch dazu gekommen sind, den
Nachweis einer kürzeren Nutzungsdauer zuzulassen. Besser wäre gewesen, wenn Sie
in dem Gesetz auch das System des anschaffungsnahen Herstellungsaufwands
geschliffen hätten; denn auch das sind Hemmnisse für die Sanierung. Auch richtig
finden wir, dass die Riester-Rente genutzt werden kann, um Gebäude energetisch
zu sanieren.
({1})
Bei der Photovoltaik stehen wir bei Ihnen. Wir fordern seit Langem,
dass Photovoltaikanlagen auf Gebäuden nicht zu zusätzlicher Bürokratie führen
dürfen. Es ist richtig, den Mehrwertsteuersatz auf null zu reduzieren und
trotzdem den Vorsteuerabzug zuzulassen. Unserem Antrag, das Ganze von Juli auf
Januar 2023 vorzuziehen, sind Sie ebenfalls gefolgt. Herzlichen Dank dafür!
Auch ein paar Freibeträge werden erhöht, zum Beispiel der
Sparerpauschbetrag auf 1 000 Euro. Der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende
wird angehoben; das ist gut. Ob die 30 Euro mehr beim Arbeitnehmerpauschbetrag
den Braten fett machen, weiß ich jetzt nicht. Aber auch dem würden wir
zustimmen. Auch das Vorziehen der Absetzbarkeit von Rentenversicherungsbeiträgen
ist richtig und verfassungsrechtlich geboten, aber leider nur die Hälfte des
Versprechens. Die spätere Versteuerung der Renten haben Sie in diesem Gesetz
nicht durchgesetzt.
({2})
Ich bin sehr gespannt, ob das noch kommen wird.
Leider haben all diese Vergünstigungen aber einen Wermutstropfen: Sie
machen diese zusätzlichen Entlastungen nämlich alle zulasten der Schuldenbremse.
Auf meine Frage im Finanzausschuss, wie Sie die kurzfristig eingeführten
Steuerentlastungen denn finanzieren wollten, da der Haushalt ja schon längst
verabschiedet ist, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, amüsiert
zwischengerufen: Durch zusätzliche globale Mehreinnahmen. – Ich finde das gar
nicht witzig. Denn das zeigt ganz klar, wie Sie mit dem Haushalt umgehen und
dass die Schuldenbremse Ihnen nichts mehr wert ist. Ehrlich gesagt habe ich
nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet ein Finanzminister der FDP sein
wird, der die Schuldenbremse schleift. Das ist sehr, sehr traurig.
({3})
Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Gründen, die dazu führen, dass
dieses Gesetz heute von uns abgelehnt wird. Ich nenne die Dezemberhilfe. Gut,
dass Bürgerinnen und Bürger hoffentlich bald von den hohen Energiepreisen
entlastet werden. Wir haben zugestimmt, dass sie den Dezemberenergieabschlag
erstattet bekommen. Und es ist irgendwie auch nachvollziehbar, dass Sie
Gerechtigkeit herstellen wollen und deshalb eine Steuerpflicht dieser Beträge
wollen. Aber niemand von Ihnen – einschließlich des BMF – konnte mir im
Ausschuss erklären, wie diese Steuerpflicht umgesetzt werden soll.
({4})
Die Pflichten werden auch erst nächstes Jahr in einem Gesetz
verabschiedet. Und da steht drin: Stadtwerke oder alle Vermieterinnen und
Vermieter sollen Namen und Adressen des Kunden an eine noch zu bestimmende
Stelle schicken. Das BZSt soll dann die Steuer-ID zusteuern, und irgendjemand
soll dann bei 20 Millionen Gasverträgen prüfen, ob der Letztverbraucher
vielleicht auch noch Solidaritätszuschlagszahler ist.
({5})
Das ist eine Bürokratie, bei der jetzt schon die Stadtwerke sagen: Es
ist nicht leistbar. – Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das gehen
soll. Der Ehrliche, der selber angibt und versteuert, wird der Dumme sein.
({6})
In der Anhörung ist gesagt worden: Die Stadtwerke werden schon den
Richtigen treffen. – Selbst die Steuergewerkschaft sagt: Bei der Dezemberhilfe
wird es zu Ungerechtigkeiten kommen. – Da ist aus meiner Sicht Nichtbesteuerung
schon deutlich gerechter als das, was Sie hier vorhaben.
Noch krasser zeigt sich beim Energiesoli, beim Energiekrisenbeitrag,
wie Sie mit Rechtsstaatlichkeit umgehen. Über Monate haben wir alle vermieden,
diesen Solidarbeitrag als Abschöpfungssteuer zu bezeichnen, weil wir dann in der
EU ein Einstimmigkeitsprinzip gehabt hätten. Steuermaßnahmen müssen auf EU-Ebene
einstimmig beschlossen werden. Wir wussten, dass wir diese nicht kriegen. Jetzt
wird in dem Gesetzentwurf auf eine Ermächtigungsvorschrift, Artikel 122 AEUV,
verwiesen, die auf die Einstimmigkeit verzichtet. Aber was machen Sie? Sie
schreiben im Steuergesetz: Dieser Solidarbeitrag ist eine Steuer. – Alle
Sachverständigen, auch Ihre, haben das in der Anhörung problematisiert. Wir
gehen in eine große Rechtsunsicherheit. Wir wissen, dass dieses Gesetz beklagt
werden wird. Wir werden 1 Milliarde bis 3 Milliarden Euro vermutlich wieder
zurückzahlen müssen. Aber vielleicht ist das auch der neue Trick zur Umgehung
der Schuldenbremse, dass wir mit Einnahmen kalkulieren, sie auch ausgeben,
obwohl wir genau wissen, dass wir sie zurückzahlen müssen. Dieses Risiko werden
wir nicht verantworten. Das müssen Sie tun. Auch aus diesem Grund werden wir
dieses Gesetz ablehnen.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat Parsa Marvi das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Satte
18 Verhandlungsrunden und unzählige Gespräche liegen im Rahmen dieses
Gesetzgebungsverfahrens hinter uns. Die intensive Arbeit von uns als
Ampelfraktionen an diesem Jahressteuergesetz hat sich gelohnt: Wir haben dieses
gute Gesetz noch einmal deutlich verbessern können.
({0})
Wer sind nun die Gewinnerinnen und Gewinner unserer Verhandlungen?
Gewonnen haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die entlastet werden.
Gewonnen hat der Wohnungsbau, den wir sozial- und klimagerecht fördern.
({1})
Gewonnen hat die Energiewende durch weniger Bürokratie bei
Photovoltaikanlagen. Und gewonnen hat die Solidarität bei der Krisenbewältigung
durch die Abschöpfung von Zufallsgewinnen. Dafür machen wir gerne Politik, meine
Damen und Herren.
({2})
Wir haben insgesamt eine Menge für die Beschäftigten erreicht:
Vorziehen des 100-prozentigen Steuerabzugs für Altersvorsorgeaufwendungen auf
2023, Anhebung des Ausbildungsfreibetrags, Anhebung des Sparerpauschbetrags –
genau wie im Koalitionsvertrag festgelegt. Wir heben neu den
Arbeitnehmerpauschbetrag zusätzlich an, und auch die Homeoffice-Pauschale auf
maximal 1 260 Euro und damit 260 Euro höher als im Regierungsentwurf. Und auch
das ist neu gegenüber dem Regierungsentwurf – das hat mein Kollege Herbrand
schon ausgeführt –: Wir vereinheitlichen für unzählige Beschäftigte die
Homeoffice-Pauschale und das sogenannte häusliche Arbeitszimmer – ein Paragraf,
der mir auch im Studium immer wieder begegnet ist – zu einer einheitlichen
Tagespauschale. Somit muss in ganz vielen Fällen kein abgeschlossenes
Arbeitszimmer mehr vorgehalten werden. Das vereinfacht den Zugang für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vereinfacht das Steuerrecht. Wir reden
nicht nur über sinnvolle Vereinfachung des Steuerrechts, wir setzen sie als
Ampel auch endlich in die Tat um, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Das haben wir mit Ihnen von der Union nicht hinbekommen.
Wir setzen mit diesem Gesetz den EU-Energiekrisenbeitrag um. Darüber
haben wir als SPD schon vor Monaten gesprochen, endlich können wir hier einen
Knopf dranmachen. Wir orientieren uns eng an den EU-Vorgaben. Und ich finde es
ausdrücklich gut, dass wir den Besteuerungszeitraum auf 2022 und 2023 festgelegt
haben und auch Vorkehrungen treffen, damit Unternehmen zum Beispiel nicht über
das Instrument von Umwandlungen unter den Radar des Gesetzes kommen. Endlich
werden Zufallsgewinne von Kohle-, Öl- und Energieunternehmen für eine
solidarische Krisenbewältigung herangezogen. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag
für mehr Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren.
({4})
Und schließlich haben wir genauer hingeschaut bei der Besteuerung der
Nutzung und Überlassung von Rechten an einem inländischen Register. Das sind zum
Beispiel Lizenzgeschäfte, die in einer digitalen Wirtschaftswelt immer wichtiger
werden. Wir wollen, dass der Besteuerungsanspruch für die sogenannten
Innerkonzernfälle nicht, wie im Regierungsentwurf vorgesehen, in vielen Fällen
entfällt, sondern dass neben der schmal geschnittenen EU-Steueroasenliste eine
eigene nationale Liste für Nicht-DBA-Staaten in einem weiteren
Gesetzgebungsverfahren erarbeitet wird. Wir haben nichts gegen einfache
Handhabung in der Praxis, aber wir wollen potenziellen Steuergestaltungen einen
Riegel vorschieben. So weit reicht jedenfalls unsere sozialdemokratische
Vorstellungskraft, meine Damen und Herren.
({5})
Alles in allem verabschieden wir heute ein gutes Gesetzespaket, für
das die Ampelfraktionen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Mein
herzlicher Dank gilt meinen Mitberichterstattern Michael Schrodi, Tim
Klüssendorf und Bernhard Daldrup, den Kolleginnen und Kollegen der
Ampelfraktionen, unseren tollen Leuten in den Fraktionsbüros, den Referentinnen
und Referenten, dem Sekretariat des Finanzausschusses und natürlich dem
Bundesministerium der Finanzen für die gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({6})
Jörn König ist der nächste Redner für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe
Steuerzahler! Die Erarbeitung des Jahressteuergesetzes war ein Tiefpunkt des
deutschen Parlamentarismus. Sie, werte Ampel, haben den Skandal der GroKo aus
dem Jahr 2019 noch einmal getoppt. Damals waren es 32 Änderungsanträge, die um
21 Uhr kamen, die über Nacht durchgearbeitet werden mussten. Diesmal waren es
39 Änderungsanträge, von denen der letzte erst zwei Minuten vor der
Ausschusssitzung bei uns ankam, und in der Sitzung sollte man dann sach- und
fachkundig darüber diskutieren und entscheiden. Ein absolutes Ding der
Unmöglichkeit. So geht man mit Abgeordneten nicht um.
({0})
Im vorliegenden Jahressteuergesetz gibt es viele gute Dinge, einen
Skandal und ein paar schlechte Bestimmungen.
Gut sind die neuen Bestimmungen zum Grundrentenzuschlag, zum
häuslichen Arbeitszimmer, zur Homeoffice-Pauschale, zur Gebäude-AfA, zu
Altersvorsorgeaufwendungen, zum Riester-Verfahren, zu den Verlusten bei
Kapiteleinkünften
({1})
sowie die Anhebung vieler Freibeträge wie der Ausbildungsfreibetrag
und der Sparerpauschbetrag; Herr Marvi hat es ja gerade gesagt.
Auch die Ertrags- und Umsatzsteuerbefreiung für die Photovoltaik ist
gut
({2})
– ja, weil wir eben nicht darüber diskutieren konnten, Herr
Schmidt –
({3})
– ich finde es trotzdem gut; wir glauben nicht an den
menschengemachten Klimawandel –, aber damit ist leider noch nicht das Problem
bei den bestehenden Anlagen gelöst. Wir fordern in unserem beigestellten Antrag
einen Vertrauensschutz bei der Besteuerung dieser Anlagen. Denn es ist paradox:
Bei der Errichtung der Altanlagen war eine Steuerpflicht auferlegt, aber die
steuerlichen Verluste ab 2018 werden nicht anerkannt.
Ich komme aus Niedersachsen, und für unsere Landwirte ist es ein
bitteres Zeichen, dass auf die Bundesregierung kein Verlass ist. Die Fortsetzung
der Tarifglättung nach § 32c Einkommensteuergesetz hätte als
einkommensförderliches Zeichen der langfristigen Solidarität zwingend in dieses
Gesetz gehört.
({4})
So, wie es jetzt ist, bedeutet es nämlich Nettoeinkommensverluste für
die Landwirtschaft. Die Ampel nimmt den Landwirten dieses erst kürzlich
eingeführte Instrument wieder aus der Hand, frecherweise ohne eine Ersatzlösung
anzubieten.
({5})
Schlecht ist zum Beispiel die faktische Erhöhung der Erbschaftsteuer
bei Immobilien, und auch den direkten Zahlungsweg sehen wir skeptisch, obwohl
jetzt eine freiwillige Lösung angewendet wird.
Kommen wir zum Skandal. Die Ampel führt im Omnibusverfahren eine neue
Steuer ein und nennt es EU‑Energiekrisenbeitrag. Im Grunde ist das die
umstrittene Übergewinnsteuer in einer Tarnkappe. Hierzu zitiere ich den
ehemaligen Vorsitzenden des Ersten Senates des Bundesfinanzhofes, Professor
Dr. Gosch, in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung:
Art. 122 Abs. 1 AEUV bietet weder aus materiellen noch aus formalen
Gründen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für einen befristeten
Solidaritäts-/Energiekrisenbeitrag nach Art. 14 bis 19 der EU-Verordnung.
Geplante Maßnahme unterläuft die Verfahrensanforderungen und
kollidiert mit vorrangigen Normen des AEUV …
Es gibt „offene, vieldiskutierte und auf der Hand liegende
Verfassungsfragen (Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Grundgesetz)“. Zitat Ende.
Kann man so machen. Auch die beiden anderen Sachverständigen haben
genau diese Fragen problematisiert. Auch der Wissenschaftliche Beirat beim
Bundesministerium der Finanzen riet noch in seinem Gutachten vom Juli 2022
dringend davon ab, eine kurzfristig politisch opportun erscheinende, aber
langfristig schädliche Übergewinnsteuer einzuführen.
({6})
Das Ganze war uns so wichtig, dass wir über diesen Punkt eine
getrennte Abstimmung verlangen. Wir lehnen die Übergewinnsteuer in der Tarnkappe
des EU‑Energiekrisensolidarbeitrages ab.
Dem Entschließungsantrag der Union stimmen wir zu. Dem Gesetz würden
wir zustimmen, wenn diese Bestimmung zur EU‑Energiekrise herauskommt; ansonsten
werden wir uns enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Die nächste Rednerin ist Katharina Beck für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen
und Bürger! Ich habe gerade einen ganz tollen neuen Begriff für „Sammelsurium“,
„Potpourri“, „Gesetze, die viele Dinge regeln“ gelernt, nämlich
„Gesamtkunstwerk“; vielen Dank dafür, lieber Markus Herbrand. Denn dieses
Jahressteuergesetz vereint unfassbar viele Regeln unterschiedlicher Natur, und
man kann dieses Gesamtkunstwerk unter zwei Stichworten zusammenfassen: echte
Innovationskraft und zusätzliche Entlastung, die diesem Land wirklich
guttun.
({0})
Es hat echte Innovationskraft. Wir haben 39 Punkte hier im Parlament
noch mal nachgeschärft mit all den Menschen, die daran beteiligt waren. Es gab
tolle Entwürfe aus dem BMF, aber eben auch hier im Parlament.
Umsatzsteuerbefreiung der PV, sogar rückwirkend für dieses Jahr. Wenn
man eine Solaranlage auf seinem Dach installiert, wird das rückwirkend schon für
dieses Jahr mit 0 Prozent besteuert. Das ist viel weniger Bürokratie, und das
ist langfristig einfach toll für den Standort Deutschland, für die bessere
Nutzung erneuerbarer Energien und für die dezentrale Energieversorgung.
Entlastungen haben wir nicht nur für die Rentenbeitragszahlerinnen und
‑zahler und Sparerinnen und Sparer vorangetrieben, was sowieso vereinbart war,
sondern wir heben – zwar klein, aber immerhin – auch den
Arbeitnehmerpauschbetrag noch mal an.
Was ganz besonders wichtig ist – ich glaube, auch gerade nach der
Coronakrise, die Familien und Menschen mit Kindern so stark getroffen hat –: Den
Entlastungsbetrag für Alleinerziehende heben wir auch noch mal an, nämlich um
252 Euro.
({1})
Mir persönlich als für Immobilienbesteuerung Zuständige ist auch
besonders wichtig, dass wir endlich „Öko“ und „Sozial“ in diesem Gesetz
verbinden. Wir heben nicht nur die Neubau-AfA an, sondern führen zusätzlich on
top eine Sonder-AfA in Höhe von 5 Prozent der Herstellungskosten ein, was wir
hier im Parlament erarbeitet haben; das hat nicht nur einen sozialen Anreiz,
sondern auch einen ökologischen. So hat man dann im Endeffekt auch im unteren
Preissegment endlich Wohnungen, die so gut gedämmt sind, dass es nicht so teuer
ist, zu heizen. Das geht super zusammen, und ich freue mich, dass wir diese
Innovationskraft endlich mal nutzen und aufzeigen, dass das geht. Vielen Dank an
alle Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Zum Energiekrisenbeitrag. Es ist historisch; vor einem halben Jahr
hätte niemand gedacht, dass wir als Ampel die Mineralölkonzerne an der
Bewältigung dieser Krise beteiligen. Das ist schon historisch, und ich danke
allen, die da über ihren Schatten gesprungen sind.
({3})
Wir werden hier die Bemessungsgrundlage und den Steuersatz so
übernehmen, wie es von der EU vorgeschlagen worden ist. Wir haben im Parlament
aber die Paragrafen genau gelesen und bei den Umwandlungen noch einen
Umgehungstatbestand ausgeräumt. Hier waren wir gemeinsam sehr gut unterwegs.
Außerdem senden wir – das möchte ich noch sagen – ein tolles Signal an den
Markt, indem wir den Beitrag nicht nur ein Jahr, sondern zwei Jahre erheben.
Denn bis das Kartellrecht endlich nachgeschärft ist, ist es sehr gut, dass
dieses Instrument wie eine Art Brücke wirkt,
({4})
damit der Marktmacht der Konzerne, die die Preise so gut setzen
können, ein Riegel vorgeschoben wird. Vielen Dank dafür.
({5})
Zum Schluss möchte ich mich explizit bei allen Beteiligten, vor allem
aber bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros, in den
Fraktionen, im BMF, bedanken. Sie waren in sehr vielen Nachtschichten mit
involviert, und das ist wirklich nicht selbstverständlich, aber toll bei so
vielen tollen Dingen, die wir hier für das Land voranbringen.
Zum Schluss:
Frau Kollegin, das war schon der Schluss.
Ich möchte, dass wir im Bundesrat sehr schnell damit fertig werden,
damit diese Entlastungen und Innovationsanreize für das Deutschland, in dem wir
gerne leben, schnell vorankommen.
Vielen Dank.
({0})
Christian Görke spricht für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Jahressteuergesetz ist immer ein ganzer Wust von verschiedensten Maßnahmen, aus
unserer Sicht mit viel Licht, aber auch ordentlich Schatten.
Sie planen ein echtes Novum im Umsatzsteuerrecht: 0 Prozent
Umsatzsteuer auf die Lieferung von Photovoltaikanlagen. Gut so, das unterstützen
wir als Linke ausdrücklich.
({0})
Doch stellt sich die Frage: Warum nur dort eine Umsatzsteuerbefreiung?
Landwirtschaftsminister Özdemir hat jüngst bei „Maybrit Illner“ wiederholt, Obst
und Gemüse von der Umsatzsteuer befreien zu wollen. Er sagte, das sei sozial,
wirtschaftlich und klimapolitisch sinnvoll. Wir sagen: Richtig. Doch sind wir im
Gegensatz zur Ökopartei – Frau Beck, wir wollen natürlich Öko und Sozial
verbinden – dafür, dass wir alle Grundnahrungsmittel von der Steuer
befreien,
({1})
nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch Butter, Brot, Milch und Eier.
Meine Damen und Herren, Grundnahrungsmittel, die auch in der Krise jeder
braucht, müssen bezahlbar sein und dürfen nicht mit einer Steuer weiter
verteuert werden, woran auch noch dieser Finanzminister verdient. Das dazu.
Meine Damen und Herren, manchmal denke ich, in diesem Land gilt das
Motto „Nur wer hat, dem wird gegeben“. Weit gefehlt! Es wurde noch besser: Wer
in der Krise Abermilliarden verdient, dem wird auch nicht mehr genommen.
Thema Übergewinnsteuer. Damit komme ich zu Ihnen, meine Damen und
Herren von der Ampel. Man musste Sie regelrecht zwingen, zumindest die EU, dass
Sie die überschäumenden Gewinne der Energiekonzerne mit der Suppenkelle
abschöpfen, und jetzt kommt raus: Sie nehmen nicht mal einen Dessertlöffel statt
der Suppenkelle. Denn Sie sind offensichtlich vor den Energielobbyisten
eingeknickt. Seit Januar klingeln die Kassen der Energiekonzerne, und Sie lassen
sage und schreibe Milliarden Euro Krisengewinne der Stromproduzenten in 2022
nahezu unbesteuert durchlaufen.
({2})
Elf Monate Kriegsgewinne frei Haus, während die Menschen, unter
anderem in meinem Bundesland Brandenburg, Angst vor der nächsten Abrechnung
haben. Wie ungerecht ist das denn, meine Damen und Herren?
({3})
Nicht anders ist es beim Öl und Gas. Sie folgen auch hier nur dem
Minimalkompromiss der EU und öffnen zudem noch mit dem Gesetz den Konzernen Tür
und Tor, um ihre Gewinne kleinzurechnen. Die Deutschen haben in diesem Jahr 2022
ungefähr 60 Milliarden bis 80 Milliarden Euro mehr für Gas, Öl und Benzin
bezahlt. Diese 60 Milliarden bis 80 Milliarden Euro sind überwiegend als Gewinne
bei den Mineralölkonzernen angekommen. Und Sie wollen allen Ernstes bei Öl und
Gas nur maximal 1 Milliarde bis 3 Milliarden Euro davon abschöpfen.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist nicht nur skandalös; angesichts der
Äußerungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD ist das eigentlich auch
beschämend.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Bernhard Daldrup spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn über
70 Änderungsanträge der Ampel und des Bundesrates in über 18 Gesprächen der
Koalitionäre mit dem Ministerium diskutiert werden, dann zeigt das die
Komplexität des Jahressteuergesetzes, aber auch – das nehme ich für uns in
Anspruch – die Ernsthaftigkeit, mit der wir den Anliegen Rechnung tragen wollen.
Deswegen herzlichen Dank an alle Beteiligten, differenziert wie eben schon mal
vorgetragen. Dem schließe ich mich ausdrücklich an.
({0})
Ich kann in meiner begrenzten Zeit nicht über alle Punkte reden.
Deswegen treffe ich nur eine Feststellung, was zum Beispiel die Frage des
EU‑Krisenbeitrages und andere Dinge angeht. Die Union und die Ampel haben in
diesen Fragen eine unterschiedliche Vorstellung von Gerechtigkeit.
({1})
– Nein, wir haben einen Maßstab von Gerechtigkeit, der sozusagen die
Leistungsfähigkeit der Betroffenen einbezieht. Die wollen Sie auf diese Art und
Weise nicht, und das ist ein Unterschied. Das stelle ich hier fest, und ich
werde darüber auch gerne öffentlich reden.
({2})
– Ja, man muss das auch mal öffentlich sagen.
Ich bin mit den Ergebnissen dieser Beratungen zum Jahressteuergesetz
wirklich zufrieden und will das am Beispiel der Wohnungspolitik erläutern.
({3})
Die Wohnungspolitik gehört zu den Schwerpunkten dieser Regierung. Ja,
der Motor ist ein bisschen ins Stocken geraten. Nun stellt sich die Frage: Kann
über das Jahressteuergesetz im Zeitalter des Klimawandels sozusagen ein neuer
Impuls ausgelöst werden? Denn die Regierung macht in diesen Bereichen bereits
eine Menge. Es gibt Milliardenprogramme für die Sanierung von Wohngebäuden. Es
gibt große Beträge für den Bau bezahlbarer Wohnungen und auch für die
Eigentumsförderung. Wie hilft das Jahressteuergesetz in dieser Situation?
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD
zulassen?
Nein. – Erstens. Wir erhöhen – das haben schon mehrere gesagt – wie
im Koalitionsvertrag vereinbart die lineare Abschreibung von Wohngebäuden von
aktuell 2 auf 3 Prozent zum 1. Januar 2023. Seit Jahren gefordert – setzen wir
das jetzt in dieser Ampel um.
({0})
Zweitens. Gleichzeitig bleibt die Möglichkeit erhalten, eine
Schrottimmobilie durch den Nachweis einer tatsächlich kürzeren Nutzungsdauer
schneller abzuschreiben. Wir folgen einem begründeten Wunsch der
Wohnungswirtschaft, auch des Bundesrates. Richtig so.
Drittens. Um einen klimapolitischen zusätzlichen Impuls zu geben,
legen wir eine Sonder-AfA mit deutlichem Akzent zur Stärkung des Baus von
bezahlbaren und klimagerechten Mietwohnungen auf. Innerhalb von vier Jahren
können 5 Prozent der Herstellungskosten für neugeschaffene Mietwohnungen
steuerlich abgesetzt werden, wenn die Anforderungen – EH 40/QNG – erfüllt
sind.
Um nicht den Bau von Luxuswohnungen steuerlich zu begünstigen, setzen
wir eine Obergrenze von 4 800 Euro pro Quadratmeter und setzen einen AfA-Satz
von 2 500 Euro pro Quadratmeter ein. Das ist, glaube ich, sehr vernünftig, und
ich bin allen Beteiligten sehr dankbar, dass wir das gemeinsam hinbekommen
werden.
({1})
Und wir verknüpfen diese Energieziele auch mit sozialen und
demografischen Komponenten. Wir alle kennen den Wohn-Riester. Mit den Mitteln
kann man eine Wohnung oder ein Haus altersgerecht umbauen, damit Menschen länger
gut in ihrer Wohnung leben können. Nicht möglich war es bisher, den Riester auch
für energetische Sanierung am selbstgenutzten Wohngebäude einzusetzen. Künftig
geht das. Ich finde, das ist vernünftig, zumal dahinter ein Milliardenvolumen,
das der Wohnungswirtschaft zugutekommen kann, steht.
({2})
Mein Kollege Klüssendorf wird gleich noch das Thema Photovoltaik
vertiefen, das hier schon mehrfach angesprochen worden ist, und darauf eingehen,
wie wir es fördern wollen auf dem Weg vom Energie verbrauchenden zum Energie
schaffenden Haus. Da haben wir ein grundlegend anderes Verständnis, und ich bin
sehr froh darüber, dass wir diese rückwirkende Steuerbefreiung für Kleinanlagen
usw. hinbekommen haben. Tolle Sache!
Eine kurze Bemerkung will ich noch an die Bauwirtschaft richten, wenn
das gestattet ist. Wenn 300 000 Wohnungen gebaut werden, ist das ein guter
Erfolg. Wenn das aber ins Stocken gerät, müssen wir uns die Frage stellen, was
eigentlich an Produktivitätsfortschritten in der Bauwirtschaft möglich ist und
ob diese Potenziale schon ausgeschöpft sind. Das sind sie meines Erachtens
nicht.
Herr Kollege.
Das ist eine Frage, die die Bauwirtschaft auch selber lösen
muss.
Leider ist meine Redezeit zu Ende.
Ja, das ist richtig. Einsicht kommt vor der Besserung.
Deswegen höre ich jetzt auch auf, zu reden. Ich glaube, dass wir was
Gutes hinbekommen haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Gottschalk hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. Bitte
schön.
({0})
Demokratie tut weh, insbesondere wenn Sie sich immer so demokratisch
verhalten und keine Zwischenfragen meiner Fraktion zulassen.
({0})
Herr Kollege Daldrup, habe ich Sie richtig verstanden – aufgrund der
Äußerung der Kollegin Tillmann, die sehr gut ausgeführt hat, dass
Rückforderungsrisiken bestehen bezüglich Ihrer Ermächtigungsgrundlage; mein
Kollege Jörn König hat es eben ausgeführt –, dass es der linken Doktrin und
Ideologie hier im Hause entspricht, wenn man es also nur mit dem Begriff und dem
Etikett „Gerechtigkeit“, und zwar nach Ihrer Definition, bezeichnen kann, dass
man dann Rechts- und Verfassungsbruch begehen kann, ähnlich wie wir es gerade
auf den Straßen in Deutschland erleben?
Das heißt also, Sie haben schon verstanden, implizit, dass Sie über
den Artikel 122 AEUV die falsche Ermächtigungsgrundlage genommen haben – sie
heißt ja Energienotverordnung – und daraus eine Übergewinnsteuer – Frau Tillmann
hat es ausgeführt – ableiten. Sie sind sich also dessen klar – das haben Sie
eben ausgeführt – und gehen offen in einen Verfassungsbruch. Dann würde ich
vielleicht Herrn Haldenwang den Tipp geben, mal genauer bei der SPD hinzuschauen
als laufend bei uns oder vielleicht auch bei den Straßenklebern und nicht immer
bei den Menschen, die gegen Ihre Coronapolitik demonstrieren. Wenn Sie mir das
erläutern, wäre ich sehr dankbar.
({1})
Möchten Sie antworten, Herr Daldrup? – Bitte schön.
Ich kann ganz kurz antworten, Herr Gottschalk. Sie haben mit der
Frage angefangen, ob Sie mich richtig verstanden haben, und haben hinterher
sozusagen die Kurve gekriegt und gefragt, ob ich Sie richtig verstanden habe.
Ich weiß jetzt nicht, was Sie verstanden haben und was Sie nicht verstanden
haben.
({0})
Das können wir bei Gelegenheit noch mal klarstellen. Ich weiß sehr
wohl, dass die Fähigkeit, etwas zu verstehen, bei Ihnen nicht von der
Beratungszeit abhängt.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jahressteuergesetze sind ja immer komplexe Angelegenheiten. Beim diesjährigen
Jahressteuergesetz hatte allein der Referentenentwurf 142 Seiten. Es gab
70 Änderungsanträge; Kollege Daldrup hat es erwähnt. 16 verschiedene Gesetze und
Verordnungen werden umfasst. Letztlich handelt es sich eben doch um ein
Sammelsurium wie in jedem Jahressteuergesetz.
({0})
Und eines muss man der Ampel lassen: Ihr ist es in diesem Jahr
gelungen, einen gewissen roten oder rot-gelb-grünen Faden in all diese
Änderungen zu bringen.
({1})
– Klatschen Sie nicht zu früh! – Der rote Faden ist: Fast alle
Änderungen sind in irgendeiner Weise unstimmig, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
Erstens: Praxisuntauglichkeit der Vorschriften.
({3})
Zweitens: mutmaßliche Verfassungswidrigkeit von Vorschriften.
Drittens: offener Wahlbetrug, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich will das nicht nur behaupten, sondern ich will jede
Unstimmigkeitsart auch mit einem konkreten Beispiel versehen, angefangen –
erstens – mit der fehlenden Praxistauglichkeit.
({5})
Die von der Ampel vorgenommene Besteuerung der Energiepreispauschale
für Rentnerinnen und Rentner sowie die Besteuerung des Gasabschlags sind
handwerklich so schlecht, dass die Bundesländer sogar drohen mussten oder drohen
werden, in den Vermittlungsausschuss zu gehen, weil sie fürchten, dass damit
eine überbordende Bürokratie verbunden ist
({6})
und das Veranlagungsverfahren in den Finanzämtern stocken wird. Herr
Marvi, Sie haben gesagt, Sie hätten irgendwie vereinfacht. Was Sie hier machen,
bedeutet pures Verwaltungsbürokratiechaos. Darunter muss man das subsumieren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Zweitens: die Verfassungswidrigkeit. Der fachlich nicht zuständige
Wirtschaftsminister hat mit seinen Beratern auf der falschen Rechtsgrundlage
eine diskriminierende Übergewinnsteuer geschaffen, die in einigen Fällen sogar
zu erheblichen Besteuerungen führen wird. Wenn man schon Umverteilung vornehmen
will, dann muss man es wenigstens richtig machen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, und zwar auch fachlich richtig. In der öffentlichen Anhörung am Montag
haben die Sachverständigen keinen Zweifel daran gelassen, dass das, was die
Ampel hier plant, unionsrechtswidrig und verfassungswidrig ist. Wir werden
sehen, wie das ausgeht.
Drittens: der offene Wahlbetrug. Die FDP hat im Wahlkampf versprochen:
„Es wird keine Steuererhöhungen geben“,
({8})
und hat gesagt – ich kann nur wiederholen, was ich gestern in der
Debatte zitiert habe –: „Steuererhöhungen sind Sabotage am Aufschwung.“
({9})
Erst am 28. November – das muss man einfach auch noch mal heute hier
erwähnen – hat der Bundesfinanzminister Christian Lindner beim Zentralverband
des Deutschen Handwerks gesagt: „Wir sind in der Vorweihnachtszeit: Fürchtet
euch nicht.“
({10})
– Man muss das noch mal wiederholen; denn das ist erst vor vier Tagen
gesagt worden.
({11})
– Sie lachen, aber die Menschen da draußen lachen nicht, weil Sie mit
Ihren Händen tief in die Geldbeutel der Menschen greifen
({12})
und ihnen das hart ersparte Geld wegnehmen.
({13})
Das ist die Wahrheit. Wenn Sie hier lachen, lacht draußen überhaupt
niemand mehr, weil die Menschen kalt enteignet werden,
({14})
und zwar von der FDP und dem Bundesfinanzminister Christian Lindner,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({15})
Das ist quasi ein Kleben in den Geldbeutel der Menschen – im
übertragenen Sinn, wenn Sie das Wording vielleicht verstehen.
Möchten Sie, Herr Kollege, eine Zwischenfrage zulassen?
Selbstverständlich gerne.
Bitte sehr.
Vielen Dank. – Herr Kollege Brehm, ich bin, wie ich bekennen muss,
großer Bewunderer der bayerischen Tradition, auch im Bierzelt politische Reden
zu halten, und nehme auch gern Anteil daran, dass es Ihnen regelmäßig gelingt,
ausgerechnet in der trockenen Steuerpolitik diese gute bayerische Tradition
sogar in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu tragen. Herzlichen
Glückwunsch dazu!
({0})
Früher war es so, dass die Union, wenn das Bundesverfassungsgericht
bestimmte Dinge verlangt hat, zumindest noch ein bisschen zugehört hat. Das
spielt für Sie beim Thema Erbschaftsteuer gar keine Rolle mehr.
Ich will Sie jetzt aber etwas anderes fragen. Das Jahressteuergesetz
wird im Bundesrat behandelt werden, und die B‑Länder-Seite, die unionsgeführten
Landesregierungen, haben drei Themen aus dem Jahressteuergesetz, aus 142 Seiten,
für den Vermittlungsausschuss angemeldet. Und – oh Wunder! – das von Ihnen
gerade mit großem Getöse angesprochene Thema, nämlich das Thema der Bewertung
für die Zwecke der Erbschaftsteuer, wurde von der Unionsseite für den
Vermittlungsausschuss nicht angemeldet.
({1})
Es wird also im Bundesrat akzeptiert werden.
Ich würde von Ihnen jetzt einfach gerne wissen, wie es sein kann, dass
Sie dieses Thema hier riesengroß skandalisieren und es dort, wo die Wahrheit auf
dem Platz liegt, wo die Union mitreden kann, noch nicht einmal für eine weitere
Beratung angemeldet wird. Herr Kollege, haben Sie dafür eine Erklärung?
({2})
Lieber Kollege Toncar, herzlichen Dank, dass Sie mir noch mal die
Gelegenheit geben, hier ein bisschen auszuführen. Ob das, was Sie vorhaben,
verfassungsrechtlich geboten ist, kann man diskutieren.
({0})
Das ist überhaupt keine Frage; das habe ich gestern auch gesagt. Es
geht ja darum, den gemeinen Wert der Immobilie darzustellen. Da brauchen Sie mir
keine Nachhilfe geben. Aber es ist auch nicht verboten, die Freibeträge
anzuheben.
({1})
Sie haben nämlich angekündigt, auch der Bundesfinanzminister hat
angekündigt, die Freibeträge anzuheben, und passiert ist gar nichts.
Bezogen auf Ihre Frage zum Bundesrat empfehle ich Ihnen, den Antrag
des Freistaats Bayern zu genau dieser Sache – Erhöhung der Freibeträge – zur
Kenntnis zu nehmen.
({2})
Und wenn Sie es als FDP ernst meinen würden, dann würden Sie diesem
Antrag des Freistaats Bayern im Bundesrat zustimmen.
({3})
Dann hätten wir das Thema erledigt. Erhöhung der Werte und Erhöhung
der Freibeträge – das wäre für uns in Ordnung.
({4})
Wir haben zusätzlich noch die Frage der Regionalität und der
Regionalisierung der Erbschaftsteuer eingebracht. Ich denke, wenn Sie es ernst
meinen, dann können wir das miteinander umsetzen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({5})
Wir können diesem Jahressteuergesetz aufgrund der drei Faktoren, die
ich genannt habe – keine Verfassungsmäßigkeit, viel zu viel Bürokratie, die
Frage der Erbschaft- und Schenkungsteuer –, nicht zustimmen, auch wenn ich nicht
verschweigen will, dass einige Punkte umgesetzt worden sind, die für sich
gesehen in Ordnung sind:
({6})
Sie verstetigen die Homeoffice-Pauschale, übrigens eine Idee der
CSU.
({7})
Danke, dass Sie das verstetigen! Sie haben das letzte Mal sogar fast
dagegen geredet. Wir als CDU/CSU haben das ins Rennen gebracht. Die Verlängerung
der Sonderabschreibung für den Mietwohnungsneubau, auch eine CDU/CSU-Idee, die
Sie das letzte Mal kritisiert haben, weil sie die Reichen nur reicher machen
würde, setzen Sie jetzt um.
