Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte gestern Nachmittag die Gelegenheit, ein Start-up-Unternehmen in Berlin-Wedding zu besuchen. Das Unternehmen heißt „Facturee“. Es ist ein Unternehmen, das mittels einer digitalen Plattform Zulieferteile für Maschinenbauunternehmen vermittelt. Das Unternehmen hat 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und hat sich in den letzten Jahren entschieden, fünf langzeitarbeitslose Menschen einzustellen, langzeitarbeitslose Menschen, die vom sozialen Arbeitsmarkt mit Lohnkostenzuschüssen profitieren. Ich habe gestern auch die Gelegenheit gehabt, mit drei dieser Menschen zu sprechen. Darunter war ein Mann, der sage und schreibe 15 Jahre lang arbeitslos war, und das nicht, weil er zu faul war, sondern weil er einen Schicksalsschlag hatte. Er hatte Bankkaufmann gelernt, er hat gearbeitet, er ist dann erkrankt, hat seine Arbeit verloren – es war eine langwierige Erkrankung. Es ging ihm irgendwann gesundheitlich besser, aber er hat sich in langen Jahren der Arbeitslosigkeit die Finger wund geschrieben, ohne wieder eine Chance auf Arbeit zu bekommen – weil er zu lange draußen war. Er hat mal eine Maßnahme bekommen, Bewerbungstraining, aber hat nicht wirklich Arbeit finden können.
Meine Damen und Herren, dieser Mann ist heute in der Buchhaltung des Unternehmens. Er ist ein wertvoller Mitarbeiter in Zeiten, in denen händeringend Arbeits- und Fachkräfte gesucht werden. Was wir mit dem Bürgergeld machen, ist, dass wir den sozialen Arbeitsmarkt entfristen, damit wir Menschen wie diesem Mann eine Chance auf selbstbestimmtes Leben in Arbeit geben.
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Das Bürgergeld, meine Damen und Herren, ist die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren. Wir als Bundesregierung, als Koalition verfolgen damit vor allen Dingen zwei Ziele. Ja, es geht darum, dass Menschen, die in existenzielle Not geraten sind, verlässlich und so unbürokratisch wie möglich abgesichert werden. Aber das reicht uns nicht; wir wollen nicht nur Schutz geben in Zeiten der Not. Wir wollen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben schaffen – ich habe es eben am Beispiel dieses Mannes am sozialen Arbeitsmarkt beschrieben.
Wir sagen das auch mit Blick auf die Realität der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland. Wenn es heute so ist, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keinen Berufsabschluss haben und sie im alten Hartz-IV-System hin und wieder in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, aber das Jobcenter sie nach ein paar Monaten wiedersieht und sie nicht dauerhaft, nicht nachhaltig in Arbeit vermittelt werden, dann ist im System was falsch. Mit dem Bürgergeld ändern wir das. Wir schaffen die Chance, dass Menschen nicht in Hilfstätigkeiten vermittelt werden müssen, sondern einen Berufsabschluss nachholen können, um dauerhaft in Arbeit zu sein. Das ist auch ein Beitrag zur Fachkräfte- und Arbeitskräftegewinnung.
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Mit dem Bürgergeld reagieren wir auf zwei fundamentale Veränderungen. Erstens ist der Arbeitsmarkt heute ein völlig anderer als vor 20 Jahren. Damals hatten wir Massenarbeitslosigkeit, heute in vielen Bereichen Arbeits- und Fachkräftemangel. Zweitens ist es wichtig, aus den Erfahrungen der Krisen der letzten Jahre und auch der aktuellen Krise zu lernen, wenn es darum geht, für weniger Bürokratie im System und für mehr Respekt für die Menschen zu sorgen.
Für Notlagen, meine Damen und Herren, brauchen wir Lösungen, die funktionieren – so unbürokratisch und so bürgerfreundlich wie möglich. Wir sorgen mit dem Bürgergeld dafür, dass wir überflüssige Bürokratie in den Jobcentern abbauen, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter, die übrigens eine hervorragende Arbeit leisten, sich tatsächlich auf das Wesentliche konzentrieren können.
Ein Beispiel hierfür ist das, was die Jobcenter immer gefordert haben: eine Bagatellgrenze für Kleinstbeträge, wo Menschen mit Bescheiden belästigt und überzogen werden. Da lohnt weder Aufwand noch Nutzen. Das schaffen wir ab.
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Vor allen Dingen aber, meine Damen und Herren, sorgen wir für angemessenen Schutz. Ein wichtiger Teil der Reform ist die Erhöhung des Regelsatzes. Es geht beim Bürgergeld darum, mit der Erhöhung und Anpassung der Regelsätze der Inflationsentwicklung zukünftig nicht mehr hinterherzulaufen. Das ist gerade jetzt besonders wichtig.
Aber ich sage auch klar und deutlich: Damit kann es nicht getan sein. Die Qualität eines Sozialstaats bemisst sich nicht allein an der Höhe des sozialen Transfers; sondern die Qualität des Sozialstaats bemisst sich vor allen Dingen daran, wie sehr er in der Lage ist, Menschen zu einem selbstbestimmten Leben in Arbeit zu bringen.
Ich sage es noch mal am Beispiel des Mannes, den ich eingangs genannt habe. Er hat mir erzählt, was er in den 15 Jahren erlebt hat, wie er sich die Finger wund geschrieben hat, wie ihm die Decke auf den Kopf gefallen ist. Dem Mann geht es heute besser – in Arbeit. Er sagt: Ich fühle mich wertgeschätzt. Ich leiste was. Ich habe Kolleginnen und Kollegen.
Meine Damen und Herren, für die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist Arbeit mehr als Broterwerb.
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Es ist Geldverdienen, aber auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Somit sorgen wir auch mit dem Bürgergeld dafür, dass Leistung sich lohnt.
Und wir setzen Anreize, einen Berufsabschluss nachzuholen; wir ermöglichen das nicht nur. Wer das einmal erlebt hat, weiß: Menschen, die einen Berufsabschluss verpasst haben und sich dann wieder aufrappeln – das ist sehr anstrengend. Wir wollen, dass Leistung zählt und dass das auch mit finanziellen Anreizen belohnt wird – mit dem Weiterbildungsgeld.
Wir werden dafür sorgen – und da bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass wir uns darauf verständigt haben –, dass wir im Bürgergeld Zuverdienstgrenzen erhöhen, damit Leistung sich lohnt. Das war nicht nur ein Anliegen der FDP, aber die FDP hat sich besonders dafür eingesetzt. Ganz herzlichen Dank dafür!
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Und jetzt, meine Damen und Herren, muss ich an die Adresse der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mal meine Verwunderung zum Ausdruck bringen,
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dass Sie heute in den Antrag stellen, dass nur der Regelsatz erhöht wird. Wenn Sie wochenlang rumlaufen und sagen: „Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit nicht mehr“, und gleichzeitig nur den Regelsatz erhöhen, dann ist da ein gewisser logischer Bruch, um es ganz deutlich zu sagen.
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Das merken Sie selbst schon, Herr Merz.
Arbeit muss einen Unterschied machen. Arbeit muss sich lohnen in Deutschland. Und dafür sorgt die Koalition. Deshalb haben wir den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht –
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die CDU/CSU hat nicht mitgestimmt. Deshalb kämpfen wir für mehr Tarifbindung, und wir brauchen auch da noch ein bisschen Unterstützung. Da kann die Union sich auch verdient machen.
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Deshalb haben wir das Wohngeld heute auf der Tagesordnung, gerade in diesen Zeiten. Deshalb entlasten wir Geringverdiener bei Beiträgen und Steuern. Denn: Arbeit muss einen Unterschied machen.
Aber in diesen Zeiten, in denen die gesellschaftliche Stimmung aufgrund der Krise angespannt ist, werden und dürfen Demokratinnen und Demokraten es nicht zulassen, dass geringverdienende Menschen gegen bedürftige Menschen ausgespielt werden.
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Wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick haben und dieses Land zusammenhalten, meine Damen und Herren.
Ich will mich noch mit zwei Kritikpunkten auseinandersetzen, die heute auch vorgetragen werden: zum einen die sogenannte Karenzzeit, in der wir uns, wenn Menschen bedürftig geworden sind, die Angemessenheit des Wohnraums nicht angucken. Wir wollen Menschen, die in Not geraten sind, nicht verunsichern, dass sie auch noch ihre Wohnung verlieren. Vielmehr sollen sie sich darauf konzentrieren können, wieder in Arbeit zu kommen.
Und richtig: Wir greifen auch kleines Erspartes nicht an. Das haben wir übrigens mit der Union vor zwei Jahren mal eingeführt,
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weil wir da in der Krise erlebt haben, wie das ist, wenn Soloselbstständige beispielsweise auf einmal in Not geraten und dann ihr ganzes Erspartes aufbrauchen müssen. Das ist auch eine Frage des Respekts vor Lebensleistung. Leistung muss sich lohnen in Deutschland, meine Damen und Herren.
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Dann wird noch behauptet, es gebe keine Sanktionen mehr. Richtig ist, dass wir die Sanktionen und Mitwirkungspflichten auf die Bereiche konzentrieren, auf die hartnäckigen Fälle, in denen das notwendig ist. Aber der Geist des Bürgergelds, meine Damen und Herren, ist nicht der, dass wir alle Menschen, die langzeitarbeitslos sind, unter Verdacht stellen, zu faul zu sein, zu arbeiten. Die meisten wollen arbeiten. Der Geist des Bürgergelds ist der der Solidarität, des Zutrauens, der Ermutigung. Deshalb haben wir gute Gründe, das heute zu beschließen.
Am Montag ist der Bundesrat dran. Vielleicht gibt es eine Mehrheit dafür. Wir haben gute Argumente, zu überzeugen. Unsere Hand ist ausgestreckt. Wir haben viele Anträge des Bundesrates übernommen, auch von unionsgeführten Ländern. Ich hoffe da auf Vernunft statt auf Parteitaktik.
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Denn da sitzen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und nicht Mitarbeiter einer Parteizentrale.
Aber falls es am Montag noch keine Mehrheit im Bundesrat gibt, wird die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss anrufen. Dann haben wir die Gelegenheit, in einem schnellen Verfahren dafür zu sorgen, dass das Bürgergeld am 1. Januar 2023 in Kraft tritt. Es wird dann gestuft umgesetzt, damit die Jobcenter nicht überlastet werden. Wichtig ist, meine Damen und Herren, dass wir die im Blick haben, um die es geht: die Menschen, die jetzt auf das Bürgergeld angewiesen sind.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Hermann Gröhe.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ja, Herr Minister, es geht um Menschen wie den von Ihnen genannten Langzeitarbeitslosen, die wir besser in Arbeit vermitteln, besser unterstützen wollen. Deswegen ist es richtig, dass Sie den sozialen Arbeitsmarkt, den wir gemeinsam geschaffen haben, entfristen. Aber es ist völlig verfehlt, dass Sie im Bereich der Integration in Arbeit 600 Millionen Euro kürzen wollen.
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Tun Sie doch nicht so, als helfe ein neuer Name, wenn Sie beim Geld für die Jobcenter kürzen!
Für uns als Union war stets klar: Vorfahrt für Vermittlung. Wir halten am Fordern fest; aber wir müssen beim Fördern besser werden.
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Wir wollen nicht, dass alles so bleibt, wie Sie es permanent unterstellen.
Bis heute verweigern Sie jede sachliche Debatte über die grundsätzlichen Webfehler Ihres Gesetzes. Ich dachte zunächst, das sei die Ampelangst vor Argumenten. Inzwischen weiß ich: Sie haben sogar vor unseren Fragen Angst.
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Es ist doch ungeheuerlich, dass Sie es der Opposition verweigern, den Bundesrechnungshof in einer Anhörung dieses Parlaments zu befragen – eine Institution, deren Mitgliedern das Grundgesetz richterliche Unabhängigkeit zuschreibt.
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Sie wollen diese Antworten nicht im Parlament hören. Unglaublich!
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Glauben Sie eigentlich im Ernst, die Arroganz der Mehrheit im Bundestag erhöht die Chancen auf eine Mehrheit im Bundesrat? Wer empfiehlt Ihnen eigentlich so absurde Strategien? Das ist doch unglaublich.
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Ja, die Zeit wird knapp. Wir wollen am 1. Januar bessere Bedingungen für die Menschen, die langzeitarbeitslos sind.
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Aber der Kabinettszeitplan ist der Kabinettszeitplan der Ampel; der Parlamentszeitplan ist der Parlamentszeitplan der Ampel. Wir haben zu keiner Zeit irgendetwas verzögert. Im Gegenteil: Es waren die Arbeitsministerinnen und ‑minister der Union, die vor einer Woche an Sie als Fraktionen der Ampel geschrieben haben, um welche grundsätzlichen Bedenken es ging.
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Wir wollten uns ein Vermittlungsverfahren ersparen; wir wollten Ihnen die Gelegenheit geben, sich zu korrigieren. Sie haben sie ungenutzt verstreichen lassen.
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Trotz aller persönlichen Herabsetzungen sei mal darauf hingewiesen: Die Personalräte der Jobcenter drängen auf eine Verschiebung.
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– Lesen Sie den Brandbrief! – Sie drängen darauf – –
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– Nein, ich weiß, dass Sie das – –
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– Herr Dürr, also auf dem Schulhof gilt: Wer brüllt, hat unrecht. – Für Herrn Dürr gilt das sogar im Parlament.
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Meine Damen, meine Herren, also das ist originell.
Also, jetzt lassen Sie mich mal etwas zu den Personalräten sagen. Dass die FDP sich nicht dafür interessiert, ist ja in Ordnung. Aber so kaltschnäuzig, wie die SPD mit diesen Personalräten umgeht, sollten Sie aufhören, andere über Mitbestimmung zu belehren. Das ist die Wahrheit!
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Da schreiben Ihnen Personalräte, dass die Kolleginnen und Kollegen den Tränen nahe sind, und schlagen vor, die Regelsatzerhöhung vorzuziehen. Das ist der Vorschlag von Friedrich Merz. Sie wischen dies vom Tisch.
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Meine Damen, meine Herren, wir sind für die möglichst zeitnahe Erhöhung; darum geht es. Es geht niemandem darum, irgendjemanden gegeneinander auszuspielen. Es geht darum, ein Ja zu den höheren Regelsätzen zu haben und die Lage der Menschen mit geringem Einkommen in den Blick zu nehmen.
Herr Klingbeil, ich zitiere einen Ihrer Vorgänger, Sigmar Gabriel. Er sagt, er sei kein besonderer Fan des Bürgergelds. Dann geht es weiter: Es führe dazu – Zitat Gabriel –, „dass diejenigen, die als wenig Qualifizierte im Handwerk arbeiten, im Zweifel keinen ökonomischen Anreiz mehr haben, arbeiten zu gehen“. Ihr Vorgänger! Bei Ihrem Niveau müssten Sie jetzt „Genosse Trump“ sagen.
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Das ist nur arg peinlich.
Und Christian Lindner erklärt, wenn der Regelsatz steige, dann müsse der Grundfreibetrag erhöht werden. Damit räumt er genau ein, dass wir recht haben.
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Ich befürchte nur, der FDP-Vorsitzende Lindner würde ihm vorwerfen, das sei ein Schäbigkeitswettbewerb. So ist das, wenn man ein bisschen schizophren argumentiert.
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Sie wollen es heute ablehnen, den Regelsatz zu erhöhen. Aber dann haben Sie am Montag kein Recht, die Länder damit unter Druck zu setzen, man müsse Ihrem Gesetz uneingeschränkt zustimmen, sonst enthalte man Arbeitslosen die fällige Erhöhung vor.
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Ab heute gibt es eine Namensliste: Wer war dafür, und wer war dagegen? Das ist sehr eindeutig.
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Da Sie am liebsten schreien, sage ich Ihnen: „Mit Denkverboten kommen Sie nicht weiter“, und ich sage sehr deutlich: „Wir wollen nicht lediglich eine Erhöhung der Regelsätze. Wir haben Vorschläge gemacht – –
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– Wir lehnen auch nicht alles bei Ihnen ab, um das klar zu sagen.
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Zum Erhöhen der Hinzuverdienstgrenzen haben wir uns als Unionsfraktion bekannt.
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– Nein, das stimmt einfach nicht. – Aber Sie packen die zentralen Webfehler des Gesetzes nicht an.
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Es geht eben im Kern um ein Schonvermögen bei einer Bedarfsgemeinschaft mit zwei Kindern von 150 000 Euro,
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das man besitzen und trotzdem Bürgergeld bekommen kann. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kann von einem solchen Vermögen nur träumen.
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Und wissen Sie was? Sie gefährden damit die Fairness. Sie gefährden damit die Fairness in diesem Land.
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Aber was viel schlimmer ist: Sie gefährden damit die Chancen auf Vermittlung in Arbeit.
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Erlauben Sie mir, einen Landrat zu zitieren:
Es ist unerklärlich, dass in einer Zeit, in der die Gesellschaft zur Bewältigung von Krisen und ihren Aufgaben zwingend das Arbeitskräftepotenzial erhöhen muss, die Wege aus der Arbeitslosigkeit eingeschränkt und die Wege in die Arbeitslosigkeit erleichtert werden.
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Dieser Landrat, Peter Bohlmann, ist Mitglied der SPD in Niedersachsen, Herr Klingbeil – wahrscheinlich auch so ein „Genosse Trump“.
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Es ist doch ungeheuerlich: Sie preisen sich für die angeblich größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren; aber Sie wischen weg die Kritik des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Sie wischen weg die Kritik des Deutschen Städtetages. Sie wischen weg die Kritik des Landkreistages.
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Wie viel ideologische Verbohrtheit braucht man eigentlich, um so mit der Kritik derjenigen umzugehen, die unseren Sozialstaat vor Ort tragen?
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Mit dieser Arroganz bringen Sie den Sozialstaat nicht nach vorne; mit dieser Arroganz werden Sie scheitern.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Britta Haßelmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über eine der größten Sozialreformen der letzten Jahrzehnte, nämlich das Bürgergeld, ist eine sehr wichtige, und sie wird sehr kontrovers geführt.
Lieber Hermann Gröhe, ich habe Sie hier schon sehr oft reden gehört, und ich schätze Sie sehr.
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Aber Ihre Rede hat gezeigt, wie schwer es Ihnen fällt, die Position von Friedrich Merz und Söder zu vertreten.
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Meine Damen und Herren, wer keine Argumente in der Sache hat, verliert sich im Verfahren,
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und das wird dem Anliegen, das mit dem Bürgergeld verbunden ist, den vielen Menschen, die davon profitieren werden und die betroffen sind, in keiner Weise gerecht.
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Und eins steht auch fest: Friedrich Merz spitzt zwar die Lippen öffentlich, ergeht sich in Vorurteilen gegenüber Menschen, die betroffen sind, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, die arm sind, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, schürt Sozialneid ohne Ende – eine solche soziale Kälte in Krisenzeiten: kaum zu ertragen und verantwortungslos –,
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aber hier im Parlament kneift er heute.
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Es ist auch einfacher, Interviews zu geben, bei denen keiner widersprechen kann, meine Damen und Herren.
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Denn heute wären wir mit Ihren Argumenten, die Sie öffentlich anführen, und mit Ihnen hier scharf ins Gericht gegangen.
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Aber es geht halt um die Lebenswirklichkeiten; die sind in diesem Land verschieden. Wie soll sich jemand, der in einer ganz anderen Lebenswirklichkeit lebt und sich vielleicht überlegen muss, ob er zur Party mit dem Privatjet oder mit dem Auto oder dem Zug kommt,
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in die Lebenswirklichkeit einer alleinerziehenden Frau versetzen,
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die überlegen muss, ob sie ein paar neue Turnschuhe für das Kind kaufen kann oder ob sie vielleicht heute einen Ausflug in eine Eisdiele machen kann und mehr als drei Kugeln Eis für ihre drei Kinder drin sind?
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Da kann man auch nicht erwarten, dass man sich da hineinversetzen kann. Aber was ich von Ihnen erwarte, ist Respekt,
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Respekt vor der Lebenslage eines jeden Menschen, und den haben Sie nicht.
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Meine Damen und Herren, das Bürgergeld ist viel mehr als eine Regelsatzerhöhung, und deshalb beschließen wir es heute auch insgesamt.
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Es ist Reform des Arbeitsmarktes. Es wird Veränderungen bringen;
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denn das Bürgergeld schafft Qualifizierung und Weiterbildung. Es schafft Perspektiven für Menschen. Selbstverständlich geht es um Vermittlung. Aber es geht nicht mehr einfach nur um bloße Vermittlung, sondern um Qualifizierung und Beschäftigung. Es geht um Fortbildung, es geht um Kooperationsperspektiven.
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Wenn man vom Thema keine Ahnung hat, dann kann man das vielleicht nicht sehen.
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Aber es ist der Ansatz, die Brücke für Menschen in den Arbeitsmarkt zu verbessern, indem man ihnen Qualifizierung und Weiterbildung gibt
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und nicht einfach nur auf prekäre Arbeits- oder Hilfsarbeitsangebote setzt. Das ist mit der Bürgergeldreform verbunden, und dagegen kann niemand sein.
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Wenn man die Rede von Karl-Josef Laumann im Bundesrat gehört hat, ist klar: Er hat Hubertus Heil doch gerade bei diesem Punkt unterstützt: Wir brauchen mehr Qualifizierung, Weiterbildung, wir brauchen Fortbildung und, und, und.
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Das alles sind wichtige Maßnahmen; von denen ist auf dieser Seite nichts mehr zu hören; denn Sachargumente spielen keine Rolle, meine Damen und Herren.
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Es ist auch eine enorme Chance zur Entbürokratisierung. Es ist eine enorme Chance auch für Wirtschaft, Handwerk und Industrie; denn die warten alle auf Facharbeitskräfte. Wir haben eine Fachkräftekrise in dieser Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, diese beiden Fragen zu verknüpfen. All das ist mit dem Bürgergeld verbunden, und Sie wissen es im Kern auch, meine Damen und Herren.
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Die Anpassung der Regelsätze in dieser Krisenzeit ist natürlich mehr als notwendig; denn viele der Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, wissen doch am 20. des Monats nicht mehr, wie sie angesichts der Verteuerung der Lebenssituation bis zum 31. kommen.
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Deshalb, meine Damen und Herren, ist es insgesamt ein gutes Paket, eine soziale Reform, die eben auf Vermittlung, auf Qualifizierung und Beschäftigung, auf Ermutigung und Hilfe setzt. Deshalb lassen Sie uns darüber weiter diskutieren. Wir hoffen auf die Zustimmung und Unterstützung vieler.
Danke.
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Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Norbert Kleinwächter.
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Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen an der Seite derer, die hart arbeiten,
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die einen Schicksalsschlag erleiden und dann auf unsere Hilfe angewiesen sind. Deswegen befürworten wir die Erhöhung des Regelsatzes im SGB II, meine Damen und Herren.
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Denn es sind nicht unsere Arbeitslosen, die für diese völlig irren Preissteigerungen verantwortlich sind. Die Verantwortung dafür tragen unsere Bundesregierung, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank mit ihrer völlig wirren Niedrigzins- und Transformationspolitik, und vor dieser Politik müssen wir die Menschen und unsere Arbeitslosen auch schützen.
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Aber das Bürgergeld geht noch viel weiter. Das Bürgergeld hilft nicht denen, die arbeiten wollen, hilft nicht denen, die Leistung zeigen wollen. Das Bürgergeld unterstützt diejenigen, die nicht arbeiten wollen,
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und deswegen ist es unsozial. Sie bringen Leistungen an Leute aus, die nicht arbeiten wollen, auf Kosten und zulasten derer, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, einstempeln, ausstempeln, die Verantwortung in ihren Berufen tragen, die auch ein Risiko in ihren Berufen eingehen: ihr Risiko, einen Job zu verlieren, ihr Risiko, vielleicht ihren Wohlstand zu verlieren, wenn sie selbstständig sind, ihr Risiko, ihre Gesundheit zu verlieren. Ein Risiko geht ein Bürgergeldempfänger nicht ein, meine Damen und Herren.
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Schauen wir uns doch mal die Verbesserungen an – Sie nennen das ja so –, die Sie da vorschlagen.
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Wem nützt es denn, dass man ein Einfamilienhaus im Münchner Nobelvorort mit 140 Quadratmetern Wohnfläche und einem Wert von über 1 Million Euro behalten kann? Ist dieser Mensch bedürftig? Nein, er ist es nicht.
Wem nützt es denn, dass man in unbegrenzter Höhe Wohn- und Heizkosten – jetzt nennen Sie es „Übernahme angemessener Heizkosten“ – bei einer unangemessenen Wohnfläche beziehen darf, dass man das alles machen darf? Das nützt doch nicht demjenigen, der schon immer angemessen und vernünftig gewohnt hat, meine Damen und Herren.
Und wem nützt es, dass man sich sechs Monate lang vor seine Jobcentermitarbeiterin setzen kann, sie breit angrinsen kann, sagen kann: „Ich habe keine Lust“, und es passiert genau gar nichts? Das hilft nicht denjenigen, die arbeiten wollen; das hilft nur denjenigen, die nicht arbeiten wollen. Deswegen ist Ihr Bürgergeld keine Reform des Sozialstaates, sondern eine Beleidigung des Sozialstaates.
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Wie simpel Grün-Rot denkt, hat Frau Haßelmann gerade dargestellt. Aber dass ich ausgerechnet der FDP mal die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenhalts erklären müsste, hätte ich mir nicht gedacht, aber ich tue es trotzdem. Unsere Gesellschaft basiert auf einem ständigen Geben und Nehmen. In der Wirtschaft, im Handel, in der Arbeit: Man gibt Leistung, man bekommt ein Gehalt. In der Schule: Man gibt Aufmerksamkeit, man bekommt Bildung. Nur im Bürgergeld gibt man gar nichts, und man bekommt trotzdem, meine Damen und Herren. Man bekommt sogar so viel, dass ein Niedriglohnempfänger fast schlechter dasteht als ein Bürgergeldempfänger.
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Da müssen wir uns doch nicht wundern, Frau Nasr, da müssen wir uns doch nicht wundern, dass Leute, statt selber auf den Bau zu gehen, lieber bei RTL II anderen beim Bauen zugucken.
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Nur: Davon profitiert unsere Wirtschaft nicht. Wir haben fast 1 Million offene Stellen im niedrig- und unqualifizierten Bereich, und Sie reden von Qualifizierung, übrigens auch für diejenigen, die sich nie haben qualifizieren wollen.
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Wissen Sie, was das Schlimme ist? Mit dem Bürgergeld helfen Sie niemandem, der wirklich Hilfe braucht. Sie verhöhnen diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, und Sie stigmatisieren diejenigen, die wirklich nicht arbeiten können. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung werden die doch in einen Topf geworfen
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mit all den Couch-Potatos, die eben nicht nicht können, sondern die nicht wollen. Ein Sozialsystem muss diejenigen schützen, die arbeiten, denjenigen helfen, die es nicht können, und diejenigen motivieren, die es nicht wollen.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Johannes Vogel.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie lebt vom Wettstreit der Argumente, und die Opposition soll deswegen natürlich die Koalition kritisieren, auch beim Bürgergeld. Nehmen wir das Beispiel Schonvermögen. Wir sind der Meinung, dass ein Selbstständiger, wenn er zum Beispiel durch einen Schicksalsschlag auf die Grundsicherung angewiesen ist, nicht als Erstes seine Altersvorsorge aufbrauchen soll.
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Sie sehen das anders. Das ist Ihr gutes Recht. Darüber können wir hier streiten.
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Es macht aber einen zentralen Unterschied – das ist mir bei dieser Debatte wirklich wichtig –, ob man ein alternatives politisches Urteil fällt oder ob man alternative Fakten erfindet.
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Das haben wir hier in der Bürgergelddebatte erlebt.
Wir brauchen in der Demokratie – das ist mir wirklich ernst – eine gemeinsame Debattengrundlage auf Basis von Fakten.
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Mir liegt hier der sitzungswöchentliche Brief von Friedrich Merz aus der letzten Sitzungswoche, erste Lesung Bürgergeld, vor, wo sich schwarz auf weiß Aussagen finden, die wir auch die letzten Tage immer wieder in der Debatte gehört haben:
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Mit dem Bürgergeld soll eine sechsmonatige sanktionsfreie Karenzzeit eingeführt werden, sagen Sie, Herr Merz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht nicht wahr. Es stimmt nicht.
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Es gibt keine sanktionsfreien Zeiten im Bürgergeld,
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sondern 80 Prozent der Sanktionen werden auch in den ersten sechs Monaten weiter verhängt, danach sogar das volle, verfassungsrechtlich mögliche Maß. Das ist kein Geheimnis. Kolleginnen und Kollegen der Grünen hätten sich das anders gewünscht. Das ist in einer Demokratie auch okay. Aber wer etwas anderes verbreitet, der verbreitet Fake News, und das geht nicht in einer demokratischen Debatte.
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Ein weiteres Zitat aus Ihrem Brief: Die Regelsätze sollen über die Inflationsanpassung hinaus angehoben werden. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht nicht wahr. Es stimmt nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. An der Berechnungsmethode für die Regelsätze ändert sich nichts. Zu Recht gleichen wir die Inflation nicht mehr erst anderthalb Jahre später aus. Das ist auch eine Frage der Fairness. Und ja, es ist bekannt: Manche Kolleginnen und Kollegen aus Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen hätten sich eine andere Berechnungsmethode gewünscht.
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Aber das steht nicht im Gesetzentwurf, den wir hier beraten.
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Vollends schizophren wird es, wenn Sie behaupten, durch das Bürgergeld lohne sich Arbeit in Deutschland nicht mehr. Erstens ist das in jedem einzelnen Fall falsch. Zweitens polemisieren Sie damit gegen eine Berechnungsmethode für die Regelsätze, die eine CDU-Ministerin selber eingeführt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch schizophren und unredlich.
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Vollends verrückt wird es dann mit Ihrem Move dieser Woche, dass Sie die Regel- –
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– Ich nehme gerne eine Zwischenfrage.
Das wollte ich Sie gerade fragen. Sie dürfen also, Herr Kleinwächter.
Werter Kollege Vogel, Sie haben gerade kritisiert, dass von der Oppositionsseite vorgetragen wird, Arbeiten lohne sich im Bürgergeldbezug nicht mehr. Sie sagen, es lohne sich immer. Sind wir uns einig, dass „lohnen“ prinzipiell schon mal eine subjektive Kategorie ist? Sind wir uns zudem einig, dass jemand, der einen Mindestlohn verdient, Vollzeit arbeitet und bei 1 404 Euro netto in Steuerklasse I landet, gerade wenn er in einer großen Wohnung mit sehr umfangreichen Wohn- und Heizkosten lebt, im Bürgergeldbezug einschließlich Regelbedarf im Endeffekt fast auf das Gleiche kommt wie bei diesem Gehalt? Ja, er hat einen Zuverdienst, ja, er hat den Selbstbehalt, ja, er hat – je nach Stufe, in der er ist – die 20, 30 Prozent, die er im Endeffekt noch hinzuverdienen kann. Aber würden Sie wirklich behaupten, dass es sich bei den 200 oder 300 Euro mehr, die dabei herauskommen, lohnt, jeden Morgen aufzustehen,
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40 Stunden die Woche zur Arbeit zu gehen, nicht mehr die Supermarktprospekte für das günstigste Essen durchgehen zu können, sondern auswärts essen gehen zu müssen, ein Auto zu halten und all das? Würden Sie nicht auch annehmen, dass nach Abzug all dieser Opportunitätskosten faktisch für diese Menschen bei Ihrem System ein Verlust entsteht?
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Die Frage gibt mir die Gelegenheit, etwas aufzuklären, was in den letzten Tagen in der Debatte irreführend war. Richtig ist, dass in unserem Sozialstaat, übrigens vorgegeben durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Ansprüche auf das Existenzminimum, zum Beispiel bei großen Familien, so hoch sind, dass ein Alleinverdiener mit Mindestlohn das nicht alleine durch seinen Arbeitslohn erwirtschaftet. Das ist richtig. Das ist Ausdruck des Sozialstaatsprinzips; das gibt unsere Verfassung vor. Das hat aber genau nichts mit dem Bürgergeld zu tun, weil das heute schon der Fall ist, und zwar richtigerweise.
Die Frage ist also: Wie können wir dafür sorgen, dass sich Anstrengung zum Beispiel auch bei diesen großen Familien, wenn Menschen arbeiten, stärker lohnt? Heute schon gibt es keinen Fall, in dem derjenige, der arbeitet, weniger hat als derjenige, der nicht arbeitet – das ist auch richtig –, und zwar dank Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld, all dem, was wir jetzt an die Inflation anpassen. Aber richtig ist: Es muss sich stärker lohnen.
Dann muss man an ein Thema ran, das mir in der Tat sehr am Herzen liegt, nämlich das Thema Zuverdienstregeln.
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Deshalb ist es auch so absurd, was die Union diese Woche vorschlägt, nämlich einfach nur die Regelsätze zu erhöhen, ohne durch die Reform des Bürgergelds auch für mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen zu sorgen.
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Das müssen wir doch tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Vogel, es gibt eine weitere Zwischenfrage, von Herrn Birkwald aus der Fraktion Die Linke.
Ich würde jetzt gern den Gedanken kurz zu Ende führen. Der Kollege Matthias Birkwald verzeiht mir das.
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– Nein, das ist die Wahrheit.
Ich erinnere mich gut an meine erste politische Verhandlung als junger Abgeordneter in der schwarz-gelben Koalition mit dem CDU-Kanzleramtsminister und der CDU-Arbeitsministerin. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Zuverdienstregeln reformiert werden. Ich habe mich damals nicht durchsetzen können, weil Sie Angst vor Statistikeffekten hatten. Ich habe das aber nicht vergessen. Wir müssen an diese Ungerechtigkeit unseres Sozialstaats endlich ran. Es muss sich mehr lohnen, Schritt für Schritt aus der Grundsicherung rauszuwachsen.
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Das schaffen wir jetzt endlich; das ist Kern der Bürgergeldreform, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Damit machen wir übrigens auch klar, dass junge Menschen in diesem Land endlich stärker Piloten des eigenen Lebens werden. Heute lohnt sich nämlich häufig auch eine Ausbildung nicht.
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Das machen wir anders, das machen wir besser durch das Bürgergeld. Heute kann zum Beispiel Annika, die in einer Hartz‑IV-Familie groß wird und im Minijob arbeitet, von 520 Euro nur 184 Euro behalten. Wenn Aishe, deren Eltern finanziell auf eigenen Beinen stehen, denselben Minijob macht, dann kann sie 520 Euro behalten.
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Junge Menschen erfahren in diesem Land heute – vor dem Bürgergeld – am Anfang ihres Lebens, dass sich ihre Anstrengung nicht lohnt, dass es keinen Unterschied macht, wenn sie arbeiten,
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dass sie schlechtere Chancen haben, weil ihre Eltern in schwieriger Lage sind. Das ist das Gegenteil von Chancengleichheit unabhängig von der Herkunft. Das verbessern wir endlich durch mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen.
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Das macht nämlich vor allem was in den Köpfen.
Meine Fraktion hat diese Woche drei junge Menschen nach Berlin eingeladen: Ferhat, Zara und Alex. Jeder kann sich ihre Geschichten seit heute Morgen auf Youtube anschauen. Sie beschreiben sehr eindrücklich, was das in den Köpfen und den Herzen macht, wenn man wegen der Familie, in die man geboren wurde, schlechtere Chancen hat. Wir müssen uns doch nicht wundern, dass in unserem Land Chancen stärker von der Herkunft abhängen, wenn wir bereits am Anfang des Lebens jungen Menschen Steine in den Weg legen.
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Das schaffen wir endlich ab, und darauf bin ich stolz. Denn für diese Menschen kämpfen wir und machen unseren Sozialstaat fairer. Deshalb stimmen wir heute für das Bürgergeld.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Dietmar Bartsch.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was die Bürgerinnen und Bürger aktuell erleben, ist – man kann es nicht anders bezeichnen – ein Schmierentheater. Die Wirtschaftsweisen haben angesichts der Krise höhere Steuern für die Topverdiener verlangt, völlig zu Recht. Sie, die Union, lehnen das ab. Sie spielen stattdessen Geringverdiener gegen Arbeitslose aus. Das Milliardenvermögen der Superreichen schützen und das sogenannte Schonvermögen von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, infrage stellen – das ist unwürdig, insbesondere mit dem Blick auf das C in Ihrem Namen, meine Damen und Herren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Britta Haßelmann, die Lebenswirklichkeit ist, dass der Regelsatz jetzt 449 Euro beträgt. Ich erinnere daran, dass im Januar die Regelsätze um 3 Euro erhöht worden sind. Das war erbärmlich; das war der Start der Koalition. 3 Euro – so viel kostet heute ein Stück Butter. Die Inflation liegt bei 10 Prozent. Sie hätten die Regelsätze schon im Sommer mindestens um diese 53 Euro anheben müssen.
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Jetzt laufen die Tafeln über.
Fortschrittskoalition? In der Realität ist das eine Schnarchkoalition. Immer zu spät und immer zu wenig, das ist die Realität, meine Damen und Herren. Bei den Energiepreisen – Deckelung viel zu spät! Erhöhung der Regelsätze – Inflation verpennt! Jetzt ist November. Sie mit Ihrer Bräsigkeit haben Friedrich Merz erst ermöglicht. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
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Wir erkennen ganz klar an: Es gibt Fortschritte. Hubertus Heil hat es an einem Beispiel eindringlich geschildert. Schüler, Azubis, Studierende können deutlich mehr von ihren Verdiensten behalten, das ist gut. Die zweijährige Karenzzeit beim Wohnen ist sicherlich positiv; das ist überhaupt keine Frage. Aber bei allen Fortschritten: Das Bürgergeld ist nicht im Ansatz armutsfest. 53 Euro mehr bleiben Armut per Gesetz, meine Damen und Herren.
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Berücksichtigt man die Inflation, ist das null Komma null.
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, was steht in eurem Wahlprogramm?
Die Regelsätze im neuen Bürgergeld müssen zu einem Leben in Würde ausreichen und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen.
Mit 53 Euro mehr? Was für ein Käse.
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Was steht noch in eurem Wahlprogramm?
Das Bürgergeld muss absichern, dass eine kaputte Waschmaschine oder eine neue Winterjacke nicht zur untragbaren Last werden.
Dies leistet das Bürgergeld ausdrücklich nicht.
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Das Bürgergeld ist zu wenig für Würde und auch zu wenig für eine neue Waschmaschine, meine Damen und Herren. „Bürgergeld“ klingt gut; aber real ist das eben keine Abkehr von Hartz IV. Das System bleibt erhalten. In der Substanz ist es Hartz V, meine Damen und Herren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, von denen, die meinen, die Regelsätze dürften nicht armutsfest sein und das Schonvermögen müsste möglichst gering sein, wird immer das Lohnabstandsgebot angeführt. Wie absurd ist das denn? Wir haben kein Problem mit zu hohen Regelsätzen. Wir haben aber ein millionenfaches Lohnproblem,
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und das wird dann zu einem Rentenproblem. Im Verkauf, in der Pflege, bei den Dienstleistungen sind die Löhne schlicht zu niedrig. Die Löhne müssen rauf und nicht die Leistungen politisch kleingerechnet werden!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie immer auch das Kind heißen mag: Am 1. Januar müssen die Sätze steigen, und wir brauchen dann schleunigst eine realistische Neuberechnung, die die Menschen tatsächlich vor Armut schützt und ein Leben in Würde garantiert. In der Zwischenzeit brauchen wir monatliche Zuschläge, wie das in unserem Antrag steht. Das wäre eine Brücke, meine Damen und Herren.
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Der Union kann ich nur zurufen: Hören Sie mit Ihrer Blockade auf! Kein Verschiebebahnhof zum 1. Juli! Die Lage ist für die Betroffenen vielfach dramatisch. Nehmen Sie bitte diese Menschen in den Blick!
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Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Martin Rosemann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bürgergeld ist die größte Sozialreform seit 20 Jahren. Wir überwinden damit Hartz IV. Vor allem aber ist das Bürgergeld die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt, einem Arbeitsmarkt, der gekennzeichnet ist durch Arbeitskräftemangel und nicht mehr durch Massenarbeitslosigkeit. Deshalb passen wir das System der Grundsicherung an die Herausforderungen der Zeit an.
Sechs grundsätzliche Veränderungen sind dabei wesentlich.
Erstens: mehr Respekt für Lebensleistung. Karenzzeit bei der Vermögensanrechnung macht eben den Unterschied zwischen denen, die immer gearbeitet haben und sich etwas angespart haben, und denen, die das nicht gemacht haben, aus. Nach Ihrer Rede, Herr Gröhe, kann ich nur feststellen: Wir, die Ampel, sind für mehr Respekt für Lebensleistung, Sie, die Union, sind dagegen.
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Zweitens: mehr Augenhöhe und damit ein neuer Umgang des Staates mit dem Bürger. Es geht um individuelle und passgenaue Unterstützung. Wir wollen den Staat als Partner, der denjenigen hilft, die Hilfe brauchen.
Drittens: mehr Zielgenauigkeit beim Fordern. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz sieht das neue Bürgergeld Mitwirkungspflichten vor und auch Sanktionen für diejenigen, die sich verweigern. Aber wer von Beginn an mitwirkt – und das sind die meisten –, wird in Zukunft eben nicht mehr mit Sanktionen bedroht, und wer nicht mitwirken kann, beispielsweise wegen einer psychischen Erkrankung, der muss unterstützt und darf nicht sanktioniert werden.
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Viertens: mehr Fördern. Mit dem neuen Instrument des umfassenden Coachings, der Entfristung des sozialen Arbeitsmarktes, der aufsuchenden Arbeit, dem Weiterbildungsgeld und dem Bürgergeldbonus sorgen wir für bessere individuelle und passgenaue Unterstützung.
Fünftens: mehr Nachhaltigkeit. Wir schaffen den Vermittlungsvorrang ab und setzen auf passgenaue und nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit. Wenn wir Menschen einfach nur schnell in Arbeit bringen wollen, riskieren wir nämlich, dass die Arbeit genauso schnell wieder abgebrochen wird. Deshalb setzen wir auf zielgenaue Qualifizierung in gute Arbeit.
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Schließlich sechstens: mehr Leistungsgerechtigkeit. Wir erhöhen die Zuverdienstmöglichkeiten, vor allem für junge Leute, die selbst die Erfahrung machen sollen, dass sich Arbeiten lohnt. Mit dem neuen Bürgergeld gilt nun erst recht, dass Arbeit den Unterschied macht.
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Um all dies zu realisieren, entlasten wir die Jobcenter von Bürokratie, und wir werden den Haushalt für die Jobcenter auch ausreichend ausstatten. Aber Haushaltsdebatte, lieber Hermann Gröhe, ist nächste Sitzungswoche, nicht diese Woche. In diesem Zusammenhang weise ich nur darauf hin, dass zur Liste der Fake News nun noch hinzugefügt wurde, wir hätten den Bundesrechnungshof nicht gehört. Gestern im Ausschuss für Arbeit und Soziales waren wir über eine Stunde lang im Gespräch mit dem Bundesrechnungshof, lieber Hermann Gröhe!
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Herr Rosemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion?
Ja, bitte.
Lieber Herr Kollege Rosemann, Ihre Kollegin Saskia Esken hat heute Morgen gesagt – und Sie haben es gerade selbst in Ihrer Rede bestätigt –: Wir müssen nicht mehr so viel fordern; denn wir befinden uns in einer Vollbeschäftigungsphase. – Erkennen Sie an, dass das Prinzip „Fordern und Fördern“ der letzten nahezu 20 Jahre zu einem großartigen Erfolg auf unserem Arbeitsmarkt geführt hat,
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indem die Zahl der Arbeitslosen deutlich reduziert werden konnte? Eine weitere Frage: Was passiert eigentlich, wenn Sie jetzt nicht mehr fordern, sondern nur noch fördern? Stellen Sie sich darauf ein, dass wir künftig wieder mehr Arbeitslose haben?
Vielen Dank.
Frau Schimke, vielen Dank für die Fragen. – Erstens frage ich mich so ein bisschen, was mit Ihren Ohren los ist.
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Denn Sie haben offensichtlich immer noch nicht verstanden, dass wir „Fördern und Fordern“ nicht abschaffen,
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dass es weiterhin Mitwirkungspflichten und Sanktionen gibt. Fake News – Entschuldigung – werden durch Wiederholung nicht wahrer, Frau Schimke.
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Zweitens. Ich finde es interessant, dass Sie mit diesem Redebeitrag noch einmal deutlich gemacht haben, dass die Union die Debatten von vor 20 Jahren führt, während wir die Debatten von heute und von morgen führen.
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Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass wir es mit einer anderen Situation auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben!
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Drittens. Frau Schimke, ich bin für Fördern und Fordern, und ich bin auch dafür, dass die Leute, die sich den Mitwirkungspflichten entziehen, obwohl sie mitwirken könnten, auch mit den Konsequenzen zu rechnen haben,
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im Rahmen dessen, was das Bundesverfassungsgericht vorgibt. Genau so steht es im Gesetz. Aber was ich Ihnen auch sagen will – das müssten Sie mit Ihrem beruflichen Hintergrund eigentlich wissen –: Als Vertreterin der Arbeitgeberverbände müssten Sie doch wissen, dass kein Arbeitgeber jemanden einstellt, der sich nur deshalb bei ihm bewirbt, weil ihm sonst Sanktionen drohen. Es muss doch ein Mindestmaß an Motivation geben, und dafür müssen wir sorgen.
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Meine Damen und Herren, ich danke den Beschäftigten in den Jobcentern schon heute für die Umsetzung dieser Reform. Wir wissen, dass das eine Herausforderung darstellt,
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aber wir bekommen viel Zustimmung für diese Reform aus der Praxis.
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Und weil hier schon wieder der Brandbrief beschrien wird: Ich habe den Brandbrief gelesen. Der Vorsitzende der Personalratsvertreter wohnt in meinem Wahlkreis. Ich bin mit ihm im Austausch, und ich lese seine Nachrichten auf Twitter.
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Ich kann Ihnen sagen, dass wir das Inkrafttreten der einzelnen Punkte des Gesetzes genau so regeln, wie die Personalräte der Jobcenter das verlangt haben.
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Wir haben uns im Übrigen entschieden, diese große Reform des Bürgergeldes auf zwei Gesetze aufzuteilen, um die Jobcenter nicht zu überfordern. Wir werden mit einem zweiten Paket den Zuverdienst umfassend regeln, den sozialen Arbeitsmarkt und auch andere Instrumente weiterentwickeln.
Jetzt geht es aber um das erste Paket. Die Ampel hat umfangreiche Änderungen am Gesetz vorgenommen und ist dabei auch auf Forderungen und Kritikpunkte aus dem Bundesrat eingegangen. Wir stellen zum Beispiel klar, dass die Vertrauenszeit erst zustande kommt, wenn ein Kooperationsplan gemeinsam erarbeitet wurde. Wir sorgen dafür, dass bereits genutzte Karenzzeiten angerechnet werden. Wir sorgen dafür, dass in der Karenzzeit lediglich angemessene Heizkosten übernommen werden und Umzüge in teurere Wohnungen der Genehmigung bedürfen.
Nun hat es der Bundesrat, haben es die Länder in der Hand, sich auch ihrer Verantwortung zu stellen. Es liegt jetzt an Ihnen, ob zum 1. Januar die dringend erforderliche Anhebung der Regelsätze stattfindet.
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Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie diese Verantwortung wahr!
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Stracke.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich am Anfang meiner Rede sagen: Wir bieten Ihnen, Herr Heil, an, die Hartz‑IV-Sätze in dieser Woche gemeinsam anzuheben; denn die Betroffenen brauchen Sicherheit.
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Hier sehen Sie meine ausgestreckte Hand, ausgestreckt von uns als Fraktion.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Nehmen Sie diese ausgestreckte Hand an! Zeigen Sie Verantwortung, und sorgen Sie für Sicherheit für diejenigen, die das tatsächlich brauchen und benötigen! Ich habe aber den Eindruck, Sie wollen nicht Sicherheit und Verlässlichkeit bieten, sondern Sie wollen das als Faustpfand für die Durchsetzung Ihres vermurksten Bürgergeld-Gesetzes in diesem Land behalten.
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Das ist das Gegenteil von Verantwortung, Herr Minister.
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Wir befürworten eine schnellere Anpassung der Regelsätze an die Teuerungsrate. Gleichwohl bleibt richtig: Arbeit muss sich lohnen.
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Das sagen Sie ja auch selber. Wir wollen, dass sich Arbeit lohnt, dass Arbeit den Unterschied macht.
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Wenn man sich aber die Vielzahl an Berechnungen anschaut, dann zeigt sich in gewissen Fallkonstellationen: Nicht die Arbeit macht den Unterschied, sondern die ergänzende Sozialleistung macht den Unterschied, also das Wohngeld oder der Kinderzuschlag. Wenn wir darauf hinweisen, dass hier Handlungsbedarf besteht, dann werden wir von Ihnen beschimpft.
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Wenn wir darauf hinweisen, dass wir das Steuerrecht an dieser Stelle ändern müssen, dann werden wir von Ihnen beschimpft.
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Allerdings, Herr Heil, sagt Ihr Kollege auf der Regierungsbank, Bundesfinanzminister Christian Lindner – ich darf aus den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vom 29. Oktober zitieren –:
Wenn Sozialleistungen wie der Regelsatz bei der Grundsicherung automatisch an die Inflation angepasst werden, dann müssen auch die arbeitenden Menschen einen automatischen Ausgleich bekommen.
Recht hat er. Aber das ist nichts, was es zu diffamieren gilt.
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Deswegen bedarf es hier an dieser Stelle einer Änderung.
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Herr Stracke, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ja. Gerne.
Vielen Dank. – Warum, Herr Stracke, meinen Sie, haben die Vorsitzenden von CSU und CDU, Herr Söder und Herr Merz, nicht der Versuchung widerstehen können, Unsinn zu erzählen? Es ist Unsinn, zu behaupten, dass sich Arbeit nicht lohnt;
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denn Arbeit rechnet sich im Vergleich immer. Es ist Unsinn, Äpfel und Birnen vergleichen zu wollen, indem man so tut, als würde von den Hartz-IV-Beziehenden bzw. Bürgergeldbeziehenden alles, was an sozialen Transfers möglich ist, in Anspruch genommen, und gleichzeitig dem zum Vergleich herangezogenen Niedriglöhner unterstellt, dass er das nicht tut. Das ist Unsinn.
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Es ist Unsinn, so zu tun, als gäbe es beim Bürgergeld keine Mitwirkungspflichten. Das Gegenteil ist der Fall, und zwar sowohl in der Vertrauenszeit als auch in der Kooperationszeit.
Warum, meinen Sie, haben Ihre Vorsitzenden darauf gesetzt, Fake News in die Welt zu setzen und den Menschen ein X für ein U vormachen zu wollen? Was ist da los bei Ihnen?
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Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Das gibt mir Gelegenheit, noch mal darauf einzugehen. Machen wir es ganz ohne Streit und nehmen einfach ein Beispiel, das der DGB gerechnet hat;
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das entspricht ja auch Ihrer linken Seele etwas mehr. Ein Paar mit zwei Kindern, acht und zwölf Jahre alt, und einem Verdienst, der sich aus 38 Stunden und dem Mindestlohn von 12 Euro ergibt, vergleicht der DGB – Sie können das alles nachlesen, das ist alles ganz transparent auf der DGB-Seite –
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mit einem Bürgergeldbezieher. Das verfügbare Einkommen bei dem Bürgergeldbezieher in vergleichbarer Situation liegt bei 2 349 Euro, bei demjenigen, der arbeitet, bei 2 050 Euro.
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Er hat also 299 Euro weniger in der Tasche als der Hartz-IV-Empfänger. Wenn wir darauf hinweisen, dass es erst durch die ergänzende Sozialleistung, nämlich das Wohngeld, und den Kinderzuschlag in Höhe von 817 Euro – so hat es der DGB berechnet –, zu dem Plus von 518 Euro kommt,
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dann beschimpfen Sie uns. Aber in dem Fall macht eben nicht die Arbeit den Unterschied, sondern die ergänzende Sozialleistung.
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Das ist ja auch der Grund, warum der Bundesarbeitsminister darauf hinweist, dass er das Kindergeld erhöht, den Kinderzuschlag erhöht, den Grundfreibetrag erhöht und vieles mehr. Also, das ist der Unterschied.
Ein Zweites. Sie haben das Thema Sanktionen angesprochen. Auch hier bleiben Sie mit dem Bürgergeldentwurf weit hinter dem zurück, was das Bundesverfassungsgericht zulässt,
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und auch hinter dem, was bislang Praxis der Bundesagentur für Arbeit war. Ich will Ihnen an dieser Stelle ein paar Beispiele nennen. – Sie müssen noch stehen bleiben. Ich beantworte Ihre Frage zu den Sanktionen, Herr Kollege.
Herr Bsirske, würden Sie bitte stehen bleiben? Er beantwortet immer noch Ihre Frage.
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Im ersten halben Jahr kann man jegliches Vermittlungsangebot, jeglichen Deutschkurs, jeglichen Integrationskurs, jegliche Weiterbildungsmöglichkeit folgenlos abbrechen oder nicht antreten. Das ist Ihre Politik.
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Hier atmet die Grundsicherung letztendlich den Geist des bedingungslosen Grundeinkommens. Bei Meldeversäumnissen ist es zwar möglich, im ersten halben Jahr zu sanktionieren, aber erst nach dem zweiten Meldeversäumnis. Also, Sie haben einen Freischuss in dem Bereich eingeführt.
Auch bei den Pflichtverletzungen – bleiben Sie auch hier bitte stehen; ich bin immer noch bei den Sanktionen –
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bleiben Sie mit einer Leistungsminderung von 20 Prozent weit hinter den Möglichkeiten zurück. Zu den Totalverweigerern hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass derjenige, der sich beharrlich verweigert, auch total sanktioniert werden müsse bzw. könne. Von dieser Möglichkeit machen Sie keinen Gebrauch. Also, von dem, was das Bundesverfassungsgericht an Möglichkeiten eröffnet, machen Sie wenig Gebrauch, und damit gibt es tatsächlich ein Weniger beim Fordern im Bereich Bürgergeld.
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Herr Stracke, auch wenn der Tag heute insgesamt lang wird, habe ich aber noch eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung, und zwar aus der SPD-Fraktion.
Ja, nur zu. Ich freue mich ja.
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Herr Kollege Stracke, ich würde gerne darauf eingehen, was Sie in den letzten Wochen und auch heute zu der Frage vorgetragen haben, ob sich Arbeit lohnt. Das ist nämlich sehr interessant. Sie räumen ja immerhin ein, dass viele der Berechnungen die ergänzenden oder auch aufstockenden Sozialleistungen missachtet haben und deswegen zu interessanten Ergebnissen gekommen sind, um es mal vorsichtig zu sagen.
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Meine Frage ist jetzt: Wenn Sie erkannt haben, dass nicht der Arbeitslohn alleine ohne ergänzende Sozialleistungen den Unterschied macht, warum haben Sie sich dann einer Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro verweigert, und warum verweigern Sie sich auch einer Stärkung der Tarifbindung?
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Werte Frau Kollegin, wissen Sie, beim Thema Mindestlohn müssen wir in der Debatte darauf achten, wie wir das richtig machen,
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gerade was die Erhöhung des Mindestlohns in diesen Bereichen angeht.
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Aber es ist interessant, dass Sie ausschließlich die Antwort finden, dass wir Arbeiten immer teurer machen müssen, gerade auch in anderen Bereichen.
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Dadurch gibt es weniger Einstiegschancen.
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Deswegen ist es richtig, dass der Bundesfinanzminister einen anderen Vorschlag unterbreitet, nämlich die Grundfreibeträge entsprechend anzuheben. Wenn wir darauf hinweisen, dass das genau der richtige Ansatzpunkt in diesen Bereichen ist,
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statt neue Barrieren entstehen zu lassen, dann werden wir von Ihnen beschimpft. Das zeigt doch, wie heuchlerisch Sie unterwegs sind. Denn auf Ihrer eigenen Regierungsbank kommen Sie zu anderen Lösungen in diesem Bereich, aber wenn wir darauf hinweisen, dass das genau die richtige Lösung ist, dann tun Sie das nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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– Sie können gerne noch stehen bleiben.
Was wird denn jetzt tatsächlich besser durch das Bürgergeld?
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Diese Frage stellt sich beispielsweise die FDP in einem Informationspapier ihrer Fraktion. Ich frage mich auch, was durch das Bürgergeld eigentlich besser wird. Die Antwort ist aber interessant: Aus der Hängematte wird ein Sprungbrett.
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Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Aus der Hängematte wird ein Sprungbrett.
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Sie diffamieren das soziale Netz, das wir haben, das ein stabiles ist und diejenigen auffängt, die sich in einer sozialen Notlage befinden,
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als Hängematte, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang.
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Über 2 Millionen Menschen haben es während unserer Regierungszeit geschafft, sich aus Arbeitslosigkeit herauszuarbeiten und einen festen Platz in der Arbeitsgesellschaft zu erreichen. Über 2 Millionen Menschen haben Hartz IV als Sprungbrett genutzt, um wieder in Arbeit zu kommen. Das ist das Gegenteil von einer Hängematte. Sie diffamieren hier dieses System. Sie diffamieren die Menschen in diesem Bereich, die eine großartige Leistung erbracht haben.
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Das ist Respektlosigkeit. Da sieht man mal, welcher Geist hier in diesem Haus bei der Ampel tatsächlich weht.
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Und es ist im Übrigen auch respektlos gegenüber den Mitarbeitern in den Jobcentern, die mit ihrer Unterstützung tatkräftig dazu beitragen, dass diese Erfolge gelingen.
Jetzt zu dem, wofür Sie sich rühmen, nämlich die Veränderung der Hinzuverdienstregeln und die Verbesserungen dadurch. Sie sagen: Na ja, derjenige, der ein Azubi-Gehalt bekommt, hat jetzt mehr davon als vorher. – Das ist richtig. Aber warum ziehen Sie denn hier die Grenze bei 25 Jahren? Warum ist denn derjenige, der älter ist, der vielleicht eine Familie hat, der sich entscheiden muss, ob er eine Ausbildung beginnt oder beispielsweise einen Aushilfsjob annimmt, davon ausgenommen? Ich wundere mich, dass Sie gerade für diejenigen keine Verbesserungen machen.
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Ein Zweites. Sie rühmen sich der Tatsache, dass die Bezieher jetzt 10 Cent mehr von einem verdienten Euro in der Tasche haben. Dazu sagt das Institut der Deutschen Wirtschaft zu Recht: Das ist zu wenig ambitioniert. Das ist kein Anreiz, eine Tätigkeit mit einer Entlohnung über 1 200 Euro aufzunehmen.
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Mit dem, was Sie als Sprungbrett definieren, machen Leistungsbezieher tatsächlich keine großen Sprünge. Wir brauchen weniger Aufstiegslyrik, sondern wirkliche Aufstiegsmöglichkeiten für die Menschen. Dafür sorgen Sie mit dem Bürgergeld nicht.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Stephanie Aeffner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen hier eine hochemotionale Debatte. Es wird Arroganz vorgeworfen. Es werden Berechnungen in den Raum geworfen, die hinterher wieder korrigiert werden müssen. Ich entschuldige mich bei all den Menschen in diesem Land,
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die davon betroffen sind; denn die Debatte wird auf ihrem Rücken ausgetragen.
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Über wen reden wir denn an dieser Stelle? Über 60 Prozent der Menschen, die arbeitslos werden, finden innerhalb von einem Jahr wieder einen Job; sie kommen also gar nicht in den Bürgergeldbezug. Weitere 20 Prozent der Menschen haben nach zwei Jahren wieder einen Job. Hier kommt jetzt der erste Konflikt mit der Union. Wir sagen: Wir wollen zwei Jahre Karenzzeit, dass Menschen zwei Jahre ihre Wohnung behalten können. – Sie haben ein Positionspapier Ihrer AG vorgelegt, in dem Sie diese Zeit auf ein Jahr begrenzen.
Fragen wir uns doch mal, für welche Menschen das im Endeffekt einen Unterschied macht. 200 000 Menschen, die wohlgemerkt am Ende der von uns vorgeschlagenen Karenzzeit wieder einen Job gefunden haben, wollen Sie sagen: Nein, ihr müsst umziehen und eure Wohnung aufgeben, obwohl ihr am Ende dieser zwei Jahre wieder eine Arbeit haben werdet. – 200 000 Menschen, das ist eine Stadt so groß wie Potsdam.
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Die gleiche Debatte führen wir beim Schonvermögen. Sie malen Bilder von Menschen, die in unheimlichem Reichtum leben und sich darin gefallen, Bürgergeld zu beziehen.
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„Die Zeit“ titelt heute: „Stütze für Reiche?“ – Wie sieht denn die Realität aus? Über 40 Prozent der Menschen in diesem Land haben überhaupt keine Rücklagen.
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Aber um wen geht es denn dann in dieser Debatte?
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Es geht um Menschen, die zum Beispiel eine Abfindung bekommen, weil sie arbeitslos werden. Es geht um Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben und Rücklagen gebildet haben, und denen sagen wir: Schön, dass ihr das alles getan habt. – Im Übrigen ist das die gleiche Vermögensgrenze, die Sie in der Pandemie selber eingeführt haben und die auch für das Wohngeld gilt.
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Jetzt sagen Sie: Das ist zu viel. – Und auch die Entlastung der Jobcenter – darum geht es nämlich auch: dass die Mitarbeitenden nicht an erster Stelle mit Bürokratie beschäftigt sind – lehnen Sie ab.
Im Bürgergeldbezug sind weiterhin Sanktionen enthalten. Wir hätten davon eine andere Vorstellung gehabt; aber es geht doch um die Frage: Wie gehen wir mit der übergroßen Mehrheit der Menschen im Bürgergeldbezug um? Sie schauen immer auf die wenigen, bei denen es Probleme gibt. Wir sagen: Die allermeisten Menschen, nämlich 97 Prozent, wirken mit und arbeiten an der Überwindung ihrer Situation. Genau die wollen wir nicht mehr anlasslos bedrohen; denn wir haben Respekt vor diesen Menschen. Das ist unsere Aufgabe.
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Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Gerrit Huy.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Anhörung am Montag haben wir von vielen Sachverständigen in großer Deutlichkeit gehört, dass das Bürgergeld voraussichtlich noch mehr Probleme aufweisen wird als heute schon Hartz IV.
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Auch die Kritik des Bundesrechnungshofes wird dadurch sehr stark bestätigt, der vor Ort Prüfungen durchgeführt hat und deswegen sehr gut beurteilen kann, was in den Jobcentern funktioniert und was eben nicht. Und er hat herausgefunden, dass drei von vier Jobcentern mit der Verwässerung und Aufweichung der Sanktionsmöglichkeiten große Probleme haben.
Ich möchte mich aber heute auf einen anderen neuen Punkt konzentrieren, nämlich den Entfall des Vermittlungsvorrangs. Dadurch erhofft sich die Ampelregierung, dass eine zusätzliche Qualifikation von Langzeitarbeitslosen möglich wird und damit eine bessere und nachhaltigere Integration in den Arbeitsmarkt. Ich befürchte allerdings, dass mit dieser Maßnahme eher das Gegenteil erreicht wird und wir stattdessen zusätzlich Arbeitskräfte verlieren. Ausbildung und Weiterbildung waren nämlich auch bisher schon möglich, wurden aber gerade von Geringqualifizierten nur sehr selten wahrgenommen. Und beim überwiegenden Teil der Langzeitarbeitslosen handelt es sich nun mal um Geringqualifizierte. Zwei Drittel von ihnen verfügen über keinen Berufsabschluss. Viele von ihnen haben auch keinen Schulabschluss. Und es gibt nach wie vor viele funktionale Analphabeten unter ihnen. Da werden Ausbildung und Weiterbildung extrem schwierig.
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Über die Hälfte der Langzeitarbeitslosen sind Flüchtlinge. Eine weitere große Gruppe hat einen Migrationshintergrund. Häufig treten deshalb zu den allgemeinen Lernschwierigkeiten auch noch Sprachschwierigkeiten hinzu. Wir haben es hier also mit einem fulminanten, kaum zu lösenden Problem zu tun.
Meine Damen und Herren, die Nachqualifizierung wird nach allem, was wir in Erfahrung bringen konnten, wohl nur in wenigen Fällen funktionieren. Häufig werden sich nicht genügend Teilnehmer für eine Bildungsmaßnahme finden, und die, die mitmachen, hören sehr häufig sehr schnell wieder auf. Das ist für alle Seiten extrem frustrierend, wenn es auch aufseiten der Langzeitarbeitslosen mit einem zusätzlichen Bildungsgeld von immerhin 150 Euro im Monat versüßt werden soll.
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Sie hören es nicht gerne, aber Hartz IV und damit auch zukünftig das Bürgergeld ist – ungeachtet der Tatsache, dass wir natürlich auch viele deutsche Langzeitarbeitslose haben – in großen Teilen inzwischen zu einem Migrationsproblem geworden.
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Es kommen halt überwiegend Geringqualifizierte zu uns, und die landen nun mal zuhauf in Hartz IV. Viele von diesen Geringqualifizierten wären für Helferpositionen vermutlich durchaus geeignet. Es gibt ja bei uns viele Migranten, die in anderen Jobs tätig sind.
Aber aus Hartz VI heraus funktioniert das anscheinend gar nicht mehr. Das konnten wir im Sommer sehr deutlich beobachten, als für die Koffertransporte an den Flughäfen eigens neue Migranten eingeführt werden sollten. Offensichtlich gilt gerade für Zuwanderer aus sehr armen Ländern, dass sie sich recht auskömmlich in unseren Sozialsystemen bewegen können.
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Liebe Ampelkollegen, Sie sollten sich deswegen nichts vormachen: Ihre große und sicherlich gut gemeinte Qualifizierungsoffensive wird kaum den gewünschten Erfolg haben. Deswegen spreche ich es noch mal aus: Das Problem an der Wurzel zu packen, bedeutet, die unkontrollierte Einwanderung zu stoppen.
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Anders werden Sie dieser Probleme nicht Herr werden können.
Danke schön.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Jens Teutrine.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Zentrum des Bürgergelds steht nicht, wie immer wieder behauptet wird, mehr Lässigkeit. Im Zentrum des Bürgergelds stehen das Leistungsprinzip
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und Berufseinstiegschancen durch Qualifizierung, also die nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Das steht im Zentrum des Bürgergelds.