({8})
Eine späte Erkenntnis, aber auch in Ordnung!
Was aber natürlich nicht dabei ist: die Beseitigung der künftigen
Doppelbesteuerung bei den Renten – Sie haben immer angekündigt, das zu tun –,
die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung und das Vorziehen des Abbaus der
kalten Progression auf 2022.
({9})
Deswegen können wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Wir lehnen dieses
Gesetz ab. Sie machen als Ampel die Menschen in unserem Land Tag für Tag
ärmer.
({10})
Dagegen wehren wir uns mit aller Entschiedenheit.
Herzlichen Dank.
({11})
Stefan Schmidt hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen, mit Mikro
sogar; er muss gar nicht weiter dazwischenrufen.
({0})
Ich rede ja schon die ganze Zeit. – Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Massiv gestiegene Energiepreise, hohe
Inflation, ein unstillbarer Durst nach Öl und Gas – Putins Angriffskrieg gegen
die Ukraine wirft lange Schatten. Mit dem Jahressteuergesetz nehmen wir die
Krisen ganz gezielt in den Fokus. Wir entlasten nicht nur die breite
Bevölkerung, die Unternehmen, die Kommunen. Wir geben auch erneuerbaren Energien
noch mal einen kräftigen Schub. Ich behaupte: Wir haben das Jahressteuergesetz
zu einem echten Entlastungspaket IV gemacht.
({0})
Besonders freue ich mich über unsere Beschlüsse zur Photovoltaik; es
wurde an anderer Stelle schon angesprochen. Menschen mit Photovoltaikanlagen auf
dem Dach leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Energiesicherheit und
Energiewende. Deswegen ist es längst an der Zeit, dass wir sie von steuerlichen
und bürokratischen Hürden entlasten und befreien. Wer eine Anlage auf dem Dach
hat, muss dafür keine Einkommensteuer, keine Gewerbesteuer, keine Umsatzsteuer
bezahlen. Und wir Grüne haben erreicht, dass die Erträge sogar rückwirkend für
dieses Jahr von der Steuer befreit werden.
({1})
Es profitieren also alle: die, die sich in der Vergangenheit für eine
Photovoltaikanlage entschieden haben, und alle, die diesem Vorbild nun folgen.
So werden eigene Anlagen auf dem Dach noch attraktiver. Das ist ein wichtiger
Schritt, um uns von der fossilen Abhängigkeit zu befreien.
Mit dem Jahressteuergesetz unterstützen wir auch viele
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim mobilen Arbeiten, und zwar auch
diejenigen, die kein separates Arbeitszimmer zu Hause haben. Wir entfristen die
Homeoffice-Pauschale. Wir machen es steuerlich attraktiv, auf das tägliche
Pendeln ins Büro zu verzichten. Damit passen wir das Steuerrecht an die moderne
Arbeitswelt an und entlasten auch hier die Menschen.
({2})
Auch für die Kommunen und den öffentlichen Sektor haben wir etwas
rausgeholt. Unsere Städte und Gemeinden, auch die Forschungslandschaft, sie
leiden extrem unter der aktuellen Krise. Deshalb haben wir entschieden, die
Übergangsregelung zu § 2b des Umsatzsteuergesetzes zu verlängern. Das heißt im
Klartext: Wir befreien Dienstleistungen der öffentlichen Hand für zwei weitere
Jahre – bis Ende 2024 – von der Umsatzsteuer. Damit verschaffen wir uns Zeit, um
rechtliche Unklarheiten zu beseitigen, und geben den Machern vor Ort die
steuerliche und bürokratische Atempause, die sie jetzt brauchen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben aus einem guten
Gesetzentwurf ein echtes Entlastungspaket IV gemacht. Wir entlasten die breite
Masse, die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen, die Kommunen. Wir schieben
die Energiewende an. Mit den Beratungen zum Jahressteuergesetz haben wir als
Fortschrittskoalition wieder mal gezeigt: Wir haben den Mut, um wichtige Weichen
zu stellen und das Land erfolgreich aus der Krise zu führen. Dafür herzlichen
Dank.
Herzlichen Dank für die guten Beratungen.
Herr Kollege.
Danke an die Kolleginnen und Kollegen, die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter und das Bundesministerium der Finanzen.
Und Ihnen auch vielen Dank für die Rede.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Tim Klüssendorf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich mich dem Dank anschließen. Das waren wirklich
aufreibende Verhandlungsrunden. Wir haben 18 Stück an der Zahl miteinander
verbringen dürfen. Wir haben, glaube ich, eine Menge an wichtigen Themen
diskutiert, und das Ergebnis kann sich heute sehen lassen. Also: Vielen Dank
noch mal an die beiden anderen Ampelfraktionen und an meine
Co-Berichterstatterin!
({0})
Der Kollege Daldrup hat es schon angekündigt: Ich darf heute noch was
zu den PV‑Anlagen sagen, habe das auch in meiner letzten Rede schon getan. Wäre
ich jetzt der Kollege Lindner, würde ich sagen: Wir entfesseln die
Freiheitsenergien.
({1})
Ich begnüge mich aber damit, zu sagen, dass wir PV‑Anlagen
einfach attraktiver machen. Drei Punkte dazu:
Der erste Punkt ist: Wir machen Anlagen bis 30 kWp ertragsteuerfrei.
Das ist, glaube ich, ganz wichtig, weil wir bisher Anlagen mit durchschnittlich
7 bis 15 kWp haben. Der Grenzwert war bisher bei 10 kWp. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt, um dort für Entlastung zu sorgen.
Der zweite Punkt ist der Nullsteuersatz in der Umsatzsteuer, der,
glaube ich, ganz viele Menschen von der Bürokratie befreit. Bisher stehen sie
vor der Entscheidung: Entweder sie nutzen bei der Solarenergie die
Kleinunternehmerregelung, bekommen aber die Umsatzsteuer nicht zurück – das ist
besonders bei der Anschaffung ein Nachteil; denn so eine Anlage kostet gut und
gerne mal 30 000 Euro; dann auf 6 000 Euro einfach zu verzichten, wäre besonders
schade –, oder sie melden die Umsatzsteuer an, bekommen sie bei der Anschaffung
zurück, aber müssen dann alle zwei Monate die Umsatzsteuer anmelden. Das ist
besonders viel Bürokratie. Hier sorgen wir für Anreize, ohne finanzielle
Nachteile in die Kleinunternehmerregelung zu wechseln. Das ist auch ein ganz
wichtiger Punkt.
({2})
Der dritte Punkt ist, dass wir den Lohnsteuerhilfevereinen erlauben,
bei dem Thema zu beraten. Das ist, glaube ich, auch noch mal eine Abrundung der
ganzen Angelegenheit. So wird es deutlich attraktiver und einfacher für
Menschen, sich eine PV‑Anlage aufs Dach zu setzen.
({3})
Dennoch möchte ich jetzt auch noch was zur Union sagen, weil mich das
in der Debatte doch sehr geärgert hat. Herr Brehm hat davon gesprochen, dass wir
in unserem Gesetz unstimmig sind.
({4})
Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie in Ihrer Argumentation unstimmig
sind. Frau Tillmann hat als Erstes gesprochen und hat die ganze Zeit davon
gesprochen, wir würden entlasten und würden die Schuldenbremse gefährden. Die
Hälfte ihrer Redezeit ging darüber, dass das eine Gefahr für die Schuldenbremse
sei.
({5})
Sie haben paar Minuten später davon gesprochen, dass wir die Steuern
exorbitant erhöhen,
({6})
dass wir viel mehr Einnahmen haben, dass der Staat da in die Taschen
greift. Sie müssen sich schon entscheiden, welche Strategie Sie hier in Ihren
Reden anwenden! Denn es wäre deutlich plausibler, wenn das einen Sinn ergeben
würde.
({7})
Ein letzter Punkt noch. Wir haben die Diskussion ja gestern schon
geführt, und anscheinend reicht Ihnen das immer noch nicht. Die
Immobilienwertermittlungsverordnung wurde von Ihrem eigenen CSU-Minister
Seehofer in die Wege geleitet. Das ist noch mal ganz wichtig zu betonen.
({8})
Es ist keine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Das wäre schön, ist aber
mit der FDP nicht zu machen.
({9})
Darüber können wir noch mal diskutieren. Wir können gerne über die
Freibeträge reden, aber nur dann, wenn wir die betrieblichen Vermögen endlich
anpacken und nicht mehr weiter zusehen, wie hier Milliarden Euro an
Erbschaftsteuer jedes Jahr am Staat vorbeigehen. Das ist die wirkliche
Gerechtigkeitslücke, und dafür werden wir uns weiterhin einsetzen. Ich bitte um
Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({10})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! „Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf“ – geübte
Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer unter Ihnen wissen, was jetzt kommt.
({0})
Wer mit der Bahn unterwegs ist, braucht oft viel Zeit und Geduld.
Davon wissen nicht nur diejenigen, die in diesen Wochen die Strecke zwischen
Berlin und Hannover bewältigen müssen, ein Liedchen zu singen.
({1})
Viel Zeit und Geduld mitbringen: Für viele Menschen mit Behinderungen
ist dies nicht nur ein temporäres Problem, sondern gehört zum Alltag, nicht nur
im Bahnverkehr, wenn der gewünschte Zielbahnhof keinen Fahrstuhl hat, das
Servicepersonal nur bis zum frühen Abend im Einsatz ist oder der Rollstuhlplatz
im ICE schon ausgebucht ist. Genauso ist es, wenn die Produktinformation im
Einkaufsregal für sehbehinderte Menschen nicht lesbar ist oder die Suche nach
der Facharztpraxis mit höhenverstellbaren Untersuchungsgeräten oder
Informationen in leichter Sprache zum zeitraubenden Unterfangen wird. Manchmal
können Zeit und Geduld auch zur Lebensgefahr werden, so wie 2021 in Sinzig, als
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht rechtzeitig gewarnt wurden und
in den Fluten ertranken.
Diese wenigen Beispiele zeigen: Der Weg hin zu einer barrierefreien
Gesellschaft, an der Menschen mit und ohne Behinderung in allen Lebensbereichen
teilhaben können, von der aber auch Eltern mit Kinderwagen oder ältere Menschen
profitieren, ist kein leichter, auch wenn wir in den letzten Jahren viel
geschafft haben und erdacht haben. Ich denke hier an die Erweiterung des
Behindertengleichstellungsgesetzes, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, viele
weitere gesetzlichen Maßnahmen und die InitiativeSozialraumInklusiv des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und der Bundesfachstelle
Barrierefreiheit.
Letztere Initiative, aber vor allem viele Begegnungen mit Menschen mit
Behinderungen und anderen Akteuren haben uns als Unionsfraktionen gute
Anregungen geliefert für ein ausführliches Zehn-Punkte-Papier für einen
inklusiven Sozialraum, dessen Lektüre ich sehr empfehle,
({2})
und für den Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen.
Es ist das erste Mal, dass wir in dieser Legislaturperiode hier im
Plenum über Barrierefreiheit diskutieren,
({3})
was durchaus erstaunt, wenn man in den Koalitionsvertrag der Ampel
schaut. Doch von den dort genannten ambitionierten Vorhaben hat bislang keines
den Bundestag erreicht. Immerhin: Aus dem ursprünglich angekündigten
Bundesprogramm Barrierefreiheit wird zwar erst mal nichts, aber gerade noch
rechtzeitig vor dem morgigen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung
hat die Bundesregierung am Mittwoch eine Bundesinitiative Barrierefreiheit
verabschiedet. Löblich und gut, was darin angekündigt wird, aber schon das
Papier des Koalitionsvertrags war bisher recht geduldig.
Eins zumindest eint die Bundesinitiative und unseren Antrag:
Barrierefreiheit ist ein Querschnittsthema. Mobilität, Bauen und Wohnen,
Gesundheit, Digitalisierung, Katastrophenschutz, aber auch Produktentwicklung
und politische Partizipation – das sind längst nicht alle, aber einige wichtige
Lebensbereiche, die wir uns herausgegriffen haben. Hier wollen wir fördern und
fordern: mehr Förderung, eine Aufstockung des KfW-Programms „Altersgerecht
Umbauen“, weitere KfW-Programme, unter anderem für den Gesundheitsbereich und
barrierefreie Produktentwicklung. Verbunden mit einer Übergangsfrist von fünf
Jahren und einer Überforderungsklausel fordern wir die rechtliche Verankerung
von angemessenen Vorkehrungen auch im Privatbereich. Es muss endlich eine
Bestandsaufnahme und danach die umfassende barrierefreie Umgestaltung aller
öffentlich zugänglichen Bundesbauten geben. Übrigens, gerade die Gebäude des
Deutschen Bundestages dürfen gerne mit gutem Beispiel vorangehen.
({4})
Mehr rechtliche Verbindlichkeit brauchen wir für die Barrierefreiheit
im ÖPNV. Wir machen konkrete Vorschläge für mehr Tempo bei der Barrierefreiheit
im Bahnverkehr, im Taxiwesen und bei der barrierefreien Ladeinfrastruktur. Mehr
bundesweite Einheitlichkeit brauchen wir auch in Regelungen zur Barrierefreiheit
im Bauordnungsrecht. Wir fordern auch eine Stärkung der Barrierefreiheit in der
Aus- und Weiterbildung von Architekten und Ingenieuren, bis hin zu einem eigenen
Studiengang. Wir brauchen ein träger- und ebenenübergreifendes Beratungs- und
Unterstützungsnetz für Assistenz- und Pflegeangebote. Weitere Beispiele finden
sich in unserem Antrag.
Zu diesen und weiteren Bereichen machen wir Ihnen heute Vorschläge und
bringen Gedanken ein in die Diskussion. Gut ist: Wir beginnen bei allem nicht
bei null. Viele gute Beispiele machen Mut: ob inklusives Wohnen und
Unterstützungsangebote der Hamburger Stiftung Alsterdorf, ein
Gebärdensprach-Avatar, der den Beipackzettel von Medikamenten erläutert, oder
die Regionalbahnstrecke in meinem Wahlkreis, an der mittlerweile alle Bahnhöfe
barrierefrei umgebaut sind. Lassen Sie uns gemeinsam an einer barrierefreien
Gesellschaft in allen Lebensbereichen arbeiten; denn weitere Verzögerungen im
Betriebsablauf sollten wir uns nicht leisten. Und herzliche Grüße an Gerald
Huber!
Danke schön.
({5})
Takis Mehmet Ali hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Der Antrag der Union trägt den Titel „Mehr Tempo für Barrierefreiheit
und einen inklusiven Sozialraum“. Wenn man dann mal so den Antrag durchliest,
erfährt man, bevor die ganze Aufzählung kommt, die Ampel sei schon seit einem
Jahr dran und habe noch nicht geliefert.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir waren schon sehr lange zusammen in
einer Koalition. Da hätten wir 12 Jahre, 16 Jahre gemeinsam liefern können,
({1})
und das ist von Ihnen geblockt worden. Ich glaube, die einzige
Blockade in diesem Land ist die Unionsfraktion!
({2})
– An uns ist es ja nicht gescheitert; an der Sozialdemokratie sind die
ganzen Vorhaben nicht gescheitert. Unsere jetzigen Koalitionspartner, die FDP
und die Grünen, haben zu Recht all das gefordert, was wir jetzt im
Koalitionsvertrag verankert haben. Das ist möglich, weil wir jetzt eine
progressive Regierung haben.
({3})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage aus der
CDU/CSU-Fraktion zulassen?
Ja, hatte ich noch nie. Gerne. Auf den Kollegen kann man ja nicht
sauer sein.
Na, ich weiß nicht. Das werden wir ja sehen. Ich könnte sauer sein,
wenn er zu lange spricht.
Ich werde mich kurzfassen. – Sehr geehrter Kollege Mehmet Ali,
vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Da Sie jetzt auf die
Regierungszeiten der letzten Wahlperioden zu sprechen kommen und Sie noch neu im
Bundestag sind,
({0})
will ich fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir gerade in der
letzten Legislaturperiode – ich habe es eben in meiner Rede erwähnt – schon
mehrere große Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg gebracht haben. Das
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz war ein Beispiel und das
Behindertengleichstellungsgesetz das andere.
Der Hinweis sei mal erlaubt: In der letzten Legislaturperiode war das
erste Gesetz, das wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales hier im Deutschen
Bundestag beschlossen haben, ein Gesetz, das gerade Menschen mit Behinderung
betraf, und zwar ging es um die Barrierefreiheit von öffentlichen Stellen und
Behörden. Das haben wir damals beschlossen. Das war das erste Gesetz, und es
sind noch zwei große Gesetzesvorhaben gefolgt. Deswegen bitte ich Sie, das zur
Kenntnis zu nehmen.
Herr Oellers, vielen Dank. – Das ist mir natürlich bewusst. Mir ist
auch bewusst, dass wir es mit Ihnen geschafft haben, 2016 das großartige
Bundesteilhabegesetz zu beschließen, das wirklich einen riesengroßen Schritt zu
einer inklusiven Welt gebracht hat. Aber letztendlich kommen wir nur einen
riesengroßen Schritt weiter, wenn wir dafür auch die finanziellen Mittel zur
Verfügung stellen, und das ist mit Ihnen einfach nicht möglich gewesen.
({0})
Das wird aber in dieser Koalition möglich sein, indem wir vieles, was
wir im Bereich des inklusiven Wohnungsbaus und in der Mobilität vor uns haben,
auch umsetzen werden. Ohne Geld geht da gar nichts. Das haben Sie auch
blockiert; da ist nichts möglich gewesen. Das werden wir jetzt machen.
Im Übrigen: Wir haben jetzt die ersten Eckpunkte für die
Bundesinitiative Barrierefreiheit zur Verfügung gestellt. Das ist ja nur der
Anfang. Wir werden ein riesengroßes Bundesprogramm auflegen, nämlich für ein
vollumfänglich und ganzheitlich barrierefreies Deutschland. Das war leider
vorher mit Ihnen nicht möglich. Das muss man auch ganz klar sagen.
({1})
Aber wenn ich weitermachen darf: Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Sie haben auch geschrieben, dass wir mehr Tempo im Wohnungsbau brauchen. Ich
erinnere mich noch an 2009 – ich persönlich war damals erst 17, 18 Jahre alt –,
als die UN-Behindertenkonvention ratifiziert wurde. Ich kann mich erinnern, dass
es ein Bundesland unter CDU-Führung gab, Baden-Württemberg nämlich, das im
selben Jahr der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention die
Landesheimbauverordnung verabschiedet hat, den Bau von 24er-Wohnheimen. Während
die UN-Behindertenrechtskonvention gefordert hat, dass mehr selbstbestimmtes
Wohnen, dass mehr personenzentriertes Wohnen gefördert werden soll, machte
Baden-Württemberg nichts anderes, als 24er-Wohnheime für Menschen mit
Behinderung zu fördern und Mittel dafür zur Verfügung zu stellen und zudem noch
Mittel der Ausgleichsabgabe, die für den inklusiven Arbeitsmarkt zur Verfügung
gestellt werden sollten, für den Bau dieser 24er-Wohnheime zu verwenden.
Ich habe noch heute einen Leistungsbescheid von 2018 aus dem KVJS, der
ausdrücklich ausweist, dass Mittel der Ausgleichsabgabe für 24er-Wohnheime
verwendet werden. Und das werden wir verbieten, nämlich mit dem Antrag zur
inklusiven Arbeitswelt, der Anfang nächsten Jahres hier beraten werden wird. Mit
ihm werden wir verbieten, dass Mittel der Ausgleichsabgabe für solche
24er-Wohnheime genutzt werden können, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({2})
Ergänzend noch: Tempo bei der barrierefreien Mobilität. – Zwölf Jahre
unionsgeführtes Verkehrsministerium: Ramsauer, Dobrindt, Scheuer. Im Antrag
fordern Sie eine vollumfängliche barrierefreie Mobilität. Ich frage mich aber
auch hier, nachdem wir das auch gemeinsam in den letzten Jahren hätten machen
können: Warum kommt das alles erst jetzt?
Herr Oellers, Sie wissen, ich mag Sie als Person. Sie sind ein
kompetenter Kollege. Aber das hätten wir doch wirklich gemeinsam auch in der
GroKo in den letzten Jahren machen können. Warum haben wir das nicht gemacht?
Das ist für mich eine riesengroße Frage. Deshalb freue ich mich, dass wir das
jetzt in der Ampel werden umsetzen können.
({3})
Zum Schluss: Sie haben im 20. Punkt Ihres Antrags den § 78 Absatz 5
SGB IX erwähnt. Da geht es um das Ehrenamt und um die Assistenzleistungen.
({4})
Das ist ein Problem, das tatsächlich auch ich sehe. Deshalb haben wir
auch die Evaluation des Bundesteilhabegesetzes im Koalitionsvertrag verankert.
Aber ich sage Ihnen eins: Wenn wir es schaffen, dass das Bundesteilhabegesetz in
den Ländern so ausgeführt wird, wie wir das gemeinsam beschlossen haben, dann
wird sich dieses Problem von selbst erledigen. Wir müssen es aber auch schaffen,
dass jeder Mensch mit Behinderung zu seinem Recht kommt, so wie wir das im
SGB IX verankert haben. Dann, glaube ich, können wir wirklich auch zu einer
inklusiven Gemeinschaft kommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich trotzdem auf die
gemeinsame Zusammenarbeit, und ich freue mich insbesondere, wenn Sie zukünftig
unseren Anträgen zustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Unionsfraktion beklagt
völlig zu Recht, dass die selbsternannte Fortschrittskoalition zu wenig für
Menschen mit Behinderung macht, und legt mit diesem Antrag ein umfassendes
Maßnahmepaket vor. Die Bewusstseinsbildung für das Thema der Barrierefreiheit
insbesondere in der Architekten- und Ingenieursausbildung soll gestärkt werden.
Sogar barrierefreie Taxiangebote, ein großes Problem im ländlichen Raum, werden
thematisiert, und auch ein bundesweites Förderprogramm zum Aufbau barrierefreier
digitaler Infrastruktur und digitaler Kompetenzen in außerbetrieblichen
Ausbildungsstätten, aber auch in den Werkstätten für behinderte Menschen wird
angestrebt.
Ihr Antrag beinhaltet tatsächlich sehr gute Ansätze; das muss man
Ihnen lassen. Aber so ein Antrag ist natürlich der blanke Hohn, wenn er
ausgerechnet von der CDU/CSU kommt. Ich weiß, Sie wollen es nicht mehr hören,
aber man darf einfach nicht vergessen, dass Sie es waren, die dieses Land nicht
nur die letzten 16 Jahre, sondern einen Großteil der Zeit seit Bestehen der
Bundesrepublik regiert, geprägt und moralisch wie materiell verwahrlost
haben.
({0})
Werte Kollegen von der Union, auch der Zustand des Sozialwesens fällt
zu einem nicht geringen Anteil in Ihre Verantwortung. Warum fordern Sie diese
Verbesserungen also erst dann, wenn Sie mit der Umsetzung nichts mehr zu tun
haben müssen? In Ihren Reihen sitzen ja offenbar bewusste Sozialpolitiker. Aber
warum konnten sich diese in den letzten Jahrzehnten nicht mal darum kümmern,
dass diese Dinge umgesetzt werden? Warum spielen Sie sich gerade jetzt als
soziale Stimme der Menschen mit Behinderung auf? Entweder bestand nie der Wille,
sich wirklich um die Belange von Menschen mit Behinderung zu kümmern, oder es
ist jetzt ganz plötzlich als taktisches Kalkül für Ihre Oppositionsdarstellung
interessant geworden.
({1})
Sie versuchen offenbar, mit diesem Thema das soziale Profil Ihrer
Partei aufzubessern, was, wenn wir mal ehrlich sind, historisch nicht gerade zur
Eigenart der Christdemokratie gehörte. Und so kann man auch erkennen, wo Sie in
Ihrem Antrag dann etwas auf die Bremse treten; denn der große Blindfleck in
Ihrem Antrag und der Debatte im Allgemeinen sind die Schwerbehinderten. Zum
Jahresende 2021 lebten rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen in
Deutschland. Das sind fast 10 Prozent der gesamten Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, für diese Menschen ist es zumeist sehr schwer,
eine Festanstellung zu erwerben und zu halten, nicht zuletzt, weil sich die
Unternehmen von der Quote einfach freikaufen können, und das, meine Damen und
Herren, ist eine Ungerechtigkeit, die es endlich zu beseitigen gilt.
({2})
Um das zu schaffen, wäre eine komplett neu konzipierte
Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber vonnöten, die sich auf dem Niveau eines
monatlichen Durchschnittsgehalts eines Vollzeitbeschäftigten im Betrieb bewegt.
Damit wäre endlich ein realistischer Anreiz für Privatunternehmer und
öffentliche Arbeitgeber gegeben, um das gesetzliche 5‑Prozent-Ziel in mittlerer
Frist zu erreichen. Die hierdurch erzielten Mehreinnahmen erweitern die
finanziellen Mittel des Integrationsamtes, die eine intensivere Begleitung von
Arbeitnehmern mit Behinderung ermöglichen.
({3})
Warum fordern Sie nicht endlich die notwendigen Schritte, damit
endlich mehr Schwerbehinderte in Lohn und Brot kommen und sich die Unternehmen
nicht länger billig freikaufen können? Das, liebe Kollegen von der Union, würde
doch mal echte Inklusion bedeuten; denn das ist ein notwendiger Teil eines
tatsächlich sozialen Maßnahmenpakets, und die AfD-Fraktion wird sich darum
kümmern.
Vielen Dank.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
danke der Union ausdrücklich, dass sie uns mit ihrem Antrag heute Gelegenheit
gibt, über dieses wichtige Thema „Barrierfreiheit und inklusiver Sozialraum“ zu
reden.
13 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in
Deutschland können Menschen mit Behinderung zu Recht erwarten, dass wir dafür
Sorge tragen, dass sie in allen Lebensbereichen gleichberechtigt teilhaben
können.
({0})
Barrierefreiheit ist dafür Grundvoraussetzung. Und es war eine
rot-grüne Bundesregierung, die 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz
verabschiedet und damit wirklich einen Meilenstein geschaffen hat.
({1})
Wir haben den Bund zur Barrierefreiheit verpflichtet, und in der Folge
sind auch in vielen Landesbehindertengleichstellungsgesetzen eben solche
Verpflichtungen aufgenommen.
Eine Sache fehlt aber bis heute: die Verpflichtung zur Herstellung von
Barrierefreiheit im privaten Bereich; und auch im öffentlichen Bereich werden
Vorgaben oft nicht umgesetzt. Und genau das gehen wir jetzt endlich gemeinsam
an.
({2})
Am Mittwoch sind die Eckpunkte der Bundesinitiative Barrierefreiheit
verabschiedet worden. Wir haben uns viel vorgenommen. Wir wollen Private endlich
zum Abbau von Barrieren verpflichten. Wir wollen Schwerpunkte setzen in den
Bereichen Mobilität, Wohnen, Gesundheit und Digitalisierung.
Sie, liebe Union, fordern jetzt mehr Tempo bei der Barrierefreiheit.
16 Jahre lang gab es in Ihren Koalitionsverträgen vor allen Dingen vage
Absichtserklärungen. Sie wollten zum Beispiel prüfen, ob man Private zu
angemessenen Vorkehrungen verpflichten kann, zuallererst im Gesundheitssektor.
Dass wir sage und schreibe nur 26 Prozent barrierefreie Arztpraxen haben,
erzählt uns irgendwie, dass das nicht besonders erfolgreich war und da noch viel
Luft nach oben ist.
({3})
Jetzt wollen Sie angemessene Vorkehrungen einführen. Das begrüßen wir
ausdrücklich. Aber die Verpflichtung zum Abbau von Barrieren versehen Sie wieder
nur mit einem Prüfauftrag und sagen: Schauen wir uns doch mal das Gesetz in
Österreich an.
Ich sage Ihnen: Wir arbeiten gerne mit Ihnen an der Erarbeitung der
Verpflichtung zur Schaffung angemessener Vorkehrungen zusammen, aber haben Sie
keine Angst vor der Verpflichtung zum Abbau von Barrieren. Der Americans with
Disabilities Act 1990, das österreichische Behindertengleichstellungsgesetz 2016
oder in England 2010 – in all diesen Ländern sind die Verpflichtungen Realität,
und die Privatwirtschaft ist nicht kollabiert. Im Gegenteil: Genau damit sorgen
wir dafür, dass die Privatwirtschaft auch morgen noch Kunden hat – in Zeiten
zunehmender Verlagerung in den Onlinehandel und des demografischen Wandels.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit an dieser Stelle.
({4})
Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
vorliegende Antrag der Unionsfraktion hat ein neues Level an übermütiger
Selbstbeweihräucherung und politischer Vergesslichkeit erreicht.
({0})
Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion,
ganze 16 Jahre – ich kann es Ihnen nicht ersparen – die Bundesregierung geführt
haben, sind die durchaus vorhandenen Verbesserungen in dieser Zeit doch sehr
überschaubar. Noch immer scheitern zahlreiche Menschen mit Behinderungen
beispielsweise an Barrieren im Kino, beim Einkaufen, beim Sport, im
Straßenverkehr, in und mit Behörden oder im Gesundheitswesen.
Dass Sie in Ihrer Zeit als Regierungsfraktion jedoch vollkommen
beratungsresistent waren, zeigt sich an Ihrem Abstimmungsverhalten in der
Vergangenheit. 2020 hatte die Linksfraktion zehn Anträge für eine bessere
Barrierefreiheit eingebracht. Die haben Sie alle abgelehnt.
({1})
Stattdessen mussten wir uns anhören: Machen wir, ist gemacht, wird
gemacht, haben wir längst erledigt. – Unsinn; denn Ihre Bilanz ist
verheerend:
Barrierefreier Wohnraum ist in Deutschland Goldstaub und in der
Realität leider völlig unbezahlbar. Das Statistische Bundesamt beziffert den
Anteil an barrierefreien Wohnungen auf nur 1,5 Prozent.
Die gleiche verheerende Bilanz auf dem Arbeitsmarkt: Der Anteil der
langzeitarbeitsuchenden Menschen mit Behinderungen stieg von 41,2 Prozent vor
der Pandemie auf 46,5 Prozent danach.
Und auch die Kritik der Monitoring-Stelle der
UN-Behindertenrechtskonvention zum Gesundheitswesen ist eindeutig: Sie stellt
erhebliche Defizite fest – Zitat –:
Infolge der knappen Ressourcen in der Pandemie haben die Barrieren und
Benachteiligungen für diese Personen
– für Menschen mit Behinderungen –
noch zugenommen.
Konkret heißt das, dass lediglich jede vierte Arztpraxis auch für
Menschen mit Behinderungen zugänglich ist. Und das ist völlig inakzeptabel.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, bei all Ihrem
oppositionellen, freundlichen Optimismus: Diese Zahlen sind Ihre Zahlen des
Scheiterns für die Politik Ihrer Regierungszeit seit 2005; und daran ändern auch
einige gute Vorschläge in Ihrem Antrag nichts. Etwas erfreulicher ist
allerdings, dass Ihre damalige Juniorpartnerin, die SPD, nach langen Jahren des
Nichtstuns und Abstreitens
({3})
das Problem zumindest erkannt hat und diese Woche ein Eckpunktepapier
für mehr Barrierefreiheit vorgestellt hat. Gut so!
({4})
Integraler Bestandteil dieses Konzeptes ist ein noch zu gründender
Beirat für die „Bundesinitiative Barrierefreiheit“, der bis 2025 ein Papier
vorlegen möge. Das ist unambitioniert, meine Damen und Herren; denn das bedeutet
für die Betroffenen, dass sie vor dem Jahre 2030 sicherlich wenig an Umsetzung
und realer Verbesserung zu erwarten haben; und das ist schlecht. Das Konstrukt
eines solchen Beirates darf nicht zu einer weiteren Verschleppung von mehr
Barrierefreiheit führen.
Als Linker sage ich – letzter Satz –: Wir brauchen unverzüglich mehr
Barrierefreiheit. Also, liebe Ampelkoalition, kommen Sie in die Gänge, und
zeigen Sie der Union, dass Sie es besser können! Die Menschen mit Behinderungen
würden es Ihnen danken.
Und ich danke Ihnen.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens Beeck das Wort.
({0})
Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Oellers, ich habe es beim letzten Mal gemacht, ich mache es nicht schon wieder.
Ich finde es jedoch wirklich bemerkenswert, dass in Ihrem wiederum genau
20 Punkte umfassenden Papier wieder 12 Punkte aus dem Koalitionsvertrag und dem
aktuellen Eckpunktepapier kommen
({0})
und sich ganz vieles andere an die Länder richtet.
Aber wir sind im Advent, und deswegen will ich den Schwerpunkt nicht
so sehr wie der Kollege Birkwald darauf legen, was in der Vergangenheit alles
nicht funktioniert hat, sondern ich will ihn darauf legen, dass es tatsächlich
nur mit einer breiten Mehrheit in diesem Hause und in den Ländern möglich sein
wird, die von Ihnen hier adressierten offenen Baustellen wirklich anzugehen. Das
will ich im Einzelnen einmal machen:
Das unter Ziffer 1 Geforderte – verbesserte Programme für mehr
Barrierefreiheit, gefördert durch KfW und andere – hatte einen haushalterischen
Höhepunkt im Jahr 2013 unter Schwarz-Gelb. Danach sind die Mittel allerdings
weniger geworden. Jetzt wachsen sie wieder deutlich auf. Den gemeinsamen Appell
haben wir in den Haushaltsberatungen also umgesetzt.
Sie fordern dann die Verpflichtung Privater mit einer Übergangsfrist
von fünf Jahren. Das freut mich sehr; denn die Koalitionsfraktionen, die damals
in der Opposition waren, hatten Ihnen – Sie erinnern sich – bei der Umsetzung
der EU‑Richtlinie – unserem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – vorgeworfen, dass
Sie 2025 zum Teil, aber in der Masse eigentlich 2040 reingeschrieben haben.
({1})
Die berühmten Bankautomaten, um das noch mal zu sagen, müssen in
Deutschland nach dem, was Sie in der letzten Wahlperiode, vor wenigen Jahren,
beschlossen haben, erst 2040 barrierefrei sein, und dann übrigens nicht mal
barrierefrei aufgestellt; sie können also 2040 zwar barrierefrei sein, aber
hinter einer Treppe stehen. Das werden wir ändern. Das haben wir im
Koalitionsvertrag auch schon adressiert. Ich freue mich aber, dass wir das jetzt
gemeinsam machen.
({2})
Sie fordern dann, den öffentlichen Raum des Bundes noch mal zu
untersuchen, um eine Liste aufzustellen und diese dann abzuarbeiten. Da sind wir
ein Stück weiter, sowohl im Koalitionsvertrag als auch im Eckpunktepapier der
Bundesregierung. Wir wollen bauen und Barrierefreiheit herstellen; das steht
sehr klar drin. Auch da freuen wir uns über Ihre Unterstützung, wenn es um die
haushalterischen Mittel geht.
Sie reden dann – das hat mich besonders überrascht – vom
Personenbeförderungsgesetz und dem Abweichen vom Standard der Barrierefreiheit
in der Mobilität. Das hätten Sie eigentlich noch besser wissen müssen als ich;
denn 2011 hat Schwarz-Gelb § 8 Absatz 3 Satz 3 Personenbeförderungsgesetz
geändert und gesagt: Zum 1. Januar 2022 erreichen wir im Regelfall die
Barrierefreiheit.
({3})
– Ja, Sie haben zugehört. – Allerdings reden Sie in Ihrem Antrag von
einer Frist, die abgelaufen ist. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag sehr
deutlich gesagt: Wir wollen jetzt nicht noch weitere Ausnahmetatbestände
schaffen, sondern wir wollen alle Ausnahmetatbestände bis 2026 beenden. Dafür
wollen wir die gesetzlichen Voraussetzungen in dieser Wahlperiode schaffen. Ich
bin sehr beruhigt, dass uns ein führender Vertreter der Union dabei hilft, die
Länder davon zu überzeugen, dass das der einzig richtige Weg ist. Machen wir
das, Herr Oellers, zusammen!
({4})
Sie fordern dann an verschiedenen Punkten zu Recht, dass wir auch im
Fernverkehr und im Regionalverkehr – übrigens der Deutschen Bahn – auf
Barrierefreiheit setzen. Auch da erinnern Sie sich vielleicht daran, dass wir
hier in den Jahren 2020 und 2021 eine Auseinandersetzung darüber hatten, dass
unter Ihren Verkehrsministern die Deutsche Bahn Bestellungen für Fahrzeuge
ausgelöst hat – die vermutlich nicht einmal in dieser Wahlperiode geliefert
werden, aber dann 20, 30, 40 Jahre auf der Schiene sind –, bei denen von
Barrierefreiheit überhaupt nicht die Rede sein kann.
({5})
Im Regionalverkehr bei mir im Wahlkreis, in ganz Niedersachsen, aber
auch im Rest der Republik ist es so, dass es die privaten Bahnen durchaus
schaffen, im Regionalverkehr Verkehrsmittel einzusetzen, in die ich
beispielsweise auch in einem Rollstuhl eigenständig einsteigen und meinen
Sitzplatz erreichen kann. Die Regionalzüge der Bahn, die bei mir fahren,
erlauben mir zwar auch den Einstieg. Aber dann stehe ich nur noch vor zwei
steilen Treppen – einer nach oben und einer nach unten. Solche Fahrzeuge haben
Sie erneut bestellt. Wir haben sehr klar adressiert, dass wir diese Praxis nicht
nur gesetzgeberisch, sondern auch als Eigentümer der Bahn beenden werden.
Ich freue mich sehr, dass der Niederflur-ICE des spanischen
Unternehmens Talgo alles, was Sie hier aufschreiben, bereits erfüllt. Umso
unerfreulicher ist es, dass er nicht ausgeliefert wird, weil es mit den
Produktions- und Lieferketten an der Stelle Probleme gibt. Er wird kommen. Ich
bin sehr fest davon überzeugt, dass wir diese technischen Geräte auch in
deutlich größeren Mengen bestellen werden. Dann haben wir auch hier einen
gemeinsamen Punkt.
Ein letzter Satz zu den Assistenzhunden. Wir haben darauf hingewiesen,
dass Sie im letzten Jahr den Zutritt geregelt haben. Tatsächlich aber
funktioniert er nicht. Ganz herzlichen Dank an das BMAS, Frau Kollegin Kramme,
dass wir die Assistenzhundeverordnung mit der einheitlichen
Kennzeichnungspflicht noch in diesem Jahr veröffentlichen werden. Dann können
wir das, was Sie auch schon gesetzgeberisch wollten, endlich umsetzen. Dass wir
außerdem Haushaltsmittel haben, um 100 Mensch-Tier-Paare zu fördern, ist ein
weiterer sehr guter Punkt. Also, wir sind auf einem gemeinsamen guten Weg.
Adventliche Stimmung: Lassen Sie es uns zusammen machen!
Frau Präsidentin, herzlichen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika Glöckner das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja,
morgen ist der 3. Dezember, der Internationale Tag der Menschen mit
Behinderungen. Es ist ein Aktionstag, an dem alljährlich in der Öffentlichkeit
versucht wird, das Bewusstsein zu erneuern und zu schärfen, dass sich Menschen
mit Behinderungen im Alltag noch immer zu vielen Barrieren gegenübersehen: sei
es die Treppe im Eigenheim, der viel zu klein geschriebene Beipackzettel, die
fehlende Gebärdensprache oder auch ein hoher Bordstein im öffentlichen Raum.
Trotz vieler Fortschritte: Es gibt noch viele Barrieren zu beseitigen. Das ist
und bleibt eine wichtige Aufgabe.
({0})
Die CDU/CSU hat beantragt, mehr Tempo zu machen beim Ausbau der
Barrierefreiheit. Die Überschrift des Antrags hört sich sehr ambitioniert an,
doch wenn man den Antrag liest, dann merkt man schnell: Sie stehen noch immer
auf der Bremse. Ich will das mal an einem Punkt aufzeigen, den Sie
aufgeschrieben haben. Sie fordern schnellere Änderungen beim
Personenbeförderungsgesetz, mehr Barrierefreiheit im ÖPNV. Abgesehen davon, dass
wir das Thema bereits auf dem Schirm haben: Dieses Gesetz haben wir in der
gemeinsamen Koalition zuletzt im Jahr 2021 geändert. Ich muss Sie schon mal ganz
ehrlich fragen: Warum haben Sie diese Änderungen nicht schon damals eingepflegt,
wenn es Ihnen jetzt nicht schnell genug geht? Erst auf der Bremse stehen, jetzt
Tempo machen – das passt nicht zusammen, das wirkt einfach unglaubwürdig.
({1})
Weiterhin fordern Sie mehr Personal beim Service an den Fernbahnhöfen.
Ich will für meine Fraktion, die SPD, ganz klar sagen: Wir wollen, dass Menschen
mit Behinderungen selbstbestimmt reisen können; das ist überhaupt kein Thema.
Aber dieser Punkt in Ihrem Antrag ist nicht durchdacht, vor allen Dingen nicht
bis zum Ende. Sie wissen schon, dass die Bahn auch ein Fachkräfteproblem
hat.
({2})
Was sind denn eigentlich die Lösungen, die Sie anbieten? Wir arbeiten
an Lösungen, und wir legen konkrete Beschlüsse auf den Tisch: heute Morgen das
Chancen-Aufenthaltsgesetz, das Bürgergeld-Gesetz. Wir setzen das
Fachkräfteeinwanderungsgesetz aufs Gleis. Wir tun alles für zusätzliche
Fachkräfte. Und Sie? Sie blockieren.
({3})
– Ja, aber mit vielen Umwegen, Herr Oellers; das müssen Sie auch schon
sagen.
Ich will auch noch mal darauf hinweisen: Demnächst werden wir in
diesem Haus auch einen Gesetzentwurf beraten, der eine erhöhte Ausgleichsabgabe
vorsieht. Dies ist auch unbedingt und dringend notwendig; denn noch immer gibt
es sehr viele Unternehmerinnen und Unternehmer, die trotz Beschäftigungspflicht
niemanden, der eine Behinderung hat, in ihrem Haus beschäftigen wollen. Das ist
doch ein Punkt, auf den Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht zu sprechen kommen.
Aber ohne eine höhere Ausgleichsabgabe werden wir die Barrieren für Menschen mit
Behinderungen hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt nicht überwinden können. Deswegen
bin ich froh, dass wir das jetzt aufs Gleis setzen.
({4})
Die Bundesregierung hat auch die Bundesinitiative Barrierefreiheit
aufs Gleis gesetzt und ein Eckpunktepapier beschlossen.
In allen Bereichen – das wurde mehrfach erwähnt – werden wir das Thema
Barrierefreiheit anpacken, gemeinsam mit Ländern und Kommunen und
selbstverständlich auch unter Mitwirkung der Menschen mit Behinderungen, was in
Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt wird.
Ich fasse zusammen. Nach gut einem Jahr Regierungszeit haben wir ein
gutes Paket vorgelegt, um Barrierefreiheit zu schaffen. Es ist ein umfassendes
Paket. Ihr Unionsantrag ist meines Erachtens nicht bis zum Ende gedacht. Er ist
nicht konkret genug, er wird nicht wirken. Nach heutigem Stand ist er aus meiner
Sicht nicht zustimmungsfähig. Ich freue mich aber dennoch auf die weiteren
Beratungen.
Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Stefan Nacke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr
Tempo fordern wir in unserem heutigen Antrag „Mehr Tempo für Barrierefreiheit
und einen inklusiven Sozialraum“. Mehr Tempo fordern aber auch diejenigen, die
wir mit unserem Antrag in den Blick nehmen.
Beim Thema Inklusion denken viele zuerst an Menschen mit
Behinderungen. Dabei geht es um viel mehr. Es geht auch um die Mutter, die mit
ihrem Kinderwagen nicht durch den Kassenbereich eines Supermarktes kommt. Es
geht auch um den Großvater, der seinen Enkel in einer anderen Stadt besuchen
will, aber den ICE verpasst, weil niemand da ist, der ihm beim Einsteigen hilft.
Auch diese beiden wünschen sich von der Politik mehr Tempo.
({0})
Für sie ginge es im Alltag viel schneller, wenn man auch an ihre
Bedürfnisse gedacht hätte.
Als Sozialethiker habe ich in meinem Studium gelernt, dass man sich
Politik und insbesondere Ordnungspolitik spieltheoretisch vorstellen kann. Zwei
Seiten müssen zusammenwirken: Spielregeln auf der einen, Spielzüge auf der
anderen Seite. Grundsätzliche ethische gesellschaftspolitische Ziele und
Vorstellungen müssen auf der Ebene der Spielregeln etabliert werden. So können
sie als Rahmenbedingungen für das Handeln des Einzelnen Anreize entfalten.
Mit Blick auf unsere heutige Debatte glaube ich, dass dieses
zweidimensionale Modell zu kurz gedacht ist. Es fehlt eine dritte Dimension. Um
im Bild zu bleiben: Wir müssen auch das Spielbrett mitdenken. Ich meine damit
einen Spielraum, der nicht einfach da ist, sondern immer erst geschaffen und
gestaltet werden muss. Nur so können Menschen zu Mitspielern werden. Also:
Spielregeln, Spielzüge und Spielraum. Erst diese dritte Dimension bringt Ordnung
in die Politik. Demnach ist Inklusionspolitik nicht noch etwas Hinzukommendes,
ein schönes Extra oder so, sondern nichts mehr oder weniger als
Ordnungspolitik.
({1})
Morgen ist Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen. Deshalb
haben wir mit unserem Antrag der Ampel einen Merkzettel aufgeschrieben für eine
smartere Gesellschaft, deren Programme, Regeln, Strukturen und urbane Hardware
vom Nutzer her gedacht werden müssen. Es geht um Bauliches, um Mobilität, um
Digitalisierung, um politische Beteiligung, um Katastrophenschutz und um vieles
mehr.
Eine unserer Anregungen möchte ich aber besonders herausgreifen; denn
sie birgt großes Potenzial. Es geht um das Thema „Design für Alle“. „Design für
Alle“ ist ein Konzept für die Planung und Gestaltung von Produkten,
Dienstleistungen und Infrastrukturen. Damit sind Lösungen gemeint, die besonders
gebrauchsfreundlich sind und individuellen Anforderungen begegnen. Das Ziel:
Allen Menschen soll eine Nutzung ohne individuelle Anpassung oder besondere
Assistenz möglich sein. So wird niemand stigmatisiert. Ich wünsche mir, dass
möglichst viele von dieser Idee angeregt werden.
Es gibt bisher nur zwei Orte in Deutschland, an denen dieser Ansatz in
die Ausbildung zukünftiger Gestalter integriert ist. Einer davon liegt in meinem
Wahlkreis, die Akademie für Gestaltung der Handwerkskammer Münster. Dort werden
nach Auskunft ihres Leiters Manfred Heilemann als Teil des gemeinnützigen
Kompetenznetzwerks EDAD in drei Jahrgängen 90 bis 120 Studierende
erfahrungsbasiert zu Multiplikatoren für „Design für Alle“ ausgebildet. So was
muss in Deutschland Schule machen.
({2})
„Design für Alle“ realisiert die Idee einer Ordnungspolitik, die
inklusiv ist. Vor fast genau einem Jahr haben Sie sich das Bundesprogramm
Barrierefreiheit in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Seitdem ist nichts
passiert. Das ist ein unfaires Spiel. Es wird Zeit, liebe Ampel, etwas mehr für
Barrierefreiheit und einen inklusiven Sozialraum zu tun. Seien Sie keine
Spielverderber! Machen Sie endlich Tempo!
({3})
Das Wort hat die Kollegin Corinna Rüffer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Hochverehrte Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Ich
nehme jetzt mal den letzten Redebeitrag als Versprechen und möchte in ähnlicher
Weise grundsätzlich beginnen. Morgen ist der Internationale Tag der Menschen mit
Behinderungen. Ich habe gestern – wir hatten ja einen langen Abend hier im
Haus – die Gelegenheit genutzt, noch mal zu recherchieren, woher dieser Tag
historisch eigentlich kommt. Der Ursprung fällt in eine Zeit in Deutschland, in
der Gerichte solche Urteile gefällt haben:
Auch die Anwesenheit einer Gruppe von jedenfalls 25 geistig und
körperlich Schwerbehinderten stellt einen zur Minderung des Reisepreises
berechtigenden Mangel dar ... Daß es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu
ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden –
– es handelt sich um eine 64-jährige alte Dame, die in Griechenland
Urlaub gemacht hat, damals, im Jahr 1980 –
wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.
„Dieses Leid“! Ist das nicht fürchterlich? Es ist noch gar nicht so
lange her, dass Gerichte solche Urteile gefällt haben. Und ich möchte Ihnen
ehrlich sagen: Es ist heute noch so, dass im Prinzip viele Leute so denken.
Deswegen müssen wir daran arbeiten, dass dieses Denken endlich beendet wird.
({0})
An dem 8. Mai, nachdem das Urteil gefällt worden ist, gab es in
Frankfurt die größte Demonstration behinderter Menschen – ich glaube sogar, bis
heute.
({1})
Die Frankfurter und die Menschen in dieser Republik haben noch nie so
viele behinderte Menschen auf den Straßen gesehen. Damals hat der Kampf um die
Rechte behinderter Menschen begonnen. Diesen Kampf, den führen wir heute weiter,
den müssen wir heute als Parlament weiterführen.
({2})
Wir sind heute auch gesetzlich dazu verpflichtet, weil wir die
UN‑Menschenrechtskonvention ratifiziert haben; das ist ganz eindeutig.
Es geht um Selbstbestimmung. Es geht um Inklusion als Strukturprinzip.
Es geht nicht um ein Randthema für ein paar Menschen, sondern es geht darum,
dass wir unsere Strukturen so gestalten, dass zukünftig alle Menschen daran
teilhaben können.
({3})
Wenn ich hier mal in die Reihen blicke, dann sehe ich, dass da viele
sitzen, die der Babyboomergeneration angehören. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Leute, die vielleicht irgendwann mal behindert und auf Pflege
angewiesen sein werden, in dieser Lebensphase auf ihre Selbstbestimmung
verzichten möchten. Deswegen empfehle ich all diesen Menschen, die hier sitzen,
jetzt dafür zu sorgen, dass wir barrierefrei bauen, damit sie am Ende des Tages
auch zu Hause wohnen können, dass wir ambulante Dienste anbieten, dass wir den
Zugang zu Leistungen vereinfachen.
Das sind die Themen, über die wir reden, und sie sind so gewaltig,
dass wir unsere Zeit nicht mehr darauf verschwenden können, über die letzten
16 Jahre zu reden. Vielmehr müssen wir jetzt die Ärmel hochkrempeln, damit
dieses Land auch in dieser Hinsicht zukunftsfähig wird.
Insofern, liebe Union, bin ich Ihnen dankbar für das Angebot, dass wir
jetzt gemeinsam streiten – für eine inklusive Gesellschaft, die barrierefrei ist
und allen Menschen die Teilhabe vollumfänglich ermöglicht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Rasha Nasr für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehren Damen und Herren!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Fortschrittskoalition wollen wir Deutschland
zu einem Fortschrittsland machen; dazu gehört auch der flächendeckende Ausbau
der Barrierefreiheit. Denn Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandard für ein
modernes Land, wie wir es sein wollen.
Aber Barrierefreiheit und die Politik der Union passen leider nicht so
richtig zusammen.
({0})
In Ihrem Antrag schmücken Sie sich damit, dass in 16 Jahren
unionsgeführter Regierung angeblich – Zitat – „... bereits viele Wegmarken für
mehr Barrierefreiheit in unserem Land gesetzt“ wurden. So schnell scheinen Sie
zu vergessen, dass Sie es waren,
({1})
die in den letzten Jahren bei jedem noch so kleinen sozialen Schritt
auf der Bremse standen.
({2})
Wer sich um das Thema Inklusion gekümmert hat, das war die SPD. Vier
Beispiele. Erweiterung des Behindertengleichstellungsgesetzes; das war das BMAS.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz; das war auch das BMAS. Zutrittsrechte für
Halter von Assistenzhunden im Privatbereich: hat das BMAS geregelt. Und: Das
BMAS hat die InitiativeSozialraumInklusiv initiiert.
Sie schmücken sich für die lange Zeit der Großen Koalition in dreister
Weise mit fremden Federn.
({3})
Sie ziehen jetzt ein lange von Ihnen vernachlässigtes Thema hoch. Sie
schreiben im Koalitionsvertrag der Ampel ab, um uns gleichzeitig vorzuwerfen, zu
wenig zu tun.
({4})
Das ist schon ein bisschen billig; das müssen Sie sich jetzt
anhören.
Während Sie also Lobhudelei für gesetzliche Verbesserung der letzten
Jahre für sich beanspruchen,
({5})
für die Sie sachlich kaum etwas beigetragen haben, benennen wir es
ampelklar: Es gibt noch etliche Lücken, die jetzt mit unserer Bundesinitiative
Barrierefreiheit angegangen werden.
({6})
Es steht ja auch klar im Eckpunktepapier. So sind nur rund 1,5 Prozent
der Wohnungen in Deutschland barrierefrei oder barrierearm, nur circa 26 Prozent
der Haus- und Facharztpraxen barrierefrei. Bei staatlichen Webseiten sehen wir,
dass sie teils nicht barrierefrei sind. Und in einer Umfrage der Aktion Mensch
geben ein Drittel der Befragten mit Beeinträchtigung an, nicht selbstständig im
öffentlichen Verkehr unterwegs sein zu können, weil sie die zahlreichen
Barrieren eben nicht selbstständig überwinden können.
Das sind nur ein paar Beispiele, an denen sich zeigt, dass diese
Bundesregierung eben nicht davor zurückschreckt, Probleme klar zu benennen und
dann auch klar anzugehen. Das machen wir jetzt mit dieser Bundesinitiative.
({7})
Natürlich, Herr Oellers, ärgert es Sie, dass jetzt in einer
SPD-geführten Regierung Dinge zum Fliegen kommen, die unter Ihren CDU-geführten
Regierungen nie zum Fliegen kamen.
({8})
Zu wenig, zu spät, CDU.
({9})
Obendrauf kommt, dass Ihr Antrag mit den vorgestern beschlossenen
Eckpunkten erledigt ist. Während die Union nur abschreibt und gleichzeitig von
Versäumnissen der Vergangenheit ablenken will, geht diese Koalition voran, setzt
den Koalitionsvertrag weiter fleißig um und geht mit der Bundesinitiative
weiter, als es opportune Forderungen tun.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute
vorgelegten Krankenhauspflegeentlastungsgesetz beginnt nichts Geringeres als
eine Revolution – in der Art und Weise, wie wir Krankenhausplanung gestalten und
wie die Versorgung in Krankenhäusern stattfinden soll.
({0})
Worum geht es? Wir haben das Gleichgewicht zwischen Medizin und
Ökonomie verloren. Es wird derzeit im Krankenhaussektor in Deutschland zu viel
durch die Belange der Ökonomie bestimmt. Die medizinischen Aspekte sind in den
Hintergrund gerückt. Dieses Gleichgewicht muss neu justiert werden.
Insbesondere müssen wir auch darüber nachdenken, wie das System der
Fallpauschalen überwunden werden kann. Denn durch die Fallpauschalen wird eine
Qualität, die minderwertig ist, genauso bezahlt wie eine besonders hochwertige
Qualität. Die Pauschale ist immer gleich hoch. Es gibt auch einen massiven
Anreiz, viele Pauschalen abzurechnen.
({1})
Dieses System betont die Kriterien „billig“ und „Menge“ statt
„Qualität“ und „Angemessenheit“. Das muss neu justiert werden. Wir können im
Krankenhaussektor nicht nach den gleichen Regeln vorgehen, nach denen zum
Beispiel Lidl Lebensmittel verkauft. Hier müssen die Qualität und die
medizinischen Aspekte wieder in den Vordergrund rücken. Diese Revolution beginnt
mit dem heutigen Gesetz.
({2})
Wenn ein solches Fallpauschalensystem so eingeführt wird, wie wir es
gemacht haben, nämlich als 100-Prozent-Ansatz, dann bleiben die Bereiche zurück,
wo man keine Gewinne machen kann. Das gilt insbesondere für die Pflege, das gilt
zum Beispiel für die Kinderheilkunde, das gilt aber auch für die Geburtshilfe.
Daher fangen wir in diesen Bereichen an, um dort sozusagen ein neues
Gleichgewicht aufzubauen. Es darf nicht länger sein, dass auf dem Rücken von
Kindern, Pflegekräften und Hebammen Gewinne gemacht werden und dass das
Medizinische zurückgedrängt wird. Das wollen wir nicht weiter hinnehmen.
({3})
Daher hat dieses Gesetz fünf Schwerpunkte im Bereich Krankenhaus:
Zum Ersten die Pflege. Dort wird dokumentiert: Wie ist eigentlich die
Pflegesituation auf den Stationen? Wo es eine Unterdeckung gibt, können und
müssen mehr Pflegekräfte eingestellt werden und die Arbeit übernehmen.
Der zweite Punkt ist aus meiner Sicht eigentlich fast der wichtigste:
In den Kinderkliniken haben wir eine enorme Not. Das war mir schon klar, bevor
ich überhaupt Minister wurde. Daher war es eine meiner ersten Initiativen, dass
wir die Fallpauschalen in der Kinderheilkunde stark zurücknehmen. In einem
Korridor von 80 bis 100 Prozent bekommen die Kinderkliniken jetzt das gleiche
Geld, egal wie viele Fälle sie abrechnen, sodass dieser Hamsterradeffekt da
sofort herausgenommen wird. Stellen wir uns vor, wir hätten das nicht gemacht!
Wir beschließen heute dieses Gesetz; wir haben Monate daran gearbeitet. Es war
und es ist jetzt dringend notwendig. Wir brauchen das Geld. Unmittelbar ab dem
1. Januar 2023 gibt es 300 Millionen Euro als Soforthilfe für die
Kinderkliniken, sodass sie aus diesem Hamsterrad herauskommen.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch ausdrücklich bei den
Pflegekräften und den Ärztinnen und Ärzten bedanken, die jetzt Fälle der
schweren RSV-Epidemie in Deutschland behandeln. Sie leisten Großartiges. Sie
können sich unserer Unterstützung hier völlig sicher sein. Wir werden alles tun,
um sie durch diese schwierige Krise zu bringen. Das schulden wir den
Pflegekräften und den Ärztinnen und Ärzten, aber in allererster Linie den
Kindern.
({4})
Wir werden nichts unterlassen, was wir den Kindern bieten können. Wir
sind hier in der Pflicht.
Dritter Punkt. Genauso gehen wir auch bei der Geburtshilfe vor. Es
wird dort Zuschläge geben. Und was auch wichtig ist: Kosten für Hebammen werden
zu 100 Prozent außerhalb des Budgets erstattet. Jede Hebamme, die im Krankenhaus
arbeitet, wird voll finanziert.
({5})
Sie werden da den Pflegekräften gleichgestellt. Auch dort müssen wir
mehr investieren.
Vierter Punkt. Dazu kommen tagesstationäre Versorgungsangebote durch
Hybrid-DRGs, damit mehr ambulant gemacht werden kann. Mehr ambulante Versorgung
ist auch für die Pflege wichtig. Denn jede Leistung, die ambulant gemacht werden
kann, setzt Pflegekräfte frei; jede Übernachtung, die entfallen kann, weil sie
nicht notwendig ist, setzt Kapazitäten bei Nachtdiensten und Schichten frei. Das
heißt, auch diese Maßnahmen sind zentral, um eine verbesserte Versorgung in der
Pflege hinzubekommen. Daher ist es ein großes Gesetz.
Dieses Gesetz schafft fünftens auch noch ein paar Grundlagen für die
Digitalisierung. Das werden meine Kolleginnen und Kollegen nachher erläutern;
ich muss mich hier kurzfassen. Wir setzen damit auch einen Prozess dafür in
Gang, dass die elektronische Patientenakte in Deutschland genutzt werden kann. –
Im Großen und Ganzen ist es ein wichtiges Gesetz.
Bereits in der nächsten Woche werden wir dann mit der
Expertenkommission Krankenhaus der Bundesregierung die nächsten Schritte
vorstellen. Wir arbeiten hier mit hoher Taktzahl, mit großem Tempo. Daher möchte
ich allen Abgeordneten, die diese schnelle Taktzahl mitgehen, aber auch den
Mitarbeitern im Haus ganz herzlich danken. Ich weiß, dass ich Ihnen viel
abverlange. Wir sind mit hohem Tempo unterwegs;
({6})
aber es wird eine gute Qualität geliefert. Das ist aus meiner Sicht
eine gute Zeit für die Entwicklung des Krankenhauses.
Ich danke Ihnen für die Zusammenarbeit und für die Unterstützung.
Bitte stimmen Sie diesem wichtigen Gesetz heute zu!
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Tino Sorge das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Grunde ist das,
was im Gesetz steht, ja wirklich viele Debatten wert, sehr viele Debatten sogar.
Aber ich will genau das machen, was der Minister auch gemacht hat: Ich will über
das reden – das ist sehr interessant –, was eben nicht im Gesetz steht. Das
haben Sie, lieber Herr Minister, genau gemacht: nämlich darüber zu reden, was
nicht im Gesetz steht.
({0})
Wir haben hier ein Riesenproblem. Wir haben ein Problem, das Tausende
von Menschen im Land wirklich umtreibt, das Kliniken umtreibt, das Einrichtungen
umtreibt, worüber wirklich seit Monaten alle sprechen und worüber Sie kein Wort
verloren haben. Es ist quasi der Elefant, der hier im Raum steht, oder das
Mammut im Plenarsaal: Es geht um die Energiehilfen. Wir haben Kliniken, wir
haben Einrichtungen, wir haben Pflegeinstitutionen, die auf diese
Energiepreishilfen, auf den Inflationsausgleich warten.
({1})
Die wissen nicht, wie sie jetzt im Dezember die Löhne bezahlen sollen.
Die wissen nicht, wie sie das Weihnachtsgeld bezahlen sollen. Kein Wort davon,
wie das bezahlt wird! Da hätten wir mehr erwartet, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
Jetzt will ich auch auf das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz
eingehen.
({3})
Es ist ja schön und gut, wenn Sie sagen, Sie wollen mit diesem
Krankenhauspflegeentlastungsgesetz die Pflege entlasten, auch in den Häusern.
Das Problem ist nur: Sie tun genau das Gegenteil. Es ist ein
Krankenhauspflegebelastungsgesetz. Und ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, auch, warum. Dieses Gesetz wird die Krankenhäuser nicht entlasten. Das
Gesetz bringt vor allem Unklarheit und neue Belastungen. Ich mache Ihnen das
auch ganz konkret an Beispielen fest:
Beispiel eins, Pflegepersonalbemessung, Personalbedarfsermittlung. Das
klingt ja alles ganz gut.
({4})
Aber erstens. Es kommt im Jahr 2025 viel zu spät.
({5})
Zweitens. Genau mit diesen starren Pflegepersonalbemessungskriterien
setzen Sie neue Daumenschrauben an, neue Daumenschrauben für die Kolleginnen und
Kollegen, die in der Pflege arbeiten – also im Grunde nichts, was vor Ort hilft,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Beispiel zwei, die Tagesbehandlung. Das hört sich natürlich alles sehr
romantisch an, wenn man sagt: Wir machen jetzt Tagesbehandlungen. – Dann kann
man als Patient nach der Behandlung abends nach Hause gehen, was man ja erst mal
gar nicht schlecht findet. Aber die Fragen, die damit zusammenhängen, also die
Frage der Haftung, die Frage der Umsetzung, die Frage der Mobilität – was ist
mit Patientinnen und Patienten, die zu Hause Komplikationen haben? –, sind
überhaupt nicht geklärt. Das ist genau das, was Ihnen die Krankenhäuser und was
Ihnen die Einrichtungen sagen. Kein Wort darüber im Gesetz!
({7})
Beispiel drei. Das ist ja das Bemerkenswerte: Der Minister hat sich
hier wieder hingestellt und hat gesagt, er wolle das DRG, das System der
Fallpauschalen, überwinden. Dann hätte ich mir zumindest gewünscht, dass er hier
ganz konkret sagt, wie die Alternative aussieht. Das hat er nicht getan.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch an diesem
System arbeiten! Es ist ja im Grunde das Skurrile, dass der Vater der
Fallpauschalen, also derjenige, der sie mitentwickelt hat – Rot-Grün hat diese
Fallpauschalen ins Leben gerufen –, sich jetzt hinstellt und sagt: Na ja, ist
dumm gelaufen. Das ist nicht mehr in Ordnung. Wir machen was Neues. – Insofern:
Sagen Sie, was Sie Neues machen wollen, arbeiten Sie mit uns daran, dass wir
nachjustieren, dass wir mit höheren Vorhaltekosten arbeiten, dass wir
Fallpauschalen, die nicht auskömmlich sind, vielleicht auch nachjustieren.
({8})
Oder sagen Sie, welche Alternative Sie möchten. Aber nein, Sie haben
keinen Plan A, Sie haben keinen Plan B, und das, was hier vorgestellt wird, ist
überhaupt nichts.
({9})
Unterm Strich ist dieses Gesetz kein Krankenhausentlastungsgesetz, es
ist ein Krankenhausbelastungsgesetz. Wir werden diesem Gesetz deshalb nicht
zustimmen.
Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin
Vogler?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie
meine Frage bzw. Zwischenbemerkung zulassen.
Zum einen frage ich mich ja, welcher Prinz das Dornröschen Union bei
der Umsetzung der PPR 2.0 wachgeküsst hat
({0})
und warum Sie in den letzten Jahren an dieser Stelle geschlafen haben;
denn das Instrument ist ja schon vor langer Zeit entwickelt worden, und wir als
Linke haben immer wieder darauf gedrängt, es möglichst schnell umzusetzen, um
die Beschäftigten in den Krankenhäusern zu entlasten und die Patientinnen und
Patienten besser zu versorgen.
Als Zweites möchte ich einen Punkt ansprechen, den Sie in Ihrer Rede
noch nicht angesprochen haben, und das ist dieses fatale Einvernehmen, das
seitens des Gesundheitsministeriums mit dem Finanzministerium hergestellt werden
muss, um das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz in den Krankenhäusern überhaupt
umzusetzen. Denn allen ist klar: Das wird Geld erfordern. Wenn aber Herr Lindner
da sozusagen auf der Leitung steht, wird es schwer sein, dieses Geld
zuzuführen.
Wir haben das als Linke sehr früh kritisiert und schon vor vier Wochen
einen entsprechenden Änderungsantrag in den Ausschuss eingebracht. Dem hätten
Sie ja zustimmen können. Denn überraschenderweise ging uns am Dienstagnachmittag
um 15.15 Uhr, also nicht einmal 24 Stunden vor der Ausschusssitzung, ein
gleichlautender Änderungsantrag der Unionsfraktion zu, dem wir natürlich
zugestimmt haben. Aber warum haben Sie den überhaupt eingebracht? Sie hätten
doch einfach dem Änderungsantrag, den Die Linke im Ausschuss eingebracht hat,
zustimmen können;
({1})
dann hätten wir das gemeinsam voranbringen können. Da hätten Sie sich
die Mühe dieses Plagiats überhaupt nicht zu machen brauchen.
({2})
Liebe Frau Kollegin Vogler, vielen Dank für die Frage. – Das gibt
mir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass unser Antrag nicht nur besser
war,
({0})
sondern dass er auch weitergehend war. Deshalb haben wir einen eigenen
Antrag gestellt und diesem natürlich auch zugestimmt.
Das gibt mir auch die Möglichkeit, noch mal darauf hinzuweisen, dass
Oppositionsarbeit wirkt, auch Oppositionsarbeit von Ihnen. Wenn ich da
beispielsweise an die Hebammen denke: Wir haben ja bei den Hebammen das Problem
gehabt, dass ihre Bezahlung eben aus dem Pflegebudget ausgegliedert werden
sollte. Insofern haben wir da Anträge gestellt; da haben wir auch ständig Rabatz
gemacht. Darum hat sich die Kollegin Emmi Zeulner aus meiner Fraktion
federführend gekümmert, und es hat ja auch gewirkt. Ich weiß jetzt nicht, ob es
an den 1,6 Millionen Menschen, die eine Petition unterschrieben haben, gelegen
hat oder an unseren Anträgen. Man sieht: Opposition wirkt.
Weil Sie hier im Märchenduktus sprechen: Ich meine, wir hätten uns
auch gewünscht, dass der Frosch, der ständig geküsst wird – ob das jetzt
Christian Lindner oder wer auch immer ist –, mal zu einem Froschkönig oder zu
einem Prinzen wird; aber es ist leider nicht passiert.
({1})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich darauf hinweisen:
Dieses Gesetz wird diesem Anspruch überhaupt nicht gerecht. Das ist das, was wir
kritisieren; das ist auch das, was Sie kritisieren. Insofern sind wir uns ja in
der Opposition einig,
({2})
genauso wie mit den meisten Akteuren im System. Diese Kritik kommt
nicht nur von uns als Opposition, sondern diese Kritik kommt ja von nahezu allen
Akteuren: Das sind die Kliniken, das sind die Pflegeeinrichtungen, das sind
viele andere Einrichtungen. Nehmen Sie diese Kritik ernst! Wischen Sie die nicht
vom Tisch, und arbeiten Sie konstruktiv mit uns an Lösungen, liebe Kolleginnen
und Kollegen!
({3})
Da wir ja am Sonntag den zweiten Advent haben, will ich nur noch mal
darauf hinweisen: Das lateinische Wort „adventus“ bedeutet „Ankunft“. In diesem
Sinne erwarten wir als Union die Ankunft Ihrer Gesetze, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Ampel, aber Gesetze, die echte Entlastung für die Kliniken, die
echte Entlastung für das Pflegepersonal bringen.
Also: Bleiben Sie am Ball! Schlagen Sie was vor, sonst brennt hier
nämlich bald der Baum! Und das will keiner.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Janosch Dahmen
das Wort.
({0})
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
demokratischen Parteien! Sehr verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich will
keine schrägen Märchenmetaphern erzählen, und ich möchte auch nicht über Dinge
reden, die nicht im Gesetz oder nicht auf der Tagesordnung stehen,
({0})
sondern ich möchte mich auf den vorliegenden Gesetzentwurf
beziehen.
Ich glaube, wenn wir uns die aktuelle Situation beispielsweise in den
Kinderkliniken anschauen, sehen wir, dass die Situation zu ernst ist, um über
schräge Vergleiche zu reden oder irgendwelche Witze zu machen, sondern dass es
Zeit ist, zu handeln. Das tun wir mit diesem Gesetz, und zwar auf der vollen
Breite der Gesundheitsversorgung, indem wir sehr wichtige Reformen auf den Weg
bringen.
({1})
Der Reihe nach. Erstens ist es so, dass wir im Bereich der
Kinderkliniken, die jetzt so unter Druck stehen, wichtige Reformen auf den Weg
bringen, die einerseits die Finanzierung verbessern, indem wir pro Jahr
300 Millionen Euro zusätzlich in die Finanzierung der Kinderkliniken stecken,
und die andererseits eine wichtige Budgetgarantie schaffen, die die auskömmliche
Finanzierung der stationären Kinderheilversorgung in Deutschland
sicherstellt.
({2})
Zweitens sorgen wir mit diesem Gesetz durch die Einführung spezieller
Personalbemessungsinstrumente in der Kinderkrankenpflege, und nicht nur dort –
dazu wird meine Kollegin Kordula Schulz-Asche gleich noch mehr sagen –, genau
dafür, dass mehr Pflegepersonal in der Kinderkrankenpflege, aber auch auf den
Intensivstationen der Kinderkliniken zur Verfügung stehen wird. Das ist ein
wichtiger Schritt, der die Versorgungssituation verbessert.
Drittens. Wir führen unter anderem im Bereich der Kinderheilkunde,
aber auch in anderen Bereichen eine Verbesserung der telemedizinischen bzw.
telekonsiliarischen Versorgung ein. Die Zusammenarbeit zwischen spezialisierten
Kinderkliniken und Kliniken der Grundversorgung wird verbessert. Forderungen,
die diese Woche noch von den Intensivmedizinern erhoben wurden, werden heute
hier im Deutschen Bundestag bereits umgesetzt.
({3})
Im Bereich der Geburtshilfe sorgen wir dafür, dass nicht nur eine
bessere Finanzierung da ist, sondern dass Hebammen, wie bereits angesprochen,
vollständig aus dem Pflegebudget finanziert werden und – das sei bereits
angekündigt – auch kurzfristig vollständig auf die Personaluntergrenzen der
nach- und vorgeburtlichen Stationen in den Krankenhäusern anrechnungsfähig sind.
Das war eine große Forderung der Verbände. Im Übrigen ist das ein Hinweis, der
aus der Union kam, den wir nicht beiseitegeschoben haben, dem wir zugehört
haben, den wir heute beschließen und umsetzen, wodurch die Versorgung verbessert
wird.
({4})
Der vierte wichtige Aspekt im Bereich der Krankenhausversorgung –
Dinge, die über Jahre nur in Sonntagsreden genannt wurden –: Die
Ambulantisierung stationärer Versorgung wird in zwei wichtigen Bereichen mit der
Tagesbehandlung und den sogenannten Hybrid-DRGs auf den Weg gebracht. Das sorgt
dafür, dass dort, wo Übernachtung nicht notwendig ist, aber die Strukturen eines
Krankenhauses für Versorgung sinnvoll sind, endlich diese Behandlungsart möglich
ist. Die Mutter kann mit ihrem Kind nach der Behandlung am Tag, sowohl
pflegerisch als auch ärztlich, abends nach Hause gehen und muss nicht im
Mehrbettzimmer mit anderen Kindern und anderen Eltern übernachten, was der
Genesung zuträglich ist. Dies ist beispielsweise ein wichtiger Baustein in der
Versorgung, der uns nach vorne bringt.
({5})
Die Metallentfernung nach einem komplizierten Bruch muss nicht mehr im
Krankenhaus, sondern kann bei gleicher Vergütung zukünftig möglicherweise
ambulant zu besserer Qualität mit niedrigen Risiken durchgeführt werden. Das ist
nicht mehr nur angekündigt; das wird auf diesem Weg umgesetzt – ein wichtiger
Reformschritt, den wir heute mit diesem Gesetz nach vorne machen.
Lassen Sie mich neben diesen wichtigen Reformen in der
Krankenhausversorgung auch noch etwas zum Digitalisierungsbereich sagen. Im
Unterschied zu Dingen, die in der vergangenen Legislatur immer wieder im
Mittelpunkt standen, wo mit vielen Einzelreformen in einem wilden Durcheinander
immer Digitalisierung propagiert, aber in der Praxis oft Chaos erzeugt wurde,
sorgen wir mit einer Digitalstrategie, die zurzeit mit allen Stakeholdern
entwickelt wird, für einen strukturierten Prozess
({6})
und bringen mit dem heutigen Gesetz vereinfachte
Zugangsvoraussetzungen zur elektronischen Patientenakte und zu anderen wichtigen
Strukturen der Telematikinfrastruktur auf den Weg,
({7})
wie beim elektronischen Personalausweis und anderen Dingen. Das sind
alles Dinge, die längst hätten passieren müssen, um Digitalisierung im
Gesundheitswesen voranzubringen.
({8})
Auch das sei gesagt: Es ist so, dass wir im Bereich der Pflege
maßgeblich durch Einführung der Personalbemessung endlich das umsetzen, was von
den Pflegeverbänden über Jahre eingefordert wurde: eine Personalbemessung, die
mit Sanktionen verknüpft ist, deswegen Wirkung entfaltet und die
Arbeitsbedingungen von Pflegenden verbessert und nicht nur Luftbuchungen
erzeugt, die am Ende in der Versorgung keinen Unterschied machen.
Also: Hören Sie auf, über Märchen zu reden!
Kollege.
Stimmen Sie diesem wichtigen Gesetz zu! Es ist ein gutes Gesetz.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Dietz für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Krankenhauspflege in Deutschland steht derzeit vor dem erschreckenden Ergebnis
der jahrelangen Ignoranz der herrschenden Politik gegenüber diesem fundamentalen
Bereich einer sozialen Gesellschaft. Bereits jetzt können notwendige
Pflegemaßnahmen oft nicht mit dem gebotenen Aufwand durchgeführt werden, weil es
an Zeit, an Personal oder der entsprechenden Ausbildung mangelt. Es kommt zu
einer impliziten Rationierung; die Pflege am Patienten, die Überwachung der
Patienten, Gespräche mit Angehörigen und eine korrekte Dokumentation sind kaum
noch angemessen umzusetzen.