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Wenn man ein einziges Beispiel nennen müsste, an dem man das festmacht, dann wären das Auszubildende, die in einer Hartz‑IV-Bedarfsgemeinschaft aufwachsen. Wenn diese Auszubildenden aktuell 800 Euro Ausbildungsvergütung bekommen, dann bleiben ihnen faktisch nur 240 Euro. Der Rest wird angerechnet. Das Hartz‑IV-System, das Sie verteidigen, das Sie nicht verändert haben, sagt diesen jungen Menschen: Eine Ausbildung und Arbeit lohnen sich nicht.
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Beim Bürgergeld ist es so: Von 800 Euro dürfen sie 604 Euro behalten.
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Das ist mehr als das 2,5‑Fache.
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Die Botschaft des Sozialstaates ist klar: Es lohnt sich, zu arbeiten. Es lohnt sich, eine Ausbildung zu machen.
Sie kritisieren jetzt: Wie kann es denn sein, dass da überhaupt noch etwas angerechnet wird? Das ist alles nur Aufstiegslyrik! – Nein, das verändert bei jungen Menschen etwas im Kopf. Es verändert die Botschaft.
Wenn Sie fragen: „Wieso ist das so wenig?“, frage ich zurück: Wieso haben Sie es in den letzten Jahren nie angepasst, wenn das doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit war? Sie haben es nicht angepasst, weil es Ihnen nicht um diese jungen Menschen geht, sondern um eine Scheindebatte.
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Die Scheindebatte, Herr Gröhe, haben wir erlebt. Sie haben uns gerade wieder den Brandbrief der Personalräte vorgehalten. Der Brandbrief der Personalräte kam zum ersten Gesetzentwurf. Wir haben den Gesetzentwurf angepasst, sodass zum 1. Januar 2023 nur die Regelsätze in Kraft treten, die Karenzzeit und die Bagatellgrenze – auf Wunsch der BA. Die BA wünscht sich, dass diese Punkte zum 1. Januar in Kraft treten. Alles andere wird nach hinten verschoben. Die BA hat in der Anhörung gesagt, sie findet es total gut, dass das stattfindet. Sie hat gesagt, sie braucht diese Vorbereitungszeit und wünscht sich, dass der Bundesrat schnell zu einer Entscheidung kommt, weil eine Blockade ihr schaden würde.
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Ihr Kollege Stracke ist dann zur Presse gegangen und hat gesagt, die BA würde den Vorschlag der CDU/CSU unterstützen, nur die Regelsätze zu erhöhen. Und Sie wiederholen das sogar noch jetzt gerade in der Debatte.
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Das ist die Art von Fake News, die Sie immer wieder vortragen.
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Jede dieser Fake News zu entkräften, dauert länger, als es dauert, sie in die Welt zu setzen.
Ich möchte noch einen zweiten Punkt anbringen. Da kritisieren Sie mal etwas in der Sache: Sie kritisieren das Schonvermögen; das sei viel zu hoch.
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Unsere Ansicht ist: Wer kurzfristig ins SGB II rutscht, weil er beispielsweise gar keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat – zum Beispiel ein Selbstständiger –, der sollte nicht sofort sein Haus verkaufen müssen, seine Altersvorsorge und sein Erspartes aufbrauchen müssen.
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Dazu sagt der Kollege Whittaker: Es ist doch jetzt schon so, dass die Altersvorsorge ausgenommen wird. Das sei doch jetzt schon der Fall; ich sehe gerade auch Nicken in Ihren Reihen. Guckt man aber genau ins Gesetz, dann sieht man, dass es da nur um die staatlich geförderte Altersvorsorge geht.
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Das betrifft nur Riester und Rürup. Eine private Altersvorsorge ist nicht ausgenommen.
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Genau diese Feinheiten lassen Sie jedes Mal weg und schüren damit eine Debatte, bei der es nicht um die Sache geht.
Lassen Sie uns über die Sache diskutieren. Wir sind für private Altersvorsorge bei Selbstständigen. Wir sind dafür, dass Selbstständige in Aktien investieren können und diese Anlagen auch geschützt werden, wenn sie kurzfristig arbeitslos werden.
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Langfristig ist es nicht möglich, mit solchen Vermögenswerten Bürgergeld zu beziehen. Das verschweigen Sie auch jedes Mal, wenn es um die Frage der Karenzzeit geht.
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Im Positionspapier der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU – das ist in der Bundestagsfraktion wohl noch nicht beschlossen worden –
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– super, es ist sogar schon beschlossen worden – fordern Sie selbst diese Schonvermögensgrenze, und zwar dauerhaft. Da wäre es in verschiedenen Fallbeispielen sogar möglich, mehr Schonvermögen zu haben, als wir es vorsehen.
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Deswegen ist die Debatte nicht ehrlich. Sie wird nicht in der Sache geführt; sie wird unehrlich geführt.
Deswegen ist es richtig, dass wir das Bürgergeld jetzt einführen. Ich würde mich freuen, wir würden mehr in der Sache diskutieren als mit falschen Behauptungen. Ich freue mich, dass Sie jetzt langsam die richtigen Berechnungen heranziehen und nicht mehr die der „Jungen Freiheit“; die waren lange genug auf der Website der CSU zu lesen.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Annika Klose.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Skandal, Skandal: Das neue Bürgergeld soll kommen. Doch kann es sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass das Gespenst, das Sie zu sehen glauben, in Wahrheit nur ein Schattenbild an einer Höhlenwand ist? Ich möchte etwas zur Erhellung beitragen.
Erstens: Was ist mit dem Skandal der angeblich zu hohen Schonvermögen? Mit dem Bürgergeld wollen wir dafür sorgen, dass Menschen, die lange gearbeitet haben, nicht auch noch direkt ihre Rücklagen und ihre Wohnungen verlieren, wenn sie gerade schon ihren Job verloren haben.
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Wir schaffen eine zweijährige Schonfrist, die die Möglichkeit bieten soll, sich weiterzuqualifizieren und einen neuen Job zu finden, bevor die Ersparnisse aufgebraucht werden. Ich muss ehrlich sagen: Ich kann den Skandal nicht erkennen, vor allem nicht, wenn wir von Menschen erwarten, dass sie bis 67 arbeiten sollen. Dann muss es doch möglich sein, auch mal umzuschulen, ohne direkt alles zu verlieren.
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Zweitens: Was ist mit den angeblich so langen Karenzzeiten? In den ersten zwei Jahren sollen die Jobcenter noch nicht alles bis ins Detail durchleuchten und prüfen. Das ist schließlich ein wahnsinniger bürokratischer Aufwand.
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Dabei kommen doch über 50 Prozent der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher in den ersten zwei Jahren wieder in Arbeit.
Deswegen sagen wir: Die Jobcenter sollen die Wohnung und die privaten Rücklagen erst nach dieser Schonfrist ganz genau überprüfen. Das erleichtert nämlich allen Beteiligten das Leben
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und schafft auch leichtere Zugänge in der Krisenzeit. Auch hier ist der Skandal, ehrlich gesagt, nicht zu erkennen. Vor zwei Jahren hat die Union da übrigens auch noch zugestimmt und es genauso gesehen.
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Drittens. Skandal: Wir wollen mehr Menschen fördern, statt nur zu fordern. Wir schaffen mit dem Bürgergeld neue Leistungen, um Menschen, die arbeitslos sind, besser bei der Arbeitsaufnahme zu unterstützen. Denn es gibt Hunderttausende in diesem Land, die trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelt werden können. Klar, man kann natürlich auch alles so lassen, wie es ist, immer wieder dasselbe versuchen und dann erwarten, dass ein anderes Ergebnis herauskommt. Aber das hält nicht nur Albert Einstein für Wahnsinn. Also, erweitern wir mal den Instrumentenkasten der Jobcenter! Ehrlich gesagt, kann ich hier den Skandal ebenfalls nicht erkennen.
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Ich freue mich ja wirklich, dass die Union mittlerweile erkannt hat, dass die Anhebung der Regelsätze um 50 Euro kein Skandal ist,
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sondern bitter nötig. Aber jetzt nur das zu machen und alles andere zu lassen, wäre leider deutlich zu kurz gesprungen. Da ich jetzt mal vermute, dass Sie mir das nicht glauben werden, möchte ich ein paar Leute zitieren, denen Sie sonst immer gerne glauben.
Erstens. Prälat Jüsten vom Katholischen Büro in Berlin sagt, die politischen Parteien sollten den Weg für das Bürgergeld zügig freimachen.
Zweitens. Der Präsident der Diakonie lässt sich zitieren, dass Ihre Lösung, nur die Regelsätze zu erhöhen, ein ganz „schlechter Kompromiss“ sei und eine „überflüssige ideologische Debatte“ geführt werde.
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Drittens. Die Caritas twittert: „Der Fokus der Reform liegt an der richtigen Stelle“, das Gesetz müsse jetzt ganz dringend kommen. Liebe Christdemokraten, weniger Schattentheater, mehr Erleuchtung! Die Kirchen sind in dieser Frage ein guter Kompass. Bitte besinnen Sie sich!
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Kai Whittaker.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir streiten zu Recht darüber, ob das Schonvermögen zu hoch, die Karenzzeiten zu lang und die Leistungskürzungen zu lasch sind. Sie als Ampel wollen das Fordern möglichst abschaffen.
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Wir wollen es erhalten. Das ist weder Hetze noch Populismus. Es ist schlicht und ergreifend unsere politische Auffassung und die der überwiegenden Mehrheit der Menschen in diesem Land.
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Die Deutschen sind in überwältigender Mehrheit bereit, Menschen in Not zu helfen. Aber sie erwarten auch, dass jeder alles dafür tut, aus dieser Hilfe so schnell wie möglich wieder herauszukommen.
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Damit bin ich beim Kern dieser Debatte: Was ist eigentlich das Ziel dieses Bürgergeld-Gesetzes? Wann ist dieses Gesetz eigentlich ein Erfolg? Und mir ist aufgefallen: Kein Einziger von Ihnen hatte den Mut, sich hierhinzustellen und zu sagen: Wir wollen die Zahl der Langzeitarbeitslosen in den nächsten drei Jahren halbieren.
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Die SPD ist froh, dass der Name „Hartz IV“ weg ist und es jetzt „Bürgergeld“ heißt. Die Grünen finden sich damit ab, dass es ein bisschen weniger Leistungskürzungen gibt. Und die FDP ist glücklich darüber, dass man ein bisschen mehr hinzuverdienen kann.
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Das ist ambitionslos. Beim Fördern wäre für die Arbeitsuchenden deutlich mehr drin gewesen – Chance vertan!
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Und das, obwohl wir 2 Millionen offene Stellen haben, 500 000 neue Jobs jedes Jahr, einen neuen Beschäftigungsrekord mit über 45 Millionen Beschäftigten. Gleichzeitig fällt Ihnen fast nichts ein, wie man langzeitarbeitslose Menschen wieder in Arbeit bringt. Dabei müsste genau das das Herzstück einer Reform sein, meine Damen und Herren.
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Haben die Mitarbeiter in den Jobcentern mehr Zeit, um sich um Langzeitarbeitslose zu kümmern? Nein, weil sie jetzt ständig gucken müssen, ob ihre Kunden noch Vertrauenszeit genießen oder schon in der Kooperationszeit sind.
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Haben die Mitarbeiter mehr Geld, um Arbeitsmaßnahmen zu bezahlen? Nein, Sie streichen die 600 Millionen Euro. Verbessern Sie die Beratungsqualität, wie es die Bundesagentur für Arbeit anmahnt? Nein! Gibt es vom Jobcenter durchgeführte Sprach- und Integrationskurse – mit Kinderbetreuung, damit gerade ausländische Frauen eine Chance bekommen? Nein! Machen Sie es älteren Menschen ohne Berufsabschluss attraktiver und leichter, eine Berufsausbildung zu machen?
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Nein! All diese Punkte wären notwendig. Denn wir müssen beim Fördern besser werden, meine Damen und Herren.
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Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass kein einziger Arbeitsmarktexperte bis heute gesagt hat, dass dieses Gesetz zu deutlich weniger Arbeitslosen führen wird.
Ein Gedanke zum Schluss. Wir haben die Tage über heftig über dieses Gesetz gestritten. Man mag dieses Gesetz für politisch falsch oder richtig halten. Aber es hat mich schon entsetzt, dass SPD, Grüne und auch die FDP nicht davor zurückgeschreckt sind, uns als Union Hass und Hetze, Populismus, ja sogar ein schlechtes Menschenbild zu unterstellen.
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Bei aller Unterschiedlichkeit: Wenn wir anfangen, uns gegenseitig zu bezichtigen, aus niederen Beweggründen oder in schlechter Absicht Politik gegenüber den Menschen zu betreiben,
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dann legen Sie die Axt an unsere demokratischen Institutionen.
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Nicht die Lautstärke, nicht die Moral, nicht das Sich-ins-Recht-Setzen entscheidet hier, sondern die demokratische Debatte, das Abwägen von Argumenten und die Einsicht, hier immer nur die zweitbeste Lösung zu beschließen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Natürlich muss Opposition kritisch sein. Aber Kritik muss auch sachlich begründet sein, und davon hat sich die Union beim Bürgergeld gründlich verabschiedet. Sie haben eine unsägliche Kampagne gestartet, mit der Sie Menschen mit kleinem Einkommen gegen Erwerbslose ausspielen.
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Sie tun so, als ob sich die Menschen bewusst und gezielt in der Grundsicherung einrichten. Das ist einfach nur billige Polemik. Das macht was mit den Menschen, die davon betroffen sind. Hören Sie endlich damit auf!
({1})
Die Union – und Herr Whittaker gerade wieder – behauptet ja immer: Beim Fördern wäre mehr drin gewesen. – Das ist Quatsch. Das Gegenteil ist der Fall. Der neue Kooperationsplan wird gleich nach Antragstellung intensiv und gemeinsam erarbeitet.
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Wir schaffen den Vermittlungsvorrang ab und ermöglichen damit Unterstützung, die wirklich zu den Menschen passt. Wir machen ein ganzheitliches Coaching. Besonders junge Menschen sollen stärker vor, während und nach der Ausbildung begleitet werden. Das war uns Grünen in den Verhandlungen ein besonderes Anliegen.
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Außerdem entfristen wir den sozialen Arbeitsmarkt. Das alles zeigt: Natürlich kümmern wir uns um die Menschen. Das Fördern wird besser.
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Zentrales Thema ist die Qualifizierung. Die Zahlen der abschlussbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen sind gering, obwohl die Mehrheit der langzeitarbeitslosen Menschen keinen Berufsabschluss hat. Genau das wollen wir ändern. Deshalb stärken wir die Qualifizierung mit einem Weiterbildungsgeld, mit einem Bürgergeld-Bonus, damit Integration in Arbeit eben besser gelingt. Die Union interessiert das kein bisschen. Sie will diese Verbesserungen blockieren. Beim Thema Qualifizierung ist das nicht nachvollziehbar und auch nicht akzeptabel.
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Um wen geht es hier eigentlich, wenn wir über das Bürgergeld reden? Auch das muss wohl mal für die Union geklärt werden: Das sind rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche. Fast zwei Drittel der erwerbsfähigen Menschen sind gar nicht arbeitslos. Sie arbeiten und stocken ihren niedrigen Lohn auf. Sie pflegen Angehörige. Sie betreuen kleine Kinder. Viele haben gesundheitliche Einschränkungen. Ich sage es ganz deutlich: Niemand hat das Recht, diese Menschen zu stigmatisieren.
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– Das machen Sie Tag für Tag.
Die einen brauchen einfach bessere Löhne, und die anderen brauchen Unterstützung, Qualifizierung oder soziale Teilhabe. Alle brauchen neue Chancen und Perspektiven. Und genau das gehen wir an mit dem neuen Bürgergeld durch einen Perspektivwechsel bei der Arbeitsförderung. Wenn Sie von der Union endlich mal nicht ideologisch, sondern fachlich auf das Gesetz schauen würden,
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dann würden Sie auch die Verbesserungen sehen. Da bin ich mir ganz sicher.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Marc Biadacz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass der Kollege Herr Klingbeil als Vorsitzender der SPD unseren Fraktionsvorsitzenden mit Donald Trump vergleicht
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und ihm „Fake News“ und „Spaltung“ vorwirft, das ist nicht nur unverschämt, sondern selbst spalterisch und ein Tiefpunkt jeglicher demokratischer und inhaltlicher Debatte, meine Damen und Herren.
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Die Ampelregierung ist mit großen Ankündigungen und Selfies gestartet. Spätestens jetzt müssten Sie allerdings feststellen, dass Regieren in Krisenzeiten bedeutet, Kompromisse zu machen, pragmatisch statt ideologisch zu handeln. Doch Sie machen einfach weiter, als wäre nichts gewesen.
Heute wollen Sie ein rein ideologisches Bürgergeld gegen jede fachliche Kritik verabschieden. Es ist nicht nur die Union, die Ihr Bürgergeld kritisiert, sondern auch der Bundesrechnungshof, der Landkreistag, die Bundesagentur für Arbeit, die Jobcenter-Personalräte, das Handwerk, die Arbeitgeberverbände und eine Vielzahl von Arbeitsmarktexperten. Diese Kritik können Sie doch nicht einfach ignorieren, liebe Ampel.
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Statt immer nur über Kritik zu schimpfen, wäre es an der Zeit, eigene Vorhaben zu überprüfen und zu hinterfragen.
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Was wir derzeit erleben, ist ein stures Festhalten an Koalitionsvereinbarungen. Mit der Einführung des Bürgergelds vollzieht die Bundesregierung eine Rolle rückwärts für unseren Arbeitsmarkt und verabschiedet sich vom erfolgreichen Prinzip „Fördern und Fordern“.
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Fest steht, meine Damen und Herren: Statt von Problemlösungen ist die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung geprägt von sozialdemokratischer Vergangenheitsbewältigung.
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Sie, liebe Ampel, schaffen Hartz IV ab. Mit der sechsmonatigen Vertrauenszeit starten Sie in ein bedingungsloses Grundeinkommen, und das wollen wir nicht.
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Als Union wollen wir keinen Menschen aufgeben. Wir wollen, dass Menschen wieder schnell in Arbeit kommen und in das gesellschaftliche Leben integriert werden.
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Mit dem Bürgergeld-Gesetz verfolgen Sie genau den falschen Ansatz. Meine Damen und Herren, so geht das nicht.
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Aus unserer Sicht beschränken Sie mit Ihren Handlungsspielräumen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern.
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Das kritisieren wir, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Ampel – genau das! –, und nicht die Erhöhung der Hartz‑IV-Sätze.
Wir fordern Sie heute auf: Stimmen Sie mit uns für die Erhöhung der Sätze um 53 Euro zum 1. Januar, und kommen Sie mit uns an den Verhandlungstisch zurück. Wir reichen die Hand. Wir haben ein Konzept. Lassen Sie uns darüber verhandeln! Aber das Bürgergeld-Gesetz lehnen wir heute ab.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Jens Peick.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Um wen geht es eigentlich bei dieser Debatte? Ich habe es hier schon in der letzten Debatte bei der ersten Lesung gesagt: Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Ich weiß, was es heißt, wenn Menschen ihren Job verlieren. Strukturwandel, Zechenschließungen, Werksschließung bei Thyssen: Auf einmal waren Tausende Menschen arbeitslos, die vorher nie daran gedacht hätten, dass sie arbeitslos werden könnten.
Und damit ist das Ruhrgebiet ja nicht allein. In Ostdeutschland gab es nach der Wende ganz ähnliche Erfahrungen. Irgendein neunmalkluger Investor kam und hat Unternehmen geschlossen, und plötzlich waren Menschen arbeitslos. Deshalb ist das Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 unseres Grundgesetzes so wichtig. Das Bekenntnis zum Sozialstaat ist ein Versprechen an uns alle. Dieses Versprechen heißt: Wenn du deine Arbeit verlierst, lassen wir dich nicht fallen. – Dieses Versprechen, auch an die arbeitende Mitte in dieser Gesellschaft, werden wir hier und heute mit der Einführung des Bürgergeldes erneuern.
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Wir haben jetzt viel zum Thema Arbeit gehört. Wir haben gehört, Arbeit würde sich nicht mehr lohnen.
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Und ja, als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen wir, dass es Probleme auf dem Arbeitsmarkt gibt. Aber die Probleme sind doch der Niedriglohnsektor; schlechte Bezahlung, miese Arbeitsbedingungen. Und deswegen ist es umso unredlicher, dass die Union sich dem Mindestlohn verweigert hat.
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Wir laden Sie ein: Kämpfen Sie mit uns, wie Saskia Esken es gesagt hat, für bessere Tarifbindungen. Wir tun was. Auch deswegen schaffen wir den Vermittlungsvorrang ab. Die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs ist eine Kampfansage an den Niedriglohnsektor in diesem Land.
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Keine Vermittlung mehr in schlechte Jobs, wenn es eine langfristige Perspektive durch Aus- und Weiterbildung gibt, Ausbildung statt Aushilfsjob, Perspektive statt Prekariat – das ist die neue Stoßrichtung des Bürgergeldes.
Und um wen geht es eigentlich? Ich sage Ihnen – da bin ich mir ganz sicher –: Heute hören zum Beispiel auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Galeria Karstadt Kaufhof sehr aufmerksam zu. Sie haben in den letzten Jahren geschuftet, um den Konzern zu retten und über die Runden zu kommen. Trotzdem droht jetzt vielleicht wegen Managementfehlern unverschuldet die Arbeitslosigkeit. Und trotzdem, obwohl sie sich Mühe gegeben und hart gearbeitet haben, brauchen sie vielleicht Unterstützung. Deshalb schaffen wir mit dem Bürgergeld einen Sozialstaat, der die arbeitende Mitte nicht vergisst,
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einen Sozialstaat, der mit Schonvermögen und Karenzzeit die Lebensleistung dieser Menschen anerkennt. Das ist der notwendige Kulturwandel.
Trotzdem möchte die Union, wie auch schon beim Mindestlohn, diesem Gesetz nicht zustimmen. Trotzdem wollen Sie es blockieren und verzögern. Herr Gröhe sprach von einer Liste, die es ab heute gibt und auf der dann steht, wer zugestimmt hat und wer nicht. Ich sage Ihnen: Diese Liste fällt auf Sie zurück.
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Deswegen appelliere ich an Sie: Übernehmen Sie Verantwortung für die Menschen in diesem Land, für den Sozialstaat, stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass das auch Ihre Länder im Bundesrat tun.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende August klebten sich zwei sogenannte Klimaaktivisten in Dresden an Raffaels „Sixtinische Madonna“ aus dem Jahr 1512. Mitte Oktober bewarfen eine Frau und ein Mann in Potsdam das Gemälde „Getreideschober“ von Claude Monet aus dem Jahr 1890 mit Kartoffelbrei. Am 31. Oktober standen in Berlin wieder einmal Rettungskräfte der Feuerwehr im Stau, weil sich Mitglieder einer Protestgruppe auf der Stadtautobahn festgeklebt hatten. Die Rettungskräfte waren auf dem Weg zu einer Radfahrerin, die nach einem Unfall in Lebensgefahr schwebte und einige Tage später leider verstarb. Unser Mitgefühl gilt an dieser Stelle den Angehörigen der 44‑Jährigen, insbesondere ihrer Zwillingsschwester. Wir wissen nicht, ob das Leben der Radlerin hätte gerettet werden können, aber laut dem Bericht der Berliner Feuerwehr wäre zumindest eine patientenschonende Rettung möglich gewesen.
Das sind nur einige Beispiele für den immer radikaleren Protest von Teilen der Klimaschutzbewegung in den vergangenen Wochen und Monaten. Und ich will es gleich zu Beginn in aller Klarheit sagen: Das ist kein politischer Aktivismus mehr, das sind Straftaten!
({0})
Gezielt wird unser nationales Kulturgut angegriffen und beschädigt. Gezielt kleben sich Menschen auf Autobahnen und an Verkehrsknotenpunkten auf der Straße fest, weil sie mit einer möglichst langanhaltenden Blockade von möglichst vielen Menschen möglichst viel Aufmerksamkeit erreichen wollen. Das hat nichts mehr mit den einfachen Sitzblockaden auf den Zufahrtsstraßen nach Wackersdorf oder Gorleben zu tun. Hier werden im Stau stehende Bürgerinnen und Bürger instrumentalisiert; zum Teil werden Leib und Leben gefährdet oder wie in dem genannten Fall eine Nichtrettung billigend in Kauf genommen. Seit Februar wurden durch die Blockaden allein hier in Berlin 18 Rettungsfahrzeuge im Einsatz behindert. Ich hoffe, wir sind uns hier alle einig: Das ist nicht akzeptabel.
({1})
Um es gerade in dieser Woche, in der in Ägypten die UN-Klimakonferenz stattfindet,
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ganz klar zu sagen: Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit; vielleicht ist sie sogar die zentrale Aufgabe.
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Es ist vollkommen in Ordnung, für eine andere Politik zu protestieren. Demonstrationen sind wichtig in unserer Demokratie; sie sind ein wichtiges Instrument der politischen Willensbildung. Viele von uns haben selbst schon an einer Demonstration teilgenommen. Das Demonstrationsrecht ist von unserer Verfassung garantiert.
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Es ist doch ganz klar: Weder der Klimaschutz noch das Demonstrationsrecht rechtfertigen Straftaten, rechtfertigen zunehmende Radikalisierung, rechtfertigen die Gefährdung von Menschen durch Straßenblockaden, die Behinderung von Rettungskräften und die gezielte Beschädigung historischer Kunstwerke. Hier werden rote Linien überschritten.
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Unser Rechtsstaat hat hierauf bislang keine ausreichenden Antworten gefunden.
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Es wurden vor allem Geldstrafen verhängt.
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Aber mit Geldstrafen werden wir die zunehmende Radikalisierung in diesem Bereich nicht aufhalten. Täter müssen den Unwert ihrer Taten nicht nur finanziell, sondern auch durch den möglichen Freiheitsentzug spüren. Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion soll daher Straßenblockierern, die die Durchfahrt von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften behindern oder die Behinderung billigend in Kauf nehmen, künftig statt einer Geldstrafe auch eine Mindestfreiheitstrafe drohen. Zu diesem Zweck wollen wir den Strafrahmen bei einem besonders schweren Fall der Nötigung und bei einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr auf eine Freiheitsstrafe zwischen mindestens drei Monaten und fünf Jahren anheben.
({8})
Auch für die Beschädigung und Zerstörung von bedeutenden Kulturgütern soll es in Zukunft eine Mindestfreiheitstrafe von drei Monaten statt wie bisher nur eine Geldstrafe geben. Das ist ein Zeichen, das das Parlament, der Gesetzgeber, setzen kann. Und wir sind dafür, hier auch ein Zeichen zu setzen.
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Ich möchte meine Rede mit einem Appell an gerade die Menschen beenden, die diese inakzeptablen Straftaten in Museen und auf der Straße vornehmen, und auch an die Menschen, die mit denen, die sich radikalisieren, mitlaufen, sei es wissentlich oder unwissentlich.
({10})
Klimaschutz ist wichtig; aber er rechtfertigt keine Straftaten. Deswegen sage ich: Nutzen Sie bitte die Instrumente der Demokratie! Zerstören Sie nicht unser Kulturgut! Gefährden Sie nicht Leib und Leben anderer Menschen! Blockieren Sie keine Rettungskräfte und Rettungsfahrzeuge! Denn am Ende erreicht man mit solchen Straftaten nur eines: Man schadet dem wichtigen Ziel des Klimaschutzes selbst. Klimaschutz muss im Vorrang stehen und keine inakzeptablen Straftaten.
({11})
Deshalb bitte ich auch, unserem Antrag zuzustimmen – um ein Zeichen zu setzen.
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Sonja Eichwede hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Die Bewältigung der Klimakrise ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit. Aus diesem Grund nimmt sie in politischen Debatten und auch in politischen Entscheidungen der letzten Jahre sehr, sehr großen Raum ein.
Das erklärte Ziel der Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ aber ist die Erzeugung von Aufmerksamkeit und die Störung.
({0})
Dies hat nichts mit Klimaschutz zu tun. Hier muss unser Rechtsstaat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln konsequent handeln. Es gibt viele Wege, sich in der Demokratie an der politischen Meinungsbildung zu beteiligen. Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Begehung von Straftaten sind selbstverständlich keine legitimen Protestmittel; das hat hier im Hause auch keiner angezweifelt.
({1})
Ein Fernziel wie der Klimaschutz rechtfertigt nicht konkrete Tatziele wie die Störung des Straßenverkehrs oder eben die Sachbeschädigung.
({2})
Das vorweggenommen.
Aber kommen wir zum vorliegenden Antrag der Unionsfraktion, zu dem ich auch als ehemalige Strafrichterin einige wichtige Punkte sagen muss; denn dieser zeugt von einem populistischen Ruf nach strafrechtlichen Verschärfungen, die weder den Ermittlungsbehörden helfen noch weitere Straftaten verhindern könnten.
({3})
Er zeugt lediglich von rechtlicher und auch tatsächlicher Unkenntnis. Viel schlimmer noch: Er vermittelt den Eindruck, dass unser Rechtsstaat nicht handlungsfähig wäre. Das ist falsch, und das ist ebenso fahrlässig.
({4})
Unser Strafrecht bietet zahlreiche Möglichkeiten, konsequent durchzugreifen; einige Tatbestände sprechen Sie in Ihrem Antrag auch an. In Betracht kommen die Nötigung mit Androhung einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe, der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr mit Androhung einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe sowie die gemeinschädliche Sachbeschädigung, ebenso mit Androhung einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Freiheitsstrafen sind hier also möglich, wenn sie tat- und schuldangemessen sind.
Gerade bei Straßenblockierern ist seit Langem höchstrichterlich entschieden, dass bei der Verursachung eines Staus, der aufgrund von physischen Straßenblockaden entsteht, der Tatbestand der Nötigung einschlägig ist und dass die Beschmutzung von Gegenständen, die das Erscheinungsbild erheblich verändert, eine gemeinschädliche Sachbeschädigung ist. Diese Tatbestände sind anwendbar. Hierzu wird auch ermittelt, und hier liegen auch schon einige Urteile zu den beschriebenen Taten vor.
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Das heißt: Der Rechtsstaat handelt.
Zu einem weiteren Punkt Ihres Antrags: Bestimmung des Strafmaßes und die Frage der Aussetzung der Bewährung. Auch dies regelt das Gesetz. Das erheblich rücksichtslose Vorgehen der „Letzten Generation“ gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern zum Beispiel wird ebenso wie in anderen Fällen bereits jetzt strafschärfend berücksichtigt. Ebenso ist die Begehung einer Straftat unter laufender Bewährung eines der wichtigsten Entscheidungskriterien gegen eine weitere Bewährungsstrafe. Auch ich musste als Strafrichterin solche Entscheidungen treffen. Aber die Strafrichterinnen und Strafrichter können doch am besten gucken, ob noch eine positive Sozialprognose vorliegt oder nicht. Das ist nicht Sache der Politik.
({6})
All dies ist durch die erkennenden Richter zu beurteilen.
Ich fasse zusammen. Der vorliegende Antrag zeugt von einem mir unerklärlichen und gar respektlosen Misstrauen gegenüber unserer Justiz und gegenüber der Fähigkeit unserer Richterinnen und Richter, tat- und schuldangemessene Entscheidungen zu treffen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, dieses Misstrauen hätte ich gerade von Ihnen nicht erwartet.
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Aber aus welchem Grunde wollen Sie denn sonst die Mindeststrafen entsprechend hochsetzen? Abgesehen davon ist schon lange wissenschaftlich belegt, dass härtere Strafen nicht abschrecken.
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Außerdem zwingt mich Ihr Antrag, zu betonen, dass in einem Rechtsstaat nicht besonders harte Strafen gegen einen einzelnen Täter verhängt werden können, um quasi weitere potenzielle Täter abzuschrecken. Exempel zu statuieren, ist kein Merkmal eines rechtsstaatlichen Systems,
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sondern ein Merkmal von autoritären Regimen; und so eines haben wir gerade nicht.
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Mithin ist die angebliche Stärkung in Wahrheit eine Schwächung unseres Rechtsstaats. Ich bitte Sie, dies entsprechend zu überdenken.
Die Höhe einer Strafe bestimmt sich nach der Tat und der Schuld des Täters im konkreten Einzelfall. Die Unterstellung, dass entsprechende Taten nicht hart genug bestraft werden, ist anmaßend. Die Politik hat sich aus solchen Entscheidungen herauszuhalten. Der zuständige Strafrichter soll sich einen sachgerechten Eindruck vom Angeklagten verschaffen und hinsichtlich einer positiven oder negativen Sozialprognose entscheiden, auch über eine Bewährung.
({11})
Aber, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, verdutzt hat mich in Ihrem Antrag noch ein weiterer Punkt. Die Forderung einer Erhöhung der Mindeststrafe auf drei Monate Freiheitsstrafe ist doch auch quasi, in rechtlichen Termini gesprochen, ein untauglicher Versuch.
({12})
In der Praxis würde diese Strafverschärfung keine Wirkung zeigen und wohl auch nicht zu mehr Freiheitsstrafen führen.
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Denn § 47 StGB sagt doch richtigerweise, dass Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur in unerlässlichen Ausnahmefällen zu verhängen sind. Diese Ausnahmefälle bestimmen sich nach der konkreten Tat und der Persönlichkeit des Täters und gelten gerade nicht für ganze Fallgruppen.
({14})
Mithin würde nach § 47 Absatz 2 StGB die Mindeststrafe von drei Monaten bei einer Tat auch zu einer Geldstrafe führen. Mein Tipp an Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, für kommende rechtspolitische Anträge: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.
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Abschließend bleiben drei Dinge zu sagen.
Erstens. Eine echte Stärkung unserer Strafverfolgungsbehörden und Gerichte erreichen wir nicht durch Strafverschärfung, sondern durch Digitalisierung, Modernisierung und eine gute Ausstattung. Dafür setzt sich die Ampel ein.
({16})
Zweitens. Unabhängig von den ungerechtfertigten Taten der „Letzten Generation“ erwarten die Zivilgesellschaft und die junge Generation gerade zu Recht, dass wir weiter effektiven Klimaschutz betreiben. Wir als SPD-Fraktion wissen, dass effektiver Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammengedacht werden müssen.
({17})
Und drittens. Anstelle des Rufes nach höheren Straftaten
({18})
sollten Sie von der Union lieber Ihre politische Blockadehaltung beim Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien überdenken und beispielsweise in Bayern die 10‑H-Regel kippen. So können wir im ganzen Land effektiven Klimaschutz betreiben und gut zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
({19})
Thomas Seitz hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Extremisten der „Letzten Generation“ üben Gewalt aus, gefährden das Leben und die Sicherheit vieler Menschen und nehmen die Beschädigung unersetzlicher Kulturgüter in Kauf. Es geht um gezielten Rechtsbruch, nicht um zivilen Ungehorsam.
({0})
Die grüne RAF ist mitten in der Entstehung. Angesichts des zunehmenden Extremismus braucht es dringend ein Verbot dieser Organisation. Hilft bei der Bekämpfung der Klimaextremisten aber der vorliegende Antrag? Definitiv nein; denn handwerklich schlechter geht es kaum. Wenn schon Populismus, dann doch bitte richtig.
({1})
Zur Forderung nach härteren Bestrafungen passt Ziffer 6: Sie fordern den Ausschluss von Kettenbewährungen. Das hat zwar mit der Problematik nicht wirklich etwas zu tun, hört sich aber nach Law and Order an. Da ist es wohl zu viel verlangt, auf die Systematik einzugehen, die zwischen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten, bis zu einem Jahr und von über einem Jahr differenziert.
Unter Ziffer 2 wollen Sie § 240 StGB, Nötigung, um weitere Regelbeispiele ergänzen, um Straßenblockaden zu ahnden. Warum aber Blockierer mit einer Mindeststrafe von drei Monaten bedacht werden sollen, während die bestehenden Regelbeispiele eine Mindeststrafe von sechs Monaten vorsehen, erschließt sich nicht.
Schlimmer ist, dass Ihnen offenbar nicht bewusst ist, dass in der Rechtspraxis Mindeststrafe meist Regelstrafe bedeutet. Ersttäter würden also niemals mehr als drei Monate bekommen, die wegen § 47 StGB – die Kollegin hat das ausgeführt – in 90 Tagessätze umgewandelt würden. Die Tagessatzhöhe bei dieser hier einschlägigen Klientel wird regelmäßig mit 10 Euro bemessen werden. Also 900 Euro für eine Straßenblockade! Das ist keine Abschreckung, und vor allem dürfte es für die Zahlung genügend Sponsoren geben.
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Interessant ist Ziffer 3 mit der Idee, beim gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr die Eignung zur Gefährdung ausreichen zu lassen und gleichzeitig eine Mindeststrafe von drei Monaten einzuführen. Sie stufen also die Norm vom konkreten zum abstrakten Gefährdungsdelikt herunter. Während der Schuldgehalt des Delikts abnimmt, erhöhen Sie die Strafe. Zudem bringen Sie das ganze Gefüge der §§ 315a bis 315c StGB durcheinander, wenn Sie aus vier konkreten Gefährdungsdelikten eines herausgreifen und herabstufen.
Und diese Änderung bringt für Straßenblockaden noch nicht einmal viel; denn § 315b setzt eine verkehrsspezifische Gefahr voraus, die sich realisieren würde, wenn Klimaverbrecher auf eine Autobahn rennen und dadurch eine Massenkarambolage verursachen. Tatsächlich aber wird im städtischen Umfeld der Verkehr zum Stillstand gebracht, ohne dass es direkt zu Unfällen kommt. Wenn sich ein Stau bildet, und es passieren dann Folgeunfälle, verwirklicht sich keine verkehrsspezifische Gefahr, sondern das allgemeine Lebensrisiko. Das Gleiche gilt, wenn ein Rettungsfahrzeug nicht durch den Stau kommt – wie letzte Woche in Berlin. Einschlägig wäre § 315b nur dann, wenn das Hindernis ein ankommendes Rettungsfahrzeug unmittelbar behindert, was in der Regel aber gerade nicht der Fall ist.
In Ziffer 4 wollen Sie § 323c Absatz 2 verschärfen. Nur, die Vorschrift passt in den meisten Fällen überhaupt nicht. Die Reihenfolge muss da lauten: Unglück, Rettungswilliger, Behinderung. Wenn man sich aber an der Straße festklebt und es kommt erst später zu einem Unglück, ist die Behinderung ein reiner Reflexe, keine taugliche Tathandlung.
Genauso wenig durchdacht ist die Überlegung, den Tatbestand der gemeinschädlichen Sachbeschädigung zu verschärfen; denn wir haben gerade gelernt: Mindeststrafe drei Monate heißt praktisch 900 Euro Geldstrafe.
Was wäre also zielführend? Eine Blockade von Verkehrswegen bedeutet für alle, die auf einen ungestörten Verkehrsweg angewiesen sind, eine Risikoerhöhung. Es geht um einen schnellen Transport ins Krankenhaus oder das rechtzeitige Eintreffen der Feuerwehr oder darum, zu verhindern, dass die Kinder irgendwo hilflos vor verschlossener Türe stehen. Da es oftmals um Leben oder Tod geht, muss das Risiko, dass die Frage der Kausalität meist nicht mehr zu klären sein wird, den Störern auferlegt werden – ohne Wenn und Aber.
Es führt kein Weg an einem speziellen Tatbestand vorbei, der vor dieser Risikoerhöhung schützt, und eigentlich müssten wir über einen Verbrechenstatbestand nachdenken, um wirklich abzuschrecken, und auch, um zu verhindern, dass das Verfahren wegen geringer Schuld oder gegen Geldauflage einfach eingestellt wird, wie es heute die Praxis ist.
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Sie kommen zum Ende, bitte.
Für Vandalismus in Museen gilt das Gleiche. Wir sind gesprächsbereit.
Vielen Dank.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dr. Irene Mihalic jetzt das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie es mich gleich vorweg sagen: Protest- und Aktionsformen, die dazu geeignet sind, die Sicherheit von Menschen zu gefährden, lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab, meine Damen und Herren.
({0})
Das gilt auch völlig unabhängig davon, ob der Grund für den Protest berechtigt sein mag oder nicht; darüber haben wir in einer Demokratie sowieso nicht zu befinden. Protest darf und soll kreativ sein, und, ja, Protest darf auch stören. Aber er findet seine Grenzen, wo Leib und Leben von Menschen gefährdet werden oder die Schwelle zu Straftaten überschritten wird.
({1})
Es wird auch nicht besser, wenn Proteste unter dem Label „Klimaschutz“ laufen. Ganz im Gegenteil: Die „Letzte Generation“ erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst und streut all denen Sand ins Getriebe, die sich ernsthaft und aufrichtig für eine wirksame Klimaschutzpolitik einsetzen.
({2})
Denn das Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt, können wir im Rechtsstaat nicht akzeptieren.
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Darüber hinaus sind diese gefährlichen Aktionen mit Blick auf den vermeintlichen Zweck auch noch völlig nutzlos; denn jetzt reden ja wieder alle nur über Protestformen, über das, was geht, was nicht geht, über Straßenblockaden, über Tomatensuppe auf Gemälden, aber eben nicht über die massiven Folgen der Klimakrise. Selbst jetzt, während der COP 27, überlagern die Debatten um den Protest die wichtigen Diskussionen und Entscheidungen, die global gegen diese existenzielle Bedrohung durch die Klimakrise stattfinden bzw. getroffen werden müssen. Die gefährlichen Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ sind daher klimapolitisch kontraproduktiv. Sie sind rechtsstaatlich hochproblematisch und damit vollkommen inakzeptabel.
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Jetzt komme ich zum Antrag der Union. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, das, was Sie hier machen, ist mindestens genauso hart am Thema vorbei wie die Proteste, für die Sie jetzt eine Strafverschärfung fordern.
({5})
Sie haben ja geradezu nur nach einer Gelegenheit gesucht, von Ihrem eigenen Scheitern in der Klimapolitik ablenken zu können, indem Sie jetzt nicht nur die „Letzte Generation“, sondern gleich die gesamte Klimaschutzbewegung diffamieren, so wie Herr Dobrindt im Konzert mit Herrn Seitz, wie wir gerade alle hören konnten, von einer „Klima-RAF“ spricht. Damit, Herr Dobrindt, stellen Sie nicht nur alle in den Senkel, die sich ernsthaft und gewaltfrei für mehr Klimaschutz einsetzen,
({6})
sondern Sie stellen die Opfer von vorsätzlichem Mord und brutalem Terrorismus in eine Reihe mit Autofahrern, die im Stau stehen. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Herr Dobrindt!
({7})
Das ist eine unerträgliche Verharmlosung des Terrors der RAF und eine Verunglimpfung der Opfer und der Hinterbliebenen. Dafür sollten Sie sich in Grund und Boden schämen.
({8})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dobrindt zulassen?
Ich möchte meinen Gedanken gerne zu Ende führen.
({0})
Und da wir gerade bei Gedanken sind:
({1})
Herr Dobrindt, Sie denken ja noch nicht einmal zu Ende, was Sie hier im Kern fordern. Denn was heißt denn das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, für die Traktorendemos von Landwirten, die zweifellos auch eine Sicherheitsgefährdung darstellen?
({2})
Sollen die jetzt alle in den Knast, wenn sie in der halben Republik den Verkehr lahmlegen? Nein, da sind Sie ganz solidarisch und pflegen Ihre doppelten Standards im Sinne einer So-wie-es-gerade-passt-Partei.
({3})
Aber dabei legen Sie selber die Axt an den Rechtsstaat, den Sie angeblich schützen wollen.
({4})
Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Proteste, die Leib und Leben von Menschen gefährden, sind inakzeptabel, und zwar völlig unabhängig vom Zweck. Der Rechtsstaat hat alles Nötige, um effektiv dagegen vorzugehen. Ihre peinlichen Strafverschärfungsforderungen brauchen wir da nicht.
Wenn Sie was Kluges fordern wollen, dann machen Sie mal mehr Vorschläge für einen verbesserten Klimaschutz oder für eine kluge Verkehrspolitik. Damit könnten Sie der Gesellschaft auch etwas von dem zurückgeben, was Sie die letzten 16 Jahre nicht hinbekommen haben.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise darauf hin, dass die namentliche Abstimmung in circa drei Minuten beendet sein wird. Wer also noch nicht abgestimmt hat, möge das jetzt bitte tun.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dobrindt.
({0})
Liebe Frau Kollegin Mihalic, wenn Sie mich schon zitieren wollen, was vom Grundsatz her ja sinnvoll sein kann, dann versuchen Sie doch, es richtig zu machen. Wörtliches Zitat: „Die Entstehung einer Klima-RAF muss verhindert werden.“
Liebe Frau Kollegin, ist Ihnen die Einschätzung von Bettina Röhl bekannt, der Tochter von Ulrike Meinhof, die wörtlich gesagt hat: „Die ‚Letzte Generationʼ ist schon auf der Ziellinie der RAF“?
Sind Sie weiter mit mir der Meinung, dass die Entstehung einer Klima-RAF verhindert werden muss, ja oder nein, oder was muss passieren, damit Sie sich dieser Einschätzung anschließen?
({0})
Frau Mihalic, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Dobrindt, hier einen Zusammenhang zwischen den abscheulichen Taten der RAF, dem Terrorismus, und dem, was wir hier auf der Straße erleben, zu konstruieren, ist schon ungeheuerlich.
({0})
Ja, das ist ungeheuerlich, und Sie können es nicht wegrelativieren. Sie können es auch mit dem, was Sie jetzt gerade hier gesagt haben, nicht wegrelativieren. Diesen Zusammenhang haben Sie hergestellt, und dann müssen Sie sich auch damit auseinandersetzen, dass das im Kern eine Verunglimpfung der Opfer des Terrorismus ist
({1})
und eine Verharmlosung des brutalen Terrorismus, den die RAF über dieses Land gebracht hat.
({2})
Und wenn Sie sich schon mit der Vergangenheit beschäftigen und auch Zeitzeugen hier zitieren, dann können Sie sich ja vielleicht mal mit den Familien der Opfer der RAF beschäftigen
({3})
und mal fragen, was die davon halten,
({4})
wenn Sie die Opfer – zum Beispiel können Sie Familie Herrhausen mal fragen – der RAF in eine Reihe mit Leuten stellen, die im Straßenverkehr blockiert werden oder die auf andere Art und Weise durch die Proteste beeinträchtigt werden, die da gerade stattfinden. Sie können ja mal fragen, wie die das finden.
({5})
Ich glaube, die Antwort darauf zu kennen, Herr Dobrindt, und deswegen bleibe ich bei dem, was ich gerade gesagt habe: Sie können eine solche unerträgliche Relativierung von Terrorismus hier im Hohen Haus nicht unwidersprochen vornehmen.
({6})
Und deswegen bleibe ich bei dem, was ich gerade gesagt habe.
({7})
Ich komme noch einmal zurück zu Tagesordnungspunkt 10 b. Die Abstimmung ist jetzt vorbei, und ich frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das die Stimme nicht abgeben konnte? – Das ist nicht Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Clara Bünger für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kürzlich sprach ein Landtagsabgeordneter der CDU von „Öko-Terroristen“. Sie, Herr Dobrindt, warnten vor einer „Klima-RAF“, wie es Frau Mihalic auch gerade gesagt hat.
({0})
Und durch Ihre Ausführungen wurde Ihre Aussage einfach auch nicht besser.
({1})
Der hessische Justizminister fabulierte über Terroranklagen gegen Klimaaktivisten. Damit vergleichen Sie Personen, die sich für den Erhalt der menschlichen Lebensgrundlage einsetzen, mit Verbrechern, die Bomben bauen und aus Verachtung vor menschlichem Leben Anschläge verüben.
({2})
Wenn Sie das wirklich ernst meinten, sollten Sie sich für diese Vergleiche schämen.
({3})
In Ihrem Antrag geben Sie vor, es ginge Ihnen um den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Aber die oben genannten Aussagen, die ich gemacht habe, verdeutlichen, worum es Ihnen eigentlich geht: um die größtmögliche Kriminalisierung der Äußerung einer politischen Meinung, die nicht mit Ihrer eigenen übereinstimmt.
({4})
Sie wollen Menschen inhaftieren, die politisch links stehen.
({5})
Das ist kein demokratischer Vorschlag; das sind autoritäre Anwandlungen, die unsere Debattenkultur und unsere Demokratie ernsthaft gefährden.
({6})
Ich glaube, Sie haben einfach Angst. Nach 16 Jahren in der Regierung haben Sie Angst vor Bedeutungsverlust, weil Sie merken, dass Sie keine Antworten auf die drängenden Probleme unserer Gesellschaft haben.
({7})
Aber diesem Gefühl der Unsicherheit begegnet man doch nicht mit dem Strafrecht, sondern mit eigenen tragfähigen politischen Ideen.
({8})
Auch wenn darin – wir haben ja Ihren Antrag gelesen – mittlerweile keine ohnehin rechtswidrige Präventivhaft mehr enthalten ist und Sie diese nicht mehr fordern, läuft das, was Sie da formulieren, juristisch betrachtet, auf Quatsch-Jura hinaus. So wollen Sie § 240 Absatz 4 StGB um Regelbeispiele erweitern. Die Teilnahme an Sitzblockaden im Straßenverkehr soll ein besonders schwerer Fall der Nötigung werden. Aber: Sitzblockaden zur politischen Meinungsäußerung fallen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sehr ausdifferenziert ist, in den Schutzbereich des Versammlungsrechts aus Artikel 8.
({9})
Und wenn keine verwerfliche Nötigung vorliegt, müssen wir über eine besondere Schwere bei der Strafbemessung gar nicht reden.
Frau Bünger, möchten Sie die Zwischenfrage von Frau Lindholz zulassen?
Nein, ich möchte jetzt erst meine Gedanken zu Ende bringen.
Aber kommen wir zum Grund der Proteste zurück. Luisa Neubauer sagte richtigerweise, dass die Kritik an den Aktionsformen der „Letzten Generation“ nichts an der bestehenden Klimakatastrophe ändert, dass sämtliche Klimaziele, die ohnehin viel zu unambitioniert waren, nicht eingehalten werden.
Wenn sich nicht bald grundlegend etwas ändert, werden große Teile der Erde unbewohnbar. Zig Millionen Menschen werden ihre Lebensgrundlage verlieren, wie wir es dieses Jahr auch schon in Pakistan gesehen haben. Sie werden sterben oder zur Flucht getrieben. Statt dies in den Mittelpunkt Ihres politischen Handelns zu stellen, geht aber auch die Koalition auf Ihre Drohgebärden ein, und die Innenministerin unterstellt, dass vorsätzlich Rettungswege versperrt wurden.
Ich kenne keine Klimaaktivistin, die sich mit dem Vorsatz der Versperrung von Rettungswegen mit Uhu auf die Straße geklebt hat.
({0})
Im Gegenteil: Wir haben am Montag gesehen, wie in Leipzig Menschen, die eine Straßenblockade gebildet haben, sofort Platz gemacht haben, als die Feuerwehr durchmusste. So muss das laufen!
({1})
Der Tod der Radfahrerin ist wirklich sehr tragisch. Ich denke, wir alle müssen verhindern, dass Menschen im Straßenverkehr sterben.
({2})
Die „Letzte Generation“ muss das tun; wir müssen aber alle dafür sorgen.
Wir müssen auch darüber diskutieren, wie wir solidarisch miteinander umgehen: nicht in der zweiten Reihe parken, Rettungsgassen bilden; denn in 80 Prozent der Fälle werden keine Rettungsgassen gebildet. Daran müssen wir etwas ändern.
Frau Kollegin.
Statt jetzt alle Klimaproteste infrage zu stellen, sollte die Bundesregierung endlich Maßnahmen ergreifen, um den Klimawandel zu stoppen.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe zu einer Kurzintervention der Kollegin Lindholz das Wort.
({0})
Frau Kollegin Bünger, Sie haben leider die Zwischenfrage nicht zugelassen. Sie haben in Ihrer Rede zum einen von den Gefühlen der Opfer gesprochen, zum anderen haben Sie das Agieren der Klimaaktivisten gerechtfertigt. Haben Sie eigentlich das Interview der Zwillingsschwester der verstorbenen Radfahrerin im „Spiegel“ zur Kenntnis genommen?
({0})
Wie stehen Sie zu dem, was die Schwester gesagt hat und was ich Ihnen jetzt auch vorhalte? Über den Grund, warum sie die Öffentlichkeit sucht, hat sie gesagt:
Weil ich in der Berichterstattung las, wie ignorant einige Klimaaktivisten den Tod von Menschen in Kauf nehmen …
Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?
({1})
Frau Bünger, bitte.
Zunächst einmal möchte ich der Familie der Radfahrerin natürlich mein tiefes Mitgefühl ausdrücken, auch im Namen der Linksfraktion.
Ich finde es wirklich ungeheuerlich, wie Sie das Schicksal dieser Radfahrerin hier für Ihre politischen Zwecke instrumentalisieren.
({0})
Es erschüttert mich ernsthaft, dass Sie das so in die Öffentlichkeit ziehen.
({1})
Ich weiß nicht mal, ob die Familie der Radfahrerin das überhaupt selber so befürworten würde.
Ich denke, in diesem Zusammenhang haben wir alle sehr viel unterschiedliche Berichterstattung gesehen, mit unterschiedlichen Positionierungen,
({2})
wie zum Beispiel, dass die Ärztin gesagt hat, dass die Radfahrerin nicht hätte gerettet werden können. Es gibt dazu unterschiedliche Berichte, und die sind auch sehr ausdifferenziert. Was Sie hier machen,
({3})
ist, das populistisch für Ihre eigenen politischen Zwecke zu nutzen, also zweckzuentfremden, und das halte ich für gefährlich und auch nicht richtig und angemessen.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über drei Jahren sorgt die Klimabewegung dafür – auf der ganzen Welt, in ganz Europa und auch bei uns in Deutschland –, dass sich mehr Menschen für das Thema Klimaschutz interessieren und engagieren. Die friedlichen Proteste etwa von Fridays for Future haben dazu geführt, dass sich bis in die Mitte der Gesellschaft hinein
({0})
mehr Menschen selbstkritisch die Frage stellen: Tun wir als Gesellschaft, als Staat, als Gemeinwesen eigentlich genug für den Klimaschutz? Diese Errungenschaft wurde durch friedliche Klimaproteste erreicht, und dafür gilt der Klimabewegung Respekt und Anerkennung.
({1})
Meine Damen und Herren, was wir aber in den letzten Wochen und Monaten an Radikalisierung und an Militanz bei den Klimaprotesten erleben, das bewirkt genau das Gegenteil. Denn das führt dazu, dass die gesellschaftliche Mitte sich vom Thema des Klimaschutzes abwendet. Die sogenannte „Letzte Generation“ macht aus dem Thema Klimaschutz ein radikales Nischenthema.
({2})
Das führt genau zu der Gefahr, dass wir in der Gesellschaft weniger Klimaschutz und weniger politische Debatten über dieses wichtige Thema haben. Man könnte auch sagen: Die Aktivistinnen und Aktivisten der sogenannten „Letzten Generation“ reißen mit dem Hintern das ein, was Luisa Neubauer und Greta Thunberg mühsam aufgebaut haben.
({3})
Wenn wir uns einmal mit der Attitüde, mit der Haltung dieser Demonstranten auseinandersetzen, dann erkennen wir, dass diese Haltung nicht nur im Kern antidemokratisch ist, weil es darum geht, keinen Widerspruch, keine andere Meinung zuzulassen; vielmehr ist sie auch totalitär, autoritär und von einer Herablassung geprägt, die kontraproduktiv ist.
({4})
Denn die Leute, die da blockiert werden, die Leute, die nicht zur Arbeit kommen, müsste man eigentlich davon überzeugen, dass Klimaschutz eine wichtige Sache ist. Ich frage diese Demonstranten: Glaubt ihr denn im Ernst, dass ein Polizist, der sich morgens um 7 Uhr darum kümmern muss, dass euch nichts passiert, wenn ihr euch festklebt, dass eine Mitarbeiterin im ambulanten Pflegedienst, die ab 6 oder 7 Uhr die älteren Leute pflegen will, dass diejenigen, die ihren ersten Termin als Handwerker um 6 oder 7 Uhr morgens haben, durch solche Aktionen für mehr Klimaschutz sind? Das Gegenteil wird eintreten.
Wenn ich dann höre, dass Aktivisten der sogenannten „Letzten Generation“ aus Angst vor dem Klimawandel ihr Studium, ihre Ausbildung abbrechen, dann halte ich das für nichts anderes als eine unerträgliche Hybris, die dazu führt, dass man sich die Frage stellen muss: Wer kann sich so was eigentlich erlauben? Die Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen, die ich gerade aufgezählt habe, jedenfalls nicht. Deswegen ist das etwas, was aufhören muss und wovon sich die gesamte Klimabewegung radikal abgrenzen muss, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Jetzt sind wir beim Strafrecht, bei einem Mittel, das das schärfste Schwert, das Ultima-Ratio-Instrument des Rechtsstaats ist. Da, muss man ganz klar sagen, hängt die Union leider der Haltung an, dass man jedes gesellschaftliche Problem, jedes neue Phänomen automatisch mit schärferem Strafrecht lösen kann. Die Realität ist aber ganz anders: Das geltende Recht sieht doch, anders als Sie es hier gesagt haben, auch für die einfache Sachbeschädigung und für die einfache Nötigung eine Freiheitsstrafe vor. Das haben Sie hier falsch dargestellt.
({6})
Das geltende Recht sieht auch vor, dass Straßenblockaden eine strafbare Nötigung sein können, und zwar auch, wenn man sich auf die Versammlungsfreiheit beruft. Wenn nämlich der Konnex zwischen denjenigen, die ich blockiere, und dem Thema, über das ich spreche, für das ich demonstriere, nicht hinreichend gegeben ist, dann ist das eine strafbare Nötigung, und dann müssen die Leute auch verurteilt werden, und zwar schnell, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Es ist außerdem geltendes Recht, dass wir ein beschleunigtes Verfahren haben. Bringen wir doch mal das beschleunigte Verfahren zum Einsatz, um nicht Monate oder Jahre zu brauchen, bis solche Leute mal verurteilt werden! Es ist außerdem geltendes Recht, dass jemand, der eine Sache kaputtmacht oder eine solche Blockade durchführt, für die Schäden, die dabei entstehen, haften muss. Machen wir die doch zivilrechtlich verantwortlich!
({8})
Denen muss eine Rechnung dafür geschickt werden, dass dort Leute nicht zur Arbeit kommen, dass dort Termine nicht wahrgenommen werden können, dass Gegenstände in Museen kaputtgehen. Die müssen dafür blechen, damit sie merken, dass man so was nicht macht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Das geltende Recht sieht auch vor, dass Richterinnen und Richter über die Strafbarkeit entscheiden und nicht wir hier im Deutschen Bundestag.
({10})
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab und werden gerne weiter daran mitwirken, uns genau anzuschauen, welche Strafurteile da in den nächsten Wochen und Monaten verkündet werden.
Lassen Sie mich abschließend sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich fände es gut, wenn wir hier im Bundestag über das Thema Klimaschutz sprechen würden.
({11})
Ich fände es gut, wenn wir darüber reden würden, ob das Wind-an-Land-Gesetz, ob der Kohleausstieg, ob all die guten Sachen, die wir schon in der Ampelkoalition gemacht haben, ausreichen. Wir können gerne darüber reden. Aber die Profilneurose dieser Klimademonstranten führt doch dazu, dass wir hier über das Strafrecht sprechen, dass wir über Protestformen sprechen und nicht über die Klimaschutzziele in der Sache. Das sollten wir tun. In diesem Sinne lehnen wir Ihren Antrag ab.
Danke.
({12})
Der Kollege Dr. Günter Krings hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der einen oder anderen Rede in der Debatte will ich doch mal kurz in Erinnerung rufen, worüber wir hier eigentlich sprechen. Dass wir den Klimaschutz als die zentrale Aufgabe unserer Zeit ansehen, ist unter 90 Prozent der Mitglieder dieses Hauses ja gar nicht umstritten. Es geht hier in der Debatte aber eben nicht um Klimaschutz, sondern es geht um den Rechtsstaat, meine Damen und Herren.
({0})
Gerade deshalb finde ich eine Reihe von Äußerungen aus der Bundesregierung in den letzten Wochen und Monaten mindestens irritierend. So sagte die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt Jennifer Morgan schon im Sommer – Zitat –:
Es ist wichtig, dass man sich engagiert. Auf welche Art, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Die Umweltministerin Steffi Lemke sagte vor wenigen Tagen:
Es ist absolut legitim, für seine Anliegen zu demonstrieren und dabei auch Formen des zivilen Ungehorsams zu nutzen.
Meine Damen und Herren der Ampel, halten Sie denn wirklich so wenig von Ihrer eigenen Klimapolitik, dass Sie jede Form von militantem Protest dagegen richtig und akzeptabel finden?
({1})
Ein Bekenntnis zum Rechtsstaat gibt es nur ungeteilt. Wer auf dem Boden des Rechtsstaats stehen will, kann nicht zwischen guten und schlechten Straftaten unterscheiden.
({2})
Wir verlangen deshalb eine Schärfung des Rechts – unabhängig von den politischen Zielen, die Straßenblockierer oder Museumsrandalierer verfolgen. Ich bin im Übrigen auch nicht ganz sicher, ob weite Teile der Ampel noch so gelassen blieben und sagen würden: „Strafverschärfung ist eigentlich gar kein Thema“, wenn diese sogenannten Protestformen von Reichsbürgern oder Rechtsradikalen kommen würden, meine Damen und Herren.
({3})
Wir sehen in unseren Städten zurzeit eine ganz neue Dimension strafwürdiger Aktionen. Für die Blockierer, die sich auf unseren Straßen eben nicht hinsetzen, sondern festkleben, ist die Behinderung von Autofahrern ja nicht eine unvermeidbare kurzfristige Nebenfolge ihres Tuns, sondern sie wollen gerade möglichst langanhaltende Behinderungen möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger, weil sie ihrem Drang nach Aufmerksamkeit alles andere unterordnen. Sie instrumentalisieren und schädigen Tausende von Unbeteiligten. Besonders bitter ist das, wenn dadurch, wie wir eben auch gehört haben, Rettungskräfte im Stau stecken bleiben und mutwillig Menschenleben gefährdet werden.
({4})
Die Demonstrationsfreiheit ist ein sehr hohes Gut im Verfassungsstaat, aber eben kein Freibrief, um andere quasi in Geiselhaft für die eigenen politischen Ziele zu nehmen.
({5})
Eine neue Qualität erreichen die Proteste aber auch mit den vorsätzlichen Sachbeschädigungen an Kunst und Kultur; die Kollegin Schenderlein wird gleich noch dazu sprechen. Es macht auch mich fassungslos, wenn die Täter tatsächlich achselzuckend in Kauf nehmen, dass Kunstwerke von bedeutendem historischem und künstlerischem Wert durch ihr Tun unwiederbringlich zerstört werden können. Und auch hier zielen die Taten direkt gegen Bürgerinnen und Bürger, gegen Museumsbesucher, die sich unterhalten wollen, die sich in Museen bilden wollen. Sie müssen erleben, wie Museen tagelang geschlossen werden. Museumsbesucher müssen sich inzwischen immer öfter aufwendigen, peniblen Sicherheitskontrollen unterziehen. Manchen hier im Haus mag das egal sein. Aber wir wollen, dass die abschreckende Wirkung des Strafrechts so groß ist, dass unsere Museen offene Orte bleiben und nicht in Hochsicherheitstrakte verwandelt werden müssen, meine Damen und Herren.
({6})
Wenn wir nicht wollen, dass die beschriebenen Aktionen immer mehr Nachahmer finden, und wenn wir eine sich durchaus abzeichnende Spirale der Radikalisierung durchbrechen wollen, dann müssen wir im Strafrecht ein klares Signal geben. Es ist gut, dass es in einigen Fällen inzwischen Urteile gibt. Viele Menschen verstehen aber nicht, dass die Täter bislang mit oft sehr geringen Geldstrafen davonkommen; es gibt teilweise sogar Freisprüche. Ich wiederum kann diese Menschen verstehen.
Der Verweis auf richterliche Spielräume für höhere Strafen hilft hier nun wirklich nicht weiter. Weder Urteilsschelte noch ein öffentliches Einfordern härterer Strafen halte ich für die angemessene Reaktion. Die einzig richtige Antwort der Politik hier im Bundestag ist vielmehr die Vorlage gesetzgeberischer Änderungsvorschläge, und genau solche Vorschläge machen wir, meine Damen und Herren.
({7})
Wir wollen daher massive Straßenblockaden künftig als besonders schwere Fälle der Nötigung einordnen und mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten belegen. Um Kunst- und Kulturgüter von bedeutendem Wert besser zu schützen, wollen wir den Strafrahmen für die gemeinschädliche Sachbeschädigung erhöhen. Ich will noch ein drittes Beispiel nennen: Besonders verwerflich erscheint es mir, wenn Personen, die als Rettungskräfte Hilfe leisten wollen, behindert werden – natürlich aus Sicht der Opfer, aber auch aus Sicht der Rettungskräfte. Diese Rettungskräfte haben es in ihrer täglichen Arbeit wahrlich schwer genug, und sie haben daher Anspruch auf einen besseren strafrechtlichen Schutz ihrer Arbeit.
({8})
Meine Damen und Herren, am Ende leitet uns die klare Überzeugung: Ein noch so guter Zweck kann im Rechtsstaat kein kriminelles Mittel heiligen. Und auch für selbsternannte Klimaschützer kann es keinen Strafrabatt geben.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion Sebastian Fiedler.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich versuche jetzt mal, nicht direkt über jedes Stöckchen zu springen, sondern wähle einen anderen Ansatz. Ich hatte nämlich eine persönliche Erfahrung. Wir hatten als SPD-Fraktion am 11. Oktober im Paul-Löbe-Haus eine tolle Veranstaltung zur Umweltkriminalität. Kurz vor Ende der Veranstaltung hat tatsächlich einer von der sogenannten „Letzten Generation“ den Brandmelder ausgelöst, und wir mussten den ganzen Laden evakuieren.
({0})
Ich habe mich, ehrlich gesagt, ein bisschen gewundert, dass die Union auf diese Teilaspekte, die hier im Hause stattgefunden haben, mit keiner Silbe eingegangen ist. Das finde ich einigermaßen bemerkenswert.