Die eigentliche Pflegearbeit wird zunehmend ausgehöhlt, auch weil
unsere hoch qualifizierten und gut ausgebildeten Pflegekräfte Aufgaben
übernehmen müssen, die auch durch anderes Personal gewährleistet werden könnten.
Die Krankenschwester muss sich um den Kranken kümmern und darf nicht als Hol-
und Bringedienst, als Reinigungskraft oder hauptberufliche Dokumentationskraft
dienen.
({0})
Die daraus resultierende Unzufriedenheit mündet immer wieder in der
Flucht qualifizierter Kräfte in andere Berufe. Das mehr als ungerechte
Corona-Pflegebonusgesetz, bei dem viele Mitarbeiter leer ausgingen, hat zu
weiterem Unmut im Pflege- und Krankenhausbereich geführt – ein Teufelskreis
also, der nicht durchbrochen werden kann, wenn Sie die Frage nicht beantworten
können, wie Sie mehr Personal akquirieren wollen.
Bei der Diskussion zum Gesetzentwurf kam es im Ausschuss bei meinem
Vortrag zu einem der üblichen Zurufe vom links-grünen Block: „Und mehr
Zuwanderung!“ Das heißt: Um die Probleme in der Krankenhauspflege zu lösen,
brauchen wir nach Ansicht von Rot und Grün weitere Zuwanderung.
({1})
Aber das genau ist Ihr psychologisches Problem, werte Kollegen: Sie
glauben, mit Zuwanderung all die Probleme lösen zu können, die sich in
Deutschland in den letzten Jahrzehnten inzwischen zu einem Kilimandscharo
aufgetürmt haben. Deutschland ist längst kein attraktives Zuwanderungsland für
ausländische Fachkräfte mehr.
({2})
– Jetzt rede ich.
({3})
Dafür sind die Steuern und Abgaben hier im Land viel zu hoch und die
Arbeitsbedingungen zu schlecht.
({4})
Aber Deutschland ist inzwischen das attraktivste Zuwanderungsland für
Sozialflüchtlinge.
({5})
Unsere europäischen Nachbarn und Freunde füllen inzwischen Sonderzüge,
um diese Menschen frei Haus zu bringen. Nun mussten wir feststellen, dass wir
aus diesem Potenzial von 2 bis 3 Millionen Zuwanderern der letzten Jahre
({6})
noch nicht einmal genügend Fachkräfte für die Sortierung der Koffer an
den Flughäfen gewinnen konnten, geschweige denn ausgebildete Pflegekräfte mit
den absolut unverzichtbaren Sprachkenntnissen, die dazugehören.
Ich möchte hier explizit die bundesweite Studie „Ich pflege wieder,
wenn …“ der Arbeitnehmerkammer Bremen vom April 2022 mit mehr als
12 000 Befragten erwähnen.
({7})
Diese besagt: Mindestens 300 000 Vollzeitpflegekräfte stünden in
Deutschland durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit
zusätzlich zur Verfügung, sofern sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege
verbessern würden. – Sie haben es geschafft, in einer Zeit, in der es ohnehin
schon an Personal mangelt, Tausende durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht
aus dem Beruf zu nötigen und andere abzuschrecken, in diesem Bereich tätig zu
werden.
({8})
Weiterhin besteht ein Einstellungsstau, weil die rechtswidrige
einrichtungsbezogene Impfpflicht noch bis Ende des Jahres läuft und nicht vorher
ausgesetzt wurde.
Wenn Sie jetzt nicht das Gesundheits- und Pflegewesen als eine der
Kernaufgaben des Staates begreifen, werden wir unausweichlich in die
Pflegekatastrophe schlittern, und man wird Sie fragen, wer dafür verantwortlich
ist, dass ein einst so vorbildliches Gesundheitswesen wie das in Deutschland so
schwer beschädigt werden konnte.
Werden Sie deshalb Ihrer Aufgabe gerecht, tragen Sie Verantwortung,
und nehmen Sie mehr Geld für unser Gesundheitssystem in die Hand.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Westig für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dietz, Sie
haben hier wunderbar die AfD-Ideologie abgearbeitet; aber ich habe keinen
einzigen Lösungsvorschlag gehört.
({0})
Heute ist ein guter Tag für die Pflege in Deutschland; denn mit diesem
Gesetz senden wir das lang ersehnte Signal für bessere Arbeitsbedingungen in
unseren Kliniken. Wir bringen die PPR 2.0 endlich auf den Weg.
({1})
Als lernendes System soll sie uns zeigen, wie die Personalausstattung
aussehen soll, um eine optimale Patientenversorgung zu erreichen. Dabei stellen
wir die Begleitung durch die Pflegewissenschaft sicher. Mittelfristig soll dies
auch für die Intensivstationen und die Notfallambulanzen gelten. Die
Ausnahmeklausel für Unikliniken mit Entlastungstarifverträgen ist gestrichen,
sodass nun die Pflegenden in allen Häusern von den Verbesserungen profitieren
werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stärken die Pflege, wir stärken
aber auch die Geburtshilfe. Hebammen sind weiterhin im Pflegebudget enthalten.
Wir korrigieren damit einen Fehler. Künftig können die Hebammen sogar voll
angerechnet werden, sodass die Kliniken sie flexibel einsetzen können. Außerdem
erhalten die Länder zusätzliche Gelder, damit die Kliniken ihre Vorhaltekosten
für die Geburtshilfe abfedern können.
Ich bin den Hebammenverbänden sehr dankbar, dass sie öffentlich ihre
Stimme erhoben haben. Und ich danke Michelle Franco und begrüße sie ganz
herzlich hier auf der Tribüne. Sie ist die Initiatorin der Petition, die
inzwischen 1,6 Millionen Unterschriften hat. – Vielen Dank, Frau Franco.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fortschrittskoalition will die
Sektorengrenzen überwinden und mehr Ambulantisierung. Der Grundsatz „ambulant
vor stationär“ muss wieder mit Leben erfüllt werden. Aus Sicht der Freien
Demokraten ist es richtig, dass die Selbstverwaltung die Chance bekommt, den
zugehörigen Leistungskatalog bis zum Frühjahr selbst zu vereinbaren. Wir machen
aber deutlich, dass die Vergütung sich nur auf die Krankenhausleistung bezieht.
Wahlärztliche Leistungen von Arzt und Krankenhaus bleiben daneben
abrechenbar.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gesundheitsversorgung der Zukunft geht
nicht ohne digitale Transformation. Wir erleichtern den Zugang zur
Telematikinfrastruktur. Die Hürden hierfür waren bislang derartig hoch, dass
kaum jemand die elektronische Patientenakte nutzte. Wir sorgen dafür, dass
Versicherte künftig eigenverantwortlich über ihre Daten entscheiden können und
die e‑PA endlich Fahrt aufnehmen kann.
({5})
Wir Freien Demokraten stehen auch weiterhin für den Datenschutz; das
ist klar. Er darf jedoch nicht jeglichen Fortschritt blockieren. Fortschritt
sichern wir nur dann, wenn digitale Lösungen auch von den Menschen genutzt
werden können. Die Fortschrittskoalition sichert mit diesem Gesetz den
Datenschutz. Anders als bislang stellen wir dabei die Nutzerfreundlichkeit
jedoch nicht mehr hintenan.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch das grassierende RS-Virus
erleben wir aktuell dramatische Situationen auf den Kinderstationen; der
Minister hat es beschrieben. Nun rächt sich, dass die Politik die Pädiatrie
jahrelang so sträflich vernachlässigt hat.
({7})
Auch die Kinderklinik Sankt Augustin in meinem Wahlkreis muss immer
wieder um ihr Überleben kämpfen, obwohl sie für die pädiatrische Versorgung über
unsere Region hinaus hoch geschätzt wird. Ob Coronaimpfung für Kinder oder die
Versorgung junger ukrainischer Kriegsopfer: Die großartige Arbeit konnte ich bei
einem Praktikum im Sommer selbst kennenlernen. Ich habe allerdings auch die
Schwierigkeiten gesehen, mit denen unsere Kinderkliniken zu kämpfen haben.
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir hier nun endlich entgegenwirken.
({8})
Wir müssen das weiter im Blick behalten; denn Kinder sind keine
kleinen Erwachsenen. Sie brauchen unsere besondere Fürsorge. Wir werden
weiterhin die Kinderkliniken zielgenau unterstützen.
Mit dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz geht die Ampel ein
entscheidendes Problem in der Pflege an. Doch nicht nur dort: Geburtshilfe,
Pädiatrie, Digitalisierung, Ambulantisierung – wir machen uns auf den Weg.
Unterstützen Sie uns dabei, und stimmen Sie diesem Gesetz zu.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Ates Gürpinar für Die Linke.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
habe es in Ihrer Rede gehört, Herr Lauterbach, Sie sprechen tatsächlich von
einer Revolution. Ich finde schon spannend, dass die Union es schafft, innerhalb
von zwei Tagen einen Entschließungsantrag vorzulegen, der Sie und Ihre
Revolution links überholt.
({0})
Entweder ist mein politischer Kompass völlig falsch ausgerichtet, oder
das ist ein ganz sanftes Reförmchen, das Sie hier durchsetzen wollen.
({1})
Warum? Weil Sie Ihre eigenen Versprechen nicht einhalten, Herr
Lauterbach.
({2})
Die Pflegepersonal-Regelung 2.0 wurde im Koalitionsvertrag
versprochen: eine gute Idee, um die Pflegekräfte nicht mehr einem so großen
Stress auszusetzen und um den Menschen in den Krankenhäusern endlich eine gute
Pflege zuteilwerden zu lassen. Erdacht und erprobt von Verdi, DKG und dem
Deutschen Pflegerat. Aber das wird mit diesem von Ihnen vorgelegten Gesetz eben
nicht eingeführt.
({3})
Sie verschieben die Zuständigkeit für die genaue Umsetzung einer
Personalbemessung ins Ministerium. Und darauf kann man nicht wirklich vertrauen.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege, Herr Staatssekretär Franke, aber Sie selbst
haben gesagt, dass die PPR 2.0 eben nicht gewollt ist. Ich gebe Ihnen noch eine
Chance: Sie haben heute die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen, der die
genaue Umsetzung der Pflegepersonal-Regelung 2.0 einfordert. Wenn Sie unserem
Antrag heute zustimmen, dann kann ich Ihnen Glauben schenken. Ansonsten glaube
ich Ihnen nicht, dass die Pflegepersonal-Regelung 2.0 eingeführt wird.
({4})
Und noch absurder ist, dass die Umsetzung unter dem Vorbehalt des
Finanzministers steht. Sie reden von Revolution, und Herr Lindner ist der
Steuermann. Das ist doch lächerlich, liebe Koalition. Das ist doch wirklich
lächerlich.
({5})
Die Konservativen und wir haben im Ausschuss den Antrag gestellt, dass
das aus dem Gesetz gestrichen wird, und Sie haben das verhindert. Das ist doch
absurd: absurd für die Pflegekräfte und absurd für die Patientinnen und
Patienten.
Sie haben im Koalitionsvertrag eine kurzfristige, auskömmliche
Finanzierung der Kinder- und Jugendmedizin versprochen. Herr Lauterbach
behauptet, die Fallpauschalen zu überwinden. Das Versprechen ist gebrochen;
({6})
die DRGs bleiben vollständig in Kraft. Die zusätzlichen Erlöse – es
sind ein bisschen mehr als 10 Prozent – werden anhand der Fallpauschalen nach
dem Gießkannenprinzip vor allem über Spezialkliniken ausgeschüttet. Daraus
entstehen Nachteile für die Grundversorger, obwohl die gerade in den letzten
Tagen Alarm geschlagen haben.
Sie haben im Koalitionsvertrag eine kurzfristige, auskömmliche
Finanzierung der Geburtshilfe versprochen. Versprechen gebrochen. Warum? Weil
die erste Version des Antrags vorsah, dass weniger als 10 Prozent aller
Kreißsäle von diesem Zuschuss profitieren sollten. Nun haben Sie die Geldmenge
nicht erhöht, verteilen sie aber auf alle Kreißsäle. Ich glaube, man muss den
Dreisatz nicht allzu gut können, um zu verstehen, dass das wohl nicht ausreichen
wird.
({7})
Aber es gibt einen Lichtblick in dem Gesetz, sehr geehrte Damen und
Herren: die Herausnahme der Hebammen aus der Fallpauschalenregelung.
({8})
Das ist bedarfsgerecht. Aber das war nicht Ihr Plan. Im Gegenteil: Sie
hatten die Hebammen zunächst aus dem Pflegebudget rausgenommen. Dem Druck der
Berufsgruppe, dem Druck der Petentin, die heute hier ist, ist es zu verdanken,
dass sie sich wieder reinkämpfen konnten.
({9})
Das sollten wir uns als Beispiel nehmen; denn Revolutionen entstehen
eben nicht in den Palästen, sondern sie entstehen da draußen. Wenn die anderen
Berufsgruppen ausreichenden Druck aufbauen, dann wird auch dies entsprechende
Folgen haben.
Kollege.
Wenn wir auch die anderen Berufsgruppen aus den Fallpauschalen
herausnehmen – ich komme zum Schluss –, dann wird es ein richtiger Erfolg.
Ich wünsche uns allen viel Erfolg, die Pflege wirklich zu verbessern.
Die Koalition hat das nicht geschafft.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat Dr. Christos Pantazis das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat, heute ist ein guter Tag für die Pflege; denn mit dem hier vorliegenden
Krankenhauspflegeentlastungsgesetz werden wir dem Kern nach die Pflegekräfte in
Krankenhäusern durch ein Personalbemessungsinstrument nachhaltig entlassen.
Heute ist allerdings auch ein guter Tag für unsere Krankenhäuser.
Schließlich stellen wir heute nach acht Berichterstattergesprächen und insgesamt
32 Änderungsanträgen auch die ersten Weichen für eine stabile, moderne und
bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Damit setzen wir ein zentrales
Versprechen unseres Koalitionsvertrages um, kurzfristig für eine auskömmliche,
bedarfsgerechte Finanzierung der Pädiatrie und Geburtshilfe zu sorgen. Wir
werden mehr Fortschritt wagen.
({0})
Mit diesem Gesetz leiten wir längst überfällige Strukturreformen ein.
Die Folgen dieses Versäumnisses können wir heute – die Kollegen haben es vorhin
auch gesagt – täglich in unseren Kliniken sehen. Damit greifen wir auf die
Empfehlungen der Regierungskommission zurück.
Im Bereich der Pädiatrie stellen wir Krankenhäusern in den kommenden
zwei Jahren zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen zusätzliche Mittel in
Höhe von 300 Millionen Euro zur Verfügung, wobei diese im Rahmen einer
Sonderregelung für besondere Einrichtungen einen Zuschlag erhalten werden.
Auch im Bereich der Geburtshilfe werden wir in den kommenden zwei
Jahren mit zusätzlichen Mitteln in Höhe von insgesamt 240 Millionen Euro, die
über den Königsteiner Schlüssel an die Bundesländer verteilt werden, für eine
kurzfristige Stabilisierung sorgen. Dabei knüpfen wir die Förderung an
Voraussetzungen wie die Vorhaltung einer Pädiatrie, einer Neonatologie, eine
bestimmte Geburtenzahl und Anzahl vaginaler Geburten sowie eine
Hebammenpraxisausbildung. Als Vater junger Zwillinge weiß ich um die wertvolle
Arbeit von Hebammen. Mit dem hier vorliegenden Gesetz tragen wir dieser auch
Rechnung, indem ihre Refinanzierung über das Pflegebudget für die stationäre
Versorgung auch über das Jahr 2025 hinaus gesichert ist.
({1})
Die Fortschrittskoalition will die Ambulantisierung bislang unnötig
stationär erbrachter Leistungen fördern und wird mit diesem Gesetz neben der
neuen tagesstationären Behandlungsform ab April kommenden Jahres auch eine
sektorengleiche Vergütung für geeignete Leistungen durch sogenannte Hybrid-DRGs
umsetzen.
({2})
Mit der tagesstationären Behandlung entlasten wir Pflegekräfte durch
den Wegfall nicht notwendiger Übernachtungen. Im Leitsatz der deutschen
Gesundheitspolitik „ambulant vor stationär“ sehen wir ein erhebliches
Konsolidierungspotenzial und wollen diesen Prozess entschieden weiter
vorantreiben.
({3})
Entsprechend den Vorgaben des GBA werden wir dabei Transportkosten
erstatten; denn Reformmaßnahmen dürfen nicht auf dem Rücken der Schwächsten
ausgetragen werden.
Ich fasse daher als Berichterstatter meiner Fraktion abschließend
zusammen. Mit dem heutigen Tag leiten wir den überfälligen strukturellen
Reformprozess im Gesundheitssektor ein und sind entschlossen, das Jahr 2023 zum
Reformjahr für den Krankenhaussektor zu machen.
({4})
Sie sehen: Als Fortschrittskoalition kündigen wir den Fortschritt
nicht nur an. Wir wagen ihn und leiten ihn hier und heute mit diesem Gesetz
entschieden ein.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lauterbach, wer nicht
komplett realitätsfremd ist, bekommt von den Beschäftigten im Krankenhaus zu
Ihrem Gesetz gesagt: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht; denn das
Problem wird damit in der Praxis einfach nicht gelöst.
({0})
Das grundsätzliche Problem ist eigentlich allen klar: Wir haben zu
wenige Pflegekräfte in Deutschland. Aktuell fehlen uns etwa
200 000 Pflegekräfte, und 2030 könnten es schon etwa 500 000 Pflegekräfte
sein.
({1})
Wenn wir nicht umgehend handeln und unsere Pflegekräfte entlasten,
dann fahren wir unser Gesundheitssystem in absehbarer Zeit komplett gegen die
Wand.
({2})
Deshalb müssen wir die Pflegepersonal-Regelung 2.0, die von der
Deutschen Krankenhausgesellschaft, von Verdi und vom Deutschen Pflegerat
entwickelt und hinreichend erprobt worden ist, jetzt einführen. Was wir nicht
brauchen, ist eine ewige Neuerprobung mit ziellosen Diskussionen.
({3})
Wir benötigen auch eine auskömmliche Finanzierung der Pflege. Es kann
doch nicht sein, dass ein neues Pflegepersonalbemessungsinstrument, das
zukünftig entscheidet, wie viel Personal in den einzelnen Fachabteilungen
eingesetzt werden muss, nur mit Zustimmung des Bundesfinanzministeriums
eingeführt werden darf. Jeder vernünftige Mensch fragt sich doch da: Was
versteht eigentlich Christian Lindner davon, wie viel Personal auf einer
Intensivstation eingesetzt werden soll? Das ist doch völlig absurd; das ist
Pflege nach Kassenlage.
({4})
Auch der von Ihnen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eingeführte
Änderungsantrag, der die Bezahlung bei privat und gesetzlich Versicherten
angleicht, führt dazu, dass nun ein Großteil der Ärzte sagt: Das ist der
Einstieg in die Bürgerversicherung.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie das mitmachen,
ist wirklich schlimm.
({6})
Entweder Sie verstehen einfach nicht, was Sie heute hier beschließen,
oder Sie haben Ihre letzten gesundheitspolitischen Grundsätze komplett über Bord
geworfen.
Deshalb stellen wir in unserem Entschließungsantrag klare Forderungen.
Wir wollen das Pflegepersonal entlasten, und zwar durch eine sofortige
Einführung der hinreichend erprobten Pflegepersonal-Regelung 2.0.
({7})
Was wir nicht wollen, sind eine endlose Neuerprobung und nie endende
Diskussionen. Das bringt am Ende niemanden weiter. Wir wollen die auskömmliche
Finanzierung einer hochwertigen Pflege und nicht eine Pflege nach Lindners
Gnaden.
({8})
Und wir wollen Freiberuflichkeit und keine reine Staatsmedizin durch
einen Einstieg in die Bürgerversicherung durch die Hintertür.
({9})
Mit unseren Maßnahmen helfen wir dem Pflegepersonal praktisch und
nicht nur theoretisch. Deshalb bitte ich Sie heute um Zustimmung zu unserem
Änderungsantrag.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Kordula
Schulz-Asche das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag
für die professionelle Pflege in Deutschland, und ein langer Kampf findet seinen
Abschluss.
({0})
Ich danke ausdrücklich Verdi, dem Deutschen Pflegerat und der
Deutschen Krankenhausgesellschaft für die Entwicklung dieses Instruments, der
PPR 2.0,
({1})
der Regelung zur Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus, die wir jetzt
schnell einführen, während wir gleichzeitig damit beginnen, sie wissenschaftlich
weiterzuentwickeln, weil die bisherige Form nicht detailliert genug ist. Wir
werden uns daranmachen, ein vernünftiges Instrument zu entwickeln, um die
professionelle Pflege im Krankenhaus abzubilden, meine Damen und Herren.
({2})
Und wir werden endlich der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern
gerecht. Es wird auch eine Personalbemessung für die Pflege von Kindern geben.
Das ist längst überfällig; das haben Sie in den Jahrzehnten Ihrer Verantwortung
versäumt.
({3})
Wir werden auf den Intensivstationen das Instrument INPULS einführen
und weiterentwickeln. Auch das ist längst überfällig; denn wir wissen, welche
prekären Situationen auf den Intensivstationen herrschen.
({4})
Kollegin, ich habe die Uhr angehalten und stelle Ihnen die Frage, ob
Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Gürpinar gestatten.
Selbstverständlich.
Das freut mich sehr, dass Sie das als selbstverständlich ansehen,
Frau Schulz-Asche. – Vielen Dank für die Zulassung der Frage, Frau
Präsidentin. – Ich könnte jetzt fragen, was „kurzfristig“ und „schnell“ bei der
Einführung der PPR 2.0 bedeuten, wenn 2025 dahintersteht. Das wäre sozusagen die
kurzfristige Umsetzung des Koalitionsvertrages, was jetzt auch ein Jahr gedauert
hat seit Beginn der Legislatur.
({0})
Ich stelle aber eine andere Frage: Die Union und wir als Linke haben
gemeinsam einen Antrag gestellt, der auf das Veto des Finanzministers Lindner
hinweist. Ich habe ihn vorhin als Steuermann der Revolution beschrieben. Jetzt
wollte ich Sie tatsächlich mal fragen – weil niemand der Koalitionskolleginnen
und ‑kollegen darauf bisher eingegangen ist –: Wieso haben Sie denn den Antrag
von unseren beiden Fraktionen abgelehnt? Es kann in unseren Augen nicht sein,
dass die Pflegepersonal-Regelung 2.0 damit, mit dem Vetorecht, eingeführt werden
kann.
({1})
Erstens haben wir noch gar nicht abgestimmt.
({0})
Zweitens haben Sie den nicht gemeinsam gestellt, sondern es gibt zwei
unterschiedliche Anträge. Also, ich sortiere erst einmal vor.
({1})
Aber ich möchte auf Ihren Einwand eingehen, weil der Punkt tatsächlich
zu Irritationen führt. Ich denke, wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass
in einer Regierung alle Ressorts an bestimmten Entscheidungen beteiligt werden
und nicht nur ein Ressort. Ich gehe davon aus, dass es auch in Zukunft so sein
wird, dass alle Ressorts, die betroffen sind, einbezogen werden, nicht nur das
Finanzministerium.
Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass das Krankenpflegepersonal
in Deutschland von den Krankenkassen und nicht aus dem Bundeshaushalt bezahlt
wird.
({2})
– Nein, das ist überhaupt kein Argument! Was soll denn der Einspruch
bedeuten?
({3})
Wie gesagt, ich finde, man hätte auf diese Formulierung verzichten
können, aber sie steht drin, und sie wird keine Auswirkungen auf die
Pflegepersonalbemessung haben, die wir brauchen.
({4})
Darauf hat das Finanzministerium keinen Einfluss; denn die
Finanzierung des Pflegepersonals erfolgt nicht über den Bundeshaushalt, und das
ist auch gut so!
({5})
Außerdem möchte ich Ihnen noch sagen, welche Begleitmaßnahmen
notwendig sind. Es kann ja sein, dass durch die Einführung erst einmal deutlich
wird, dass wir zu wenig Personal haben. Deswegen werden wir eine ganze Reihe von
Maßnahmen umsetzen, zum Beispiel die Stärkung des Deutschen Pflegerats im
Gemeinsamen Bundesausschuss. Denn wir werden sehr viel mehr qualifizierte
Pflegekräfte brauchen. Dazu brauchen wir eine gemeinsame gesellschaftliche
Anstrengung. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dabei helfen und unterstützen
würden. Ich glaube, mit diesem Gesetz sind wir dazu auf einem guten Weg. – Danke
schön.
({6})
Wir legen heute mit diesem Gesetz den Grundstein für die längst
überfällige Aufwertung der professionellen Pflege in der stationären Versorgung
in Deutschland. Das ist gut für den Beruf, das ist aber vor allem auch im
Interesse der Menschen in Deutschland, die ins Krankenhaus kommen, der kranken
Menschen, die es verdient haben, dass wir in Zukunft gute Versorgung
sicherstellen, und zwar gemeinsam als Gesellschaft, aber eben auch als
Professionelle, die in diesem Bereich arbeiten. Die Menschen haben es verdient.
Sie brauchen diese gute Pflege, und die Aufwertung ist längst überfällig nach so
vielen Jahren des Versagens und des Ausbleibens dieser deutlichen Zeichen für
eine qualitative Verbesserung der professionellen Pflege. Lassen Sie uns
gemeinsam dafür sorgen. Ich habe den Eindruck, dass auch die Oppositionsparteien
bereit sind, mitzuwirken, und von daher freue ich mich auf die
Zusammenarbeit.
({7})
Jetzt ist meine Redezeit leider zu Ende. Ich hätte gerne noch die
Frage des Kollegen Sorge zugelassen.
Das ahnte ich. Aber ich bin auch gehalten, dafür zu sorgen, dass wir
wenigstens noch ein Stückchen in der verabredeten Debattenzeit bleiben und nicht
die Redezeit, die Ihnen die Fraktion gewährt hat, verdreifachen.
({0})
– Ach, Kollege Sorge.
({1})
Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Minister Lauterbach!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, dass die Tonlage etwas
versöhnlicher geworden ist.
({0})
Wir haben in der Tat aktuell eine sehr dramatische Situation auf den
Intensivstationen der Kinderkliniken; der Minister hat darauf hingewiesen. Und
es ist schon fast beschämend, dass wir von 607 Intensivbetten gegenwärtig nur
367 betreiben können, weil vielerorts einfach das Personal fehlt.
Es kann nicht sein, dass die Schwächsten einer Gesellschaft, die
unserer Hilfe bedürfen, diese Hilfe nicht erfahren können, obwohl wir so viel
Geld ausgeben, das aber vielfach verpufft. Die Gesamtausgaben im
Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland belaufen sich auf über
440 Milliarden Euro jährlich, das entspricht fast dem gesamten
Bundeshaushalt.
({1})
Zusammengefasst muss man sagen: Wir nutzen unsere Potenziale nicht
wirklich effizient. Wir haben zu viele Häuser, auf die sich das wenige Personal
verteilt, bei enorm gestiegenen Sach- und Energiekosten und teilweise auch
erheblichem Investitionsstau, wofür die Länder verantwortlich sind.
({2})
Zur Optimierung soll das hier zur Debatte stehende Gesetz zur
Pflegepersonalbemessung beitragen. Ich habe da so meine Zweifel. Meine Kollegen
von der Unionsfraktion haben unsere Zweifel bereits vorgetragen. Deshalb will
ich es dabei zunächst einmal bewenden lassen.
Im Gesetzespaket finden sich auch weitere Änderungen, und zwar zur
Vergütung der Krankenhäuser. Darauf möchte ich kurz eingehen. Ich bin jetzt seit
über zwölf Jahren im Kreistag von Ravensburg. Wir haben insgesamt sechs
Krankenhäuser gehabt. Wir haben jetzt noch zwei, vier haben wir geschlossen, um
unser System zu optimieren. Dennoch haben wir gegenwärtig ein zweistelliges
Millionendefizit. Eine nicht unwesentliche Ursache dafür ist einfach die
Vergütung nach dem Krankenhausentgeltgesetz.
Drei Punkte in aller Kürze:
Erstens. Der Katalog ambulanter Leistungen nimmt stetig zu; das ist
hier bereits ausgeführt worden. Die Sektorengrenzen fallen, und die
Krankenhäuser bieten jetzt auch immer mehr ambulant und stationär an, also
hybrid. Die damit einhergehenden Verluste an stationären Fällen müssen jedoch
durch die Hybrid-DRGs angemessen ausgeglichen werden. Und das scheint
gegenwärtig nicht der Fall zu sein. Das gilt aber auch für die hier in diesem
Gesetzespaket mit enthaltenen Tagesbehandlungen. Es ist nicht klar und nicht
eindeutig, wie diese auskömmlich finanziert werden sollen. Unser Änderungsantrag
greift das deshalb auf.
Zweitens. Die Grundlage für die Vergütung ist der Basisfallwert. Er
wird einmal im Jahr festgelegt. Kommt es zu Kostensteigerungen, wie gegenwärtig,
hält er damit nicht mehr Schritt. Es muss eine Möglichkeit geschaffen werden,
dass unter dem Jahr nachverhandelt werden kann, insbesondere in
Krisenzeiten.
Drittens. Betriebswirtschaftliche Grundsätze werden nicht
berücksichtigt. Wenn hohe Fallzahlen in einem Bereich zu weniger Fixkosten
führen und somit ein Fixkostendegressionsabschlag erfolgt, dann müssen umgekehrt
weniger Fallzahlen mindestens zu einer Reduzierung des Abschlags führen. Auch da
lässt der Gesetzentwurf nichts erkennen.
Zum Schluss noch ein Satz zu dem Sonderzuschuss in Höhe von
6 Milliarden Euro für die Häuser, die da angekündigt sind. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, das ist schön, und dem Vernehmen nach ist eine Aufteilung von
4,5 Milliarden Euro für die Energiekosten und 1,5 Milliarden Euro für die
Sachkosten beabsichtigt. Es ist aber genau andersherum: Die Häuser weisen jetzt
schon darauf hin, dass die Sachkosten das Problem sind. Dafür sieht Ihr
Vorschlag keine Lösung vor.
({3})
Herr Kollege.
Er enthält auch nicht, wann das Geld denn kommen soll und wie
konkret es denn verteilt werden soll.
Löblich – letzter Satz – ist selbstverständlich der Aufwuchs bei den
Zuwendungen für Geburtshilfe und Pädiatrie.
Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.
Aber so, wie es jetzt ausgestaltet ist, müssen weitere
Verteilungskriterien nachgearbeitet werden. Auch das sieht unser Änderungsantrag
vor. Ich bitte um Zustimmung.
Danke schön.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Heike Baehrens
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Versprochen, gehalten! Die Pflegepersonal-Regelung 2.0
kommt. Sie ist ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Pflege im Krankenhaus
und wurde von einem breiten Bündnis aus der Pflege mit allem Nachdruck
eingefordert. Die Expertinnen und Experten vom Deutschen Pflegerat, von Verdi
und von der Deutschen Krankenhausgesellschaft erwarten von diesem
Bedarfsermittlungsverfahren entscheidende Verbesserungen für die
Versorgungsqualität im Krankenhaus und für die Arbeitszufriedenheit der
Pflegepersonen. Darum sorgen wir heute dafür, dass die PPR 2.0 starten kann.
Denn wir wissen: Gute Pflege braucht Zeit und damit auch mehr Personal, als
aktuell vorhanden ist.
({0})
Wie viel Personal es auf den verschiedenen Stationen eines
Krankenhauses konkret braucht, das genau wird mit dem Verfahren nun ermittelt,
und zwar vom Pflegefachpersonal selbst. Es sind die Praktiker/-innen, die uns
davon überzeugt haben, dass mit der PPR 2.0 ein bürokratiearmes Instrument zum
Einsatz kommt, das an die vertrauten Pflegepersonalrichtlinien von früher
anknüpft und deshalb einfach umzusetzen ist. Und deshalb, Herr Sorge, stimmt es
nicht, dass dieses Gesetz die Beschäftigten belastet. Nein, es entlastet.
({1})
– Nein, genau das hat heute der Deutsche Pflegerat in seiner
Pressemitteilung auch so öffentlich verkündet.
({2})
Gemeinsam mit unserem Gesundheitsminister Karl Lauterbach haben wir
den guten Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren noch besser gemacht. Wir
sorgen nämlich dafür, dass die PPR 2.0 zukünftig in einem strukturierten
wissenschaftlichen Prozess weiterentwickelt wird. Denn es ist uns wichtig, dass
die neue Personalbemessung auch in der Intensivmedizin für Kinder und Erwachsene
und in den Notaufnahmen angewandt sowie der notwendige Qualifikationsmix mit
abgebildet wird.
({3})
Heute sorgen wir mit der PPR 2.0 für eine am Bedarf orientierte Pflege
in unseren Krankenhäusern. Wir gestalten diesen Prozess ganz bewusst gemeinsam
mit denen, die Tag für Tag eine gute Versorgung der Patientinnen und Patienten
gewährleisten.
({4})
Gleichzeitig wissen wir, dass wir weiter vor größten Herausforderungen
stehen, qualifiziertes Personal für unsere Krankenhäuser zu gewinnen; das zeigt
die aktuelle Krise in den Kinderkliniken auf dramatische Weise. Wir haben keinen
Bettenmangel, wir haben einen gravierenden Fachkräftemangel. Daher arbeiten wir
parallel mit allem Nachdruck daran, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu
verbessern und ganz konkret das umzusetzen, was nötig ist, damit mehr Menschen
für diese wertvollen Berufe in der Pflege begeistert werden, den Arbeitsalltag
und die Lohnbedingungen weiter zu verbessern und Pflegekräfte, die ihren Beruf
verlassen haben, zurückzugewinnen.
({5})
Als Koalition des Fortschritts werden wir diesen Weg entschlossen
weitergehen, und für uns als SPD kann ich versprechen: Wir werden weiter alles
tun, um die Pflege zu stärken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 27. Februar
hatte der Bundeskanzler hier im Bundestag die „Zeitenwende“ ausgerufen. Aus
dieser Zeitenwende folgte unter anderem eine fragwürdige Mega-Aufrüstung, aber
auch eine von uns begrüßte zaghafte Aufweichung der Schuldenbremse. Wo es in
dieser Bundesrepublik Deutschland aber gar keine Zeitenwende gab und gibt, ist
in einer gerechten Steuerpolitik, und da liegt die Richtlinienkompetenz allem
Anschein nach bei Christian Lindner. Dementsprechend wurde mit dem
Inflationsausgleichsgesetz die Steuererleichterung vor allen Dingen bei Gut- und
Besserverdienenden verortet. Das war angesichts der sozialen Verwerfungen in
diesem Land in der größten Krise, die wir erleben, nicht zu erklären.
({0})
Während hier die Ampel, meine Damen und Herren, steuerpolitisch auf
Durchzug stellt, gab es woanders eine steuerpolitische Zeitenwende.
({1})
Wenn wir heute schon bei dem Begriff „Revolution“ sind – das kann man
schon als revolutionär bezeichnen –, dann muss ich feststellen: Die gab es bei
den Wirtschaftsweisen. Ehrlich gesagt: Das hat mich schon überrascht. Allen
Zuschauerinnen und Zuschauern an den Bildschirmen und den Gästen hier im Saal
sei kurz erklärt: Bei den Wirtschaftsweisen handelt es sich um einen
Sachverständigenrat der Bundesregierung. Diesen Sachverständigenrat, meine Damen
und Herren von der Bundesregierung, haben Sie berufen und nicht irgendeine
Vorfeldorganisation der Linken.
({2})
Diese Wirtschaftsweisen, meine Damen und Herren, Herr Güntzler – das
hat mich wirklich beeindruckt –, schlagen vor,
({3})
um die Krise solidarisch bewältigen zu können, dass es derzeit keine
Steuerentlastungen für Reiche und Vermögende in diesem Land geben soll;
({4})
außerdem soll zeitlich befristet ein sogenannter Energiesoli
eingeführt werden. Nun haben Sie, meine Damen und Herren von SPD, Grünen und
FDP, im Rahmen des Spitzenverdienerentlastungsgesetzes beschlossen, diese
Gutverdienenden überproportional zu entlasten. Deshalb wird die zweite Forderung
der Wirtschaftsweisen, einen Energiesoli einzuführen, umso wichtiger. Diesen
fordern wir mit unserem Antrag ein.
({5})
Deshalb noch einmal zur Klarstellung, wer diesen Energiesoli überhaupt
zahlen müsste: Wenn man ihn so ausgestalten würde wie den Soli, dann wären zum
Beispiel Singleeinkommen beginnend ab 80 000 Euro brutto betroffen. Im Land
Brandenburg wären es zum Beispiel 75 000 Personen von 1,22 Millionen
Steuerpflichtigen. Das ist eine überschaubare Zahl. Bezogen auf ganz Deutschland
würden nur die oberen 10 Prozent der Gutverdienenden bedacht. DAX-Manager mit
den Boni, aber auch Ampelministerinnen und ‑minister würden zur Kasse gebeten
werden.
({6})
Meine Damen und Herren, vor allen Dingen hätten wir Einnahmen in Höhe
von circa 10 Milliarden Euro.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Angesichts dieser größten
Krise mit schuldenfinanzierten Rettungspaketen in nie dagewesener Höhe sind wir
schon dafür, einen zeitlich befristeten Soli einzuführen. Ich freue mich schon
auf die Debatte.
Danke.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Zorn das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Herr Görke, lieber Christian, ich muss sagen, ich bin
enttäuscht,
({0})
weil Sie sich hier mehr und mehr demaskieren. Es wird immer
deutlicher, dass es Ihnen gar nicht um konstruktive Oppositionsarbeit geht. Eine
Woche nach der anderen holen Sie einen Parteitagsbeschluss der SPD nach dem
anderen heraus oder das, was die Wirtschaftsweisen gesagt haben, und bringen das
hier als Antrag ein. Es geht Ihnen gar nicht darum, inhaltlich darüber zu
diskutieren, sondern es geht Ihnen vielmehr darum, zu zeigen, dass es innerhalb
der Ampel zwischen SPD, Grünen und FDP unterschiedliche Vorstellungen gibt.