({1})
Ich will aber auf den eigentlichen Zusammenhang zu sprechen kommen; denn es ist natürlich kein intellektueller Höhenflug, wenn man sich für Klima- und Artenschutz einsetzt und ausgerechnet eine Veranstaltung zu diesem Thema sprengt.
({2})
Worum ging es da? Es ging um das drittgrößte Kriminalitätsphänomen der Welt. Die Schätzungen gehen von einem Schaden in Höhe von 100 bis 300 Milliarden Euro jährlich aus; so genau weiß man es nicht. Ich zitiere den WWF:
Wir befinden uns … im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren. Ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, … 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten sind bedroht.
({3})
Und ich ergänze: Ein Großteil davon ist deswegen bedroht, weil es sich bei Umweltkriminalität um eine große Kriminalitätsform handelt; die ist ein großer Treiber.
({4})
Ich will das Thema in ein paar Teilaspekte aufgliedern. Zunächst geht es dabei um illegalen Holzhandel und Holzeinschlag. Aus den Medien wissen wir, dass unsere schöne „Gorch Fock“ mit höchster Wahrscheinlichkeit aus „blutigem“, illegalem Holz aus Myanmar wieder zusammengeschustert worden ist. In jeder Minute, die wir hier gerade reden, fällt etwa ein Fußballfeld Regenwald der Rodung zum Opfer. Das heißt, wir reden über 680 Fußballfelder während dieser Debatte.
({5})
Weiter geht es um illegale Fischerei. Viel davon landet auf unseren Tellern. Es geht dabei um Sklavenhandel, der betrieben wird. Es geht um Wilderei, illegalen Artenhandel, illegalen Handel mit Müll und dessen Entsorgung, illegalen Bergbau usw. usw.
Das alles ist verbunden mit Kernthemen, die wir hier diskutieren: Lieferketten, Korruption, Geldwäsche, Hinweisgeberschutz und vieles mehr. Deswegen – und das war Thema der Veranstaltung – hat die Bundesinnenministerin angekündigt, eine zentrale Ansprech- und Koordinierungsstelle auf Ebene des Bundes einzurichten. Ein kleiner Hinweis an die CDU in Nordrhein-Westfalen: Das ist eine Stelle, die Sie aufgelöst haben. Wir richten sie auf Bundesebene ein.
({6})
Aus den naheliegenden Gründen, die ich gerade genannt habe, wird sich ein wesentlicher Teil der Strategie zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität – das hat Nancy Faeser richtigerweise gesagt und deutlich gemacht – mit der Bekämpfung der Umweltkriminalität beschäftigen.
Wir alle hier im Haus tun gut daran, wenn wir die Beratungen auf europäischer Ebene konstruktiv begleiten.
({7})
– Ich komme auf Ihr Thema; keine Sorge. Machen Sie sich keine Sorgen. –
({8})
Wenn es darum geht, die Kriminellen und auch die Unternehmen, die sich an solchen Straftaten beteiligen, härter zu bestrafen, bin ich sehr auf Ihre Hinweise dazu gespannt, wie wir da auf europäischer Ebene zu einer Harmonisierung kommen,
({9})
genauso wie dazu – darüber diskutieren wir –, ob die Europäische Staatsanwaltschaft hier mehr Mandatsbereiche bekommen muss.
({10})
Warum spreche ich das alles an?
({11})
Das geht natürlich auch in Richtung all derjenigen, die sich aus guten Gründen fürs Klima und für Artenschutz engagieren. Wir tun viel, und wir packen sogar Themen an, die noch gar nicht auf der öffentlichen Tagesordnung zu finden sind. Also: Wir tun gut daran, viel gemeinsam zu tun. Das geht an all diejenigen, die legal demonstrieren: Pushen Sie bitte auch dieses Thema!
({12})
Eines gehört noch dazugesagt: Weder die Bundesregierung noch dieses Haus lassen sich erpressen. Wenn man den Wortlaut auf der Homepage der sogenannten „Letzten Generation“ liest, dann kommt man nämlich ein bisschen zu diesem Eindruck. Diese Aktionen – das muss ich nicht alles wiederholen – sind sehr gefährlich für Menschenleben,
({13})
sie sind strafbar, sie bedrohen einzigartige Kulturgüter, und – das hatten Sie dummerweise vergessen – sie bedrohen die Demokratieprozesse hier im Haus. Wenn der Brandmelder losgeht und wir alle auf die Straße müssen, ist das durchaus ein wesentliches Thema.
Das ist eine völlig fehlgeleitete Energie; denn wir müssen, wenn wir hier etwas erreichen wollen, tatsächlich alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenbringen. Auch diese Botschaft muss von hier ausgehen: Die Bedrohungen sind real, und diese Bedrohungen machen Angst. Das darf man durchaus denjenigen zugestehen, die sich hier demokratisch beteiligen. Die Ziele sind richtig; die Mittel sind grundfalsch, und sie sind eben auch kriminell.
({14})
Ich komme zum Ende meiner Rede. Sie merken, warum ich mir die Redezeit so aufgeteilt habe. Der Kollege Konstantin Kuhle, die Kollegin Eichwede und andere haben schon viel zum Inhalt Ihres Antrags gesagt. Ich möchte noch hinzufügen: Das ist Kriminologie, das ist Kriminalstrategie erstes Semester.
({15})
Also wenn Sie hier den Leuten erzählen wollen, durch die Androhung irgendeiner erhöhten Strafe würde sich jemand nicht festkleben oder würde keinen Kartoffelbrei auf irgendetwas schmeißen,
({16})
dann ist das populistischer Unfug sondergleichen. Das weiß jeder, der ein bisschen Kriminologie gelesen hat.
({17})
Und weil Sie sich so gerne als Law-and-Order-Partei geben: Wenn wir hier in den nächsten Wochen und Monaten darüber diskutieren, die Strafen für Umweltverbrecher zu erhöhen, dann werde ich Sie beim Wort nehmen. Wenn es darum geht, Unternehmen, die illegal geschlagenes Holz einschleppen, mit schärferen Unternehmenssanktionen zu kriegen, wenn es darum geht, diese umsatzabhängig zu machen, dann bin ich gespannt, wie Ihre Law-and-Order-Politik bei diesen Verbrechern aussieht.
({18})
Das gehört nämlich mit zur Vollständigkeit dazu und zeichnet ein konsistentes Bild.
({19})
Das Wort hat Stephan Brandner für die AfD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! Von allgemeinem SPD-Blabla wieder zum Thema.
({0})
Seit circa einem Jahr machen Ihre Klimakleber und Museumsrandalierer vielen von uns das Leben schwer: blockierte Straßen, blockierte Autobahnen und Brücken, beschmutzte, besudelte Kunstdenkmäler und Kunstwerke, Sabotage und nun in Berlin die erste Tote. Was vielerorts und auch hier von ganz links bis zur CDU/CSU lange mit „Aktivismus“ niedlich umschrieben wurde, ist nichts anderes als Klimaterrorismus in seiner reinsten Form.
({1})
Das ist eine kriminelle Clique, die tatsächlich Terror verbreitet, also ideologisch motivierte Gewaltaktionen gegen Sachen und Menschen durchführt. Es geht darum, Unsicherheit und Angst und Schrecken zu verbreiten – und um nichts anderes. Das sind Klimaterroristen, die sich offenbar – da hat Herr Dobrindt gar nicht so unrecht – die Leute von der RAF, die in den 70er- und 80er-Jahren gemordet haben und die eine Wurzel der heutigen Grünen darstellen, zum Vorbild genommen haben.
({2})
Auch die damaligen Terroristen wurden zunächst von Intellektuellen gefördert, von anderen belächelt, übten zuerst zivilen Ungehorsam aus, radikalisierten sich dann, übten Gewalt aus gegen Sachen, führten Brandstiftungen durch und am Ende Morde, Morde auch an völlig Unbeteiligten wie beispielsweise Polizeibeamten. Die heutigen Klimaterroristen haben angekündigt, weiter eskalieren zu wollen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis nicht mehr geklebt, sondern abgefackelt und vorsätzlich getötet wird. Dem muss Einhalt geboten werden.
({3})
Hinter der Organisation „Letzte Generation“ stehen mafiöse Strukturen. Die Finanzierung läuft im Wesentlichen über den Climate Emergency Fund, der über Millionenbeträge verfügt. Aber auch Sie alle haben da natürlich Dreck am Stecken; denn die letzten Bundesregierungen – das betrifft ja nun einmal nahezu Sie alle – haben diese Gruppierungen, haben die Klimaterroristen und ihr Umfeld in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit hohen Millionenbeträgen gefördert; Stichworte: Kampf gegen rechts, Demokratieförderung, Zivilgesellschaft, Antifa, Wokeismus. Das ist alles der Nährboden, auf dem jetzt der Klimaterrorismus entstanden ist. Warum haben Sie das gemacht? Um sich das Wohlwollen der Klimaterroristen zu sichern und es für Ihre Zwecke zunächst zu nutzen.
({4})
Meine Damen und Herren, das erinnert alles so ein bisschen an den Zauberlehrling und an den Satz: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los.
({5})
Die Geister, die Sie nun nicht mehr loswerden, haben Sie alle selber gerufen. Alle diese Klimaterroristen draußen wurden unter Merkel und ihren Claqueuren in den letzten 10, 15 Jahren sozialisiert. Sie tragen zumindest die moralische Verantwortung für alle Straftaten, die draußen von Klimaterroristen verübt werden.
({6})
Nun wollen ausgerechnet Sie von der CDU – als Zauberlehrling sozusagen – die Brut, die auf Ihre Politik zurückgeht, die Geister also, die Sie gerufen haben, durch hektische Änderungen in Strafprozessordnung und Strafgesetzbuch zurückdrängen. Das ist Heuchelei pur.
({7})
Ich kann mir nichts Heuchlerischeres vorstellen. Ein klassischer Oppositionspopulismusantrag von der CDU/CSU, der jetzt Gott sei Dank in den Ausschuss verwiesen wird. Ich hoffe, dass von dem ganzen Spuk, den Sie in diesen Antrag hineingepackt haben, –
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist vorbei.
– am Ende nur ganz, ganz wenig, am besten gar nichts überbleibt.
Vielen Dank.
({0})
Helge Limburg hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner, zum einen ist Ihre Behauptung, meine Fraktion oder Partei hätte Wurzeln im Terrorismus, verleumderisch und abwegig.
({0})
Zum Zweiten, Herr Brandner, ist es sehr bezeichnend, dass Sie in Zeiten, in denen in diesem Land wieder Wohnheime von Geflüchteten angezündet werden, in denen Menschen, die aus der Ukraine zu uns flüchten und Schutz suchen, von rechtsextremen Gewalttätern bedroht werden, die sich durch Ihre Parolen ermutigt und bestärkt fühlen, versuchen, gegen die Klimabewegung zu hetzen. Damit lenken Sie von den Untaten ab, die Ihrer Ideologie entwachsen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2021 kamen insgesamt zehn Radfahrerinnen und Radfahrer im Berliner Straßenverkehr ums Leben, 2022 bislang neun, darunter die Person, die jüngst von einem Betonmischer überfahren wurde. Das sind nicht nur erschreckende Zahlen, das sind Menschen, die aus dem Leben gerissen wurden und die Angehörige in tiefer Trauer hinterlassen. Ihnen gilt unser Mitgefühl. Wenn öffentlich darüber gesprochen wird, welche Konsequenzen aus diesen Unfällen zu ziehen sind, dann ist Pietät gefragt. Und ich kann in der Tat gut nachvollziehen, dass die Schwester der jüngst überfahrenen Radfahrerin diese Pietät, ein Mindestmaß an Mitgefühl bei einigen öffentlichen Äußerungen der Gruppe „Letzte Generation“ vermisst hat. Angehörige von Toten sollten nicht noch durch Äußerungen verletzt werden.
({2})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Union hat hier in diesem Hohen Hause keinen der von mir genannten 18 anderen Todesfälle von Radfahrerinnen und Radfahrern in Berlin zum Anlass einer parlamentarischen Debatte gemacht. Keinen!
({3})
Dabei gäbe es viel zu diskutieren: von baulichen Maßnahmen an Kreuzungen zum Schutz von Radfahrerinnen und Radfahrern bis hin zu verpflichtenden Abbiegeassistenten an Lkws, einer effektiven Durchsetzung des Verbots des Parkens in zweiter Reihe oder einem Gebot für Rettungsgassen. All diese Debatten haben Sie von der Union nicht geführt. Nichts haben Sie für den Schutz von Radfahrerinnen und Radfahrern getan.
({4})
Aber jetzt, Frau Lindholz, wo Sie einen Weg sehen, den Tod einer Radfahrerin einer für Sie – aus Ihrer Sicht – politisch missliebigen Gruppe unterzuschieben, fahren Sie diese Kampagne und diesen Antrag hier auf. Das ist durchsichtig und gleichzeitig schäbig.
({5})
Um das klar zu sagen – Frau Mihalic hat es auch schon zurecht betont –: Protest darf keine Menschenleben gefährden. Punkt. Da sind wir ganz klar.
({6})
Aber man sollte auch nicht pauschal behaupten, dass er das tut, ohne die Fakten im Einzelfall zu betrachten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Wenn man – Frau Mihalic hat es bereits ausgeführt – Ihrem Antrag folgen würde, dann würde jede angemeldete legale friedliche Demonstration – auch die Trecker-Demonstration, die Sie ausdrücklich unterstützt haben – in Sorge darum sein, ob ihre Teilnehmer nicht haftbar gemacht werden für durch sie blockierte Rettungswege. Eine solche verfassungswidrige Einschränkung der Versammlungsfreiheit machen wir nicht mit.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man die Union so hört, könnte man meinen, der Rechtsstaat sei ein Holzhammer, der bedrohlich über den Köpfen der Menschen schweben soll und sie quasi an politisch unerwünschtem Verhalten hindern soll. Das Gegenteil ist der Fall: Der Rechtsstaat muss vor Willkür und vor Übermaß schützen. Der Rechtstaat muss für die Angemessenheit staatlicher Maßnahmen einstehen. Im Rechtsstaat obliegt die abschließende juristische Bewertung von Handlungen den Gerichten und nicht der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagfraktion.
({9})
Um es klar zu sagen: Das Beschmieren der Glasscheibe vor einem Gemälde mit Kartoffelbrei finde ich unanständig, überflüssig – und es spielt natürlich mit der Sorge um dieses Kunstwerk, es spielt mit den Ängsten der Menschen um ein unwiederbringliches Kunstwerk. Aber es ist keine Sachbeschädigung, weil es die Substanz eben nicht beschädigt, egal was Sie in Ihre Anträge schreiben.
({10})
Ob das Blockieren einer Straße jedes Mal eine rechtswidrige Nötigung darstellt – Sie haben es selber gesagt, Herr Krings –, das wird sehr unterschiedlich bewertet. Es gab Verurteilungen, es gab aber in der Tat auch Freisprüche. Insofern gilt – Frau Eichwede hat es gesagt –: Vertrauen wir doch dem Rechtsstaat! Vertrauen wir der Justiz! Unterstellen wir nicht dauernd, wie die Union das tut, dass sie zu milde Sanktionen verhängen würde, sondern stärken wir die Gerichte in ihrer Unabhängigkeit.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Klimaschutz ist nicht nur das Anliegen verschiedenster Aktivistinnen und Aktivisten auf der Straße, sondern es ist ein Verfassungsauftrag; das hat das höchste deutsche Gericht festgestellt. Wir nehmen diesen Auftrag an. Wir wollen ihn auf parlamentarischem Wege mit demokratischen Mitteln hier voranbringen. Die Unionsfraktion ist herzlich eingeladen, –
Herr Kollege.
– ihre Blockadehaltung gegen den Klimaschutz aufzugeben und uns dabei zu begleiten. Aber wir werden notfalls auch ohne Sie voranschreiten und diesen Verfassungsauftrag erfüllen, die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu wahren und zu schützen.
Herr Kollege.
Dafür sind wir hier.
Vielen Dank.
({0})
Ingmar Jung ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klima ist das Megathema der Gegenwart und der nächsten Jahre. Wer politisch Erfolg haben will und glaubt, das ignorieren zu können und dort keine Lösung anbieten zu müssen, braucht eigentlich gar nicht anzutreten. Ich glaube, darin sind wir uns vollständig einig.
Herr Limburg, Sie haben eben erklärt, die Union müsse ihre Blockadehaltung aufgeben. Nach meiner Erkenntnis hat die Ampel eine Mehrheit in diesem Hause. Ich empfehle Ihnen dringend: Nutzen Sie doch die Mehrheit, die Sie haben. Setzen Sie das durch, was Sie für richtig halten, und wir schauen dann am Ende der Legislaturperiode, was Sie erreicht haben. Dabei kommt es auf uns leider nicht an.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte die kurze Zeit nutzen, um auf zwei, drei Dinge einzugehen, die hier von Kollegen gesagt wurden. Frau Eichwede, Herr Kuhle und auch Herr Limburg, Sie alle drei haben erklärt, Strafzumessung sei Sache der Gerichte und nicht der Politik. Das ist völlig zutreffend, deswegen steht in unserem Antrag dazu auch kein Wort. Das Festlegen des Strafrahmens, das Festlegen der Gesetze ist Sache des Gesetzgebers. Genau das beantragen wir hier. Genau darüber wollen wir diskutieren; das werden Sie der ersten Gewalt in diesem Staate doch bitte schön noch zugestehen.
({1})
Frau Bünger hat uns vorgeworfen, wir versuchten, die Diskriminierung politischer Meinungsäußerung durchzusetzen.
({2})
Leute, das ist wirklich so was von absurd. Es geht doch genau um das Gegenteil. Wir reden hier heute über Freiheitsrechte und die strafrechtlichen Grenzen derselben. In Rechtsstaaten sind Freiheitsrechte nur deshalb so viel wert – das unterscheidet sie gerade von Unrechtsstaaten –, weil sie diskriminierungsfrei gewährt werden. Das muss aber auch auf beiden Seiten gelten. Sie können in Deutschland Freiheitsrechte für alles in Anspruch nehmen. Sie können für jeden Unsinn demonstrieren. Und wir entscheiden hier nicht, ob das Ziel richtig ist, und es spielt keine Rolle, ob es uns passt oder nicht. Darin besteht der Unterschied zum autoritären Regime.
({3})
Dann aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, gilt auf der anderen Seite dasselbe: Dann müssen die staatlich gesetzten strafrechtlichen Grenzen ebenfalls völlig unabhängig von der Position und dem Ansehen der Person durchgesetzt werden; ansonsten ist es nämlich keine diskriminierungsfreie Gewährung, und genau darum geht es heute.
({4})
Meine Damen und Herren, Herr Fiedler hat uns auch – genauso wie Frau Eichwede vorher – erklärt, Strafschärfungen würden keinen abschrecken und sowieso nicht dazu führen, dass Straftaten nicht begangen werden.
({5})
Damit stellen sie letztlich das Strafrecht ganz grundsätzlich in Frage. Aber der schönste Widerspruch kam dann im nächsten Satz: Bei Umweltstraftätern ist das natürlich etwas anderes. – Das ist doch genau die Diskriminierung: Es gibt gute Straftäter und schlechte Straftäter; für die einen brauchen wir höhere Strafen, für die anderen nicht. – Nein! Für uns gilt das ohne Ansehen der dahinterstehenden Position. Wir sagen an dieser Stelle klar: Wer Freiheitsrechte ausübt, muss das unbeschränkt tun können und hat den vollen Schutz des Staates verdient. Der will übrigens auch nicht gemein gemacht werden mit den anderen. Aber wer mutwillig vorsätzlich Grenzen überschreitet, ist eben Straftäter und muss auch so behandelt werden. Da müssen wir hinkommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Frau Eichwede, beantragen Sie eine Kurzintervention, oder was heißt Ihre Meldung?
({0})
Dann gebe ich Ihnen das Wort für eine Kurzintervention.
({1})
Ich habe mich schon sehr lange gemeldet und wurde abgesehen davon in der Rede auch zweimal persönlich angesprochen.
({0})
Ich möchte zunächst darauf eingehen, dass nach dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion – sonst können Sie uns noch einmal aufklären – offensichtlich eine Unzufriedenheit mit bisher durch Strafrichterinnen und Strafrichter verhängten Strafen besteht, sonst würden Sie doch keine Notwendigkeit sehen, den Strafrahmen anzuheben und Freiheitsstrafen zu verhängen.
({1})
Ich glaube, ich habe dargelegt, dass das nach § 47 StGB – auch nicht nach Berücksichtigung Ihres Antrags – gar nicht möglich wäre.
({2})
Trotzdem wollen Sie in die Kompetenzen und die Strafzumessung der Richterinnen und Richter politisch entsprechend eingreifen. Wir sehen hier keine Notwendigkeit.
Zum anderen. Sie haben hinsichtlich der Rede des Kollegen Fiedler gesagt, er habe sich selber widersprochen.
({3})
Das hat er nicht, werte Kolleginnen und Kollegen. Wir haben in Deutschland kein Unternehmenssanktionsstrafrecht, das wollten wir schon lange durchsetzen.
({4})
Das war mit Ihnen in der Großen Koalition nicht möglich. Wir würden damit dem Strafrecht und dem Rechtsstaat eine weitere Möglichkeit geben, gegen eines der größten Kriminalitätsfelder schärfer vorzugehen.
({5})
Herr Jung, möchten Sie reagieren? – Bitte schön.
Zunächst: Ich habe Ihre Meldung gesehen. Ich hätte Ihre Zwischenfrage auch zugelassen; ich wurde nur nicht gefragt. Es lag also nicht daran, dass ich sie nicht zugelassen habe.
({0})
Zum Zweiten habe ich den Kollegen Fiedler nicht so verstanden, dass er vom Unternehmenssanktionsrecht gesprochen hat.
({1})
Sie haben von Umweltstraftaten gesprochen. Wir können gerne im Protokoll nachschauen, ob ich das richtig verstanden habe. Für Umweltstraftaten gibt es ein Strafrecht. Auf der einen Seite ist er davon ausgegangen, dass härtere Strafen helfen. Auf der anderen Seite ist er davon ausgegangen, dass sie nichts bringen. Nur das habe ich zitiert. Da können Sie anderer Auffassung sein; aber das hat er genau so gesagt in der Debatte.
({2})
Zum Dritten wird die Behauptung, dass wir in die Strafzumessung eingreifen würden nicht richtiger, wenn man sie wiederholt. Kein Teil unseres Antrages gibt Vorgaben für die Strafzumessung. Wir erleben in den letzten Wochen ein völlig neues Strafdelikt oder ein Phänomen. Da muss es dem Gesetzgeber doch gestattet sein, darauf zu reagieren und andere Strafrahmen festzulegen. Nichts anderes macht unser Antrag.
({3})
Da Sie jetzt zum zweiten Mal den § 47 StGB zitieren: Das ist ja völlig richtig. Das ist uns doch auch klar. Genau deshalb haben wir drei Monate angesetzt. Es entstehen Fälle, in denen der Tatbestand erfüllt ist, aber eine Freiheitsstrafe möglicherweise doch nicht gerechtfertigt ist. Damit lassen wir den Gerichten doch die Flexibilität. Wir haben intern ernsthaft darüber diskutiert, auf sechs Monate zu gehen – dann greift der § 47 StGB nämlich nicht mehr –, haben aber bewusst die drei Monate gewählt, weil wir damit am Ende auch noch die Fälle, in denen es nicht gerechtfertigt ist, ausschließen können. Deswegen ist es am Ende ein Kompromiss und eine flexible, pragmatische Lösung gewesen. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie sich dem nicht anschließen können.
({4})
Katrin Helling-Plahr hat jetzt das Wort: für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zweck heiligt nicht nur nicht die Mittel; mit dem falschen Mittel schadet man einem eigentlich ehrbaren Ziel sogar. Den Beweis dafür hat die „Letzte Generation“ wirklich eindrücklich angetreten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich bezweifle sehr, dass Populismus und Symbolpolitik hierauf die richtige Reaktion sind.
({0})
Wenn es nicht nur um die schnelle Schlagzeile gehen soll, ist manchmal weniger mehr. Denn wir können sehr zuversichtlich sein, dass die Justiz auf das Phänomen Straßenblockade angemessen zu reagieren weiß. Entsprechende Straftaten müssen regelmäßig zur Anklage gebracht und abgeurteilt werden. Bei politisch motivierten Straftätern muss der Rechtsstaat klar und frühzeitig Grenzen aufzeigen. Wer wiederholt andere nötigt, muss mit Freiheitsstrafen rechnen, und zwar auch ohne Bewährung.
Die Landesjustizminister sollten deshalb klarstellen, dass Strafverfahren im Zusammenhang mit Straßenblockaden nicht wegen Geringfügigkeit oder gegen Auflagen und Weisungen eingestellt,
({1})
sondern im Regelfall immer zur Anklage gebracht und abgeurteilt werden.
({2})
Auch bei der Abwägung der Verhältnismäßigkeit von Straßenräumungen wird die Polizei die durch die Blockade entstehende Gefahr für höchstrangige Rechtsgüter wie Leib und Leben Dritter nun stärker in ihrer Entscheidung einstellen müssen. Das alles gilt es natürlich vonseiten der Politik eng zu begleiten. So sieht dann seriöse Rechtspolitik aus.
Anders die Union. Liebe Kollegen von der Union, zugutehalten kann man Ihnen, dass Sie es in der letzten Minute geschafft haben, von der Idee des Präventivgewahrsams Abstand zu nehmen. Immerhin. Leider ist das aber auch das einzig Erfreuliche, das es zu Ihrem Antrag zu sagen gibt. Viele grundsätzliche Dinge sind hier in der Debatte schon genannt worden. Aber auch handwerklich stimmt bei Ihrem Antrag kaum etwas. Zwei Beispiele: Sie wollen alle in § 304 StGB genannten Gegenstände – Zitat – „besser vor mutwilligen Beschädigungen … schützen und dazu den Straftatbestand“ anpassen. In § 304 StGB werden aber auch Gegenstände, die zur Verschönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen, erfasst. Also mehrmonatige Freiheitsstrafen für den dummen Jungen, der erstmalig ein Herz in eine Parkbank ritzt, oder den, der aus Wut gegen einen Blumenkübel tritt? Ist das Ihr Ernst? Das traue ich Ihnen eigentlich nicht zu.
Sie wollen § 315b StGB so anpassen, dass die Täter bereits dann bestraft werden, wenn eine Blockade nur schon abstrakt dazu geeignet ist, Leib und Leben eines Menschen zu gefährden. Ja, liebe Union, in welchem Fall einer Demonstration ist es nicht theoretisch denkbar, dass ohne die Demo weniger Stau bestünde? Nach Ihren Vorstellungen wäre die bloße Teilnahme an den bereits angesprochenen Bauerndemos im Mindestmaß mit Freiheitsstrafen von drei Monaten zu bestrafen.
({3})
Dass das Bundesverfassungsgericht dies bei der Abwägung mit dem Versammlungsrecht wohl nicht mitmachen dürfte, lasse ich jetzt mal außen vor; so weit haben Sie wohl ohnehin noch nicht gedacht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen der sogenannten „Letzten Generation“ entgegentreten. Dazu aber gibt das geltende Recht viel Spielraum. Dieser muss genutzt werden. Wir brauchen Konsequenz, keinen Aktionismus.
Vielen Dank.
({5})
Der nächste Redner ist Matthias Helferich.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem heutigen Antrag versucht die CDU/CSU zumindest vorzugeben, ihre Wurzeln als Law-and-Order-Partei wiederzuentdecken, selbstverständlich nicht, ohne zuvor einen Kniefall vor dem grünen Zeitgeist zu machen. Straßenblockierer und Museumsrandalierer: Der links-kriminelle Protest kann auf das Wohlwollen von Ihnen allen, dem politmedialen Establishment, vertrauen. Das wissen auch CDU und CSU und winseln daher, gebrochen von der grünen Übermacht: Radikaler Klimawahn ja, aber doch bitte innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen.
Das Problem liegt derweil ganz woanders. Es ist die Verschiebung rechtsstaatlicher Maßstäbe in diesem Land. Würden die Straßenblockierer und Museumsrandalierer gegen die anhaltende Massenmigration und für den Erhalt ihrer nationalen Identität demonstrieren, würde das Establishment geeint nach Verfassungsschutz, SEK und Antiterrorismusmaßnahmen rufen. Das taten Sie zum Beispiel bereits alle, als patriotische Aktivisten die CDU-Parteizentrale besetzten, das Brandenburger Tor erklommen oder Banner vom Kölner Hauptbahnhof niederließen. Friedlicher Protest von rechts wird von Ihnen allen kriminalisiert, linkskrimineller Protest gezielt verharmlost. Eine Luisa Neubauer musste nie mit der Kündigung ihres Kontos bis hin zur Vernichtung ihrer sozialen Existenz rechnen. Coronamaßnahmenkritiker oder Kritiker der Massenzuwanderung müssen dies in diesem Lande regelmäßig. Der radikale Klimaprotest wähnt sich sicher an der Seite der Mächtigen. Sie wissen, dass mancher Richter ihre Straftaten bereits durch § 34 StGB gerechtfertigt sieht.
Begrüßenswert ist, dass die CDU/CSU versucht, sich selbst wiederzufinden. Peinlich ist, dass Sie sich in der Vergangenheit bei der Diffamierung konservativer Aktivisten oder friedlicher Spaziergänger in einen Überbietungswettbewerb mit all jenen linken Kräften begeben haben, die Sie heute zaghaft versuchen zu kritisieren.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Robin Mesarosch hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde oft richtig wütend, wenn ich Auto fahre. Da reicht es, dass jemand meine Spur schneidet oder, noch schlimmer, Tempo 90 fährt.
({0})
Dann werfe ich in meinem Auto mit schlimmsten Beleidigungen um mich. Sollte sich jemand vor mir auf die Straße kleben, wenn ich zur Arbeit muss, würde ich richtig ausrasten. Und ich kann verstehen, dass es noch gefährlicher wird, wenn Rettungswege behindert werden. Ich verstehe also jeden, der da wütend ist, auch wenn sich bei mir, ehrlich gesagt, gar niemand auf die Straße klebt.
Was ich aber nicht verstehe, ist, wenn Parteien versuchen, Wut auszunutzen, weil sie damit Stimmen sammeln wollen.
({1})
CDU und CSU beantragen heute höhere Strafen für Klimaaktivistinnen und ‑aktivisten.
({2})
Ich will Ihnen erklären, warum das auch für Sie gefährlich ist.
Erstens. Die Kriminalwissenschaft sagt ganz klar: Diese Erhöhungen des Strafmaßes schrecken nicht ab. Bei höheren Strafen kriegen wir oft höhere Rückfallquoten. CDU und CSU würden unser Land damit nicht sicherer machen, vielleicht sogar unsicherer.
({3})
In den USA sind sehr viel mehr Leute im Gefängnis als in Deutschland. Aber Deutschland ist das deutlich sicherere Land. Haftstrafen sind oft die falsche Stellschraube.
Verstehen Sie mich richtig: Wer unsere Straßen blockiert und Kunstwerke beschädigt, muss bestraft werden. Aber dafür haben wir schon angemessene Strafen. Wenn wir jetzt politisch in unser Strafrecht eingreifen, dann kann es am Ende für uns alle gefährlich werden.
({4})
Bayern hat vor fünf Jahren ein gefährliches Gesetz eingeführt, um islamistische Gefährder zwei Monate in Präventivhaft nehmen zu können, also um Straftaten im Vorhinein verhindern zu können. Wir haben dagegen demonstriert und mussten uns anhören: Ihr nehmt Terroristen in Schutz. Das ist unverschämt. – Inzwischen sitzen in München junge Klimaaktivistinnen und ‑aktivisten in dieser sogenannten Präventivhaft, die doch eigentlich für islamistische Terroristen gedacht war.
({5})
Bayern will ein Zeichen setzen. Jetzt stellen Sie sich mal vor, wer weggesperrt würde, wenn die Herren von der AfD eine Landesregierung stellen würden.
({6})
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Die „Letzte Generation“ tut falsche, rechtswidrige und gefährliche Dinge. Aber in Deutschland dürfen wir nie wieder Leute wegsperren, nur weil es den Mächtigen politisch hilft. Das muss ganz klar sein.
({7})
Die CDU will heute das Zeichen setzen, sie sei der Schutzwall vor den Chaoten. Dabei bringen Sie das Chaos in den Rechtsstaat. Im letzten Winter sind bei mir in der Gegend die Montagsdemos aus dem Ruder gelaufen. In Albstadt standen unangemeldete Querdenkerdemos auch in den Rettungszufahrten des Krankenhauses. Wo waren da die Forderungen nach Strafverschärfung? Oder: Wo waren die Forderungen nach Strafverschärfung, als die Flüchtlingsheime brannten? Oder – anderes Beispiel –: Wir hatten letztes Jahr in Deutschland über 13 800 schwere Verkehrsunfälle, weil Leute mit Rausch im Kopf Auto gefahren sind. Da gab es keine Kampagne der CDU. Kann es sein, dass es sich im Bierzelt einfach besser gegen Klimaschutz als gegen Alkohol hetzen lässt?
({8})
Anderes Beispiel. Alle vier Minuten wird in Deutschland jemand Opfer von Gewalt zu Hause. In fast allen Fällen sind das Frauen. Hier häufen sich die Verbrechen. Was macht Ihr CDU-Vorsitzender? Bei seiner Parteitagsrede erwähnt er diese Gewalt mit keiner Silbe, findet aber zweieinhalb Minuten Zeit, um übers Gendern zu philosophieren.
Anderes Beispiel. Sie hetzen seit Wochen gegen das Bürgergeld und wollen, dass Leute, die gerade ihren Job verloren haben, härtere Vorschriften bekommen.
({9})
Viele von Ihnen hetzen dagegen, dass Leute, die nichts haben in dieser Krise, 53 Euro im Monat mehr bekommen.
({10})
Aber wenn Millionäre jedes Jahr zusammen Milliarden Euro an Steuergeld rechtswidrig hinterziehen – Geld, das wir für Straßen, Schulen und Krankenhäuser brauchen –, gibt es keine CSU-Facebook-Posts gegen die „Millionärs-RAF“.
({11})
Liebe CDU, Sie bekämpfen nicht das Chaos, Sie schaffen hier Chaos.
({12})
Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen?
Also gut.
({0})
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe nur eine Frage: Bleiben Sie dabei, dass die Union gegen das Bürgergeld „hetzt“?
({0})
Ja.
Frau Lindholz – –
({0})
Also, ich hatte ja schon geantwortet: Ja. Damit haben wir das geregelt.
Das war die Antwort, okay. Alles klar. Dann können Sie sich auch setzen, Frau Lindholz.
Gut. Wenn es immer so schnell ginge!
Lassen Sie mich mit zwei Bitten enden. Erstens. An alle, die zuschauen: Ich verstehe, dass CDU/CSU und AfD – –
Da gibt es noch einen Wunsch zur Zwischenfrage. Wollen Sie die auch noch zulassen?
Nein, ich glaube, so schnell kommen wir nicht mehr durch. – Ich verstehe, dass CDU/CSU und AfD ihre Wut manchmal besser in den Bundestag transportieren als wir. Wir teilen ihre Wut, aber wir finden, der Bundestag, in dem Gesetze entstehen, ist vielleicht der falsche Ort für Wut. Wenn wir aus Wut unsere Justiz beeinflussen, schaffen wir Chaos, und ein chaotischer Rechtsstaat kann auch Sie gefährden, auch wenn Sie gar nichts tun. Nicht nur die CDU und CSU handeln aus Wut, sondern die sogenannte „Letzte Generation“ auch. Es ist in beiden Fällen falsch.
({0})
Es ist dumm, Leute wütend auf den Klimaschutz zu machen, wo wir doch die Zustimmung brauchen. Seien Sie klug!
({1})
Ich klebe meine Hand nirgends fest, sondern hebe Sie im Bundestag für die größte Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die es in der Geschichte gegeben hat.
({2})
Der Rechtsstaat braucht keinen CDU-Populismus,
({3})
der Klimaschutz braucht keine Straßenblockierer. Lassen Sie die Wut im Bauch und uns Probleme wieder mit dem Kopf lösen!
Haben Sie vielen Dank.
({4})
Der Kollege Gottschalk möchte eine Kurzintervention machen, und das darf er auch.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin, für das Zulassen der Kurzintervention. – Es wäre auch nett, wenn der Kollege dann zuhört.
Was in der Debatte allgemein, insbesondere bei den Rednern der Schuldenkoalition, auch bei Herrn Fiedler, aufgefallen ist, ist, dass sie überhaupt nicht die Bedeutung des Rechtsstaates und von Gesetzen erkannt haben. Ja, Sie können sich natürlich um die Täterwelt und die Tätermotive – und es handelt sich hier um Straftäter – kümmern. Aber ich glaube, unser Rechtssystem und unser Rechtsstaat sollten auch noch eine andere Wirkung entfalten für die vielen Menschen da draußen, die rechtschaffen sind, nämlich das Versprechen einlösen, dass der Staat für Recht und Ordnung in diesem Lande sorgt.
Sie kümmern sich wie immer in der linken Szene ausschließlich um die Täter und suchen jeden Grund und jedes Motiv, sie zu entschuldigen. Das hat man auch bei Ihnen gehört. Aber was ist mit den Menschen, die betroffen sind? Es gibt ja gerade die ARD-Themenwoche mit dem Titel „Was hält uns zusammen?“ Wenn es etwas gibt, das unser Land zusammenhält, dann sind es gemeinsame Normen. Das heißt, dass ein solches rechtswidriges Verhalten der Menschen, die eben hier alle von der CDU/CSU und auch von unseren Rednern genannt worden sind, sanktioniert werden muss.
({0})
Wenn Sie den Grundsatz aufgeben, dass Strafen eine Abschreckungswirkungen entfalten sollen, dann muss ich sagen: Packen Sie doch gleich ein; das ist eine Kapitulation. Selbstverständlich müssen Strafen und der Rechtskatalog auch abschreckend wirken; sonst läuft in unserem Staat etwas falsch. Wenn Sie das aufgeben, meine Damen und Herren, dann lösen Sie den Rechtsstaat und das Vertrauen in die Gerichte, wie es die Kollegin von der SPD wunderbar vorgemacht hat, auf. Deshalb kommt bei den Umfragen heraus, dass die Menschen da draußen das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben.
({1})
Herr Kollege.
Und die müssen wir wieder erreichen. Das lassen Sie hier in Ihren Betrachtungen völlig außen vor, und darüber bin ich wirklich entsetzt.
({0})
Möchten Sie antworten? – Das ist nicht der Fall. Dann gebe ich jetzt das Wort an die Kollegin Dr. Christiane Schenderlein für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tomatensuppe auf van Gogh, Kartoffelbrei auf Monet – das ist leider kein kreativer Titel eines Kinderbuches. Nein, das sind reale Bilder, die wir in den letzten Wochen ertragen mussten und die nicht nur bei Kunstliebhabern für Entsetzen gesorgt haben.
Sogenannte Klimaaktivisten werfen ausgerechnet mit Lebensmitteln auf wertvolle Kunstwerke. Diese Attacken, diese Angriffe sind Angriffe auf unser kulturelles Erbe. Das ist kein Aktivismus, das ist Vandalismus.
({0})
Ich möchte dafür auch die juristische Definition zitieren:
Kulturvandalismus ist die mutwillige Zerstörung oder Beschädigung von Kulturgütern. Im weitesten Sinne ist damit jede Art von Handlung gemeint, die mit Vorsatz oder Billigung dazu führt, dass Kunstwerke … Schaden nehmen oder unwiederbringlich zerstört werden.
Und die Angriffe sind eben vorsätzlich, und sie nehmen die Beschädigung von Kunstwerken in Kauf. Deshalb sind diese Menschen keine Aktivisten, sondern Kulturvandalen. Sie begehen Straftaten, und diese müssen mehr Folgen haben als eine verbale Empörung und marginale Geldstrafen.
({1})
Hier muss der Rechtsstaat konsequent reagieren. Mit unserem Antrag wollen wir ihm genau dafür die notwendigen Instrumente an die Hand geben.
Sich morgens aus Protest gegen Lebensmittelverschwendung auf die Straße kleben und nachmittags dann mit Lebensmitteln auf Gemälde werfen – das ist verrückt. Bisher gab es einen gesellschaftlichen Konsens, dass unser nationales Kulturerbe und das Weltkulturerbe geschützt werden müssen. Dieser wird mit Radikalität aufgekündigt. Der Deutsche Museumsbund hat zu Recht von einer Instrumentalisierung gesprochen und bereits angekündigt, dass mehr Sicherheit und Personal notwendig sind. Aber wer soll das bezahlen?
({2})
Diese Kunstwerke – Meisterwerke! – gehören zu unserem Kulturerbe. Es sind Erbstücke, so wie in einer Familie. Da gibt es auf der einen Seite den materiellen Wert gemessen in Euro. Aber diese Werke haben auch einen unschätzbaren ideellen Wert, weil sie uns erzählen, woher wir kommen und wer wir sind.
({3})
Die „Letzte Generation“ bezeichnet sich selbst als „Überlebenswille dieser Gesellschaft“. Doch wir brauchen auch unsere Kultur, unsere Identität zum Überleben. In der Präambel der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut von 1954 steht die Überzeugung, dass „jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet“.
Möchten Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?
Ich bin schon beim letzten Satz. – Abschließend steht fest: Mit dem Angriff auf unsere Kultur werden wir die Welt auf keinen Fall retten.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Damit gebe ich Lukas Benner das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das war eine in Teilen skurrile Debatte mit teilweise unerträglichen Beiträgen vonseiten der AfD, aber noch skurriler ist Ihr Antrag. Auch wenn Sie den größten Blödsinn, nämlich die Wiederholungsgefahr und damit die Präventivhaft, zum Glück herausgestrichen haben, macht das den Rest des Antrags leider nicht besser.
({0})
Und: Ich glaube, es ist selbst Ihren eigenen Leuten peinlich. Das stellt man fest, wenn man sich anguckt, wer öffentlich sagt, dass das, was Sie hier fordern, nicht angemessen ist.
({1})
Schauen wir uns den Kern Ihres Antrags an. Dort fordern Sie die Erhöhung der Mindeststrafen, insbesondere in Form der Freiheitsstrafe. Das ist rechtspolitisch Unsinn. Da verweise ich vor allem auf meine Vorrednerin und meine Vorredner von der SPD, die sehr schön ausgeführt haben, dass insbesondere kurze Freiheitsstrafen völlig wirkungslos sind. Aber es ist auch rechtsdogmatisch Unsinn. Ich verweise wieder auf Frau Kollegin Eichwede, die hier sehr schön zum § 47 Absatz 1 StGB ausgeführt hat.
({2})
Aber schauen wir uns doch einmal an, welches Regelbeispiel Sie bei § 240, also der Nötigung, hier fordern. Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Ebenso sollen Täter bestraft werden, die eine große Zahl von Menschen durch ihre Blockaden nötigen – etwa dann, wenn es durch die Blockaden im Berufsverkehr zu langen Staus kommt …
({3})
Das bedeutet: Sie wollen Menschen härter bestrafen, die, ohne irgendjemanden zu gefährden, lange Staus verursachen.
Der Gesetzgeber ist an das Schuldprinzip gebunden. Das heißt: Auch wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass eine der Tat angemessene Strafe verhängt wird. Schauen wir uns doch einmal an, wofür man sonst drei Monate bis fünf Jahre Haft verhängt. Das ist zum Beispiel sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, Gefangenenmeuterei. Wollen Sie ernsthaft sagen, dass wir denselben Strafrahmen für das Herbeiführen von Staus brauchen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Das ist völlig unverhältnismäßig.
({4})
Meine Damen und Herren, ich habe in den letzten Tagen immer wieder zu diesem Thema gehört: Wir brauchen die volle Härte des Rechtsstaats. Es muss mit voller Härte durchgegriffen werden. – Dem Rechtsstaat immanent ist, dass er für alle gleich gilt, und zwar allein auf Basis von Recht und Gesetz.
({5})
Das mag langweilig klingen in der politischen Debatte; aber das ist doch genau der Kern. Der Rechtsstaat ist ein Rechtsstaat, und der kennt keine volle Härte.
({6})
Das Strafrecht ist das schärfste Schwert, das wir im Rechtsstaat zur Verfügung haben. Man schwingt es nicht je nach Stimmung im Bierzelt, und man schwingt es nicht, wenn es einem gerade passt. Denn wenn das Strafrecht zum Spielball für politischen Aktionismus wird, dann ist das ein Schritt hin zur Willkür.
Vielen Dank.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion und die Ampelkoalition halten Wort: Der vollständiger Abbau der kalten Progression kommt; es gibt keine heimlichen Steuererhöhungen. Wir entlasten 48 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Dieses Versprechen halten wir. Das ist eine gute Nachricht für alle Bürgerinnen und Bürger.
({0})
Wir haben in den parlamentarischen Beratungen einen sehr guten Gesetzentwurf von Finanzminister Christian Lindner noch besser gemacht. Wir entlasten zusätzlich um 14,6 Milliarden Euro, und das Ganze bei Einhaltung der Schuldenbremse. Wir haben in dem Gesetzentwurf zusätzlich eine Anpassung bei der Einkommensteuer vorgenommen, sodass 90 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler keinen Soli entrichten müssen. Das ist ein klares Zeichen, dass wir die Mitte und die Leistungsträger entlasten, dass wir Lohnsteigerungen nicht wegsteuern, sondern bei den Bürgerinnen und Bürgern belassen wollen. Und wir vereinheitlichen das Kindergeld auf 250 Euro für jedes Kind. Das ist die größte Erhöhung, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat.
({1})
– Da kann man klatschen. – Wir unterstützen damit Familien mit geringeren und mittleren Einkommen überproportional. Wir machen das Kindergeld unbürokratischer. Auch das haben wir in den letzten Tagen im Rahmen dieses Gesetzentwurfs noch hinbekommen. Dafür bin ich besonders dankbar.
Meine Damen und Herren, der vollständige Ausgleich der Inflation ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist seit Jahren Praxis – das haben wir immer gesagt –, dass wir hierfür zu einer Korrektur unseres Steuersystems kommen. Es ist eine direkte strukturelle Entlastung;
({2})
sie dient am Ende des Tages den Bürgern. Wer das nicht mittragen möchte – das sage ich auch angesichts der Debatte, die sich in den letzten beiden Tagen entwickelt hat –, den möchte ich daran erinnern, dass die starken Schultern nach unserem Steuerrecht schon jetzt überproportional mehr tragen und ihren Anteil zur Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten.
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Deswegen muss auch in der Krise gelten, dass das Geld an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben wird. Wer neue Abgaben, höhere Steuern, mehr Bürokratie fordert, der verkennt die Realität in Deutschland. Wir müssen feststellen, dass Bürger und Unternehmen in diesem Land immer mehr bezahlen müssen, immer mehr Bürokratie zu bewältigen haben. Das verhindert Leistungsbereitschaft und schadet am Ende dem Wirtschaftsstandort Deutschland, gerade in der Krise, in der wir jetzt sind.
Ich erinnere an die Debatte von vor ein paar Jahren über die Grenzen des Wachstums und darüber, wie wir uns als Gesellschaft von den Wachstumszwängen befreien können. Wir sehen doch gerade angesichts der Rezession, vor der wir stehen, dass wir nicht über die Grenzen des Wachstums sprechen müssen, sondern über mehr Wachstum. Wir müssen darüber sprechen, wie wir Wachstum erzeugen können und wie wir Deutschlands Stärken erhalten können, meine Damen und Herren.
({4})
Dazu gehört auch zentral, dass wir individuelle Leistungsbereitschaft und Innovation fördern und belohnen. Das tun wir mit diesem Inflationsausgleichsgesetz.
Das ist allerdings nur ein kleiner Punkt. Eigentlich brauchen wir eine Zeitenwende in der Steuer- und Haushaltspolitik, mehr strukturelle Entlastungen, eine Unternehmensteuerreform, eine Weiterentwicklung des beschlossenen Belastungsmoratoriums. Und wir müssen die Staatsausgaben konsolidieren, dürfen nicht einfach immer mehr ausgeben wie in den letzten zehn Jahren, sondern müssen Ausgaben priorisieren. Dann schaffen wir es, auf der einen Seite die Schuldenbremse einzuhalten und auf der anderen Seite mit den Mitteln der Bürgerinnen und Bürger effizient umzugehen.
({5})
Die Ampelkoalition macht mit dem Inflationsausgleichsgesetz den einzig richtigen Schritt. Christian Lindner und die Ampel folgen damit den Vorgängerregierungen.
({6})
Ich prognostiziere, dass wir auch in zwei Jahren erneut Wort halten werden. Gemeinsam mit dem Kanzler, dem Finanzminister und der gesamten Ampelkoalition werden wir auch dann wieder heimliche Steuererhöhungen verhindern.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich, dass wir dieses Gesetz nun endlich auf den Weg bringen.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Mathias Middelberg das Wort.
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir werden diesem Gesetzesvorhaben heute zustimmen. Das Inflationsausgleichsgesetz ist eine richtige und auch angemessene Maßnahme.
({0})
Wir haben diese Praxis ja gemeinsam mit der FDP 2012 eingeführt und beglückwünschen die FDP ausdrücklich dazu, dass sie sich mit dieser Maßnahme in dieser Koalition durchgesetzt hat.
({1})
Es geht hier schlicht – das muss man sagen – um eine Selbstverständlichkeit; denn ausgeglichen wird eine Steuererhöhung, die sich faktisch aus der wirtschaftlichen Entwicklung ergibt, die wir in diesem Hause nie besprochen und beschlossen haben, die also keine Rechtfertigung hat. Wir geben den Bürgern eigentlich nur das Geld zurück, das sie über eine schleichende Steuererhöhung zusätzlich an den Staat entrichten mussten.
Die Bürger sind aufgrund der hohen Inflation schon hinreichend gepeinigt. Sie haben in diesem Jahr einen Wertverlust ihres Einkommens, ihrer Kaufkraft von 8, 9 oder 10 Prozent. Ihr Einkommen ist entsprechend weniger wert. Wenn sie dann eine Lohnerhöhung um 3 oder 4 Prozent bekommen, freuen sie sich darüber zuerst, um dann aber die Erfahrung zu machen, dass ihnen der größte Teil davon wegbesteuert wird. Dieser Effekt wird noch stärker sein, wenn die Bürger eine nominale Lohnerhöhung bekommen, mit der sie in eine höhere Steuerprogression kommen. Dann steigen sie im Tarif immer weiter in Richtung Spitzensteuersatz. Das genau ist der Progressionseffekt, den wir jetzt ausgleichen. Wir geben den Menschen das zurück, was ihnen durch die Inflation, durch die Preisentwicklung zusätzlich genommen würde. Das ist nur recht und billig und das Mindeste, was wir denen schulden, die in diesem Land hart arbeiten und den ganzen Laden durch ihre Steuerzahlungen überhaupt erst am Laufen halten.
({2})
Erfreulich ist auch, dass die Koalition die Tarife zuletzt an den neuen Progressionsbericht angepasst hat. Das war zu Anfang ja anders geplant. Nicht so erfreulich ist – das verschweigen Sie hier natürlich so ein bisschen –, dass Sie die Progression für das laufende Jahr nicht ausgleichen. Das heißt, in diesem Jahr zahlen die Leute diese verdeckten, schleichenden Steuererhöhungen; erst im nächsten Jahr gleichen Sie diese aus.
Dass Sie die Schuldenbremse einhalten würden, Herr Meyer,
({3})
das diskutieren wir vielleicht mal in zwei Wochen in der Haushaltsdebatte. Wir haben eher den Eindruck, dass Ihr Minister sehr einfallsreich die Schuldenbremse umgeht. Dazu fallen ihm immer neue interessante Manöver ein. Aber das werden wir dann in zwei Wochen diskutieren.
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Im Übrigen warten wir hier immer noch auf die wesentlichen Maßnahmen, mit denen Sie die Bürger in diesem Land in dieser Krisensituation entlasten wollen. Wir warten immer noch auf die konkreten Vorschläge zur Gaspreisbremse und zur Strompreisbremse. Sie sind auch beim Thema „Ausweitung des Angebots bei Gas und Strom“ ungenügend unterwegs. Da hätte es ja durch den Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke die Möglichkeit für Entlastungen gegeben.
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– Es geht hier um Entlastungen, Frau Beck. Wir diskutieren in dieser Debatte über Entlastungen. Ich will es Ihnen sehr genau erklären: Die Wirtschaftsweise Grimm, deren Gaspreismodell Sie ja toll finden und deshalb übernehmen, hat Ihnen ausgerechnet, dass der Strompreis im nächsten Jahr für die Menschen in diesem Land bis zu 12 Prozent günstiger sein könnte, wenn Sie die drei Kernkraftwerke weiterbetreiben würden.
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Das wäre eine ganz gewaltige Entlastung für die Bürger in diesem Land. Jeder würde 12 Prozent weniger für seinen Strom zahlen müssen.
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Dass das nicht eintritt, haben die Menschen der grünen Ideologie und der Uneinigkeit dieser Ampelregierung zu verdanken. So läuft es bei den Entlastungen leider generell bei Ihnen. Entlastungen gibt es nicht dann, wenn es für den Bürger sinnvoll und vernünftig ist – das hier ist ein Ausnahmefall –, sondern in der Regel dann, wenn es gut für die Stimmung und das Klima in Ihrer permanent zerstrittenen Ampel ist.
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Das Wort hat der Kollege Michael Schrodi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Zeiten großer Herausforderungen hat diese Ampelkoalition schon zahlreiche Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht: Der Abwehrschirm mit 200 Milliarden Euro wird unter anderem dafür eingesetzt, eine Gaspreisbremse auf den Weg zu bringen. Mit der Strompreisbremse werden wir die Energiekosten senken. Damit werden wir auch die Inflation bekämpfen.
Herr Middelberg, wir haben übrigens auch Entlastungspakete mit einem Volumen von 190 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Vielleicht sollte man sie Ihnen einzeln aufschreiben, damit Sie sich das merken. Sie stellen sich ja hierhin und sagen, wir hätten nichts getan. Wir tun das und finanzieren das auch, während Sie nur fordern, ohne überhaupt nur eine Gegenfinanzierung vorzuschlagen.
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Das ist unseriös. Wir machen unsere Arbeit.
Wir handeln bisher schon: mit Direktzahlungen und nun auch mit der Energiepreispauschale, dem Heizkostenzuschuss und Mehrwertsteuersenkungen. Das machen wir, um gerade Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu entlasten, um sozialen Zusammenhalt zu stärken und Unternehmen zu helfen, Arbeitsplätze zu erhalten, und das ist gut so.
Das Inflationsausgleichsgesetz ist Teil des dritten Entlastungspakets der Bundesregierung. Es ist eigentlich Routine, was wir hier vornehmen. Es gibt Berichte wie den Existenzminimumbericht und den Bericht zur kalten Progression, nach denen wir den Einkommensteuertarif entsprechend anpassen. In Zeiten solcher krisenhaften Herausforderungen haben diese Berichte eine besondere Bedeutung.
Schauen wir uns einmal an, wie stark wir den Menschen helfen, sie entlasten.
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Der Grundfreibetrag stieg im Jahr 2022, Herr Middelberg, bereits um 603 Euro; da haben wir schon etwas zum Ausgleich der kalten Progression gemacht.
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Er steigt noch einmal um 561 Euro im nächsten Jahr und um 696 Euro in 2024. Die Steigerung insgesamt beträgt 1 860 Euro. Auf 11 604 Euro wird der Grundfreibetrag angehoben, also der Betrag, ab dem überhaupt Steuern anfallen. Das ist eine wahrlich große Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Der Kinderfreibetrag steigt um 924 Euro auf 9 312 Euro. Auch der Höchstbetrag für den steuerlichen Abzug von Unterhaltsleistungen steigt.
Die Vorgaben erfolgen mit dem Existenzminimumbericht. Das Existenzminimum ist steuerlich freizustellen. Es heißt immer: Das müsst ihr tun. – Ja, aber wir machen auch einiges, was über das hinausgeht, was wir verfassungsrechtlich tun müssten, und zwar mit großem finanziellem Aufwand. Die kalte Progression ist angesprochen worden. Übrigens, Herr Middelberg, wird von Ihrer Fraktion immer infrage gestellt, dass wir da etwas tun würden. Auch jetzt haben Sie wieder gesagt, die FDP hätte uns auf ihre Seite ziehen müssen, damit wir das tun.
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Nein, es ist andersrum.
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Wir haben mit den Experten noch mal über den Effekt der kalten Progression gesprochen. Inflationsbedingte Lohnzuwächse führen zu einem höheren Steuertarif. Diesen Effekt gleichen wir aus. Das haben wir mit Ihnen zusammen in der Großen Koalition gemacht, und das machen wir auch jetzt. Aber in diesen besonderen Zeiten gehen wir sogar darüber hinaus und tun das, was wir mit Ihnen nicht gemacht haben. Wir nehmen nämlich die komplette Inflation: Um 7,2 Prozent werden die Eckwerte im nächsten Jahr nach rechts verschoben.
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Im übernächsten Jahr haben wir eine Verschiebung um 6,3 Prozent. Das sind riesige Entlastungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die wir über das hinaus, was wir mit Ihnen von der CDU/CSU gemacht haben, auf den Weg bringen.
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Ein Letztes zu den Entlastungsmaßnahmen: die Kindergelderhöhung. Wir haben normalerweise einen Gleichlauf bei der Erhöhung von Kinderfreibetrag und Kindergeld. Wir haben intensiv darüber beraten, wie wir die Familien, die auch stark von den Preissteigerungen betroffen sind, entlasten können. Wir haben nun die größte Kindergelderhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in dieser Krisenzeit auf den Weg gebracht. Es ist ein deutliches Zeichen: Wir werden den Familien auch in dieser Krise helfen und sie nicht alleine lassen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Von 219 Euro auf 250 Euro steigt das Kindergeld, plus 31 Euro ab dem 1. Januar 2023. Das ist ein erster Schritt in Richtung einer Kindergrundsicherung, die wir immer noch auf dem Schirm haben, um Kinder aus der Armut zu holen.
Vor zwei Jahren, meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, betrug das Entlastungsvolumen 11,8 Milliarden Euro. Jetzt hatten wir 18,5 Milliarden Euro angesetzt. Wir haben noch mal 14,5 Milliarden Euro draufgesetzt.
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Das Entlastungsvolumen liegt jetzt bei 33 Milliarden Euro und geht damit über das hinaus, was wir leisten müssten. Wir sorgen für sozialen Zusammenhalt, wir stärken Familien, wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Menschen können sich auf die Ampelkoalition verlassen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ein Letztes noch, weil auch bei Ihnen die Erzählung aufkam, der Staat sei Profiteur der Inflation. Den Mehreinnahmen, die wir haben, stehen deutlich höhere Mehrausgaben gegenüber. Die 33 Milliarden Euro sind nur ein Teil. 190 Milliarden Euro gibt es allein für die Entlastungspakete. Das ist auch richtig so. Denn nichts zu tun, wäre keine Alternative. Das würde zu Arbeitsplatzverlusten führen und zu sozialen Verwerfungen. Im Grunde ist das also richtig. Aber ich glaube – das ist etwas, was wir dem Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen entnehmen müssen –, –
Kollege Schrodi, Sie können weitersprechen, tun es aber auf Kosten Ihrer Kollegen.
– wir brauchen eine soziale Balance. Das werden wir tun. Auch starke Schultern müssen ihren Anteil tragen, noch mehr als bisher.
Insofern ist das ein gutes Gesetz. Die Union wird hoffentlich auch zustimmen. Ich freue mich darüber, dass wir ein so großes Entlastungsvolumen für die Menschen auf den Weg bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, dass hier natürlich jeder entsprechend seiner Redezeit zu Wort kommen soll, ich aber darauf achte, dass die verabredete Redezeit insgesamt eingehalten wird. Im Moment kommen wir zu einem Sitzungsende morgen früh um 4 Uhr. Wir müssen alles ausführlich diskutieren, aber im Rahmen der verabredeten Regeln.
Wir machen weiter. Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vor allen Dingen aber: Verehrte Steuerzahler! Das, was wir hier heute diskutieren, Herr Schrodi, war wieder Etikettenschwindel der besonderen Art. Sie entlasten nicht, Sie erhalten nur die Kaufkraft. Darauf werde ich gleich im Einzelnen eingehen. Aber es war eine Falschbehauptung, dass Sie entlasten würden.
Ich möchte aber zunächst auf die CDU/CSU zugehen und sagen: Mein Gott, herzlichen Glückwunsch! Sie kommen so langsam in der Opposition an und nähern sich sogar Forderungen der AfD an. Ich war ja fast platt und habe mich auf den Hosenboden gesetzt, als Sie von einer jährlichen Überprüfung der kalten Progression gesprochen haben. Das ist etwas, was meine Fraktion und ich hier seit Jahren fordern. Da bewegen Sie sich auf uns zu. Deswegen nur Enthaltung! Jetzt wäre es nur noch ein sehr kleiner Schritt für Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, aber ein unheimlich großer Schritt für die Menschen da draußen, wenn Sie endlich dem geplanten Automatismus zustimmen würden. Sie haben gleich die Möglichkeit, dem Tarif auf Rädern zuzustimmen, damit wir davon wegkommen, alle zwei Jahre auf einen Progressionsbericht zu warten, der dann noch nicht mal angemessen umgesetzt wird. Die Bürgerinnen und Bürger werden mitnichten entlastet. Das ist eine Teilentlastung. Dementsprechend werden wir bei diesem Gesetz nur mit Enthaltung stimmen.
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Aber nun zum Einzelnen. Ich sage, wie es ist: Der Name „Inflationsausgleichsgesetz“ ist an sich schon eine Lüge; denn in diesem Gesetz gibt es für das Jahr 2022 überhaupt keine weiteren Entlastungen. Sie haben eben die Erhöhung des Grundfreibetrages angesprochen. Ich habe es mal ausgerechnet. Sie haben rückwirkend die Menschen am Existenzminimum, die Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, um 6,2 Prozent entlastet – und das bei einer Inflation von im Oktober 10,4 Prozent und einer wahrscheinlichen Durchschnittsinflation in diesem Jahr von über 8 Prozent. Wo ist das eine Entlastung? Das ist eine Verhöhnung der Leute, die arbeiten, meine Damen und Herren. Folgen Sie unserem Antrag: 12 600 Euro sind angemessen.
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Schauen wir mal, wie die Bad Bank bzw. Schuldenkoalition, die hier sitzt, mit diesem Problem weiter umgeht. Auf Grundlage des Fünften Steuerprogressionsberichts – Sie haben ihn angesprochen – rechnet die Bundesregierung mit immerhin 7,2 Prozent Inflation für das Jahr 2022 und – jetzt kommt’s – mit 6,3 Prozent Inflation für das Jahr 2023. Die Anpassung um genau diese 7,2 Prozent, von denen ich eben sprach, erfolgt erst ab dem nächsten Jahr. Die Probleme liegen schon seit einem Jahr vor, aber Sie gehen die nicht an.
Liebe Steuerzahler, wenn Sie jetzt schon sauer sind – und das berechtigt –, dass die von der Bundesregierung versprochenen Inflationsausgleichsmechanismen hier nicht greifen, komme ich mal zu den tatsächlichen Zahlen. Immerhin gibt es noch ein paar Fachleute im Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Die haben geschätzt, dass wir im nächsten Jahr eine Inflation von durchschnittlich 8,4 Prozent haben werden. Es gibt sogar renommierte Institute, die von 8,8 Prozent ausgehen. Wissen Sie, was in dem Zusammenhang die von Ihnen genannten 7,2 Prozent sind? Die nächste Verhöhnung der Menschen, die da oben sitzen, fleißig zur Arbeit fahren und dann noch von Ihren Klimablockierern daran gehindert werden, ihre Aufträge zu erledigen.
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Warum diese Regierung von Entlastungen in Form eines Inflationsausgleichs spricht, bleibt im Dunkeln.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, meine Damen und Herren, möchte ich zum Abschluss noch erwähnen, dass es zu einer wirklichen Abschaffung der kalten Progression durch Freibeträge, Pauschbeträge und Höchstbeträge – nehmen wir mal die berühmte Pendler- oder Entfernungspauschale – gar nicht kommt. Eine besondere Stilblüte ist die Werbungskostenpauschale. Die ist nämlich seit 1955 – seitdem hat man sie als Steuerzahler lieb – nicht geändert worden. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler müsste diese jetzt inflationsbereinigt bei 573 Euro liegen. Wissen Sie, wo sie zurzeit liegt? Bei 102 Euro. Dieser rote Faden zieht sich durch die Politik dieser Regierung, meine Damen und Herren.
Auch hierzu werden wir als AfD und echte Serviceopposition einen Antrag einbringen; da können Sie dann Ihre Ehrlichkeit bei der Fürsorge für die Arbeitnehmer zeigen. Wir wollen eine automatische Anpassung vornehmen, ähnlich wie in der Schweiz – ich sage bewusst: ähnlich –,
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damit die Menschen automatisch entlastet werden und nicht nach Ihrem politischen Kalkül und Gutdünken, meine Damen und Herren.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Sascha Müller das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, dass ich mir lange nicht hätte vorstellen können, diesen Satz hier mit Überzeugung zu sagen: Ich freue mich darüber, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute beschließen. Und das hat einen Grund: Wir beschließen mit diesem Gesetzentwurf nämlich eine wirklich wuchtige Kindergelderhöhung.
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Gegenüber diesem Jahr steigt das Kindergeld für das erste und zweite Kind um jeweils 31 Euro und für das dritte Kind um 25 Euro, sodass wir am Ende bei einheitlich 250 Euro Kindergeld für alle Kinder landen, egal ob für das erste, zweite, dritte, vierte oder jedes weitere Kind. Das ist wunderbar und eine wichtige Unterstützung für Familien; denn insbesondere Familien haben mit der hohen Inflation zu kämpfen. Das Gesetz mit dem Namen „Inflationsausgleichsgesetz“ trägt diesen Namen absolut zu Recht.
({1})
Vor allem aber – auch das ist wunderbar – sind wir so bereits einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Kindergrundsicherung gegangen.
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An dieser Stelle darf natürlich nicht vergessen werden, dass Kinder im Bürgergeldbezug oder auch Kinder von Alleinerziehenden nicht in dem Umfang profitieren; denn das Kindergeld wird beim Bürgergeld oder beim Unterhalt angerechnet. Für die erste Gruppe erreichen wir mit dem Bürgergeld aber höhere Sätze, und für die andere Gruppe wollen wir schon bald eine Steuergutschrift für Alleinerziehende einführen, damit auch diese Kinder profitieren können.
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Natürlich gibt es in dem Gesetz auch Aspekte, die wir im Sinne eines Gesamtpaketes mittragen, auch wenn sie nicht unsere Ideen oder unsere Herzensanliegen sind. Es ist richtig, dass der Kinderfreibetrag im Zuge des Existenzminimums angepasst werden muss und deshalb selbstverständlich auch angepasst wird. Dennoch bleibt der Effekt erhalten, dass die Kinder von Eltern mit hohem Einkommen mehr erhalten als die Kinder von Eltern mit nicht so hohem Einkommen. Das werden wir auf dem weiteren Weg zur Kindergrundsicherung noch einmal genauer betrachten.
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Es bleibt die Anpassung der Eckwerte zum Ausgleich der kalten Progression. Dazu ist medial sehr viel gesagt und auch kontrovers diskutiert worden. Dass es dieses Mal besonders kontrovers diskutiert wurde, liegt natürlich an der besonderen Situation, in der wir uns befinden. Bei diesem Thema gibt es die Lesart, dass es ohne die Anpassung der Eckwerte real zu einer höheren Steuerbelastung kommt, und die Lesart, dass die Rechtsverschiebung starke Schultern absolut mehr entlastet als schwache Schultern. Beide Lesarten sind in sich schlüssig. Es ist aber kein Geheimnis, dass wir stark der zweiten Lesart zuneigen.
Wir gehen bei diesem Gesetz mit. Der Rat, den die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung hinsichtlich der starken Schultern mitgegeben haben, sollte unserer Meinung nach aber bei künftigen Entscheidungen berücksichtigt werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Christian Görke für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hier heute vorliegt, ist der wahrgewordene Steuersenkungstraum eines FDP-Chefs, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Das attestiert Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, der eigene Expertenrat der Bundesregierung, die Wirtschaftsweisen. Mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich aus diesem Gutachten:
Der Zeitpunkt für den Abbau der kalten Progression scheint ungünstig gewählt.
Was Sie, Herr Müller, ein Inflationsausgleichsgesetz nennen, ist in Wahrheit ein Spitzenverdienerentlastungsgesetz. So weit, so gut.
({0})
Meine Damen und Herren gerade von SPD und Grünen, als ich gesehen habe, dass Sie bei dieser Mission mitmachen, ist mir wirklich manchmal die Spucke weggeblieben; denn durch die Verschiebung der Tarifwerte werden die Spitzenverdiener am meisten begünstigt. Da Zahlen nicht lügen, hier die Belege: Mit Ihrem Spitzenverdienerentlastungsgesetz spart ein sehr gut verdienender Single 1 338 Euro pro Jahr, der Durchschnittsverdiener 502 Euro, der Geringverdiener 361 Euro, und wer in Teilzeit malocht und kaum Einkommensteuer zahlt, der geht leer aus. Das schlägt doch dem politischen Fass den Boden aus.
({1})
Um es noch mal klarzustellen: Wir als Linke sind selbstverständlich grundsätzlich dafür, dass die kalte Progression ausgeglichen wird. Aber in der momentanen Situation sollten bitte vor allen Dingen diejenigen entlastet werden, die unter dieser Krise zu kämpfen haben und den Laden am Laufen halten: die Kassiererinnen und Kassierer, die Postboten, die Grundschullehrer, die Polizisten,
({2})
aber nicht der DAX-Manager, der Bundesligaprofi oder die Unternehmensberaterin.
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Das sehe nicht nur ich so. – Ich verstehe ja Ihre Aufregung, liebe FDP. – Das sind Ihre Wirtschaftsweisen, die Ihnen das empfehlen. Die wollen sogar den Spitzensteuersatz zeitweise erhöhen und machen den Vorschlag eines Energiesolis für Besserverdienende.
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Meine Damen und Herren, das Gesetz ist zudem noch schweineteuer. Man fragt sich, wie das sein kann, wo doch der Finanzminister überall kürzen oder sparen will, um die Schuldenbremse wenigstens ideologiefrei einzuhalten. Energiepreispauschale, Mehrwertsteuersenkung auf Grundnahrungsmittel, das 9‑Euro-Ticket – all diese Vorschläge lagen auf dem Tisch und wurden abgelehnt. 50 Milliarden Euro kostet jetzt das Ganze. Mehr als die Hälfte davon fließt in die dicken Geldbeutel und kommt nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern von den Ländern und Kommunen dieser Bundesrepublik. Ich habe es Ihnen schon mal gesagt, Herr Bundesfinanzminister – Sie schmücken sich ja mit diesem Spitzenverdienerentlastungsgesetz –: Sie haben ein fettes Menü bestellt und die Vorspeise bezahlt, aber unabgesprochen die Rechnung beim Nachbarn auf den Tisch gelegt. Und zur Wahrheit gehört: Gestern um 11.48 Uhr gab es den Gesetzentwurf, und darin hat man den Ländern und Kommunen noch mal 3,5 Milliarden Euro ins Obligo geschrieben. Das ist unanständige Finanzpolitik. Insofern lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
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Das Wort hat die Kollegin Frauke Heiligenstadt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Görke, ich habe einen ganz anderen Namen für das Gesetz, das wir gleich beschließen werden. Der Name dieses Gesetzes – „Inflationsausgleichsgesetz“ – ist eigentlich nicht vollständig. Vielmehr ist es das Gesetz zur Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Familien in diesem Land.
({0})
Das ist mein Name dafür. Ich führe auch gerne aus, warum das der Fall ist.
Wir haben unzweifelhaft eine sehr hohe Inflation. Darauf müssen wir natürlich auch mit der Besteuerung von Einkommen reagieren. Infolge der Inflation – das habe ich bereits in der ersten Debatte zu diesem Gesetzentwurf hier im Hohen Haus gesagt – steigen die Kosten für viele. Nicht nur die Energiekosten, die Heizkosten und die Mobilitätskosten sind gestiegen, sondern auch Lebensmittel sind deutlich teurer geworden. Das bedeutet für viele Menschen in unserem Land eine immense Mehrbelastung, da das verfügbare Einkommen der Familien nicht im gleichen Maße gestiegen ist. Lohnerhöhungen haben nur zum Teil dazu beitragen können, diese Schere zu schließen. Und hinzu kommt, dass man bei der einen oder anderen Lohnerhöhung tatsächlich in eine Steuerprogression kommt und dann noch weniger Netto vom Brutto hat, als man vielleicht vorher hatte.
Diese sogenannte kalte Progression soll unter anderem mit dem vorliegenden Gesetz vermieden werden. Aus diesem Grunde verschieben wir auch die entsprechenden Steuereckwerte bei der Einkommensteuer. Grundlage hierfür ist unter anderem der dem Parlament vorliegende Progressionsbericht. Es ist richtig, dass wir das immer auch parlamentarisch diskutieren und keinen Automatismus dafür einbauen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Anpassung dieser Eckwerte und der deutlichen Erhöhung des Steuerfreibetrages – im Übrigen der höchsten Erhöhung des Steuerfreibetrages, die es je gegeben hat – unterstützen wir die Menschen, die Einkommensteuer zahlen. Und das sind nicht ausschließlich Spitzenverdiener, sondern das betrifft auch mittlere und kleinere Einkommen. Das heißt, wir unterstützen natürlich auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land.
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Wir lassen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land nicht allein. Neben diesen Entlastungen haben wir nämlich in den vergangenen Wochen bereits weitere Entlastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den Weg gebracht, zum Beispiel die Erhöhung der Fernpendlerpauschale, die Energiepreispauschale, die Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Wir werden zudem gemeinsam mit den Ländern die Einführung des Deutschlandtickets an den Start bringen. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es dann günstiger, zur Arbeit zu fahren. Weitere Entlastungen sind geplant, unter anderem mit dem Jahressteuergesetz zur Erhöhung der Homeoffice-Pauschale.
Meine Damen und Herren, die hart arbeitenden Menschen in unserem Land, egal ob sie ein kleines Einkommen haben oder ein großes Einkommen haben, werden deutlich weniger Steuern zahlen, und das ist auch eine gute Antwort für die, die unseren Staat finanzieren und tragen.
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Dass dies insbesondere für niedrige Einkommen bereits greift, erkennt man schon daran, dass wir den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer deutlich erhöhen und auch an die Werte aus dem Existenzminimumbericht anpassen. Im Übrigen ist die Einführung des Bürgergeldes auch ein guter Grund, hier die Anpassungen entsprechend vorzunehmen.
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Das ergibt sich ebenfalls aus dem Existenzminimumbericht. Möglicherweise müssen sie sogar gar keine Steuern mehr bezahlen, wenn sie dann direkt unter diesen Freibetrag fallen.
Das Wichtigste aber ist, dass wir den Familien zusätzlich eine Unterstützung gewähren, indem wir das Kindergeld – es ist bereits ausgeführt worden – auf 250 Euro pro Monat für jedes Kind erhöhen. Das ist nicht nur eine deutliche Steigerung gegenüber dem Gesetzentwurf, der ja schon eine Erhöhung vorgesehen hat, sondern das ist insgesamt die deutlichste Erhöhung von Kindergeld, die es in diesem Land je gegeben hat.
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Damit das nicht nur so allgemein als Aussage im Raume steht, vielleicht auch noch mal ganz konkret: Bei drei Kindern hat man bisher 7 956 Euro Kindergeld im Jahr bekommen, jetzt werden es 9 000 Euro. Bei zwei Kindern waren es bislang 5 256 Euro, jetzt werden es 6 000 Euro. Und selbst bei einem Kind wird es eine deutliche Erhöhung von 2 628 Euro auf 3 000 Euro sein.
Ich finde, das Gesetz, das wir jetzt mit dem hier zugrunde liegenden Gesetzentwurf beschließen, wird in jedem Fall dazu beitragen, dass man es mit Recht auch „Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer- und Familienunterstützungsgesetz“ nennen darf.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU hat nun der Kollege Johannes Steiniger das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem ehrlichen Glückwunsch an den Finanzminister starten. Sie haben sich in dieser Koalition durchgesetzt.
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Das war, ehrlich gesagt, in den letzten Monaten nach dem, was man so aus der Koalition selbst gehört hat, nicht selbstverständlich. Deswegen herzlichen Glückwunsch, dass Sie sich durchgesetzt haben, dass die kalte Progression jetzt für 2023 und 2024 ausgeglichen wird.
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Man sieht aber gleichzeitig auch, dass Opposition wirkt; denn auch wir haben uns in den letzten Monaten zu diesem Gesetz eingebracht. Ich habe schon vor einem Jahr hier an diesem Rednerpult darauf hingewiesen, dass Sie das Thema „kalte Progression“ gar nicht im Koalitionsvertrag stehen haben, und wir hatten die große Sorge, dass Grüne und SPD da nicht mitziehen würden.
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Diese Sorge hatte sich zwar nicht bestätigt, aber es gab viel Grund zur Sorge in den letzten Wochen und Monaten.
Es ist gut, dass diese kalte Progression jetzt ausgeglichen wird. Die kalte Progression ist am Schluss ungerecht, sie ist unsozial, und sie ist, ehrlich gesagt, auch undemokratisch; denn wir haben hier heimliche Steuererhöhungen, die nicht durch das Parlament abgedeckt sind. Deswegen war es richtig, dass wir als CDU/CSU das Ganze vor Jahren mal eingeführt haben und dass Sie uns das jetzt in der Folge nachmachen.
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Jetzt ist es so: Hier war von Einigkeit die Rede, aber Einigkeit ist es eben nicht. Otto von Bismarck soll mal gesagt haben: Gesetze sind wie Würste, man sollte nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. – Bei diesem Gesetz war das so. Nur mal für die Öffentlichkeit: Diese Ampel war sich bis Dienstagnacht offensichtlich nicht einig. Die Änderungsanträge, mit denen es zu diesen massiven Verbesserungen gekommen ist, haben uns erst am Ende der Finanzausschusssitzung gestern erreicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, so geht man nicht mit dem Parlament um, so geht man, ehrlich gesagt, auch nicht mit der Opposition bei einem Gesetzgebungsverfahren um.
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Ich habe mich am Wochenende geärgert, als insbesondere von der SPD-Fake-News-Abteilung wieder mal gesagt worden ist,
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wir als Opposition würden gegen alles stimmen, was von der Ampel kommt. Da hat man ja so einiges gehört.
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– Ja, aber das ist hier ein Beispiel, wo es gerade nicht so ist. Wir könnten es uns jetzt einfach machen. Wir könnten sagen: Es ist nicht genug; Sie haben es 2022 nicht ausgeglichen; das Kindergeld ab dem vierten Kind ist unterproportional. – Aber wir übernehmen in diesem Parlament dann Verantwortung, wenn Sie ordentliche Gesetze vorlegen,
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wenn Sie im Verfahren auch auf uns hören, wenn Sie uns einbeziehen und unsere Vorschläge mit in die Änderungsanträge reinnehmen. Wir machen als CDU/CSU hier ordentliche Politik, eine verantwortliche Politik, und deswegen werden wir diesem Gesetz auch zustimmen.
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Jetzt ist es ganz schade, dass ich nur noch 20 Sekunden habe, um mit den ganzen mathematischen Fehlern der Redner von SPD und Grünen hier ein bisschen aufzuräumen. Vielleicht nur ein Satz: Natürlich ist es ein historisch großes Volumen; denn wir haben eine historisch hohe Inflation, und dann ist doch ganz klar, dass das Volumen sehr groß ist, wenn das Ganze ausgeglichen wird.
In diesem Sinne: Wir werden dem zustimmen. Ich empfehle Ihnen: Hören Sie in Zukunft öfter auf uns – es tut dieser Bundesrepublik gut.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Katharina Beck das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es ist sehr wichtig, dieses Inflationsausgleichsgesetz mit seiner zweistelligen Milliardenhöhe in die Zeit einzuordnen, in der wir uns befinden. Das ist eine unfassbar große Krise, und wir gehen als Bundesregierung sehr beherzt damit um und machen Entlastungspakete und Abwehrschirme in Höhe von über 300 Milliarden Euro.
Die Situation ist dramatisch. Wir haben 10 Prozent Inflation. Manche Gaskundinnen und Gaskunden müssen mit 95 Prozent Preissteigerung rechnen. Das kommt in einer Situation, wo 40 Prozent der Menschen in Deutschland keine Rücklagen haben, um diese Preissteigerungen abzufedern. In meiner Heimatstadt Hamburg machen sich gerade vier von zehn Mieterinnen und Mietern darüber Gedanken, ob sie überhaupt noch in ihrer Wohnung bleiben können. Es ist also wirklich dramatisch.
Und ja, wir haben viel diskutiert über dieses Gesetz. Aber es ist ein sehr gutes Gesetz; denn wir haben es eingeordnet in ein Gesamtpaket, das extrem gut ist. Wir müssen die Ursachen bekämpfen. Wir bauen die erneuerbaren Energien aus, damit es mittelfristig preisgünstige Energie in Deutschland gibt, damit wir unabhängig werden, wegkommen von unserer Abhängigkeit von Russland und anderen Staaten. Dann machen wir auch die Energie günstiger für Menschen und für Unternehmen. Mit der Gas- und Strompreisbremse ermöglichen wir, dass das Ganze erst mal wieder bezahlbar wird. Was die ganzen Ad-hoc-Entlastungen betrifft, sind wir uns, so glaube ich, sehr einig in der Ampelkoalition: Es sind Ad-hoc-Entlastungen, aber wir können damit nicht immer so weitermachen.
Dennoch haben wir über 18 Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Menschen finanziell zu entlasten: Ich fange mal an beim 9‑Euro-Ticket. Jetzt kommt das 49‑Euro-Ticket. Das bedeutet für manche über die Hälfte an Reduktion der Mobilitätskosten. Weiter geht es mit den Energiepreispauschalen, wobei Ärmere mehr profitieren als Reichere, dem Grundfreibetrag, der gerade schon gefeiert wurde. In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Kinderarmut, und wir haben schon im Sommer 100 Euro aufs Kindergeld draufgepackt. Wir haben für die Transferbezieher/-innen 20 Euro im Monat Kindersofortzuschlag gegeben. Es ist wirklich großartig, dass wir mit diesem Inflationsausgleichsgesetz nun die größte Kindergelderhöhung aller Zeiten machen: auf 250 Euro pro Kind.
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Es ist ein absoluter Meilenstein – auch ein Projekt unserer Familienministerin, von Lisa Paus, und der gesamten Ampelregierung –, die Kindergrundsicherung endlich auf den Weg zu bringen, damit dieses Schandmal der Kinderarmut in Deutschland endlich abgebaut wird.
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Es ist kein Geheimnis, dass durch dieses Gesetz regressiv entlastet wird, also Vielverdienende absolut betrachtet mehr profitieren. Aber insgesamt gehen wir mit unseren Entlastungen einen so unfassbar guten Weg, dass ich stolz bin, Teil dieser Regierung und dieser Fraktionen der Ampel zu sein.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Alois Rainer das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf beinhaltet viele gute Punkte, insbesondere für Familien. Dazu zählen die Anhebung des Kinderfreibetrages für 2022 bis 2024 sowie die Anhebung des Höchstbetrages für den steuerlichen Abzug von Unterhaltsleistungen von 2022 bis 2024. Bei der Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro pro Monat sind Sie ja unserem Vorschlag gefolgt. Man hätte noch darüber hinausgehen können, aber es ist wirklich schon ganz gut.
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Man hätte die kinderreichen Familien besser entlasten können.
Aber, meine Damen und Herren, die Probleme der Menschen bestehen jetzt, jetzt im Jahr 2022. Deshalb wäre es auch notwendig gewesen, den Ausgleich der kalten Progression schon in 2022 gelten zu lassen.
({1})
Wir sehen gerade bei diesem Gesetz, dass die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition funktionieren kann, wenn Sie bereit sind, auf den großen Erfahrungsschatz aus 16 Jahren Regierung zurückzugreifen.
({2})
Man hat jetzt gesehen: Es bringt was.
Ich hätte mir an dieser Stelle aber auch gewünscht, dass Sie unserem Entschließungsantrag in Gänze zugestimmt und diesen auch umgesetzt hätten. Der Staat hat in diesem Jahr bedingt durch die Inflation erheblich mehr Steuern eingenommen, und diese sollten insbesondere in der jetzigen Zeit an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zurückgezahlt, zurückgegeben werden.
({3})
Um schnell auf Veränderungen reagieren zu können, wäre unseres Erachtens eine jährliche Überprüfung des Einkommensteuertarifverlaufs notwendig gewesen, um die kalte Progression dynamischer auszugleichen.
Grundsätzlich, wie eingangs gesagt, begrüßen wir viele Punkte des Gesetzentwurfs. Wir werden natürlich auch zustimmen. Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Ausschussvorsitzender noch eins sagen – es ist vorhin schon angesprochen worden –: Die Art und Weise, wann die letzten Umdrucke des Ausschusses vorgelegt wurden,
({4})
lässt in dem Verfahren etwas zu wünschen übrig. Das war nicht die charmanteste Art und Weise, wie man mit der Opposition umgeht. Ich bitte darum, dass wir in Zukunft solche Umdrucke etwas früher erhalten. Ich weiß, Frau Kollegin Beck, es ist schwierig, bei drei Parteien eine Einigung herbeizuführen,
({5})
aber vergessen Sie nicht den Umgang mit dem Parlament. Es ist die höchste Institution, die am Ende der Tage die Gesetze beschließt, nicht die Bundesregierung. Deshalb sollte man es frühzeitiger informieren.
Ich bedanke mich aber trotzdem bei allen Damen und Herren des Finanzausschusses für die gute und konstruktive Zusammenarbeit, auch unter Zeitdruck. Das war nämlich nicht selbstverständlich.
({6})
Abschließend – meine Zeit ist vorbei –:
Die Redezeit.
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Inflationsausgleich bedeutet auch, Energiekosten auszugleichen. Da sind wir bei Weitem noch nicht am Ende; die Deckelung auf 40 Cent pro Kilowattstunde für kleine und mittlere Unternehmen ist nicht ausreichend.
Danke schön.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Bürgergeld haben wir beschlossen, jetzt beschließen wir die Wohngeldreform. Bürgergeld und Wohngeld gehen Hand in Hand. Zusammen ist es ein sozialpolitischer Meilenstein.
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Menschen, deren kleines Einkommen nicht reicht, um die hohen Wohnkosten aus eigener Kraft zu stemmen, die nichts dafür können, dass die Wohnkosten immer weiter steigen, diese Menschen werden mit dem Wohngeld Plus kräftig und zielgerecht entlastet, und das ganz gleich, ob sie zur Miete oder im Eigentum wohnen.
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Damit schaffen wir eine wirksame Entlastung bis in die Mittelschicht hinein.
Vor vier Wochen war hier die erste Lesung der Wohngeldreform; heute wollen wir das Gesetz beschließen. So schnell bringen wir diese Reform auf den Weg, und das ist auch notwendig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt: Es macht einen Unterschied, wer mit wem dieses Land regiert – einen gewaltigen Unterschied!
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In der Öffentlichkeit wurde viel über Bürokratie und Personalmangel gesprochen. Es ist zentral, dass die Umsetzung vor Ort funktioniert. Viele Menschen stellen neue Anträge und setzen sich zum ersten Mal mit dem Wohngeld auseinander. Deshalb ist es klar, dass es gerade am Anfang etwas länger dauern wird. Die Reform ist eine Herkulesaufgabe für die Kommunen.
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Das stellen wir nicht infrage. Aber was ist denn die Alternative, liebe Union? Diese Reform ist alternativlos.
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Die Menschen in Deutschland brauchen diese Wohngeldreform jetzt und nicht später. Die Menschen haben diese Wohngeldreform verdient. Diese gemeinsam zu meistern und umzusetzen, ist die Aufgabe. Die Länder werden ganz sicher alle Möglichkeiten nutzen, um die Kommunen dabei zu unterstützen.
Wir haben die Hinweise genutzt und Verbesserungen aufgenommen.
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Konkret bedeutet das: eine Bagatellgrenze von 50 Euro, ein Bewilligungszeitraum von 24 Monaten, eine Konkretisierung der vorläufigen Zahlung, damit es eben eine Verwaltungsvereinfachung ist. Alle diese Punkte haben wir noch zusätzlich in den Gesetzentwurf geschrieben.
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An dieser Stelle danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen von der FDP und den Grünen für die gemeinsame Arbeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele müssen mehr als die Hälfte ihres monatlichen Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Viele von ihnen wohnen in schlecht sanierten Gebäuden und bezahlen sehr viel Geld für die Nebenkosten; dazu kommen die hohen Energiepreise und die Inflation. All das macht das Wohnen noch teurer. Genau deshalb, genau für diese Menschen, stärken wir das Wohngeld.
Noch mal zur Erinnerung und ganz kurz: mehr Haushalte, mehr Menschen, mehr Wohngeld, Klimakomponente drin, Heizkostenkomponente drin. Damit helfen wir den Menschen, die es brauchen, ganz konkret, egal ob sie zur Miete oder im Eigentum wohnen. Hohe Wohnkosten dürfen keine Armutsfalle sein. Unser Ziel ist ganz klar: Bezahlbarer Wohnraum für alle!
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Dafür sorgen wir. Wir leisten einen Beitrag mit diesem Gesetz.
Vielleicht noch ein letztes Wort zum Thema: Was müssen wir noch alles tun, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen? Uns ist doch vollkommen klar, dass das ein wesentlicher Baustein ist, aber nicht der alleinige. Wir wollen im Mietrecht wie in anderen Komponenten und durch das Bauen von neuen Wohnungen, durch Sanierung dafür sorgen, dass der Druck vom Wohnungsmarkt genommen wird. Und ich setze darauf, dass wir aus dem Justizministerium auch bald einige Vorschläge zum Thema Mietrecht bekommen werden.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Anne König für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was die Ampel mit diesem Gesetz abliefert, ist bestenfalls enttäuschend. Frau Ministerin Geywitz, ich hätte es Ihnen gerne persönlich gesagt: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. – Sie mögen gute Vorsätze gehabt haben, aber der Weg zu einem guten Gesetz besteht eben aus weit mehr als vollmundigen Ankündigungen.
Das Resultat Ihrer Anstrengungen ist bitter für die betroffenen Menschen; denn wann das erste Wohngeld in 2023 gezahlt wird, weiß aktuell niemand. Laut Experten wird das Antragsvolumen auf das Vier- bis Fünffache explodieren.
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Dem sind weder Ihr Timing noch Ihr Gesetz gewachsen.
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Der Deutsche Städtetag geht davon aus, dass das Personal in den Wohngeldstellen verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht werden muss, um den zusätzlichen Arbeitsaufwand zu bewältigen.
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Je nach Größe der Kommune werden 10 bis 100 neue Mitarbeiter gebraucht. Der Arbeitsmarkt ist leer, die kommunalen Kassen sind klamm. Das wird nicht funktionieren.
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Das wird vor allen Dingen nicht zum 1. Januar 2023 funktionieren. Bis zum 1. Januar 2023 werden nur mit viel Glück die IT‑Fachverfahren in den Ländern angepasst sein; und dann ist noch kein neuer Mitarbeiter geschult. Der Deutsche Städtetag rechnet deshalb damit, dass in den ersten Wochen bis Monaten des Jahres 2023 gar kein – ich wiederhole: überhaupt kein –, nicht ein einziger Wohngeldantrag wird beschieden werden können, auch nicht Folgeanträge von denen, die schon immer auf Wohngeld angewiesen waren. Zum Januar 2023 wird außerdem wohl niemand eine Vorschusszahlung erhalten. Spätestens dann werden in den Ämtern verzweifelte Bürger auf eine heillos überforderte Verwaltung treffen. Als Bundesregierung so mit Menschen, die ein Recht auf Unterstützung haben, umzugehen, ist ein Skandal.
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Selbst die von allen geforderte Bagatellgrenze für Rückforderungen haben Sie erst vorgestern in den Gesetzentwurf aufgenommen.
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Man fragt sich: Warum erst jetzt? Begreifen Sie erst jetzt, was dieses Gesetz mit all seinen Unklarheiten und was Ihre großspurigen Ankündigungen bewirken werden? Darüber, dass die Klimakomponente mangels Anrechnung des Gebäudezustandes einfach mit der Gießkanne verteiltes Extrageld ist und dass es an einer transparenten Systematik der Mietstufen mangelt, mag ich gar nicht erst reden.
Bereits im März hatte unsere Fraktion die Reform des Wohngelds beantragt. Dass Sie sich damit mehr als acht Monate Zeit gelassen haben, ist alleine Ihnen zuzurechnen und von Ihnen zu verantworten. Wenn gute Vorsätze nicht mit guter Politik unterlegt werden – und hier haben Sie eindeutig Nachholbedarf –, dann stimmt das Sprichwort: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
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Sie produzieren beim Wohngeld gerade ein Desaster mit Ansage.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in einer Energiekrise. Für viele Menschen mit kleinen Einkommen bedeutet das große Herausforderungen, je länger der Monat geht. Für die Rentnerinnen und Rentner mit den niedrigen Bezügen, für die Alleinerziehenden mit dem Teilzeitjob, für die Menschen mit einer großen Familie und kleinem Einkommen, für all die in dieser Energiekrise Sicherheit zu bieten, ist unsere Aufgabe,.
Das Wohngeld-Plus-Gesetz ist ein Baustein dafür. Dank der Reform erhalten mehr Menschen mehr Geld. Anders als bisher werden eben nicht mehr nur die Kaltmieten herangezogen, sondern die Warmmieten. Es gibt eine Heizkostenkomponente und eine Klimakomponente, die die steigenden Energiekosten und die energetischen Sanierungen berücksichtigen.
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Mehr Anträge bedeuten aber auch mehr Arbeit für die Kommunen. Deswegen haben wir auch da vorgesorgt. Wir haben die Bagatellgrenze eingeführt;
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wir haben den Bewilligungszeitraum auf 24 Monate verlängert. Gerade für Menschen mit stabilem Einkommen wie Rentner/-innen ist das eine wichtige Erleichterung.
Klar ist aber auch – ich würde jetzt nicht nur meckern wie Sie, sondern ich würde klare Vorschläge machen –:
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Wenn Sie planen, einen Wohngeldantrag zu stellen, dann nutzen Sie den Wohngeldrechner vom Bauministerium. Auch das ist ein wichtiger Beitrag: Wenn Sie als Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben: „Wohngeld könnte etwas für mich sein“, dann nutzen Sie diesen Wohngeldrechner, um zu verhindern, dass es sehr viele Anträge gibt, die keine Aussicht auf Erfolg haben. Ich glaube, das ist ehrliche Kommunikation.
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Ein zweiter Baustein ist die faire Aufteilung der CO2-Kosten zwischen Mieterinnen und Mietern und Vermietern.
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Mit dem Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz leisten wir einen wichtigen Beitrag, um einerseits Klimaschutz und andererseits Mieter/-innenschutz zusammenzubringen. Unser Ziel ist, dass die Gebäude möglichst schnell saniert werden; dann brauchen wir keine Aufteilung der CO2-Kosten mehr und auch keine Diskussion über hohe Energiepreise.
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Deswegen haben wir ein Stufenmodell eingeführt, das Vermieter stärker in die Verantwortung nimmt.
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Gerade für die am schlechtesten sanierten Gebäuden haben wir durchgesetzt, dass Vermieter/-innen den CO2-Preis zu 95 Prozent zahlen müssen, Mieter/-innen nur noch zu 5 Prozent.
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Wir haben außerdem erreicht, dass alle bestehenden Fernwärmeanschlüsse einbezogen werden,
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egal ob BTHG oder ETS. Das ist gut fürs Klima.
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Zum Schluss: Beide Gesetze – das Wohngeld-Plus- und das Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz – haben eines gemeinsam: Sie bringen einerseits Sozialpolitik und andererseits Klimaschutz zusammen. Es ist total wichtig, dass wir das zusammenbringen; denn nur dann können wir erfolgreich sein.
Nun wirklich zum Schluss: Danke an meine zahlreichen Mitberichterstatter/-innen und für die gute Zusammenarbeit mit dem Ministerium. Mit beiden Gesetzen gehen wir einen guten Schritt voran. Darüber freue ich mich.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist dramatisch. Laut Statistischem Bundesamt konnten schon im Jahr 2021 2,6 Millionen Menschen ihre Wohnung nicht mehr ausreichend heizen, und jeder vierte Mieterhaushalt ist momentan armutsgefährdet.
Was tun Sie also dagegen? Zum 1. Januar wollen Sie das Wohngeld erhöhen und dafür sorgen, dass in Zukunft bis zu 2 Millionen Haushalte diese Transferleistung beziehen können. In der momentanen Situation ist diese Hilfe leider bitter notwendig. Dabei darf man aber bitte nicht vergessen: Es war Ihre Energiepolitik, die diese Menschen in die Armut getrieben hat. Jetzt werfen Sie ihnen dann einige Almosen hin. Sie sind der Brandstifter, der sich dafür feiert, dass er im Anschluss die Feuerwehr gerufen hat, meine Damen und Herren.
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Aufgrund der von Ihnen verursachten Notlage und im Interesse der betroffenen Bürger bleibt uns heute aber keine andere Wahl, als dieses Gesetz trotz enormer Mängel – die Kollegin von der CDU hat das gerade ausgeführt – mitzutragen.
Aber ist es nicht eigentlich völlig verrückt, zu glauben, dass man durch die Erhöhung und Ausweitung des Wohngelds die grundlegenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt löst? Anstatt die Ursachen der Misere anzupacken, doktern Sie nämlich den ganzen Tag nur an Symptomen herum und hoffen dann, dass sich das Wahlvolk durch Geldgeschenke blenden lässt.
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Warum sprechen Sie denn ein Problem nicht offen an? Es gibt in Deutschland zu wenige Wohnungen, und Sie werden es in den kommenden Jahren nicht schaffen, diese Zahl signifikant zu erhöhen. Das gibt selbst die Bauministerin ganz offen zu.
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Gleichzeitig hatten wir im ersten Halbjahr 2022 eine Nettozuwanderung von 1 Million Menschen.
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1 Million Menschen – das sind mehr Einwohner als Mainz, Erfurt, Saarbrücken, Wiesbaden und Schwerin zusammen. – Das ist kein Märchen, nette Dame. Das ist die Realität. Das sind nicht unsere Daten; das sagt das Statistische Bundesamt.
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Sie holen also in 6 Monaten mehr Ausländer in dieses Land, als Einwohner in fünf Landeshauptstädten in diesem Land wohnen, und wundern sich dann, dass der Wohnraum knapp wird.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen einen Tipp geben: Wenn Sie es nicht schaffen, auf der Angebotsseite mehr Wohnungen zu bauen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass die Nachfrageseite bedient wird, dass die Nachfrage also zurückgeht.
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Also muss priorisiert werden, liebe Frau Esken, und wenn wir priorisieren, ist das ganz klar: Einheimische zuerst, meine Damen und Herren!
Wir brauchen mehr Wohnungen für unsere eigenen Leute und deshalb eine Rückführungsoffensive. Abschieben schafft Wohnraum, spart Geld und sorgt für Sicherheit auf unseren Straßen. Das ist eine Goldrandlösung.
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Für Entlastung in diesem Bereich können Sie auf die Stimmen meiner Fraktion gerne zählen.
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Aber auch Ihre zweite Entlastungsmaßnahme entpuppt sich als Mogelpackung. Sie wollen mit dem vorliegenden Gesetz die CO2-Kosten in Zukunft zwischen Mieter und Vermieter aufteilen und verkaufen das dann als Entlastung der Mieter. Aber merken Sie eigentlich, wie irre das ist? Auf der einen Seite führen Sie eine CO2-Steuer ein, belasten die Menschen massiv mehr und stellen sich dann auf der anderen Seite hin und sagen: Jetzt entlasten wir. Jetzt verteilen wir die Kosten und geben den Vermietern noch mehr davon. – Das ist keine Lösung. Das ist ein Hütchenspielertrick, und der wird völlig in die Hose gehen, meine Damen und Herren.
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Mehr als 60 Prozent der Vermieter in Deutschland sind Kleinvermieter, die sich vielleicht für ihre Altersvorsorge eine kleine Wohnung erspart haben und sie jetzt vermieten. Sie werden dadurch auch nicht reich; es sind sogar knapp 10 Prozent der privaten Vermieter, die laut IWD jeden Monat drauflegen. Diese Menschen wollen Sie jetzt zusätzlich belasten. Ich kann Ihnen sagen, welche Folgen das haben wird: Es wird in Zukunft viele Menschen geben, die sagen: Na ja, gut, in meinem kleinen Häuschen habe ich eine Einliegerwohnung. Dann vermiete ich die eben nicht mehr, weil mir der Bürokratieaufwand und die Zusatzkosten einfach über den Kopf wachsen.
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Statt Wohnraum zu schaffen, sorgen Sie mit Ihren grandiosen Ideen sogar für das Gegenteil, meine Damen und Herren.
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Die CO2-Steuer muss nicht aufgeteilt, sondern abgeschafft werden.
Fassen wir also kurz zusammen: Sie bauen zu wenige Wohnungen, Sie importieren Millionen von Ausländern, und dank Ihrer Energiepolitik werden immer mehr Menschen in Deutschland arm und abhängig von staatlichen Leistungen.
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Wenn Sie so weitermachen, werden statt 2 Millionen bald 20 Millionen Menschen Wohngeld benötigen. Was machen Sie denn eigentlich dann? Wer soll denn diese ganze Chose noch bezahlen?
Stoppen Sie also diesen Irrweg, und stellen Sie unsere deutschen Bürger endlich wieder in den Mittelpunkt der Politik! Deutschland hat Eigenbedarf.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt seit fünf Jahren hier im Parlament mit der AfD, und ich muss jetzt einmal sagen: Es ist jedes Jahr, in jeder Rede deutlich, wie völlig egal Ihnen sowohl die Wirtschaft als auch die deutsche Gesellschaft sind. Landauf, landab klagt jedes Unternehmen über Fachkräftemangel, und Sie behaupten, wir brauchen keine Zuwanderung? Deutschland ist ein Einwanderungsland, und auch das werden wir in dieser Legislaturperiode klarmachen.
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Wir brauchen die Kräfte, die zu uns kommen. Als viergrößte Volkswirtschaft der Welt, als eine wohlhabende Nation haben wir auch die Verantwortung, den Kriegsflüchtlingen zu helfen.
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Wir haben die Verantwortung, den Schwächsten zu helfen. Und die, die hier nicht bleiben dürfen, keinen Aufenthaltstitel haben, müssen gehen.
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Das ist die Wahrheit. Was Sie da erzählen, ist einfach nur Polemik.
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Was aber in Ihrer Rede auffällt: Sie haben das gleiche brutale Vermieterbild wie die Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Die AfD und Die Linke haben das gleiche Vermieterbild. Sie stellen sich hierhin und sagen: Oma Erna ist so eiskalt, dass sie ihre Wohnung nicht mehr vermietet, weil sie vielleicht 50 Euro CO2-Preis im Jahr zahlen soll.
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Sie stellen sich hierher und sagen das! Dieses Vermieterbild ist eine Beleidigung für die guten, ehrlichen kleinen Vermieter in Deutschland.
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Das gilt für die AfD genauso wie für Die Linke.
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So, jetzt habe ich die ersten 1:20 Minuten für die drei Themen gebraucht, die wir hier debattieren.
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Ganz kurz ein Satz zu den Linken-Anträgen: Ich finde die Hybris wirklich beeindruckend. Wir brauchen nur zum Fenster hinausschauen und sehen die völlig gescheiterte Wohn- und Mietenpolitik der Linken in Berlin.
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Sie stellen sich hierhin und sagen: Das, was in Berlin nicht klappt, sollen wir hier im Bundestag machen.
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Das ist eine absurde Hybris, die hinten und vorne nicht funktionieren wird.
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Was aber funktionieren wird, im Gegensatz zur Politik der Linken in Berlin, ist tatsächlich die größte Wohngeldreform, die es in Deutschland je gab.
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Diese Wohngeldreform ist notwendig geworden; sie musste gemacht werden. Wir müssen die Menschen unterstützen. Wir müssen den Mieterinnen und Mietern, die nicht mehr können, helfen, keine Frage. Gerade in der jetzigen Situation haben wir das Problem, dass auch die untere Mittelschicht nicht mehr kann, und dass wir dann das Wohngeld ausweiten, ist wichtig. Dass wir eine Heizkostenkomponente eingebaut haben, ist richtig, und dass wir eine Klimakomponente einbauen, auch.
Da bin ich allerdings tatsächlich bei der Union: Die Klimakomponente ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Deswegen haben wir mit den Grünen und der SPD auch formuliert, dass wir die Klimakomponente, sobald wir das Versäumnis der nicht rechtssicheren Energieausweise gelöst haben, tatsächlich an den Energiezustand des Gebäudes anknüpfen. Wir werden sie weiterentwickeln.
({12})
Wir müssen das Wohngeld sowieso anpassen; auch die Mietkategorien, die Mietzuordnungen sind in der Mache. Es ist ein wissenschaftliches Prinzip; das wird übernommen. Das werden wir anpassen. Die Wohngeldreform ist wichtig, sie ist richtig.
Wir hören natürlich auch die Aussagen der Kommunen; wir hören natürlich auch: Das wird schwierig. Das schaffen wir nicht. – Aber im Gegensatz zur Union sagen wir: Wir machen es trotzdem, weil die Menschen die Hilfe brauchen.
({13})
Wir machen es trotzdem, weil die Menschen die Hilfe brauchen. Nur, weil es schwer ist, die Wohngeldreform nicht umzusetzen, das ist mit der Ampel nicht zu machen.
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Wir zahlen die Hilfe, die gezahlt werden muss. Deswegen haben wir auch deutliche Vereinfachungen in der Bürokratie beim Wohngeld vorgenommen. Wir werden das Wohngeldgesetz auch sehr bald wieder evaluieren. Das Ziel ist natürlich schon, dass es bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt, die es brauchen.
Aber einen Satz bitte zu den Kommunen, weil das auch Thema der Anhörung war. Ich muss es hier jetzt mal coram publico, in der Öffentlichkeit, sagen. Seit drei oder vier Jahren gibt es in Schleswig-Holstein einen digitalen Bürgergeldantrag. Die kommunalen Spitzenverbände sagen: Dieser digitale Bürgergeldantrag ist gut. – Aber er ist nicht Realität in Deutschland. Warum wird er nicht übernommen? Also, auch die Kommunen und die Länder haben bitte die Verantwortung, ihre Verwaltung zu optimieren und vor allen Dingen zu digitalisieren, damit es schneller geht und zielgerichteter ankommt.
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Das ist ein wichtiger Punkt.
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– Was habe ich gesagt?
({17})
– Vielen Dank, Frau Esken. Ich meinte natürlich das Wohngeld, nicht das Bürgergeld. Ich war vorhin bei der Bürgergelddebatte, und da habe ich mich so über die Union aufgeregt. Deswegen denke ich jedes Mal, wenn ich da reinschaue, ans Bürgergeld.
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Aber vielen Dank für den Hinweis.
Jetzt bleibt mir nicht mehr viel Zeit für die CO2-Preis-Aufteilung.
({19})
Mir ist aber wichtig, einen Punkt bei der CO2-Preis-Aufteilung anzusprechen. Da geht es nicht in erster Linie um die Entlastung der Mieterinnen und Mieter, wie es gerne dargestellt wird. Es geht darum, dass wir in der Bepreisung des CO2, die absolut richtig ist – dazu stehen wir Freie Demokraten; jeder wird sich für jedes Kilogramm CO2 rechtfertigen müssen –, eine Aufteilung hinzukriegen, die sowohl die Eigentümer als auch die Nutzer anreizt, Energie zu sparen. Darum geht es bei der CO2-Preis-Aufteilung, und das ist auch gelungen.
Dass wir den Verbrauch heranziehen, ist ja nicht ganz verkehrt; denn Herr Luczak wird gleich wieder sagen: Wir brauchen einen Gebäude-Energieausweis. – Auch der Gebäude-Energieausweis ist teilweise ein Verbrauchsausweis.
({20})
– Doch, im Ausschuss.
Kollege Föst.
Ich weiß. Ich komme zum Ende. – Ich hätte gerne noch drei Minuten mehr, weil das Thema wirklich sehr wichtig ist.
Wir entlasten beim Wohngeld. Wir schaffen Anreize bei der CO2-Preis-Aufteilung. AfD und Linke sind wieder mal völlig daneben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Caren Lay das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass der Heizkostenzuschuss endlich kommt, dass es eine Klimakomponente geben wird und dass der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet wird. Das sind richtige Schritte, die wir als Linke immer gefordert haben, und ich bin froh, dass sie endlich kommen.
({0})
Doch kommen wir nun zu den Problemen:
Erstens. Das Wohngeld muss so berechnet sein, dass es zum Leben reicht. 30 Prozent des Einkommens sollen eigentlich maximal für die warme Miete ausgegeben werden. Die Koalition kalkuliert allerdings mit 40 Prozent, und da sind die Stromkosten noch nicht dabei. Das heißt, die finanzielle Überlastung von Haushalten wird einkalkuliert. Das darf nicht sein!
({1})
Zweitens. Die Kommunen stehen vor einer Antragsflut, die sie personell nicht stemmen können. Wir haben vorgeschlagen, die alten Anträge vorläufig um ein Jahr zu verlängern, damit die neuen Anträge bewilligt werden können. Doch leider wurde dieser Vorschlag nicht aufgegriffen.
Drittens. Das komplizierte Mietstufensystem war schon immer ungerecht. Das wissen alle Fachleute. Jetzt wollen Sie zusätzlich auch noch 188 Gemeinden herabstufen. In diesen Gemeinden können dann im schlimmsten Falle die Zuschüsse für die Kaltmieten sogar sinken. Wie soll ich das in meinem Wahlkreis erzählen, wo vier Städte davon betroffen sind, oder in Chemnitz oder in Rostock? In Rostock sind die Angebotsmieten im letzten Jahr um 12 Prozent gestiegen. Im Ergebnis Ihrer Reform kann es passieren, dass eine Familie im Extremfall 100 Euro weniger Zuschüsse für die Kaltmiete bekommt. Das ist doch völlig absurd.
({2})
Der Deutsche Mieterbund, die Gewerkschaften, der Deutsche Städtetag und der Bundesrat kritisieren das.
Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt, der auf diese unsachgerechte Herabstufung verzichtet. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann können wir auch Ihrem Gesetz zustimmen, ansonsten natürlich nicht; denn dann bleibt es einfach ein Rumgemurkse mit schweren Fehlern.
({3})
Viertens. Das Grundproblem beim Wohngeld ist doch, dass man aufpassen muss, dass es keine staatliche Subvention des Mietenwahnsinns ist, über den sich am Ende des Tages die Aktionäre von Vonovia freuen. Deswegen muss eine Wohngeldreform mit einem Mietenstopp Hand in Hand gehen. Genau das beantragen wir als Linke heute.
Außerdem beantragen wir einen besseren Kündigungsschutz; ihn hat auch die Bauministerin versprochen, aber er ist noch nicht da. Wir beantragen ein Verbot von Zwangsräumungen und von Indexmietverträgen.
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Das mag Ihnen alles zu weit gehen. Aber von der Ampel ist im Mietrecht noch nichts gekommen. Das ist die Wahrheit.
Schließlich zum CO2-Preis. Sie machen es nur ein bisschen gerechter, aber Sie wissen ganz genau, dass es immer noch eine überproportionale Belastung der Mieterinnen und Mieter bedeutet. Ganz im Ernst: Eine CO2-Bepreisung ist angesichts dieser Energiepreisexplosion doch wirklich aus der Zeit gefallen. Wir können die Kosten nicht noch per Gesetz nach oben treiben.
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Frau Kollegin.
Das Beste wäre, wenn die unsinnige CO2-Bepreisung der Heizkosten komplett zurückgenommen würde.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun Martin Diedenhofen das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Aufteilung der CO2-Kosten sorgen wir für mehr Gerechtigkeit. Dass Mieterinnen und Mieter alleine die Zusatzkosten für den CO2-Preis auf Öl und Gas zahlen, wird sich nun ändern, und ich kann nur sagen: Endlich!
({0})
Dadurch werden Millionen von Menschen gezielt entlastet.
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In den vergangenen Wochen haben wir den Gesetzentwurf intensiv beraten und an einigen Stellen auch noch einmal nachgebessert. Uns war ganz wichtig, dass die Mieterinnen und Mieter in den energetisch schlechtesten Gebäuden noch weniger zahlen müssen, als ursprünglich geplant, nämlich jetzt nur noch 5 Prozent der CO2-Kosten. Es wird außerdem ein Onlinetool geben, mit dem Anteile der CO2-Kosten ganz einfach, unbürokratisch und fehlerfrei berechnet werden können.
Wir haben also einen guten Kompromiss gefunden. Deshalb möchte ich meine Redezeit jetzt auch nutzen, um noch einmal ganz grundsätzlich die Notwendigkeit des CO2-Preises anscheinend auch für einige Teile des Hauses aufzuzeigen.
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Denn es gibt einige, die den CO2-Preis am liebsten abschaffen würden, darunter natürlich die Wissenschaftsleugner der AfD,
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die bis heute noch nicht verstanden haben,
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wie CO2-Ausstoß und Klimawandel denn eigentlich zusammenhängen.
Auch für Sie noch einmal: Wenn wir so weitermachen, mit dem Fuß auf dem Gaspedal auf dem Highway in die Klimahölle, wie es António Guterres bei der UN-Klimakonferenz formuliert hat, werden beispielsweise extreme Flutkatastrophen keine schlimmen Jahrhundertereignisse mehr bleiben, sondern häufiger vorkommen.
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Als Ampel machen wir also das einzig Logische: Wir bringen Maßnahmen auf den Weg, klimaschädliche Emissionen zu verringern. Deswegen gilt der CO2-Preis auch im Gebäudesektor, aber eben mit einer fairen Aufteilung und den zwei Komponenten, wie Kollege Föst es auch schon erwähnt hat: dem Anreiz zur energetischen Sanierung und zu energiesparendem Verhalten.
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Denen, die jetzt gegen den CO2-Preis wettern und vorgeben, dabei auf der Seite der kleinen Leute zu stehen, kann ich nur sagen: Sie haben es nicht verstanden. Mit dem CO2-Preis bitten wir besonders diejenigen zur Kasse, die das Klima am meisten schädigen.
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Das sind die, die viel Geld auf dem Konto haben, und zwar so richtig viel.
Genau das sagt auch die Statistik: Die reichsten 10 Prozent verursachen die Hälfte der Treibhausgase. Das heißt: Zwar kann und sollte auch jeder etwas tun, um CO2 einzusparen. Aber der große Klimasünder ist eben nicht der Arbeiter, der nach einem langen Tag bei eisigen Temperaturen daheim noch einmal die Heizung aufdreht; das ist auch nicht die Krankenschwester, die sich nach der x-ten Überstunde zu Hause noch unter die warme Decke kuschelt, nein, unter die warme Dusche stellt.
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Klar wäre es für das Klima besser, wenn sie eine moderne, klimafreundliche Heizung hätten und Solarpellets zur Warmwassererzeugung. Aber oftmals steht das außer Frage, weil sie als Mietende entweder keinen Einfluss darauf haben oder als Eigentümer nicht genügend Geld für diese Investition aufbringen können.
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Ich habe die Nase voll davon, dass die Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten auf den Einzelnen abgeladen wird. Wir müssen uns endlich auf die großen Klimasünder fokussieren, und wir müssen die Menschen noch stärker unterstützen, die eben nur geringen finanziellen Spielraum haben. Deswegen haben wir uns im Koalitionsvertrag auch auf ein Klimageld geeinigt, durch das die Einnahmen aus dem CO2-Preis wieder an die Bürgerinnen und Bürger zurückfließen werden.
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Die reichsten Klimasünder machen dabei ein Minusgeschäft, und es profitieren diejenigen, die wenig CO2-Emissionen verursachen. Das sind oft die Menschen, die wenig Geld haben. Das nenne ich sozial gerecht.
Danke schön.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin am Rednerpult angekommen
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und freue mich jetzt auf eine entsprechende Debatte, nachdem man uns vorhin gesagt hat, wir hätten keine Vorschläge gemacht. Liebe Kollegin der Grünen, es sind zwei Vorschläge, zwei Entschließungsanträge zu beiden Gesetzen – lesen Sie es nach! Von uns bekommen Sie immer gute Ideen zu einem Gesetz; denn wir sind eine konstruktive Opposition.
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Es bestreitet niemand, dass wir beim Wohngeld etwas machen müssen. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind zu spät, Sie sind zu bürokratisch, Sie setzen es schlecht um, und Sie können die Kommunen nicht außen vor lassen, so wie es die Kollegin Anne König Ihnen vorhin schon gesagt hat.
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Gegen die Kommunen, gegen die, die es vor Ort umsetzen müssen, lassen sich auch hier in Berlin keine Gesetze machen. Verankern Sie sich endlich auf der unteren Ebene.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CO2-Bepreisung ist sozusagen zum Anhängsel dieser Debatte geworden. Mir ist natürlich klar, warum: Der eine oder andere möchte nicht daran erinnert werden, dass das, was er einmal erzählt hat,
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wenig mit dem zu tun hat, dem er jetzt hier zustimmen muss oder will. Das ist auch so ein bisschen typischer Ampelstil: erst streiten, dann herumwerkeln und dann viel zu spät kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Grundwebfehler dieses Gesetzes bleibt bestehen: Der energetische Zustand des Gebäudes wird nicht entsprechend berücksichtigt. Die Kosten hängen davon ab, wie das individuelle Heizverhalten ist. Das kann nicht richtig sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zehn Stufen, bürokratisch und umständlich – das ist doch nicht FDP, liebe Kolleginnen und Kollegen;
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da haben Sie doch anderes versprochen. Die Qualität des Gebäudes wird nicht berücksichtigt. Da haben Sie doch anderes versprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Genau daran haben Sie aber nichts geändert.
Auch hier kann ich noch einmal sagen: Wir sind eine echte Opposition mit echten Vorschlägen – vier einfache Stufen abhängig vom Gebäudezustand, gerecht für Mieter und Vermieter. Das ist ein Modell, das wir Ihnen empfehlen und das wir Ihnen mit unserem Entschließungsantrag heute zur Abstimmung anbieten. Die beiden vorliegenden Gesetze können wir nicht mittragen.
Danke schön.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gästinnen und Gäste! Heute ist ein guter Tag; denn viele Bürger/-innen bei uns im Land sind verunsichert, und wir als Parlament geben die notwendige Sicherheit. Ein Puzzleteil ist das heute beschlossene Bürgergeld, ein anderes die Erhöhung des Kindergelds auf 250 Euro je Kind, ein weiteres der Heizkostenzuschuss II, den wir schon in der Vergangenheit beschlossen haben, und noch eines ist jetzt diese große Novelle des Wohngeldes. Mehr als 2 Millionen Haushalte werden davon in Zukunft profitieren, und darunter sind ganz besonders viele Alleinerziehende oder Rentner/-innen. Es braucht noch mehr, es kommt noch mehr: Sicherheit wollen wir geben, um soziale Härten abzusenken, wie mit der Gas- und Strompreisbremse.
Frau König, Sie haben vorhin von „Hölle“ gesprochen. Warum haben wir eine Inflation? Warum gehen die Energiepreise durch die Decke? Das hat wohl mit einem Angriffskrieg auf die Ukraine zu tun. Ich finde, das Wort „Hölle“ zu verwenden, um zu beschreiben, dass Kommunen tatsächlich durch ein Gesetz belastet werden, ist in dem Gesamtkontext absolut unangemessen.
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Es ist wahr: Wir haben uns als Grüne sicherlich auch ein paar Vereinfachungen mehr gewünscht.
({1})
Aber wäre die Alternative gewesen, das Wohngeld nicht anzupassen? Keine Erhöhung, keine Entlastung für so viele Haushalte? Wir haben eine Evaluation vereinbart, einmal beim Energiebedarfsausweis, aber auch bei der Klimakomponente. Warum konnten wir den Energiebedarfsausweis nicht nehmen? Weil er nicht rechtssicher war. Also, bitte, erst einmal auf die eigene nicht getane Arbeit der letzten 16 Jahre schauen
({2})
und nicht mit dem Wort „Hölle“ an Gesetzen herumkritisieren!
({3})
Es wurde auch schon viel zum Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz gesagt. Auch das beraten wir hier, und auch das ist eine gute Sache; denn es entlastet jene Mieter/-innen, die in besonders schlecht sanierten Wohnungen wohnen. Das sind eben jene, die oft wenig Geld haben, und das sind eben jene, die auch wenig Chancen auf den angespannten Mietmärkten haben. Deswegen ist das eine gute Sache, und es ist zugegebenerweise auch ein kleiner Anreiz für Vermieter/-innen, zu sanieren – eine gute Sache, die für Entlastung sorgt und ein bisschen Klimagerechtigkeit in Deutschland herstellt.
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Ein Problem haben wir nicht gelöst. Man muss einfach zugeben: Die hohen Mieten subventionieren wir schon ein wenig durch das Wohngeld, aber auch jetzt durch Hartz IV oder durch das zukünftige Bürgergeld. Wir stellen uns auf einen Mietmarkt ein, der nach wie vor überteuert ist. Während bei Immobilien und Grundstücken langsam die Preise anfangen zu sinken, gehen die Mieten weiter in vielen Regionen Deutschlands einfach durch die Decke. Deswegen braucht es in Ballungsgebieten neue Wohnungen, aber eben nicht nur Neubau, sondern auch Belegungsrechte, um eine soziale Mischung zu gewährleisten.
({5})
Wir brauchen die Umnutzung von Büro- und Gewerbegebäuden, eine Aufstockung und Lückenbebauung, wir brauchen ein schärferes Mietrecht, und wir brauchen natürlich die Wiedereinführung der Wohngemeinnützigkeit.
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Ohne diesen Dreiklang aus Baurecht, Mietrecht und Angebotserweiterung, aber ganz besonders durch nicht gewinnorientierte Akteure, werden die Mieten nicht dauerhaft sinken.
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Liebe Kollegen der Linken, ein Wort noch zu Ihrer Kritik, dass in einigen Kommunen tatsächlich der Kreis der Bezieher/-innen schrumpft: Das lag an der Datenbasis, und das BBSR macht gerade eine Studie, um die Einstufung von Städten auf eine solide, wissenschaftlich basierte und gerechte Basis zu stellen. Was wäre da die Alternative gewesen? Dass wir politisch am grünen Tisch entscheiden, wie welche Stadt eingestuft wird? Ja, wir haben Zuschriften von Kommunen bekommen; aber ich glaube, eine wissenschaftlich fundierte Basis des BBSR ist eine gute Entscheidungsgrundlage für die zukünftige Politik.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Jan-Marco Luczak das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben gerade gehört, dass es sich bei dieser Reform um einen Meilenstein handeln soll, um eine Jahrhundertreform. Ich werfe der Ministerin jetzt auch gar nicht vor, dass sie nicht da ist. Wir haben gehört, sie ist im Haushaltsausschuss. Das ist in Ordnung. Was ich aber ihr und den gesamten Kolleginnen und Kollegen von der Ampel vorwerfe: Wenn das eine solche Jahrhundertreform sein soll, dann hätten Sie verdammt noch mal mehr Sorgfalt aufwenden müssen, dann hätten Sie schneller sein müssen. Das, was Sie uns hier vorlegen, ist bestenfalls gut gemeint; in der Sache ist es aber richtig schlecht gemacht.
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Es ist für uns in dieser wirklich schwierigen Situation, in der sich die Menschen gerade befinden, völlig klar: Natürlich müssen wir den Mietern helfen, im Übrigen auch den Selbstnutzern; die haben ja auch Anspruch auf Wohngeld. Selbstverständlich müssen wir denen helfen. Aber das Problem an dem, was Sie uns hier vorschlagen, ist: Das wird den Menschen nicht helfen, weil es handwerklich schlecht gemacht ist und zu spät kommt. Wir werden bittere Enttäuschungen durch dieses Gesetz erleben. Wenn Sie mit den Kommunen reden, wissen Sie: Die sind heute schon alle personell total überlastet. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für einen Antrag auf Wohngeld beträgt heute schon sechs Monate, in einzelnen Kommunen sind es zwölf Monate.
Durch die Reformen, die wir jetzt in Angriff nehmen, deren Ziel wir als Union absolut teilen – noch mal: den Menschen muss geholfen werden –, werden aus den momentan 600 000 Menschen, die Wohngeld beziehen, 2 Millionen, also eine Verdreifachung der Menschen.
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– Haushalte. – Sie können sich vorstellen, was mit den Bearbeitungszeiten, die heute noch sechs Monate betragen, geschieht, wenn wir jetzt sozusagen dreimal so viele Menschen ins Wohngeld bringen. Natürlich werden sich die Bearbeitungszeiten entsprechend verlängern. Das wird dann dazu führen, dass, wenn die Menschen im Januar sagen: „Wunderbar, jetzt haben wir die Wohngeldreform. Ich stelle den Antrag. Ich brauche diese Hilfe; ich bin darauf angewiesen“, viele Monate überhaupt nichts passiert. Sie werden bitter enttäuscht werden, und das wird uns allen auf die Füße fallen, weil Sie zu spät gehandelt haben,
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weil Sie die Kommunen im Hinblick auf Vereinfachungsvorschläge nicht rechtzeitig einbezogen haben. Das ist einfach handwerklich schlecht, was Sie hier gemacht haben, meine Damen und Herren.
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Das Schlimme dabei ist: Es geht ja nicht nur um die Menschen, die jetzt neu wohngeldberechtigt werden, sondern auch um die, die aktuell schon Wohngeld beziehen. Bei denen ist es ja auch so, dass alles neu berechnet werden muss. Das heißt, im schlimmsten Falle kann es passieren, dass jemand, der in den vergangenen Monaten Wohngeld bekommen hat, im Januar, Februar, März usw. kein Wohngeld bekommt, weil die Kommune nicht damit hinterherkommt, seinen aktuellen Antrag zu bearbeiten. Das heißt, Sie verschlechtern für manche Menschen die Situation sogar. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel.
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Weil Sie gefragt haben: „Was hätten wir denn machen müssen?“: Der Kollege Lange hat darauf hingewiesen. Wir hätten einen einfachen Übergangsmechanismus machen können – das haben auch die Kommunen vorgeschlagen –, um dafür zu sorgen, dass den Menschen das Geld zeitnah zuteilwird. Man hätte darauf abstellen können, dass man die sehr komplizierte Einkommensberechnung nach § 14 des Wohngeldgesetzes vereinfacht, wo es über 30 Punkte mit vielen Unterpunkten gibt, was man alles angeben muss, was kein Antragsberechtigter versteht, was in den Kommunen eben zu diesen Schwierigkeiten führt. Das hätte man radikal vereinfachen müssen, man hätte eine ganz einfache Einkommensprüfung einführen müssen; dann wäre es auch gelungen, den Menschen das Geld rechtzeitig zuteilwerden zu lassen. Aber das haben Sie alles abgelehnt. Sie haben auf die Experten in der Anhörung nicht gehört. Das müssen Sie sich, wenn die Menschen im Januar dastehen und kein Geld haben, ankreiden lassen: Das ist Ihr Verschulden, meine Damen und Herren.
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Jetzt will ich ganz am Schluss noch etwas zu der Frage der CO2-Kosten sagen.
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Dazu ist schon viel gesagt worden, und auch hier haben wir einen Vorschlag gemacht.
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Noch mal: Der CO2-Preis als solcher ist richtig. Aber er ist nur dann richtig, wenn er am Ende auch Lenkungswirkung erzeugt. Das, was Sie jetzt vorschlagen, indem Sie nicht auf den energetischen Zustand des Gebäudes abstellen, nicht darauf, ob ein Gebäude modernisiert worden ist oder nicht, sondern auf den Brennstoffverbrauch, auf das Heizverhalten, führt am Ende dazu, dass diejenigen, die alles machen, was wir wollen, nämlich sparsam mit Heizenergie umgehen, am Ende bestraft werden, weil die Gebäude besser einqualifiziert werden und die Vermieter dann am Ende einen geringeren Anteil zahlen.
Kollege.
Das heißt, die Mieterinnen und Mieter, die sparsam heizen, werden am Ende durch Ihr Gesetz bestraft. Dazu können wir unsere Zustimmung nicht erteilen. Das ist absurd. Das hat keine Lenkungswirkung und ist klimapolitisch absolut kontraproduktiv, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Liebe Mieterinnen und Mieter! Wir haben vor zwei Wochen an genau dieser Stelle schon mal darüber diskutiert, wie wir den Mieterinnen und Mietern in dieser Krisenzeit der explodierenden Betriebskosten gezielt helfen können. Einiges wird sich heute zum Positiven für die Mieter/-innen ändern, weil wir gleich das Wohngeld Plus beschließen. Wir erhöhen das Wohngeld und erweitern es auf Haushalte, die diese Unterstützung dringend benötigen, aber bislang nicht wohngeldberechtigt waren. Allein damit werden wir bundesweit rund 2 Millionen Haushalten helfen, dreimal so vielen wie heute.
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Ein kleiner Schritt für den Finanzminister, aber ein großer für alle betroffenen Mieterinnen und Mieter; denn Mieter/-innen sind in Deutschland die übergroße Mehrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Gesetz allein bringt aber noch niemandem auch nur einen einzigen Euro mehr aufs Konto. Ein Erfolg wird die Wohngeldreform erst dann, wenn auch die Länder und Kommunen ihre politischen, finanziellen und verwaltungstechnischen Aufgaben zügig und zeitnah gelöst bekommen. Auch das müssen wir als Bundestagsabgeordnete vor Augen haben, wenn wir hier die notwendigen Gesetze beschließen. Und spätestens dann, wenn wir wieder in unsere Wahlkreise zurückkehren, ist es auch unsere Aufgabe, vor Ort zu schauen, ob die von uns erlassenen Gesetze dort auch umgesetzt werden können.
Mein Wahlkreis liegt in Düsseldorf, und ich möchte, dass das Wohngeld Plus, das wir hier beschließen, auch den Düsseldorferinnen und Düsseldorfern zugutekommt. Zur Umsetzung der Wohngeldreform habe ich deshalb den Düsseldorfer Oberbürgermeister konkret befragt – wohl wissend, dass bereits jetzt die Hälfte der Berechtigten aus Unkenntnis oder Scham ihr Recht auf Wohngeld nicht in Anspruch nimmt. Die Antworten auf meine Fragen zeigen mir, wie unterschiedlich die Kommunen und Länder mit der Problematik umgehen und dass wir unbedingt darauf achten müssen, dass die Wohngeldreform nicht nur hier im Plenarsaal verbleibt, sondern tatsächlich die Menschen im Land erreicht, die sie so dringend benötigen.
Auch in Düsseldorf wird sich die Zahl der wohngeldberechtigten Haushalte voraussichtlich verdreifachen, so die Antwort aus dem Rathaus. Das Personal wird dort etappenweise in den nächsten ein bis zwei Jahren aufgestockt, und auch die Onlineantragstellung muss erst noch etabliert werden. Da ist es fast schon folgerichtig, dass man auch keine zusätzliche Aufklärungsarbeit machen und Beratungen anbieten will. Aber es darf uns nicht passieren, dass die Reform wegen bundesweit fehlender Digitalisierung vor Ort nicht umgesetzt werden kann und lieber totgeschwiegen wird, damit weniger Haushalte davon erfahren und es nicht noch mehr Anträge zu bearbeiten gibt.
Aber es gibt auch andere Herangehensweisen, wie zum Beispiel im hier schon erwähnten Berlin. Gerade Berlin ist in der Mieterszene bundesweit dafür bekannt, dass es mutig vorangeht,
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im Mietrecht auch Neuland betritt und gerichtliche Niederlagen in Kauf nimmt, weil es eine soziale Mietenpolitik will. Berlin bereitet sich auf die Bewältigung einer verdreifachten Zahl an Wohngeldanträgen vor. Personal aus anderen Ämtern wird mobilisiert, und soziale Beratungsstellen werden aufgestockt, weil man sich einfach gesagt hat: Das Geld muss bei den Menschen ankommen.
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Ein solches Anpacken von Problemen würde ich mir von allen Kommunen und Ländern wünschen.
Das ist wichtig, aber nur eine von vielen Maßnahmen, mit denen wir das Leben in der galoppierenden Inflation erleichtern wollen.
Kollegin.