Diesen Stil sollten wir uns, ehrlich gesagt, nicht angewöhnen.
({1})
Ich schätze Sie sehr, aber so können wir nicht weiter Politik machen.
Die Menschen erwarten in diesen Zeiten viel mehr von uns als nur diese
symbolischen Anträge. Das kann nicht unser Politikstil sein.
({2})
Lieber Herr Görke, ich will inhaltlich zu dem Antrag reden. Es ist ja
nicht so, dass wir uns der Debatte nicht stellen. Sie wissen, dass wir ihm
gegenüber sehr offen sind.
({3})
Wir haben uns diesbezüglich geäußert. Wir sind tatsächlich der
Meinung, dass der Energiesoli jetzt in der Krise eine von verschiedenen
Maßnahmen sein könnte,
({4})
die dafür sorgen könnte, dass wir bei den Leistungspaketen mehr
Zielgenauigkeit erzielen.
({5})
Wenn Sie den Jahresbericht der Wirtschaftsweisen gelesen haben, dann
haben Sie auch festgestellt, dass viele verschiedene Entlastungsmaßnahmen, die
wir auf den Weg gebracht haben, gelobt wurden. Uns ist es auf der Angebotsseite
gelungen, die Angebote zu erweitern, und wir können temporär für mehr Energie
sorgen. Das ist gut. Auch dass wir auf der Nachfrageseite massiv Geld in die
Hand genommen haben, um Menschen zu unterstützen, halten die Wirtschaftsweisen
für gut.
({6})
Aber eine Kritik müssen wir uns gefallen lassen. Sie hängt damit
zusammen, dass wir kaum Maßnahmen haben, um Direkttransfers zu tätigen. Das
haben wir schmerzhaft gelernt, und das Wirtschaftsministerium arbeitet mit
Hochdruck daran, damit wir zukünftig bei den verschiedenen Entlastungspaketen,
die vielleicht noch kommen werden, viel zielgenauer sein können.
Herr Görke, ich will noch einmal sagen: Wenn es um diese Themen geht,
wenn es um mehr Steuergerechtigkeit, wenn es um mehr gesellschaftliche und
soziale Gerechtigkeit geht,
({7})
dann können Sie immer mit unserer Partei, meiner Fraktion, unserer
Fraktion als Partner rechnen.
({8})
Was aber nicht geht, ist, Woche für Woche einen Antrag nach dem
anderen vorzulegen
({9})
und uns dafür zu kritisieren, dass wir in der Sache bei Ihnen sind,
aber dem nicht zustimmen können. Das ist nicht unsere Vorstellung von
Politik.
Liebe FDP – das ist vielleicht das, was uns unterscheidet –, wir haben
zwar unterschiedliche Meinungen, wenn es beispielsweise in der Steuerpolitik
darum geht, wen wir in diesen Zeiten entlasten müssen,
({10})
aber wir diskutieren hart in der Sache, und am Ende finden wir eine
Lösung, womit das ganze Land leben kann. Das zeichnet diese Ampelkoalition
aus.
({11})
Ich will noch zwei, drei Sätze sagen, warum ich das grundsätzlich auch
gut finde. In der jetzigen Situation müssen wir nicht nur die Krise bewältigen –
das wollen wir solidarisch machen, deswegen haben wir auch die verschiedenen
Entlastungspakete auf den Weg gebracht –, sondern wir wollen auch zeitgleich in
die Transformation investieren, und auch das kostet viel Geld.
Dafür haben wir im letzten Haushalt sehr viel Schulden aufgenommen.
Das ist richtig. Schulden sind nicht per se schlecht oder gut. Es kommt stets
darauf an, wofür sie verwendet werden. Liebe FDP, das ist auch mein Appell an
Sie: Was sich nicht empfiehlt, ist, Schulden aufzunehmen, um für mehr
Umverteilung zu sorgen. Das empfiehlt sich nicht.
({12})
Wenn es darum geht, für mehr Solidarität zu sorgen, wenn es darum
geht, insbesondere diejenigen zu unterstützen, die jetzt in diesen Zeiten am
stärksten betroffen sind, sollten wir steuerpolitisch etwas machen. Wir haben
mit der Erbschaftsteuer, wir haben mit der einmaligen Vermögensabgabe, wir haben
aber auch mit dem Energiesoli Möglichkeiten, dies zu tun. Das würde auch dafür
sorgen, dass wir mehr Gerechtigkeit schaffen.
({13})
Deswegen freue ich mich auch auf die weiteren Diskussionen.
Ich möchte noch einmal den Aspekt von vorhin aufzugreifen, dass wir
mehr Zielgenauigkeit wollen. Wir haben es doch erlebt – das kann sicherlich fast
jeder Abgeordnete aus diesem Hause bezeugen –, dass viele Menschen auf uns
zugekommen sind und gesagt haben: Ich verdiene schon so viel Geld, dass ich gar
keinen Energiezuschlag mehr brauche; ich verdiene schon so viel Geld, dass ich
nicht von den Maßnahmen profitieren muss; ich verstehe das nicht. – Nun können
wir das nicht kurzfristig lösen, weil wir nicht so spezifisch vorgehen können.
Wir können aber beispielsweise mit einem Energiesoli dafür sorgen, dass
insbesondere diejenigen, die am meisten Geld haben und jetzt noch zusätzlich
unterstützt werden, weil wir diese Direkttransfers nicht machen können, ihren
Beitrag leisten. Das könnte für mehr Ausgleich sorgen. Deswegen begrüßen wir
diese Maßnahme.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lehnen den Antrag der Fraktion Die
Linke ab. Das soll aber keine inhaltliche Kritik sein, sondern es geht um die
Art und Weise, wie wir miteinander hier Politik machen wollen.
({14})
– Nein, nein. Dazu will ich noch einen Satz sagen: In der
Bundesrepublik ist es nun einmal so, dass wir ein System haben, wo verschiedene
Parteien Wahlkampf machen, basierend auf unterschiedlichen Vorstellungen. Am
Ende gibt es ein Ergebnis, und dann müssen die Parteien zusammenkommen und
miteinander ringen. Am Ende vereinbaren sie in einem Koalitionsvertrag, wie sie
die nächsten vier Jahr regieren wollen. Was natürlich nicht geht, ist,
eigenständig eine Entscheidung anders treffen zu wollen, nur weil man sie selbst
gut findet. Für die Stabilität des Landes, insbesondere in Krisenzeiten, ist es
sehr, sehr wichtig, dass die Koalition hart diskutiert,
({15})
aber in der Sache dafür sorgt, dass das Land regierungsfähig bleibt.
Insbesondere in diesen Krisenzeiten ist das mehr denn je wichtig.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur die
Ampel kann Steuern erhöhen und neue Steuern einführen, nein, auch Die Linke
beglückt uns heute wieder mit einem neuen Antrag zur Umverteilung.
({0})
Gefühlt werden Sie da bei der Linken in der Vorweihnachtszeit immer
besonders kreativ.
({1})
Ich erinnere mich noch gut an Ihren Antrag von 2018 zur Einführung
eines Kinderweihnachtsgeldes. Mit Ihrem aktuellen, heute vorliegenden Antrag zur
Einführung eines Energiesolis knüpfen Sie nahtlos an den Unsinn der letzten
Jahre an.
Sie suggerieren hier mit Ihrem Antrag, dass Gutverdienende über die
Energieentlastungspakete der Regierung mehr Entlastungen erhielten als Personen
mit kleinem Einkommen. Das stimmt aber schon gar nicht. Dass die Entlastungen
der Dezemberhilfe und die Gaspreisbremse sozial einigermaßen ausgewogen sind,
dafür hat die Bundesregierung tatsächlich gesorgt,
({2})
allerdings – darauf muss man hinweisen – mit einem Missbrauch des
Steuerrechts, mit großer Rechtsunsicherheit, mit einem wahnsinnigen
Bürokratieaufwand, mit erheblichen zusätzlichen Belastungen für Bürger,
Stadtwerke, Unternehmen. Daraus entstehen natürlich wieder neue
Ungerechtigkeiten. Aber das ist tatsächlich eine andere Geschichte.
In Ihrem Antrag machen Sie sich eine Aussage aus dem Jahresgutachten
der sogenannten Wirtschaftsweisen zu eigen: die Einführung eines zeitlich
befristeten Energiesolidaritätszuschlages, der so lange gelten könnte, wie die
Gaspreisbremse greift. Natürlich blenden Sie beim Herauspicken dieser Rosine
alle anderen Aussagen des Sachverständigenrats aus.
({3})
Diese passen natürlich nicht ins Konzept, deswegen blicken Sie nur auf
diesen einen Teil.
Nachdem Sie ja in der Vergangenheit immer wieder Anträge zur
Vermögensabgabe, zur Vermögensteuer, einmal für Millionäre, dann für
Milliardäre, gestellt haben – der Kollege Christian von Stetten hat mal
nachgezählt: in den letzten Jahren haben Sie diesen Antrag schon 20‑mal gestellt
und sind jedes Mal gescheitert –,
({4})
finden Sie jetzt einen neuen Grund, den Bürgern in die Tasche zu
greifen, und der heißt jetzt Energiesoli. Da über 90 Prozent der Bevölkerung
unter einer CDU-geführten Bundesregierung von der Zahlung des
Solidaritätszuschlages entlastet wurden, stürzt man sich jetzt bei den Linken
auf den kleinen verbliebenen Teil, der noch Solidaritätszuschlag zahlt, und will
dem zusätzlich einen Energiesoli obendrauf setzen. Es sind die oberen 10 Prozent
der Einkommensteuerzahler, die jetzt schon 95 Prozent des Solidaritätszuschlages
zahlen
({5})
und für die Hälfte des Gesamtaufkommens bei der Einkommensteuer
aufkommen. Das sind nicht nur die DAX-Manager und die Minister, die Sie ja in
Ihrem ursprünglichen Antrag oben in der Headline hatten – die Fußballer haben
Sie noch vergessen, die es nach dem Spiel gestern vielleicht auch verdient
hätten –, sondern tatsächlich auch Selbstständige, Handwerker, kleine
Unternehmer, Menschen, die hart für ihr Einkommen arbeiten und unter den Folgen
des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine, den steigenden
Energiepreisen und der Inflation genauso leiden wie alle anderen auch.
({6})
Es ist ein hehres Ziel, den Staat immer wieder auch auf der
Einnahmeseite zu stärken und Gegenfinanzierungen zu finden. Aber – und diesen
Teil des Gutachtens der Wirtschaftsweisen lassen Sie weg – Vorschläge wie zum
Beispiel ein Energiesoli führen zu zusätzlichen Belastungen für Haushalte und
Unternehmen und wirken sich – das sagen auch die Wirtschaftsweisen –
wachstumsdämpfend aus. Jeder vernünftige Ökonom würde doch in einer
wirtschaftlich unsicheren Situation alles tun, um zusätzliche Belastungen zu
vermeiden. Wir müssen alles tun, damit wir Arbeitsplätze am Wirtschaftsstandort
Deutschland erhalten können. Steuererhöhungen gehören da ganz sicher nicht dazu.
Deswegen: Ab in die Mottenkiste mit dem Energiesoli!
({7})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Solidaritätszuschlag
insgesamt und für alle abgeschafft werden sollte.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege
Sascha Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als ich den Tagesordnungspunkt gesehen habe, der zunächst unter
dem Titel „Energiesoli – Dax-Manager und Minister zur Kasse“ aufgesetzt war,
habe ich einen Schreck bekommen. Wie populistisch ist das denn bitte? Jetzt bin
ich zumindest beruhigt darüber, dass der Antrag am Ende rhetorisch relativ
moderat „Energiesoli für Spitzenverdienende – Vorschlag der Wirtschaftsweisen
umsetzen“ überschrieben ist. Der Antrag selber ist ja auch recht kurz gehalten.
Sie wollen die Bundesregierung auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
einen neuen Energiesolidaritätszuschlag gemäß Artikel 106 Absatz 1 Nummer 6 des
Grundgesetzes vorsieht und sich am Vorbild des derzeitigen
Solidaritätszuschlages für die oberen 10 Prozent orientieren soll.
({0})
Nun erinnern wir uns mal an das Inflationsausgleichsgesetz, um das wir
hier – das ist ja bekannt – lange mühsam gerungen haben. Über eines waren wir
uns in der Koalition bei diesem Gesetz immer einig: dass die Eckwerte im
Einkommensteuertarif bei der sogenannten Reichensteuer diesmal nicht angepasst
werden. Damit haben wir, um in der Logik der Befürworter des Ausgleichs der
kalten Progression zu bleiben, für diesen Personenkreis eine reale
Steuererhöhung hingenommen. Es ließe sich also argumentieren, dass wir das
Kernanliegen des Antrags eigentlich ein Stück weit schon erfüllt haben.
({1})
Sie merken schon, dass wir dem Antrag nicht folgen werden. Aber mit
dem Hinweis auf den neuesten Bericht des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung haben Sie natürlich einen wichtigen Punkt
angesprochen. Die Frage danach, ob den starken Schultern in der Krise mehr
zuzumuten wäre und, wenn ja, wie das geschehen sollte, ist natürlich berechtigt.
Unser vordringliches Ziel als Ampel ist es natürlich zunächst, dass Menschen und
Unternehmen gut durch den Winter kommen. Ich bin mittlerweile optimistisch, dass
uns das gelingt, vor allem besser gelingen wird, als so mancher auch hier
gehofft hat, der schon von einem heißen Protestherbst geträumt hat, der ja dann
ausgeblieben ist.
Hier zeigt sich: Unsere tatkräftige Regierung, diese
Fortschrittskoalition, gehört zu den Machern, zu den Mutmachern. Andere hier
verlegen sich dagegen ausschließlich auf das Miesmachen, wünschen sich sogar –
es ist ja auf Video dokumentiert – aus parteipolitischen Motiven ein Scheitern
und dass hier alles den Bach runtergeht. Das wird aber nicht passieren. Dass
hier ganz rechts und – leider, muss ich sagen – in Teilen auch auf der anderen
Seite des Hauses dieses üble Spiel gespielt wird, ist das eine und nicht anders
zu erwarten. Dass wir aber von den Vorsitzenden von CDU und CSU im Sommer immer
wieder von einem Blackout in diesem Winter gehört haben, dass sie diese Ängste
geschürt haben, war auch nicht hilfreich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
in dieser so schwierigen Zeit.
({2})
Was machen wir aber? Nun, wir handeln. Wir schützen die Menschen und
die Unternehmen. Wir lassen die Menschen nicht alleine.
({3})
Und wie machen wir das? Pragmatisch und entschlossen. Schon die
Ankündigung der Strom- und Gaspreisbremse hat zu einer Beruhigung der Märkte
geführt. Jetzt geht es hier im parlamentarischen Verfahren um die Details. Und
natürlich kommt es hier bei einem so starken Markteingriff, den wir uns selber
vor nicht allzu langer Zeit so gar nicht vorstellen konnten, sehr auf
Gründlichkeit an.
Bei alldem müssen wir natürlich darauf achten, dass es gerecht zugeht.
Darauf haben wir bei unseren Entlastungsmaßnahmen geachtet. Ich könnte jetzt den
Rest meiner Redezeit damit füllen, die Maßnahmen mehrerer milliardenschwerer
Entlastungspakete erneut aufzuzählen; aber ich beschränke mich – denn wir reden
ja von den starken Schultern – auf den Hinweis, dass wir vorhin mit dem
Jahressteuergesetz – es ist erst wenige Minuten her – den Energiekrisenbeitrag
beschlossen haben.
({4})
Zufallsgewinne von Energiekonzernen können wir nun zu 33 Prozent
abschöpfen. Damit können bis zu 3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt
zurückgeführt werden. Wir beteiligen Krisengewinnler an der Finanzierung der
umfassenden Entlastungspakete der letzten Monate. Damit große Konzerne hier
nicht einfach die Besteuerung umgehen können, haben wir uns im parlamentarischen
Verfahren für Nachschärfungen eingesetzt.
({5})
Und ja, wenn dieses Land, auch dank unserer Regierung, durch die
Energiekrise und die damit verbundene Inflation gekommen ist, wird sicherlich
die Frage auftauchen, ob es weitere Krisengewinner gibt, die vielleicht auch
einen erhöhten Beitrag leisten können. Und die Vermögensungleichheit in
Deutschland, gerade im europäischen Vergleich, besteht weiterhin.
Gesellschaftliche und politische Diskussionen darüber sind legitim, und wir
brauchen diese Debatten. Im Moment liegt das Hauptaugenmerk der Regierung aber
auf der Krisenbewältigung, und angesichts der Vielzahl der Herausforderungen
haben wir gut zu tun. Daran arbeiten wir gemeinsam als Ampelparteien, und das
sehr erfolgreich.
Die Menschen in Deutschland können sich glücklich schätzen, dass sie
sich angesichts dieser herausfordernden Zeiten im letzten Jahr für diese
Koalition entschieden haben, für diese Fortschrittskoalition, die einerseits die
Krisen gut managt und andererseits die richtigen Weichenstellungen für die
Zukunft vornimmt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. – Ich grüße Sie alle zur Schlussschicht, so hoffe ich.
Jetzt erhält das Wort für die AfD-Fraktion Jan Wenzel Schmidt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Schon wieder haben
die Linken ihre immer gleichen Bücher gewälzt. Das Ergebnis war natürlich das
Gleiche. Egal welches Problem: Staatliche Umverteilung ist Ihre Lösung. Im heute
vorliegenden Antrag wollen die SED-Nachfolger
({0})
mit einem Energiesoli vermeintlich Besserverdienende zur Kasse bitten.
Die Einführung des ursprünglichen Solidaritätszuschlags war damals jedoch
notwendig, weil die ehemalige DDR durch die linke Wirtschaftspolitik
heruntergewirtschaftet wurde.
({1})
Diese Wirtschaftsweisheit ist das wacklige Fundament Ihres Antrages.
Sie wollen mit Ihrem Antrag das Blut des Bürgers vor Neid auf Besserverdienende
zum Kochen bringen. Ihr perfides Ziel ist es, so auf Wählerfang zu gehen.
({2})
Dabei gehören nicht wenige Linke auch zu den Besserverdienern. Ein
Blick in die Reihen der linken Schickeria ist aufschlussreich. Ein
Fraktionsvorsitzender Ihrer Fraktion erhält monatlich rund 20 000 Euro.
({3})
Ihre Fraktion gönnt sich mit Dr. Dietmar Bartsch und Frau Amira
Mohamed Ali gleich zwei Vorsitzende, die beide diesen Antrag unterzeichnet
haben. 40 000 Euro im Monat für zwei ineffektive Frontfiguren!
({4})
Das entspricht im Übrigen nahezu einem durchschnittlichen Jahresgehalt
in Deutschland, während der Wähler schuften darf, um die höheren Energiekosten
zu stemmen.
In Thüringen stellen die Linken sogar den Ministerpräsidenten. Gerade
da sollten eigentlich linke Spitzenpolitiker als Vorbild für Bescheidenheit
gelten. Jedoch hat zum Beispiel Ihr Landtagskollege André Blechschmidt ein paar
nennenswerte Nebeneinkünfte vorzuweisen. Neben seiner Diät, die ohnehin schon
mit satten 7 745 Euro monatlich vergütet wird, erhält er für seine Anwesenheit
in drei Aufsichtsräten noch einmal 11 325 Euro.
({5})
Das ist kein Einzelfall. Die Linken-Abgeordnete Lena Güngör bessert
ihr Mandat mit einem Aufsichtsratsposten um knapp 10 000 Euro auf.
({6})
Auch in Ihrer linkspolitischen Stiftung quillt das Steuergeld nur so
aus jeder Fuge: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird jährlich mit über 64 Millionen
Euro gefördert. Ein Aktivposten in Ihrer Stiftung ist Hermann Klenner. Er dürfte
das letzte lebende ehemalige NSDAP-Mitglied sein, das in der Politik noch ein
Amt bekleidet.
({7})
Ja, dieser Herr hat den Weg von der braunen sozialistischen Partei in
die rote gefunden.
({8})
Währenddessen müssen immer mehr Familien mit weniger auskommen:
weniger Geschenke zu Weihnachten, weniger Wärme zu Hause, weniger vollwertige
Mahlzeiten.
Wegen der ideologischen Selbstbeschneidung Ihres Horizontes geht Ihr
Antrag wieder vollständig am Problem vorbei. Das Problem sind die hohen Kosten
für Energie und Gas. Diese werden verursacht von der katastrophalen Energie- und
Sanktionspolitik der Ampelkoalition. Die Lösung ist also ganz einfach: nicht
Umverteilung, sondern Umsicht. Die Sanktionen müssen sofort beendet werden.
({9})
Gleichzeitig können wir uns von Russland unabhängiger machen, wenn wir
in den Neubau modernster Kernkraftwerke investieren. Diese würden den Strom
unfassbar günstig machen, so günstig, dass man damit sogar heizen könnte, und
wäre für die Klimakleber auch noch CO2-neutral.
({10})
Werte Kollegen, wir benötigen keinen Energiesoli, wie ihn die Linken
fordern. Wir brauchen maximal einen Soli für linke Doppelmoral. Dann würde die
Staatskasse ordentlich gefüllt werden. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
({11})
Für eine Kurzintervention erhält jetzt das Wort Gesine Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Mir geht es darum, hier
Falschbehauptungen richtigzustellen. Richtig ist, dass wir zwei
Fraktionsvorsitzende haben; aber sie bekommen keine doppelten, sondern
anderthalbfache Diäten.
({0})
Das ist ein parlamentarischer Brauch. Und ich glaube, dass dies durch
diese verantwortungsvolle Tätigkeit auch gerechtfertigt ist. Aber der
entscheidende Punkt ist doch: Es wird alles voll versteuert.
({1})
Und alle Steuererhöhungsvorschläge, die wir machen und die auch zu
unseren Lasten gehen würden, machen wir aus voller Überzeugung, weil wir sagen:
Starke Schultern müssen mehr tragen. Wir brauchen Steuergerechtigkeit in diesem
Land.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Danke auch für die
Kurzintervention. Ich helfe Ihnen gerne beim Nachrechnen: 10 000 Euro
Grundentschädigung plus noch mal die Hälfte – das macht 15 000 Euro – plus die
steuerfreie Kostenpauschale sind im Monat rund 20 000 Euro Steuergeld. Sie
gönnen sich zwei Fraktionsvorsitzende, somit sind es 40 000 Euro Steuergeld.
({0})
Sie sollten sich vielleicht mal am Leistungsprinzip orientieren. Ihre
beiden Fraktionsvorsitzenden schaffen es ja auch laut den neuesten Umfragewerten
nicht, Sie über 5 Prozent zu bekommen. Wir machen das. Wir halten uns an das
Leistungsprinzip
({1})
und sind dabei sogar steuerlich sehr effektiv: Unsere
Fraktionsvorsitzenden haben uns wieder 15 Prozent in den Umfragen eingebracht.
Und wir erhöhen trotzdem nicht die Zulagen.
({2})
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als Nächstes erhält das Wort
Maximilian Mordhorst für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man
könnte ja auch mal ausrechnen, was die gesamte AfD-Fraktion den Steuerzahler so
kostet,
({0})
und beim nächsten Wahlkampf dafür sorgen, dass sie ein bisschen
kleiner wird.
({1})
Dann hätte man auch das ein oder andere Steuergeld gespart.
({2})
Ich komme zu dem, was Die Linke beantragt hat. Ich habe überlegt, ob
ich einfach die Rede von letzter Woche noch mal vortrage; die ist auf jeden Fall
passend zu Ihrem Antrag. Ich habe mich dagegen entschieden, weil Sie sich in
diesem Fall ja wirklich konkret auf den Sachverständigenrat beziehen und sagen,
der Sachverständigenrat wolle das jetzt – was übrigens eine Falschdarstellung
ist; er zieht es an bestimmten Stellen in Erwägung. Was Sie als Linkspartei auch
immer gerne machen, ist, dass Sie alles andere ausblenden, was der
Sachverständigenrat zu Recht fordert oder unterstützt. Lassen Sie mich das
einmal vortragen.
Der Sachverständigenrat fordert, dass nicht zu viel Geld ins System
gegeben wird, und freut sich, dass die Schuldenbremse im nächsten Jahr wieder
eingehalten wird. Ist das Politik der Linkspartei? Ist das Politik, die Sie
unterstützen wollen? Nein, es ist unsere Politik. Es ist Politik, die
nachfolgende Generationen vor Überschuldung schützt.
Der Sachverständigenrat fordert in Bezug auf den Spitzensteuersatz,
dieser solle unbedingt später einsetzen. Mittlerweile zahlen 3,8 Millionen
Bürger den Spitzensteuersatz. Beim 1,4-Fachen des Durchschnittslohns fängt der
Spitzensteuersatz an.
({3})
Wir haben mit dem Inflationsausgleichsgesetz dafür gesorgt, dass er
später einsetzt.
({4})
Insbesondere in diesen inflationären Zeiten ist das ein extrem
wichtiges Signal für die Mitte der Gesellschaft.
Der Sachverständigenrat begrüßt auch die Aktienrente. Der
Sachverständigenrat sagt, dass insbesondere durch linke Politik in den letzten
Jahrzehnten dafür gesorgt wurde, dass die Rente nicht zukunftsfähig ist, und
dass viele Menschen gerade meiner Generation sich große Sorgen machen, ob sie
von der staatlichen Rente überhaupt noch was haben. Deswegen ist es genau
richtig, dass wir jetzt in die Aktienrente einsteigen. Der Sachverständigenrat
fordert, da sogar noch weiter zu gehen.
({5})
Wir können also – kurz zusammengefasst – sagen: Sie zitieren, was
Ihnen passt, aber lassen die anderen, viel wichtigeren Dinge gerne aus. Für uns
ist klar: Gerade in diesen Zeiten, in denen insbesondere die arbeitende Mitte
der Gesellschaft sehr leidet und sich um die Energieversorgung und die
wirtschaftliche Zukunft große Sorgen machen muss, ist das klare Signal der
Ampelkoalition, einerseits keine Steuererhöhung vorzunehmen, und andererseits
haben wir in diesem Jahr sogar massive Steuerentlastungen auf den Weg
gebracht.
({6})
Das ist genau der richtige Weg.
({7})
Eine Forderung zum Soli, die in Bezug auf die Vorsorge gerade bei
kleinen und mittleren Einkommen sehr problematisch ist, höre ich immer wieder.
Der Solidaritätszuschlag wird immer noch auf Kapitalerträge gezahlt. Wir haben
jetzt den Sparerpauschbetrag erhöht – das ist ein kleiner Schritt –; aber wer
über diesem Sparerpauschbetrag liegt – das werden jetzt bald 1 000 Euro im Jahr
sein –, der wird weiterhin Solidaritätszuschlag zahlen. Arbeiten Sie doch mal
mit uns daran – dazu habe ich von der Linkspartei noch nie etwas gehört –, dass
Bezieher von kleinen Einkommen wieder die Möglichkeit haben, Vermögen
aufzubauen, dass diejenigen in der Mitte der Gesellschaft wieder die Chance
haben, vielleicht einmal ein Eigenheim zu erwerben und es dann auch zu
vererben!
({8})
Ich freue mich, wenn die Linkspartei mit uns daran arbeitet, dass
gerade Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen wieder Vermögen aufbauen
können. Das ist die viel größere soziale Verantwortung, die wir gemeinsam haben.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Linkspartei uns da in Zukunft stärker
unterstützt.
Insofern: Nicht mal neuer Wein in weiterhin alten Schläuchen. Wir
werden Ihren Antrag ablehnen. Der Koalitionsvertrag ist klar, die FDP-Fraktion
ist klar: Mit uns wird es keine Steuererhöhung in Deutschland geben.
({9})
Das ist gerade in diesen Zeiten genau das richtige Signal.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute den Antrag der Fraktion Die Linke „Energiesoli für Spitzenverdienende –
Vorschlag der Wirtschaftsweisen umsetzen“. Ich habe mich schon sehnlichst danach
verzehrt, lieber Herr Kollege Görke: Endlich mal wieder eine Debatte über höhere
Steuern! Das hatten wir schon lange nicht mehr. Letzte Woche ging es um
Vermögensabgabe und Lastenausgleich; Sie von Rot und Grün haben da fröhlich
mitgestimmt.
({0})
– Zumindest zugestimmt. – Und heute Morgen haben Sie von der Ampel –
lieber Herr Kollege Mordhorst, da Sie gerade gesagt haben, die FDP mache das
nicht – eine drastische Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit
Zustimmung der FDP beschlossen.
({1})
Sie müssen übrigens aufpassen, dass überhaupt noch was da ist, was man
umverteilen und wegnehmen kann.
({2})
Aber ich will fachlich auf den Antrag eingehen.
({3})
Zunächst mal ist es verfassungsrechtlich unzulässig, eine durch einen
besonderen, konkreten Mittelbedarf des Bundes begründete Ergänzungsabgabe zum
allgemeinen Zweck des sozialen Ausgleichs zu instrumentalisieren. Die
Ergänzungsabgabe darf in ihrer sozialen Verträglichkeit zwar fair ausgestaltet
sein, aber der Grund für die Einführung darf nicht ideologisch sein.
Sie haben das schlau gemacht
({4})
– ja, das muss ich jetzt mal sagen, Herr Kollege Görke –, weil Sie
Ihren Grundgedanken der Umverteilung nicht direkt in den Antrag geschrieben
haben, sondern den Antrag mit der Krise begründen und damit sozusagen auf den
Sachverständigenrat eingehen. Wenn man aber sieht, wie der Antrag ursprünglich
lautete, nämlich „Energiesoli – Dax-Manager und Minister zur Kasse“, dann sieht
man den wahren Hintergrund, den Umverteilungsgedanken der Linken. Das ist Ihr
politischer Fußabdruck; das ist okay. Aber dass SPD und Grüne grundsätzlich der
Meinung sind, dass man mehr wegnehmen muss, ist schwierig. Also, man sieht, wes
Geistes Kind das ist.
({5})
Ich will auf den Gedanken der Wirtschaftsweisen zurückkommen. – Es war
ja ein netter Versuch, davon abzulenken. – Wenn man eine Ergänzungsabgabe
einführen würde, dann müsste man besondere und kostenintensive Herausforderungen
abfedern, ohne neue Schulden aufzunehmen. Das ist der Hintergrund. Man muss aber
sehen, dass der Bund bereits 540 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen hat.
Diese Regierung hat in einem Jahr mehr Schulden aufgenommen als 16 Jahre Helmut
Kohl und 16 Jahre Angela Merkel zusammen, und das zulasten der nächsten
Generationen. Also, wenn man über die Einführung einer Ergänzungsabgabe
nachdenkt, dann darf es keine neuen Schulden geben. Das hat die Regierung anders
gemacht.
Ich will noch was sagen: Wenn Sie von den bestverdienenden 10 Prozent
reden, müssen Sie beachten, dass das bei 3 400 Euro netto anfängt. Wollen Sie
diese Leute als Millionäre und Milliardäre, als Manager hinstellen? Das ist die
ganz normale Familie mit zwei Einkommen. Das ist der Handwerker, das ist der
Mittelständler.
({6})
Wenn Sie an diese mittleren Einkommen, an diese Betriebe die Axt
anlegen, dann werden Sie Arbeitsplätze vernichten, und dann wird das bei den
Facharbeitern dazu führen, dass sie nicht mehr arbeiten wollen, sondern
vielleicht eher ins Bürgergeld gehen.
({7})
Sie nehmen den Menschen die Motivation, wenn Sie ihnen hier in die
Tasche greifen. Das haben Sie schon heute früh genug getan mit dem
Jahressteuergesetz 2022.
({8})
Und, lieber Kollege Mordhorst, wenn Sie das Einsetzen des
Spitzensteuersatzes verschieben wollen, dann tun Sie es doch einfach. Sie sind
ja jetzt in der Regierung. Wir würden da zustimmen.
({9})
Ein weiterer Gedanke zur Ergänzungsabgabe. In den einschlägigen
rechtswissenschaftlichen Gutachten und in der Literatur ist die Frage noch
strittig, ob die Teilabschaffung des Solis überhaupt verfassungsgemäß ist. Hier
läuft eine Klage der FDP gegen das – jetzt – FDP-Finanzministerium. Ich bin
gespannt auf die Prozessführung.
({10})
Aber es ist natürlich interessant, wie dieser Prozess ausgeht. Ich bin
persönlich auch der Meinung, dass eine Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags
nicht geht und dass der Solidaritätszuschlag gänzlich abgeschafft werden muss.
Aber warten wir das Verfahren ab. Es gibt hier unterschiedliche Urteile vom
Bundesverfassungsgericht und vom Bundesfinanzhof. Es gibt Argumente dafür, aber
auch viele Argumente dagegen, insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz nach
Artikel 3 Grundgesetz.
Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zum
nächsten ideologischen Antrag der Linken! Wir diskutieren nächste Woche gerne
wieder einen. Interessant ist eigentlich nur die Reaktion der Ampel. Wenn Sie
sagen, Sie setzen nicht an Steuern an, nachdem zwei Stunden vorher die Steuern
drastisch erhöht wurden, dann ist das ein spannendes Spiel.
({11})
Ich freue mich auf die nächsten Beratungen und danke herzlich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Nadine Heselhaus für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach
dieser wunderbaren Geschichte unseres Kollegen Herrn Brehm kommen wir zum Ende
der Debatte noch einmal zum Inhalt des Antrags. Es ist tatsächlich
bemerkenswert, dass es sich bei dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats,
auf das sich dieser Antrag bezieht, um ein einstimmiges
wirtschaftswissenschaftliches Plädoyer für eine solidarische Krisenbewältigung
handelt.
({0})
Der Ruf nach einer stärkeren Berücksichtigung der Verteilungswirkung
auf untere und mittlere Einkommen kommt also auch von jenen Sachverständigen,
die grundsätzlich arbeitgebernah argumentieren, und das ist doch wirklich
spannend.
({1})
Tatsache ist: Die hohen Energiepreise schmälern die Kaufkraft und
senken den Konsum der Privathaushalte. Die Verteilungseffekte durch die
Preissteigerungen sind deutlich. Haushalte mit niedrigem Einkommen sind am
stärksten belastet, weil sie weniger zur Verfügung haben und deshalb ihr Geld
häufig vollständig ausgeben müssen. Die Ampel hat hierauf reagiert und circa
200 Milliarden Euro für Entlastungen zur Verfügung gestellt. In den vergangenen
Wochen haben wir auch darüber diskutiert, wie zielgenau diese
Entlastungsmaßnahmen sind und überhaupt sein können. Die Wirtschaftsweisen
drängen darauf, sich nur auf untere und mittlere Einkommen zu konzentrieren;
denn das Ziel muss ihnen zufolge sein, möglichst nur diejenigen Haushalte zu
entlasten, die die hohen Energiepreise nicht verkraften können. Als SPD sehen
wir uns durch diese Aussagen stark in unserer Ausrichtung bestätigt.
({2})
Das Gutachten besagt auch, dass sich eine zielgenaue Unterstützung
niedriger Einkommen – und das ist jetzt wichtig – inflationsmindernd
auswirkt.
({3})
Das ist eine neue Erkenntnis für all diejenigen, die auch in Bezug auf
den Mindestlohn gerne von Lohn-Preis-Spiralen sprechen, während sie für
Steuersenkungen plädieren, die insbesondere Besserverdienenden zugutekommen.
({4})
Jetzt gibt es allerdings folgende Schwierigkeit: Unser derzeitiges
System lässt leider keine direkte Zuwendung an diese bestimmte Personengruppe
zu; das ist Ihnen allen bekannt. Deshalb haben auch die lautesten Kritiker unter
Ihnen hierzu noch keine Alternative aufzeigen können. Es gibt sie nämlich bisher
nicht. Genau daran arbeiten wir. Wir haben heute mit dem Jahressteuergesetz eine
Rechtsgrundlage geschaffen, um Direktzahlungen auf das Bankkonto zu ermöglichen,
weil wir wegwollen von zu viel Komplexität.
({5})
Und ja, wir wollen die Menschen entlasten, die das wirklich brauchen.
Wir wollen zukünftig einkommensabhängige Zahlungen ermöglichen, damit sie
zielgenau wirken. Das wollen wir unbürokratisch und kosteneffizient
ausgestalten.
Meine Damen und Herren, in der Energiekrise fallen hohe zusätzliche
Ausgaben an, die refinanziert werden müssen. Finanzieller Spielraum ist
notwendig, wenn man gestalten möchte. Wir wollen in eine soziale und ökologische
Zukunft investieren, mit Mut zur Veränderung. Zur Finanzierung der erhöhten
Ausgaben in der Krise schlägt der Sachverständigenrat eine befristete Erhöhung
des Spitzensteuersatzes oder eben die Einführung eines
Energie-Solidaritätszuschlags für Besserverdienende vor. Dies würde auch dazu
beitragen, die Zielgenauigkeit des Gesamtpakets zu erhöhen; denn Entlastungen im
Energiebereich für diejenigen, die es eigentlich gar nicht brauchen, würden so
wieder ausgeglichen. Gleichzeitig wäre dies ein Signal, dass die Energiekrise
solidarisch bewältigt werden muss.
Der Antrag der Linken greift mit dem Energiesoli jedoch lediglich
einen einzelnen Vorschlag aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates
heraus. Ich finde, im Gutachten stehen noch mehr wichtige Punkte, über die es
sich zu diskutieren lohnt. Die Bundesregierung wird sich im Rahmen des
Jahreswirtschaftsberichts zum Gutachten äußern. Ich freue mich auf die Debatte
hierzu.
Vielen Dank.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Liebe
Eltern! Liebe Erzieher/-innen! Kitas sind ein wahrer Job- und Zukunftsmotor auf
dem Arbeitsmarkt. Im Jahr 2021 waren mehr als 860 000 Menschen in Kitas und in
der Kindertagespflege tätig, mehr Menschen als in der deutschen
Automobilindustrie. Die Zahl der Erzieher/-innen hat sich in den letzten
15 Jahren verdoppelt. Allein der Teilarbeitsmarkt zur frühkindlichen Bildung ist
dreimal so stark gewachsen wie der gesamte deutsche Arbeitsmarkt. Und in
derselben Zeit stieg die Zahl der Kinder, die bis zu ihrer Einschulung in Kitas
betreut werden, um mehr als 30 Prozent auf 3,4 Millionen. Es gab also noch nie
so viele Beschäftigte und noch nie so viele Kitaplätze wie heute. Wir haben
wirklich viel erreicht.