Wir warten gespannt auf den noch für dieses Jahr versprochenen Gesetzentwurf zum Mietrecht, –
Kollegin Martens, Sie müssen bitte einen Punkt setzen.
– damit wir hier an dieser Stelle demnächst auch das Mietrecht besser machen können.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer wird ja in einer Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Vermögensabgabe als Befürworter einer „energischen Lösung“ beschrieben, um den damaligen Wiederaufbau Westdeutschlands zu finanzieren und damit natürlich auch die Folgen von Krieg und Zerstörung zu überwinden. Und nicht nur das, er war einer der Väter, der uns im Bundestag mit der Aufnahme der Vermögensabgabe in Artikel 106 Grundgesetz ein Finanzinstrument in die Hand gegeben hat, um zukünftige Krisen bewältigen zu können. Insofern ist die im Grundgesetz verankerte Vermögensabgabe für Multimillionäre und Milliardäre also kein linkes Hirngespinst;
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es ist deutsche Regierungspraxis und trägt die Handschrift der CDU.
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Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen nicht erklären, dass wir heute angesichts dieses Angriffskrieges, der Energiekrise, der Coronapandemie vor den größten Krisenlasten stehen, die dieses Land je erlebt hat. Und das heißt, die Forderung nach einer einmaligen Vermögensabgabe ist nicht nur legitim, sie ist auch finanzpolitisch notwendig.
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Das muss man sich noch mal auf der Zunge zergehen lassen: In diesem Haushaltsjahr werden zur Krisenbekämpfung sage und schreibe 440 Milliarden Euro Schulden aufgenommen und unseren Enkeln ins Obligo gelegt.
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Aber auf eine Gegenfinanzierung, zum Beispiel durch eine gerechte Besteuerung der Krisengewinner oder der Superreichen, wird verzichtet. Das DIW, meine Damen und Herren, hat für meine Fraktion schon mal berechnet: Wenn man nur die reichsten 0,7 Prozent bei einer Vermögensabgabe heranzieht, dann kommt man auf Einnahmen von 310 Milliarden Euro für diesen Bundeshaushalt.
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Worüber reden wir, wenn wir über Superreiche reden? Um das mal ein bisschen präsenter zu machen: So besaßen in Deutschland letztes Jahr zwei Familien mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung, also zwei Familien besaßen mehr als 41 Millionen Menschen. Ich wiederhole das noch mal für die Bodyguards der Superreichen hier – FDP, CDU, aber auch bei der SPD –: Zwei Familien besaßen mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung.
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Das ist doch bizarr, meine Damen und Herren.
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Das ist auch kein Zufall; denn seit Jahren wird hier Politik für die Superreichen gemacht. Das sieht man auch im Koalitionsvertrag der Ampel. Dort wird jede Umverteilung von vornherein ausgeschlossen. Das muss man sich mal vorstellen. Während hier alles auf den Kopf gestellt wird, alles auf dem Prüfstand steht, veränderbar, verschiebbar ist, ist der Schutz der Superreichen in Stein gemeißelt. Das muss man sich mal vorstellen. Und dass sich der Bundesfinanzminister gebetsmühlenartig darauf bezieht, ist doch eigentlich der Skandal des Tages.
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Deshalb habe ich mich gefreut, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD –
Kollege Görke, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage aus der AfD-Fraktion?
– nein –, dass Ihre Parteivorsitzende, Saskia Esken, aber auch die Ex-Grünen-Fraktionsvorsitzende, Frau Göring-Eckardt, endlich unsere Forderung nach einer einmaligen Vermögensabgabe unterstützen.
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Das haben Sie auf Ihrem Parteitag, glaube ich, auch beschlossen.
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Aber ich finde, Pressestatements und Gastartikel in der Berliner Medienbubble reichen in dieser Zeit nicht aus.
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Wenn Sie den Postboten, den Pflegekräften, den Malochern draußen beweisen wollen, dass Sie es ernst meinen mit der Gerechtigkeit, dann müssen Sie unserem Antrag heute zustimmen.
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Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie wollen doch nicht wirklich hinter Konrad Adenauer zurücktreten, oder?
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Tim Klüssendorf das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir vorgenommen, als ich in den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, hier keinen Quatsch zu erzählen und mich immer an das zu halten, was ich auch sonst vertrete. Dementsprechend fällt es mir besonders schwer, heute zu diesem Antrag zu sprechen, weil das eine Forderung ist, die ich im Kern inhaltlich sehr unterstützenswert finde
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und die nicht nur meine Partei, sondern auch die grüne Partei jetzt in unterschiedlichen Beschlusslagen – auch als offizielle Beschlusslagen der Parteien – herbeigeführt hat und die, glaube ich, inhaltlich komplett richtig ist. Deswegen: Respekt vor diesem Antrag.
Wir haben gerade am Wochenende auf dem Bundeskonvent der SPD dazu eine Beschlussfassung herbeigeführt. Deswegen ist es besonders geschickt, diesen Antrag in dieser Woche zu stellen, weil Sie genau wissen, dass wir ihn ablehnen werden,
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und zwar nicht, weil er von Ihnen kommt, sondern weil man auch politische Realitäten anerkennen muss.
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Wir haben in diesem Haus momentan eine Koalition, die sich nicht darauf einigen konnte, im finanzpolitischen Segment in diesem Bereich aktiv zu werden.
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Da klatschen meine guten Freunde von der FDP; das ist auch genau richtig so.
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Es sieht vielleicht komisch aus – das muss man der Öffentlichkeit erklären –, dass wir inhaltlichen Forderungen nicht zustimmen, die wir eigentlich gut finden; aber: Wir sind in einer Koalition; wir haben Vereinbarungen getroffen. Man kann ein Land nicht auf Zuruf regieren. Man muss sich gegenseitig das Vertrauen versichern, man muss sich gegenseitig der Zustimmung versichern. Die FDP stimmt unserem Bürgergeld zu, die FDP stimmt unserer Mindestlohnerhöhung zu,
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die FDP stimmt unserer Wohngeldreform zu. Das ist viel abverlangt. Das heißt, im Gegenzug müssen wir auch unsere Versprechen einhalten, dass wir uns finanzpolitisch auf das fokussieren, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Da gibt es noch eine Menge zu tun, was wir gemeinsam vorhaben.
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Dennoch möchte ich noch mal unterstreichen, warum dieses Thema besonders wichtig ist. Ich würde mich auch freuen, wenn Sie vielleicht Ihre Russland-Avancen und so manche außenpolitische Äußerung hier unterlassen könnten; denn dann könnten wir vielleicht irgendwann auch wirklich zu politischen Mehrheiten in diesem Parlament kommen und nicht nur zu gesellschaftlichen Mehrheiten, die es für dieses Thema gibt.
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Dann würde es möglicherweise auch eine politische Mehrheit dafür geben.
Die Ungleichheit der Vermögen in diesem Land ist so hoch wie noch nie. Es gibt einen Wert, der besonders interessant ist, das ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er geht von null bis eins. Bei null nimmt er an, dass alle Menschen in diesem Land das gleiche Vermögen haben. Bei eins hat einer alles. In Deutschland haben wir momentan einen Gini-Koeffizienten von 0,82. Das ist ein extrem hoher Wert. Das ist nicht nur ein extrem hoher Wert; das ist der dritthöchste Wert von allen OECD-Staaten. Wir sind dabei weit über den Werten zum Beispiel von Frankreich, Belgien und anderen Ländern; die haben alle einen Koeffizienten um die 0,6. Das kann man auch alles noch mal nachlesen.
Das hat den Grund, dass wir in Deutschland Vermögen und Erbschaften so gut wie gar nicht besteuern. Der Anteil der Substanzsteuern an unserem Gesamtsteueraufkommen liegt bei 2 Prozent. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 5 Prozent. Ein Land wie Frankreich hat einen Anteil der vermögensbezogenen Steuern von knapp 10 Prozent; sogar in Großbritannien sind 13 Prozent des Gesamtsteueraufkommens vermögensbezogen. Das heißt, vor uns liegt noch ein ordentlicher Weg, den wir gemeinsam gehen müssen. Denn es besteht der dringende Bedarf, diese Ungleichheit abzubauen, die großen Vermögen abzuschöpfen und für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu sorgen.
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Dafür wird sich auch die Sozialdemokratie einsetzen; denn – Herr Görke hat es eben schon erwähnt – wir haben große Herausforderungen zu finanzieren, die größten Krisen überhaupt. Man muss sich nur die Entlastungspakete anschauen, die wir hier geschnürt haben. Wir können uns nicht darauf einigen, wie wir die Einnahmen stärken. Wir haben jetzt ein Gutachten vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorliegen, worin ein Ansatz formuliert ist. Aber wir gehen immer noch nicht an das ran, was wirklich Geld bringen würde, und das sind die Vermögen der Millionäre und der Milliardäre. Das wäre geeignet, um unsere Krisen zu finanzieren.
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Vielleicht eine letzte Bemerkung dazu. Wir, meine Fraktion, jetzt in der neuen Beschlusslage meine Partei, die grüne Partei und meine Parlamentarische Linke, die dazu im Sommer ein Gutachten geschrieben hat, werden uns weiterhin dafür einsetzen – dabei gucke ich in Richtung der FDP –, dass wir gesellschaftliche Mehrheiten und am Ende auch politische Mehrheiten für dieses Thema bekommen. Denn ich bin ganz fest davon überzeugt: Wenn man sich dieser Frage nicht widmet und sich den Argumenten verschließt, dann
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gefährdet man den sozialen Zusammenhalt in unserem Land nachhaltig, und das dürfen wir nicht riskieren.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir müssen den Antrag leider ablehnen.
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Für die CDU/CSU hat nun der Kollege Christian Freiherr von Stetten das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Linkspartei ist es so wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Jedes Jahr suchen Sie sich einen anderen Anlass, um hier im Deutschen Bundestag entweder einen Gesetzentwurf oder einen Antrag zur Einführung der Vermögensteuer oder einer Vermögensabgabe vorzulegen. Allein in den letzten zehn Jahren war dies 20‑mal der Fall.
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Aber dieses Mal, Herr Bartsch, haben Sie so schlampig und so wenig in die Tiefe gehend gearbeitet wie noch nie.
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In Ihrem gesamten Antrag, der auf eine Seite passt, steht keine einzige Zahl: weder zum Steuersatz, den Sie sich vorstellen, noch welchen Freibetrag Sie sich für Familien oder für den Mittelstand vorstellen, noch nicht einmal ein Datum, ab wann diese Abgabe gelten soll, und auch keine Definition, für wen sie überhaupt gelten soll.
Sie schreiben in dem Antrag nur nebulös von Multimillionären. Ich habe mal im Duden nachgeblättert: Was ist ein Multimillionär? Ein Multimillionär ist nach Definition jemand, der ein Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro auf dem Papier besitzt, inklusive Haus, Altersversorgung und allem, was dazugehört. Es zählt also nicht das Barvermögen auf dem Konto, sondern alles, was er hat. Da hat jemand, der ein Einfamilienhaus in München oder in Stuttgart oder in Köln besitzt – obwohl es sehr klein ist – und ein sehr kleines Einkommen oder eine sehr kleine Rente bezieht, doch schon ein relativ hohes Vermögen angehäuft. Oder nehmen Sie den Bäckermeister in meinem Wahlkreis Schwäbisch-Hall – zwei Verkaufsfilialen, ein Auto, mit dem er die Brötchen ausfährt –: Der ist mit 2 Millionen Euro Vermögen dabei. Diesem Bäckermeister, der in den letzten zwei Jahren in der Coronazeit leiden musste, der jetzt doppelt so hohe Strom- und Ölpreise zahlen muss, der in dritter Generation arbeitet und mit der Familie überlegt, ob er überhaupt weitermachen kann, dem wollen Sie jetzt durch eine Mittelstandsvermögensabgabe noch den Todesstoß versetzen. Das ist nicht der Umgang, den wir mit dem Mittelstand, mit Familien pflegen.
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Nein, ich habe auch nach nochmaligem Lesen keine einzige Zahl in Ihrem Antrag gefunden. Was ich dort finde, ist eine Aufforderung an uns.
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– Okay, das stimmt. Dann ist es eine Aufforderung an die Bundesregierung
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und an den Finanzminister, einmal bei den anderen Parteien – den Grünen und der SPD – nachzuschauen, was die in den letzten Jahren noch für Vorstellungen hatten. Aber billiger und peinlicher geht es da wirklich nicht.
Bei allem Respekt: Der Kollege Klüssendorf hat sich ja hier heute etwas zurückgehalten. Vor drei Monaten im ntv-Interview ist er aber etwas deutlicher geworden. Er hat klar gesagt, was die Ziele sind: Nach einem Freibetrag will man in Zukunft 10 bis 30 Prozent Teilenteignung durchsetzen, wenn man die Mehrheiten hat.
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Was ich hier gehört habe, war ja schon fast eine Koalitionsaussage zugunsten der Linken, und ich glaube, Sie hätten das ruhig etwas genauer formulieren können.
Wenn man allerdings bei den Linken nachschaut, was die in den letzten Jahren zum Thema Vermögensabgabe und Vermögensteuer im Deutschen Bundestag eingebracht haben, dann ist es etwas schwieriger, eine einheitliche Linie zu finden. Wenn ich höre, was Ihr Vorschlag im Jahr 2018 zu einer Vermögensteuer war, die nach Ihrem Vorschlag ja jährlich erhoben werden soll, dann stehen mir schon die Haare zu Berge. Sie wollten eine jährliche Abgabe von 5 Prozent auf den Verkehrswert.
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5 Prozent, Herr Fraktionsvorsitzender, bedeuten: Im ersten Jahr ist das Wohnzimmer weg, im zweiten ist das Bad weg, im dritten die Diele. Im zehnten Jahr muss die Familie in der Garage wohnen. Nach 20 Jahren ist das Haus komplett wegbesteuert. Das ist die Vermögensteuer jährlich.
Jetzt kommen wir zu Ihrem Vorschlag der Vermögensabgabe. Im letzten Jahr hatte Ihr Antrag zu dem Thema fast den gleichen Titel, allerdings etwas konzentrierter. Herr Kollege, Sie haben 300 Milliarden Euro als mögliche Einnahmeposten genannt, die eine Vermögensabgabe, wie Sie sich diese vorstellen, bringen kann.
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In Ihrem Antrag letztes Jahr sind Sie etwas genauer geworden und haben beschrieben, wie Sie die 300 Milliarden Euro einnehmen wollen. Dort schreiben Sie, dass Sie nämlich nicht nur die Menschen, die hier direkt steuerpflichtig sind, zur einmaligen Vermögensabgabe heranziehen wollen, sondern Sie wollen auch alle Menschen einbeziehen, die beschränkt steuerpflichtig sind, also Menschen, die nicht in Deutschland leben, die keine Deutschen sind, aber die Vermögen in Deutschland haben.
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Denen wollen Sie 100 000 Euro Freibetrag zugestehen, und den Rest wollen Sie zwischen 10 und 30 Prozent besteuern.
Ich frage mich, wie Sie auf die 300 Milliarden Euro kommen wollen. Nehmen Sie den Chinesen Herrn Li, bekannt als ein vermögender Unternehmer, der 10 Prozent an der Daimler AG hält: Dem wollen Sie 100 000 Euro Freibetrag geben, und dann wollen Sie ihn mit 30 Prozent besteuern. Na, herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg! Soll das Stuttgarter Finanzamt ihm einen Steuerbescheid nach China schicken, und was soll er damit machen? Oder gehen Sie nach Brandenburg. Dort baut Elon Musk eine Fabrik mit 40 000 Mitarbeitern, für die am Ende des Tages der Staat Zuschüsse zahlt. Auf der anderen Seite wollen Sie ihn besteuern, um auf Ihre 300 Milliarden Euro zu kommen. Das ist am Ende des Tages nicht durchdacht.
Meine Damen und Herren, wenn wir hier Finanzgesetze oder Anträge beraten, formuliere ich es normalerweise so, dass die Debatte gezeigt hat, dass wir unterschiedliche Ansichten haben und ich mich auf die Beratungen im Finanzausschuss freue. Allerdings kann das heute gar nicht der Fall sein, weil in Ihrem Antrag gar nicht drinsteht, was wir beraten können. Deswegen ist es folgerichtig, dass dieser Antrag nicht an den Finanzausschuss überwiesen wird, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– sondern dass wir heute direkt darüber abstimmen und ihn auch ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege von Stetten. – Sie haben gesehen: Die Sitzungsleitung hat gewechselt. Da wir aktuell bei einem Ende der Sitzung um 4.29 Uhr morgen früh liegen, kommen erst mal freundliche Appelle und der Hinweis darauf, dass ich diesmal etwas genauer als sonst auf die Redezeiten achten werde.
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– Nein, bei Ihnen noch nicht, Frau Beck.
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Ich habe gerade meine weibliche Seite entdeckt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Dank des Antrags der Linken setzt sich der Deutsche Bundestag heute mit einem sehr wichtigen Thema auseinander: der Vermögensverteilung in unserem Land. Ich möchte gerne ein paar Fakten in die Diskussion einbringen.
Deutschland ist im globalen und auch im europäischen Vergleich ein wirtschaftlich starkes und wohlhabendes Land. Ich bin stolz darauf, dass wir in vielen Bereichen, zum Beispiel in der Technologie, Vorreiter sind.
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Doch worauf ich wirklich nicht stolz bin, ist, dass wir auch in der Vermögensungleichheit ganz vorne mit dabei sind und dass wir innerhalb aller europäischen OECD-Länder die zweithöchste Ungleichheit bei Vermögen haben. Wie ungleich das Vermögen in Deutschland verteilt ist, zeigen die Daten des Sozio-oekonomischen Panels ganz objektiv. Das vermögendste 1 Prozent der Menschen besitzt etwa 35 Prozent des Gesamtvermögens und damit sogar etwas mehr als 90 Prozent der restlichen Menschen in unserem Land. Die Statistik fokussiert sich auf die circa 63 Millionen über 18‑Jährigen im Land. In absoluten Zahlen: 650 000 sehr vermögende Erwachsene in Deutschland haben mehr Vermögen als 55 Millionen erwachsene Menschen zusammen.
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Wie gesagt, sind da die Kinder und Jugendlichen noch nicht miteingerechnet. Diese starke Konzentration auf wenige ist unter den obersten 0,1 Prozent sogar noch höher.
Ungefähr vier von zehn Menschen in Deutschland haben sogar überhaupt keine Rücklagen, um dieser Krise und den krassen Preissteigerungen finanziell begegnen zu können. Hinter den abstrakten Zahlen verbergen sich ganz persönliche Schicksale. In meiner Heimatstadt Hamburg hat zum Beispiel fast jeder zweite Mieter bzw. jede zweite Mieterin gerade Angst vor dem Verlust ihrer Wohnung, weil die Preise so stark ansteigen und sie keine Rücklagen haben. Leider ist die Entwicklung, die sich in den letzten Jahren noch deutlich verstärkt hat, folgendermaßen zu beobachten: Zwischen 1993 und 2018 ist das Vermögen des Top‑1-Prozents um das Zwölffache gegenüber dem nahezu Nullanteil der unteren 50 Prozent angestiegen; da stagniert die Situation weitgehend. Das muss uns besorgen. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weiter auseinander; das ist leider Fakt. Das Versprechen unserer sozialen Marktwirtschaft ist aber Teilhabe am Wohlstand. In dieser Situation findet leider eine Erosion dieses Versprechens statt. Deswegen ist das so ein wichtiges Thema.
Wir reflektieren hier das Thema Gerechtigkeit. Was ist da das Ziel? Klar ist: 100 Prozent materielle Gleichheit können und wollen wir nicht erreichen. Aber Vermögen, einfacher gesagt: Geld, ist nun mal ein Mittel zur Erfüllung von Bedürfnissen und bedeutet im Endeffekt Freiheit und Teilhabemöglichkeiten. Das sollte fair verteilt sein. Dieses Vermögen kann Grundbedürfnisse wie eine warme Wohnung oder einen vollen Kühlschrank genauso stillen wie auch – das möchte ich in einem so wohlhabenden Land – den Wunsch nach einem schicken Kleidungsstück oder auch mal einem schönen Familienurlaub am Mittelmeer. Viele können sich das nicht mehr leisten, nicht einmal das Zelten an der Nordsee. Ist es also gerecht, dass ein großer Teil der Menschen in unserem Land diese und andere Freiheiten nicht wahrnehmen kann, während bei einem winzigen Teil der Reichtum im Überfluss vorhanden ist? Ich sehe das nicht so.
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Unabhängig von der Frage nach Gerechtigkeit führt eine ungleiche Vermögensverteilung zu konkreten negativen Konsequenzen, was auch Studien belegen: zu höherem Drogenkonsum, einer höheren Kriminalitätsrate, schlechterer Bildung und mehr psychischen Erkrankungen – um nur ein paar Aspekte aufzuzählen. Gerade im Hinblick auf unsere freiheitliche Demokratie, die vom aktiven Zusammenhalt lebt, ist die Ungleichheit ein großes Problem. Sie ist vermutlich mit ein wesentlicher Grund für sinkendes Vertrauen in unser System.
Wichtig ist in der gesamten Debatte eine Unterscheidung zwischen Vermögen und Einkommen. Viele verwechseln das. Anders als bei den eben genannten Vermögenszahlen ist das Bild bei den Einkommen etwas ausgeglichener. Allerdings driftet auch hier die Entwicklung im Laufe der Zeit auseinander und trägt leider auch da zur Vertrauenserosion bei. Was jetzt ganz spannend ist: Einkommen und Vermögen hängen zusammen. Denn wer viel hat, profitiert auch von Einkünften, nämlich von Einkommen aus Vermögen wie Immobilienbesitz oder Aktien- oder Betriebsvermögensbesitz. Deswegen mussten wir den Soli anpassen, weil die Einkünfte aus vermögensbezogenen Werten so stark über die Löhne hinausgestiegen waren. Der Handlungsdruck ist real.
Ich bin auch in diesem Zusammenhang offen für die Vorschläge der Wirtschaftsweisen. Vielen Dank an dieser Stelle für ihre harte Arbeit, für ihre Vorschläge, den Spitzensteuersatz zu erhöhen oder einen Energiesoli für besonders gut verdienende Menschen einzuführen, um für mehr Gerechtigkeit und Zielgenauigkeit bei den Entlastungsmaßnahmen zu sorgen!
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Aber Fakt ist: Es gibt in dieser Koalition für das Instrument einer Vermögensabgabe keine Übereinstimmung. Nichtsdestoweniger ist mir wichtig, dass wir auch in der Ampel die Debatte um die von mir gerade vorgetragenen Fakten zur Vermögensungleichheit und Einkommensentwicklung in unserem Land aus der Tabuecke in die Gestaltungsecke bringen. Die Gefahren für unsere Demokratie sind nämlich real, und ich möchte hier gemeinsam weiterkommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Beck. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linke beschäftigt uns mal wieder mit einem ihrer Kernanliegen: Wie kann man der Zivilgesellschaft zusätzliches Geld entziehen, um damit noch mehr Staat zu finanzieren? Knapp 900 Milliarden Euro an Steuern nimmt der Staat dieses Jahr ein, knapp 380 Milliarden Euro davon der Bund. Das sind über 6 Prozent mehr als im Vorjahr. Und nur eine Zwischenbemerkung: Das, was hier als Modell vorliegt, hat mit Adenauers Lastenausgleich nichts, aber auch gar nichts zu tun – null.
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Das sind gut 23 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und zusammen mit den Sozialabgaben mehr als 40 Prozent.
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Mit dieser Abgabenquote liegt Deutschland an der Spitze der großen OECD-Länder. Die Linke meint, der Staat müsse zusätzlich direkt auf Vermögenswerte, deren Erträge bereits der Einkommensteuer unterliegen, zugreifen.
Man hat immerhin erkannt, dass ein solcher Zugriff etwa auf die Substanz von Unternehmen dazu führen könnte, dass – Zitat – „Liquiditäts- und Finanzierungsprobleme beim Immobilien- oder Unternehmensvermögen“ entstehen könnten. Um die Vermögensabgabe dennoch zu leisten – Zitat –, „könnte man es den Abgabepflichtigen ermöglichen, ihre Abgabebelastung in dauerhafte Staatsbeteiligungen umzuwandeln“.
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Das ist das, was das Land braucht: mehr Staatsbeteiligung an Wirtschaftsunternehmen.
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Wir erinnern uns an die Nord/LB, wir erinnern uns an die WestLB, an die IKB, eine von der KfW beherrschte Tochter, die als erste in der Finanzkrise zusammenbrach – alle Institute vollgesogen mit Politikern in den Aufsichtsräten, die dort ihre Aufsichtspflichten so wahrgenommen haben, dass all die Unternehmen zusammengebrochen sind.
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Der Vermögenszugriff soll, so das Konzept, für 20 Jahre jährlich etwa 20 bis 25 Milliarden Euro Staatseinnahmen erbringen – ein Betrag etwa in der Höhe der EU-Umlage Deutschlands in den Jahren 2014 bis 2017, die sich in 2028 auf über 50 Milliarden Euro verdoppeln wird. Einen messbaren Nutzen werden unsere Bürger, welche diese Mittel aufbringen, nicht daraus ziehen und Europa auch nicht.
So verhält es sich auch mit den deutschen Leistungen für die sogenannte Entwicklungshilfe. Eine Evaluation zu diesem Kapitel des Kapitalexportes hat es in Deutschland noch nie gegeben. Ich könnte dazu sehr Vertieftes erzählen.
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2020 hat der Bund fast 30 Milliarden Euro in der Welt verteilt – mehr als die EU, deren Leistungen zu 25 Prozent zusätzlich von Deutschland finanziert werden. Somit zahlen wir, Deutschland, genauso viel wie die USA, die mehr als die vierfache Wirtschaftskraft haben.
Die jährlichen Kosten der ungesteuerten Migration – die jährlichen! – dürften gesamtstaatlich bei 50 Milliarden Euro liegen. Man könnte die auch vermeiden; alle könnte man vermeiden.
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Vier Minuten reichen leider nicht aus, diese Liste zu vervollständigen. Das würde sonst noch ein langer Nachmittag werden.
Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren, trägt für all dies niemand. Es gibt keine politische Verantwortung. Deutschland hat kein Einnahmeproblem, es hat jede Menge Ausgabeprobleme. Diese sind vor allem politischer Natur. Gute Staatsführung muss man lernen, und man braucht ein Amtsethos.
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Das ist das Gegenteil von allfälligem Stimmenkauf mit viel Geld, um die nächste Wahl zu gewinnen.
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Die AfD hat die Bundesregierung im März gefragt, wie sie es mit der Vermögensabgabe halte. Ich zitiere aus der Antwort:
Der von den Regierungsparteien getragene Koalitionsvertrag enthält weder eine Vereinbarung zur Einführung einer Vermögensabgabe noch zur Wiederbelebung der Vermögensteuer noch zur Einführung eines Lastenausgleichs. Etwaige Fragen diesbezüglich stellen damit hypothetische Erwägungen dar …
Solche haben wir heute hier angestellt. Hoffentlich bleibt es dabei.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Glücklicherweise kann ich mich darüber freuen, dass diese Ampel eine unmissverständliche Aussage im Sondierungspapier im Vorfeld des Koalitionsvertrags zu all diesen Themen getroffen hat. Ich möchte sie gerne zitieren: „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern … nicht erhöhen.“
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Das ist das richtige Signal, das wir senden. Das ist ein Signal finanzpolitischer Verlässlichkeit, das besonders in diesen Zeiten der Energiekrise, der wirtschaftlichen Gefahren, vor denen unser Land steht, extrem wichtig ist.
Wir müssen nämlich Investitionsanreize setzen. Das tun wir nicht, indem wir mit einer Vermögensteuer, einer Vermögensabgabe oder was auch immer für Rechtsunsicherheit sorgen und dadurch noch geringere Anreize setzen, hier zu investieren. Wir müssen mehr Anreize setzen, dass Menschen wieder Lust haben, hier zu arbeiten, hier zu investieren. Das ist der Auftrag, den wir gemeinsam haben. Deswegen müssen wir jedem Arbeitnehmer, aber genauso auch jedem Unternehmer und jedem Selbstständigen dankbar sein, der auch in diesen schwierigen Zeiten seine wirtschaftliche Zukunft in Deutschland sieht und hier investiert.
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Der Teufel steckt nämlich wie immer im Detail, wenn man über Vermögensabgabe und Vermögensteuer diskutiert, und dieses Detail umgehen Sie in Ihrem Antrag ja bewusst. Es wurde eben schon darauf hingewiesen: Ihre Anträge werden immer undetaillierter, weil Sie selbst merken, wo das eigentliche Problem bei diesen Substanzsteuern liegt, wie man es auch bei der Erbschaftsteuer und der Grundsteuer sieht: Die genaue Definition von „Vermögen“ ist schwierig.
Sie tun in Ihren Redebeiträgen immer so, als wäre Vermögen das, was irgendwo auf einem Girokonto liegt, als gäbe es Menschen in Deutschland, die auf ihrem Girokonto 25 Milliarden Euro oder was auch immer liegen haben. Aber dieses Geld, das steckt zu großen Teilen in Betriebsvermögen; das kann auch mal in Immobilien stecken. Wenn Sie sagen: „Multimillionen fängt ab 2 Millionen Euro an“, dann wären die Immobilieneigentümer von halb Berlin bald vermögensabgabepflichtig, weil sie früher in eine Gegend investiert haben, die jetzt hip geworden ist.
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So geht es nicht. Sie würden Menschen dazu zwingen, zu verkaufen. Sie würden Investitionen verringern. Es wäre genau der falsche Weg.
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Arbeiten Sie doch mit uns an etwas anderem. Arbeiten Sie doch mit uns gemeinsam daran, dass Menschen in diesem Land wieder Lust haben, Vermögen aufzubauen. Das ist nämlich das eigentliche Problem. Viel zu wenige Menschen in diesem Land entscheiden sich für Eigentum. Viel zu wenige Menschen in diesem Land investieren. Das ist das Problem, wenn die Anreize nicht stimmen. Erhöhen Sie doch mit uns gemeinsam den Sparerpauschbetrag, damit junge Menschen oder Aufsteiger oder Arbeiter, für die Sie mal stehen wollten, Lust haben, in Aktien zu investieren.
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Ich erinnere mal: Es gibt so etwas wie Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Die wollen wir attraktiver machen.
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– Ja, Sie rufen jetzt rein. Aber die Beteiligung von Arbeitern am Produktivkapital, das ist nicht meine Idee, das ist eine Idee von Karl Marx, den Sie so gerne vor sich her tragen.
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Marktwirtschaft macht’s möglich. Setzen Sie da doch einmal Anreize, dass auch die Arbeitnehmer mehr Anteile haben an den Vermögen, die sie erzeugen.
Insofern: Fördern Sie mit uns Eigentum! Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Leute Lust darauf haben. Und vielleicht lesen Sie ab und an auch mal bei Ihrem Idol Karl Marx nach; Sie haben eben ja so freudig Adenauer zitiert. Ich freue mich, wenn die Marktwirtschaft bereits das erledigt hat, worüber Karl Marx geschrieben hat. Wir sorgen dafür, dass Eigentum auch weiterhin gerade für mittlere und kleine Einkommen in Deutschland attraktiv wird. Wir wollen es gemeinsam machen. Ich freue mich darauf.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mordhorst. – Ich glaube, Ludwig Erhard wollte das auch, Beteiligung der Arbeiter am Produktivvermögen; aber egal.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Frauke Heiligenstadt, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben schwierige Zeiten in Deutschland. Die Inflation steigt exorbitant. Die Lebensmittel- und Energiepreise sind massiv angestiegen. Aus diesem Grund haben die Bundesregierung und dieser Bundestag bisher insgesamt drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Umfang einmalig sind. Sie umfassen insgesamt 300 Milliarden Euro. Damit entlasten wir die Menschen und die Unternehmen in unserem Land.
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Zum Beispiel – ich will eine kleine Auflistung machen – mit Direktzahlungen und der Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro,
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mit dem Kinderbonus in Höhe von 100 Euro pro Kind oder den Heizkostenzuschüssen in Höhe von 270 Euro für Wohngeldbezieher und 230 Euro für BAföG-Empfänger helfen wir Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land.
Mit Steuererleichterungen und Erhöhungen des Grundfreibetrages bei der Einkommensteuer vermindern wir die Steuerabgaben für steuerpflichtige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mit Rentenerhöhungen in einem lange nicht dagewesenen Ausmaß für dieses Jahr und voraussichtlich auch für das kommende Jahr unterstützten wir die Menschen, die lange Zeit unser Land aufgebaut haben und jetzt in ihrem wohlverdienten Ruhestand sind.
Mit neuen innovativen Verkehrstickets wie dem Deutschlandticket ermöglichen wir gemeinsam mit den Ländern eine völlig neue Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs in unserer Republik und erleichtern damit zugleich die Mobilität der Menschen im gesamten Land.
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Gerade erst heute Morgen bzw. heute Mittag haben wir mit dem Inflationsausgleichsgesetz das Kindergeld für unsere Familien im Land in einer bisher nie dagewesenen Höhe auf 250 Euro pro Kind nochmals erhöht. Für Studierende und Auszubildende in diesem Land haben wir die BAföG-Sätze angehoben und die Zugangsvoraussetzungen erleichtert.
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Wir haben heute ebenfalls mit der Einführung des Bürgergeldes eine umfangreichere Reform unserer Sozialgesetzgebung auf den Weg gebracht, die insbesondere einkommensschwächeren Menschen in unserem Land neue Perspektiven gibt. Gerade eben haben wir die Wohngelderhöhung besprochen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dass wir den Mindestlohn von 12 Euro eingeführt haben, das erwähne ich jetzt nur noch nebenbei.
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Ja, die Wirtschaftsweisen haben recht, wenn sie empfehlen, die Spitzensteuersätze anzuheben oder die Einführung eines Energiepreissolis zu prüfen. Deshalb müssen wir uns auch mit der solidarischen Finanzierung dieser staatlichen Ausgaben befassen.
Aber was macht Die Linke in diesem Haus? Sie holt einen Antrag aus 2021, als es noch keine Energiekrise gegeben hat, aus der Schublade, kürzt ihn deutlich ein,
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weil sie gemerkt hat, dass die konkreten Vorschläge, die sie vor anderthalb Jahren gemacht hat, gar nicht umzusetzen sind und schon gar nicht schnell wirksam werden könnten, und setzt dann diesen gekürzten Antrag wieder auf die Tagesordnung.
Ich kann das ja verstehen: Als Opposition macht man das. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit alten Anträgen verhält es sich leider nicht so wie mit altem Wein.
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Sie werden nicht besser, wenn sie älter werden und wenn man sie immer wieder hervorholt.
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Ja, auch die SPD will, dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Und ja, auch meine Partei hat beim Debattenkonvent letztes Wochenende einen entsprechenden Beschluss gefasst, der eine einmalige Vermögensabgabe befürwortet. Eine gerechte verfassungskonforme Besteuerung von Einkommen, Vermögen, Erbschaften sowie Gewinn- und Kapitalerträgen dient der Verteilungsgerechtigkeit und dient dem Zusammenhalt in unserem Land und in unserer Gesellschaft. Das haben wir auch nicht erst seit zwei Wochen deutlich gemacht, sondern das ist auch in unserem Programm enthalten. Das ist gar kein Geheimnis.
Allerdings ist Ihr Antrag, liebe Linke-Fraktion, lediglich ein populistischer Showantrag. Sie machen sich keine Mühe, auch nur in irgendeiner Form konkreter zu werden. Sie haben das ja alles weggestrichen. Bei der Frage nach den konkreten Umsetzungsmöglichkeiten der von Ihnen vorgeschlagenen Abgabe bleiben Sie schlicht und ergreifend blank.
Eins ist jedenfalls klar, liebe linke Opposition: So wird das nichts mit der Vermögensabgabe. Im Gegenteil, je häufiger Sie das wiederholen, umso stärker leisten Sie der wichtigen Frage einer solidarischen Finanzierung unserer großen Aufgaben in der Krise einen Bärendienst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Heiligenstadt. – Nunmehr erhält das Wort der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten wieder einmal einen Antrag der Linken über die Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe für Multimillionäre und Multimilliardäre.
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Dieser Antrag – das wurde erwähnt – wurde schon mehrfach gestellt, eigentlich jedes Jahr. Lieber Kollege Görke, das entspricht Ihrem Profil; insofern ist das absolut in Ordnung. Aber viel erschreckender ist, dass heute in diesem Parlament auch die Grünen und die SPD durch die Äußerungen von Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt, Saskia Esken, Tim Klüssendorf und Frauke Heiligenstadt bestätigt haben,
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dass auch die SPD und die Grünen diese Vermögensabgabe wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich kann nur sagen: Dieser Antrag der Linken, wenn er durch SPD und noch dazu von den Grünen umgesetzt würde, gefährdet den Wohlstand für alle in unserem Land.
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Dieser Antrag schafft Misstrauen in Arbeit
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und in notwendige Investitionen. Herzlich willkommen in der Welt des Neides, der Missgunst und der Umverteilung von Rot-Rot-Grün.
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Unabhängig von der Frage, dass das verfassungsrechtlich überhaupt nicht zulässig wäre – das wissen Sie auch –,
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darf ich den Wissenschaftlichen Beirat beim Finanzministerium zu diesem Thema zitieren. Der Wissenschaftliche Beirat hat gesagt:
Vertrauen darin, dass man über sein Erspartes und seine Investitionen morgen auch verfügen kann, ist eine Grundvoraussetzung für die Bereitschaft zu sparen und in einem Land zu investieren.
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Der Wissenschaftliche Beirat sagt weiter:
Deutschland steht mit dem digitalen Wandel, dem Klimawandel und dem demografischen Wandel derzeit vor gleich drei großen Herausforderungen, deren Bewältigung auch umfangreiche private Investitionen erfordert. Der Ruf als sicherer Investitionsstandort ist daher ein Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen.
So weit der Wissenschaftliche Beirat. Das sollten Sie ernst nehmen.
Apropos Bereitschaft zum Sparen: Wir haben in unserem Land die höchsten Steuereinnahmen.
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Und Sie schaffen es als Regierung nicht, mit den Finanzen solide umzugehen.
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Sie haben 10 000 neue Stellen in der Regierung geschaffen – 10 000 neue Stellen! Sie haben die meisten Staatssekretäre.
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Sie haben seit Bestehen der Republik die Bazooka und den Doppel-Wumms ausgepackt und ballern das Geld an alle raus.
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Ich nenne bloß das Beispiel mit der Energiepreispauschale.
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Wir haben gesagt: Geben Sie das Geld doch denjenigen, die bedürftig sind.
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Sie müssen das doch nicht jedem geben. Aber Sie ballern das Geld raus auf Teufel komm raus, ohne einzusparen und ohne es zielgerichtet einzusetzen.
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Sie tun das, was Sie hier vorschlagen, in der praktischen Umsetzung keineswegs. Und Sie schaffen Arbeitsanreize ab.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, leider haben Sie mitgestimmt: Bürgergeldeinführung, Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV.
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Im Bereich der Energie verteuern Sie die Energie künstlich,
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weil Sie die Abschaltung der Kernkraftwerke viel zu früh durchführen.
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Und Sie führen weitere bürokratische Maßnahmen ein, anstatt endlich ein Belastungsmoratorium für Handwerk, Industrie und Mittelstand vorzulegen.
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Wachstum geht anders. Sie müssen Anreize für Arbeit schaffen. Wir brauchen wieder ein Lohnabstandsgebot für diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen.
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Das müssen Sie tun. Das wäre die richtige Entlastung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und ich sage Ihnen: In unserer Republik gibt es solide Mittelständler, Hidden Champions, die eigenkapitalbasiert sind. Wenn Sie jetzt an das Eigenkapital dieser Firmen gehen – Sie haben ja vorgeschlagen, 50 Prozent des Vermögens heranzuziehen; denn Sie richten sich ja an dem damaligen Gesetz aus –, dann machen Sie die Arbeitsplätze in unserem Land kaputt. Mit Ihrer Politik schaffen Sie Arbeitslosigkeit, und Sie machen die Menschen ärmer.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen – das will ich zu dem Antrag noch ausführen –, wenn Sie einen Vergleich zum Lastenausgleichsgesetz von 1952 ziehen, dann kann ich nur sagen: Dieser Vergleich ist natürlich völlig falsch. Damals hat man denjenigen was gegeben, die durch Flucht und Vertreibung aus den damals ehemaligen Ostgebieten nach dem Krieg enteignet worden sind.
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Deswegen kann man den Vergleich heute überhaupt nicht machen.
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Das ist unseriös und findet von uns keinerlei Zustimmung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie übersehen bei Ihren Forderungen erstens, dass wir aktuell schon eine massive Vermögensabgabe haben. Diese nennt sich Inflation.
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Anstatt zu entlasten, und zwar zielgenau in diesem Jahr zu entlasten, haben wir heute früh zum Beispiel die kalte Progression erst ab 2023 beschlossen; das hätte man auch schon 2022 machen können.
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Zweitens. Sie müssen, glaube ich, mit der Wirtschaft und nicht gegen die Wirtschaft arbeiten. Sie schaden mit Ihrem Gedankenspiel der Substanz der deutschen Wirtschaft. Sie legen die Axt an den Mittelständler an, Sie legen die Axt an den Handwerker an, Sie legen die Axt an den Industriebetrieb in unserem Land an. Mit diesen politischen Meinungen sagen Sie deutlich, was Sie wollen. Das wird die Menschen in unserem Land nicht dazu animieren, hier zu investieren.
Deswegen: Gott sei Dank – letzter Satz –
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braucht es hier eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ich bin der FDP dankbar, dass sie zumindest bei dem Thema hier derzeit noch steht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mehr als ein Drittel des Vermögens in Deutschland ist beim reichsten 1 Prozent konzentriert. Je mehr Geld ein Mensch hat, desto schneller wächst auch sein Vermögen, und Erbschaften zementieren diese Ungleichheit. Gleichzeitig stecken wir allerdings gerade in der größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine galoppierende Inflation und dramatisch hohe Energiepreise bringen viele Menschen an den Rand ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.
Wir in der Koalition steuern dagegen. Wir haben milliardenschwere Entlastungspakete geschnürt, haben milliardenschwere Sondervermögen beschlossen. Frauke Heiligenstadt hat einige der entsprechenden Beschlüsse aufgeführt.
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Wir in der Koalition bringen die Menschen durch diese Krisenzeit, die Putin mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht hat.
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Trotzdem müssen wir uns der Frage stellen: Wer soll das alles bezahlen? Ich finde, da muss auch die Frage erlaubt sein – und ich blicke Richtung FDP; Herr Brehm muss auch ein bisschen aufpassen –: Warum nicht diejenigen, denen es nicht wehtut? Diese Frage muss erlaubt sein. Die Forderung, Multimillionäre und Milliardäre stärker zur Finanzierung der Krisenkosten heranzuziehen, hat ihre Berechtigung.
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Starke Schultern sollten mehr Lasten tragen als schwache, gerade in der größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg. Davon waren und davon sind wir Grüne überzeugt.
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Es geht jetzt darum, die Krise solidarisch zu bewältigen. Auch die Wirtschaftsweisen haben erst gestern in ihrem aktuellen Jahresgutachten Empfehlungen formuliert. Sie haben einen zeitlich befristet höheren Spitzensteuersatz, einen Energie-Soli als Instrumente benannt. Ideen gibt es viele, wie wir diese Krisenkosten gerecht und solidarisch finanzieren können. Was aber das geeignetste Instrument ist, müssen und werden wir in der Koalition noch ausführlicher diskutieren.
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Und: Ja, wir werden noch sehr dicke Bretter bohren müssen.
Gleichzeitig sind wir in der Koalition schon erste wichtige Schritte gegangen, damit sich starke Schultern solidarisch daran beteiligen, die Krise zu bewältigen. Wir schöpfen die Zufallsgewinne von Energieunternehmen ab. Damit stellen wir sicher, dass die Unternehmen in die Verantwortung genommen werden, statt Profit aus der Krise zu schlagen.
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Und wir werden den Kampf gegen Steuerflucht und Steuerhinterziehung konsequent führen, damit die zig Milliarden Euro Steuergelder da landen, wo sie hingehören: beim Fiskus, in den öffentlichen Haushalten, im Eigentum aller Bürgerinnen und Bürger.
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Ich finde es gut, dass wir heute über eine Vermögensabgabe als mögliches Instrument für die gerechte Finanzierung der Krisenkosten sprechen. Trotzdem werden wir den Antrag der Linken ablehnen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Koalition noch über das richtige Instrument diskutieren muss,
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sondern auch, weil Die Linke es mal wieder versäumt, über die Ursache der Energiekrise zu sprechen:
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
den völkerrechtswidrigen, aggressiven Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine, der diese Krise verursacht hat.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Nächster Redner ist der Kollege Klaus Stöber, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Als gelernter DDR-Bürger habe ich natürlich ein besonderes Verhältnis zur Linken. Ihre Vorgängerpartei, die SED, steht ja in erster Linie für Unterdrückung, Einschränkung persönlicher Freiheit, Staatssicherheit und natürlich auch Mauertote. Aber ich sehe das auch durchaus differenziert. Nicht alle 2 Millionen Mitglieder der SED waren Kommunisten, Mauerschützen und Stasimitarbeiter. Es gab damals wie heute auch vernünftige Mitglieder. Im kommunalen Bereich habe ich auch mit vielen ein sehr gutes Verhältnis. Auch wenn ich den Ausführungen von Herrn Görke im Finanzausschuss lausche, sehe ich sehr viel Übereinstimmung mit unseren Positionen.
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Man kommt zu dem Schluss, dass Die Linke nach 30 Jahren
({1})
– es tut mir leid, wenn er Ihnen leidtut, aber mir nicht – in der Bundesrepublik Deutschland angekommen ist.
Und dann kommen Sie, Herr Görke, mit solch einem Antrag zur Vermögensabgabe.
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Man könnte das ja positiv betrachten: Die Vermögensabgabe ist ja nur Geld. – Aber Sie würden ja gern die ganzen Reichen abschaffen. Vor zwei Jahren haben Sie auf einer Strategiekonferenz in Kassel verkündet: Man müsste die Reichen einfach erschießen. – Ja, das ist nachweisbar. Ihr damaliger Vorsitzender, Herr Riexinger – er ist heute nicht da –, hat dem nicht widersprochen, sondern lediglich festgestellt, es würde ja reichen, sie ins Arbeitslager zu stecken.
Da könnte man denken: Na ja, die Linken mit ihren gut 30 Leuten können so einen Antrag ja sowieso nicht durchbringen, der wird sowieso abgelehnt. – Aber zwei Umstände lassen mich doch aufhorchen:
Erstens. Es ist erstaunlich, dass solch ein Antrag, hingeschmiert auf eine Seite, hier 68 Minuten Redezeit bekommt.
({3})
Und zweitens. Nicht ganz unbedeutende Politiker der Ampel fordern ebenfalls eine Vermögensabgabe. Frau Göring-Eckardt, die Bundestagsvizepräsidentin, hat sogar ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die Rechtmäßigkeit der Vermögensabgabe zu prüfen. Auch wenn dieses Gutachten wahrscheinlich nicht das gewünschte Ergebnis lieferte, zeigt es doch die wirren Gedanken, die inzwischen in der Ampel fest verankert sind. Auch die SPD hat die Idee der Vermögensabgabe aufgegriffen und fordert sie ebenso wie die Linken für Multimillionäre und Milliardäre.
Was die links-grünen Weltverbesserer gern vergessen – das wurde schon erwähnt –: dass man ja schon Millionär ist, wenn man ein Haus in München oder ein Haus in Berlin oder einen mittelständischen Betrieb hat. Die das haben, sind auch schon Millionäre. Es gibt laut Statistik ungefähr 2 Millionen Millionäre in Deutschland. Wollen Sie die alle erschießen oder eine Vermögensabgabe für sie erheben?
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Wenn Sie sich eine Liste der sogenannten Reichen ansehen, dann werden Sie ganz viele Unternehmer dort finden. Ich sage Ihnen: Nicht alle von ihnen kommen dafür infrage, eine Vermögensabgabe zu bezahlen. Wann hört es denn auf? Man fängt bei den Millionären an, es geht weiter mit den Hausbesitzern, es geht weiter mit denjenigen, die ein Sparvermögen angesammelt haben. Alle die sollen also irgendwann mal zur Vermögensabgabe herangezogen werden.
Ich sage Ihnen eins: Den Bezug zur Ukraine lehne ich auch ab. Sie können von mir aus noch so viele Waffen in die Ukraine liefern, Sie können auch 500 Millionen Euro dorthin überweisen. Aber wir lehnen es ab, die Bürger in Deutschland mit einer Vermögensabgabe zu belasten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank Herr Kollege Stöber. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Frank Müller-Rosentritt, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Reden von Tim Klüssendorf und Stefan Schmidt von den Grünen kann ich den Handwerkern und Unternehmern in unserem Land nur zurufen: Was für ein Glück haben Sie, dass die FDP dieser Bundesregierung angehört, meine Damen und Herren.
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Wir reden auch nicht über den Weg dahin,
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sondern wir haben schon gemeinsam im Koalitionsvertrag Einigkeit darüber hergestellt, dass es dahin keinen Weg gibt. Deshalb erübrigen sich auch alle Diskussionen darüber, meine Damen und Herren.
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Ich möchte Ihnen mit Erlaubnis des Präsidenten eine Fotoaufnahme zeigen.
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Diese Fotoaufnahme zeigt die Altstadt von Görlitz im Jahre 1989.
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Auf diesem Bild können Sie live und mit ganz wenig Farbe sehen, wozu linke Realpolitik führt.
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Die SED als Vorgängerpartei der PDS und der heutigen Linken hat in 40 Jahren real existierendem Sozialismus auf dem Gebiet der damaligen DDR gezeigt, wozu es führt, wenn es Volkseigentum statt eines Volkes von Eigentümern gibt: nämlich ausschließlich zu Verfall. Überall gab es Verfall, wo man hinschaute.
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Nun zeige ich Ihnen ein Bild von Görlitz aus dem Jahr 2022.
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Gleiches Bild, live und mit extrem viel Farbe.
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Sie sehen, wohin Eigentum, Eigenverantwortung, steuerliche Anreize und das Vertrauen der Regierenden in die Fähigkeit des Einzelnen führen: nämlich zu Wohlstand, Wachstum und Vermögen.
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Eigentlich wäre an dieser Stelle alles, aber auch wirklich alles über die Fähigkeiten oder besser über die Unfähigkeiten der Linkspartei und deren Träumereien vom Sozialismus gesagt. Doch es gebieten einfach der Anstand und der Respekt vor der parlamentarischen Demokratie, auch auf Ihre Anträge einzugehen, auch wenn umgekehrt dieser Respekt vor dem Rechtsstaat und der parlamentarischen Demokratie bei einigen Ihrer Parteigenossen nicht oder, gelinde gesagt, nicht immer gleichermaßen ausgeprägt ist.
Wir Liberale glauben an die soziale Marktwirtschaft, an die Werte von Eigentum und Verantwortung und vertrauen stets auf die Fähigkeit des Einzelnen. Ein Wesensmerkmal von Marktwirtschaft ist nämlich die Tatsache, dass sich Leistung eben auch lohnen muss.
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Denn das liberale Aufstiegsversprechen – du kannst im Leben alles erreichen, egal wo du herkommst, egal welche Hautfarbe, welche Religion du hast – darf nicht durch marxistische Ideen der Linken gefährdet werden, indem ein über Jahre und Generationen durch Leistung geschaffener Wohlstand vom Staat einfach weggenommen wird, meine Damen und Herren.
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Ihre Ideen von Enteignung und einer Vermögensabgabe sind nichts anderes als das: Sie legen die Axt an das Aufstiegsversprechen und zerstören nicht nur den Leistungsgedanken brutal mit der Abrissbirne.
Mehr noch: Eine einmalige Vermögensabgabe würde – Herr Brehm hat es schon zitiert; mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich ebenfalls den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen – „erhebliche wirtschaftliche Schäden verursachen, weil sie das Vertrauen von Sparern und Investoren erschüttert.“ Und weiter: Deutschlands über Jahrzehnte erarbeiteter Ruf als sicherer Investitionsstandort werde durch eine einmalige Lastenabgabe unnötig schnell und dauerhaft zerstört. Gleichzeitig ist Ihre Annahme, Herr Görke, die heutige Situation in Deutschland mit der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen,
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wo Hunderte Städte in Schutt und Asche lagen, absurd. Es ist völlig absurd, was Sie hier von sich geben.
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Während Menschen in Ihrem System ständig Angst haben müssen, dass der Staat ihnen ihr hart erarbeitetes Vermögen wegnehmen will,
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vertrauen wir Liberale auf Eigentumsgarantien. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir ein Volk von Eigentümern und kein Volkseigentum. Auch der Unternehmer ist für uns eben nicht, wie Sie und einige andere fordern – ich war heute echt von einigen Reden von SPD und Grünen erschüttert –,
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eine Kuh, die man ununterbrochen melken kann, sondern für uns ist der Unternehmer das Pferd, das diesen ganzen Karren in diesem Land zieht, meine Damen und Herren.
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Schon heute fordern wir von Leistungsträgern und Vermögenden in unserer Gesellschaft überproportional viel im Vergleich zu allen anderen.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
10 Prozent der Vermögenden finanzieren 55 Prozent, und 25 Prozent der Vermögenden sind für 80 Prozent unserer 300 Milliarden Euro Einnahmen verantwortlich.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Diese Leistungsträger sollte man nicht weiter belasten, sondern man sollte ihnen Danke sagen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag entschieden ab.
Herr Kollege!
Es ist kein Platz für Steuererhöhungen!
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller-Rosentritt. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Melanie Wegling, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich für den Antrag, der eine in meinen Augen wirklich wichtige Diskussion über Gerechtigkeit und Ungleichheit anstößt. Kaum ein Land in Europa hat eine so hohe Ungleichheit bei privaten Vermögen wie Deutschland, und das ist heute, im dritten Krisenjahr in Folge, nicht anders. Viele Menschen fragen sich, wie sie über die Runden kommen.
Ich möchte aber noch eine andere Perspektive in die Debatte heute einbringen. Auch in den Kommunen, die eine zentrale Rolle bei der Daseinsvorsorge spielen, ist das Geld knapp. Zu den Löchern in den Kassen kommen die erwarteten hohen Energiepreise. Zu Hause mache ich Kommunalpolitik. In meiner Heimat Ginsheim-Gustavsburg im Kreis Groß-Gerau und überall anders fragen wir uns gerade: Heizen wir jetzt das Bürgerhaus oder doch lieber die Turnhalle? Stecken wir das Geld in das kommunale Krankenhaus oder in den dringend benötigten Kitaplatz? Es fehlt das Geld an allen Ecken und Enden.
Doch es gibt auch Menschen, die ihr Vermögen trotz aller Krisen vermehren. Das betrifft in erster Linie die Reichsten in diesem Land. Allein ein gesundes Gerechtigkeitsempfinden sagt uns doch, dass sie ihren Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwohls leisten müssen.
({0})
Wenn die aktuellen Krisen die Schere zwischen Arm und Reich noch größer werden lassen, dann ist es unsere Aufgabe, dem entgegenzuwirken. Für mich konkret bedeutet das: Wir können über eine Art Vermögensabgabe oder auch über eine fairere Erbschaftsteuer reden, die vor allem bei der Frage der Chancengleichheit entscheidend ist.
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Wir brauchen jedenfalls ein gerechteres Steuersystem. Das heißt auch: Wir müssen die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen in dieser breiten Debatte im Blick behalten.
Die Kommunen sind das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie tragen eine große Verantwortung für die Versorgung der Menschen: von der Geburtsklinik über Kitas, Schulen, Büchereien bis hin zu Rettungsdiensten und Altersheimen, von der Energieerzeugung über Sparkassen, ÖPNV bis hin zur Müllentsorgung. Kurz gefasst: In den Kommunen wird konkrete Daseinsvorsorge betrieben und ein Großteil der öffentlichen Investitionen getätigt. Doch die aktuellen Krisen lassen kaum finanziellen Spielraum. Vielmehr stehen einzelne Bereiche in Konkurrenz zueinander. Doch wer soll denn die Entscheidung treffen, was wichtiger ist: Turnhalle oder Schwimmbad? Radweg oder Bus? Kita oder Altersheim? Es geht hier schlichtweg um die Finanzierung unseres Gemeinwohls.
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In den letzten Jahren wurden verschiedene Mittel und Wege in Betracht gezogen, um mit den kommunalen Haushaltsproblemen umzugehen: Übernahme von Altschulden durch den Bund, Reform der Gemeinschaftsteuern oder des Finanzausgleichs, verschiedene länderspezifische Initiativen wie zum Beispiel die Hessenkasse. Ich denke, dass wir weiterhin diese Projekte vorantreiben und uns um eine nachhaltige und gerechte Lösung für unsere Kommunalfinanzen bemühen müssen.
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Ich denke aber auch, dass eine Vermögensabgabe ihren Beitrag zu mehr Gerechtigkeit in der gesamtstaatlichen Finanzpolitik leisten kann.
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Die grundsätzlichen Argumente für eine Vermögensabgabe liegen auf der Hand. Laut Oxfam konnten allein die reichsten zehn Personen in Deutschland ihre Vermögen während der Pandemie um 78 Prozent steigern: von 125 auf 223 Milliarden Euro. Gleichzeitig erreichte die Armutsquote mit 16 Prozent, also circa 13 Millionen Menschen, einen Höchststand. Ich persönlich finde, das ist nicht gerecht und nur schwer auszuhalten.
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Natürlich gibt es viele technische Fragen zur genauen Ausgestaltung, die vorab zu klären sind. Außerdem liegen schon zahlreiche Vorschläge aus unterschiedlichen Quellen vor, die aufgegriffen werden können. Die Wirtschaftsweisen sind nicht wirklich für ihre revolutionäre Art bekannt, empfehlen aber trotzdem eine zeitlich befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes bzw. einen Energie-Solizuschlag für Besserverdienende.
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Es gibt zahlreiche Argumente für eine gerechtere Ausrichtung unserer Steuerpolitik. Ich bin gerne bereit, über den Nutzen einer klug durchdachten Vermögensabgabe zu reden. Es geht letztlich auch darum, gut durch die Krise zu kommen. Dabei müssen wir die Kommunen unbedingt mitnehmen, weil diese in großem Maße für unsere Daseinsvorsorge verantwortlich sind und damit auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ohne sie geht es nicht!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja schon mehrfach über einen solchen Antrag der Linken debattiert. Ich habe mir das Vergnügen gegönnt, die Debatten dazu anzusehen und die Protokolle durchzulesen. Ich kann Ihnen sagen: Viel Neues ist eigentlich nicht gekommen. – Bemerkenswert fand ich aber heute schon, dass Die Linke Konrad Adenauer zitiert und die FDP Karl Marx.
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Das hatten wir bis jetzt in der Debatte noch nicht.
Aber ganz ernsthaft: Die Argumente liegen ja alle auf dem Tisch, und sie sind noch mal verstärkt worden durch das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, das im Mai letzten Jahres vorgelegt wurde; übrigens der Wissenschaftliche Beirat des jetzigen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der damals noch Bundesfinanzminister war. Dieser Beirat kommt zu dem klaren Ergebnis, dass eine Vermögensabgabe wirtschaftlich unsinnig und verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft wäre.
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Von daher wäre es nicht sinnvoll, dies weiter zu verfolgen. Vielmehr sollte man sich um andere Dinge kümmern, meine Damen und Herren.
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In diesem Gutachten des Beirates werden verschiedene Argumente aufgeführt. Ich finde ein Argument dabei sehr wichtig: Das ist Vertrauen. Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen in den Rechtsstaat, Vertrauen in Rechtssicherheit und Regelbindung des Staates. Wenn jetzt ad hoc auf Vermögen zugegriffen wird, es letztendlich enteignet wird, wird dieses Vertrauen verloren gehen, und der Investitionsstandort Deutschland wird darunter leiden. Darum sollten wir an solch eine Vermögensabgabe gar nicht erst denken, meine Damen und Herren.
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Diese Vermögensabgabe wäre der absolute Standortkiller. Deshalb sollte man davon absehen.
Ein wenig vermessen finde ich es auch – obwohl ich den Kollegen Görke ja dafür schätze, dass er Herrn Adenauer zitiert –, den Lastenausgleich aus den 50er-Jahren hinzuziehen.
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– Es war eben eine andere Krise. – Wir sollten uns noch mal bewusst machen, in welchem Zustand unser Land damals war: 8 Millionen Flüchtlinge in unserem Land, 40 Millionen Wohnungssuchende.
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Ich will ja nicht kleinreden, dass wir derzeit auch vor einer Herausforderung stehen. Aber die jetzige Situation mit der Krise nach dem Krieg zu vergleichen, halte ich fast für unanständig, meine Damen und Herren.
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Wir müssen auch wissen: Damals hat man es nicht, wie Sie es jetzt wollen, gemacht, um umzuverteilen, sondern man hat es auch deswegen gemacht, weil der Staat nicht mehr kreditwürdig war. Es gab keine Kapitalmärkte, die Deutschland damals auch nur einen Euro oder einen Pfennig gegeben hätten.
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Steuerlich war auch nichts mehr möglich: Die Einkommensteuer – das wird Die Linke freuen – hatte damals einen Spitzensteuersatz von 95 Prozent. Das fordert noch nicht mal Die Linke hier im Bundestag.
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Also, von daher haben wir jetzt eine völlig andere Situation. Unser Land ist nach wie vor höchst kreditwürdig. Wir sind an den Kapitalmärkten gerne gesehen; wir bekommen dort genug Geld.
Es ist auch schon darauf hingewiesen worden, dass der Staat auch hohe Einnahmen hat. Natürlich muss man das teilweise inflationsbereinigt sehen. 2012, also vor zehn Jahren, hatten Bund, Länder und Kommunen circa 600 Milliarden Euro Steuereinnahmen. In diesem Jahr – zehn Jahre später – werden wir fast 900 Milliarden Euro Steuereinnahmen haben; das sind 50 Prozent mehr. Nach der jüngst vorliegenden Steuerschätzung werden wir im Jahr 2028 1 Billion Euro Steuereinnahmen haben. Wir haben also genug Geld, man muss damit nur vernünftig umgehen. Da hat die Ampel noch einiges zu tun.
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Das Instrument einer einmaligen Vermögensabgabe ist kein Instrument – jedenfalls ist es im Grundgesetz nicht so angelegt –, um Umverteilung zu betreiben. Hier wird immer der Eindruck erweckt, die sogenannten breiten Schultern würden nichts beitragen. Ich will Ihnen nur mal sagen, dass 10 Prozent der Steuerpflichtigen 50 Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer gewährleisten – 50 Prozent sorgen für 94 Prozent des Aufkommens, also fast das komplette Volumen.
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Wir haben einen linear-progressiven Tarif; dazu stehen wir auch. Die breiten Schultern leisten also schon erheblich mehr. Das ist auch gut so, das soll auch so sein. Man muss aber vorsichtig sein, dass man das Rad nicht überdreht und zu einer Drosselung kommt, die grundgesetzlich sowieso nicht zulässig wäre.
Substanzsteuern haben grundsätzlich das Problem, dass sie unter Umständen auch aus der Substanz bezahlt werden müssen. Darum ist es richtig, Erträge aus der Substanz vernünftig zu besteuern, die Substanz selber aber nicht. Hier wird auch der Vermögensbegriff nicht richtig definiert. Hier wird immer der Eindruck erweckt, das sei alles Liquidität, das habe der Unternehmer oder wer auch immer auf dem Konto liegen. Bei dem von Ihnen erwähnten 1 Prozent der Multimillionäre
({11})
– und auch Milliardäre – sind über 60 Prozent des Vermögens in Betriebsvermögen gebunden. Das ist gebundenes Kapital, das steht denen gar nicht zur Verfügung.
Wenn Sie sich mal Familienunternehmen ansehen, die ja das Rückgrat unserer Wirtschaft darstellen, sehen Sie: Die haben meist Gesellschaftsverträge, die vorschreiben, dass sie gar nichts entnehmen oder frei veräußern können. All dies würden Sie kaputtmachen, wenn diese Betroffenen Geld aus der Reserve nehmen müssten, wenn sie denn nach diesen Krisen überhaupt noch Reserven haben. Sie würden vielen Familienunternehmen in unserem Land den Todesstoß versetzen, und deshalb kann man das auch gar nicht fordern und weiterverfolgen.
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Ich will jetzt gar nicht von den bürokratischen Kosten reden. Wir haben im Rahmen der Grundsteuer und im Rahmen der Erbschaftsteuerreform umfassend debattiert, wie man Vermögen ermittelt. Das hier ist, wie ich meine, auf Knopfdruck gemacht. Jetzt wollen Sie für eine einmalige Abgabe das gesamte Vermögen der Bundesrepublik Deutschland neu bewerten, sonst wüssten Sie ja nicht, ob Sie die Freibeträge erreichen oder ob sie erhöht werden müssen. Das ist ein Wahnsinn! Das ist ein Bürokratiemonster, das Sie da erzeugen würden. Ein weiterer Grund, Ihren Antrag abzulehnen.
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Dieser ganze Antrag ist letztendlich ein Griff in die parlamentarische Mottenkiste, mal wieder ein Feldversuch der Linken, sich an den Unternehmern und an den Menschen, die es zu Vermögen gebracht haben, zu bereichern. Es ist erstaunlich, welch große Einheit sich hier im linken Block zeigt. Von daher hoffen wir mal, dass wenigstens die FDP in diesem Punkt stehen bleibt und wir uns auf die FDP verlassen können.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Güntzler. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Emilia Fester, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!
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In der Woche, in der unsere Haushälter/-innen beraten, Geldmengen verschieben, darum ringen, wichtige Projekte zu finanzieren, und dabei immer wieder an Grenzen stoßen, da machen Sie hier wirklich einen sehr charmanten Vorschlag, liebe Linksfraktion. Ich selbst habe erst in diesem Sommer gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt etwas Ähnliches gefordert.
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Denn wir leben mitten in der multiplen Krise: Die Pandemie ist nicht vorbei, unsere weltweiten Klimaziele sind so gut wie nicht mehr einhaltbar, Krieg in Europa, Inflation, Armut. Es ist ein ständiger Kampf um eine lebenswerte Zukunft. Für sehr viele Menschen geht es längst auch um die Gegenwart.
Die Polykrise wirkt wie ein Brennglas. Sie verdeutlicht die soziale Schieflage in diesem Land und reißt letztendlich zuallererst die vulnerabelsten Gruppen in tiefe Sorgen. Umso wichtiger ist, dass die Bundesregierung handlungsfähig bleibt, entlasten kann und möglich macht, die Krisen nicht nur zu entschärfen, sondern die Probleme an ihrer Wurzel zu packen.
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Jeden Tag wird deutlicher, dass 16 Jahre CDU-Regierung zu einem enormen Investitionsstau geführt haben. Das zeigen etwa eklatante Finanzierungslücken im Gesundheitswesen oder die verpasste Energie- und Wärmewende. Das zeigt sich aber auch darin, dass unser Staat den Anforderungen des demografischen Wandels mit seinen Sozial- und Rentensystemen nicht mehr lange gerecht werden kann. Schon jetzt sind die Ungerechtigkeiten groß.
({3})
Um den ungeschriebenen Generationenvertrag einhalten zu können, um den nächsten Generationen noch eine lebenswerte Zukunft zu hinterlassen, müssen wir die nötigen Geldmittel finden.
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Unsere Regierung hat bewiesen, dass sie schwere Entscheidungen treffen kann und in Anbetracht der akuten Krisen in der Lage ist, das parteipolitische Klein-Klein zu verlassen. Die Einführung der Zufallsgewinnsteuer zum Beispiel war ein riesiger Erfolg, gerade aus grüner Perspektive. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns auch dafür einsetzen, die Schuldenbremse zu reformieren. Doch es muss auch klar sein, dass Schuldenaufnehmen gerade für laufende Kosten nicht die Dauerlösung sein kann.
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Das hier ist kein Entweder-oder. Wir müssen unsere Einnahmen erhöhen.
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Starke Schultern können mehr tragen. Wer mehr hat, der kann mehr geben und sollte sich auch stärker an den Krisenkosten beteiligen. Dafür stehen wir Grüne ein.
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Wir wollen Belastungen gerechter verteilen. Menschen mit sehr hohen Vermögen sollen etwas abgeben; so steht es in unserem aktuellen Parteitagsbeschluss.
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Klar ist aber auch, dass wir das selbstverständlich durch Verhandlungen gemeinsam mit unseren Koalitionspartnerinnen bzw. ‑partnern lösen müssen. Wir sind sehr gespannt auf ihre Vorschläge zur Problemanalyse.
Sehr geehrte Linksfraktion, dementsprechend können wir Ihrem heutigen Antrag nicht zustimmen. Man muss aber auch ehrlich sagen: Sie haben es sich hier mit einem knapp einseitigen Antrag wirklich sehr leicht gemacht. Ich plädiere für Ablehnung, aber für ernsthafte Erwägungen in puncto Umverteilung.
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Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Fester. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat das Wort der Kollege Armand Zorn, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin der Fraktion Die Linke dankbar für diesen Antrag,
({0})
auch wenn die Details fehlen. Aber ich finde es wichtig, dass wir uns angesichts der aktuellen Situation mit diesem Thema beschäftigen und miteinander diskutieren; denn das Thema ist mehr denn je wichtig. Wir haben es gerade mit multiplen Krisen zu tun,
({1})
mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und den damit verbundenen Folgen, mit der Energiekrise, mit der Klimakrise
({2})
und den vielen verschiedenen Herausforderungen, die uns als Gesellschaft gerade begegnen.
Da – ich hoffe, wir uns hier alle einig – wollen wir auf der einen Seite die Menschen und die Unternehmen so gut, wie es geht, jetzt unterstützen, aber auch zeitgleich alles dafür tun, um Innovationen, um die Transformation in Deutschland voranzutreiben. Das Ganze hat natürlich einen Preis. Dadurch entsteht ein ziemlich hoher Finanzierungsaufwand. In der Vergangenheit ist es uns als Ampelkoalition gelungen, drei Entlastungspakete auf den Weg zu bringen. Meine Vorrednerinnen und Vorredner sind bereits darauf eingegangen; darum will ich das nicht mehr tun.
Aber wenn wir diese Entlastungspakete selbstkritisch betrachten – und, liebe Union, das tun wir; wir als Ampelkoalition befassen uns auch kritisch mit den Beschlüssen, die wir bereits gefasst haben –, dann sehen wir zwei Kritikpunkte, die immer wiederholt werden, ob das vom IWF ist, ob das von den verschiedenen Ökonomen ist oder ob das teilweise von der Opposition ist. Kritikpunkt Nummer eins ist die Zielgenauigkeit. Kritikpunkt Nummer zwei ist die Frage, inwiefern die Fiskalpolitik in eine Richtung mit der Geldpolitik geht. Das sind zwei Kritikpunkte, die wir uns gefallen lassen müssen. Da finde ich, dass die Vorschläge, die der Sachverständigenrat vor ein paar Tagen unterbreitet hat, aber auch eine einmalige Vermögensabgabe mögliche Lösungen sein könnten, um auf diese zwei Kritikpunkte einzugehen. Das will ich näher erläutern.
({3})
Erstens. Wenn es darum geht, Entlastungspakete auf den Weg zu bringen, haben wir es besonders mit der Herausforderung zu tun, dass es an Instrumenten fehlt, dass es an Möglichkeiten der Direktzahlung fehlt. Deswegen kommt es dazu, dass am Ende auch der Superwohlhabende in den Genuss einer Energiepauschale kommt, genauso wie kleine und mittlere Einkommen, die darauf angewiesen sind. Liebe Union, wer sagt, dass wir bei der Zielgenauigkeit besser werden müssen, dass wir mit dem Gießkannenprinzip aufhören müssen, muss auch einverstanden sein, darüber zu reden, wie wir diejenigen stärker zur Verantwortung ziehen können, die mehr Geld im Portemonnaie haben, die mehr Vermögen haben. Das ist die Debatte, die ich gerne mit Ihnen führen würde.
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Die Antwort auf die Frage, wie es uns gelingen kann, Fiskalpolitik und Geldpolitik aufeinander abzustimmen, lautet ja nicht, dass wir eine restriktive Fiskalpolitik fahren müssen. Nein, ich glaube, wir müssen bei konsumtiven Ausgaben sehr zielgenau sein. Aber investive Ausgaben lohnen sich. Das ist auch das, was diese Ampelkoalition macht.
({5})
Das ist das, was die Bundesregierung macht.
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Wir haben dafür bereits Gelder zur Verfügung gestellt, hauptsächlich basierend auf Sondervermögen, basierend auf Kreditaufnahmen. Aber das alleine wird nicht genügen. Das ist ja nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, wie meine Vorredner/-innen erwähnt haben, sondern das ist auch eine Frage von solider Haushaltsführung. Wer sich für eine solide Finanzpolitik einsetzt, muss sich auch die Frage gefallen lassen: Wie kann es uns gelingen, dass wir insbesondere in diesen Zeiten das Steueraufkommen erhöhen?
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Ein kleiner Seitenhieb gegen Teile der FDP und insbesondere in Richtung der Union: Wer glaubt, dass solide Haushaltspolitik und solide Finanzpolitik nur gehen, wenn man die Steuern senkt, der braucht nur nach Großbritannien zu schauen, um zu sehen, was mit Kwasi Kwarteng, Finanzminister, und mit Liz Truss passiert ist.
({8})
Solche Pläne, die keinen Tag halten, bei denen es nur darum geht, Steuern zu senken, werden auch von den Finanzmärkten nicht akzeptiert. Deswegen: Das ist auch eine Frage von solider Finanzpolitik.
Ich freue mich, dass wir diesen Antrag haben. Wir werden ihn zwar ablehnen,
({9})
aber lassen Sie uns die Diskussion weiterführen.
Danke schön.
({10})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ein weiteres Mal müssen wir uns heute hier damit beschäftigen, dass die AfD mit Verfahrenstricks versucht hat, eine Person aus ihren Reihen in das wichtige Amt des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages zu hieven. Das machen wir nicht mit. Deshalb ist es gut, dass wir im Geschäftsordnungsausschuss eine Auslegungsentscheidung getroffen haben, die diesem Treiben einen juristischen Riegel vorschiebt. Für uns ist eins klar: Wir halten uns an die Geschäftsordnung. Wir akzeptieren die dortigen Regelungen. Das Amt des Vizepräsidenten ist zu wichtig, als dass wir es durch schräge Verfahrenstricks mit unqualifiziertem Personal besetzen würden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 2 unserer Geschäftsordnung wählt der Bundestag die Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen. Ausdrücklich ist hier basierend auf sehr guten Gründen von einer Wahl die Rede. Es steht eben keiner Fraktion ein Benennungsrecht zu. Das ist wichtig; denn, wie uns das Bundesverfassungsgericht ja auch vorgegeben hat: Die Aufgabe der Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten ist es, ein Scharnier zwischen der jeweiligen Fraktion und dem Präsidium zu bilden. Diese Aufgabe kann eben nur vorgenommen werden, wenn auch das entsprechende Vertrauen besteht. Wenn nun jemand ins Amt kommt, der möglicherweise nur ganz wenige Stimmen bekommen hat, was die Folge Ihrer Tricksereien wäre, dann ist dieses Vertrauensverhältnis eben nicht gegeben. Auch daran können Sie sehen, dass unsere Auslegungsentscheidung richtig und notwendig war.
({1})
Ihr Vorschlag ist auch ein ganz klarer Verstoß gegen das freie Mandat. Wir wollen hier entscheiden, wer in dieses wichtige Amt des Vizepräsidenten, der Vizepräsidentin kommt. Das wollen Sie nicht; die Geschäftsordnung sieht das aber ausdrücklich vor. Auch deswegen ist es richtig, wie wir hier entschieden haben.
Gehen wir es einmal durch, was Sie im Detail wollen. Sie haben in der letzten Sitzung, in der wir dieses Thema behandelt haben, sogar gleich drei Kandidaten ins Rennen geschickt.
({2})
Offensichtlich vertrauen Sie den Personen, die Sie benannt haben, nicht. Sie wollten drei Personen ins Rennen schicken. Nehmen wir an, wir hätten das zugelassen und eine Person hätte 10 Stimmen bekommen, die nächste 20 und die letzte Person 30 Stimmen: Dann wäre jemand mit 30 Stimmen in das wichtige Amt des Vizepräsidenten dieses Hauses gekommen. Das kann es ja wohl offensichtlich nicht sein, und deswegen ist es gut, dass wir diese Auslegungsentscheidung so getroffen haben.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sehen an diesem Vorgang auch einmal mehr, dass es der AfD nicht um konkrete Politik geht. Ihnen geht es nicht darum, das Leben der Menschen zu verbessern, sondern Ihnen geht es vor allen Dingen darum, wie Sie Ihre Leute in Posten hier im Bundestag hieven können. Das machen wir so aber nicht mit. Wir halten uns an die Regelungen der Geschäftsordnung. Die Tricks, die Sie anwenden, werden hier ein Ende haben, liebe Geno- – meine sehr geehrten Damen und Herren.
({4})
– Nein, zu Ihnen bestimmt nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Johannes Fechner. Ich gehe davon aus, dass solche Sachen bei der SPD gar nicht vorkommen.
({0})
– Gut. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Genosse Fechner! Der Bundestagsvizepräsident und die Alternative für Deutschland – eine Never-ending Story hier im Parlament.
({0})
Und das ist auch gut so;
({1})
denn damit gerät nicht in Vergessenheit, wie Sie von den Altparteien seit über fünf Jahren das Gesetz, Ihr selbstgemachtes Geschäftsordnungsrecht, vorsätzlich brechen und Ihre eigenen Beschlüsse missachten.
({2})
Seit über fünf Jahren weigern sich hier fast alle von den Altparteien wie bockige Kinder,
({3})
der Alternative einen Bundestagsvizepräsidenten zu gewähren. Und das ist Rechtsbruch pur.
({4})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mal andere sprechen. Ich zitiere:
Bei der Frage, wie viele Vizepräsidenten es im Bundestag geben soll, besteht eigentlich Konsens …,
der Ausdruck in der Geschäftsordnung findet.
Dort ist nämlich geregelt, dass jede Fraktion … einen Vizepräsidenten stellt. … Der Gedanke der Repräsentation soll die Zahl der Vizepräsidenten bestimmen.
Das sagte Norbert Röttgen von der CDU am 18. Oktober 2005. Interessant auch: Am selben Tag, am 18. Oktober 2005, da redete auch Olaf Scholz, und er stimmte diesen Aussagen von Röttgen – ich zitiere – „vollinhaltlich“ zu – wobei ich davon ausgehe, dass Olaf Scholz das inzwischen vergessen hat.
({5})
Bereits zuvor gab es darüber Debatten. Elf Jahre vorher, am 10. November 1994 – auch in einer Debatte zu diesem Thema –, äußerte sich Jürgen Rüttgers, CDU, danach Ministerpräsident von NRW, genauso eindeutig. Damals ging es um die Grünen, die einen Bundestagsvizepräsidenten wollten. Die Grünen wurden damals von der CDU/CSU als – Zitat – eine „Partei der Machtopportunisten“ und als „weltfremde Ökosozialisten“ bezeichnet.
({6})
Die CSU war 1994 schon wesentlich weiter als Herr Söder heute.
({7})
Und trotzdem haben die Grünen einen Bundestagsvizepräsidenten erhalten. Man sieht: Jahrzehntelange parlamentarische Praxis treten Sie seit fünf Jahren in die Tonne.
Meine Damen und Herren, 5 Millionen Bürger haben die Alternative für Deutschland bei der letzten Bundestagswahl gewählt, weil sie eine Partei wollten und bekommen haben, die wie keine andere in Deutschland und in diesem Parlament für Freiheit, Demokratie und Grundrechte steht und kämpft.
({8})
Diese 5 Millionen Wähler grenzen Sie seit fünf Jahren aus dem Präsidium des Deutschen Bundestages aus. Anlass für die Debatte heute ist die völlig absurde Auslegung der Geschäftsordnung durch den Geschäftsordnungsausschuss, völlig im Gegensatz zu dem, was in der Geschäftsordnung geregelt ist.
Genosse Fechner, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir mehrere Wahlvorschläge gemacht haben, antworte ich Ihnen: Das nennt man Demokratie. Demokratie lebt von Auswahl. Wir wollten mehrere Wahlvorschläge machen. Sie haben alles in Bausch und Bogen abgelehnt.
({9})
Meine Damen und Herren, interessant ist auch: In der Debatte am 10. November 1994 war Peter Struck – nachzulesen auf Seite 10 des Protokolls – unserer Meinung. Er sagte: Genau so, wie die AfD das sieht – –
({10})
– Das hat er nicht gesagt. Aber er würde heute sagen, dass er das genau so sieht wie die AfD; genau so hat Peter Struck das 1994 gesehen.
({11})
Und auch der gestern verstorbene Werner Schulz, dessen wir heute Morgen gedacht haben, hat das 1994 unterstützt. Also, meine Damen und Herren: Wenn Sie uns nicht glauben wollen, handeln Sie wenigstens so, wie Peter Struck und Werner Schulz es gemacht hätten!
({12})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Stimmen Sie dem zu, was wir wollen! Begehen Sie keine weiteren Fehler! Sie haben gleich die Chance dazu. Der Wahlgang wird eröffnet.
Herr Kollege.
Gehen Sie raus, und wählen Sie unseren Kandidaten von der AfD,
({0})
und wir sind zufrieden mit diesem Parlament, und Sie brechen nicht weiter Geschäftsordnungsrecht.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Brandner. – Ich darf vielleicht nur noch kurz darauf hinweisen, dass Herr oder Herrin über die Geschäftsordnung der Deutsche Bundestag in seiner Gänze ist. Nur darauf kommt es im Zweifel an.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist nach meinem Dafürhalten richtig: Die Stellvertreter sollen und müssen – da hat der Kollege Dr. Fechner absolut richtig gesprochen – das Vertrauen einer breiten Mehrheit des Hauses haben und auch von einer breiten Mehrheit des Hauses gewählt werden.
Worüber wir hier aber nicht debattieren, ist die Frage, ob einer der AfD-Kandidaten eine Mehrheit findet oder nicht. Wir debattieren hier – das ist was für Feinschmecker – darüber, ob Sie, wenn in einem ersten Wahlgang ein Kandidat von Ihnen nicht gewählt wird, einen weiteren Kandidaten neben diesen ersten Kandidaten in den zweiten Wahlgang schicken dürfen.
({0})
Das ist in Ihrer Rede – ehrlicherweise muss man das sagen – aber nur am Rande erwähnt worden. Dazu gibt es eine relativ klare Auslegung, die unser 1. Ausschuss nochmals getroffen und bestätigt hat: Nein, das geht eben nicht. Sie können einen neuen Kandidaten aufstellen, aber keinen weiteren. Und darum dreht sich diese Debatte heute.
({1})
Ich weiß, es ist müßig und auch juristisch immer nur eine Fußnote. Aber darum geht es, und nicht um die Frage: Wird hier sozusagen das Recht der AfD auf einen Stellvertreter mit Füßen getreten?
({2})
– Darum geht es heute ausdrücklich nicht.
Wir haben im Ausschuss nochmals sehr eindeutig festgehalten, dass konkurrierende, bedingte oder eben parallele Vorschläge im zweiten Wahlgang nicht zulässig sind. Warum?
({3})
– Nein, nicht weil wir das nicht wollen, Herr Brandner – das sind doch Märchen, die Sie hier erzählen –,
({4})
sondern weil sie die freie Entscheidung der Kolleginnen und Kollegen bei der Wahl zum Stellvertreter einschränken würden
({5})
und weil dadurch die Wahl eines Stellvertreters mit wenigen Stimmen, lieber Herr Fechner, erzwungen werden könnte. Das ist nicht Sinn einer Wahl – weder wenn draußen jemand ins Wahllokal geht, noch wenn wir hier an unsere Wahlurnen treten und wählen.
({6})
– Nein. – Und deswegen haben wir in unserem Ausschuss diese richtige und, wie ich finde, sehr klare Auslegungsentscheidung getroffen.
({7})
Ich hoffe sehr, dass uns das in zukünftigen Wahlgängen zu einem rechtssicheren Verfahren verhilft. Dafür ist dieser Ausschuss nämlich auch zuständig. Und ich hoffe sehr, dass wir damit gewährleisten, dass das Präsidium seinen Aufgaben mit einem wohlgemerkt breiten Rückhalt in diesem Hohen Haus nachkommen kann.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ludwig. – Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jan Korte, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie versuchen hier ja im Wochentakt, die Wahl eines Vizepräsidenten von Ihnen zu erzwingen.
({0})
Und das funktioniert nicht. Sie waren mit Ihrem Anliegen ja bereits in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht. Ich möchte nicht das „Neue Deutschland“, sondern die „FAZ“ zitieren,
({1})
in der zu Ihren Versuchen Folgendes geschrieben wurde:
Zwar gewährt
die
Geschäftsordnung allen Fraktionen das Recht, im Präsidium vertreten zu sein. Wie das Verfassungsgericht nun aber klarstellte, steht dieses Recht aber unter einem gewichtigen Vorbehalt: dem der Wahl.
Das haben Sie offenbar nicht mitbekommen; denn Sie sind hier angetreten – das ist Ihr gutes Recht – und sind halt nicht gewählt worden. Darüber würde ich einfach mal nachdenken. Das ist so bei einer Wahl.
({2})
Ich als Linker kann das Gefühl nachvollziehen, nicht gewählt zu werden.
({3})
Wir haben da im Laufe unserer Geschichte gewisse Erfahrungen gesammelt. Aber so ist das. Und ich kann Ihnen, Herr Brandner, ganz deutlich sagen: Ganz sicher wird meine Fraktion niemals irgendeinen von Ihnen braunen Vögeln wählen. Das ist ganz sicher; da können Sie ganz sicher sein.
({4})
Deswegen haben wir hier nicht nur eine Geschäftsordnungsfrage, sondern auch eine politische Frage zu diskutieren und zu klären. Ich sage Ihnen: Zum Glück gibt es das Wahlgeheimnis; aber wenn ich sehe, wie Sie etwa über die ehemalige Vizepräsidentin Claudia Roth oder über die aktuelle Vizepräsidentin Petra Pau reden und mit ihnen hier umgehen, wäre ja mein Tipp, dass Sie sie tendenziell eher nicht geschlossen gewählt haben.
({5})
Ja, das ist Ihr gutes Recht. Es ist falsch; aber Sie werden es wohl nicht getan haben.
({6})
Genauso ist es auch das Recht aller anderen, von Ihnen keinen zu wählen.
Ich würde, wenn man immer wieder antritt und nicht gewählt wird – ich kenne das aus der Geschichte –, vielleicht darüber nachdenken, ob man mal etwas ändert. Man könnte überlegen: Hey, vielleicht liegt das ja an mir; vielleicht sind ja nicht alle anderen bekloppt, sondern ich selber. – Das könnte ja wirklich sein.
({7})
Dann will ich Ihnen noch etwas sagen: Man darf sich nicht wundern, dass es, wenn man hier den ganzen Tag Nazizeug erzählt, dafür dann erfreulicherweise im Bundestag keine Mehrheit gibt,
({8})
und das wird auch so bleiben.
({9})
Das ist die Sachlage, mit der wir es hier zu tun haben. Wir werden auf keinen Fall mitmachen. Sie haben die gleichen Rechte wie alle anderen;
({10})
aber das, was Sie wollen, ist eine Sonderregelung für sich,
({11})
für Ihren braunen Klamauk, und die gibt es halt nicht.
Alles Gute.
({12})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen aus vielen Debatten und Entscheidungen dieses Bundestages: Die Unionsfraktion ist grundsätzlich gewillt, in den Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik und auch in den großen Fragen der Außenwirtschaftspolitik diese Bundesregierung zu unterstützen.
({0})
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es eine erkennbar kohärente Politik der Bundesregierung gibt.
({1})
Nachdem mittlerweile das Verhältnis zu Frankreich auf einem Tiefststand ist, nachdem mittlerweile viele Bündnispartner in der NATO, insbesondere im Osten, Zweifel an der Verlässlichkeit Deutschlands haben, stellen wir diese Kohärenz, diese Klarheit in der Politik mittlerweile auch im Verhältnis zur Volksrepublik China nicht mehr fest.
Dabei ist die China-Politik von herausragender Bedeutung. Es ist unstreitig, dass es eine der größten Herausforderungen für die deutsche und die europäische Politik ist, einem Staat gerecht zu werden, der einerseits unser größter Handelspartner ist, der aber andererseits ganz eindeutig das Ziel formuliert hat – das ist jüngst auf dem Parteikongress noch einmal geschehen –, die stärkste politische, wirtschaftliche und bestimmende Nation auf dieser Erde zu werden.
Zu diesem Zweck sind dem Regime in China alle Mittel heilig: millionenfache Menschenrechtsverletzungen durch Unterdrückung der Uiguren, der Bruch internationalen Rechts – wie wir gesehen haben, wird die Vereinbarung mit dem Vereinigten Königreich betreffend Hongkong nicht eingehalten, künstliche Inseln werden geschaffen –, die De-facto-Errichtung eines diktatorischen Regimes, das am Ende nur noch von einer Person abhängig ist, nachdem Präsident Xi sich jetzt dort hat erneut wählen lassen – das erste Mal seit Mao Tse-tung eine so starke Stellung.
Und was passiert in dieser Situation? Was erleben wir in dieser Situation? Eine Zerstrittenheit der Bundesregierung, eine Zerstrittenheit der Koalitionsfraktionen und einen Bundeskanzler, dem es bei seiner Reise nach Peking schlicht und ergreifend darum ging, sagen zu können: Ich bin der Erste, der diesem Diktator nach diesem Kongress die Hand geschüttelt hat. – Das ist keine China-Politik, die den Ansprüchen Deutschlands an eine europäisch und transatlantisch abgestimmte China-Politik gerecht wird, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Es ist überhaupt nicht erkennbar, was Ihre gemeinsame Position ist. Wir haben doch alle gemeinsam in der Europäischen Union mittlerweile eine gemeinsame Position entwickelt, indem wir festgestellt haben: In Fragen des Klimaschutzes und auch bei der Bekämpfung der Covid-Krise wollen wir versuchen, Sachen gemeinsam mit China zu regeln. – Ja, das ist notwendig, und das ist auch unvermeidbar.
China ist in manchen Bereichen Wettbewerber; aber China ist auch systemischer Rivale. China akzeptiert gemeinsam mit Russland überhaupt nicht die internationale Ordnung, sondern will sie zerstören, greift sie an und will eine eigene sinozentrische Ordnung aufstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dazu erwarten wir eine Politik der Bundesregierung, die dem klar entgegentritt und unser internationales Regelwerk verteidigt.
({3})
Was erleben wir? Wir erleben einen Bundeskanzler, der dort hinreist und schlicht bekannt gibt, dass China auch gegen einen Atomkrieg sei. Das ist längst bekannt. Wir erleben eine Bundesaußenministerin, die den Zeitpunkt und wohl auch die Reise an sich aus dem Ausland kritisiert. Es ist eigentlich gute Sitte in Deutschland, dass noch nicht einmal die Opposition das macht. Sie erlauben sich derartige Zänkereien innerhalb der Regierung.
({4})
Es ist im Grunde zum außenpolitischen Fremdschämen, was Sie hier abliefern. Das ist keine kohärente Politik.
({5})
Es gab keinen Versuch des Bundeskanzlers bei seinem Besuch in Peking, China einmal darauf aufmerksam zu machen, was unsere gemeinsame europäische Position ist: dass nämlich Präsident Xi aufgefordert ist, Putin zu stoppen. Er hätte das klare Signal überbringen müssen, dass Peking diesen Krieg nicht weiter dulden oder auch noch fördern darf. Das ist unterlassen worden. Das ist ein schwerer außenpolitischer Fehler, den der Bundeskanzler gemacht hat.
({6})
Dass das ohne den französischen Staatspräsidenten, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– der angeboten hatte, gemeinsam zu reisen, geschehen ist, zeigt einmal mehr: Der Bundeskanzler ist offensichtlich überfordert, eine europäisch abgestimmte Politik zu machen, –
Herr Dr. Wadephul.
– die deutsch-französische Achse am Leben zu erhalten – sie ist eine Lebensader der Europäischen Union –
Herr Kollege Dr. Wadephul, bitte nur noch einen Satz.
– und dafür zu sorgen, dass wir diesem Regime geschlossen entgegentreten.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wissen wir, wie problematisch wirtschaftliche Abhängigkeiten für uns sind. In Bezug auf Energie sehen wir das jetzt natürlich ganz deutlich. Aber auch während der Coronapandemie ist uns das deutlich geworden in Bezug auf Medizinisches, auf Gesundheitsausstattung, die wir aus China importieren mussten. Auch dort haben wir Abhängigkeiten erlebt.
Es kann also kein Weiter-so geben. Wir lernen aus dieser internationalen Situation, dass etwas verändert werden muss, dass wir Abhängigkeiten reduzieren müssen. Es kann kein Weiter-so geben, auch weil das China, das wir jetzt unter Staatspräsident Xi erleben, ein ganz anderes ist als das China von vor 10 oder 15 Jahren. Es hat sich innen- und außenpolitisch stark verändert.
Wir müssen unsere Liefer- und Versorgungsketten diversifizieren. Wir müssen neue Handelsbeziehungen aufbauen, auch neue Partnerschaften suchen. Wir sind dabei, das im Rahmen einer China-Strategie zu formulieren. Das eint uns: dass wir einen neuen Anspruch an unsere Beziehungen zu China formulieren.
In dieser Phase reiste der Bundeskanzler nach China, um auch diese Position zu vertreten. Und zum wiederholten Mal – heute in der Aktuellen Stunde sowie in den letzten Tagen öffentlich – kritisiert ihn die Union dafür.
({0})
Warum eigentlich? Was ist an dieser Reise falsch gewesen? Der Zeitpunkt wird kritisiert: dass der Bundeskanzler jetzt nach China gefahren ist. Was wäre eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, in zwei Wochen oder in zwei Monaten anders? Welche andere Situation hätten wir außenpolitisch? Welche andere Situation hätte es in China gegeben?
({1})
So richtig wie eine Reise in zwei Monaten gewesen wäre, so richtig war es jetzt, dass der Bundeskanzler dort hingefahren ist und unsere Positionen deutlich gemacht hat.
({2})
Und er hat diese zum Beispiel im Bereich der Menschenrechtsfragen viel deutlicher gemacht, als das in den letzten 16 Jahren durch Bundeskanzlerin Merkel passiert ist.
({3})
– Ja, natürlich.
({4})
Es ist in diversen Gesprächen deutlich formuliert worden, welche Anforderungen wir haben, wo Menschenrechtsverletzungen vorliegen, was wir von der chinesischen Seite erwarten. Und ich sage hier auch ganz deutlich: Wir brauchen an dieser Stelle von der Union keinen Nachhilfeunterricht. Das Lieferkettengesetz, das genau das Thema der Menschenrechte in den Blick nimmt, ist gegen die Blockade der Union durchgesetzt worden.
({5})
Es wird Anfang nächsten Jahres umgesetzt und formuliert im Übrigen nicht nur in Richtung China, sondern weltweit Anforderungen beim Thema Menschenrechte.
({6})
Es gibt noch einen Unterschied. Bevor Bundeskanzler Scholz nach China gefahren ist, hat er andere wichtige Auslandsreisen unternommen.
({7})
Anders als Frau Merkel in den vergangenen 16 Jahren, die ihre ersten großen Asien-Reisen immer nach China gemacht hat, ist Olaf Scholz als Allererstes nach Japan gefahren. Es war ein wichtiges Signal, das nicht nur von Japan und China, sondern von vielen Partnern – möglichen neuen Partnern im asiatischen Raum – sehr sensibel aufgenommen wurde; denn der Bundeskanzler macht hier deutlich: Wir sehen andere Ansprechpartner. Wir wollen neue Partnerschaften eingehen oder alte, bestehende Partnerschaften vertiefen und ausbauen, eben jenseits von China.
({8})
Ein weiterer Punkt. Durch diesen Besuch von Olaf Scholz ist es möglich geworden, dass sich der chinesische Staatschef das erste Mal in aller Klarheit von Russland abgegrenzt hat
({9})
und in aller Klarheit deutlich gemacht hat: Auch nur das geringste Spiel mit der Möglichkeit eines atomaren Konflikts wird von China verurteilt und isoliert Russland immer mehr. Und: Eine weitere Eskalation in diesem Konflikt würde China eindeutig verurteilen.
Meine Damen und Herren, ja, das ist eine neue Qualität. Sie sagen: Das ist alles altbekannt. – Dass wir aber diese Äußerungen des chinesischen Staatschefs so in aller Klarheit erleben konnten, ist auch dem Umstand geschuldet, dass Olaf Scholz unsere und die europäische Position in China deutlich vertreten hat und es so zu dieser gemeinsamen Äußerung mit China gekommen ist.
Meine Damen und Herren, ja, wir werden unser Verhältnis zu China auf eine neue Basis stellen. Auch eine Strategie für die kritische Infrastruktur
({10})
– was können wir überhaupt noch an Handelsbeziehungen eingehen und was nicht? – wird jetzt erstmalig formuliert.
({11})
Kriterien für die kritische Infrastruktur und für weitere Handels- und Geschäftsbeziehungen werden jetzt erstmalig festgehalten. Wir werden eine neutrale Basis haben, um zu sehen, auf welcher Grundlage wir mit dem Partner China weiter Handel betreiben und Geschäftsbeziehungen eingehen können.
Meine Damen und Herren, China wird kein einfacher Partner bleiben.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Aber es wird ein wichtiger Partner sein, auch um weitere wichtige globale Fragen anzugehen – wenn wir an die Klimakrise denken, an Hunger, an Not, an Flucht, an atomares Wettrüsten.
Herr Kollege, bitte.
China wird ein wichtiger Gesprächspartner bleiben, gegenüber dem wir unsere Anforderungen an diese Partnerschaft –
Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!
– auf Grundlage unserer China-Strategie mit Selbstbewusstsein formulieren.
Vielen Dank.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU hat jetzt plötzlich den Begriff „Souveränität“ entdeckt und fühlt die deutsche Souveränität durch China bedroht. Ganz ehrlich, ich frage mich: Was ist der Anlass dazu? Wir als Deutschland haben seit 50 Jahren beste Beziehungen zu China. Es war der deutsche Außenminister Walter Scheel, der als Erster nach China gereist ist, noch ein Jahr vor Kissinger, und diplomatische Beziehungen mit China aufgenommen hat. Davon haben wir profitiert. Daran hat sich nichts geändert, außer dass die USA jetzt China zu ihrem Feind erkoren haben. Und Sie sind jetzt im Schlepptau der Amerikaner und möchten China hier als eine Bedrohung aufbauen.
Herr Wadephul, Sie haben sogar dazwischengeschrien: Hamburg, kritische Infrastruktur! – Wie lächerlich ist dieses Argument! Da will China nicht mal 25 Prozent an einem Terminal – nicht mal an einem Hafen, sondern an einem Terminal – kaufen, und Sie bauschen das zu einer Bedrohung der Souveränität Deutschlands auf. Ich bitte Sie! COSCO hat Beteiligungen an zehn solcher Häfen in Europa: 100 Prozent in Griechenland, in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien über 51 Prozent. Ist die Souveränität dieser Länder irgendwie bedroht? Natürlich nicht! Das ein völliger Mumpitz, was Sie hier erzählt haben.
({0})
Wir sind eine Exportnation. Wir produzieren Güter, die wir in die ganze Welt exportieren. Und wir brauchen Waren, die wir importieren müssen. China ist unser größter Handelspartner; das wissen Sie genauso gut wie wir.
Unsere deutschen Firmen machen übrigens dasselbe: Hapag-Lloyd hat zehn Beteiligungen an Häfen in der ganzen Welt, Fraport an zehn Flughäfen in der ganzen Welt; am Flughafen in Schanghai sogar mit 50 Prozent. Wir brauchen den Handel, wir brauchen den Warenaustausch, und das, was wir im Ausland für uns in Anspruch nehmen, müssen wir auch unseren Partnern hier in Deutschland ermöglichen.
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Übrigens: Es sind Ihre Kollegen von CDU und CSU, die sich über Investitionen Chinas in Deutschland freuen. Das ist einmal Hendrik Wüst, CDU-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, der die Zusammenarbeit im Rahmen der neuen Seidenstraße lobt. Ihr CSU-Kollege hat gerade die Investitionen bei KUKA gelobt. Und wenn Sie sich die Ergebnisse anschauen: KUKA hat letztes Jahr das zweitbeste Ergebnis seiner Firmengeschichte gefeiert. Das ist das Ergebnis der guten Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland.
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Bleiben wir bei Duisburg. Das dortige Schienenterminal, ein Knotenpunkt auf der Seidenstraße, wird hoch gelobt. Darum beneiden uns andere Länder. Es gibt eine große Konkurrenz. Die Chinesen investieren 100 Milliarden Dollar in die Seidenstraßeninfrastruktur. Die Polen sagen: Wir möchten gerne diesen Knotenpunkt in Polen haben. – In Deutschland ist die Bahninfrastruktur nämlich schon so marode, dass kein sicherer Transport möglich ist. Das, lieber Herr Dr. Wadephul, ist das Verschulden Ihrer CDU-Kollegen, Ihrer Verkehrsminister von Wissmann bis Andi Scheuer von der CSU.
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Das beste Beispiel ist der Transrapid, eine deutsche Spitzentechnologie, die wir hier in Deutschland aufbauen wollten. Ihre Kollegen Wissmann und der bayerische Ministerpräsident – –
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– 2008 war das, als Sie das beerdigt haben. – Stattdessen wurde die Technologie nach China verkauft. Der Transrapid fährt jetzt in Schanghai, und der Nachfolger dieses Zuges, gebaut von den Chinesen, fährt 620 Kilometer pro Stunde.
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Damit könnten wir alle hier von München nach Berlin in einer Stunde fahren und müssten uns nicht mit den ständigen Verspätungen der Deutschen Bahn herumplagen oder mit dem Desasterflughafen Berlin-Brandenburg.
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Liebe Kollegen, die größte Bedrohung für Deutschland sind nicht die Chinesen, die größte Bedrohung für Deutschland sind Sie, die Politiker, die dieses Land in den letzten Jahren gegen die Wand gefahren haben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Bystron. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren mussten wir alle feststellen: Unsere Demokratie, unsere Sicherheit, unsere Wirtschaft, ja, unsere Art und Weise, zu leben, all das ist nicht selbstverständlich und auch nicht unverletzlich. Die Welt ist in den letzten Jahren rauer, krisenhafter und unfriedlicher geworden. Eine Politik, die das nicht wahrhaben will, ist nicht nur naiv, sondern gefährlich.
Das erleben wir in diesen Tagen besonders deutlich. Wenn Staaten, auch in ursprünglich gut gemeintem Interesse, miteinander in vielfältigen Beziehungen verflochten sind und ein Staat davon dann aber Machterwerb und Ideologie über die Kooperation zu beiderseitigem Vorteil stellt, dann wird aus Verflechtung schnell eine Abhängigkeit, die zu Verwundbarkeit werden und im Ernstfall nicht nur finanziell ziemlich teuer werden kann.
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Jahrelange Anzeichen, ja Alarmsignale von Putins Russland zu ignorieren, weil man sie nicht wahrhaben wollte oder weil ein billiges Geschäft wichtiger war als unsere Werte und unsere echten Interessen, das war mehr als fahrlässig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Staat, der nicht in seiner Sicherheit gefährdet ist, zugleich aber immens militärisch aufrüstet und seine Nachbarn bedroht, der tut das in der Regel nicht mit einem friedlichen Ziel. Wohin das im Fall von Putins Russland geführt hat, ist eigentlich auch nicht erst am 24. Februar mit dem brutalen Überfall auf die Ukraine offenbar geworden. Diese Ignoranz und diese Naivität, auch die Fehler der alten deutschen Russlandpolitik, sie müssen uns alle eine deutliche Lehre sein.
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So wenig wir uns das wünschen würden, so sehr müssen wir doch auch anerkennen, dass sich die Politik Chinas gerade in den letzten Jahren rapide verändert hat. China wird immer mehr zur Diktatur, setzt immer stärker auf Nationalismus. Die chinesische Führung zeigt ihr wahres Gesicht bei den krassen Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uigurinnen und Uiguren und in der autokratischen Willkür gegenüber kritischen Stimmen im eigenen Land, bei der Eskalation im südchinesischen Meer und den immer aggressiver werdenden militärischen Drohungen gegenüber den Menschen in Taiwan.
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Sie zeigt es angesichts der Situation in Tibet und in Hongkong. All die Menschen, die dort und in China unter der Verletzung ihrer Freiheit und ihrer Rechte leiden, sie haben unsere Aufmerksamkeit, sie haben unsere Solidarität verdient, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.
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Meine Damen und Herren, der Charakter der chinesischen Führung zeigt sich aber auch beim wiederholten Schulterschluss mit dem Kriegsverbrecher Putin beim jüngsten Versuch, Kanadas Demokratie durch Korruption und Einflussnahme zu schwächen, bei den harschen Sanktionen gegenüber Litauen und auch in der Politik gegenüber den Staaten in Afrika, wo vermeintlich hilfreiche Investitionen schnell zum Hebel für chinesische Machtinteressen werden. All diese Entwicklungen können wir weder ignorieren, noch dürfen wir sie kleinreden. Wenn China seine Politik verändert, dann kann und darf unsere Politik nicht die alte bleiben. Dass Außenministerin Baerbock eine neue China-Strategie schreibt, die Schluss macht mit „Merkel-Business as usual“ ist daher Ausdruck von kluger Weitsicht.
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Lieber Kollege Wadephul, es wäre ja gut, wenn wir heute auch mal selbstkritisch auf die Fehler der Vergangenheit geschaut hätten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wo Bundeskanzlerin Merkel in der Frage Huawei und Telekommunikation stand oder wie lange sie gegen zahlreiche Widerstände am Investitionsabkommen mit China festgehalten hat. Sie haben diese Chance für Selbstkritik an dieser Stelle verpasst.
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Natürlich können und wollen wir nicht alle Verbindungen kappen. Man muss weiter reden auch in Zeiten von Systemkonkurrenz, wenn fundamentale Krisen wie die Klimakatastrophe die Menschen in China wie in Deutschland gleichermaßen bedrohen oder auch wenn ein skrupelloser Kriegsverbrecher mit Nuklearschlägen, dem ultimativen Tabubruch im Krieg, droht.
Bundeskanzler Scholz hat bei seiner Reise erklärt, dass China und Deutschland sich einig seien, dass russische Drohgebärden mit Atomwaffen nicht akzeptabel sind. Als Mitglied im VN-Sicherheitsrat muss China diesen Worten auch Taten folgen lassen und seinen Einfluss auf Wladimir Putin geltend machen.
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Auch wenn wir in komplizierten Beziehungen zueinander bleiben: In kritischen und sensiblen Bereichen unseres Staates, unserer Infrastruktur, unserer Wirtschaft, müssen wir uns besser schützen. Das fängt mit einem besseren europäischen Monitoring von Lieferketten an. Das bedeutet auch die Untersagung von Investitionen, wie es die Bundesregierung gestern richtigerweise getan hat. Es kann aber auch die Verschärfung von Gesetzen zum Schutz der kritischen Infrastruktur beinhalten. Wirtschaftsminister Habeck hat es gestern treffend auf den Punkt gebracht: „Eine offene Marktwirtschaft ist keine naive Marktwirtschaft.“
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschenrechte sind nicht westliche Werte und keine Naivität. Es sind universelle Rechte und Regeln, die sich die Weltgemeinschaft gegeben hat.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
In dieser Frage bin ich Außenministerin Baerbock für ihre klare Haltung dankbar und ebenso Bundeskanzler Scholz für das jüngste Treffen mit den Menschenrechtsanwälten. Für Menschenrechte einzutreten, ist Ausdruck unserer Überzeugung und unser grundlegendes Interesse.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie gehören ins Zentrum unserer neuen China-Strategie; denn sie bilden das Rückgrat unserer Außenpolitik.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! China ist neben Indien das einwohnerreichste Land der Welt. Es ist die zweitgrößte Volkswirtschaft, Mitglied des UN-Sicherheitsrates und sowohl mit uns als eben auch mit Russland wirtschaftlich eng verbunden. Klar ist darum: Wer Druck auf Moskau ausüben will, den furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden, der muss Peking ins Boot holen.
Und darum war es richtig, dass Kanzler Scholz nach China gereist ist. Ich frage mich nur: Warum erst jetzt? Das hätte früher geschehen müssen. Aber schlimmer noch als dieses Zögern ist, dass Ihre Außenministerin Annalena Baerbock bisher noch gar nicht in China war. Ihr diplomatischer Beitrag beschränkt sich auf fragwürdige Provokationen. Vor einer Woche bezeichnete sie China als „systemischen Rivalen“.
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Was ist das denn? Der politische Beitrag der Chefdiplomatin Deutschlands in dieser Krise besteht allen Ernstes darin, sich in der Rhetorik des Kalten Krieges zu ergehen. Das ist unverantwortlich.
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Und ja, es stimmt, China ist kein demokratischer Staat. Es stimmt, dass dort gravierende Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Minderheiten werden systematisch unterdrückt, die Meinungsfreiheit ist erheblich beschnitten. Für Millionen Menschen gibt es keinen Arbeitsschutz oder Arbeitnehmerrechte. Das ist alles absolut inakzeptabel.
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Das alles ist aber leider auch absolut nichts Neues; das ist seit Jahren so. Nennen wir es beim Namen: Der Grund, warum die Menschenrechtsverletzungen in China jetzt so ein Thema sind, ist der Umstand, dass sich die Konkurrenzsituation zwischen den USA und China in Bezug auf die Frage verschärft hat, wer Weltmacht Nummer eins ist bzw. wird. Das ist die Wahrheit, und wer glaubt, dass sich die Menschenrechtslage in China dadurch verbessert,
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dass Europa sich gegen China abschottet, ist einfach auf dem Holzweg.
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Das ist keine menschenrechtsbasierte Außenpolitik; das ist eine Instrumentalisierung von Menschenrechten, und das geht nicht.
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Was ist das Ergebnis dieser beginnenden Abschottungspolitik? China rückt immer näher an Russland heran. Die Gefahr eines mächtigen Blockes, bestehend aus Russland, China, Indien und dem Iran, der die EU und die USA wirtschaftlich und geopolitisch an den Rand drängen kann, wächst, und diese Entwicklung darf man doch nicht auch noch befördern, Kolleginnen und Kollegen.
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Die Welt ist nicht mehr so, dass die westlichen Staaten sie sich einfach untereinander aufteilen können. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Und Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass man die größte Krise unserer Zeit, die Klimakrise, nur mit und eben nicht gegen China bewältigen kann.
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Wenn China zur Klimakonferenz in Ägypten gerade mal einen Klimadiplomaten und kein Regierungsmitglied schickt, dann muss uns das Sorge bereiten. Stattdessen greift Annalena Baerbock sprachlich wieder mal in die Mottenkiste des Kalten Krieges, und das geht so nicht; ich muss es einfach sagen.
Außerdem wissen Sie – auch Sie, Herr Trittin – ganz genau, dass Deutschland bei der Lieferung von Seltenen Erden, auf die wir angewiesen sind, um auf erneuerbare Energien umstellen zu können, aktuell fast vollständig abhängig ist von China. Wenn also die Energiewende gelingen soll, dann sind wir auf Lieferungen aus dem Land angewiesen, das Annalena Baerbock als „systemischen Rivalen“ bezeichnet. Was ist das denn? Ernsthaft!
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Ist Ihnen die Bekämpfung des Klimawandels wirklich weniger wichtig, als die geopolitischen Interessen der USA zu protegieren? Das kann ja wohl nicht wahr sein!
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Klar ist: Ein Wirtschaftskrieg mit China hätte verheerende Folgen für unser Land. Unzählige Arbeitsplätze wären in Gefahr. Das ist der falsche Kurs. Ein falscher Kurs ist es aber auch, kritische Infrastruktur an Firmen zu verhökern, wie Herr Scholz das gerade beim Hamburger Hafen auf den Weg gebracht hat. Nein, kritische Infrastruktur gehört nicht an chinesische Firmen verkauft. Sie gehört überhaupt nicht verkauft; sie gehört in öffentliche Hand. So ist das!
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Lernen Sie eigentlich gar nichts aus der aktuellen Energiekrise? Sehen Sie nicht, dass die auch dadurch verschärft worden ist, dass die Gasspeicher in Deutschland an die russische Firma Gazprom verkauft wurden?
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Das hatte damals übrigens die Regierung bestehend aus SPD und Union zu verantworten. Nichts für ungut, Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihre Krokodilstränen jetzt über den Verkauf des Hamburger Hafens glaubt Ihnen wirklich niemand.
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Was wir brauchen, ist eine realistische und vernunftgeleitete China-Politik. Was wir nicht brauchen, hat der Journalist Lutz Herden kürzlich in „der Freitag“ auf den Punkt gebracht. Er sagte, es habe „wenig Sinn“, der chinesischen Wirtschaftspolitik „mit einer ideologisch unterfütterten Symbolpolitik begegnen zu wollen“. Das ist die Wahrheit.
Danke schön.
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– Ich habe Herrn Herden zitiert. Vielleicht haben Sie es nicht mitgekriegt.
Vielen Dank, Frau Kollegin Mohamed Ali. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Fraktion, die diese Aktuelle Stunde beantragt hat, und auf den Kollegen Wadephul eingehe, kann man natürlich ganz vieles, was Sie, Frau Kollegin Mohamed Ali, hier gesagt haben, nicht so stehen lassen.
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Erstens scheinen Sie mir vor dem Hintergrund, dass das Regime in China unter Xi Jinping immer sozialistischer wird, doch verblendet zu sein. Sie scheinen mir ein Stück weit den Blick darauf zu verlieren, was dort an Unterdrückung, an fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen und an Totalüberwachung,
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wie wir sie so noch nicht erlebt haben, passiert.
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Zweitens. Dass China ein systemischer Rivale ist, hat nicht hier in der Debatte irgendwann jemand gesagt, sondern das ist offizielle Position und Strategie der Europäischen Union seit 2019.
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Es geht ja um die Herausforderung dieses Systemwettbewerbs ganz neuer Art, der ganz anders ist als der Kalte Krieg. Er ist aber genauso schwierig und genauso tiefgreifend, weil China eben sowohl Partner bei globalen Fragen wie dem Klimawandel ist und sein muss als auch systemischer Rivale ist, der ganz grundlegende Werte von uns ablehnt und sich fundamental von uns unterscheidet. Das ist aber keine neue Erkenntnis dieser Debatte, sondern Strategie der Europäischen Union. Wir stehen vor der Frage: Welche ganz konkrete politische Strategie folgt eigentlich daraus? Das ist die Herausforderung.
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Herr Kollege Wadephul, dass Sie das von der Bundesregierung einfordern, ist für die Opposition legitim,
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aber ein bisschen Chuzpe hat es schon,
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weil Xi Jinping ja nicht erst bei dem Parteikongress vor wenigen Tagen an die Macht gekommen ist, sondern der Mann regiert seit 2012 und krempelt seitdem das System der Volksrepublik China um. Und in dieser Zeit hat übrigens auch die CDU unter Angela Merkel hier regiert.
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Ich will nur mal an ein paar Dinge erinnern: Sie mussten ja brutal dazu gedrängt werden – auch aus dem parlamentarischen Raum –, dass Sie eine in meinen Augen Selbstverständlichkeit angehen,
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dass wir nämlich ein chinesisches Unternehmen unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei wie Huawei aus dem Kern unseres Mobilfunknetzes raushalten müssen.
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Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Die von Ihnen getragene Vorgängerregierung musste dazu gedrängt werden.
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Die von Ihnen getragene Vorgängerregierung wollte sogar noch 2020, kurz vor Ende der EU-Ratspräsidentschaft, nur aus PR-Motiven
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das Investitionshandelsabkommen durchpeitschen, obwohl jeder wusste, dass das so nicht mehr in die Zeit passt.
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Das war CDU-Politik, lieber Kollege Wadephul.
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Dass Sie die Debatte über den Hamburger Hafen und die Entscheidung dazu kritisch begleiten, wertschätze ich; denn wir haben ja durchaus Debatten darüber gehabt. Als Schleswig-Holsteiner kann ich aber nur sagen, dass ich das Interview Ihres CDU-Ministerpräsidenten dazu besonders bemerkenswert fand.
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Der sagte nämlich, es sei eine gute Nachricht, dass COSCO im Hamburger Hafen eingestiegen ist. Ich glaube, das ist das Gegenteil einer guten Nachricht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Was will ich damit sagen? Vielleicht sollten wir das parteipolitische Bodenturnen lassen und hier gemeinsam die Debatte dazu nutzen, um darüber nachzudenken, was eigentlich Gegenstand dieser China-Politik sein muss.
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Denn ganz offensichtlich muss sich die China-Politik ändern, weil sich die Natur des chinesischen Regimes grundlegend geändert hat.
Drei Gedanken von meiner Seite, weil sich diese Koalition und diese Bundesregierung aufgemacht haben, eine neue China-Strategie zu schreiben, was absolut notwendig ist:
Erster Gedanke. Ganz offensichtlich brauchen wir nicht nur einen China-Stresstest, indem wir mal definieren: Was ist eigentlich sicherheitsrelevante Infrastruktur, wo wir gar keinen Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas und der von ihr kontrollierten Unternehmen haben wollen? Was sind Bereiche, wo unsere Abhängigkeit vom chinesischen Markt oder von chinesischen Lieferketten zu groß ist? Was sind Bereiche, für die weder noch gilt und wo wir freien Handel und Investitionen auf gleicher Grundlage sicherstellen müssen?
Sich weniger abhängig vom chinesischen Markt zu machen, heißt dann aber auch, dass wir gerade jetzt eine Freihandelsinitiative brauchen, weil das ja nur gelingen kann, wenn wir stärker handeln und Investitionen mit den marktwirtschaftlichen Demokratien betreiben.
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Deshalb bin ich sehr froh, dass wir sehr bald endlich CETA ratifizieren werden,
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als Auftakt für diese Initiative. Dafür haben Sie übrigens auch nie die Kraft gefunden.
Zweitens. Ja, es ist Teil sicherheitspolitischer Verantwortlichkeit, dass uns nicht egal sein kann, was Xi erneut und nicht überraschend und nicht neu mit Blick auf Taiwan formuliert hat. Ich glaube, eines hat bei Putin jeder gelernt: dass man diese Autokraten im Systemwettbewerb ernst und wörtlich nehmen muss. Deshalb müssen wir uns auf den Fall einer militärischen Aggression Chinas in Taiwan ernsthaft einstellen.
Und drittens: Wer ist eigentlich „wir“? Diesen Teil würde ich wirklich gerne debattieren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz, lieber Herr Präsident. – Wer ist eigentlich „wir“? Teil jeder neuen China-Strategie muss die Erkenntnis sein, dass es nichts bringt, sie allein zu entwickeln,
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sondern dass sie – wie man auch bei den Häfen gesehen hat – nur europäisch Sinn macht, dass sie in Wahrheit sogar nur transatlantisch und in Kombination mit unseren Wertepartnern im Pazifik Sinn macht.
Herr Kollege.
Das muss wesentlicher Bestandteil dieser China-Strategie sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Es täte mir in der Seele weh, meinem 1. PGF das Wort zu entziehen. – So, vielen Dank. Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Jens Spahn, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Debatten in diesem Haus sind kontrovers; das ist Demokratie. Aber in der Frage einer Beteiligung des chinesischen Staatsunternehmens COSCO am Hamburger Hafen hat es große Einigkeit gegeben: Alle Fraktionen bis auf eine waren im Ausschuss gegen jegliche Beteiligung COSCOs am Hamburger Hafen.
Allein, diese breite Mehrheit in einem Ausschuss des Deutschen Bundestages ist nicht Politik geworden. Olaf Scholz war als Handelsvertreter Hamburgs unterwegs, er hat aber nicht die nationalen Interessen Deutschlands vertreten. Sie haben sich als Ampelkoalition an dieser Stelle dem Machtwillen und der brachialen Machtausübung des Bundeskanzlers gebeugt.
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Herr Müller, Sie haben das Regieren der Union in 16 Jahren angesprochen, dazu möchte ich Ihnen etwas sagen. Regieren per Richtlinienkompetenz, nur um ein Kernkraftwerk acht oder sechs Wochen länger laufen zu lassen, sich in einer Blockade gegen sechs Bundesministerien, die gesagt haben, eine Beteiligung COSCOs am Hamburger Hafen sollte es nicht geben, brachial durchzusetzen, eine Außenministerin, die aus Kasachstan, vom Ausland aus – nicht einmal wir als Opposition würden aus dem Ausland die eigene Regierung kritisieren –, den Kanzler kritisiert, dazu kann ich Ihnen nur sagen: So, wie der Zustand in Ihrer Koalition ist und hier die Dinge durchgesetzt werden, ist die nächste Ausfahrt die Vertrauensfrage.
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So eine brachiale Machtausübung aus dem Kanzleramt, diese Art, auch europäisches Porzellan zu zerschlagen, ein solches Durcheinander hat es in 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierung nie gegeben, da wurde vernünftig miteinander umgegangen
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und da hat man sich mit den europäischen Partnern abgestimmt.
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Dabei gibt es für die künftige China-Strategie eigentlich einen großen Konsens in diesem Haus. China ist mit 1,4 Milliarden Menschen ein wichtiger Handelspartner und wird es auch bleiben. Als Exportnation ist und bleibt Deutschland mit der Welt verbunden. Niemand möchte die Beziehungen zu China abbrechen.
Aber der Handel mit China ist so weitgehend, dass strategische Abhängigkeiten drohen. Das ist übrigens der Grund, warum wir das Außenwirtschaftsrecht in den letzten Jahren geändert haben; nur auf Basis dieser Änderungen kann doch die Bundesregierung heute überhaupt Übernahmen untersagen.
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Das gilt umso mehr – das ist schon gesagt worden –, als das China von heute ein anderes ist als das China von vor fünf oder zehn Jahren. Autokraten lügen meist über Vergangenheit und Gegenwart; über die Zukunft sagen sie nicht selten die Wahrheit. Xi ist sehr transparent, was eine gewaltsame Einverleibung Taiwans angeht, was die Rolle Chinas in der Welt angeht, was das strategische Schaffen von Abhängigkeiten, auch durch das systematische Aufkaufen von Hafeninfrastruktur, angeht.
Deswegen wären mögliche Prinzipien für eine China-Strategie zum Beispiel das Prinzip der Reziprozität, was ganz einfach heißt: Solange sich kein deutsches Unternehmen am Hafen von Schanghai beteiligen kann, sollte sich auch kein chinesisches am Hamburger Hafen beteiligen können – ein einfaches Prinzip, einfach umzusetzen, verstehen alle Partner.
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Oder: Wenn China die Stahl- und die Solarindustrie staatlich stützt und damit Dumpingpreise auf dem Weltmarkt fördert, dann kann es für China keinen freien Marktzugang geben, dann braucht es eben Zölle.
Wir müssen Abhängigkeiten screenen und schauen: Wo sind Produkte leicht ersetzbar? Klar sind Masken leichter ersetzbar als Biotechnologie.
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Stellen Sie sich eine Welt vor, in der der Impfstoff nur in China – oder in Russland – und nicht auch in der westlichen Welt entwickelt worden wäre: Wir hätten alle in Peking um Impfstoff betteln müssen. Es ist wichtig, dass wir screenen, dass wir schauen, wo Abhängigkeiten entstehen können – etwa bei Halbleitern, bei Biotechnologie, bei Militärtechnologie und in anderen Bereichen –, und hier staatlich gegensteuern.
Wichtig ist auch, die Handelsbeziehungen zu diversifizieren. Wir haben gerade vom Kollegen Vogel gehört, CETA würde bald ratifiziert.
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Uns ist in der letzten Debatte hier erzählt worden, wir würden noch in diesem Herbst – wir sind mit großen Schritten auf dem Weg in den Winter – das Handelsabkommen mit Kanada ratifizieren, und zwar nicht zuletzt, um zu zeigen, dass wir eine Handelspolitik wollen, durch die wir unabhängiger werden von China. Wenn das so ist, dann lassen Sie uns endlich hier im Deutschen Bundestag über CETA abstimmen und gemeinsam zustimmen.
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China-Politik beginnt zu Hause. Es geht nicht allein um eine China-Strategie, es geht auch um eine Deutschlandstrategie. Wenn wir souverän sein wollen, dann müssen wir auch wirtschaftlich stark sein, dann müssen wir eine Industriepolitik machen, die dafür sorgt, dass wir Industrieland bleiben – gerade auch in diesen Zeiten –, dass wir mithalten können. Das gilt mit Blick auf die erneuerbaren Energien auch bei den Windkraftanlagen: Sechs der zehn weltweit größten Hersteller kommen aus China. Sie kommen mit ihren Produkten auf unseren Markt, unsere Hersteller aber nicht auf ihren. Auch das kann so nicht bleiben.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir können China nicht ändern. Aber wir können an uns arbeiten und unsere Stärken ausbauen. Unser künftiger Wohlstand kann und darf nicht von China abhängen. Dafür müssen wir souveräner werden. Das ist im Interesse unseres Landes.
Fangen Sie jetzt auch an, so zu handeln; sonst scheitert Ihre China-Strategie schon, bevor sie überhaupt angefangen hat.
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Frank Schwabe hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! „Deutschlands strategische Souveränität stärken – Für eine neue China-Strategie“ lautet der Titel dieser von der Union beantragten Aktuellen Stunde. Es ist schön, dass wir dies hier diskutieren können, weil es genau das ist, woran die Bundesregierung arbeitet; genau das eignet sich als Titel für das, was wir machen.
Ein kluger außenpolitischer Akteur hat in den letzten Tagen gesagt – einige von Ihnen waren dabei –: Erstens. Scholz ist deutlich kritischer aufgetreten in China, als es Merkel jemals getan hat.
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Zweitens. Merkel würde heute wahrscheinlich auch kritischer auftreten, als sie damals auftrat. – Insofern haben wir vielleicht alle unsere Lerneffekte. Ich will es noch mal sagen, weil Sie das so ein bisschen in Abrede stellen: Frau Merkel war die treibende Kraft eines EU-China-Handelsabkommens; sie war die treibende Kraft, kann man alles nachlesen. Ich zitiere:
Im Videomeeting mit Xi Jinping setzt die Kanzlerin ihren wirtschaftsfreundlichen Chinakurs fort.
Das war nicht 2014, sondern das stand in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 6. Juli 2021, also vor gerade einmal ein bisschen mehr als einem Jahr.
Mich hat gerade ein Kollege darauf hingewiesen, dass ich doch vielleicht die Union – vielleicht auch Herrn Spahn, Herrn Wadephul und andere – persönlich daran erinnern kann, wo sie eigentlich war bei der Debatte um den Verkauf des Hafens von Piräus, als wir Griechenland dazu gedrängt haben, eine für Europa ganz wichtige Infrastruktur zu 100 Prozent an China zu verkaufen.
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Wir waren da irgendwo alle mit dabei. Aber ich finde das falsch. Und ich finde, das könnten Sie dann auch sagen.
Also: Der Anstoß zu der Debatte ist richtig. Aber ich finde, Sie sollten deutlich machen, dass die Positionen innerhalb der Parteien deutlich vielfältiger verteilt sind; auf den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein ist schon hingewiesen worden.
Und ich finde, es ist ein bisschen seltsam, mit welchem außenpolitischen Rigorismus Sie aus der Opposition heraus auftreten. Wir haben es bei Herrn Röttgen im Zusammenhang mit dem Iran auch schon gesehen. Jetzt machen Sie es entsprechend bei China. Es ist schon interessant, welche Rolle die Union da zurzeit einnimmt.
Und auch darauf ist hingewiesen worden: Beim Lieferkettengesetz – ich habe das nun führend verhandelt – haben Sie ein Jahrzehnt lang blockiert und versucht, das Ganze abzuschwächen. Es ist am Ende gekommen, aber im Grunde genommen gegen Ihren Widerstand, und das wissen Sie ganz genau. Das, was wir damit erreicht haben, und das, was wir jetzt von den Unternehmen hören, hat eine höhere Bedeutung als das, was wir drei Jahrzehnte an Menschenrechtspolitik gegenüber China diskutiert haben,
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und das ist gut so, und das ist gegen Ihren Widerstand durchgesetzt worden.
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Im Übrigen: Der Zeitpunkt von Reisen des Bundeskanzlers wird durch den Bundeskanzler festgesetzt. Nicht in jedem Zeitpunkt steckt auch eine Symbolik. Aber ich glaube, wir können doch alle gemeinsam in aller Ruhe feststellen, dass dieser Besuch erfolgreich war, dass er notwendig war, dass es – bei allen Unterschieden, die wir mit China haben – notwendig ist, Russland zu isolieren oder zumindest einzuhegen. Deswegen war es auch richtig, dass die Außenministerin in Kasachstan war. Deswegen war es auch richtig, dass wir Regierungskonsultationen mit Indien hatten. Es war ein Erfolg, dass China deutlich gemacht hat: Mit Atomwaffen zu drohen, kann kein Teil von Außenpolitik sein. Und es war auch gut, dass der Bundeskanzler die Taiwanfrage angesprochen hat und auch Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler wie Yu Wensheng getroffen hat.
Wir sind uns hoffentlich einig – die meisten hier sind es –, dass die Menschenrechtslage in China verheerend ist, ob wir über Tibet reden, Xinjiang, Hongkong oder anderswo. Die Lage der Uiguren in Xinjiang ist verheerend: 1 Million Menschen befinden sich in sogenannten Umerziehungslagern, Zwangssterilisationen werden durchgeführt, es herrscht permanente Überwachung, Religion und Kultur werden zerstört. Es ist eine Schande, dass es uns als Bundesregierung gemeinsam mit anderen nicht gelungen ist, das Thema im UN-Menschenrechtsrat auf die Tagesordnung zu setzen, weil China es verhindern konnte.
Wir sehen, dass in Hongkong alle internationalen Abkommen durch China gebrochen worden sind, dass die Medien gleichgeschaltet sind. Deswegen ist es gut – das will ich an der Stelle auch sagen –, dass wir fraktionsübergreifend einen Parlamentskreis „Hongkong“ ins Leben gerufen haben. Ich will viele Kolleginnen und Kollegen ermuntern, dazuzukommen.
Ich will ein Letztes zur China-Strategie sagen, weil das, glaube ich, dazugehört: Das ist eine außenpolitische Strategie, aber auch eine innenpolitische Strategie. Wir können nicht zulassen – das betrifft übrigens nicht nur China, sondern auch andere Länder –, dass China versucht, in Deutschland Druck auf Dissidenten auszuüben, und versucht, quasistaatliche Überwachungs- und Polizeistrukturen aufzubauen. Wir müssen dem mit aller Macht außenpolitisch, aber auch innenpolitisch entgegenwirken.
Vielen herzlichen Dank.
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Dieter Janecek spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich glaube, wir können zumindest einen Konsens in dieser Debatte finden: Wir müssen die Europäische Union als Handlungsakteur in diesem politischen Umfeld stärken, wirtschaftlich und strategisch. Das ist essenziell für jede China-Strategie.
Morgen reise ich zusammen mit dem Wirtschaftsminister und anderen Parlamentariern nach Singapur zur Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft. Auch dort wird der weiße Elefant im Raum China sein. Wenn man sich die Handelsverflechtungen in dieser Welt anschaut, stellt man fest, dass China nicht nur der größte Handelspartner faktisch aller asiatischen Staaten ist – übrigens, im Jahr 2050 entfallen 50 Prozent des Weltbruttosozialprodukts auf Asien –, sondern auch fast aller afrikanischen Staaten und eines Teils Südamerikas. Auch unser größter Handelspartner ist China.
China verursacht 33 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Es baut den Bereich der Kohlekraft aus und ist gleichzeitig weltgrößter Investor im Bereich der erneuerbaren Energien. China hat einen Anteil von über 80 Prozent an der weltweiten Produktion von Photovoltaikanlagen und einen Anteil von 73 Prozent an der Herstellung von Batteriezellen. Das sind Trends, die so bestehen. Der Kampf gegen die Klimakrise – das wissen wir alle – wird ohne China nicht funktionieren. Das heißt aber auch für uns, dass wir wirtschaftliche Abhängigkeiten von China reduzieren müssen; denn die Abhängigkeiten sind heute sehr groß, und nach der Erfahrung mit Russland kann man sich sicherlich nicht hinstellen und sagen: Wir können darauf vertrauen, dass wir weiter ein friedliches China vorfinden werden. – Es ist alles möglich, leider alles möglich bei diesem China, auch ein Angriff auf Taiwan. Deswegen müssen wir jetzt umsteuern und eine neue China-Strategie auf den Weg bringen.