({0})
Jetzt investieren wir in die Qualität; denn jenseits ihrer Familien
lernen kleine Kinder an keinem anderen Ort so viel wie am Bildungsort Kita. Am
Bildungsort Kita wird das Fundament gelegt für frühkindliche Bildung, für die
Sprachentwicklung, für die gesunde Entwicklung insgesamt, für
Chancengerechtigkeit für jedes Kind also.
({1})
In Kitas entscheidet sich im Übrigen auch, ob sich Eltern,
Alleinerziehende, vor allem Frauen darauf verlassen können, dass sie Job und
Familie vereinbaren können. Wie wichtig das ist, bestätigen uns immer mehr
Unternehmen. Darum investieren wir in die Qualität für die Bildungsorte Kita und
Kindertagespflege.
Uns allen muss das viel wert sein, Bund, Ländern und Kommunen.
({2})
Darum stellt der Bund den Ländern in den nächsten zwei Jahren rund
4 Milliarden Euro zur Verfügung, damit sie überwiegend in sieben zentrale
Bereiche der frühkindlichen Bildung investieren. Und darum bereiten wir schon
jetzt den nächsten Schritt vor: bundesweite Standards durch das
Qualitätsentwicklungsgesetz. Denn genau da wollen wir hin: dass Kitakinder
bundesweit die gleiche hohe Qualität erleben, egal ob sie eine Kita in Cuxhaven,
am Tegernsee, in Anklam oder im Erzgebirge besuchen.
({3})
Das gehört dazu, wenn wir über gleichwertige Lebensverhältnisse in
Deutschland sprechen, meine Damen und Herren.
Fest steht ebenso: Gute frühkindliche Bildung braucht qualifizierte
Fachkräfte.
({4})
Darum verankern wir im KiTa-Qualitätsgesetz die Gewinnung von
Fachkräften und entwickeln gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und weiteren
Akteuren eine Gesamtstrategie für die Fachkräftesicherung in den
Erziehungsberufen.
({5})
Denn wir brauchen den Schulterschluss mit allen beteiligten Akteuren.
Wir müssen alle Möglichkeiten in den Blick nehmen, gutes Personal zu bekommen:
durch Aus- und Weiterbildung, durch gute Arbeitsbedingungen, durch Integration
von Zugewanderten. Ich zähle auf Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({6})
Als Nächstes folgt für die CDU/CSU-Fraktion Dorothee Bär.
({0})
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Gesetz, das heute hier als Entwurf vorliegt, soll die
Kindertagesbetreuung verbessert werden, sagen Sie.
({0})
Ich frage: Wirklich? Der Evaluationsbericht zum sogenannten
Gute-KiTa-Gesetz I mag Reformbedarf bescheinigt haben. Dass dieses Ziel aber mit
dem KiTa-Qualitätsgesetz, über das wir heute beraten, tatsächlich erreicht wird,
bezweifle ich nicht nur, sondern ich bin fest davon überzeugt, dass es so nicht
funktionieren wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil es der Ampel nämlich
nicht um das geht, was sie in den Titel des Gesetzentwurfs geschrieben hat, um
Qualität, weil dieser Gesetzentwurf eine Mogelpackung, Etikettenschwindel ist.
Warum das so ist, werde ich Ihnen erläutern.
Sie legen einen Gesetzentwurf vor, in dem es vor allem um eines geht,
nämlich um Beitragsentlastung, schreiben aber „Qualität“ drauf. Das ist wirklich
fatal, liebe Kolleginnen und Kollegen,
({1})
das ist unehrlich. Das Gesetz ist ungerecht, es sorgt nicht für mehr
Qualität, und es sorgt auch nicht für mehr Gleichwertigkeit von
Lebensverhältnissen, wie es unsere Verfassung vorgibt. Ich möchte mich schon
auch mal an die Familien und die Erzieherinnen und Erzieher da draußen wenden.
Ich glaube nicht, dass Sie es hinbekommen, allen glaubhaft zu machen, dass die
Bundesmittel, die Sie hier für die Finanzierung einer angeblichen Qualität in
die Hand nehmen, auch wirklich dazu dienen. Die Mittel werden am Ende nur zu
Beitragsentlastungen genutzt.
({2})
In manchen Bundesländern führt das bis zur völligen Beitragsfreiheit
für Eltern, und das auch noch unabhängig vom Einkommen. Das kann doch nicht
wirklich Ihr Ernst sein, liebe Ampel.
({3})
Laut Ihrem Gesetzentwurf ist es nämlich so, dass Bundesländer, in
denen bislang noch keine Mittel aus dem Gute-KiTa-Gesetz für die Senkung der
Elternbeiträge eingesetzt wurden, beispielsweise Baden-Württemberg, künftig von
dieser Option ausgeschlossen werden, auch dann, wenn sie schon ein
Top-Qualitätsniveau haben. Und wo gibt es schon jetzt ein Top-Qualitätsniveau?
Beispielsweise in Bayern; ich weiß, dass Sie das an dieser Stelle wieder
triggern wird. Im Gegensatz dazu dürfen aber Länder wie zum Beispiel
Mecklenburg-Vorpommern, das den schlechtesten Personalschlüssel aller
Bundesländer aufweist – mal überlegen, wer da regiert –,
({4})
weiterhin die Bundesmittel für Beitragsentlastungen ausgeben. Das ist
nicht richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich sage nur: Finde den
Fehler!
({5})
Dann schauen Sie sich einmal den Ländermonitor Frühkindliche
Bildungssysteme an. Dort können Sie es nachlesen – das gilt auch für die SPD und
die Grünen –: Bayern ist wieder ganz vorne. Wen wundert es? Schlusslichter sind
natürlich Bremen und Berlin. Das ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, wer in
diesen Ländern regiert. Spätestens wenn wir dann noch sehen, wie wertvolle
Qualitätsmaßnahmen wie die Sprach-Kitas, das Bundesprogramm „Fachkräfteoffensive
Erzieherinnen und Erzieher“ oder auch unser Bundesprogramm
„ProKindertagespflege“ von Ihnen ohne Not plattgemacht werden, kauft dieser
gesamten Regierung niemand mehr ab, dass Ihnen frühkindliche Bildung am Herzen
liegt.
({6})
Frühkindliche Bildung – das können Sie ruhig zugeben – ist Ihnen
lästig. Sie nehmen doch offen in Kauf, dass sich die Qualität verschlechtert,
und Ihnen ist völlig egal, ob diese Bundesmittel in die Qualität oder in die
Beiträge gehen. Aber sich dann als Heilsbringer für Qualität hierhinzustellen,
das ist wirklich infam.
({7})
Ich darf einen großen Mann dieses Hauses zitieren. Matthias
Seestern-Pauly
({8})
hat als Ihr Koalitionspartner schon in der zweiten und dritten Lesung
das Gute-KiTa-Gesetz I wegen der Regelungen zur Beitragsentlastung als
„Verpasste-Chancen-Gesetz“ bezeichnet. Ich finde, wo Herr Seestern-Pauly recht
hat, hat er einfach recht.
({9})
Ich werde das noch erweitern, Herr Seestern-Pauly. Das, was Sie hier
vorlegen, ist nicht nur ein „Verpasste-Chancen-Gesetz“, sondern ein
„Rolle-rückwärts-Gesetz“. Wir als Union lehnen eine Finanzierung von
Beitragsentlastungen bis hin zur völligen Beitragsfreiheit aus Bundesmitteln,
die für ein KiTa-Qualitätsgesetz gedacht sind, ab, noch dazu, wenn das
unabhängig vom Einkommen der Eltern erfolgen soll.
Für uns kommt Qualität vor Beitragsentlastung. Deswegen kann ich Sie
nur auffordern, unserem Antrag zuzustimmen. Wenn Ihnen die Kinder wirklich am
Herzen liegen und das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, wäre es sehr traurig,
wenn Sie hier nicht mitmachten.
Ganz herzlichen Dank.
({10})
Es folgt für die SPD-Fraktion Sönke Rix.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Bär, ich weiß nicht, ob Sie den Gesetzentwurf tatsächlich gelesen haben,
({0})
und ich weiß auch nicht, ob Sie ihn wirklich mit der bisherigen
Gesetzeslage verglichen haben.
({1})
Denn – das sage ich als Sozialdemokrat, der Beitragsfreiheit nach wie
vor für ein richtiges Instrument hält – wir haben genau das Gegenteil von dem
getan, was Sie gerade beschrieben haben.
({2})
Im Gegensatz zu dem Gesetz, das damals von der CDU/CSU und der SPD auf
den Weg gebracht worden ist, schränken wir die Möglichkeit der Beitragsfreiheit
mit diesem Gesetzentwurf ein. Wir fahren es zurück. Wir gehen mehr in die
Qualität und weniger in die Beitragsentlastung. Das ist der Unterschied zwischen
dem Gesetz, das wir beide gemeinsam beschlossen haben, und dem Ampelgesetz. Das
müssen Sie einfach anerkennen. Das sind Fakten, Frau Bär.
({3})
Sie haben von verpassten Chancen gesprochen; auch ich kann mich daran
erinnern, dass Herr Seestern-Pauly das gesagt hat. Ich finde, Sie haben Ihre
Chance vertan, etwas zum aktuellen Gesetzentwurf zu sagen.
({4})
Das wundert mich; denn als ich damals die Verhandlungen mit der Union
geführt habe, war es die Union, die uns für die Beitragsfreiheit kritisiert hat.
Ich hätte mich gefreut, wenn Sie jetzt zumindest anerkannt hätten, dass die
Ampelkoalition den Weg verlassen hat, der damals eingeschlagen worden ist.
({5})
Das hätten Sie ruhig tun können; denn wir setzen jetzt weniger auf
Beitragsstabilität und mehr auf Qualität.
Sie haben nach der Verbesserung in der aktuellen Situation gefragt.
Wir haben als Bund in der Vergangenheit über 9 Milliarden Euro zur Verbesserung
der Qualität in Kindertagesstätten in die Hand genommen, und wir werden
zukünftig für die nächsten Jahren noch einmal 2 Milliarden und 1,9 Milliarden
Euro
({6})
– 1,89 Milliarden – in die Hand nehmen. Wir werden also zusätzliches
Geld für die Aufgabe der Länder bereitstellen. Das führt zu einer Verbesserung
der Situation vor Ort.
({7})
Wir gehen den Weg konsequent weiter, den die Jugendministerkonferenz
2014 auf Initiative von Manuela Schwesig im Dialog mit Wirtschaft und
Fachverbänden gegangen ist.
({8})
Aufgrund der Tatsache, dass wir uns als Bund dafür zuständig fühlen,
gleiche Lebensverhältnisse bundesweit auszubauen, nehmen wir dieses Geld in die
Hand. Ich will noch einmal sagen: Gerade angesichts der aktuellen Zeiten muss
man anerkennen, dass es leider keine Selbstverständlichkeit ist – das zeigt sich
auch in anderen Debatten –, dass wir diese Mittel für Kindertagesstätten zur
Verfügung stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Mit diesem wirklich großen Gesetz setzen wir das fort, was wir in der
Vergangenheit begonnen haben. In der nächsten Zeit geht es weiter mit dem
Start-Chancenprogramm, mit der weiteren Reform des BAföG und mit der
Kindergrundsicherung. Wir werden für bessere Chancen für Kinder sorgen. Das
macht die Ampel, das macht die Fortschrittskoalition.
Danke schön.
({10})
Nächste Rednerin ist für die AfD-Fraktion Nicole Höchst.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte beleuchten, was wieder keiner sieht. Sie
beweisen mit diesem wohlklingenden KiTa-Qualitätsgesetz eine Realitätsferne und
einen mangelnden Weitblick, die zusammen größer nicht sein könnten. Geld an sich
ist keine Verbesserung der Situation, Herr Rix.
In der letzten Legislatur war das Gute-KiTa-Gesetz von Frau Giffey aus
dem damals SPD-geführten Ministerium, das selbst nach Einschätzung der GEW
bereits an der Realität gescheitert ist, keine Verbesserung. Trotz häufigen
Hissens des Regenbogens wollte das Gesetz nicht die angepriesenen Effekte
erzielen. Im Gegenteil: Die Attraktivität pädagogischer Arbeit in Kitas sank ins
Bodenlose.
({0})
Die Überforderung der Beschäftigten durch unbesetzte Stellen,
Bürokratiemonster und organisatorische Klimmzüge stieg. Geeignetes Personal?
Fehlanzeige! Vertretungen von Ausfallzeiten? Unmöglich! Es folgten Reduzierungen
der Angebote und Einschränkungen bei den Öffnungszeiten. Gute Kita geht anders,
meine Damen und Herren.
({1})
Das Ziel des neuen wohlklingenden Gesetzes, nämlich qualitativ
hochwertige Betreuung zu gewährleisten für Familien, die dieses Angebot nutzen
wollen oder nutzen müssen, ist ein wichtiger Schritt. Allerdings boykottieren
Sie dieses Ziel selbst, weil Sie sich nicht mit den Konsequenzen Ihrer Politik
der letzten Jahrzehnte auseinandersetzen wollen.
({2})
Sie wollen nicht hören, wenn Ihnen Fachleute die Folgen Ihrer Politik
sichtbar machen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter
Meidinger, bespricht den IQB-„Bildungsabwärtstrend“ in Deutschland
pessimistisch. Er spricht schonungslos an, was Sie, meine Damen und Herren, hier
im Parlament von meiner Fraktion seit Jahren gesagt bekommen, aber in Ihrer
ideologischen Verblendung nicht hören wollen.
({3})
Die Lernleistungen von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund
klaffen sichtbar auseinander. Ihre Resettlement-and-Replacement-Politik sowie
andauernde Massenzuwanderung nach Deutschland vergrößern dieses Problem
stetig.
({4})
Pädagogischer Unsinn, gescheiterte Integrations- und Inklusionspolitik
plus ungebremste Zuwanderung besiegeln den Absturz Deutschlands als
Bildungsnation bereits in der Kita. Resettlement bedeutet Umsiedlung,
Replacement bedeutet Ersetzung oder Ersatzmigration – eine Politik, die jede
Fraktion hier im Bundestag mitträgt, außer der AfD-Fraktion, meine Damen und
Herren.
({5})
Bereits heute werden vielerorts fast hälftig und eben schon
überhälftig nicht deutschmuttersprachliche Kinder in Kitas betreut. Diese
babylonischen Zustände kommen unweigerlich im deutschen Schulsystem an. Dass Sie
von der Ampelregierung die gut etablierten Sprach-Kitas nicht fortführen wollen,
passt zur mangelnden Bereitschaft, Frau Ministerin Stark-Watzinger, das
Bekenntnis zu Deutsch als Unterrichtssprache unseres Landes abzugeben. Dabei ist
Deutsch in Deutschland der Schlüssel zur Integration. Diese Weigerung ist ein
deutliches Signal und auch entlarvend für die Weichenstellung dieser und
vergangener Bundesregierungen. Die Hauptleidtragenden sind alle Kinder.
Wie sehen die Ampellösungen aus? Sie kleben zukünftig das Etikett
„Deutsch“ auf alles Fremde und erreichen damit, dass zukünftig die Zuwanderung
in Bildungsvergleichstests, in Bildungsberichten und Bildungstrends nicht mehr
sichtbar ist. Damit zementieren Sie Ihr buntes Weltbild und gleichzeitig eine
Art Integrationsanarchie der Kultur der jeweils vor Ort stärksten
Sprechergruppe.
({6})
Gewährleisten Sie, dass deutschmuttersprachliche Kinder zukünftig in
Deutschland die Mehrheit und nicht die Minderheit sind. Ohne diesen wichtigen
Schritt wird der deutsche Turm zu Babel fallen, egal wie wohlklingend Ihre
Kitagesetze sein mögen.
({7})
Zum Schluss. Wenn Sie alle miteinander so weitermachen, folgt die
deutsche Bildungsnation dem Trend der deutschen Fußballnation. Wir fliegen raus
aus dem weltweiten Wettbewerb.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt folgt der bereits angesprochene Matthias Seestern-Pauly für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, nach bestimmten Reden muss man ein
bisschen was einsortieren. Also: Wir haben eine Finanzplanung der alten
unionsgeführten Bundesregierung übernommen, in der weder für die Fortsetzung des
Gute-KiTa-Gesetzes noch für die Fachkräfteoffensive oder für die Sprach-Kitas
Gelder eingeplant waren.
({0})
Hinzu kommt, dass das bisherige Gute-KiTa-Gesetz es den Ländern
ermöglicht hat, die Bundesgelder ausschließlich in pauschale
Beitragsabschaffungen zu stecken, anstatt in wirkliche Qualitätsmaßnahmen zu
investieren. Man muss sagen: Das wurde leider viel zu häufig genutzt.
({1})
Man kann also festhalten: Mit dem alten Kitagesetz hat es die letzte
Regierung versäumt, den Fokus auf wirkliche Qualitätsverbesserungen zu legen und
diese obendrein auch noch finanziell abzusichern. Das war die Ausgangssituation,
vor der wir standen.
Deshalb haben wir uns als FDP und als Ampel fest vorgenommen, die
Qualität der frühkindlichen Bildung in dieser Wahlperiode verbindlich zu
stärken. Genau das tun wir mit dem KiTa-Qualitätsgesetz, indem wir wesentliche
Verbesserungen vornehmen und die Länder in den nächsten zwei Jahren mit rund
4 Milliarden Euro unterstützen, und das trotz der aktuell sehr schwierigen
finanziellen Rahmenbedingungen.
Was bedeutet das konkret? Das bedeutet – ich möchte das noch einmal
ausführen, weil Vorrednerinnen den Gesetzentwurf augenscheinlich nicht gelesen
haben –, dass zukünftig keine neuen Maßnahmen für pauschale Beitragsabschaffung
auf Kosten der Qualität mehr finanziert werden. Es bedeutet, dass die Länder nun
überwiegend, das heißt mehr als 50 Prozent der Mittel, in die vorrangigen
Handlungsfelder investieren müssen. Das wiederum eröffnet den Ländern die
Möglichkeit, mehr für Fachkräfte, die sprachliche Bildung, die Kindertagespflege
oder eine starke Kitaleitung zu tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Chance sollten die Länder
dringend nutzen, vor allem mit Blick auf die aktuelle Fachkräftesituation. Der
Fachkräftemangel, über den wir schon lange reden, kommt an. Es ist keine
theoretische Debatte mehr, sondern er wird vor Ort spürbar. Immer mehr Familien
stehen vor dem Problem der größer werdenden Betreuungslücke, wenn Kitas in den
Notbetrieb gehen müssen, Familien keinen Kitaplatz mehr bekommen oder einige
Kitas sogar zeitweise schließen müssen. Deshalb müssen Bund und Länder den
Fachkräftemangel als absolute Priorität behandeln, was wir als Bund auch
tun.
({2})
Denn der Fachkräftemangel führt langfristig dazu, dass die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sich drastisch verschlechtert und die
Chancengerechtigkeit für unsere Kinder sinkt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zusammenfassend kann ich sagen,
dass wir heute einen ersten großen Schritt hin zu deutlich mehr Qualität in der
frühkindlichen Bildung gehen. Es ist ein gutes Gesetz, dem wir als Freie
Demokraten sehr gerne zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke Heidi
Reichinnek.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen Sie sich mal vor, Sie betreuen Kinder in einer Kita, und irgendwie
werden es in Ihrer Gruppe immer mehr Kinder, doch Sie haben immer weniger
Kolleginnen und Kollegen, massig Überstunden und trotzdem eingeschränkte
Betreuungszeiten oder sogar Schließungen, dadurch gestresste, schlecht gelaunte
Eltern und gestresste, schlecht gelaunte Kinder. Das ist Alltag in Kitas im
ganzen Land.
Und was tut die Bundesregierung jetzt? Na, die sagt: Augen zu und
durch! – In dem vorliegenden Entwurf für ein KiTa-Qualitätsgesetz fehlt eine
langfristige Strategie und ganz einfach Geld. Das ist kein Qualitätsgesetz, das
ist ein Kürzungsgesetz. Sie streichen nicht nur das Geld für die Sprach-Kitas,
Sie ignorieren auch die massive Inflation von über 10 Prozent und fallen damit
hinter das Niveau des Gute-KiTa-Gesetzes zurück.
Als Linke haben wir deshalb einen Entschließungsantrag vorgelegt,
({0})
der endlich für eine Trendwende im vernachlässigten und
kaputtgesparten Kitabereich sorgen würde. Wir sagen: Nicht 4 Milliarden Euro für
zwei Jahre, sondern 6 Milliarden Euro pro Jahr müssen zur Verfügung gestellt
werden,
({1})
um Qualität endlich Realität werden zu lassen. Dazu brauchen wir
2 Milliarden Euro on top, um den Investitionsstau der Kitas wenigstens
anzugehen. Und nein, das ist nicht utopisch. Das Geld ist da.
({2})
Dieses Parlament – Sie – haben gerade erst 10 Milliarden Euro für eine
Aktienrente rausgeworfen, davor ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen
zusätzlich für Aufrüstung, obwohl die Verteidigungsministerin dafür eh schon
über 50 Milliarden Euro im Jahr kriegt. „Wo ist das Sondervermögen für Kitas?“,
frage ich Sie.
({3})
Warum finden Sie Mittel und Wege, um die Interessen der Superreichen
durchzusetzen, aber nicht die der Kinder? Warum lassen wir Milliarden Euro an
Krisengewinnen der Großkonzerne unangetastet, aber für Kinder ist nichts da?
({4})
Nun ist es so, dass uns Geld allein nicht aus der Kitakrise rettet. Es
muss auch sinnvoll investiert werden – also nicht so wie bei der Bundeswehr. Die
Bundesregierung hat aber nach wie vor keinerlei Konzept gegen den
Fachkräftemangel. Der hat Gründe: Die Fachkräfte werden aktuell nicht nur
bescheiden bezahlt,
({5})
die gehen auch auf dem Zahnfleisch, weil sie mit immer mehr Aufgaben
überhäuft werden. Erzieher/-innen hängen ihren Job an den Nagel, weil sie nicht
mehr können.
({6})
– Herr Seestern-Pauly, stellen Sie eine Zwischenfrage, wenn Sie Fragen
haben.
({7})
Das muss man erst mal packen, das Nervenkostüm von Menschen, die sich
den ganzen Tag mit Kleinkindern beschäftigen, so zu überlasten.
Soll das jetzt der Versuch sein, eine Zwischenfrage zu stellen, Herr
Seestern-Pauly?
({0})
Sie müssen sich schon dafür melden. – Okay, es wird wohl zugelassen.
Bitte schön.
Sehr geehrte Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. – Ich finde es sehr beeindruckend, dass seitens der Linken hier im
Deutschen Bundestag immer darauf verwiesen wird, dass es von allem mehr – und
viel schneller – geben soll. Es gibt bei der frühkindlichen Bildung auch eine
gewisse Zuständigkeit der Länder, und da gibt es ein Bundesland, nämlich
Thüringen, wo Sie den Ministerpräsidenten stellen, den zuständigen
Kultusminister und die Sozialministerin,
({0})
das heißt wirklich alle, die im Bereich der frühkindlichen Bildung
Einfluss nehmen könnten. Da werden Tagesmütter mit 2,53 Euro pro Kind pro Stunde
abgespeist. Das heißt, bei der maximalen Anzahl von fünf Kindern sind sie bei
12,65 Euro – also knapp über dem Mindestlohn –, bei vier Kindern sogar
darunter.
In diesem Zusammenhang würde mich mal interessieren: Sprechen Sie
eigentlich mit Ihren Kollegen vor Ort, oder sind das alles Sonntagsreden, die
Sie hier ausschließlich im Bundestag halten?
({1})
Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Ich freue mich sehr, dass Bodo
Ramelow Ministerpräsident in Thüringen ist. Das wurde ja nicht durch Sie
ermöglicht.
({0})
Sie hatten da andere Prioritäten und andere Unterstützung. Ja, wir
sprechen miteinander. Morgen wird es da ein Gespräch zwischen unserem
Fraktionsvorsitzenden hier im Bundestag und unseren Ländern geben. Da werden wir
auch dieses Thema ansprechen, nämlich das KiTa-Qualitätsgesetz.
({1})
Zu genau solchen Fragen und genau zu diesem Thema sind wir auch in
Kontakt.
Sie haben total recht: Da ist viel zu tun. Aber das ist nicht nur in
Thüringen so, sondern in vielen Ländern. Ich glaube, wir sind uns doch sogar
einig, dass wir wegmüssen vom Kooperationsverbot und hin zu einem
Kooperationsgebot; das können wir zumindest in den Diskussionen immer wieder
feststellen. Ich denke, da sollten wir an einem Strang ziehen. Der Bund ist
dafür verantwortlich – das wurde vorhin auch von der SPD gesagt –, für gleiche
Lebensverhältnisse zu sorgen. Also schieben Sie das nicht immer auf die Länder
ab,
({2})
sondern machen Sie das, was hier möglich ist. Das wäre, unserem
Entschließungsantrag zuzustimmen.
({3})
Deswegen: Was müssen wir gegen den Fachkräftemangel machen? Natürlich
Ausbildungsplätze schaffen, Leute zurückholen, die entnervt aufgegeben haben,
und Quereinsteiger/-innen fortbilden. Natürlich geht das nicht von jetzt auf
gleich; aber wir müssen doch wenigstens endlich mal anfangen. Deswegen brauchen
wir jetzt einen Beteiligungsprozess, bei dem Sie endlich mal auf Leute hören,
die wissen, wovon sie reden, auf meine Kolleginnen und Kollegen nämlich, die den
Job machen und die das umsetzen müssen, was Sie hier beschließen, damit das
nächste KiTa-Gesetz nicht wieder so ein Ist-ja-besser-als-nichts-Gesetz
wird.
Zusammengefasst: Unter der GroKo gab es für die Kitas kaum Geld und
keinen Plan. Mit der Ampel gibt es kaum Geld, keinen Plan und totales Chaos in
der Umsetzung. Wenn Sie als Fortschrittskoalition zur Abwechslung mal
fortschrittliche Politik machen wollen, dann stimmen Sie unserem
Entschließungsantrag zu!
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist Nina Stahr für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste! Vor Kurzem habe ich mich mit einer Grundschullehrerin
unterhalten, die eine erste Klasse unterrichtet. Sie erzählte: Nicht erst seit
Corona, aber seitdem verstärkt kommen viele Kinder in die erste Klasse, die kaum
eine Schere halten können, die nicht zählen können, die selten in einem Buch
geblättert haben. – Sie tut, was sie kann. Sie möchte jedem Kind die Chance
geben, all seine Potenziale zu nutzen, und doch: Vieles kann man in der Schule
nicht mehr aufholen. Wenn wir Chancengerechtigkeit wollen, dann müssen wir viel
früher ansetzen. Deshalb, meine Damen und Herren, ist jetzt die Zeit, um in
Kitaqualität zu investieren. Das machen wir mit dem KiTa-Qualitätsgesetz.
({0})
Deshalb überweisen wir in den nächsten beiden Jahren knapp
4 Milliarden Euro an die Länder, legen dabei aber fest: In Zukunft müssen alle
Länder den überwiegenden Teil der Mittel in Qualität investieren.
({1})
Diese Priorität auf Qualität ist die entscheidende Weiterentwicklung
im Vergleich zum Gute-KiTa-Gesetz.
({2})
Ebenso wichtig ist: Die Länder können die Mittel für die
Sprachförderung nutzen, die eine so wichtige Säule für die Entwicklung unserer
Kinder ist.
({3})
Wir haben den Gesetzentwurf in den letzten Wochen intensiv debattiert
und zwei Änderungen vorgenommen. Zum einen werden wir als Bund die Sprach-Kitas
letztmalig für ein halbes Jahr finanzieren. So schaffen wir die Voraussetzungen,
dass die Länder die Sprach-Kitas weiterführen können. Denn es liegt in ihrer
Verantwortung, und ich kann es nur noch einmal wiederholen: Bitte sprechen Sie
alle mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, dass sie diese Chance
auch nutzen.
({4})
Zum anderen streichen wir die verpflichtende Staffelung der
Elternbeiträge. Ich gebe ehrlich zu: Als Fachpolitikerin fällt mir dieser
Schritt nicht leicht; denn ich bin sicher, die Einkommensstaffelung ist
eigentlich das zielgenaue Instrument, um Familien mit geringem Einkommen zu
entlasten. Ich habe in den letzten Wochen genau das auch von vielen Kolleginnen
und Kollegen aus den Ländern gehört. Jedoch halten sie eine bundesgesetzlich
einheitliche Regelung nicht für zielführend. Klar ist: Ohne Kompromisse kommen
wir nicht weiter. Deshalb gehen wir hier auf die Länder zu.
Frau Bär, vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich heute bis hierhin
nicht einmal das Wort „Bayern“ erwähnt habe.
({5})
Denn ich glaube ernsthaft, es hilft nicht, wenn wir damit
weitermachen, die Schuld immer zwischen Bund und Ländern hin- und
herzuschieben.
({6})
Beide Seiten müssen hier ihren Beitrag leisten zum Wohl der Kinder in
diesem Land. Mit den vorgenommenen Anpassungen sind wir einen großen Schritt auf
die Länder zugegangen. Nun liegt der Ball bei den Ländern. Sie können und sie
sollten am 16. Dezember dem vorliegenden Gesetzentwurf im Bundesrat
zustimmen.
Ich danke der Bundesfamilienministerin für diesen sehr guten
Gesetzentwurf, mit dem wir die Weichen für mehr Chancengerechtigkeit in der
frühkindlichen Bildung stellen. Das ist der erste Schritt. Im nächsten werden
wir zusammen mit den Ländern das KiTa-Qualitätsgesetz noch weiterentwickeln hin
zu einem KiTa-Gesetz mit bundesweiten Qualitätsstandards. Denn jetzt ist die
Zeit, um in die Kitaqualität zu investieren.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist Anne Janssen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes
Jahr im Spätsommer freuen sich bundesweit Hunderttausende Kindergartenkinder auf
ihren ersten Schultag. Als Grundschullehrerin hatte ich die Ehre, viele kleine
ABC-Schützen in der ersten Klasse zu begrüßen. Neben der Freude, dem Stolz und
der Aufregung war oft auch ein bisschen Angst zu spüren – Angst vor den fremden
Kindern, vor fremden Räumen und auch vor den fremden Erwachsenen, die auf einmal
da waren.
Der Schulstart ist ein Meilenstein im Leben der Kinder und auf allen
Seiten mit großen Erwartungen verbunden. Darum ist es nicht nur für die
schulische, sondern auch für die ganz persönliche Entwicklung extrem wichtig,
hier besonders gut vorbereitet zu sein.
Bedauerlicherweise steigt aber in den letzten Jahren neben der Zahl
der Zurückstellungen von der Einschulung auch die Zahl der
Entwicklungsdefizite – wir hörten das gerade. Hinzu kommen Förderrückstände
durch Corona und immer mehr Kinder mit anderen Muttersprachen. Aus ganz
persönlicher Erfahrung als Grundschullehrerin kann ich Ihnen sagen:
Chancengleichheit sieht wirklich anders aus. Meine Damen und Herren, ich spreche
für eine ganze Berufsgruppe, wenn ich sage: Wir Lehrerinnen und Lehrer können
das in der Grundschule nicht mehr aufholen; es ist zu spät.
Aus diesem Grund bildet die frühkindliche Bildung ein wichtiges
Fundament. Auch ich war einige Stunden in der Woche zur individuellen
Sprachbildung der Kleinsten in den Kindertagestätten unterwegs. Der Förderbedarf
ist enorm, und er wächst weiter. Darum war Ihr Vorhaben, in den nächsten zwei
Jahren 4 Milliarden Euro in die Qualität der frühkindlichen Bildung zu
investieren, Musik in meinen Ohren, jedenfalls so lange, bis ich Ihren
Gesetzentwurf gelesen habe. Sie wollen Kindertagespflege stärken, lassen dann
aber das Programm „ProKindertagespflege“ einfach auslaufen.
({0})
Sie wollen die Qualität auf Basis der Evaluationsergebnisse des
Gute-KiTa-Gesetzes weiterentwickeln, schließen aber die Beitragsfreiheit nicht
aus. Sie wollen gleichwertige Lebensbedingungen für das Aufwachsen von Kindern
im Bundesgebiet herstellen, fördern aber zugleich schwarz auf weiß die
bestehenden Unterschiede. Letztlich – das ist der Punkt, um den es immer wieder
geht – stufen Sie den Schwerpunkt der sprachlichen Bildung als vorrangig ein,
lassen dann aber 6 600 Einrichtungen mit Sprachförderung im Regen stehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es zu viel erwartet, dass mehr als
50 Prozent der Mittel eines Qualitätsgesetzes auch für Qualitätsförderung
ausgegeben werden, vielleicht ganze 100 Prozent? Offensichtlich. Gut gemeint ist
eben nicht immer gut gemacht.
Bedauerlicherweise sind die aufgezeigten Widersprüche in Ihrem Wollen
und in Ihrem Handeln zu groß für unsere Zustimmung. In unserem
Entschließungsantrag stellen wir ausdrücklich dar, unter welchen Bedingungen wir
Ihrem Vorhaben gern zugestimmt hätten. Doch leider waren Sie wenig offen für
diese wertvollen Hinweise, weder für die von unserer Seite noch für die von der
Seite der Sachverständigen.
Es bleibt zu hoffen, dass wir mit Ihrem politischen Hin und Her zum
Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ nicht bereits zu viel von unserer wertvollsten
Ressource, nämlich den Fachkräften, verloren haben und dass das Engagement
unserer Erzieherinnen und Erzieher in den Einrichtungen vor Ort Ihren Einsatz
hier um ein Vielfaches übertrifft.
Vielen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion folgt Erik von Malottki.
({0})
Frau Präsidentin Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen
und Bürger! „In der Qualität der Kindertagesbetreuung spiegelt sich die
Verantwortung unserer Gesellschaft für unsere Zukunft wider. Diese Verantwortung
wird sichtbar in qualitativen Anforderungen und finanziellem Engagement.“ Das
ist ein Auszug aus dem von meinem Kollegen Sönke Rix angesprochenen Kommuniqué
zwischen Bund und Ländern vom 6. November 2014. In dieser wichtigen Übereinkunft
waren sich Bund und Länder einig, dass sie zusammen in die frühkindliche Bildung
investieren wollen.
Seit diesem Kommuniqué ist viel auf den Weg gebracht worden. Wir haben
2016 das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ geschaffen, und wir haben mit dem
Gute-KiTa-Gesetz und der Unterstützung des Bundes den Einstieg in die
Grundfinanzierung der frühkindlichen Bildung begonnen. Wir haben mit
500 Millionen Euro im Jahr 2019 angefangen und 2021 das Niveau von 2 Milliarden
Euro erreicht. Mit unserem heutigen Gesetzentwurf gehen wir einen weiteren
Zwischenschritt in der Umsetzung dieses Kommuniqués. Wir stellen für die
nächsten beiden Jahre jeweils circa 2 Milliarden Euro zur Verfügung und
stabilisieren damit dieses Niveau. Und wir sorgen dafür – das ist in Ihrer Rede
nicht ganz deutlich geworden, Frau Bär –, dass ein Großteil dieser Mittel
überwiegend in die frühkindliche Bildung und Qualität fließen.
({0})
Ich will Ihnen mal sagen, was das für die Erzieherinnen und Erzieher
in meinem Bundesland, in Mecklenburg-Vorpommern, bedeutet: kleinere Gruppen im
Kindergarten, einen Mindestpersonalschlüssel, der von der Praxis schon sehr
lange gefordert wird, und eine eigene Fachkräfteoffensive – durch die Mittel,
die wir heute zur Verfügung stellen.
({1})
– Ich weiß ganz genau, dass das so ist, Frau Bär. – Der Höhepunkt soll
aus meiner Sicht – daran wird gerade gearbeitet – ein
Bundesqualitätsentwicklungsgesetz zum 1. Januar 2025 sein, genau zehn Jahre nach
Erscheinen des Kommuniqués.
Also könnte man sagen: Alles gut im Bereich der frühkindlichen
Bildung. – Die letzten Wochen und Monate haben eher eine andere Sprache
gesprochen. Was wir erlebt haben, ist ein Verantwortungspingpong zum Thema
Sprach-Kitas.
({2})
Der Bund sagt: Die Länder sind für das Thema zuständig. Die Länder
sagen: Wir haben nicht die finanziellen Mittel dafür. Der Bund verweist auf das
höhere Steueraufkommen der Länder. Die Länder sagen, sie haben in der Coronazeit
viel investiert und eine härtere Schuldenbremse. Ich könnte ewig so
weitermachen.
Worum geht es in dieser Debatte eigentlich nicht? Um unsere Kinder und
die Zukunft unserer Gesellschaft. Deswegen ist meine Forderung, meine Bitte:
Lassen Sie uns weg vom Verantwortungspingpong hin zu einer
Verantwortungsgemeinschaft zwischen Bund und Ländern kommen!
({3})
Wir gehen heute mit diesem Gesetzentwurf einen wichtigen Weg. Für
sechs Monate verlängern wir das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“. Die Verstetigung
der Sprach-Kitas ist aus meiner Sicht der Lackmustest für diese
Verantwortungsgemeinschaft. Ich höre aus vielen Bundesländern sehr gute
Nachrichten. Aus NRW, aus Niedersachsen, aus Mecklenburg-Vorpommern sagen mir
die Erzieherinnen und Erzieher: Es ist eine gute Lösung. Wir haben eine
Sicherheit. Die Länder übernehmen das Programm. – Es gibt einige wenige Länder,
in denen das nicht so ist; eines davon ist Bayern. Was ich dort erlebe, ist
Angst, Unsicherheit, und ich höre dort: Wir wissen nicht, wie es weitergeht. –
Deswegen ist mein Appell an alle Verantwortungsträgerinnen und
Verantwortungsträger aus Bayern: Bitte, erhalten Sie die Sprach-Kitas!
({4})
Erhalten Sie die Strukturen! Sichern Sie das Wissen der Fachkräfte in
den Sprach-Kitas!