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Einzelne Branchen sind sehr stark exponiert in China, beispielsweise die Automobilindustrie. VW verkauft über 40 Prozent seiner Fahrzeuge dort. Unsere Wirtschaft ist angewiesen auf kritische Rohstoffe, Seltene Erden. In einzelnen Bereichen geht es um einen Anteil von bis zu 90 Prozent; ich hatte es bereits genannt. Deswegen ist es so notwendig und so richtig – ich bin auch dankbar für die Debatte heute –, dass die Bundesregierung, die Koalition eine neue China-Strategie auf den Weg bringt, die die Aufhebung unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit Schritt für Schritt befördert. Ich nenne ein paar Beispiele:
Das erste Beispiel aus dem Bereich der kritischen Infrastruktur wurde schon genannt: COSCO. Es ist gut, dass wir in den Gesprächen zu der Lösung gekommen sind, dass es eine finanzielle, aber keine strategische Beteiligung von COSCO gibt. Es ist gut, dass wir das herbeigeführt haben.
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Es ist auch gut, dass wir jetzt in der Koalition eine Diskussion darüber führen, dass ausländische Investitionen in kritische Infrastrukturen systematischer und restriktiver geprüft werden müssen. Ich denke, das ist notwendig. Wir brauchen auch eine europäische Strategie im Umgang mit ausländischen Investitionen.
Das zweite Beispiel ist ein aktueller Fall aus dem Bereich der kritischen Technologien und Produktionskapazitäten: Elmos. Wir haben ja eine ganze Reihe von Prüfverfahren von chinesischen Direktinvestitionen in Deutschland. Die Halbleiterindustrie ist natürlich essenziell. Taiwan ist da der Weltmarktführer. Sollte es zu einer Konfrontation zwischen China und Taiwan kommen, wird die gesamte Weltwirtschaft beeinträchtigt sein. Was kann die Konsequenz sein? Doch nur, dass wir als Deutschland, als Europäische Union die eigenen Kapazitäten stärken. Deswegen sind Investitionen wie die am Standort Magdeburg – Intel, 23 Milliarden Euro – wichtig. Das müssen wir weiter voranbringen.
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Zum Thema Rohstoffe. Es ist gut, dass die Bundesumweltministerin jetzt ein Kreislaufwirtschaftskonzept auf den Weg bringt und dass wir im Rahmen der Europäischen Union für den kritischen Bereich jetzt auch einen Raw Materials Act auf den Weg bringen. Europa ist ein Kontinent mit wenig eigenen Ressourcen. Deswegen ist Nachhaltigkeit, Sustainability, deswegen sind erneuerbare Energien der Weg in die Unabhängigkeit. Den müssen wir entschlossen beschreiten. Da müssen wir investieren. Das muss Priorität Nummer eins sein in den nächsten Jahren.
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Herr Spahn, Sie hatten es angesprochen: Diversifizierung im Außenhandel. Das ist absolut das Ziel der Gespräche in den nächsten Monaten und Jahren. Wir werden keine leichten Gespräche haben, weil die Partner nicht immer leicht sind. Aber natürlich kommt es darauf an, dass wir auf der einen Seite Freihandelsabkommen finden mit fairen sozialen, ökologischen und auch menschenrechtlichen Standards. Wir müssen auf der einen Seite ein Level Playing Field schaffen für die neue Wirtschaft und auf der anderen Seite Investitionsförderung neu ausrichten. Ich glaube, Risikomanagement kann heute nicht mehr bedeuten, dass Unternehmen von uns erwarten, dass wir alles absichern, wenn sie in China in kritische Felder gehen. Da muss wieder ein Stück weit mehr Eigenverantwortung der deutschen Wirtschaft geschaffen werden. Es muss klar sein, dass Unternehmen ihr Risiko in China selbst tragen müssen.
Zum Schluss. China ist eine Autokratie und ein geopolitischer Rivale im Wettstreit mit dem demokratischen Westen. Aber in einer komplizierten Welt ist es eben auch ein wirtschaftlicher Partner, und Gespräche, Kooperationen im Bereich der Forschung, des Klimaschutzes sind bei all den Schwierigkeiten notwendig. Die No-Covid-Politik in China macht es ja aktuell nicht gerade leicht, Gespräche zu führen. Der Umstand, dass sich das Land komplett abschottet, führt ja auch zu Aggressivität, zu Stimmungsveränderungen. Trotzdem bleibt es notwendig, diese Gespräche weiterzuführen. Aber entscheidend ist immer, dass wir unsere eigene Stärke definieren, wirtschaftliche Souveränität wiederherstellen, auch im Bereich der Energiepolitik und im wirtschaftlichen Verhältnis zu China. Daran müssen wir entschlossen arbeiten.
Ich danke Ihnen.
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Reinhard Houben ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde kann ja manchmal Überraschungen und neue Erkenntnisse mit sich bringen. Aber so richtig viele neue Erkenntnisse und Überraschungen hat es für mich bei den Beiträgen der Union nicht gegeben. Sie haben viele Dinge vollkommen richtig beschrieben, aber die meisten davon sind ja nicht neu.
Das Einzige, was Sie neu anführen konnten, war der Parteitag der KP vor einigen Wochen und der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz. Ich möchte Ihnen mal ein Feedback aus der deutschen Wirtschaft dazu geben.
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Da ist gesagt worden: Es war sehr richtig, dass der Bundeskanzler in China war. Allein für die Bemerkung, dass man auf Atomwaffen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine verzichten soll, hat sich – das ist die Meinung der Wirtschaft – die Reise gelohnt.
Und, meine Damen und Herren, dem stimme ich zu;
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denn Deeskalation ist in der aktuellen Situation sicherlich nicht unwichtig.
Wenn diese Debatte einen Beitrag leisten soll, dann müssen wir diesen Gedanken doch weiterentwickeln: Was sind wir bereit zu tun, um die Dinge, die hier gefordert worden sind, auch wirklich zu erreichen? Da möchte ich anschließen an den Kollegen Janecek. Die Bundesregierung arbeitet an einer neuen China-Strategie, und ich bin mir ziemlich sicher, Kollege Spahn, auch die wird noch im Herbst kommen.
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Und der Herbst dauert bis zum 21. Dezember; das vielleicht auch noch zur Aufklärung.
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Meine Damen und Herren, wir sind weiterhin aktiv im Gespräch, was Handelsverträge angeht.
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Das betrifft nicht nur CETA. Sie formulieren das sehr gerne; ich nehme das immer wieder auch gerne auf. Wir sind sehr weit in den Gesprächen mit Chile. Wir sind sehr weit mit Mexiko.
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Ich glaube, die Entscheidung des brasilianischen Souveräns hat auch Optionen eröffnet beim Thema Mercosur. Dann müssen wir natürlich auch entsprechend entschieden handeln und sozusagen den Deckel draufmachen;
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denn eines kann nicht sein, meine Damen und Herren. Wir können nicht hier im Hohen Hause wohlfeile Debatten führen und es am Ende darauf ankommen lassen, dass die deutsche Wirtschaft, die europäische Wirtschaft in China alleine dasteht.
Es ist angesprochen worden: Wie reagieren wir denn? Wir hatten doch Angst davor, dass nach dem Angriff auf die Ukraine unter Umständen China – unterhalb des Radars – Taiwan angreift. Inwieweit sind wir darauf vorbereitet? Ich glaube, die bessere Ausrüstung der Bundeswehr, auch der Einsatz der Luftwaffe in Südostasien haben gezeigt: Wir wollen sicherlich keine Kanonenbootpolitik betreiben, aber unsere Freunde und Partner können in diesem Raum auch auf unsere Unterstützung setzen.
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Und, meine Damen und Herren – wir haben es im Koalitionsvertrag festgelegt; wir arbeiten heftig daran –: Man kann sich nicht nur darüber beklagen, dass zum Beispiel Seltene Erden in einer großen Menge aus China kommen. Dann müssen wir halt nach Alternativen suchen, und wir haben unter Umständen auch in Deutschland – im Erzgebirge – Optionen, Seltene Erden zu heben. Da müssen wir die Rahmenbedingungen eben entsprechend setzen, und das gibt der Koalitionsvertrag her. Deswegen bin ich auch da der Meinung: Ja, wir müssen uns mit der Problematik auseinandersetzen. Ja, wir müssen unsere Verkaufsmärkte und unsere Einkaufsmärkte diversifizieren. Aber da hilft es nicht, hier nur wohlfeile Anträge zu stellen, sondern diese müssen auch in konkrete Politik umgesetzt werden.
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Dazu sind wir entschlossen, Herr Spahn. Wie gesagt: Herbst; Sie haben mein Wort.
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Eine letzte politische Bemerkung; ich glaube, sie fällt auf uns alle zurück. Wir in Deutschland müssen lernen, was unsere spezifischen Interessen sind. Diese müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern entwickeln und uns dann auch – in Anführungszeichen – „trauen“, an manchen Stellen in unserer Politik wirklich die Interessen Europas und Deutschlands robust zu vertreten. Da habe ich einen gewissen Optimismus.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Thomas Erndl.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler stellt nach seiner Reise „Verlässlichkeit und Vertrauen“ fest, die das Fundament der deutsch-chinesischen Beziehungen bilden. Ganz abgesehen davon, was unsere Partner in der EU und in den USA wohl dabei gedacht haben, glaube ich nicht, dass das angemessene Begriffe sind, wenn wir über ein Treffen mit einem Diktator sprechen. Vertrauen bei illegalen chinesischen Polizeistationen in unserem Land, bei aggressivem Auftreten im Südchinesischen Meer und vor allem bei gröbsten Menschenrechtsverletzungen gegen die uigurische Minderheit? Verlässlichkeit, wenn in unseren Unternehmen nach wie vor geistiges Eigentum gestohlen wird, wenn wir nach wie vor keine gleichen Bedingungen auf dem chinesischen Markt haben und wenn bewusst weiter asymmetrische Abhängigkeiten geschaffen werden? Kurzum: China unter dem Präsidenten Xi ist kein verlässlicher Partner. Die Begriffe „Vertrauen“ und „Verlässlichkeit“ sind hier fehl am Platz.
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An Putin sehen wir, dass wir Autokraten und Diktatoren beim Wort nehmen müssen. Deshalb – ich glaube, da sind wir uns hier in der Debatte auch einig – muss sich die Politik gegenüber China verändern. Die Vorzeichen haben sich geändert. Deswegen ist es gut, dass das Auswärtige Amt eine China-Strategie entwickeln will. Ich bin aber wirklich gespannt auf das Ergebnis. Denn bisher hat die Koalition in außenpolitischen Fragen nicht durch Einigkeit geglänzt, sei es in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine, auf den Hamburger Hafen oder auf die China-Reise, während der die Außenministerin aus der Ferne Ratschläge ans Bundeskanzleramt schickte.
Ich bin auch gespannt, was die Umsetzung so einer Strategie betrifft. Das Auswärtige Amt kann natürlich viel zu Papier bringen. Wenn das Kanzleramt und andere dies am Schluss ignorieren, dann ist die Strategie das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben ist. Beispiele, wie brachial das Kanzleramt seine Position durchsetzt, gab es ja in der jüngeren Vergangenheit bereits zu beobachten.
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Diese Uneinigkeit der Ampelaußenpolitik ist extrem problematisch, weil es natürlich wichtig ist, dass die China-Strategie europaweit und idealerweise auch mit unseren transatlantischen Partnern abgestimmt wird.
Natürlich bleibt China trotz allem ein wichtiger Partner unserer Wirtschaft bei gleichzeitiger systemischer Rivalität. Aber diese Uneinigkeit in der Regierung sorgt auch für große Verunsicherungen in der Wirtschaft. Was wir jetzt brauchen, sind echte Alternativen, neue Märkte, Handelsabkommen. Ich sage da einfach nur: Endlich machen! An uns wird es nicht liegen. Wir haben uns schon lange – zumindest bei CETA – eingebracht, warten da auf die Umsetzung und sind gespannt, ob es dann in der nächsten Zeit auch klappt, wie es hier versprochen wurde.
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Wir brauchen eine neue Handels- und Rohstoffstrategie, und wir müssen vor allem unsere wirtschaftlichen Abhängigkeiten einem Stresstest unterziehen, sodass am Schluss auch für unsere Unternehmen eine klare Orientierung und klare Rahmenbedingungen stehen. Wir müssen uns auch bewusst sein, meine Damen und Herren, dass durch Aktionen wie zum Beispiel dem Verkauf von Anteilen am Hamburger Hafen unsere Glaubwürdigkeit leidet; denn wir sind unterwegs in Afrika, in Südamerika und warnen vor Abhängigkeit von China. Diese Partner sagen dann: Was bringen uns eure Warnungen, wenn ihr euch gleichzeitig selber in diese Abhängigkeit begebt, wenn auch ihr China Zutritt zu strategischer und wichtiger Infrastruktur gewährt?
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass man auch sagen kann: Repression im Inneren führt irgendwann immer zu Aggression nach außen; das muss ich als Außenpolitiker einfach feststellen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir hier einen klaren Kurs haben, einen klaren Kurs in unserer Politik mit China. Der ist bei dieser Regierung bisher noch nicht sichtbar. Wir warten auf eine klare Linie.
Herzlichen Dank.
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Esra Limbacher hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Michael Müller und Frank Schwabe haben dankenswerterweise schon viele wichtige Punkte in Bezug auf Menschenrechte und Pressefreiheit sowie auf die außenpolitischen Sichtweisen auf China dargelegt. Erlauben Sie mir daher, einmal auf wirtschaftspolitische Aspekte einer China-Strategie – die wir ja dringend brauchen; da sind wir uns, glaube ich, alle einig – zu schauen. Ich habe mir die Debatte heute genau angehört und auch verfolgt, was in den vergangenen Tagen so veröffentlicht wurde. Herr Wadephul, Herr Spahn, ich muss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen verunsichert und irritiert,
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wenn nicht sogar besorgt. Was hat man dort gelesen? Der Bundeskanzler müsse seine China-Reise absagen, Investitionen deutscher Firmen dürften auf keinen Fall erfolgen, die deutsche Wirtschaft solle sich von der chinesischen Wirtschaft entkoppeln.
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Statt der Merkel’schen Losung „Wandel durch Handel“ zu folgen, müsse es also zu einem „Wandel durch keinen Handel“ kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch Wahnsinn. Protektionismus, Abschottung und Entkopplung können nicht unsere Antworten auf die Fragen dieser Zeit sein.
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Bezogen auf die wirtschaftspolitische Diskussion hier frage ich mich ernsthaft: Haben Sie in letzter Zeit eigentlich mal mit Betriebsräten, mit Angestellten in der deutschen Industrie gesprochen? Haben Sie das?
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Mir scheint, das ist nicht der Fall. Die Coronapandemie, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins, die Energiekrise, der Fachkräftemangel: Die Liste ist immer weiter fortsetzbar, und Sie wollen hier eine neue Krise, einen neuen Handelskonflikt herbeireden. Das ist unverantwortlich und findet nicht unsere Zustimmung.
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Das Negativbeispiel USA zeigt doch, wie es momentan nicht geht. Der protektionistische Subventionswettlauf ist eben keine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Hier geht es nicht um irgendetwas, hier geht es um unseren Wirtschaftsstandort und um Arbeitsplätze vor Ort. Ich komme aus dem Saarland, wissen Sie, und da ist Transformation die Herausforderung, der wir gegenüberstehen.
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– Ich schaue Sie an, weil Sie das gesagt haben. – Das ist die Herausforderung. Wir kämpfen da um jeden Arbeitsplatz in der Industrie.
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Die Firmen, die dort investieren, kommen weder aus Wolfsburg noch aus der EU, die kommen nicht aus den USA, sondern eben aus China. Genau deswegen ist es so wichtig, dass wir uns nicht abschotten, sondern offen sind für Handel, auch mit China.
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Genau das muss unsere Strategie sein.
Wenn wir auf diese Fragen der wirtschaftspolitischen Strategie in Bezug auf China schauen, dann stellt sich auch immer eine Frage: Können wir eine Doppelstrategie daraus machen? Ich finde, es muss eine Doppelstrategie sein: erstens Handel mit China ausbauen, zweitens diversifizieren und einseitige Abhängigkeiten beenden.
Es ist ein Irrglaube, dass Handel per se zur Abhängigkeit führt. Ich finde, den Beweis dafür hat ein Institut erbracht, das keine Vorfeldorganisation der SPD ist, nämlich das ifo-Institut. Es hat den Warenverkehr zwischen Deutschland und China untersucht. Das Ergebnis war: Bei den meisten Produkten, die die EU aus der Volksrepublik bezieht, gibt es Alternativen auf dieser Welt. Gleichzeitig ist China auf den europäischen Absatzmarkt angewiesen. Das zeigt eines: Zwischen den beiden Handelsblöcken herrscht ein Gleichgewicht, das ein selbstbewusstes Auftreten Deutschlands ermöglicht.
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Das ist auch nötig bei so einer Doppelstrategie: Natürlich müssen wir auch auf die Probleme schauen, und das sind die einseitigen Abhängigkeiten in den Handelsbeziehungen, die es eben nicht geben darf. Genau daran muss gearbeitet werden. Teil einer China-Strategie muss also immer sein, dass wir insbesondere bei Rohstoffen und wichtigen Technologien diversifizieren und uns nicht einseitig abhängig machen.
Also: Die Doppelstrategie, Abhängigkeiten abzubauen, Handel aufzubauen und Arbeitsplätze in unserem Land zu sichern, kann ein Ansatz für unser Land sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Wadephul, erlauben Sie mir zum Abschluss noch einen Kommentar. Wir alle können uns noch ganz gut erinnern, wie auch Sie, wie ich finde, gedankenlos im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine agiert haben.
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Man kann nur hoffen, dass Sie dies nicht auf die Taiwanfrage transferieren.
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Das hätte nämlich wahrlich schwere Folgen für unser Land. Wir brauchen klare Strategien und keinen Populismus. Das sind die Zeichen der Zeit.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute mit einem wichtigen Gesetz zu tun, bei dem es um die Belange von Menschen mit Behinderungen geht. Von daher möchte ich zunächst einmal den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ganz herzlich hier begrüßen. Es geht um die Allokation, die Zuteilung, von knappen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten, sogenannte Zuteilungsentscheidungen, im Volksmund auch „Triage“ genannt.
Lassen Sie mich bitte vorweg erst einmal sagen: Gott sei Dank ist es so gewesen, dass wir im Rahmen der Pandemie die Triage nie praktizieren mussten. Ich möchte mich daher vorab bei allen Ärztinnen und Ärzten, bei allen Pflegekräften, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insbesondere auf den intensivmedizinischen Stationen ganz herzlich dafür bedanken, dass dies nie notwendig war. Das ist nur möglich gewesen durch die herausragende Leistung, die dort erbracht worden ist und immer noch erbracht wird; die Pandemie ist ja nicht vorbei. Ohne Ihre Leistung, ohne Ihre Arbeit hätten wir die Triage möglicherweise schon praktizieren müssen. Daher danke von dieser Stelle für das, was Sie getan haben.
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Durch Ihren Einsatz haben Sie es uns erspart, solche Entscheidungen treffen zu müssen.
Worum geht es hier? Zunächst einmal geht es im Wesentlichen um das Infektionsschutzgesetz und um übertragbare Krankheiten. Jetzt kann man sagen: Die Pandemie ist doch schon fast vorbei. – Na ja, zum einen ist sie noch nicht vorbei, und zum Zweiten leben wir im Zeitalter der Pandemien. Durch die globale Erwärmung, durch den zunehmenden Verkehr, durch die Bevölkerungszuwächse müssen wir mit mehr Pandemien und Infektionskrankheiten rechnen. Daher müssen wir auf solche Zuteilungsentscheidungen besser vorbereitet sein, als wir es in der Vergangenheit gewesen sind, sodass wir sicherstellen können, dass solche Zuteilungsentscheidungen auch unter Berücksichtigung ethischer Aspekte getroffen werden.
Lassen Sie mich daher vollumfänglich in den Vordergrund stellen, worum es bei diesem Gesetz geht. Man kann sehr unterschiedlicher Meinung sein, ob beispielsweise die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Menschen bei der Zuteilung von Medizin eine Rolle spielen soll oder nicht, ob man eine Medizin praktiziert, in der solche Kosten-Nutzen-Überlegungen gemacht werden oder nicht. Das kann man ethisch sehr unterschiedlich diskutieren. Da gibt es utilitaristische Positionen; da gibt es Positionen im Sinne von Kant. Aber eines ist immer unethisch, und zwar wenn Menschen mit Behinderungen benachteiligt werden. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er medizinische Versorgung auf der Intensivstation benötigt, nur weil er ein Mensch mit Behinderungen ist. Das ist unethisch. Wir wollen mit diesem Gesetz sicherstellen, dass dies nicht mehr vorkommen kann.
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Dann ist es so, dass bei der Entscheidung, wer versorgt wird, nur medizinische Aspekte eine Rolle spielen dürfen, nämlich die Frage: Wie ist im Moment der Krankheitsverlauf? Vorerkrankungen oder Behinderungen dürfen keine Rolle spielen; das stellen wir hier klar. Somit kann es nie so sein, dass jemand, der sich in einer behandlungsbedürftigen Lage befindet, keine Versorgung bekommt, nur weil er behindert ist. Das wird nicht vorkommen; das kann nicht passieren.
Wir werden darüber hinaus auch Folgendes sicherstellen: Derjenige, der jetzt schon versorgt wird, kann sich auf die weitere Versorgung verlassen. Das heißt, wir werden keine sogenannte Ex-post-Triage zulassen. Wir wollen das System so praktizieren, dass sich derjenige, bei dem die Versorgung schon begonnen hat, darauf verlassen können muss, dass diese Versorgung lege artis zu Ende geführt wird, sodass wir nicht in die unerträgliche Situation kommen, die Versorgung zu beenden, um sie einem anderen Menschen zukommen zu lassen. Diese Form der Ex-post-Triage halte ich für unethisch; daher ist sie hier nicht vorgesehen. Sie ist ausgeschlossen durch das Gesetz, das wir heute vorlegen.
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Lassen Sie mich schließen, indem ich darauf hinweise: Das Beste, was man der Ex-post- oder Ex-ante-Triage entgegensetzen kann, ist eine gute Vorbeugung. Eine gute Vorbeugung läuft darauf hinaus, dass wir die Kapazitäten ausbauen und besser planen müssen. Wir haben große Krankenhausgesetze vor uns, die auch dafür sorgen werden, dass die Pflegekräfte nicht in ständiger Überlastung arbeiten müssen, dass wir sicherstellen können, dass wir genug Platzkapazitäten haben. Wir werden daher das Gesetz evaluieren. Gleichzeitig werden wir aber auch mehr unternehmen, um die Krankenhäuser von solchen Leistungen zu befreien, die eigentlich ambulant gemacht werden könnten, sodass wir für die intensivmedizinischen Versorgungsfälle die notwendige Kapazität haben und das nicht mehr zulasten der Pflegekräfte und der Ärzte geht.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz und danke für die Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Hubert Hüppe hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierungen in Triage-Situationen hat Kritik von allen Seiten auf sich gezogen. Deswegen kritisiere ich auch zu Anfang, wie dieser Gesetzentwurf überhaupt zustande gekommen ist.
Sie als Ampel haben in der Koalitionsvereinbarung den Menschen mit Behinderungen versprochen, dass sie bei Gesetzen, die sie betreffen, intensiver beteiligt werden sollen. Alle Behindertenverbände haben unisono gesagt – das hat die Anhörung gezeigt –, sie seien nicht entsprechend beteiligt worden. Das finde ich sehr kritisch, gerade wenn es um Menschen mit Behinderungen geht, die es betrifft, meine Damen und Herren.
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Aber auch andere Gruppen wurden nicht beteiligt. Die Ärzte beklagen die fehlende Diskussion. Auch manche Kolleginnen und Kollegen der Ampel – da bin ich sicher – hätten sich gewünscht, dass es eine breitere Diskussion gegeben hätte, die einen, weil sie das mit dem Verbot der Ex-post-Triage anders sehen, die anderen, weil ihnen der Diskriminierungsschutz nicht ausreichend erscheint. Auch in meiner Fraktion – das will ich zugeben – gibt es unterschiedliche Meinungen. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass die Ampel heute den Fraktionszwang aufgehoben hätte, sodass bei so einer hoch ethischen Entscheidung jeder nach seinem Gewissen hätte abstimmen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Stattdessen haben Sie acht Monate gebraucht, um einen Gesetzentwurf vorzulegen, den Sie dann innerhalb von drei Sitzungswochen durch das Parlament gepeitscht haben. Noch am Dienstag nach Dienstschluss haben wir als Ausschussmitglieder um kurz vor 18 Uhr Ihre Änderungsanträge erhalten, über die wir am Mittwochmorgen entscheiden mussten, ohne mit anderen Rücksprache zu nehmen.
Allerdings freue ich mich, dass unsere Anregungen in den Änderungsanträgen wenigstens teilweise aufgenommen worden sind, zum Beispiel die Festlegung, dass entscheidend dafür, dass Ärzte rechtmäßig oder rechtswidrig triagieren, die Frage ist, ob der Patient noch verlegt werden kann. Darüber muss jetzt das jeweilige Krankenhaus entscheiden. Das stand vorher gar nicht im Gesetzentwurf. Was wir auch gut finden, ist, dass Sie eine Meldepflicht über die durchgeführten Triagen einführen. Allerdings – das muss ich an dieser Stelle auch sagen – beheben diese wirklich guten Anträge – wir haben ihnen ja zugestimmt – leider nicht die zentralen Fehler des Gesetzentwurfs. Es geht weiterhin nur um Triage-Situationen, die aufgrund einer Infektion entstehen. Triage-Situationen, die durch Naturkatastrophen, Krieg oder Terroranschläge entstehen, bleiben ungeregelt. Hier besteht doch aus meiner Sicht genauso die Gefahr einer Diskriminierung. Deswegen hätte man das logischerweise mitregeln müssen, meine Damen und Herren.
Der nächste Mangel ist, dass der Entwurf zwar Vorschriften wie Melde- und Dokumentationspflicht, Mehraugenprinzip oder Facharzterfordernis enthält, aber keine Sanktionen. Das Infektionsschutzgesetz enthält ansonsten sehr viele Bußgeld- und Gefängnisstrafen. Ich nenne mal ein Beispiel: Nach § 73 Infektionsschutzgesetz wird ein Arzt, der den Verdacht einer Erkrankung mit Masern nicht richtig meldet, mit einer Geldbuße von bis zu 25 000 Euro bestraft. Aber bei der Triage, bei der es um Leben oder Tod geht, soll es keinerlei Sanktionen geben. Das verstehe ich nicht, und das verstehen auch die Betroffenen nicht.
Ein Letztes. Zur Aus- und Weiterbildung des medizinischen Personals vertrösten Sie uns im Begründungsteil auf später. Ich frage mich tatsächlich, warum der gerade vorliegende Referentenentwurf bei der aktuellen Überarbeitung der Approbationsordnung die sogenannten „behinderungsspezifischen Besonderheiten“ nicht, wie vom Verfassungsgericht gefordert, aufgenommen hat.
Meine Damen und Herren, unter diesen Voraussetzungen und auch wegen der mangelnden Beteiligung der Betroffenen können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Vielen Dank fürs Zuhören.
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Die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Dusel! Heute beschließen wir ein Gesetz, von dem wir alle hoffen, dass es niemals zur Anwendung kommt, ein Gesetz, das im Übrigen nur für eine ganz spezielle Situation im Rahmen von Pandemien gilt.
Die Klage von Menschen mit Behinderung vor dem Bundesverfassungsgericht hat bereits viel Wichtiges in Gang gesetzt. Die Debatte um ein diskriminierungsfreies Gesundheitswesen ist nicht nur eröffnet, sie trägt bereits Früchte.
Worum geht es heute konkret? Wenn zwei Personen zugleich in die Notaufnahme kommen und nur ein Intensivbett zur Verfügung steht: Wer bekommt es? Wie wird entschieden? Das ist ein ethisches Dilemma. Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun beauftragt, genau hierzu ein Gesetz zu erlassen, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schwierig. Es gilt nun im Wesentlichen das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit, ergänzt durch zahlreiche prozedurale Sicherungsmechanismen, damit eben nicht zulasten von alten Menschen, von Menschen mit Behinderung entschieden wird. Dieses Kriterium hat im Übrigen das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vorgeschlagen.
Infolge der Anhörung haben wir einige sehr wichtige Änderungen vorgenommen. Es wird nun klargestellt, dass eine Triage nur dann erfolgen darf, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft und das Kleeblattprinzip angewendet wurden. Käme es zu einer Zuteilungsentscheidung, muss diese dokumentiert und gemeldet werden. Das sorgt für Transparenz. Es wird klargestellt, dass bei dem Ausschluss der Ex-post-Triage Therapiezieländerungen selbstverständlich möglich bleiben.
Zudem – das halte ich für absolut entscheidend – haben wir beschlossen, dass dieses Gesetz evaluiert wird. Es soll überprüft werden, ob das Gesetz und das Kriterium zur Beurteilung der Zuteilungsentscheidung auch über den Fall der Zuteilungsentscheidung hinaus erstens womöglich mittelbar zur Diskriminierung führt und zweitens im medizinischen Alltag sinnvoll und praktikabel ist. Wenn das Ergebnis vorliegt, muss entschieden werden, inwieweit das Gesetz überarbeitet werden muss.
Ist es nun mit dem heutigen Beschluss getan? Nein, wir wollen grundsätzlich zu einem inklusiven barrierefreien Gesundheitswesen kommen. Darum wird dafür ein Aktionsplan entwickelt werden. Darin soll im Übrigen auch die Vor-Triage, besonders in Pflegeheimen, ehrlich thematisiert werden.
Quintessenz: Im besten Fall beschließen wir heute ein Gesetz, das niemals angewendet werden muss, und geben den Startschuss für einen gemeinsamen Weg zu einem Gesundheitssystem, in dem alle Menschen die Hilfe finden, die sie benötigen.
Vielen Dank.
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Martin Sichert spricht jetzt für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihr Gesetz kostet Menschenleben. Dass Sie weiter an diesem Gesetz festhalten, obwohl nicht nur wir, sondern auch zahlreiche renommierte Institutionen wie die Bundesärztekammer oder das Max-Planck-Institut seit Wochen warnen, sagt viel über Sie aus.
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Es geht Ihnen nicht um Menschenleben, sondern nur um die Durchsetzung von bürokratischer Kontrolle. Mit dem Verbot der Ex-post-Triage blockieren Sie den gesunden Fachverstand der Ärzte und ersetzen ihn durch eine bürokratische, lebensfeindliche Regelung.
Angenommen, alle Intensivbetten sind belegt, und in einem Bett liegt ein 100-jähriger Mann ohne großen Lebenswillen, bei dem man absehen kann, dass er höchstwahrscheinlich sterben wird. Nun kommt eine 25-jährige alleinerziehende Mutter, die eine 99-prozentige Überlebenschance hat, wenn sie behandelt wird. Bisher hätte der Arzt mit dem 100‑Jährigen oder dessen Angehörigen gesprochen, um zu erreichen, dass dieser auf die Palliativstation verlegt wird und das Intensivbett frei wird.
({1})
Nach Ihrer Regelung läuft der Arzt nun Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden. Ihre Regelung tötet die junge alleinerziehende Mutter. Ihre Politik kostet Menschenleben und macht Kinder zu Waisen.
({2})
Das ist völliger Wahnsinn. Aber der Wahnsinn ist bei Ihnen ja Programm.
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Dieses Gesetz ist Ausdruck tiefen Misstrauens gegenüber den Ärzten.
({4})
Sie wollen den Ärzten mit bürokratischen Regeln die Möglichkeit nehmen, zum Wohl der Patienten zu entscheiden. Und dieses Gesetz ist kein Einzelfall. Es ist Ausdruck des allgemeinen Misstrauens der Regierung gegenüber jedem Bürger.
({5})
Entscheidungsfreiheit und gesunder Menschenverstand sind für Sie ein Horror, weil Sie das nicht kontrollieren können. So wie jede zwischenmenschliche Beziehung in die Brüche geht, wenn einer der Partner einen Kontrollwahn entwickelt, so machen Sie mit Ihrem Kontrollwahn die Beziehung von Bürgern und Staat zu einer toxischen Beziehung.
({6})
Mit der Verschärfung des § 130 StGB verbieten Sie den Bürgern, über Kriegsverbrechen zu sprechen, obwohl das der Menschenrechtskonvention widerspricht.
({7})
Mit den Coronaimpfpflichten nötigen Sie die Menschen zur Teilnahme an einem medizinischen Experiment, obwohl auch das der Menschenrechtskonvention widerspricht. Sie träumen davon, mit Vermögensabgabe, Lastenausgleich und Bürgergeld den erfolgreichen Bürgern das Geld wegzunehmen
({8})
und alle Bürger vom Staat abhängig zu machen. Diese Bundesregierung ist der Inbegriff des übergriffigen Staates.
({9})
Ihre Politik kostet die Menschen Wohlstand, Freiheit und sogar ihr Leben, wie beim vorliegenden Gesetzentwurf. Aber das ist Ihnen vollkommen egal, solange es Ihrem Ziel dient, die Menschen kontrollieren und überwachen zu können. Nicht die erfolgreichen Bürger, die Sie von der Regierung und den Linken so gern bekämpfen, sind das Problem der Gesellschaft. Das Problem sind die Bürokraten, die in ihrem Kontroll- und Regulierungswahn jegliche Freiheit, Vernunft und Wettbewerbsfähigkeit im Keim ersticken. Weil Sie Meinungsfreiheit hassen, wollen Sie alles zensieren, was nicht in Ihr Weltbild passt, und hetzen dazu sogar gegen Ausländer wie Elon Musk.
({10})
Um es klar zu sagen: Den sozialen Frieden in Deutschland gefährdet nicht die Meinungsfreiheit oder Elon Musk, den sozialen Frieden in Deutschland gefährden Olaf Scholz und die Bundesregierung.
({11})
Ich bin Vertreter der AfD. Unser Weltbild ist das eines Staates, der den Bürgern vertraut,
({12})
eines Staates, der den Menschen Eigenverantwortung, Freiheit und Wohlstand ermöglichen will.
({13})
Dass das den Grünen nicht passt, ist schon klar.
({14})
Wir werden dieses Gesetz ablehnen, weil es vom Geist eines übergriffigen Staates geprägt ist.
({15})
Deswegen können wir nicht zustimmen. Wir hoffen, dass Sie endlich mal davon wegkommen,
({16})
die Bürger ständig bis ins Letzte kontrollieren zu wollen.
Vielen Dank.
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Katrin Helling-Plahr spricht jetzt zu uns für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder Mensch, wir alle haben Vorurteile, negative und positive. Wir stecken die Welt um uns herum in Schubladen, denken in Stereotypen, bewusst, gerade aber auch unbewusst. Wir können uns nicht davon frei machen, dass solche Mechanismen unsere Gedanken, Entscheidungen und Handlungen beeinflussen.
({0})
Auch wenn wir die beste Absicht haben, vollkommen diskriminierungsfrei zu agieren, kann das passieren.
Im höchsten Maße problematisch ist eine unbewusste Stereotypisierung selbstredend dann, wenn sie die Entscheidung über Leben und Tod beeinflusst, wenn bei einer Entscheidung über die Zuteilung begrenzter intensivmedizinischer Ressourcen aufgrund falscher Annahmen falsche Schlüsse gezogen werden. Diese Gefahr bestünde derzeit, so hat es das Bundesverfassungsgericht festgestellt, bei einer pandemiebedingten Triage zum Nachteil von Menschen mit Behinderungen und Komorbiditäten. Erfreulicherweise musste eine solche Triageentscheidung in der Vergangenheit nicht getroffen werden. Und wir werden als Politik natürlich alles daransetzen, dass das auch in Zukunft nicht der Fall sein wird. Dennoch hat uns das Bundesverfassungsgericht absolut zu Recht aufgefordert, für künftige Pandemiesituationen vorzubauen, unserer Schutzpflicht gerecht zu werden und Diskriminierungsrisiken zu minimieren.
Gegen unbewusste Stereotypisierung hilft, wenn man es besser weiß. Deshalb ist es jede Anstrengung wert, gemeinsam mit der Ärzteschaft darüber zu sprechen, wie Aus-, Fort- und Weiterbildung mit Blick auf Fachwissen insbesondere zu behinderungsspezifischen Besonderheiten zu optimieren sind.
({1})
Darüber hinaus werden wir unserer Verantwortung als Gesetzgeber gerecht, indem wir im Infektionsschutzgesetz konkrete Verfahrensvorgaben für den hoffentlich nie realen Fall der Fälle machen – im Infektionsschutzgesetz, Herr Kollege Hüppe, übrigens deshalb, weil wir uns als seriöser Gesetzgeber in einem föderalen Rechtsstaat selbstverständlich im Rahmen unserer Gesetzgebungskompetenz bewegen. Das bedeutet nicht, dass unsere Entscheidungen nicht auch in andere Bereiche ausstrahlen können.
Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass eine Triageentscheidung gefällt werden muss, dann ist es richtig, dass anhand der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. Dieses Kriterium hat das Bundesverfassungsgericht explizit als grundgesetzkonformes Kriterium genannt. Nur dieses Kriterium löst den nur vordergründigen Widerspruch auf, dass einerseits ein Leben genauso viel wert ist wie das andere, dass wir Leben weder bewerten können noch wollen, dass wir aber andererseits so viele Menschenleben retten möchten, wie es eben geht.
({2})
Richtig zur Absicherung für alle Beteiligten ist dann auch, dass, wenn es dazu kommt, qualifizierte Ärzte nach dem Vieraugenprinzip entscheiden müssen und bei Begleiterkrankungen oder Behinderungen zudem noch ein fachlich insoweit besonders versierter Mediziner hinzugezogen werden muss.
Wichtig war und ist mir aber auch, dass wir von Ärztinnen und Ärzten nichts Unmögliches verlangen, dass sie dann, wenn zwei Rettungspflichten kollidieren und sie tatsächlich nur eine erfüllen können, sicher sein können, dass sie sich auch künftig nicht strafbar machen. „Rechtfertigende Pflichtenkollision“ nennt sich das in der Rechtssprache. Die Lage ist für Ärztinnen und Ärzte, die in solche Situationen geraten und solche Entscheidungen treffen müssen, hart genug. Da müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, nicht auch noch mit neuen, kleinstteiligen Sanktionsregeln hinterhergehen und den Ärzten zusätzlich drohen. Unser Strafgesetzbuch haben wir bereits.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, das heute hier im Entwurf vorliegende Gesetz ist ein gutes Gesetz. Es sind nun einmal ethisch höchst schwierige Abwägungsfragen, denen wir uns zu stellen hatten und die wir entschieden haben. Das haben wir sehr verantwortlich getan, und – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, da kann ich Ihre Kritik überhaupt nicht nachvollziehen – das haben wir angesichts der Gewichtigkeit der Thematik auch äußerst zügig getan. Es wäre absolut unverantwortlich gewesen, solche Fragen mal eben hopplahopp, mir nichts, dir nichts, irgendwie abzuhaken. Bei einer solch gewichtigen Fragestellung im Kontext von Leben und Tod ist, wie ich finde, wirklich Demut angezeigt. Es ist deshalb richtig, dass wir eine umfassende Evaluation unserer Regelung und ihrer Auswirkung explizit vorgesehen haben, die auch dann stattfindet, wenn das Gesetz gar nicht zur Anwendung kommt; denn das ist und bleibt unser vorderstes Ziel.
Vielen Dank.
({4})
Sören Pellmann spricht für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im heute vorliegenden weltweit ersten Triagegesetz geht es um Leben und Tod, um gesellschaftliche Grundfeste und den Umgang mit den vermeintlich Schwächeren unserer Gesellschaft.
Vorab: Wir müssen das Bundesverfassungsgericht und den notwendigen Schutz des Lebens von Menschen mit Behinderungen sehr ernst nehmen.
({0})
Aber statt fraktionsübergreifend und ohne Zwänge wie zum Beispiel bei der Sterbehilfe oder der Pränataldiagnostik mit breitem gesellschaftlichem Diskurs Lösungen zu finden, peitschen Sie dieses Gesetz heute durch.
({1})
Es gibt Mängel wie das Fehlen einer spezifischen Weiterbildung, externer und unabhängiger Kontrollinstanzen sowie unabhängiger, öffentlicher, barrierefreier Beratungsangebote, Beschwerdestellen und, und, und. All das fehlt. Das zeigt eines: Die umfassende Beteiligung vielfältiger Akteure wäre deutlich wichtiger gewesen.
({2})
Ein Alarmsignal ist aber, wenn die Beauftragten für Menschen mit Behinderungen des Bundes sowie der Länder – Herr Dusel, schön, dass Sie heute hier sind – vor der Sitzung ein gemeinsames Statement abgegeben haben. Darin heißt es:
Aus Sicht der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern hat die Anhörung deutlich gemacht, dass es schwerwiegende Diskriminierungsrisiken … gibt. Insbesondere die Einlassung des Vertreters der Bundesärztekammer, nach der die Abwägung der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nach medizinischen Kriterien fast unmöglich sei, führt zu erheblichen Bedenken.
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Menschen mit Behinderung nennen dieses Gesetz deswegen „Selektionsgesetz“, da die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit ein ungeeignetes Kriterium sei. Sie meinen weiter, mathematisch sollten mehr Leben gerettet werden, aber das Gesetz opfere die von der Mitte als schwach Angesehenen. Zahlreiche prominente Menschen mit Behinderung sehen dieses Prinzip daher als „survival of the fittest“.
Heute ist auf der Tribüne eine der Klägerinnen in Karlsruhe, Carola Nacke, anwesend. Sie hat einen Sohn mit dem Downsyndrom. Auf meine Frage an sie, wie sie diesen Gesetzentwurf einschätzt, sagte sie sehr deutlich – ich zitiere sie –:
Die subjektive Beurteilung der Überlebenschance führt zur Aussortierung. Damit mehr Menschen gerettet werden können, werden die Schwächsten von der Mitte der Gesellschaft geopfert. In unserer Verfassung ist jedes Leben aber gleich viel wert. Dieses Gesetz ist ein Zivilisationsbruch!
({4})
Für Die Linke gibt es viele unterschiedliche Gründe, heute dieses Gesetz abzulehnen. Es ist auf verschiedenen Ebenen mangelhaft. Lassen Sie uns diesen Entwurf heute ablehnen und mit dem breiten Diskurs neu beginnen. Dabei muss auch eine Lösung für das Problem gefunden werden, das insbesondere während der Coronapandemie zuhauf aufgetreten ist, nämlich dass Menschen gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht werden.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss mit einem Zitat von Gustav Heinemann, das Carola Nacke gern verwendet: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Es geht für uns alle um das Wichtigste: um unser Leben.
Vielen Dank.
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Martina Stamm-Fibich hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Triage stellt uns vor eine existenzielle Frage: Wie soll im Krankenhaus während einer Pandemie darüber entschieden werden, wer leben darf und wer sterben muss, wenn nicht alle gerettet werden können? Corona hat uns eindrücklich gezeigt: Niemand, der hier im Raum sitzt, kann sich darauf verlassen, dass sein Leben nicht irgendwann gegen das Leben eines anderen Menschen steht.
Deshalb ist es so wichtig, dass für die Zuteilung von knappen lebensrettenden medizinischen Ressourcen verlässliche Kriterien gelten. Und genau wie Sie erwarte auch ich, dass diese Zuteilungskriterien niemanden aufgrund einer Behinderung, des Alters, der Herkunft oder anderer Faktoren diskriminieren.
Dieses Recht auf Gleichbehandlung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Triageurteil explizit hervorgehoben, und deshalb gießen wir es jetzt in ein Gesetz. Gleichzeitig haben die Karlsruher Richterinnen und Richter aber auch ausgeführt, dass der Gesetzgeber dort, wo nicht alle gerettet werden können, darauf hinwirken darf, dass möglichst viele Menschen gerettet werden.
Die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit als Kriterium für die Triage vereint beide der genannten Aspekte: den Schutz vor Diskriminierung und das Ziel, möglichst viele Menschen zu retten.
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Es ist deshalb aus meiner Sicht das einzige geeignete Entscheidungskriterium. Eine Auswahl per Zufallsprinzip, wie von manchen gefordert, wäre zwar in der Theorie gerecht, hätte aber zur Folge, dass insgesamt weniger Menschen gerettet werden können. Dies kann und darf nicht unser Handlungsansatz sein.
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Die Einführung des Vieraugenprinzips sowie weitreichende Dokumentations- und Meldepflichten stellen sicher, dass es bei der Einschätzung über die kurzfristige Überlebenschance nicht zur Diskriminierung bestimmter Gruppen kommt. Damit greifen wir die Argumente aus der breiten zivilgesellschaftlichen Debatte auf und folgen der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, Sicherungsmechanismen für die Triage einzuführen. Der Ausschluss der Ex-post-Triage unterstreicht, dass wir eben gerade nicht taub gegenüber zivilgesellschaftlichen Einwänden sind; auch wenn andere Parteien dies gerne suggerieren, sind wir das nicht.
Abschließend möchte ich an Sie alle appellieren – auch wenn wir alle hoffen, dass dieses Gesetz niemals zur Anwendung kommt –: Bitte stimmen Sie für dieses Gesetz; denn es ist aus den dargelegten Gründen die beste Handhabe für ein Dilemma, das niemals zur Zufriedenheit aller aufgelöst werden kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Erich Irlstorfer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Satz zu Ihrer Rede, Herr Sichert. Sie lassen mich sehr erstaunt zurück. Ich habe Ihre heutigen Ausführungen – in aller Sachlichkeit – eigentlich als unerträglich empfunden.
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Ich möchte mit einer Grundsätzlichkeit beginnen: Behindertes Leben ist genauso viel wert wie nicht behindertes Leben. Das Ganze kann sich im Leben verändern: Man kommt gesund auf die Welt und wird im Alter, durch einen Unfall, durch eine Situation behindert oder schwerbehindert. Uns alle kann das treffen. Trotzdem ist das wertvolles Leben – genauso wie ungeborenes Leben.
Triageentscheidungen gehören zu den schwersten medizinischen und pflegerischen Situationen, die auf ein behandelndes Team zukommen können. Ich sehe das wie Minister Lauterbach: Wir haben während dieser Pandemie von unseren Leuten, die in diesen Bereichen tätig sind, etwas erlebt, von dem man wirklich sagen muss: Es hat gut geklappt. Man hat in einem Akt der Solidarität zusammengearbeitet, etwa mit Verlegungen. Dieses Land ist stark, und wenn es darauf ankommt, hält man zusammen. Von daher ein herzliches „Vergelts Gott!“ für diese handelnden Personen!
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Aus diesem Grund braucht es nicht nur klare und strukturierte Regelungen, sondern auch eine vollumfängliche Betrachtung und Diskussion dieser komplexen Thematik. Hubert Hüppe hat einige Dinge dazu gesagt, die ich teile. Ja, man hätte bei der Einbindung sensibler vorgehen können; das ist vollkommen klar. Dass wir in die Aus-, Fort- und Weiterbildung laufend investieren müssen, damit die Leute im medizinischen Bereich gut vorbereitet sind, ist, glaube ich, wichtig.
Glücklicherweise haben wir es in Deutschland bisher noch nicht anwenden müssen; in anderen Ländern war das notwendig. Ich habe größten Respekt, wie man hier vorgegangen ist.
Erlauben Sie mir zum Abschluss einen Hinweis, der mir als praktizierender Christ wichtig ist. Bei all diesen Entscheidungen sollten wir nicht vergessen, dass wir als Werkzeug in Medizin und Pflege zwar immer pro Leben, Heilung und Linderung arbeiten – das ist unser Ansatz –, aber dass wir die Dinge nicht immer in der Hand haben. Der Herrgott entscheidet hier natürlich mit. Deshalb, glaube ich, ist es wichtig, dass wir in Demut und mit dem Wissen, dass wir nicht Herrscher über Leben und Tod sind, heute eine Entscheidung treffen.
Frau Kappert-Gonther hat es angesprochen: Das ist der Auftakt. – Wir als Union werden uns bei der Entstehung dieses Aktionsplans, wenn wir eingebunden werden, sicher auch beteiligen.
Herr Kollege?
Bitte?
Sie sollten geglaubt haben, dass die Redezeit jetzt um ist.
Entschuldigung! Ich bin mit meiner Rede auch fertig. – Ich glaube, wir können dankbar und froh sein, dass wir es nicht anwenden mussten, und können nur hoffen, dass das auch so bleibt.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist Dr. Till Steffen für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Thema – das sage ich gerade auch aus der rechtspolitischen Perspektive – führt das Recht an seine Grenzen. Es ist ein Thema, wo das Recht das, was es ansonsten leistet – zu sagen, was gut und was falsch ist –, nur begrenzt leisten kann. Denn wir haben hier Ärztinnen und Ärzte in einer Ausnahmesituation, die die Wahl haben zwischen zwei Entscheidungen, die beide falsch sind, die beide nicht richtig sein können. Das macht die Entscheidung und die Debatte darüber sehr schwer.
Ich bin deswegen sehr froh, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Rednerinnen und Redner hier den angemessenen Ton gefunden hat. Denn, ich glaube, es ist ganz falsch, hier mit Schuldzuweisungen auf der persönlichen Ebene zu arbeiten. Alle, die ich in diesem Prozess erlebt habe, habe ich in einem harten Ringen erlebt, hier zu einer richtigen Antwort zu kommen.
In dieser Kollision hat das Recht bislang gesagt: Da halten wir uns raus. – So ist das Bundesverfassungsgericht auch in anderen Situationen vorgegangen; das Luftsicherheitsgesetz ist hier ja immer wieder angeführt worden. Es hat gesagt: Ein Gesetz, das darüber entscheidet, ob das eine oder das andere Leben, das bei der Kollision zweier Flugzeuge in Rede steht, gerettet werden soll, kann es nicht geben. – Das ist einfach für das Recht und den Gesetzgeber, aber schwer für die Ärztinnen und Ärzte. Das würde, wie es das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, zum Einfallstor für mögliche Diskriminierung.
Es ist herausgearbeitet worden, dass die Kriterien, die praktisch zur Anwendung kamen, zwar ihre Berechtigung hatten, gleichzeitig aber auch große Möglichkeiten für eine potenzielle Diskriminierung boten, weil auf die langfristige Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt wurde, sodass dieser Gedanke „Diese Person ist behindert und hat deswegen ohnehin nicht so lange zu leben wie eine andere Person“ Raum bekäme. Genau da hat das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber gesagt: So kann es nicht bleiben. Ihr müsst euch entscheiden.
Die Entscheidung wird dadurch nicht einfach, aber wir müssen uns entscheiden; wir müssen ein geeignetes Kriterium finden. Ich bin der Überzeugung, dass wir ein gutes Kriterium gefunden haben, weil wir es wirklich strikt begrenzen auf die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit. Das ist viel stärker objektivierbar, und gleichwohl kann es Situationen geben, wo auch dieses Kriterium zu keiner klaren Entscheidung führt, weswegen wir dafür geworben hatten, auch andere Kriterien in diesem Prozess mit unterzubringen.
Ich will, genauso wie alle anderen, damit enden, zu sagen: Wir verabschieden heute dieses Gesetz, weil das Gericht das von uns verlangt, in der Hoffnung, dass es nie zur Anwendung kommt, aber mit dem Versprechen, dass dieses Thema damit nicht vom Tisch ist. Erstens gibt es auch noch andere Bereiche, wo Triage-Situationen auftreten können, und zweitens muss das breite Thema der Vortriage noch weiterhin betrachtet werden. Deswegen wird dieses Thema für uns aktuell bleiben.
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Diana Stöcker spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 24. Februar stellt eine Zäsur dar. Wir erleben Krieg in Europa, Terroranschläge auf wichtige Infrastrukturen, und die Menschen in Deutschland machen sich Gedanken über einen Blackout. Würde das Bundesverfassungsgericht jetzt ein Urteil fällen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage, käme deutlich klarer zum Ausdruck, dass der Auftrag an die Politik lautet, umfassende Vorsorge zu treffen für Menschen mit Behinderung – Vorsorge nicht nur in einer Pandemiesituation, sondern auch bei Großschadensereignissen, Naturkatastrophen und Terroranschlägen jeglicher Art.
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Genau das ist Auftrag der Politik und einer sorgenden Regierung – Ihrer Regierung –, nämlich Aufträge im Spiegel der Zeit zu sehen und zu bedenken, welche Wirkungen und Gefahren eine solche Zeitenwende für die soziale Infrastruktur und die medizinische Versorgung von Menschen hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte Sie sogar explizit dazu aufgefordert – ich zitiere –: Dem Gesetzgeber steht bei der Regelung grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. – Deshalb greift unserer Fraktion dieser Gesetzentwurf zu kurz. Deshalb haben wir einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt, der auf wichtige ungeklärte Fragestellungen hinweist.
Wir erkennen an, dass Sie Kritikpunkte von uns in Ihren Entwurf aufgenommen haben, wie Meldepflicht und Evaluation, um Transparenz und vor allen Dingen auch Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte zu schaffen. Aber es fehlt die Klärung von Ex-post-Triage. Ebenso fehlt die Aufnahme behinderungsspezifischer Besonderheiten und Auswirkungen auf die komplexe ethische Fragestellung der Triage in die Aus- und Weiterbildung in medizinischen und pflegerischen Berufen. Auch die Frage der Diskriminierung vor der eigentlichen Triage, also der Triage vor der Triage, ist nicht im Entwurf enthalten. Menschen, die in Pflegeeinrichtungen und besonderen Wohnformen leben, dürfen nicht ohne Betrachtung der einzelnen Personen von einer Krankenhausaufnahme ausgeschlossen werden, um Betten im Krankenhaus frei zu halten.
Angesichts des langen Bearbeitungszeitraums hätten die Menschen mit Behinderung erwarten können, dass Sie auch für diese existenzielle Situation eine klare, eindeutige Vorsorge treffen, um Benachteiligung und Diskriminierung zu verhindern. Das hätten Ihnen auch die Behindertenverbände gesagt, wenn Sie sie denn eingebunden hätten.
Sie haben bereits in der Debatte gesagt, das sei jetzt nur ein erster Baustein, Sie würden nachsteuern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, wie viel Zeit wollen Sie sich noch lassen? Warum machen Sie es nicht gleich richtig, greifen unsere Kritikpunkte auf und legen einen weitsichtigen Gesetzentwurf vor?
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Jetzt spricht Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Jürgen Dusel, an dieser Stelle auch einen herzlichen Dank für die konstruktive Begleitung des Gesamtprozesses. Damit will ich auch direkt sehr deutlich machen: Natürlich waren sowohl die Behindertenbeauftragten wie die Verbände der Menschen mit Behinderungen eingebunden. Wir machen kein Gesetz, bei dem wir die Leute nicht einbinden. Auch in der Anhörung sind sie ausführlich und ausreichend zu Wort gekommen.
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Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Es ist ein extrem schwieriger Prozess gewesen. Wir haben uns das nicht leicht gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine schwere Aufgabe auf den Tisch gelegt; es hat aber auch gesagt, dass wir diese Aufgabe – und die Kollegin von der FDP hat das schon angesprochen – zügig lösen sollen. Genau das haben wir getan: Wir haben diese Aufgabe der Schwere angemessen miteinander diskutiert. Wir haben mit den Angesprochenen diskutiert und natürlich auch mit den Ärztinnen und Ärzten. Wir haben jetzt eine Entscheidung getroffen, und es ist eine gute Entscheidung, weil sie ganz sicher Diskriminierung deutlich verhindert in diesem hoffentlich nie eintretenden Fall.
Und: Wir haben eine Klarstellung zur Ex-post-Triage; das will ich noch mal sehr deutlich sagen. Die Klarstellung ist nämlich, dass sie nicht stattfinden darf.
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An dieser Stelle muss ich wenigstens an einem Punkt etwas deutlich machen – ansonsten will ich mich an dem mal wieder von jeglicher Fach- und Sachkenntnis ungetrübten Vortrag des AfD-Vertreters nicht weiter abarbeiten –: Das, was er hier als Beispiel genannt hat, ist nun gerade keine Frage der Ex-post-Triage, sondern das ist eine Frage der Therapiezieländerung.
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Eigentlich – damit es auch jeder versteht – haben wir das in einem unserer Änderungsanträge im Ausschuss auch noch mal deutlich gemacht. Ich will zu dem Beispiel noch mal sagen: Wenn der entsprechende Intensivmediziner oder die Intensivmedizinerin nicht vorher schon, und zwar unabhängig von einer Triage-Situation, mit dem Patienten und mit den Angehörigen über eine Therapiezieländerung gesprochen hätte, dann hätte er oder sie sich aus meiner Sicht an der Stelle ziemlich schrecklich danebenbenommen; denn diese Therapiezieländerung hat nichts mit einer Triage-Situation, sondern etwas mit der Situation des angesprochenen Hundertjährigen zu tun. Darauf muss ein Mediziner reagieren, und das wird er auch.
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Insofern ist das völlig klargestellt. Da muss niemand Angst und Sorgen haben.
Ich will an der Stelle auch noch mal ausdrücklich meiner Kollegin Kirsten Kappert-Gonther danken, die hier angesprochen hat, dass wir – das wurde schon mehrfach gesagt; ich glaube, beim letzten Vortrag ging es um eine umfassende Vorsorge – insgesamt einen Aktionsplan brauchen; das haben wir sogar schon im Koalitionsvertrag ins Auge gefasst. Wir müssen die Inklusion, die Frage eines inklusiven, gerade auf die Belange der Menschen mit Behinderungen achtenden Gesundheitssystems in den Blick nehmen, und dafür brauchen wir Lösungen. Das gilt für alle Bereiche.
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Natürlich gibt es dabei auch die Möglichkeit – und nicht nur die Möglichkeit, sondern den Wunsch –, all die Fragen, die wir in diesem schnellen und vom Gericht ausdrücklich verlangten, auch sehr konzentrierten Prozess noch nicht lösen konnten, anzugehen und mit zu betrachten. Viele Fragen sind bereits ausführlich angesprochen worden.
Herr Kollege Hüppe und die CDU/CSU-Fraktion insgesamt: Selbstverständlich laden wir Sie herzlich dazu ein, an diesem Plan mitzuarbeiten. Ich bin mir ganz sicher, Kollege Irlstorfer: Wir finden gemeinsam einen guten Weg, wie wir ein inklusives Gesundheitssystem auf die Beine stellen und dafür sorgen, dass ganz viele Punkte gelöst werden, übrigens auch viele Punkte, die die ganz klassische Barrierefreiheit betreffen. Da brauchen wir noch ganz viele Lösungen.
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Wir haben ein vernünftiges Gesetz. Wir verhindern Diskriminierung. Wir sorgen damit dafür, dass Leben gerettet wird, dass Entscheidungen möglich sind. Ich bitte Sie in diesem Sinne: Stimmen Sie dem Gesetz zu! Es wird dem gerecht, was das Bundesverfassungsgericht von uns wünscht.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist es natürlich so, dass wir nicht alle vom Straßenverkehr verursachten Umweltprobleme unter der Motorhaube lösen können; denn das Problem des Flächenverbrauchs, der Zerschneidung von Naturräumen für unnötige Straßenprojekte wird nicht dadurch gelöst, dass in Zukunft nur noch Elektroautos über die Straßen rauschen.
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Aber für den Klimaschutz ist die Entscheidung des Europaparlaments, den Vorschlag der Kommission anzunehmen, damit ab 2035 eben nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden, ein Riesenerfolg, weil es einfach unabdingbar ist, dass wir für Klimaneutralität auch den Verkehr CO2-neutral gestalten.
({1})
Das ist nicht nur für den Klimaschutz ein Riesenschritt, sondern eben auch ein großer Beitrag zur Luftreinhaltung. Auch wenn wir in den deutschen Städten die geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe einhalten, ist es nach wie vor so, dass es aufgrund der Luftschadstoffe zu jeder Menge vorzeitiger Todesfälle kommt. Deswegen begrüßen wir Grüne es ausdrücklich, dass die Kommission die Grenzwerte für Luftschadstoffe an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation anpassen möchte.
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Nun zu den Anträgen der Union und der AfD. Ich habe es Ihnen schon einmal erklärt, und ich erkläre es Ihnen gerne wieder: Sie dürfen hier natürlich beantragen, was Sie möchten.
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Aber Sie können mit Ihren Anträgen physikalische Gesetzmäßigkeiten nicht einfach außer Kraft setzen. Das ist einfach so.
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Für die Produktion von E‑Fuels brauchen Sie gigantische Mengen Energie, die Sie damit zerstören. Das heißt, E‑Fuels sind einfach ineffizient. Oder anders gesagt: E‑Fuels sind der Champagner unter den Energieträgern, und den Champagner säuft man halt einfach nicht für den Durst.
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Frau Kollegin – –
Den brauchen wir ganz dringend für Bereiche, in denen wir Fahrzeuge nicht mit Elektroantrieben ausstatten können, für den Luftverkehr, für die Schifffahrt, aber nicht für den Straßenverkehr.
({0})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von der AfD zulassen?
Nein.
({0})
Wir brauchen die E‑Fuels also für bestimmte Bereiche; aber sie sind einfach nicht effizient. Auch die Automobilindustrie hat das erkannt: Es macht betriebswirtschaftlich einfach keinen Sinn, auf Dauer zwei Antriebstechnologien fortzuentwickeln, weshalb viele Autohersteller schon von sich aus angekündigt haben, dass sie aus der Verbrennertechnologie aussteigen. Deswegen ist die Entscheidung der Europäischen Kommission eben auch eine Entscheidung für Investitionssicherheit für unsere Automobilindustrie. Deswegen sind die Anträge der Union und der AfD abzulehnen.
Vielen Dank.
({1})
Christian Hirte hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben gerade mehrfach gehört, wie wichtig es den Grünen ist, sich um das Klima zu kümmern.
({0})
198‑mal taucht dieses Wort in Ihrem Koalitionsvertrag auf; Sie reden auch jetzt davon. Aber die Frage ist, was Sie praktisch erreichen. Das schauen wir uns doch einmal an: Wie sind denn die Ergebnisse von einem Jahr Ihrer Regierung, von einem Jahr Koalitionspolitik im Bereich des Klimas, auch und gerade bei den Sektorzielen? Schauen Sie sich einmal an, was im Verkehrsbereich erreicht wurde! Praktisch nichts.
Wenn Sie auf naturwissenschaftliche Gegebenheiten verweisen, dann empfehle ich, doch einmal zu sehen, wie es wirklich darum bestellt ist. Bei einem Elektroauto sind die lokalen CO2-Emissionen null, ja. Aber wo kommt denn der Strom für das Elektroauto in Deutschland her,
({1})
wo unsere nationale Stromerzeugung nach wie vor zu einem hohen Anteil fossil stattfindet und wo Sie verhindern, dass wir auf klimaneutrale Atomtechnologie zurückgreifen, und dafür sorgen, dass wir mehr und mehr Kohle verbrennen?
({2})
Schauen Sie sich doch einmal an, was Sie für die Erreichung der Sektorziele leisten. Im Bereich der Mobilität praktisch nichts!
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Sie beschließen, Sie wollen jetzt bis 2030 15 Millionen Elektroautos. Und ja, Sie unterstützen gemeinsam mit den Kollegen von den Sozialdemokraten und von den Liberalen im Europäischen Parlament den Vorschlag der Kommission, dass es faktisch zum Jahr 2035 ein Verbot der Verbrennungsfahrzeuge gibt. Aber ist das überhaupt sinnvoll? Offenkundig kommen Sie jetzt – da will ich die FDP einmal loben – zu einer anderen Erkenntnis.
({4})
Heute hat mir ein Kollege gesagt, wir würden zu häufig kritisch mit Ihnen sprechen. Der von mir geschätzte Kollege bekommt jetzt einmal ein Lob: Die FDP kritisiert berechtigterweise, dass man sich technologisch verengt, dass man unnötigerweise auf eine einzige Technologie setzt. Ich weiß nicht, warum wir hier im Deutschen Bundestag meinen, besser als die Ingenieure in unserem Land zu wissen, welche Möglichkeiten es gibt, um das Ziel, nämlich klimaneutrale oder klimafreundlichere Mobilität, zu erreichen.
({5})
Sie und auch wir alle sind doch nicht diejenigen, die besser wissen, wie das technologisch funktioniert; das sollten wir denjenigen überlassen, die das professionell betreiben.
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Wir müssen die Rahmenbedingungen setzen, und genau das, meine Damen und Herren, wollen wir als Union unterstützen.
Anders als die Kollegen von der FDP, die viele richtige Punkte in ihrem Antrag ansprechen,
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aber keinen konstruktiven Vorschlag machen, sind wir, liebe Kollegen von den Liberalen, keine Serviceopposition, aber eine konstruktive Opposition.
({8})
Wir machen mit unserem Antrag nämlich ganz konkrete Vorschläge, wie wir beim Klimaschutz mehr erreichen und gleichzeitig im Blick behalten, dass in unserem Land die Automobilindustrie weiterhin einen ganz wesentlichen volkswirtschaftlichen Beitrag für unseren Wohlstand leisten kann – im Übrigen auch nach dem Jahr 2035;
({9})
denn auch dann werden die Verbrenner wahrscheinlich noch eine große Rolle spielen.
({10})
Wie sieht es denn aus mit dem großen Bestand an Verbrennungsfahrzeugen nach 2035 nicht nur in der Welt, sondern auch in Europa? Selbstverständlich werden dann noch Millionen und Abermillionen von Verbrennungsfahrzeugen herumfahren.
({11})
Wie sollen diese klimafreundlich funktionieren, wenn nicht mit E‑Fuels?
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Deswegen sagen wir mit unserem Antrag deutlich: Wir brauchen Möglichkeiten, technologisch offen und nachhaltig etwas für den Klimaschutz zu tun. Schauen Sie sich das noch einmal an! Hören Sie auf die Fachleute! Lassen Sie sich nicht ideologisch verengen! Geben Sie den synthetischen Kraftstoffen, den paraffinischen Kraftstoffen, den Biokraftstoffen eine Chance!
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Machen Sie sich in Bezug auf Batterien und Rohstoffe nicht von nur ganz wenigen Lieferanten abhängig!