({5})
Was wir brauchen, ist eine Verantwortungsgemeinschaft, eine Rückkehr
zum Geist des Kommuniqués von 2014. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
uns nach den Diskussionen der letzten Monate heute einen Neustart wagen! Lassen
Sie uns zeigen, dass wir eines verstanden haben: Die Qualität der frühkindlichen
Bildung ist Ausdruck unserer Verantwortung für die Zukunft unserer
Gesellschaft.
Danke schön.
({6})
Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion Katja Adler.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kitaqualität bedeutet Zukunft, und das sollte sich nicht so wie bisher
überwiegend auf kostenfreie Kitaplätze beschränken. Da dies wenig mit Qualität
oder qualitativ anspruchsvoller Betreuung gemein hat, war eine Reform und
Weiterentwicklung des Gute-KiTa-Gesetzes unumgänglich.
Kitaqualität bedeutet daher ausreichend gutes und gut ausgebildetes
Fachpersonal in den Einrichtungen. Kitaqualität bedeutet eine starke Leitung,
die sich auf ihre pädagogischen Kernaufgaben konzentrieren kann, befreit von den
vielen administrativen Notwendigkeiten. Kitaqualität bedeutet, sich in der
Pädagogik an der kindlichen Entwicklung zu orientieren und eine gesunde,
abwechslungsreiche, frisch gekochte Ernährung, ausreichend Bewegung sowie den
Schutz des Kindes sicherzustellen.
({0})
Kitaqualität bedeutet aber auch eine pädagogisch starke
Kindertagespflege.
Ausgeschlossen ist nun endlich, dass mehr als die Hälfte der Mittel –
wie zum Beispiel in Bayern, liebe Frau Bär, geschehen – allein für den dort
gesetzten Schwerpunkt „weniger Gebühren“ ausgegeben werden.
({1})
Die Coronapandemie hat massive Auswirkungen. Dies in den
Handlungsfeldern zu berücksichtigen, ist nur konsequent. Den gestiegenen
Förderbedarfen in den verschiedenen Bildungsbereichen, den Problemen in der
sprachlichen, motorischen und sozio-emotionalen Entwicklung sowie der Häufung
psychischer Auffälligkeiten wird im KiTa-Qualitätsgesetz Rechnung getragen.
({2})
Mit jeweils 2 Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren machen wir
einen wichtigen und richtigen Schritt hin zu mehr Qualität in der
Kindertagesbetreuung. Weitere Schritte, wie zum Beispiel bundesweite Standards
zu verankern, müssen und werden nun folgen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind wir unseren Kindern schuldig.
Herzlichen Dank.
({3})
Zum Abschluss dieser Debatte folgt Jasmina Hostert für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Uns hier vorzuwerfen, dass Qualität nicht das
entscheidende Element in diesem Gesetz ist, ist echt schäbig, liebe Union.
({0})
Sie haben sich anscheinend nicht die sieben Handlungsfelder
angeschaut, in denen wir investieren wollen.
({1})
Ich kann sie Ihnen sehr gerne hier vorlesen: bedarfsgerechtes Angebot,
Fachkraft-Kind-Schlüssel, Gewinnung und Sicherung von qualifizierten
Fachkräften, starke Leitung, sprachliche Bildung, Maßnahmen zur kindlichen
Entwicklung, Gesundheit, Ernährung und Bewegung, Stärkung der Kindestagespflege.
Ich finde, hier steckt sehr viel Qualität drin. Also hören Sie auf, falsche
Infos zu verbreiten!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, das KiTa-Qualitätsgesetz
kann sich wirklich sehen lassen. Wir nehmen in den nächsten zwei Jahren circa
4 Milliarden Euro in die Hand, weil uns wichtig ist, dass jedes Kind
frühkindliche Bildung erfährt, weil uns unsere Erzieherinnen und Erzieher
wichtig sind und weil wir wollen, dass sich Eltern auf eine gute Kinderbetreuung
verlassen können. Dabei überlassen wir nichts dem Zufall. Wir sorgen dafür, dass
überall, ob bei mir in Böblingen oder hier in Berlin, die gleichen
Qualitätsstandards und Rahmenbedingungen gelten, damit alle Kinder die gleichen
Startchancen bekommen.
({3})
Eben wurde gesagt, dass überall, in allen Kitas, die Erzieherinnen und
auch die Kinder gestresst sind. Ich kann gerade genau das Gegenteil berichten:
Ich habe vor zwei Wochen mit meinem Sohn die Eingewöhnungsphase in der Kita
angefangen. Und dort ist eine sehr gute Stimmung, auch wenn ich natürlich sehe,
dass der Arbeitsaufwand, den die Erzieherinnen und Erzieher leisten, enorm ist.
Aber ich habe den allergrößten Respekt davor, was unsere Erzieherinnen und
Erzieher leisten:
({4})
Sie bespaßen die Kinder, sie trösten die Kinder, sie organisieren
alles nebenbei und haben immer auch noch die Bedürfnisse von jedem einzelnen
Kind im Blick. Das ist wirklich ein Kraftakt. Die Erzieherinnen und Erzieher
verdienen unsere größte Anerkennung und auch unsere größte Unterstützung. Diese
bekommen sie jetzt auch durch das KiTa-Qualitätsgesetz.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch eines erwähnen, weil wir so oft und so
viel auch über den Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel reden: Für die Eltern ist
die Kinderbetreuung essenziell, vor allem für Frauen, da sie nach wie vor
entweder zu Hause sind, in Minijobs oder in Teilzeit arbeiten. Wir brauchen die
Frauen dringend auf dem Arbeitsmarkt, und auch dafür wollen wir mit diesem
Qualitätsgesetz sorgen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein guter Tag. Wir setzen
ein zentrales Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Mit dem
KiTa-Qualitätsgesetz stärken wir die frühkindliche Bildung. Ich freue mich.
Vielen Dank.
({7})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Unsere Gesellschaft und unsere
Demokratie sind in akuter Gefahr.
({0})
Klimaextremisten greifen unsere Art, zu leben, frontal an und wollen
als radikale Minderheit uns allen mit Gewalt ihre Ideologie aufzwingen. Sie
proklamieren als Ziel den Wohlstand des Weniger und meinen damit doch nichts
anderes als eine massive Wohlstandsvernichtung und damit eine tiefgreifende,
negative Veränderung unserer Gesellschaft.
({1})
Die Klimachaoten geben vor, das Klima retten zu wollen, verbinden sich
zu diesem Zweck mit Linksextremisten und bedienen sich dabei immer radikalerer
Methoden. Sie begehen dabei unter dem Deckmantel des zivilen Ungehorsams
schwerste Straftaten und gefährden dadurch das Leben und die Gesundheit von
Menschen. Zuletzt haben diese Klimaextremisten sogar den Flugverkehr massiv
gefährdet und gestört. Lassen Sie es mich klar und deutlich sagen: Wir dürfen
uns solche Angriffe auf unseren Rechtsstaat nicht bieten lassen, sondern müssen
uns dem entschlossen entgegenstellen.
({2})
Wer zur Durchsetzung seiner Ideologie vorsätzlich und fortgesetzt
schwerste Straftaten begeht und dabei auch schwere Gesundheitsschäden oder den
Tod von Menschen in Kauf nimmt, der belegt damit die massive Missachtung unseres
Rechtsstaates und grundgesetzlich geschützter Rechtsgüter.
Bei „Markus Lanz“ sagte Luisa Neubauer, das bekannteste Sprachrohr von
Fridays for Future, auf die Frage des ehemaligen Innenministers de Maizière,
welche Lösungswege sie denn habe, um die Ziele der Klimaprotestler mit
demokratischen Mitteln zu erreichen, wörtlich – Zitat –: „Herr de Maizière, die
Wahl zwischen Zeit und Demokratie haben wir nicht.“
({3})
Sie gibt damit in aller Öffentlich klar und deutlich zu verstehen,
dass sogar Fridays for Future zur Erreichung seiner Ziele auf unsere Demokratie
keine Rücksicht nimmt. Das ist ein Bekenntnis zur Demokratiefeindlichkeit, wie
es klarer nicht sein könnte.
({4})
Alle Demokraten wissen: Wenn wir es ernst meinen mit unserer
wehrhaften Demokratie, dann müssen wir gegen diese Klimafanatiker mit aller
Härte und Konsequenz zurückschlagen.
({5})
Aber genau das Gegenteil passiert: Diese Ampelregierung verharmlost
und relativiert diesen Klimaextremismus nicht nur.
({6})
Nein, sie leugnet sogar, dass es sich um Extremismus handelt. Damit
haben wir erstmals seit 1945 – das ist eine völlig neue Qualität – eine
Regierung, die sich weigert, eine ernstzunehmende Sicherheitsgefahr für unser
Land überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Hier handelt es sich im Ergebnis um eine
bewusste und gewollte Weigerung der Ampelkoalition, essenzielle Aufgaben für den
Schutz und die Sicherheit der Bürger wahrzunehmen. Das können und dürfen wir als
überzeugte Demokraten und Verfechter unseres Rechtsstaates nicht hinnehmen.
({7})
Und nicht nur das: Auch Herr Haldenwang als Präsident des Bundesamtes
für Verfassungsschutz, dessen Aufgabe es eigentlich ist, uns vor Extremisten zu
schützen, will die Gefahr des Klimaextremismus nicht wahrhaben.
({8})
Aber er geht sogar noch weit darüber hinaus: Er stellt dem
Klimaextremismus einen Persilschein aus.
({9})
Er sagte bei einer SWR-Gesprächsrunde Mitte November wörtlich –
Zitat –:
Die sagen: Hey Regierung, ihr habt so lange geschlafen. Ihr ... müsst
jetzt endlich mal was tun. Anders kann man gar nicht ausdrücken, wie sehr man
dieses System eigentlich respektiert ...
Diese Aussage des Präsidenten des BfV ist ein unfassbarer Skandal!
({10})
Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass an der Spitze unseres
Inlandsgeheimdienstes offensichtlich kein professionell agierender
Verfassungsschützer sitzt,
({11})
sondern ein links-grün-rotes Sprachrohr der Klimaextremisten.
({12})
Und ob das nun auf Dilettantismus, auf Inkompetenz oder auf politische
Beeinflussung seitens der Ampelregierung zurückzuführen ist, kann dahingestellt
bleiben.
({13})
Fakt ist: Dieser Mann hat sich mit dieser Aussage mit Extremisten
gemein gemacht und ist auf diesem Posten deshalb völlig untragbar und sofort
abzulösen.
({14})
Wir müssen jetzt verhindern, dass sich dieser Klimaextremismus immer
weiter radikalisiert und sich dann in einen Klimaterrorismus auswächst, und dazu
hat der Staat alle erforderlichen Maßnahmen sofort umzusetzen. „Null Toleranz
statt Kuschelkurs“ muss dabei oberste Leitlinie sein. Das bedeutet, dass man die
Akteure nicht als Aktivisten verharmlost, sondern klar als Extremisten benennt
und sie direkt in das Visier unserer Sicherheitsbehörden nimmt.
Um Störungen der öffentlichen Sicherheit effektiv zu unterbinden,
müssen sowohl strafprozessuale Maßnahmen als auch Präventiv- und
Beseitigungsgewahrsam zur Anwendung kommen. Die bisherige Zurückhaltung der
Polizei ist völlig fehl am Platz. Sie ist durch einen robusten
Zwangsmitteleinsatz zu ersetzen.
({15})
Natürlich sind auch harte Strafen nach einem Gerichtsverfahren
zwingend erforderlich; denn Strafen müssen abschreckende Wirkung haben, sonst
taugen sie nichts.
Meine sehr verehrten Kollegen, wir müssen jetzt handeln, wenn wir eine
Klima-RAF verhindern wollen, sonst wird es irgendwann zu spät sein.
({16})
Es folgt Peggy Schierenbeck für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich liebe unseren Planeten, und ich setze mich
jeden Tag sowohl als Privatperson als auch als Parlamentarierin für den Schutz
unseres Planeten ein. Das tue ich, weil ich mir meiner persönlichen
Verantwortung bewusst bin, weil ich alles dafür tun möchte, den Klimawandel
aufzuhalten.
Schon während meines Wahlkampfes habe ich mich den Schülerinnen und
Schülern in Weyhe bei einer Demonstration von Fridays for Future
angeschlossen.
({0})
Ich nehme die Sorgen der jungen Menschen ernst und bewundere ihr
friedliches Engagement. Ich liebe unseren Planeten. Ich finde es wichtig, dass
jede und jeder etwas für unseren Planeten und gegen Klimawandel tut.
({1})
Ich bin der Überzeugung, dass jede und jeder im Rahmen der eigenen
Möglichkeiten etwas für die Rettung unseres Klimas, für die Rettung unseres
Planeten tun muss.
({2})
Ich handele klimabewusst; ich hinterfrage meine Entscheidungen.
({3})
Ich frage mich, was ich besser machen kann – Tag für Tag. Das tue ich
als Privatperson; das tue ich als Parlamentarierin.
({4})
Friedliche Demonstrationen und friedlicher Aktivismus, wie wir ihn
schon bei Greta Thunberg gesehen haben, wirken. Friedlicher Aktivismus setzt
Zeichen, die gesehen werden, die ich sehe und ich in meinem Tun und Handeln, in
meiner Arbeit berücksichtige.
({5})
Die Dringlichkeit des Themas war angekommen.
Dann war ich sehr verwundert, als das erste, zum Glück von Glas
geschützte Gemälde von der „Letzten Generation“ beschmiert wurde. Die Waffen der
Wahl: Tomatensauce, Torte, Kartoffelbrei. Ich war verärgert, als die ersten
Hände der „Letzten Generation“ auf dem Asphalt unserer Straßen und Autobahnen
klebten.
Nun bin ich erschüttert über die jüngste Eskalation: Protestierende
der „Letzen Generation“ durchtrennten den Zaun um das Gelände des
Flughafens Berlin Brandenburg und drangen auf das Grundstück vor. Als
Berichterstatterin für Luftsicherheit innerhalb der SPD-Fraktion möchte ich
eines klar sagen: Die Luftsicherheit darf nicht gefährdet werden.
({6})
Menschenleben dürfen nirgendwo und zu keinem Zeitpunkt gefährdet
werden. Es liegt mir am Herzen, dass kein Mensch zu Schaden kommt, ob Reisende
oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Flughafens. Eine Aktion wie die am
Flughafen ist hochgefährlich, und den Protestierenden möchte ich sagen: Das
hätte ganz schön nach hinten losgehen können.
({7})
Es gibt doch einen Grund, warum ein Zaun um das Gelände von Flughäfen
gezogen wird: Wir schaffen damit Sicherheit.
Jetzt ist es wieder passiert: Wir reden wieder über die „Letzte
Generation“. Wir reden wieder über die Protagonistinnen und Protagonisten
innerhalb dieser Gruppierung. Wir reden wieder über diejenigen, die Gemälde mit
Lebensmitteln und Farbe beschmieren, über diejenigen, die sich an Straßen
festkleben, und jetzt auch über diejenigen, die auf ein Flughafengelände
vordringen.
({8})
Wir reden über Bestrafung, über die Einstufung als extremistische
Vereinigung und über die Kritik am Protest. Aber das Problem daran ist: Nur noch
wenige reden über die Rettung des Klimas, über die Rettung unseres wunderschönen
Planeten, über den Planeten, auf dem sich übrigens die 299 schönsten Wahlkreise
Deutschlands befinden. Was die „Letzte Generation“ tut, ist ärgerlich und dem
Ziel, die Welt zu retten, nicht zuträglich. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich.
Nun stehen die Aktivistinnen und Aktivisten im Vordergrund, und nicht mehr der
Klimaschutz. So gewinnt man keine Mitstreiter im Kampf gegen den Klimawandel. So
bringt man die Menschen, die wir im Kampf gegen den Klimawandel brauchen, gegen
sich auf.
({9})
Ich vermute, dass sich kein Fluggast gedacht hat: Oh, was für ein
Glück! Die Protestierenden haben meinen Flug verhindert. Denen möchte ich mich
jetzt gerne anschließen. – Das wird so wohl nicht gekommen sein. So wird nicht
aufgerüttelt; so wird aufgebracht. Diese Aktionen sorgen dafür, wie die
Bundesinnenministerin Nancy Faeser schrieb, dass „wichtige gesellschaftliche
Akzeptanz für den Kampf gegen den Klimawandel“ zerstört wird.
Wir müssen die Taten der „Letzten Generation“ nicht gut finden, aber
wir dürfen die Protestbewegung auch nicht verteufeln.
({10})
Das Ziel ist gut, aber die Methoden sind es nicht. Aber diese Methoden
machen noch keine Extremisten.
({11})
Der Extremismus lehnt den demokratischen Verfassungsstaat und seine
Werte ab, missachtet Menschenwürde
({12})
und Rechtsstaatlichkeit. Extremisten bedrohen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung; das tut diese Bewegung nicht.
({13})
Ich verstehe, woher der Frust der Protestierenden kommt: Es geht ihnen
nicht schnell genug.
({14})
Aber das Engagement für unser Klima, für die Rettung unseres Planeten
muss innerhalb unserer Gesetze bleiben.
({15})
Der Protest der „Letzten Generation“ darf nerven, Protest muss auch
nerven; aber der Protest der „Letzten Generation“ darf nicht die Sicherheit von
anderen Menschen
({16})
und auch nicht die seiner eigenen Anhängerinnen und Anhänger
gefährden.
Vielen Dank.
({17})
Ingmar Jung erhält das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben
seit Wochen mit einem völlig neuen Phänomen von Straftaten zu tun. Wir sehen,
wie Kunstschätze vorsätzlich beschädigt werden. Wir sehen, wie Straßen blockiert
werden, wie Menschen sich überall festkleben – auf Flughäfen, auf Straßen –,
Betriebe stören, den Straßenverkehr blockieren, stundenlange, emissionsstarke
Staus verursachen
({0})
– Klimaschutz ist nicht das Thema; ich rede über das Phänomen, das wir
die letzten Wochen erleben – und am Ende Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte
behindern.
Warum tun sie das? Weil sie glauben, das Recht zum sogenannten zivilen
Ungehorsam zu haben, weil sie glauben, besser als die, die dafür zuständig sind,
zu beurteilen, was man in diesem Staat darf und was nicht und was getan werden
müsste, und weil sie glauben, durch das Überschreiten von Grenzen, durch das
Brechen von Gesetzen mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, und sich dadurch erhoffen,
politische Ziele besser durchzusetzen. An dieser Stelle muss aus meiner Sicht
eines ganz klar sein: Wer im Rechtsstaat, in dem wir uns gemeinsam Grenzen
geben, glaubt, Ziele besser durchzusetzen, indem er die gemeinsam gesetzten
Grenzen überschreitet und bewusst Straftaten begeht, darf damit keinen Erfolg
haben; sonst schaffen wir ein Massenphänomen und machen uns als Staat auch
lächerlich.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben deshalb in der vorletzten
Sitzungswoche bereits einen Antrag eingebracht und unterschiedliche Vorschläge
zur Änderung des Strafgesetzbuches – § 240 StGB, Nötigung, § 323c StGB,
§ 315b StGB – gemacht. Der Antrag enthält auch einen Vorschlag zur Beendigung
der ständigen Kettenbewährungsstrafen, und wir sind froh, dass wir jetzt im
Ausschuss darüber reden. Über all das haben wir schon in der vorletzten
Sitzungswoche diskutiert. Ich wäre wirklich dankbar, wenn wir gemeinsam in einem
sachlichen Diskurs Lösungen finden, wie wir unsere rechtsstaatliche Ordnung auch
dann erhalten, wenn sich das Phänomen noch weiter ausweiten sollte.
Ich will auf einen Punkt noch einmal ausdrücklich eingehen, über den
wir vorletzte Sitzungswoche zwar auch schon diskutiert haben, der mir aber
wichtig ist; denn das verschwimmt in der Debatte leider gelegentlich. In einem
freiheitlichen Rechtsstaat sind Freiheitsrechte nur deshalb so viel wert, weil
sie völlig diskriminierungsfrei, ohne Ansehung der dahinterstehenden Motivation
gewährt werden.
({2})
Sie dürfen in Deutschland Freiheitsrechte aus gutem Grund – das
unterscheidet uns von autoritären Regimen – für alles in Anspruch nehmen. Sie
dürfen gegen Coronamaßnahmen demonstrieren, Sie dürfen für Klimapolitik
demonstrieren, Sie dürfen aber auch für besseres Wetter oder für weiße
Weihnachten demonstrieren – völlig egal. Und wir als Politik, wir als Staat
haben uns aus der Motivationsfrage herauszuhalten. Das ist der Unterschied: Wir
definieren hier gerade nicht – und das verschwimmt in der Debatte –, welches
Ziel es wert ist, Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen, und welches nicht. Und
wenn Sie diese Diskriminierungsfreiheit ernst nehmen, dann gilt auch umgekehrt:
Dann kann es keinen Unterschied machen, wofür jemand eintritt, der die Grenzen
überschreitet und Strafgesetze bewusst bricht. Der Betreffende ist ein
Straftäter, egal was seine dahinterstehende Motivation ist.
({3})
Das verschwimmt leider zu sehr in der Debatte. Lassen Sie uns darüber
sprechen, wie wir unsere Gesetze durchsetzen. Ich lade Sie herzlich ein – der
Antrag ist im Ausschuss –, darüber zu sprechen, wie wir die rechtsstaatliche
Ordnung erhalten.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Lösung der Klimaproblematik
ist das Kernthema jeder Politik in den nächsten Jahren.
({4})
Wer glaubt, dort keine Lösung anbieten zu müssen, wird das bei Wahlen
spüren.
({5})
Aber gleichwohl darf es bei der Debatte, wie wir mit Menschen umgehen,
die bewusst Gesetze brechen, um Ziele durchzusetzen, keine Rolle spielen, worum
es ihnen geht. Das gilt übrigens auch umgekehrt: Wenn ich jetzt von den
Antragstellern höre, es werde nur über Klima gesprochen, dann ist das der
Versuch, eine Bewegung wegen eines Phänomens zu diskriminieren. Sie von der AfD
versuchen an dieser Stelle, Ihre kruden Leugnungstheorien hoffähig zu machen,
indem Sie dieses Thema als Vehikel benutzen. Damit dürfen Sie keinen Erfolg
haben. Das sage ich Ihnen an dieser Stelle auch sehr deutlich.
({6})
Herr Abgeordneter, die Zeit ist um.
Meine Damen und Herren, ich lade Sie herzlich ein, im Ausschuss
darüber zu debattieren.
({0})
Lassen Sie uns gemeinsam vernünftige Lösungen finden.
Haben Sie ein schönes Wochenende.
Vielen Dank.
({1})
Nur noch einmal zur Erinnerung: Sie haben fünf Minuten. Sie dürfen
kürzer reden, aber nicht länger.
Als Nächstes erhält das Wort Marcel Emmerich für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, wes Geistes Kind
diese Debatte hier sein soll. Das zeigt schon die Beantragung dieser Aktuellen
Stunde durch die AfD. Laut Titel reden wir jetzt über die „Radikalisierung der
Klimaproteste“, aber ursprünglich hat die AfD eine Aktuelle Stunde zu
„Klimaextremismus als Gefahr für Staat und Gesellschaft“ beantragt.
({0})
Das mussten Sie dann abändern.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal vortragen – denn ich glaube,
die AfD hat es noch nicht ganz verstanden –, was der Präsident des Bundesamtes
für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, genau gesagt hat. Frau Präsidentin,
ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis:
Extremistisch ist …, wenn der Staat, die Gesellschaft, die
freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage gestellt wird. Und genau das tun
die Leute ja eigentlich nicht. Die sagen: Hey, Regierung, ihr habt so lange
geschlafen. Ihr … müsstet jetzt endlich mal was tun!
({1})
Anders könne man gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System
respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert.
({2})
Wie deutlich muss es denn noch sein?
({3})
Und genau deshalb muss von dieser Debatte, von dieser Aktuellen Stunde
heute die Botschaft ausgehen, dass wir als Parlament diese Proteste mit Maß und
Mitte beurteilen und diese politische Bühne nicht für Populismus und zynische
Vergleiche instrumentalisiert wird.
({4})
Doch leider haben nicht alle erkannt, was es für Maß und Mitte
braucht. Ich finde, das zeigt auch die Debatte im Vorfeld der
Innenministerkonferenz. Viele Innenminister haben ganz klar gesagt: Wir brauchen
hier Gesetzesverschärfungen. – Sie wollen ihre Polizeigesetze überarbeiten; sie
wollen den Präventivgewahrsam ausweiten. All das wurde in die Debatte
eingebracht. Dazu muss ich sagen: Das hat mit seriöser Sicherheitspolitik nichts
zu tun, gerade auch mit Blick darauf, dass das Maßnahmen sind, die im Zuge von
Antiterrorgesetzen in Polizeigesetze geschrieben wurden. Und diese sollen jetzt
gegen Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten angewandt werden. Mir kann doch
keiner erzählen, dass es verhältnismäßig ist, dass man 30 Tage ins Gefängnis
gehen soll, weil man sich für zwei Stunden auf der Straße angeklebt hat. Das hat
nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.
({5})
Ich möchte einmal ganz nüchtern sagen: Es ist eine durchaus
rechtswissenschaftliche Debatte darüber, wie diese Demonstrationen, diese
Proteste zu bewerten sind, insbesondere mit Blick auf das Pariser Klimaabkommen,
das ein international verbindlicher Vertrag ist, der natürlich auch Auswirkungen
auf das Recht hat, und auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Das ist
ein umstrittenes Thema. Das sind strittige Fragen. Aber dieser Debatte sollte
man sich auch stellen.
({6})
Denn in Wahrheit ist es doch so, dass unsere Welt nicht durch die
Blockaden der Klimabewegung in Brand gerät, sondern durch die Klimakrise. Wir
müssen mehr über die Blockaden beim Klimaschutz reden und weniger über die
Blockaden auf der Straße.
({7})
Und keine Frage – damit wir uns hier nicht falsch verstehen –:
({8})
Die Blockaden nerven und sind teilweise gefährlich. Und es ist
natürlich auch vollkommen klar, dass es zeit- und nervenaufreibend sein kann,
wenn man dadurch im Stau steht oder seinen Flieger verpasst. Straftaten und
Gesetzesverstöße werden geahndet; aber in meinen Augen gehört es zur Demokratie,
solch friedlichen Protest auch auszuhalten.
({9})
Ich verstehe ja, dass das einigen hier jetzt sauer aufstößt und dass
viele das nicht begreifen können. Die Emotionen kochen hoch, alle wollen ins
Wochenende.
({10})
Aber wir haben gute Gesetze und Gerichte. Wissen Sie, was ich nicht
verstehe? Warum Sie diesen nicht vertrauen,
({11})
warum Sie den Staatsanwaltschaften nicht vertrauen, warum Sie den
Polizistinnen und Polizisten nicht vertrauen, warum Sie den Gerichten nicht
vertrauen.
({12})
Wir sind ein handlungsfähiger Staat. Wir haben handlungsfähige
Gerichte, die auch zu entsprechenden Urteilen kommen werden. Die Strafen werden
nicht ausgesprochen, die Urteile werden nicht gefällt vom Parteivorstand der AfD
oder der Union, sondern von Gerichten.
({13})
Wer nur noch von Klima-RAF spricht – da ist ja die spannende Frage,
wer hier eigentlich Stichwortgeber von wem ist –, wer nur noch Nulltoleranz
fordert und wer nur noch ruft: „Wegsperren!“, der hat mit Rechtsstaatlichkeit
und Demokratie nichts mehr zu tun.
({14})
Ich will an dieser Stelle noch einmal ganz klar sagen: Gewaltenteilung
ist etwas sehr Zentrales. Wir setzen uns an dieser Stelle für
Rechtsstaatlichkeit, für Demokratie und konsequenten Klimaschutz ein und bringen
all das zusammen.
({15})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
der demokratischen Fraktionen! Und natürlich auch sehr geehrte Damen und Herren,
die uns hier zuschauen oder vielleicht sogar an den Fernsehern oder im Rundfunk
mithören! Wieder einmal hält die autoritäre und auch extreme Rechte den Stock
hin, und wieder einmal springen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Teil
über diesen Stock.
({0})
Derzeit scheint es geradezu einen Wettbewerb zu geben, in dem sich
alle darin überbieten wollen, die markigsten Forderungen zu stellen oder die
schiefsten Vergleiche zu ziehen. Für Alexander Dobrindt scheinen Sitzblockaden
auf der Straße so etwas Ähnliches zu sein wie Erschießungen und
Bombenanschläge.
({1})
Den Bundeskanzler erinnern Zwischenrufe während seiner Rede an den
Terror der nationalsozialistischen SA. Und Andreas Scheuer möchte die
Aktivistinnen und Aktivisten einfach wegsperren.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn ich so etwas höre und lese, frage ich
mich manchmal: Schauen Sie selbst auf sich? Hören Sie sich selbst manchmal
zu?
({3})
Es ist infam, mit so durchsichtigen Manövern von der Notwendigkeit
eines radikalen Kurswechsels in der Klimapolitik abzulenken, während
gleichzeitig Menschen die Folgen des Klimawandels mit dem Verlust ihrer Heimat
oder ihres Lebens bezahlen.
({4})
Sie jammern, weil es mal einen Stau gibt oder das Flugzeug vielleicht
nicht pünktlich startet.
({5})
Andere Menschen sind der brachialen Gewalt des Klimawandels schutzlos
ausgeliefert, und zwar nicht mehr nur im Globalen Süden. In diesem Sommer gab es
so viele Hitzetote in Europa wie noch nie.
({6})
Ich habe da keine Empörung vernommen, keine Vergleiche mit Terrorismus
gehört und vor allem keine Vorschläge, wie wir sofort und wirksam etwas ändern
können.
({7})
Ich kann gut nachvollziehen, dass es nicht angenehm ist, wenn junge
Menschen den Finger in die Wunde legen
({8})
und so deutlich auf das politische Versagen hinweisen, das die
Klimapolitik der jetzigen, aber auch der vorherigen Bundesregierung auszeichnet.
Aber glauben Sie ernsthaft, mit diesem ganzen Geklapper, das wir die letzten
Wochen hören mussten, können Sie über dieses Versagen hinwegtäuschen?
({9})
Niemand behauptet, dass die Menschen, die durch Blockadeaktionen im
Stau stehen, die Verursacher der Klimakatastrophe sind. Das wissen die
Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“, das weiß ich, und das
wissen auch Sie. Aber wir wissen alle, wer die Verursacher der Klimakatastrophe
sind,
({10})
Sie vielleicht noch besser als ich; denn bei Ihren Parteitagen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von CDU, FDP, SPD und leider auch den Grünen, stehen
die Logos der verantwortlichen Konzerne auf den Sponsorenaufstellern am
Eingang.
({11})
Zwei Drittel der weltweiten CO2-Belastung werden von nur
100 Großkonzernen verursacht. In Deutschland verursachen die reichsten
10 Prozent einen viermal so hohen CO2-Ausstoß wie die ärmsten 50 Prozent. Und
wir verschwenden wirklich unsere Zeit und Energie, hier zu diskutieren, ob
ziviler Ungehorsam das Gleiche ist wie Terrorismus? Das ist absurd, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({12})
Statt sie zu verleugnen oder uns von ihnen zu distanzieren, sollten
wir uns damit auseinandersetzen, was die Aktivistinnen und Aktivisten der
Klimabewegung zu sagen haben. Sie sagen uns drei Dinge: Wir haben die
Verursacher der Klimakrise zur Kasse zu bitten. Wir müssen ändern, was und wie
wir produzieren; denn diese Welt ist nicht alternativlos, und ihr Ende ist es
auch nicht.
Vielen Dank.
({13})
Als Nächstes erhält das Wort Linda Teuteberg für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je mehr in
Sonntagsreden über Demokratie, ihre Stärkung und Förderung gesprochen wird,
desto mehr muss man offenbar Selbstverständlichkeiten erklären – manchmal sogar
Koalitionspartnern.
({0})
Bei der Demokratie geht es nicht darum, für sich selbst die überlegene
Gesinnung und Ziele zu reklamieren, sondern es geht auch um Institutionen und
Verfahren. „Legitimation durch Verfahren“ ist einer der zentralen Werte der
Demokratie.
({1})
Das Gewaltmonopol des Staates bedeutet, dass nur der Staat zwingen
darf. Und zwar um demokratisch beschlossene Gesetze durchzusetzen. Parlamente
und Parteien sind nach unserem Grundgesetz dazu berufen, politische
Willensbildung und politische Entscheidungen herbeizuführen und zu treffen. Wer
von Widerstand redet, der ist geschichtsvergessen in einem demokratischen
Rechtsstaat, und zwar unabhängig davon, aus welchem politischen Lager er oder
sie kommt.
({2})
Wer für sich in Anspruch nimmt, diese Grundsätze nach eigener
definierter moralischer Überlegenheit zu verletzen, der öffnet die Büchse der
Pandora. In Parlamente und Regierungsgebäude einzudringen, identitätsstiftende
Bauwerke zu besetzen, Anschläge auf Parteizentralen zu verüben oder davon zu
träumen und es zu inszenieren, Politiker abzuführen, einzusperren oder gar
aufzuhängen: Bei der Ethik und Ästhetik, bei den Aktionsformen haben sich die
Identitären bei den Autonomen bedient – jetzt tun das auch einige andere –,
({3})
noch unappetitlich garniert durch eine Verhöhnung der Rettungskräfte,
die sie für ihre Aktionen instrumentalisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gute Nachricht ist: Ob es zu einer
weiteren Radikalisierung kommt, ist noch längst nicht entschieden. Die weitere
Entwicklung hängt nicht allein vom Verhalten derer, über deren Aktionen wir hier
gerade sprechen, ab, sondern auch von Staat und Gesellschaft.
({4})
Wo Gesetze gebrochen werden, da muss dies folgerichtig geahndet
werden, konsequent und fair. Unser Strafgesetzbuch bietet da eine Reihe von
Möglichkeiten. Es geht insbesondere um den Tatbestand der Nötigung, auch der
Sachbeschädigung, der gemeinschädlichen Sachbeschädigung, des gefährlichen
Eingriffs in den Straßenverkehr, den Luftverkehr und unter Umständen sogar der
fahrlässigen Tötung.
({5})
Sosehr es gilt, zu sagen: „Im Rechtsstaat definieren Gerichte und
nicht Politiker, was kriminell ist und was nicht“, ist umso befremdlicher, wie
manche immer wieder betonen müssen, dass etwas nicht kriminalisiert werden
dürfe. Das dient meistens der Verharmlosung. In Prozessen sollten beschleunigte
Verfahren angewendet werden. Und zwar geht es nicht unbedingt um härtere
Strafen. Es geht vor allem darum, schnelle, konsequente Urteile zu haben. Damit
für alle in unserem Land sichtbar wird, dass in unserem demokratischen
Rechtsstaat Recht und Gesetz sich durchsetzen. Ebenso wichtig ist es, dass der
Rechtsstaat nicht überreagiert. Radikale Bewegungen provozieren den Staat
bewusst, und die darauffolgende Überreaktion ist Teil ihres Kalküls. Kaum etwas
radikalisiert ihre Anhänger stärker.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir bei der Gesellschaft
und der politischen Debatte. Besonders bei Linken, aber auch bis in die
bürgerliche Mitte hinein werden die Aktionen der Klimaaktivisten oftmals
verharmlost. Dabei werden Anliegen mit Zielen und Ziele mit Mitteln verwechselt.
So wichtig das Anliegen des Klimaschutzes ist: Es ist weder eine Rechtfertigung
für Ziele wie Notstandsregime, die Abschaffung der sozialen Marktwirtschaft und
anderes, und es ist auch keine Rechtfertigung für illegale Mittel.
({7})
Weder beim Vorgehen der staatlichen Institutionen noch bei der
gesellschaftlichen Beurteilung sollte das Anliegen von Klimaaktivisten eine
Rolle spielen. Das Gebot der Stunde ist klare, unmissverständliche Distanz.
Überreaktion ist genauso schädlich wie Verharmlosung. Der Flirt mit dem
Ausnahmezustand ist gefährlich.
Am Kern des Problems geht allerdings auch vorbei, wer darauf abstellt,
ob die Aktionen jetzt Erfolg oder Misserfolg bringen, wie die Imagewirkung für
die Bewegung ist. Würde Militanz etwa besser, wenn sie mit beifälligem Nicken
beantwortet würde oder Begeisterung auslöste?
({8})
Alle politischen Lösungsvorschläge müssen sich vor einem wählenden
Publikum bewähren. Als Demokratin sage ich: Das ist auch gut so. – Niemand hat
das Recht, durch Gewalt, Nötigung, Lautstärke zu erzwingen, was seine Argumente
im politischen Diskurs nicht vermögen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verachtung der Demokratie, ihrer
Prozesse und Institutionen wird nur noch übertroffen von der Verachtung des
Ökonomischen. Ökonomische Lösungen müssen marktgängig werden können. Schlicht,
weil das die Grundlage für Wohlstand und befriedete Verhältnisse ist. Viel
voraussetzungsreicher als eine Denkfaulheit, die sich damit zufriedengibt, auf
der richtigen Seite zu stehen, ist das Kleinarbeiten der Probleme.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier tatsächlich um die
Systemfrage, aber anders als diejenigen, die diese Aktionen machen, glauben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Es geht nämlich um unsere soziale Marktwirtschaft und die
freiheitlich-demokratische Grundordnung, die beste Ordnung, die wir je hatten.
Wir sollten offensiv für sie einstehen.
({0})
Nächste Rednerin ist Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Radfahrerin starb.
Der Rettungswagen wurde von der „Letzten Generation“ blockiert. Dazu twittert
der Klimaextremist Tadzio Müller: „Shit happens“. Und im Tagesspiegel legt er
nach – ich zitiere –:
Aber warum muss denn der Protest der „Letzten Generation“ ein
Nullrisiko haben … ? Im Straßenverkehr werden ständig Menschen … getötet, eine …
akzeptierte Normalität.
Weiter Zitat: „Falls im Rahmen der wachsenden Proteste mal ein
tragischer Unfall passieren sollte“, werde die Gesellschaft damit umgehen
müssen. Und noch mal Zitat:
Schon bei den Aktionen von „Ende Gelände“ gegen den Braunkohletagebau
war es … Glück, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Es hätte durchaus auch
anders kommen können.
Ihr Obermoralisten von den Grünen und Frau Schierenbeck insbesondere:
Wenn das kein Extremismus ist und wenn das nicht die Vorstufe zu Terror ist,
({0})
was ist dann die Vorstufe von Terror?
({1})
Verantwortlich für alle Schäden und jeden weiteren Toten sind aber
nicht nur die Klimaspinner selber, sondern auch die Justiz, die das Strafmaß
nicht voll ausschöpft – zehn Jahre Knast für die Idioten vom BER; das wäre mal
eine Ansage –, und die Presse, die Stichworte liefert und systematisch
verharmlost.
({2})
Das ZDF: eine ganze Sendung für Jan Böhmermann, um die Sorgen der
Menschen vor der grünen RAF lächerlich zu machen. „Der Spiegel“: eine Plattform
für den Terroristen Andreas Malm, um zur massenhaften Sabotage aufzurufen –
unkommentiert. Und im „Tagesspiegel“ kann Tadzio Müller dann die Tötung von
Menschen zur akzeptierten Normalität erklären, ohne eine kritische
Nachfrage.
Den Aktivisten, die in Windeln auf der Straße kleben und
millionenteure Kunstwerke in Museen mit Kartoffelbrei bewerfen, rufen wir zu:
Wenn ihr das Klima retten wollt, dann fahrt doch nach China und klebt euch ans
Mao-Mausoleum! China hat den größten CO2-Ausstoß der Welt – über 30 Prozent –,
Deutschland unter 2 Prozent. Da könnt ihr euch mal mit einer kommunistischen
Diktatur anlegen, ihr verhätschelten Wohlstandsgören.
({3})
Aber ihr seid nur mutig, wenn ihr es mit der deutschen Kuscheljustiz
zu tun habt und mit Gregor Gysi an eurer Seite als Anwalt.
({4})
Diese verkrachten Existenzen und Pseudoakademiker, diese Jammerlappen
aus der Elbphilharmonie: Ohne die dicken Gelder im Rücken könnten die gar
nichts.
Folgen wir mal der Spur des Geldes. Hinter dem Terror der „Letzten
Generation“ steckt der Climate Emergency Fund aus den USA. Der finanziert nach
eigenen Angaben 94 klimaextremistische Organisationen und rühmt sich,
22 000 Klimafanatiker ausgebildet und trainiert zu haben und zu bezahlen und
1 Million mobilisiert zu haben.
({5})
Der Climate Emergency Fund wurde von Aileen Getty gegründet. Das ist
die Enkelin, aber vor allen Dingen die Erbin von Paul Getty, dem einst reichsten
Mann der Welt. Ihr Vermögen: eine Dreiviertelmilliarde Dollar. Aileen Getty
hatte in ihrem Leben viele Probleme: Magersucht, Selbstverstümmelung, Drogen,
Aids.
({6})
Ein Problem hatte sie nie: Morgens früh um sieben Uhr mit einem alten
Auto durch den Stau der Stadt bei unbezahlbaren Benzinpreisen zur Arbeit zu
fahren und von ihrer eigenen Hände Arbeit leben zu müssen. Das Problem hatte sie
nicht.
({7})
Ihr Vermögen stammt aus den Erdölmilliarden ihres Großvaters.
({8})
Ja, die „Letzte Generation“ wird bezahlt aus den Milliardengewinnen
aus fossilen Brennstoffen. Die Klimamillionäre sitzen in ihren Luxusvillen in
Palm Beach und in Palo Alto oder auch in Blankenese,
({9})
lächelnd mit einem Glas Château Lafite in der Hand, und freuen sich,
wenn hart arbeitende Bürger frühmorgens mit dem Auto nicht zur Arbeit kommen
oder von der Spätschicht nicht nach Hause.
({10})
Das ist keine Klimarebellion; das ist der Klassenkampf von woken,
superreichen Doppelmoralisten
({11})
auf der Sonnenseite des Lebens gegen die arbeitende Bevölkerung.
({12})
Es ist Zeit, dass der Rechtsstaat endlich die Samthandschuhe auszieht,
lange Haftstrafen ohne Bewährung verhängt – keine Geldstrafen –,
({13})
dass die Finanzströme hinter der sogenannten Klimabewegung in Gänze
offengelegt werden.
({14})
Das wäre mal eine echte Aufgabe für investigative Journalisten.
({15})
Und endlich – das richtet sich an die Politiker dieses Teils des
Hauses und an die Presse –: Hören Sie auf, jeden Starkregen zum Vorzeichen des
Weltuntergangs zu erklären! Hören Sie auf, mit der Klimaangst Politik zu
machen!
({16})
Kommen Sie endlich zur Vernunft!
Vielen Dank.
({17})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
fällt schwer, nach diesen massiven Angriffen von dem rechten Rand hier im
Parlament
({0})
sachliche Worte zu finden, die ja wirklich nichts anderes im Schilde
führen als eine Kriminalisierung, eine Diffamierung von
({1})
Klimaschutzbewegten
({2})
hier in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist das eigentliche Motiv.
({3})
Es geht darum – da sind sich, glaube ich, hier auch alle einig, das
ist aber gar nicht Ihr Thema –, dass die Grenzen des Rechtsstaats von nichts,
aus welchen Gründen auch immer, überschritten werden dürfen. Das ist die Basis
unseres gemeinsamen Wirkens auch hier im Haus. Aber darum geht es Ihnen ja gar
nicht.
({4})
Ihnen geht es darum, eine Diffamierung zu inszenieren, eine
Diffamierung von Klimaschutzpolitik.
({5})
Genau das gilt es hier auch mal zu unterstreichen und festzustellen,
auch für alle hörbar festzustellen, dass das Ihr eigentliches Motiv ist.
Deswegen treffen wir uns hier am Nachmittag, nicht um die wichtigen Fragen von
Klimaschutz
({6})
oder Rechtsstaatlichkeit zu diskutieren,
({7})
sondern Ihnen geht es nur um Diffamierung.
({8})
Ich möchte aber nun auf die Fragen eingehen, die uns natürlich alle
beschäftigen, in Kenntnis dessen, dass sich zurzeit eine Bewegung in einer Art
Hilferuf
({9})
Instrumenten bedient, die in der Tat natürlich auch die Gerichte
beschäftigen werden, weil hier die Überschreitung von Grenzen in Rede steht.
Aber ob es eine Überschreitung von Grenzen ist, das muss je nach Einzelfall,
ganz genau nach Einzelfall durch die Gerichte entschieden werden. Das muss durch
die Gerichte entschieden werden.
({10})
Das steht uns als Politik nicht zu, diese Rolle zu übernehmen. Uns als
Politik ist die Aufgabe in die Hände gelegt, immerzu diese Prozesse zu
beobachten, genauestens zu beobachten, ob mit unseren gesetzlichen
Rahmenbedingungen ausreichend Antworten gegeben werden können
({11})
und ob wir daraus Handlungsaufträge ableiten können. Das ist unsere
Aufgabe, nicht die Bewertung von Einzeltaten.
({12})
Insofern muss hier auch ganz klar gesagt werden: Wir haben mit unseren
rechtlichen Rahmenbedingungen eine Vielzahl von Möglichkeiten, als Staat auf
rechtswidriges Verhalten zu reagieren, und die Bewertung ist dann, wie gesagt,
Aufgabe von Gerichten.
Insofern ist es ein Fehl- und ein Trugschluss, an dieser Stelle auf
den Gesetzgeber, auf uns zu verweisen, dass wir hier tätig werden müssten. Dies
würde die Spirale der Hilflosigkeit letztendlich noch mal nach oben schrauben,
ohne zu den eigentlichen Wurzeln der Fragestellung zurückzukommen, die da
lauten, dass wir offenbar eine Herausforderung haben im Umgang mit den
Klimaschutzfragen. Einerseits müssen wir die Dringlichkeit der
Handlungserfordernisse wahrnehmen,
({13})
die offenkundig gegeben ist; die Dringlichkeit, zu handeln, ist
unzweifelhaft gegeben, die Dringlichkeit ist da.
({14})
Andererseits: Wenn man die Dringlichkeit missinterpretiert, dann kann
sich die Aktion tatsächlich ins Gegenteil verkehren, dann kann daraus
tatsächlich eine Art Hilfeschrei werden,
({15})
der auch zu einer Überschreitung von Grenzen führt, die es nicht geben
darf. Insofern ist der Appell an die Menschen, die sich diese Wege jetzt suchen
und möglicherweise da landen werden, dass die Gerichte es als Straftaten
klassifizieren werden, den politischen Willen, den politischen
Gestaltungswillen, der die Menschen antreibt, politisch einzubringen. Wir
brauchen dieses Gedankengut als Gesellschaft, wir brauchen die politische
Motivation dieser Menschen.
({16})
– Nicht die Ausdrucksform, sondern die politische Motivation; Sie
müssen schon genau zuhören, was ich hier sage.
({17})
Wir brauchen die politische Motivation dieser Menschen. Wir brauchen
sie als Parteiendemokratie in den Parteien.
({18})
Es gibt weltweit keine funktionierende Demokratie, die nicht zugleich
eine Parteiendemokratie wäre. Das heißt, dass dieses Gedankengut pro
Klimaschutz, das sich mit Hilferufen an die Gesellschaft wendet,
({19})
auch in die Parteien Einzug halten muss und uns hier hilft, nach
Umsetzungswegen zu suchen, die Ziele, die wir uns alle gesetzt haben – zur
Einhaltung des 1,5‑Grad-Ziels –,
({20})
auch wirklich Realität werden zu lassen.
({21})
Das ist unsere gesellschaftliche Aufgabe, nicht mehr und nicht
weniger.
Alles andere haben die Gerichte zu klären. Unsere Rechtsstaatlichkeit
und unsere Rahmengesetzgebung geben uns genügend Instrumente an die Hand.
Vielen Dank.
({22})
Nächster Redner in dieser Debatte ist Carsten Müller für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorweg will
ich noch mal eines sagen: Die klimapolitische Bilanz dieser Ampelregierung ist
durchaus kritikwürdig.
({0})
Denken wir zum Beispiel an sich beharkende Ministerien und das Stocken
der sogenannten Verkehrswende. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der
klimagerechte Wohnungsneubau komplett zum Erliegen gekommen ist. Sie streichen
von einem Tag auf den nächsten Förderprogramme für die energetische Sanierung.
Es geht so weiter. – Das ist alles kritikwürdig.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns über Mittel des Protests und
Formen des Protests unterhalten und hier in Sonderheit über Straßenblockaden,
dann gibt es eine relativ klare Handhabung. Mit Erlaubnis der Präsidentin
zitiere ich aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März
2011, 1 BvR 388/05, Randnummer 39 – das ist eigentlich das Leitmotiv, das wir
behandeln müssen –:
Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten
Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf
betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige
Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren
vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die
Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den
in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem
Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist
mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass
dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und
wertvoll einschätzt oder es missbilligt.
Meine Damen und Herren, dahinter kann man sich versammeln.
({1})
Das heißt, das Versammlungsrecht und das Demonstrationsrecht sind hohe
Güter.
Aber wenn wir uns die derzeitige Situation anschauen, dann müssen wir
doch unzweifelhaft feststellen, dass sich das, was wir als Protest kennengelernt
haben – was einige Redner der Grünen und der SPD eben krampfhaft versucht haben,
zu rechtfertigen und als einen Hilferuf zu deklarieren –,
({2})
von dem eigentlichen Anliegen, dem Klimaschutz, meilenweit entfernt
hat.
Ein Angehöriger dieser Organisation „Letzte Generation“ hat vor zwei
Jahren ein Praktikum bei mir im Abgeordnetenbüro gemacht. Ich nehme denjenigen
zum Teil auch ab, dass sie sich für das Thema Klimaschutz interessieren. Ich
nehme es jedoch nicht in der Breite ab und nicht in diesen Ausdrucksformen;
diese sind doch eher durch Selbstverliebtheit und eine Ichbezogenheit geprägt.
Meine Damen und Herren, die Situation in der Elbphilharmonie in Hamburg ist
angesprochen worden; sie ist in der letzten Woche viral gegangen. Glaubt denn
jemand in diesem Land, dass diese beiden hilflosen Personen, mit einem
ausdruckslosen Gesicht, dem Thema Klimaschutz gedient haben? Nein, das Gegenteil
ist der Fall. Sie sind zwar bekannt geworden, aber sie haben das wichtige Thema
Klimaschutz banalisiert, und das ist genau das Gegenteil von dem, was
anzustreben ist.
({3})
Meine Damen und Herren, ich habe heute Morgen durch einen Zufall mit
einem Mitarbeiter der Berufsfeuerwehr Berlin sprechen können; Mittel des
Protestes, Umfahrungsmöglichkeiten, ich hatte es Ihnen zitiert. Er hat mir
geschildert, dass er selber häufiger im Einsatz war, um diese festgeklebten
Personen von der Straße zu entfernen. Er war fassungslos, als man an seinem
Arbeitsplatz, die Feuerwache Charlottenburg-Nord, gezielt die Zu- und Abfahrt
blockiert hat. Er hat sich sehr für die Themen Demonstrationsfreiheit,
Meinungsfreiheit eingesetzt, das war ihm ein Herzensanliegen, und er war auch
durchaus klimapolitisch bewegt. Aber was ihn schockiert hat, war, dass die sich
festklebenden Personen überhaupt keine Einsicht zeigen wollten, dass sie an der
falschen Stelle mit unrichtigen Mitteln demonstriert haben. Das, meine Damen und
Herren, dürfen wir so nicht durchgehen lassen!
({4})
Die Redezeit ist begrenzt. Ich stelle folgende provokante Frage nicht:
Warum hat es eigentlich noch keine Straßenkleberaktionen beispielsweise auf der
Sonnenallee in Berlin-Neukölln gegeben? Wir können am Wochenende alle mal
darüber nachdenken. Ich glaube, es gibt darauf eine Antwort.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will damit abschließen: Wir von der Union
wollen kein Gesinnungsstrafrecht. Wir haben im Übrigen zur Kenntnis genommen,
dass diejenigen, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben, sich an die
sogenannten Spaziergänge – das war ja totaler Quatsch; das war eine irreführende
Bezeichnung – von Reichsbürgern, von wirklich verirrten Leuten überhaupt nicht
mehr erinnern wollten. Für solche Demonstrationen und solche Blockaden gilt
dasselbe.
Meine Damen und Herren, Eigensucht und Rücksichtslosigkeit sind mit
rechtsstaatlichen Mitteln nicht zu vereinbaren. Klimaschutz funktioniert nur mit
rechtsstaatlichen Mitteln. Wir wollen das als Union durchsetzen. Wir nehmen die
Sorgen ernst.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als Nächste erhält das Wort: Dr. Julia Verlinden für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein
Vorredner Carsten Müller hat gerade gesagt, Sie von der Union wollen kein
Gesinnungsstrafrecht. Ich glaube, Sie müssen da ein paar Dinge noch intern
klären.
({0})
Denn wenn ich höre, dass Stimmen aus der Union fordern,
„Klimakriminelle“ wegzusperren, dann läuft es mir echt kalt den Rücken
runter.
({1})
„Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens“, das stand nicht etwa auf dem
T‑Shirt einer Klimaaktivistin, sondern das formulierte António Guterres, der
Generalsekretär der Vereinten Nationen, zu Beginn der Klimakonferenz vor drei
Wochen.
({2})
Wenn ein hochrangiger UN-Diplomat solche Worte wählt,
({3})
dann sollte uns das zum Nachdenken bringen.
({4})
Es mag Ihnen nicht gefallen,
({5})
aber radikal, das ist die Klimakrise selbst. Die Radikalität der
Klimakrise steckt in der Konsequenz der Naturgesetze.
({6})
Der Meeresspiegel steigt; das ist Physik. Extremwetterlagen nehmen zu,
Ernten fallen aus. Die Klimakrise ist das größte Sicherheitsrisiko unserer
Zeit.
({7})
Deswegen müssen wir handeln. Ich weiß, darüber möchten Sie heute hier
nicht so gerne reden; aber genau darum geht es. Deswegen empfehle ich Ihnen:
Nehmen Sie sich mal 90 Minuten Zeit!
({8})
Sprechen Sie mal mit Klimawissenschaftlerinnen und
Klimawissenschaftlern, mit denjenigen, die erklären, was wirklich passiert, wenn
die Temperatur auf unserem Planeten um 3 Grad steigt! Unsere Welt wird eine
komplett andere sein.
Ich kann die Verzweiflung und auch die Wut der Menschen verstehen, die
sich sorgen, dass ihre Zukunft, dass unsere Zukunft von Dürren,
Überschwemmungen, Waldbränden und Hunger für Millionen Menschen bedroht
wird.
({9})
Und es ist nicht ganz überraschend, dass die jahrelange Verweigerung
echter Klimapolitik, die Verweigerung der Union, Menschen auf die Straße
treibt.
({10})
Wir Grüne sind uns der Dringlichkeit der Klimakrise bewusst.
({11})
Es ist verdammt viel nachzuholen nach 16 Jahren Regierung unter der
Führung der Union. Seit einem Jahr haben wir als Ampel mit raschem Tempo vieles
angeschoben und vieles beschleunigt: für den Klimaschutz, für den Ausbau der
Erneuerbaren, für die effiziente und sparsame Nutzung von Energie.
({12})
Um dieser Klimakrise Einhalt zu gebieten, arbeiten wir an der
Mobilitätswende, an der Wärmewende, für nachhaltige Landwirtschaft und den
Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Veränderungen, die Transformation,
sind die Voraussetzung für Klimagerechtigkeit.
({13})
Und ja, es ist auch noch viel zu tun. Insbesondere im Verkehrssektor
sind noch zahlreiche Maßnahmen umzusetzen, um saubere und sichere Mobilität zu
ermöglichen,
({14})
um das Überleben auf diesem Planeten zu sichern und Treibhausgase in
ausreichenden Mengen zu reduzieren.
Dabei sind wir uns in der Ampel nicht immer auf Anhieb einig.
({15})
Auch das ist Demokratie.
({16})
Oft ringen wir miteinander in der Ampel.
({17})
Wir ringen um das Tempo. Wir ringen um Ambitionen, und das ist
anstrengend.
({18})
Aber es ist nötig; denn wir tragen Verantwortung, und wir nehmen diese
Verantwortung in der Ampel an.
({19})
Und ja, die Zivilgesellschaft mischt sich ein. Die Zivilgesellschaft
fordert uns. Menschen messen uns, die Politik, an unseren eigenen Ankündigungen,
messen uns an geltenden Gesetzen und Versprechen, an internationalen Zusagen,
fordern Klimagerechtigkeit. Sie fordern, dass die Politik den Rahmen schafft,
damit die globale Temperatur auf nicht mehr als 1,5 Grad Celsius steigt.
({20})
Sie fordern uns auf, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen. Ich bin
überzeugt: Auch so manch kleine klimapolitische Entscheidung der
Vorgängerregierung brauchte zum Beispiel den Druck von über 1 Million
Schülerinnen und Schülern auf der Straße.
({21})
Vielfach wird diskutiert, welche Protestform der Klimaaktivistinnen
und Klimaaktivisten der Sache dient oder nicht. Auch mein Vorredner hat sich
daran versucht.
({22})
Aber ich muss sagen: Wer nicht über Klimaschutz sprechen will, wer
ablenken will, dem gelingt das sehr lautstark – und egal bei welcher
Gelegenheit.
({23})
Sie sind gerade wieder das beste Beispiel dafür. Das haben Sie als
Antragsteller dieser Aktuellen Stunde auch wieder sehr deutlich gezeigt.
({24})
Wer sich wünscht, dass die Klimabewegung Ruhe gibt oder wer
Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten erst mal ins Gefängnis schicken will –
präventiv –,
({25})
der löst das Problem der Klimakrise nicht; denn die Klimakrise wird
uns keine Ruhe lassen. Also hören Sie auf, sich der Realität zu verweigern.
({26})
Hören Sie auf, Klimaschutzpolitik zu diskreditieren.
({27})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Konsequente Klimaschutzpolitik ist die notwendige Antwort auf die
eskalierende Klimakrise.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist Wolfgang Kubicki für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel
der von der AfD beantragten Aktuellen Stunde lautete ursprünglich – darauf ist
hingewiesen worden –: Klima-Extremismus als Gefahr für Staat und Gesellschaft
anerkennen und jetzt konsequent und effektiv bekämpfen. – Was für ein Titel!
In der vorletzten Sitzungswoche wurde der Antrag der CDU/CSU mit dem
Titel „Straßenblockierer und Museumsrandalierer härter bestrafen – Menschen und
Kulturgüter vor radikalem Protest schützen“ besprochen.
({0})
Eine ähnliche Stoßrichtung mit einem feinen Unterschied. Frau von
Storch, ich weiß, dass Sie das schwer nachvollziehen können. Stellt die Union
die Taten in den Vordergrund, also das Blockieren und Randalieren, geht es der
AfD um den Klimaextremismus, also die Gesinnung. Während die „Letzte Generation“
glaubt, ihre vermeintlich noble Gesinnung rechtfertige ihr Vorgehen, glaubt die
AfD offenbar, diese Gesinnung mache sie erst besonders verdammungswürdig.
({1})
Beides ist Unsinn.
({2})
Aber die innere Haltung bei AfD und „Letzter Generation“ gleicht sich
erstaunlich, vielleicht weil auch einige AfD-Abgeordnete schon zu
grenzüberschreitenden Protestformen gegriffen haben sollen.
({3})
– Frau von Storch, mir ist nicht bekannt, dass bei Bündnis 90/Die
Grünen, FDP oder SPD verurteilte Straftäter in den Reihen sitzen.
({4})
Der Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf nur auf die
Taten schauen, ungeachtet politischer Verortung, und mit gleicher Konsequenz. Es
gibt aber auch eine politische und eine mediale Verantwortung. Keine Talkshow
und keine Debatte vergehen, ohne dass sich nicht irgendwer berufen fühlt, die
angeblich noblen Motive der Täter relativierend ins Feld zu führen.
({5})
Wenn dann noch ehemalige und aktive Funktionäre der Grünen die „Letzte
Generation“ mit dem Protest in der ehemaligen DDR oder heute im Iran
vergleichen, ist das nicht nur geschichtsvergessen, sondern geradezu
unerhört.
({6})
Denn niemand riskiert hier in Deutschland sein Leben, weil es einen
großen Unterschied macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob man gegen ein
Willkürregime auf die Straße geht oder in einem demokratischen Rechtsstaat.
Ungeachtet jedweder Motivation muss unsere politische Botschaft sein: Ihr seid
nichts Besseres als eure Mitbürgerinnen und Mitbürger, die euretwegen
aufgehalten werden, egal ob sie auf dem Weg zur Arbeit, zu ihren Liebsten oder
zu einer lebenswichtigen medizinischen Behandlung sind. Ihr setzt euch ins
Unrecht. Eure Handlungen richten Schaden an.
Wie klein ist die Münze eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn es darum geht, das 9‑Euro-Ticket wiederzubeleben oder ein Tempolimit auf
Autobahnen einzuführen? Dann enden die Blockaden und die Schmierereien?
Die „Letzte Generation“ stellt in Teilen die Demokratie als Staatsform
infrage. Das sage ich in allem Ernst: Das ist offensichtlich. Diese sei nicht
geeignet, so wird formuliert, die gewünschten Ergebnisse gegen den Klimawandel
zu erreichen.
Gleichzeitig wird deutlich: Diese Bewegung ist medial auch deutlich
überrepräsentiert. Die „Letzte Generation“ ist dabei auch das Resultat einer
politischen Kommunikation, die seit Jahren auf der Grundlage von Panikmache
versucht, politische Geländegewinne zu erzielen. Wer wirklich glaubt: „Die Welt
geht in wenigen Jahren unter“, und in dieser Ansicht aus dem politischen und
medialen Raum gespeist wird, der sieht sich legitimiert, Grenzen des
Rechtsstaats zu übertreten.
({7})
Wer wirklich glaubt, es gebe nur einen Weg, die Welt zu retten, der
muss Demokratie und Rechtsstaat abschaffen. Denn er muss verhindern, dass anders
gewählt wird, und er muss verhindern, dass Gerichte Menschen in den Arm
fallen.
Auch wenn der Vergleich mit der RAF ziemlich überzogen ist:
({8})
In jedem Radikalismus steckt auch ein Eskalationspotenzial.
({9})
Es ist staatliche Aufgabe, schnell eine klare, aber auch besonnene
Reaktion auf diese Herausforderungen des Rechtsstaats zu zeigen. Damit meine ich
insbesondere auch eine besonnene Reaktion.
Wenn der Chef des Verfassungsschutzes erklärt, eigentlich seien die
Klimakleber um die Demokratie besorgt, dann kann ich nur sagen: Wir haben in
letzter Zeit ziemlich Pech mit unseren Verfassungsschutzpräsidenten.
({10})
Denn die „Letzte Generation“ zeigt doch gerade, dass ihr demokratische
Entscheidungsprozesse völlig egal sind.
Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Frau Dr. Scheer: Es wäre Aufgabe der
jungen Menschen, sich in den Parteien zu engagieren und für Mehrheiten zu
werben, statt zu glauben, sie könnten mit ihren Aktionen gegen Mehrheiten
opponieren.
({11})
Ich will nicht unsere Definition von Humanität verschieben und
Sterbende und lebensgefährdete Personen als Kollateralschaden einer angeblich
höheren Sache ansehen. Wer Menschlichkeit für die eigenen politischen Ziele
beiseiteschiebt, hat jegliche gesellschaftliche Solidarität verloren.
Es ist nicht mutig, sich in Berlin auf die Stadtautobahn zu kleben und
damit den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen. Es wäre mutig, bei den
eigentlichen Klimasündern für entsprechende Aktionen zu sorgen – in anderen
Staaten. Zu glauben, dass wir in Deutschland mit einem 2‑Prozent-Anteil an den
CO2-Emissionen den Klimawandel allein bewerkstelligen können, ist ziemlich naiv
und zeigt den Realitätsverlust.
({12})
Das Problem für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie ist nicht
die „Letzte Generation“. Das sind weitgehend Menschen, die Gutes meinen, aber
teilweise eben nicht Gutes bewirken. Damit wird der demokratische Rechtsstaat
fertig. Das Problem ist, wenn diesen Menschen vonseiten des demokratischen
Spektrums aus der Politik, den Medien, der Justiz edle Motive unterstellt werden
und Regelbrüche und antihumanistische Aktionen verteidigt werden.
Relativierung von Straftaten führt nicht zur De- sondern zur
Eskalation. Das bereitet den Boden für Gewalt und untergräbt unsere Verfassung,
ist darauf ausgelegt, Interessenkonflikte nicht durch Wahlentscheidung unter
rechtsstaatlichen Verfahren auszugleichen, sondern im Zweifel durch Gewalt. Das
ist etwas, was wir politisch jedenfalls verdammen müssen.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist Mechthilde Wittmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Staatssekretärin! Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute, wie ursprünglich vorgesehen – Kollege Kubicki hat es
angesprochen –, das Wort „Klimaextremismus“ im Titel der Aktuellen Stunde gehabt
hätten, dann wäre das schon deswegen am Thema vorbeigegangen, weil ich nicht
glaube, dass es denjenigen, die sich auf Straßen festkleben und sonstigen
Vandalismus betreiben, wirklich um das Klima geht. Das sind Extremisten, denen
es darum geht, den Rechtsstaat zu verhöhnen und vor allen Dingen die Bürger in
diesem Rechtsstaat vorzuführen.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist bei uns ein hohes Rechtsgut, dass wir
unsere Meinung friedlich bei Demonstrationen frei äußern können, übrigens auch
bei Demonstrationen, die nicht zwingend vorher angemeldet worden sein müssen.
Und wir alle würden uns wünschen, dass dies in allen Ländern der Welt heute so
möglich wäre. Das bedeutet aber nicht, dass wir, wenn wir das Grundrecht aus
Artikel 8 unseres Grundgesetzes so nutzen, wie es derzeit der Fall ist, die
Freiheit haben, die Schranken zu überschreiten dahin, wo Freiheit und
Unversehrtheit anderer Menschen und Eigentum verletzt werden.
({1})
Meine Damen und Herren, diese organisierten Kleingruppen mit ihren
eventartigen Krawallaktionen definieren selbst ihre Taten als Straftaten, und
deswegen müssen sie sich, bitte schön, auch dem Rechtsstaat stellen.
({2})
Sie maßen sich an, selbst Staatsgewalt auszuüben und Zwang gegen
andere. Das ist für mich nichts anderes, als die freiheitlich-demokratische
Grundordnung infrage zu stellen.
({3})
Das Gleiche gilt, wenn ich sehe, dass vor dem Amtsgericht Tiergarten
oder dem Amtsgericht München Verteidiger, die ein unabhängiges Organ der
Rechtspflege sind – festgelegt in unseren Gesetzen –, einfach mal so Studenten
und befähigte Aktivisten sein sollen, die sich in keiner Form darum scheren,
welche Ordnung in unserer Judikative herrscht. Diese ist zu achten.
Die Judikative hat Recht gesprochen. Deswegen haben Sie nicht recht,
meine Damen und Herren von den Grünen. Diese Taten sind als Straftaten bereits
abgeurteilt,
({4})
und sie werden es weiterhin.
Ich sage Ihnen noch etwas: Wer sich gegen unsere Grundordnung wendet,
der macht Folgendes: Er wendet sich auch gegen unsere soziale Ordnung, und zwar
genau mit diesen Taten. Und wer sich gegen die soziale Ordnung wendet, handelt,
so die rechtspolitische Philosophie, in anarchistischer Absicht.
({5})
Und ich möchte in unserer Bundesrepublik Deutschland keine Anarchie
durch einige wenige erleben, die glauben, sie seien anderen moralisch überlegen,
weil sie ein 9‑Euro-Ticket oder ein Tempolimit haben möchten.
Ich kann da zitieren, was der Kollege vor mir gesagt hat: Wenn sie
wirklich Effekte erreichen wollen würden, würden sie da demonstrieren, wo es
einen erheblichen CO2-Ausstoß gibt,
({6})
erheblichen Handlungsbedarf gibt, wo es tatsächlich noch einen großen
Hebel gibt und nicht einen Hebel von 0,01 Promille; denn genau den könnten Ihre
Themen hier erreichen. Meine Damen und Herren, wenn ich mir überlege, wie hoch
allein der CO2-Ausstoß immer dann ist, wenn diese Staus verursacht werden, wenn
die Menschen im Stau stehen und den Motor laufen lassen müssen, dann haben sie
sich selbst ad absurdum geführt.
Lassen Sie mich zu dem Thema kommen, dass dies ein Hilfeschrei sein
soll oder politisches Gedankengut, das Einzug halten muss. Nein, das hat keinen
Einzug in unser Parlament zu halten. Was ich möchte, ist, dass diese Menschen
alle Regeln einhalten, die sie einhalten müssen, um ihre Interessen zu
vertreten. Das dürfen sie; dafür sind sie legitimiert. Aber sie sind nicht dafür
legitimiert, andere in Gefahr zu bringen, sei es dadurch, dass die
Rettungskräfte nicht durchkommen, oder sei es – bitte stellen Sie sich das
vor! – durch Abseilen von Autobahnbrücken, wodurch unschuldige Bürger auf einmal
mit einem Menschen konfrontiert sind, dem sie vielleicht gar nicht mehr
ausweichen können, und dann für ein Leben traumatisiert sind von einem Unfall,
den sie selbst niemals verschuldet haben.
Das Gleiche gilt für unsere Polizeibeamten, die unsere kritische
Infrastruktur, nämlich die Flughäfen, schützen wollen. Wenn heute jemand,
teilweise aus Versehen, die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen umgeht, dann
lösen wir aus Angst vor terroristischen Angriffen eine Vollblockade aus, und das
aus gutem Grund. Diese Menschen machen sich einen Spaß daraus, in diese
gesicherten Bereiche vorzudringen und unsere rechtschaffenden Polizisten, die
weiß Gott nicht im Wohlstand baden, dazu herauszufordern, eine Entscheidung
treffen zu müssen, ob das nun ein terroristischer Akt ist und zu welchen Mitteln
der Gegenwehr sie greifen müssen. Davor müssen wir auch unsere Polizistinnen und
Polizisten weiß Gott bewahren.
({7})
Wenn Sie, Herr Kollege Emmerich, von politischem Gewahrsam sprechen,
dann sage ich Ihnen mal eines: Niemand ist für zwei Stunden Festkleben 30 Tage
eingesperrt worden. Es erfolgte eine sofortige Freilassung. Auch hier wird ohne
Ansehen des Themas, sondern rein an den rechtsstaatlichen Gegebenheiten gewogen,
und wer ankündigt, Straftaten zu begehen – schwere Straftaten! –, den muss man
daran hindern, um die Gesellschaft zu schützen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist Helge Lindh für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich denke, man
kann in dieser Debatte nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, nachdem
wir eine Rede erlebt haben – und ich meine die Rede von Frau von Storch –,
({0})
die sich aus meiner Sicht eindeutig, unzweifelhaft der Rhetorik, wie
ich sie aus Reden des Reichspropagandaministeriums im Dritten Reich kenne,
bedient.
({1})
Das war eine unerträgliche, eine widerliche, von Antiamerikanismus und
auch antisemitischen Klischees durchsetzte Rede. Es ist eine Schande,
({2})
dass hier in diesem Parlament so gesprochen werden kann. Und wer wie
sie selbst aus einem elitären Hintergrund kommt und hier elitär privilegiert im
Bundestag sitzt, hat sich nicht über Frau Getty oder sonst wen
herabzulassen.
({3})
Es ist schändlich. Es ist wirklich nicht zu ertragen, dass so etwas
hier möglich ist, und wir müssen alles tun, dass im nächsten Parlament solche
Stimmen nicht mehr gehört werden können.
({4})
Zugleich zeigt das aber, wo Rechtspopulismus mündet und dass wir alles
tun müssen, um uns in dieser Debatte nicht zu Komplizen von Ihnen zu machen;
denn Ihr Manöver und Ihre Absicht sind wirklich durchschaubar.
Ansonsten – wenn man das mal außen vor lässt – stelle ich aber bei
dem, was man in Social Media, aber auch in Teilen dieser Debatte wahrnimmt,
fest, dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
erstaunlicherweise mehr Nüchternheit und einen progressiveren Blick auf Protest
und auch Formen von zivilem Ungehorsam zeigt
({5})
als manche prominente Mitglieder der politischen Kultur Deutschlands.
Das ist eine interessante Erkenntnis. Das macht mir Hoffnung in Bezug auf den
Verfassungsschutz; denn er hat recht mit seiner Aussage.
({6})
Es ist eben nicht aus Strafbarkeit automatisch Extremismus zu folgern.
Ich verstehe nicht, warum man nicht nüchtern über die Frage der juristischen
Beurteilung sprechen kann. Genau das hat Herr Haldenwang gemacht. Er hat eben
nicht gesinnungsjuristisch gesprochen, sondern als sachlicher
Verfassungsschutzpräsident.
({7})
Deshalb ist er keine Fehlbesetzung; das sehe ich in diesem Fall anders
als Herr Kubicki. Wir haben Glück, dass wir einen solchen
Verfassungsschutzpräsidenten haben – im Gegensatz zu seinem Vorgänger.
({8})
Ich finde es aber darüber hinaus erstaunlich, wie sich genau die von
rechts außen, die immer einen Kult der Empörung und Cancel Culture beklagen, als
Großmeister der Empörung offenbaren und eben auch genau diese Cancel Culture
betreiben; denn das werden Sie machen.
({9})
Jeder, der versucht, zu analysieren, der auch versucht, nach Gründen
zu suchen, warum die „Letzte Generation“ und andere so auftreten, den prangern
Sie an als Verteidiger von Gewalt, als Apologeten des Terrorismus.
({10})
Ich habe aber viele Shitstorms erlebt. Deshalb freue ich mich auf Ihr
Anprangern, und es kümmert mich nicht die Bohne. Ich kann damit gut leben.
({11})
Außerdem ist es interessant, dass Sie in der Beantragung dieser
Aktuellen Stunde die Klimaproteste insgesamt nicht nur als Extremismus, sondern
letztlich auch als eine überaus große Gefährdung der Demokratie darstellen.
({12})
Sie selbst, werte AfD, haben zur Demokratie folgendes Verhältnis: rein
usurpatorisch, rein utilitaristisch, rein parasitär. Sie nutzen diese
Demokratie, höhlen Sie aus, profitieren von ihr, aber Sie tragen nichts zu ihrem
Gedeihen bei.
({13})
Darüber hinaus und jenseits all dessen finde ich es aber frustrierend,
ja teilweise auch enttäuschend, wie auf Plattformen wie Twitter usw. gesprochen
wird und wie diejenigen, die legitimerweise fragen können: „Ist die Demokratie
durch Klimaproteste und Klimaaktionen gefährdet oder auch nicht?“,
({14})
dann selbst fordern, diese Leute wegzusperren, und sagen, sie gehörten
einfach weg, und dabei Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats
verletzen. Wir haben eine Gewaltenteilung, und im Rechtsstaat richten
Richterinnen und Richter und richten nicht wir als Parteien, richtet nicht der
inszenierte Mob auf der Straße. Das ist unser Rechtsstaat, das ist unser
Prinzip.
({15})
Deshalb ist es – ich komme zum Ende – für mich auch Ausdruck einer
gewissen Chuzpe und letztlich eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Herr
Scheuer die Bundesinnenministerin und den Justizminister auffordert, die jungen
Aktivisten und Aktivistinnen der „Letzten Generation“ wegzusperren,
({16})
und sagt, sie müssten Konsequenzen spüren. Das sagt jemand, der –
übrigens interessanterweise auch noch beim Thema Verkehr – nun wirklich das
Nichtübernehmen und Nichtspüren von Konsequenzen und Verantwortung zur Kunstform
erklärt hat.
({17})
Zum Abschluss: Ich bitte darum, mal darauf zu achten, wie so eine
Debatte auf junge Menschen um uns herum wirkt.
({18})
Das ist doch das Entscheidende: nicht diejenigen, die gewalttätig
sind, sondern diejenigen, die sich das angucken.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Für diejenigen ist es zutiefst abschreckend, wenn wir null Gespür
und Gefühl für junge Generationen zeigen, aber mit altherrenwitzartigem,
bräsigem Auftreten belehrend, paternalistisch agieren.
({0})
So werden wir den Klimaschutz gewiss nicht in seinem Ernst
begreifen.
Vielen Dank.
({1})