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Haben Sie im Blick, dass nur 1 Prozent der Rohstoffe aus Europa kommt! Wenn wir Klimaschutz, technologischen Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg gemeinsam voranbringen wollen, dann helfen Sie uns und stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
({0})
Dunja Kreiser hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass man sich auf europäischer Ebene im Trilogverfahren darauf verständigt hat, dass ab 2035 Autos kein CO2 mehr emittieren dürfen. Die EU-Kommission wird einen Vorschlag für die Zulassung von E-Fuel-Fahrzeugen außerhalb der CO2-Flottengrenzwerte machen. Deutschland hat sich dafür eingesetzt.
CO2-neutrale Kraftstoffe sind Voraussetzung zum Beispiel für Langstreckenflugverkehr, um diesen zu dekarbonisieren. Darum fördert die Bundesregierung massiv die Forschung und Entwicklung in Bezug auf synthetische Kraftstoffe.
Wasserstoff wird im Bereich der Nutzfahrzeugtechnik eingesetzt. Das ist nichts Neues; das wird bereits durchgeführt. In meinem Wahlkreis zum Beispiel hat die Firma Alstom den ersten Wasserstoffzug auf den Weg gebracht, der weltweit erstmals regional zum Einsatz kommt. Darüber freue ich mich. Das ist ganz großartig.
Aber, meine Damen und Herren, klar ist: Allein aus Kostengründen wird im Straßenverkehr ganz überwiegend in E‑Mobilität investiert. Der Wirkungsgrad spielt dabei die entscheidende Rolle. Im vorliegenden Antrag der Union ist von Technologieoffenheit die Rede. Doch die Grenzen der Physik – meine Kollegin hat es gerade erwähnt – sollten wir einfach zur Kenntnis nehmen. Sie werden sich bei aller Forschung und Innovation nicht verändern.
Ich darf Sie daran erinnern: Energie ist wertvoll.
({0})
Ihr Wirtschaftsminister, Herr Altmaier, hat noch im Jahr 2021 allen Ernstes und gegen viele und große Proteste ein Ausbauziel von 382 Terawattstunden bei den Erneuerbaren genannt. Unsere Fortschrittsregierung wird bereits bis zum Ende dieses Jahrzehnts den Anteil der erneuerbaren Energien von derzeit 40 Prozent an der Bruttostromerzeugung auf dann 80 Prozent verdoppeln.
({1})
– Das machen wir und insbesondere mehr als in Bayern.
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Wir haben nicht mehr viel Zeit, um Klimaneutralität zu erreichen. Während Sie hier von Möglichkeiten in ferner Zukunft träumen, machen wir das jetzt.
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Wir brauchen schnelle Lösungen. Wir müssen handeln.
Ich habe als ehrenamtliche Bürgermeisterin gerade erst letzte Woche eine E-Ladesäule in meiner Gemeinde – 1 200 Einwohner – in Betrieb genommen.
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Auch unsere ländlichen Regionen wollen und müssen wir unterstützen. In den letzten Jahren wurde das ganz einfach verpennt.
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Und ja, es gibt sie, die Autos mit Wasserstoffbrennstoffzellen. Aber der deutsche Automobilhersteller, der bei mir vor Ort ansässig ist – VW –, winkt ganz klar ab.
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Zurzeit wird in meinem Wahlkreis eine Gigafactory für Batteriezellenfertigung errichtet. 2 500 Arbeitsplätze werden dort geschaffen. Sehr geehrter Herr Hirte, ich bin und wir sind mit den Ingenieuren in Kontakt. Die wollen ganz einfach Planungssicherheit.
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Einige Hersteller haben Prototypen mit Wasserstoffbrennstoffzellen entwickelt. Doch vieles spricht gegen diesen Weg; denn vor dem Wirkungsgrad stehen noch weitere Probleme, zum Beispiel das Tanken. Da Wasserstoff nicht durch die existierenden Pipelines geleitet werden kann,
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muss der Wasserstoff auf den Straßen transportiert werden, und das ist sehr energielastig. Der Siedepunkt von Wasserstoff liegt bei minus 252 Grad. Für diese Verflüssigung braucht man sehr viel Energie und moderne Kühltechnik. Das kostet natürlich auch entsprechend Energie.
Kommen wir noch einmal konkreter auf die Wirkungsgradproblematik zurück.
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– Sie können einfach mal zuhören. Vielleicht verstehen Sie es dann.
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Die Entwicklung der Akkutechnik schreitet rasant voran. In den letzten Jahren hat sich die Akkukapazität locker verdoppelt.
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Eine geänderte Akkuchemie kann heute Kobalt ersetzen und die Lebensdauer in den Bereich von 1 Million Kilometer erhöhen.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich gibt es großartige Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff. In meinem Wahlkreis befindet sich zum Beispiel die Salzgitter AG. Sie steht vollkommen in der Transformation. Hier kann und muss Wasserstoff eine ganz andere Karriere machen. Auch da gibt es die Möglichkeit, sich zu informieren. Zum Beispiel kann das Gas direkt in der Stahlverhüttung eingesetzt werden. Hier ist das CO2-Einsparpotenzial pro Kilogramm Wasserstoff viel größer als bei den Autos mit Brennstoffzellen. Auch der Wasserstoffcampus in Salzgitter sei hier erwähnt, und die stationäre Brennstoffzellenfertigung von Bosch sei hier genannt; „Sektorenkopplung“ nennt man das.
Wir gestalten die Zukunft und den Fortschritt in meinem Wahlkreis und im gesamten Bundesgebiet. Wir lehnen die Anträge der AfD und der CDU/CSU ab.
Danke.
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Dr. Dirk Spaniel hat jetzt das Wort für die AfD.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Wir reden hier über das von der EU leider beschlossene Ende des Verbrennungsmotors. Unsere Fraktion hält das für einen fatalen Fehler, ja eine tragische Fehlentscheidung. Ich will Ihnen jetzt auch erläutern, warum wir das so sehen.
Selbstverständlich kann man – und das wissen mittlerweile auch alle hier in diesem Parlament – Verbrennungsmotoren klimaneutral betreiben: mit synthetischen Kraftstoffen. Die Debatte um das Ende des Verbrennungsmotors ist immer auch eine Debatte um die synthetischen Kraftstoffe. Die Argumente, die Sie da immer anführen, sind, dass die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen zum einen sehr ineffizient sei und dass die Autohersteller sich zum Zweiten entschieden hätten, auf Elektromobilität zu setzen.
({0})
Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, wie wir das sehen.
Zunächst einmal ist es so, dass die Effizienz der Kraftstoffherstellung für den Kunden, der mit dem Auto fährt, überhaupt keine Rolle spielt. In jedem anderen Land, das kein Energieproblem hat – also jedes Industrieland außer Deutschland –,
({1})
kann man synthetischen Kraftstoff mit Kosten um 1 Euro herstellen. Das bestätigen auch wissenschaftliche Untersuchungen, zu finden in Drucksachen des Deutschen Bundestages. Das heißt, für den Kunden ist das Fahren mit synthetischen Kraftstoffen überhaupt kein Kostenproblem. Sie machen aber das Autofahren für jeden zukünftig zu einem massiven Kostenproblem. Sie sorgen dafür, dass Menschen in unserem Land zukünftig eine private Ladeinfrastruktur brauchen. Damit wird Autofahren nur noch für Funktionäre und Millionäre ermöglicht. Das ist genau das, was Sie wollen.
({2})
Lassen Sie mich mit dem Argument abräumen, die Autohersteller hätten sich gegen Verbrennungsmotoren entschieden. Dabei vergessen Sie immer, was sie tatsächlich sagen. Die Autohersteller sagen überall, dass sie ihre Entscheidung für Europa festgelegt haben, die Verbrennungsmotoren nicht mehr in Europa zu bauen. Das ist eine tragische Entscheidung. Die Produktionsstätten gehen ins Ausland, und das wird für viele Arbeitsplätze in Europa ein Desaster sein. Jetzt komme ich auf den Punkt: Verbrennungsmotoren werden nämlich überall auf der Welt weiter produziert und weiter verwendet. Das geht so weit, dass der Industriekommissar der Europäischen Union hingegangen ist und – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – die Autohersteller aufgefordert hat, auch zukünftig „Autos mit Verbrennungsmotor“ in Europa zu bauen. Ja, was wollen Sie denn noch hören? Sogar die EU sagt das, und ausnahmsweise stimmen wir mal mit der EU überein.
({3})
Das heißt, das, was Sie hier machen, ist eine Schädigung der deutschen Industrie, eine Schädigung der deutschen Arbeitnehmer. Die Arbeitsplatzverluste, die daraus resultieren – das hören wir jetzt überall –, sind das Ergebnis Ihrer Politik.
({4})
Das Ganze ist deshalb überaus tragisch, weil wir hier in diesem Parlament – also ab der FDP – Parteien haben, die den Verbrennungsmotor tatsächlich erhalten wollen. Wir könnten uns in diesem Parlament entscheiden, den Verbrennungsmotor weiter existieren zu lassen,
({5})
meinetwegen klimaneutral. Aber leider ist hier eine Fraktion in einer Koalition gebunden, die sich daran beteiligen möchte, die Arbeitsplätze und die Industrie in diesem Land zu vernichten.
({6})
Ich spreche Sie an, liebe Kollegen von der FDP: Bekennen Sie sich endlich zu Ihrer nationalen Verantwortung, und kämpfen Sie für den Verbrennungsmotor und die Industrie in unserem Land!
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Ich will noch kurz einige Sätze zu dem Antrag der Union sagen. Ja, wir hätten Ihrem Antrag gerne zugestimmt. Aber leider steht in Ihrem Antrag, dass Sie Unterquoten und andere Quoten für Wasserstoff haben wollen. Das werden wir Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal erklären. Wir wollen den Wasserstoffweg nicht mitgehen. Ansonsten finden wir Ihren Antrag sehr gut, der in vielen Worten unseren vorherigen Anträgen sehr ähnlich ist.
Ich möchte Sie noch einmal aufrufen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Stimmen Sie dem Erhalt des Verbrennungsmotors und damit auch dem Erhalt der Arbeitsplätze in unserem Land zu!
Vielen Dank.
({8})
Ich weise darauf hin, dass die namentliche Abstimmung noch circa acht Minuten lang läuft und frage schon einmal vorsorglich, ob noch jemand hier ist, der oder die die Stimme noch nicht abgegeben hat. Dann wäre die Stimmabgabe jetzt angezeigt.
Ich gebe das Wort der Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme die Anträge einmal zum Anlass, die Position der FDP darzulegen. Die EU will die Grenzwerte für CO2 im Pkw-Bereich bis 2035 auf null setzen. Dieses Ziel des Klimaschutzes unterstützen wir ganz ausdrücklich.
({0})
Was wir nicht mitgehen, sind die Wege dorthin, nämlich die mit Verboten, anstatt den Optionen, den technischen Möglichkeiten den roten Teppich auszurollen.
({1})
Deswegen haben wir uns in der Ampelkoalition für Technologieoffenheit eingesetzt.
({2})
Ich habe mir vorgenommen, jedes Mal drei neue Argumente für die E‑Fuels, für die klimaneutralen Verbrennungsmotoren, zu bringen. Das möchte ich auch heute machen.
Das erste Argument betrifft das Thema Infrastruktur. Wir sehen, dass 70 Prozent der Infrastruktur für E‑Mobilität in gerade mal drei europäischen Ländern vorhanden ist. Das heißt, wir müssen noch massiv in den Infrastrukturausbau investieren. Das wird Ressourcen kosten, das wird Geld kosten, das wird Zeit kosten. All das halten wir im Moment bis 2035 für nicht möglich. Deswegen brauchen wir eine Alternative für die individuelle Mobilität: den klimaneutralen Verbrennungsmotor.
({3})
Das zweite Argument. Das sind nur die europäischen Probleme. Weltweit sieht es noch ganz anders aus. In Wachstumsregionen und ‑ländern wie Südamerika, Indien und China haben wir mannigfaltige Probleme beim Ausbau der elektrischen Infrastruktur. Deswegen wird der Verbrennungsmotor weltweit noch jahrzehntelang Nachfrage haben.
Möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein. – Wenn wir wissen, dass der Verbrennungsmotor noch weiterhin Bestand haben wird, warum entwickeln und bauen wir ihn dann nicht in Deutschland?
({0})
Der dritte Grund – für diejenigen, die gerne Champagner trinken –: Es ist durchaus richtig, dass wir den Flugverkehr mit E-Kerosin klimaneutral machen müssen. Aber ein Abfallprodukt von E-Kerosin sind die Antriebsstoffe für den Pkw-Verkehr. Deswegen: Machen wir doch beides, anstatt beides gegeneinander auszuspielen! Machen wir E-Kerosin, und was als Abfallstoff anfällt, nutzen wir im individualen Verkehr.
({1})
Was mich ein bisschen überrascht hat: Ich mag die EU total gerne, und ich finde EU-Regularien super. Aber die heute vorgestellte Euro 7 hat mich doch überrascht. In allen Vorentwürfen der Euro 7 stand nämlich drin, dass wir überprüfen wollen: Wie sieht es eigentlich mit der Klimaneutralität aus? Wie klimaneutral oder effizient sind die Fahrzeuge, und zwar bei der E‑Mobilität genauso wie beim Verbrennungsmotor? Auch bei den E‑Fuels sollte alles in einem Life Cycle – von den Rohstoffen über den Strom bzw. das Tankmittel bis zum Fahrzeug – überprüft werden. Wenn alle in der EU so überzeugt sind, dass E‑Mobilität klimaneutral ist, dann hätte diese Life-Cycle-Betrachtung im Euro 7 drinbleiben müssen.
({2})
Jetzt ist nichts mehr davon zu sehen. An alle, die für Klimaschutz sind: Das muss wieder reingeschrieben werden.
({3})
Es ist ja bekannt, dass wir in der Ampel eine, sagen wir mal, alternative Haltung haben, eine komplementäre, ergänzende Haltung.
({4})
Wir haben in der Ampel trotzdem einen Kompromiss gefunden: Wir haben dem Verbrennungsmotor mit klimaneutralen Kraftstoffen eine kleine Katzenklappe eingebaut.
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Dieser Kompromiss wurde von der FDP nicht nur in der Ampel durch- und umgesetzt,
({6})
sondern hat auch Eingang in die europäischen Norm- und Rechtsetzung gefunden. Ein Erfolg der FDP! Ohne uns wäre der Verbrennungsmotor heute schon Geschichte.
({7})
Wir konnten nicht nur unsere Partner davon überzeugen, wir konnten auch auf europäischer Ebene Fortschritte machen. Immer mehr Länder schließen sich der Haltung der FDP an, dass der Verbrennungsmotor mit klimaneutralen Antriebsstoffen eine Mehrheit finden muss.
({8})
Jetzt kommt die Union und sagt: Ja, aber das reicht uns nicht. – Deswegen habe ich mir angeschaut: Was haben Sie denn auf die Reihe gekriegt?
({9})
Sie hatten nur einen Partner an Ihrer Seite – in einer Zeit, in der Sie eine Kanzlerin gestellt haben. Die Kanzlerin war nicht nur national anerkannt, sie war auch europäisch anerkannt. Und ganz ehrlich: Zusätzlich haben Sie eine Kommissionspräsidentin von der Leyen bekommen. Mit all dieser politischen Unterstützung und dem Gewicht haben Sie für synthetische Kraftstoffe – genau nichts erreicht.
({10})
Dass von Ihrer Seite Kritik kommt! Entweder Sie konnten nichts umsetzen, oder Sie wollten nichts umsetzen.
({11})
Aber unter beiden Rahmenbedingungen ist das nicht die Grundlage, auf der man jetzt dicke Backen machen sollte.
({12})
Aber ich bin ein versöhnlicher, optimistischer Mensch. Deswegen möchte ich meine Rede zu einem versöhnlichen Ende bringen.
({13})
Wir ziehen alle am gleichen Tau. Es ist mittlerweile eine Aufgabe auf europäischer Ebene, aus der kleinen Katzenklappe ein großes Scheunentor zu machen. Das ist nicht zwingend ein Selbstläufer; das ist mir klar. Wir werden da noch viel Arbeit reinstecken müssen.
Frau Kollegin.
Wir als FDP sind bereit, das zu tun. Ich würde mich freuen, die Union würde sich diesen Bemühungen auf europäischer Ebene anschließen, damit wir gemeinsam etwas schaffen.
({0})
Bernd Riexinger hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der jetzige Tagesordnungspunkt hätte die Überschrift verdient: Union und AfD gegen eine nachhaltige und klimagerechte Zukunft.
({0})
Die Entscheidung für den Elektroantrieb ist doch längst gefallen. Es ist gut, dass nun endlich von der europäischen Ebene das überfällige Orientierungssignal zum Antrieb der Zukunft gegeben wurde. Die wirklich wichtige Debatte, die wir dringend führen müssen, ist doch eine andere: Wie kommen wir schnell zu einer nachhaltigen Mobilitätswende?
({1})
Wie oft muss man es noch sagen? Ein Antriebswechsel ist keine nachhaltige Verkehrswende. Dafür brauchen wir einen massiven Ausbau von Elektrobussen, Kleinbussen, Ruftaxis und der Bahn – mit günstigen Tickets bis hin zum Nulltarif. Es muss garantiert werden, dass alle Menschen mobil sind, ohne ein Auto besitzen zu müssen.
({2})
Auch über die zukünftige Bedeutung des Autos in einem klimagerechten Zukunftskonzept muss diskutiert und gestritten werden. Dabei mache ich mir große Sorgen über die Entscheidung des Managements der Premiumhersteller, noch größere, noch PS-stärkere, teurere und ressourcenfressende Autos zu bauen, weil sie höhere Profitraten abwerfen.
({3})
Es macht aber ökologisch keinen Sinn, in einen tonnenschweren SUV eine 700-Kilo-Batterie einzubauen. Das sichert weder Arbeitsplätze, noch schützt es das Klima.
({4})
Es ist und bleibt eine Tatsache, dass E‑Fuels deutlich, um das Fünf- bis Sechsfache, ineffizienter sind als der Antrieb mittels Batterie. Dazu kommt, dass es die dafür erforderlichen erneuerbaren Energien auf absehbare Zeit nicht geben wird. Deswegen müssen wir die knappen E‑Fuels dort einsetzen, wo es keine Alternative gibt, und das sind Luft- und Seeverkehr, Schwertransporte usw. und vielleicht auch noch Bestands-Pkw.
({5})
Bei den Arbeitsplätzen, liebe Union, scheint Ihnen entgangen zu sein, dass bereits heute massenhaft Stellen vernichtet werden, trotz Rekordgewinnen der großen Automobilkonzerne. Namhafte Zulieferer haben ihre Produktionsstandorte bereits nach Osteuropa verlagert und Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet. Wo standen Sie da mit den Beschäftigten vor den Werkstoren? Wo war da Ihre öffentliche Besorgnis? Ich habe nichts gesehen.
({6})
Die Elektromotorisierung stellt zukünftig bis zu 200 000 Arbeitsplätze in Deutschland infrage. Deshalb müssen nicht nur bestehende Arbeitsplätze geschützt, sondern neue geschaffen werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Verdoppelung der Fahrgastzahlen im ÖPNV und der Ausbau der Bahn würden bis zu 400 000 neue Arbeitsplätze im industriellen Bereich schaffen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Letzter Satz.
Deswegen lehnen wir Ihre rückwärtsgewandten und weder klima- noch arbeitsplatzfreundlichen Anträge ab.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie ganz herzlich an diesem Abend. Da ich die Spätschicht für heute übernommen habe und gesehen habe, dass die Sitzung bis 3.30 Uhr geht, werde ich ab jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen.
({0})
Ich bitte Sie, auf die Zeit zu achten. Sie haben alle eine feste Redezeit bekommen. Die kann man gut füllen, aber wenn sie zu Ende ist, ist sie zu Ende.
Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Stefan Gelbhaar für Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir können alles beim Alten lassen. Wir haben noch viel Zeit. Die Landwirtschaft ist dafür da, Benzin für Autos zu produzieren. Chile ist dafür da, E‑Fuels für deutsche Autos zu produzieren. – Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall. Das ist ein falsch verstandener Konservatismus.
({0})
Denn Sie konservieren damit eben nicht unsere Umwelt oder das Klima, mit diesem Ansatz lassen Sie sie vor die Hunde gehen. Sie scheuen jegliche eigene Anstrengung. Dabei müssen wir endlich loslegen in Sachen Klimaschutz im Verkehr, und dazu brauchen wir glasklare Sektorziele für den Klimaschutz im Verkehr.
({1})
Das hat heute sogar die Union bestätigt. Dafür danke.
Diese Debatte hat sich zu einer E‑Fuels-Debatte entwickelt. Deswegen ein paar Worte dazu. Aktuell können wir mit der gleichen Menge Energie entweder ein E-Fuel-Auto oder sieben Elektroautos bedienen.
({2})
Das ist eine klare Entscheidung. Herr Hirte, das müssten Sie auch mal akzeptieren. Das hat doch in Europa nicht allein die Ampel entschieden. Da haben doch Ihre Kollegen von Ihrer Partei in der Kommission, im Parlament, im EU-Ministerrat überall mitentschieden.
({3})
Dass Sie sich hier jetzt einen schlanken Fuß machen, ist aberwitzig; aber gut.
({4})
Frau Skudelny, ich muss Sie leider ansprechen. Wir sind in einer Koalition, aber trotzdem dürfen hier keine fehlerhaften News verbreitet werden. Es ist im Rechtstext am Rande erwähnt, aber es ist kein verbindlicher Rechtstext, in den diese E‑Fuels-Katzenklappe, wie Sie es genannt haben, eingebaut wurde. Das muss man ganz klar sagen.
({5})
Wir werden synthetische Kraftstoffe brauchen – darin stimmen wir überein –, um zum Beispiel den Flugverkehr klimafreundlicher zu machen. Auch da, Frau Skudelny, werden wir die Abfallprodukte brauchen, und zwar für die vielen Spezialfahrzeuge, die in unserem Land herumfahren. Ich fände es spannend, wenn Sie Ihrem Minister Volker Wissing das entsprechende Vertrauen entgegenbringen. Ich glaube, das hat er an dieser Stelle verdient.
({6})
Immer wieder wird Chile angeführt, welches Energie und E‑Fuels für deutsche Autos produzieren könnte.
({7})
Chile muss aber auch seine Klimaziele erfüllen. Chile ist keine Kolonie, so wie das irgendwie immer durchklingt.
({8})
Für die deutschen Klimaziele sind wir schon selbst verantwortlich.
({9})
Die Entscheidung in der EU ist gefallen. Die Entscheidung in der Industrie ist gefallen. Das nennt man Planungssicherheit. Ihre Kolleginnen und Kollegen in Brüssel sind übrigens irritiert über das, was Sie hier machen. Sie graben immer wieder an der Linie, die auf europäischer Ebene, auch von Ihnen, mit vorgegeben wurde, unter anderem von Frontfrau von der Leyen; nun gut.
Wie immer, wenn es um E‑Fuels geht, gibt es den Ruf nach Technologieoffenheit. Dazu sage ich: Das bedeutet doch nicht, dass man für das Einschlagen eines Nagels einen Schraubenzieher verwendet.
({10})
Es geht schon konkret darum, mit welcher Technologie man was macht. Und ganz ehrlich: Wenn man nach Technologieoffenheit ruft, dann sollte man sich auch richtig darauf berufen. Aber Sie haben doch die Schienen zurückgebaut. Sie haben doch die Wasserstraßen verkommen lassen. Sie verkämpfen sich doch an jeder Stelle –
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
– beim Straßenverkehrsrecht mit der Vorfahrt fürs Auto. Das ist irre. Das ist ziemlich unterkomplex. Deswegen werden wir Ihre Anträge hier ablehnen.
Vielen Dank.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
({0})
Das kommt einem in den Sinn, wenn man sich mit den Äußerungen der FDP hier befasst.
({1})
Schon heute Morgen haben Sie hier im Bundestag versagt, als es um die Abstimmung über das Bürgergeld ging. Sie haben mit den Grünen und der SPD dafür gesorgt, dass das Prinzip des Förderns und Forderns in Zukunft beendet werden soll.
({2})
Auch bei dieser Debatte haben Sie einer bürgerlichen Politik in Deutschland eine Absage erteilt.
({3})
Wir haben hier viel über Batterien, über Wasserstoff, über E‑Fuels gehört. Alle Technologien haben ihre Vorteile und ihre Nachteile.
({4})
Aber die Entscheidung, welche Technologie sich am Ende durchsetzen sollte und auf welche Technologie Verbraucher und Unternehmen setzen,
({5})
sollte doch nicht der Deutsche Bundestag oder die Politik fällen, das sollte in einer sozialen Marktwirtschaft Sache der Verbraucher und der Unternehmen sein.
({6})
Wir als CDU/CSU-Fraktion werben daher dafür, dass die Politik die Klimaschutzziele definiert. Aber wir werben auch dafür, dass alle technologischen Ansätze gleiche Rahmenbedingungen haben und dass es im besten Sinne des Wortes einen Wettbewerb der klimafreundlichen Technologien in unserem Land gibt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie haben hier in den vergangenen Wochen mit Ihrer Politik dafür gesorgt, dass E‑Fuels in Deutschland keine Zukunft haben werden. Sie haben dafür gesorgt, dass damit das Ende des Verbrennungsmotors besiegelt wird. Sie sind, genauso wie die anderen Koalitionäre der Ampel, verantwortlich dafür, dass Tausende Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet werden.
({8})
Ich will noch einen Satz zur FDP sagen: Sie sind doch nicht dafür gewählt worden, dass Sie Cannabis legalisieren,
({9})
dass Sie Gesetze verabschieden, dass man einmal im Jahr sein Geschlecht ändern kann und dass das Ende des Verbrennungsmotors besiegelt wird.
({10})
Die bürgerlichen Wähler in Deutschland haben Sie doch gewählt, damit Sie eine bürgerliche Politik machen, damit Sie für die soziale Marktwirtschaft und für Technologieoffenheit kämpfen
({11})
und sich dafür einsetzen, dass klimaneutrale Kraftstoffe eine Chance haben, die Bürger nicht zu stark belastet werden und sich Freiheit durchsetzt.
({12})
Wenn Sie das erreichen wollen, dann haben Sie jetzt die letzte Chance. Unterstützen Sie den Antrag der CDU/CSU-Fraktion! Denn der steht genau dafür.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist Isabel Cademartori für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Es ist ja eigentlich nicht meine Aufgabe, die FDP zu verteidigen, Herr Ploß,
({0})
aber wenn ich mir die Ergebnisse bei den Jungwählerinnen und Jungwählern anschaue, dann vermute ich, dass das Thema Cannabis dabei mehr eine Rolle gespielt hat als E‑Fuels. Aber das ist nur eine Interpretation meinerseits.
({1})
Eigentlich ist der Antrag überholt; denn die Entscheidung auf EU-Ebene ist getroffen. Und dieses Thema wurde eigentlich auch schon von der Industrie entschieden – das wurde schon öfters gesagt –, und zwar bevor diese Entscheidung gefallen ist, nämlich schon vor Jahren.
Mehrere haben darauf hingewiesen, dass es aus industriepolitischer Sicht nicht sinnvoll ist, aus der Verbrennerproduktion auszusteigen, weil ja außerhalb der Europäischen Union weiterhin Verbrenner genutzt werden. Es ist sicherlich so, dass das über das Datum der EU hinaus in anderen Regionen der Welt noch der Fall sein wird, aber überall auf der Welt ist der Trend zum Elektromotor sichtbar, spürbar. Wenn wir die Technologieführer dieser Technologie werden, statt Last Man Standing einer Technologie zu sein, die sowieso auslaufen wird, ist das auch industriepolitisch schlau und zukunftsträchtig.
({2})
Ihr Antrag fordert unter anderem, dass wir bei der Bewertung der Klimabilanz von Elektromobilität nicht nur den Weg vom Tank zum Auspuff betrachten, sondern auch den ganzen Herstellungsprozess. Auf diesen Punkt will ich mal gezielt eingehen, weil insbesondere die Gegnerinnen und Gegner der E‑Mobilität gerne auch Argumente ins Feld führen, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen; die sind auch hier heute gefallen.
Erster Mythos: Die Herstellung von Batterien zerstört die Natur in Entwicklungsländern. Bergbau und industrielle Produktion verändern Landschaften, ja. Das gilt auch für den Kohlebergbau, für Fracking, wofür zuletzt ja auch viele ihre Liebe entdeckt haben, und natürlich auch für die Ölförderung. Dennoch wird dieses Argument nur beim Lithium so stark bemüht. Warum eigentlich?
Ich freue mich sehr, dass so viel über Chile gesprochen wird. Ich habe chilenische Wurzeln, und ich war auch kürzlich in Chile, wo ein Drittel der Lithiumvorkommen lagert. Ich habe mit der Regierung, mit Unternehmen und mit Umweltaktivisten gesprochen. Niemand dort ist grundsätzlich gegen Bergbau und Industrie. Was die Länder Südamerikas vielmehr wollen, ist, an der Wertschöpfung für Batterien teilhaben zu dürfen. Sie möchten auch ein Stück vom Kuchen und nicht immer nur die Krümel. Sie wollen weg von einer Kolonialherrschaft, die nur reinkommt und Rohstoffe exportiert.
({3})
Deswegen können wir den Menschen dort helfen, indem wir eine industrielle Produktion mit aufbauen. Gut bezahlte Arbeitsplätze, gewerkschaftliche Organisation, höhere Steuereinnahmen: Das versprechen sich diese Länder von der Elektromobilität.
({4})
Wir wissen doch als Deutsche, wie man die Industrieproduktion so gestalten kann, dass sie für die Umwelt zumindest erträglich ist. Und mit diesem Wissen müssen wir uns in den Ländern, in denen es Lithiumvorkommen gibt, engagieren, nachhaltige Produktion aufbauen und mit den Regierungen zusammenarbeiten, um das Leben der Menschen vor Ort zu verbessern.
Deshalb: Wenn Sie gegen Elektromobilität oder überhaupt gegen Technologie sind, dann seien Sie das; das ist Ihre persönliche Entscheidung. Aber hören Sie endlich auf, die Sorge um die Natur, um die Völker des Globalen Südens oder, noch zynischer, die indigene Bevölkerung vorzuschieben, um gegen Elektromobilität Stimmung zu machen! Das ist total unglaubwürdig. Der einzige Indigene, für den Sie sich interessieren, ist Winnetou, und der wird von Elektromobilität auch keinen Schaden nehmen.
({5})
Mythos Nummer zwei: Elektromobilität macht uns abhängig. Das Argument wurde auch von Herrn Hirte bemüht. Es stimmt, dass die Batterieproduktion noch überwiegend in chinesischer und südkoreanischer Hand ist. Durch viele Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene sind wir dabei, hier Kompetenz aufzubauen.
Die gute Nachricht ist: Es ist noch nicht zu spät, das Ruder rumzureißen. Denn anders als die weltweiten Ölvorkommen, die sich fast ausschließlich in den Händen von Autokraten befinden, sind die Lithiumvorkommen über die gesamte Welt verteilt und auch in demokratischen Staaten, die uns wertemäßig nahestehen, sehr stark vorhanden. Elektromobilität ist also eine Chance auf stärkere Industrialisierung und Wohlstandsgewinn für Demokratien des Globalen Südens und für uns die Chance, uns von den einseitigen Abhängigkeiten von den Autokraten der OPEC endlich zu befreien.
({6})
Mythos Nummer drei: Elektroautos sind nicht nachhaltig, weil der Strommix nicht 100 Prozent erneuerbare Energien beinhaltet. Es stimmt, dass die CO2-Bilanz eines Elektroautos davon abhängig ist, wie grün der Strom ist, mit dem es geladen wird. Das gilt aber noch viel stärker für E‑Fuels. Auch E‑Fuels sind nur dann nachhaltig, wenn sie zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien hergestellt und transportiert werden.
({7})
Zeigen Sie mir einen Ort auf der Welt, wo das jetzt der Fall ist! Den gibt es nicht.
Über die Lebensdauer ist die CO2-Bilanz eines E‑Autos heute schon immer besser als die von Verbrennern und auch – wegen des viel höheren Wirkungsgrades, also der deutlich höheren Ausnutzung der Energie im Fahrzeug – die von mit E-Fuel betriebenen Autos. E‑Fuels brauchen die vier- bis fünffache Strommenge; das wurde alles schon erklärt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Selbst wenn Sie den Strom zur Gewinnung von E‑Fuels in Schwellenländern produzieren, wo Wind weht, wo viel Sonne scheint, braucht es Windräder, Solarmodule, Lagerkapazitäten, Schiffe, Häfen und Pipelines.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Kurzum: Es braucht eine Menge Ressourcen. Deshalb ist es sinnvoll, die sehr teuren E‑Fuels da einzusetzen, wo sie nützlich sind. Das geschieht durch den EU-Beschluss, und deswegen unterstützen wir ihn.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, am Ende der Debatte kann man sagen, dass die Ampelkoalition ein ganz, ganz großes Problem hat. Sie sind sich in einer ganz entscheidenden Frage der Wirtschaft und der Industriepolitik in keinster Weise einig und haben heute gezeigt, dass Sie komplett unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie die Zukunft unserer Mobilität aussehen soll. Das ist eine Gefahr nicht nur für den Standort Deutschland, sondern auch für die Klimaschutzdebatte. Das ist das, was mir ganz große Sorgen macht und zeigt, dass die Ampelkoalition hier auf einem ganz falschen Pfad ist.
({0})
Es geht darum, dass wir Klimaschutz auf bezahlbare Weise und so betreiben, dass Arbeitsplätze gesichert werden und die Industriepolitik im Mittelpunkt steht. Wir müssen auch hier eine Politik für die Menschen und für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie machen, und deshalb ist es enttäuschend, wie die Regierung letzte Woche im Trilog in Brüssel aufgetreten ist und hier ein ganz, ganz falsches und auch für Deutschland ein schlechtes Signal gesetzt und gegen unsere Interessen gehandelt hat.
Ich glaube, dass wir in Deutschland viele große Herausforderungen haben. Wir haben die große Herausforderung, dass wir CO2 einsparen wollen; wir wollen aber auch Technologieführer im Bereich der Antriebstechnologie bleiben, wo wir bisher in der Welt führend sind. Wir sind daneben führend im Bereich der Verbrennungsmotoren, aber auch im Bereich der Elektromobilität, und ich glaube, dass es unser ganz großer Anspruch sein sollte, dass wir auch im Bereich der synthetischen Kraftstoffe, der Brennstoffzellen und des Wasserstoffs führend sind. Deshalb muss die Politik auch technologieoffen und offen für neue Ideen sein. Und deshalb ist das, was Sie machen – mit Verboten und Einschränkungen zu arbeiten –, der falsche Weg; er führt in die falsche Richtung – gegen Arbeitsplätze, den Mittelstand und unsere Zuliefererbranche.
({1})
Die größte Enttäuschung bei dieser Frage war die FDP. Von den Grünen habe ich nichts anderes erwartet; die sind immer sehr defensiv gewesen.
({2})
Die FDP war bei der Frage in Brüssel gar nicht existent; sie ist nirgends aufgetreten. Alle entsprechenden Aussagen von heute waren in Brüssel nicht existent. Die FDP hat total versagt
({3})
und in der Frage der Arbeitsplätze, der Zukunftstechnologien und der Antriebstechnologien keine Stimme gehabt. Deshalb ist Deutschland hier untergegangen, und andere Länder, die gerne mitgemacht hätten, die offen gewesen wären für Verbrennermotoren, für E‑Fuels, für Wasserstoff und auch für Brennstoffzellen, haben hier auf Deutschland vergeblich gewartet. Das war eine große Enttäuschung.
({4})
Insofern: Auch da ist leider von der FDP und vom Verkehrsministerium sehr wenig zu sehen. Auch das ist etwas, was unserem Land, der Industrie und dem Klimaschutz langfristig schadet.
({5})
Ohne einen sinnvollen Mix aus synthetischen Kraftstoffen, Wasserstoff und Brennstoffzellen sowie rein elektrischen Fahrzeugen wird die Klimawende nicht funktionieren. Wir werden hier als Deutschland nicht weiter erfolgreich sein. Deutschland braucht auch eine offene Politik von Regierungsseite.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir brauchen Erfindergeist und Innovation. Davon ist in der Bundesregierung sehr, sehr wenig vorhanden. Deshalb müssen wir auch hier in Zukunft eine andere Politik als die der Ampelkoalition ansteuern.
Vielen Dank.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Was wir hier gemacht haben, war ein gemeinsamer Kraftakt. Ich erinnere mich an lange Sitzungen, an lange Nächte in der Kommission Gas und Wärme. Deswegen geht der erste Dank, den ich aussprechen möchte, an die Mitglieder der Kommission Gas und Wärme – insbesondere an die Vorsitzenden: Frau Grimm, Herrn Russwurm und Herrn Vassiliadis – für die ganze Arbeit, die geleistet wurde, und die ganzen Vorschläge, die gemacht wurden.
({0})
Ich weiß auch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien in diesen Tagen wahnsinnig viel arbeiten, um all das auf den Weg zu bringen. Deswegen ist es mir wichtig, auch ihnen meinen Dank auszusprechen. Nicht zuletzt haben wir hier im Parlament mit Hochdruck daran gearbeitet, jetzt voranzukommen.
({1})
Mit der Soforthilfe, über die wir heute debattieren, entlasten wir viele Menschen in ganz Deutschland, aber auch Pflegeeinrichtungen zum Beispiel, Einrichtungen der Rehabilitation, Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Wir bauen mit dieser Soforthilfe eine Brücke, bis wir die Gaspreisbremse, die Strompreisbremse, die anderen Maßnahmen, die wir ergreifen, auf den Weg gebracht haben. Damit machen wir eines deutlich: Wir warten nicht, bis die großen Programme auf den Weg gebracht sind, sondern wir sind jetzt in der Lage, schnell zu agieren und Richtung Wladimir Putin, dem Diktator, zu zeigen: Wir stehen zusammen; wir lassen nicht zu, dass unsere Gesellschaft gespalten wird, dass unsere Infrastruktur angegriffen wird. Wir sind in der Lage, zu reagieren und den Menschen und auch den Institutionen Unterstützung zukommen zu lassen.
({2})
Bei allen Entlastungen, die jetzt kommen – das ist der erste Schritt auf dem Weg, den wir jetzt einschlagen; das ist die Brücke –, sind einige Punkte wichtig. Das Erste ist: Wir müssen weiterhin Gas einsparen. Es ist großartig, dass es gelungen ist, dass die Speicher jetzt zu nahezu 100 Prozent gefüllt sind. Dennoch dürfen wir nicht nachlassen. Deswegen haben wir jetzt in dem Abschlag, aber auch weiterhin, bei den anderen Instrumenten, die kommen, eingebaut, dass wir Anreize erhalten, Gas einzusparen. Jetzt nicht zu sparen, würde am Ende zu Problemen führen. Deswegen bleibt das im Kern unsere Arbeit bei all den Instrumenten.
({3})
Ein zweiter Punkt ist wichtig: Die Krise trifft nicht alle gleichermaßen. Deswegen ist es richtig, dass wir uns hier im Parlament darum gekümmert haben, dass die verschiedenen Maßnahmen dann auch besteuert werden. Das haben wir hier lange diskutiert, und wir haben es am Ende auch auf die Soforthilfe bezogen, weil dann die, die viel haben, am Ende über die Besteuerung einen Teil wieder an die Gesellschaft zurückgeben können. Das macht das Ganze gerecht. Deswegen ist das, was wir heute hier vorliegen haben, ein guter Vorschlag.
({4})
Abschließend ein Punkt: Wir müssen die im Blick haben, die es besonders schwer haben.
Machen Sie es bitte schnell.
Deswegen arbeiten wir parallel an dem Härtefallfonds, und deswegen haben wir am Ende ein rundes Projekt, viele Initiativen, die wir gleichzeitig ergreifen, um dieses Land zu stabilisieren.
Vielen Dank.
({0})
Es folgt für die CDU/CSU-Fraktion Jan Metzler.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, das ERP-Wirtschaftsplangesetz erfreut sich in diesem Jahr einer außerordentlichen Prominenz.
({0})
Das freut alle Berichterstatterinnen und Berichterstatter fraktionsübergreifend und so eben auch mich.
Deswegen ist es jetzt auch ein Akt des Respekts, dass man, bevor man auf das eigentliche Omnibusverfahren eingeht,
({1})
vielleicht auch ein, zwei Sätze dem ERP widmet.
({2})
– An dieser Stelle kann man durchaus klatschen. – Man kann in diesem Zusammenhang erwähnen, dass das ERP ein Instrument ist, das uns seit 70 Jahren resultierend aus dem Marshallplan zur Verfügung steht, das insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt, in dem Ansinnen, ihre strukturellen Nachteile im Zusammenhang mit Finanzierung gegenüber Großunternehmen auszugleichen.
Es sei auch erwähnt, dass es ein positives Signal ist, dass diese Mittel nicht mehr verstetigt sind, sondern auch – in einem geringen Maße – aufgewachsen sind. Dennoch sei auch erwähnt: In einer Zeit von multiplen Krisen, die sich gegenseitig überlagern, wird es eine Herausforderung sein, den Substanzerhalt in Zukunft sicherzustellen.
Nichtsdestotrotz: In der Ist-Stand-Betrachtung ist das alles sehr positiv. Deswegen stimmen wir dem ERP-Wirtschaftsplangesetz auch zu.
({3})
Jetzt möchte ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum angehängten Teil kommen, sprich: der Dezember-Soforthilfe. Hier sei eines erwähnt: Im Sommer ist viel Zeit verloren gegangen, die jetzt nottut. Allein die Tatsache, dass wir in den zurückliegenden Tagen ständig geänderte Fassungen der heute vorliegenden Entscheidungsvorlage bekommen haben, zeigt, wie sehr Zeit nottat. In der Tat, es ist jetzt notwendig, dass schnellstmöglich gehandelt wird für viele Menschen in unserem Land; denn unser Land befindet sich in einer der schärfsten Energiekrisen seit den 70ern. Wir werden dem Gesetz von seiner Stoßrichtung her im Grundsatz zustimmen.
Nichtsdestotrotz – das ist nicht zuletzt in der Anhörung deutlich geworden – fehlen einige Punkte. Diese Punkte möchte ich im Einzelnen benennen – die unterstreichen wir auch mit unserem Entschließungsantrag –:
Erstens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen insbesondere darauf hinweisen, dass keine Winterlücke entstehen darf. Die Gaspreisbremse muss wie die Strompreisbremse rückwirkend und letztlich im Gleichklang damit zum Jahresbeginn wirken.
Zweitens. Es darf keine wirtschaftliche Schieflage entstehen. Das Energiekostendämpfungsprogramm wird zum Jahresende eingestampft. Es stellt sich daher nicht nur die Frage „Wie geht es perspektivisch im Winter weiter?“, sondern auch die Frage nach der Perspektive für Januar und Februar.
({4})
Sprich: Den Unternehmerinnen und Unternehmern ist jetzt Planungssicherheit zu geben; denn die fragen sich alle: Wie geht es weiter?
({5})
Drittens. Es darf keine Gerechtigkeitsschieflage geben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, da sind wir allesamt in den letzten Wochen entsprechend gefordert gewesen. Wir alle sind von Bürgerinnen und Bürgern aus unseren Wahlkreisen gefragt worden: Wie sieht es denn aus bei Pellets? Wie sieht es denn aus mit Ölheizung? Ein Viertel aller Haushalte in Deutschland heizt mit diesen Heizmitteln. Deswegen darf es nicht nur vage Ankündigungen geben, sondern es muss eine klare Perspektive geben, die genau diesen Bereich miteinbezieht.
({6})
Mal generell bemerkt: Der Staat sollte letztlich nicht auch noch Profiteur einer solchen Krisensituation sein. Deswegen ist die Frage nach einer Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf entsprechende Energieträger – natürlich im Einklang mit dem Unionsrecht – ein Faktor, der in die Gesamtbetrachtung miteinzubeziehen ist.
Ich habe mich insbesondere bei den Einlassungen des VKUs in der Anhörung gefragt: Wie soll das jetzt alles noch administriert werden?
({7})
Wohlgemerkt, die Plattform, die für das Einreichen der Anträge notwendig ist, wird diese Woche nicht mehr an den Start gehen. Nach meinem Wissensstand wird sie es nächste Woche. Dann haben alle, die zu beteiligen sind, sieben Tage Zeit, wenn das Ganze bis zum 1. Dezember funktionieren soll, um das in die Umsetzung zu bringen. Da fehlt mir ein Stück weit der Glaube, dass das alles funktioniert.
({8})
Deswegen abschließend: Es braucht ein Gesamtkonzept, das nicht nur für diesen Winter gilt, sondern auch über diesen Winter hinaus.
({9})
Daher sage ich jetzt einfach mal: Machen ist wie Wollen, nur besser!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Bernd Westphal.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ERP, das Europäische Wiederaufbauprogramm, gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir hatten in den letzten Jahrzehnten die Chance, dieses Instrument weiterzuentwickeln. Die Verzinsung des Kapitals, das aus dem Marshallplan übrig geblieben ist, hat uns in die Lage versetzt, ein schlagkräftiges Instrument zur deutschen Wirtschaftsförderung zu entwickeln. Wir sind mit diesem Programm in der Lage, gerade den Mittelstand mit Kapital auszustatten, mit zinsgünstigen Krediten, mit Haftungsfreistellungen; selbst Beteiligungskapital ist damit möglich. Deshalb ist das eine wichtige Struktur, die wir nutzen.
Der Wirtschaftsausschuss hat sich am Montag in einer Anhörung mit dieser Finanzierung, mit diesem Instrument beschäftigt, und er hat sehr ausführlich darüber diskutiert. Wir haben vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Bericht des Bundesrechnungshofs darauf hingewiesen, dass das Wirtschaftsministerium den Auftrag mitnehmen soll, die Instrumente zu schärfen, sie weiterzuentwickeln, aber auch alles zu tun, um sicherzustellen, dass der Substanzerhalt dieses Vermögens auch gewährleistet ist. Gerade das ist wichtig vor dem Hintergrund der Inflation.
Der Kollege Metzler hat eben auf die besondere Berühmtheit dieses Gesetzes hingewiesen. Mit der Übernahme der Abschlagszahlung zeigt diese Bundesregierung, dass wir ein Instrument entwickelt haben, das schnell hilft, das Wirkung entfaltet und das Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger in dieser Krise entlastet. Das ist etwas, was diese Ampelregierung auszeichnet.
({0})
Sicherlich ist es anspruchsvoll, das zu administrieren, EDV-mäßig abzurechnen; aber wir haben einen Vertreter der 1 500 Versorger, die das administrieren müssen, auch über die KfW, in der Anhörung gehabt, der bestätigt hat, dass es möglich ist, dieses Instrument anzuwenden, und dass wir sicher sein können, dass im Dezember diese Entlastung auf den Weg gebracht wird. Das ist ein Versprechen, das diese Regierung gibt: Das kann schnell und wirksam auf den Weg gebracht werden.
({1})
Letzter Punkt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir hatten auch einen Änderungsantrag der Union vorliegen, der sich mit dem Bürgergeld beschäftigt. Ich finde, die Debatte, die wir heute in diesem Hohen Hause zum Bürgergeld geführt haben – sehr engagiert –, hat gezeigt, dass alle Argumente, die die Union vorgetragen hat,
({2})
sich in Luft aufgelöst haben und sie nur noch eine leere Hülse sind. Von daher ist das ein guter Tag für das Bürgergeld.
({3})
Herzlichen Dank. Glück auf!
({4})
Für die AfD-Fraktion erhält das Wort Enrico Komning.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist schon erstaunlich: Da klopfen Sie sich, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, bei jeder Gelegenheit auf die eigenen Schultern, was für tolle Demokraten Sie doch sind, und treten dann bei jeder Gelegenheit die demokratischen Gepflogenheiten und Institutionen mit Füßen – so wie hier.
Sie hängen mit Ihrem Erdgas-Wärme-Soforthilfegesetz dem ERP-Wirtschaftsplangesetz einen vollkommen fachfremden Änderungsantrag an, nehmen beim Gesetzgebungsverfahren einfach mal eine Abkürzung und vermeiden so lästige Debatten um Milliardenausgaben. Das ist in jedem Fall ein schäbiges parlamentarisches Verhalten, missbräuchlich und vermutlich sogar verfassungswidrig.
({0})
Sie versetzen damit den Bundestag in einen unhaltbaren Zustand und missachten fundamentale Oppositionsrechte.
({1})
Dabei hätte das ERP-Wirtschaftsplangesetz allein eine Debatte verdient. In der Anhörung diesen Montag berichtete der KfW-Vertreter vom normalen Gang der Geschäfte in den letzten Monaten. Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass die staatliche Förderbank für den Mittelstand in diesen komplett unnormalen Zeiten von „normalen Geschäften“ redet. Wir müssen jetzt mit der KfW unser Engagement für den Mittelstand drastisch ausweiten. Es ist nämlich schon fünf nach zwölf.
({2})
Eine Insolvenzwelle schwappt seit Monaten durch unser Land. Neben prominenten Beispielen wie Hakle oder Görtz müssen und mussten bereits unzählige Handwerksbetriebe, Bäckereien und Supermärkte aufgeben, weil sie sich die Energiekosten schlicht nicht mehr leisten können. Stattdessen schnüren Sie plan- und ziellose Rettungspakete, exemplarisch zu sehen an dieser Dezemberhilfe. Sie schütten eine Art Konsumsubvention im mehrstelligen Milliardenbereich aus. Der Mittelstand geht dabei leer aus. Wir brauchen für den Mittelstand jetzt Liquiditätshilfen, wie zur Coronazeit; die Geschäfte müssen nämlich weitergehen.
({3})
Aber auch die Dezemberhilfe wird den Gasendkunden, die ja eigentlich die Adressaten sind, kaum helfen. Die Rückzahlung nimmt Druck von den Gaspreisen, was die Preisspirale beschleunigen wird. Das haben wir am Montag von den Sachverständigen gehört. Auch werden diejenigen, die die Dezemberhilfe umsetzen müssen – Herr Metzler hat darauf hingewiesen –, dazu organisatorisch und zeitlich gar nicht in der Lage sein. Auch das haben uns die Sachverständigen am Montag gesagt. Am Ende wird die Dezemberhilfe mit der Jahresrechnung verrechnet werden, bringt also jetzt unmittelbar gar nichts.
Zudem gibt es deutliche Ungerechtigkeiten in Ihrem Entwurf – auch darauf hat Herr Metzler richtigerweise eben schon hingewiesen –; denn auch die Menschen, die mit Öl, mit Pellets oder mit Strom – Herr Metzler, den haben Sie vergessen – heizen, kämpfen mit drastischen Preiserhöhungen, müssen ihre Heizkosten im Dezember aber voll bezahlen. Immerhin werden nach der Sachverständigenanhörung jetzt öffentliche Bildungseinrichtungen einbezogen. Für Behörden und Rathäuser hingegen gilt dies nicht. Die Dezemberhilfe ist ein Schnellschuss und nicht ausgegoren. Sie haben hier wertvolle Zeit verschenkt, Zeit, die wir nicht haben.
({4})
Meine Damen und Herren, aus staatspolitischer Verantwortung werden wir aber Ihrem Gesetz mit dem sozialpolitischen Änderungsantrag der Union zustimmen; denn wir können die Bürger nicht im Regen stehen lassen und schon gar nicht für Ihre Inkompetenz in Haftung nehmen. Zustimmung gibt es natürlich ebenso für den Entschließungsantrag der Union, der viele unserer Positionen abbildet.
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion erhält das Wort Dr. Lukas Köhler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in der Mitte dieses Jahres schon darüber diskutiert, was wir jetzt eigentlich zur Entlastung von Bürgerinnen und Bürgern und – ja, lieber Herr Komning – auch zur Entlastung des Mittelstandes tun können und sollen.
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Wir haben sehr intensiv darum gerungen, welche Maßnahmen wir ergreifen, um den Menschen zu helfen, die es jetzt besonders hart trifft, und um den Unternehmen zu helfen, die jetzt unter den hohen Gaspreisen leiden.
In dieser Debatte ist viel darüber gesprochen und darum gerungen worden, was wir jetzt eigentlich tun können. Aber klar war von Anfang an, dass wir an Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, drei Kriterien anlegen müssen. Kriterium eins war: Es muss schnell gehen. Kriterium zwei war: Es muss einfach sein. Kriterium drei war: Es muss zielgerichtet da helfen, wo es am besten trifft. Deswegen bin ich froh – mein Dank geht auch an die Gaskommission –, dass die Kombination aus den Vorschlägen, die wir jetzt vorliegen haben, genau der richtige Weg ist, um diese drei Kriterien zu erfüllen.
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Es geht schnell, weil die Maßnahmen jetzt bald, im Dezember, denjenigen helfen, denen wir helfen müssen, und weil sie dafür sorgen, dass wir ab März nächsten Jahres mit der Gaspreisbremse den Bürgerinnen und Bürgern helfen und dem Mittelstand Gaskosten zur Verfügung stellen, mit denen er weiterarbeiten kann. Gleichzeitig ist die Umsetzung einfach, weil der Weg nicht über große Antragsverfahren, nicht über viel Bürokratie, sondern über die Gasversorger bei Vermieterinnen und Vermietern und am Ende bei den Mietern ankommt und die Leute da entlastet, wo es funktionieren muss. Die Maßnahme ist zielgerichtet, weil sie genau die Menschen in den Blick nimmt, die wir jetzt sonst verlieren würden; denn sie hilft den Unternehmen, über den Dezember an die nächsten Hilfen zu kommen.
Leider ist dies nötig. Ich glaube, das muss man in so einer Debatte immer wieder mal erwähnen, weil es gerne vergessen wird. Es ist ja nicht so, dass wir uns in Deutschland ausgesucht hätten: Mensch, die Gaspreise müssen mal hochgehen. Wir haben uns nicht ausgesucht, dass Gas knapp werden könnte. Es gibt einen Angriffskrieg, den Putin gegen die Ukraine führt, und einen Energiekrieg, den er gegen dieses Land führt – und das sorgt dafür, dass Gas knapp geworden ist, und das sorgt dafür, dass Preise hochgegangen sind. Deswegen ist es richtig, dass wir jetzt in einem sehr schnellen Verfahren dafür sorgen, dass Menschen und Unternehmen entlastet werden.
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Es ist aber genauso wichtig, dass wir diesen Winter im Blick behalten. Es ist wichtig, dass wir Gas einsparen. Es ist wichtig, dass die Gaspreisbremse – anders als Sie, liebe AfD, eben versucht haben, uns vorzuwerfen – so designt ist, dass wir einen Sparanreiz aufrechterhalten. Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass auch mit der Gaspreisbremse gespart wird. Und das passiert beim Dezemberabschlag ganz genauso. Denn wir gehen ja nicht an die direkten Kosten, sondern wir gehen über den Abschlag, und der kann und wird wahrscheinlich auch gestreckt werden. Weil wir im Dezember auszahlen, wird das Geld auch im Januar, im Februar dafür sorgen, dass der Preis für Gas insgesamt erträglich bleibt und dass die Menschen eben nicht über Gebühr belastet werden. Es sorgt dafür, dass die Unternehmen eine direkte Finanzhilfe erhalten. Wir können somit dafür sorgen, dass wir am Ende des Tages unsere wirtschaftliche Struktur erhalten und gleichzeitig Bürgerinnen und Bürgern helfen.
Und: Ja, es ist richtig, dass diese Gaspreisbremse entsprechend besteuert wird; denn natürlich müssen wir dafür sorgen, dass wir einen sozialen Ausgleich haben. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass diejenigen das Geld bekommen, die es am Ende brauchen. Ja, wir werden das hinkriegen, und wir werden das umsetzen; da bin ich mir sicher. Diese Regierung wird am Ende des Tages nämlich auch daran gemessen werden, wie diese ersten drei Kriterien – „einfach“, „schnell“ und „zielgerichtet“ – funktioniert haben.
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Das ist ein Bestandteil dieser Gaspreisbremse, und das ist ein Bestandteil dieser Soforthilfe. Deswegen ist es absolut zentral, dafür zu sorgen, dass wir da weiterkommen.
Aber wir müssen ja nicht nur die Frage der Kosten für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen klären. Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir ein entsprechendes Angebot haben. Wir müssen dafür sorgen, dass wir im kommenden Jahr ausreichend Gas haben. Wir müssen dafür sorgen, dass wir jetzt anständig sparen. Bei den Debatten über die Hilfen dürfen wir nicht vergessen, was jetzt wirklich wesentlich ist, nämlich eine Energieversorgung, die funktioniert, genügend Gas in den Speichern und genügend Gas, das über den schnellen Ausbau der neuen LNG-Infrastruktur kommt,
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über die funktionierenden Pipelines. Und ja, auch die Kernkraftwerke und der Strom aus den Kohlekraftwerken, die wir über den kommenden Winter brauchen werden, sind wichtig. Wenn wir dies alles nicht machen würden, dann hätten wir mit Zitronen gehandelt. Deswegen ist es richtig, dass wir für all diese Maßnahmen gesorgt haben.
Vielen Dank an die Koalitionäre, dass es so schnell geht, und auch für die konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition.
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Für Die Linke erhält jetzt das Wort Thomas Lutze.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das ERP-Wirtschaftsplangesetz ist mit einem Volumen von rund 1 Milliarde Euro pro Jahr ein nicht unerhebliches Förderprogramm. Wie auch in den vergangenen Jahren unterstützt die Linksfraktion diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Hier werden zinsgünstige Kredite vergeben, die gerade in der aktuellen wirtschaftlichen Situation für die beteiligten Unternehmen sehr hilfreich sind.
Zu hinterfragen ist, warum diese Mittel nicht vollständig abgerufen wurden und was mit den zum Teil sehr bedeutsamen Gewinnen, die damit seitens des Bundes erzielt wurden, nun passiert: Soll der Fördertopf ausgeweitet werden, obwohl er nicht vollständig abgerufen wird? Oder soll man zukünftig die Förderrichtlinien verändern, um den Zugang zum Fördertopf zu erweitern? Das sind Fragen, die heute hier noch nicht beantwortet wurden.
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Damit wäre eigentlich alles zum Thema gesagt. Aber ich kann mir beim besten Willen die Anmerkung nicht verkneifen, dass sowohl die Union als auch die Koalition diesen Tagesordnungspunkt und damit das ERP-Wirtschaftsplangesetz dazu missbrauchen, vollkommen sachfremde parlamentarische Initiativen anzuhängen.
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Intern heißt dieses Verfahren „Omnibusverfahren“. Man hängt also an ein laufendes Gesetzgebungsverfahren ein oder mehrere andere Gesetze an, ohne dass es da irgendeinen politischen Zusammenhang gibt. Selbst Äpfel und Birnen sind sich näher als das ERP-Gesetz dem Bürgergeld-Gesetz – ich verweise auf den entsprechenden Änderungsantrag der Union – oder der Gesetzesinitiative zur einmaligen Kostenentlastung bei Wärme und Gas; hier verweise ich auf den entsprechenden Änderungsantrag der Koalition.
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie hatten jetzt seit Wochen Zeit, hier im Deutschen Bundestag geeignete parlamentarische Initiativen zu ergreifen. Es ist eine Unsitte, wenn vollkommen fachfremde Gesetze angehängt werden. Das hat mit Transparenz in unserem Gesetzgebungsverfahren nichts zu tun
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Damit wir hier nicht falsch verstanden werden: Unsere Kritik bezieht sich nicht auf das Einbringen einer Gesetzesinitiative. Unsere Kritik bezieht sich darauf, dass hier Dinge unter einem vollkommen sachfremden Tagesordnungspunkt nachgeschoben werden. Das geht gar nicht.
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Bei der Abstimmung über den Antrag der Union stimmen wir ganz konsequent mit Nein, weil es ein erbärmlicher Versuch ist, das Bürgergeld noch zum Kippen zu bringen. Das unterstreicht Ihre sozialpolitische Kompetenz, die nämlich überhaupt nicht vorhanden ist.
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Dem Antrag der Koalition stimmen wir zu, weil die Menschen mehr als bisher entlastet werden müssen. Aber Entlastungen allein werden langfristig nicht ausreichen. Wir brauchen gesetzliche Preisobergrenzen bei Energie und eine stärkere finanzielle Beteiligung der Superreichen und Großkonzerne.
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Die verdienen sich aktuell in der Krise dumm und dämlich – und das muss beendet werden.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute und am Montag im Bundesrat den Weg für die Übernahme der Dezemberabschlagszahlungen freimachen können.
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Das ist ein wichtiges Signal, um die Bezahlbarkeit der Gaspreise zu sichern, und übrigens nicht nur für die privaten Haushalte, sondern auch für den Mittelstand, für kleine Industriebetriebe genauso wie für Dienstleister, für Selbstständige und genauso für die Bildungsstätten des Handwerkes. Die Strom- und Gaspreisbremse für 2023 ist ebenfalls auf dem Weg. Wir werden sie noch in diesem Monat hier im Deutschen Bundestag beraten.
Aber ich will insbesondere als Mittelstandsbeauftragter der Bundesregierung zum eigentlichen Hauptpunkt der heutigen Debatte kommen, nämlich zum ERP-Gesetz. Das klingt zwar technisch, hat aber eine enorme Bedeutung. Wir stärken damit die Substanz unserer Volkswirtschaft. Die Zukunftskraft unserer Volkswirtschaft liegt darin, dass wir Innovationen vorantreiben: in Digitalisierung, in Klimaschutz. Und genau dafür ist das ERP-Programm so notwendig und wichtig.
Mit dem Plan 2023 stellen wir Mittel bereit, um kleine und mittlere Unternehmen in Rekordhöhe von 10 Milliarden Euro zu unterstützen.
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Die ERP-Förderung mit zinsgünstigen Krediten und Beteiligungskapital leistet einen wichtigen Beitrag, Unternehmen von Start-ups bis zu großen Mittelständlern auf dem Weg aus den multiplen Krisen heraus wirksam zu unterstützen. Die in 2022 stark gestiegene Nachfrage nach ERP-Förderkrediten zeigt, dass die Instrumente attraktiv sind und den Bedarf adressieren.
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Angesichts der Zinswende erwarte ich auch 2023 eine starke Nachfrage.
Wir stärken mit diesem Programm übrigens auch die Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung, und das nicht nur im digitalen Bereich, im Softwarebereich, sondern vor allem im Bereich Deep Tech und junger Technologieunternehmen. Denn gerade diese Wirtschaftszweige sind so entscheidend dafür, dass Deutschland ein wachsendes Industrieland bleibt.
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Gerade jetzt müssen wir die Geschwindigkeit bei der Dekarbonisierung auch als Wettbewerbsvorteil unserer Wirtschaft beibehalten und stärken und damit Segel setzen für starke Innovationen in diesen Bereichen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes erhält das Wort für die SPD-Fraktion Sebastian Roloff.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade schon gehört: Die Befassung mit dem ERP-Sondervermögen ist durchaus als historisch zu betrachten. Der Gedanke, dass man mit Sondervermögen die deutsche Wirtschaft besonders unterstützt, ist nämlich älter als die Bundesrepublik selbst. Auf Grundlage des legendären Marshallplans von 1948 wurde ein Wiederaufbauprogramm aufgesetzt, um die Wirtschaft mit Krediten und Zahlungen zu unterstützen. Aus diesem Marshallplan ging das Sondervermögen quasi in der heutigen Form, natürlich modifiziert, hervor. Es ermöglicht dem Wirtschaftsministerium, Kredite, wenn sie in der Wirtschaft benötigt werden und auf dem freien Markt eben nicht so einfach zu kriegen sind, zu gewähren und somit Investitionen zu ermöglichen, die dringend erforderlich sind.
Es ist auch schon angesprochen worden: Wir reden heute nicht nur über das ERP-Wirtschaftsplangesetz; wir reden auch über die Übernahme des Dezemberabschlags, der sich nicht aus diesen ERP-Mitteln speist, aber eigentlich einer ähnlichen Logik folgt. Dass hier besonderer Bedarf besteht, ist, glaube ich, keine Frage und im Hause nicht umstritten.
Die Sicherheit der Haushalte in diesem Winter, die Erhaltung von Handwerksbetrieben, des Einzelhandels, von kleinen und mittleren Unternehmen, der Industrie, von öffentlichen Einrichtungen, von Krankenhäusern und Kindergärten in der Krise ist unser aller zentraler Auftrag. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Dezemberabschlag heute hier mitberaten. Wir brauchen eine schnelle Entlastung, und da ist es das Sinnvollste, den kompletten Abschlag der Gasrechnung für Dezember zu übernehmen. Denn wir haben uns vorgenommen, niemanden in dieser Krise alleinzulassen, und das werden wir auch nicht tun.
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Es gehört auch zur Wahrheit, dass wir jetzt eine Lösung für die Belastung bis Dezember haben. Wir haben einen Gaspreisdeckel spätestens mit der Wirksamkeit ab März. Ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar, dass er gesagt hat, er will eine Rückwirkung ab Februar. Ich persönlich finde, wir müssen auch über eine Rückwirkung ab Januar oder, wenn das technisch nicht geht, über einen zweiten Abschlag nachdenken, weil die Finanzierungslücke in diesem Winter geschlossen werden muss.
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Schließlich geht es nicht nur um das Löschen von Bränden in dieser Krise; denn die Transformation unserer Wirtschaft geht voran. Wir müssen die Wirtschaft in unserem Land zukunftsfest machen und diesen Prozess aktiv begleiten. Das sieht man zum Beispiel, wenn man sich den Kreditzugang des Mittelstands anguckt. KfW Research hat es untersucht: 30 Prozent der befragten Mittelständler sagen, ihre Hausbanken verhalten sich sehr restriktiv, was die Kreditpolitik betrifft. Gerade Gründungen sind davon zum Beispiel ganz besonders betroffen. Förderangebote wie das ERP-Sondervermögen, das wir heute beraten, gleichen das aus, und deswegen ist es so wichtig.
Wir laufen im Übrigen in das nächste Thema rein, wenn wir über Unternehmensnachfolgen sprechen. Bis 2025 werden ungefähr 120 000 kleine oder mittlere Unternehmen übergeben werden. Auch hier gibt es unter Umständen finanzielle Engpässe, die entsprechend abgesichert werden müssen.
Wenn man über den großen Teich guckt und sieht, wie der Inflation Reduction Act in den Vereinigten Staaten konzipiert ist – mit 260 Milliarden Dollar, die die USA in erneuerbare Energien investieren, und das im Übrigen bei jetzt noch geringeren Energiekosten –, dann stellt man fest, dass das ein großer Standortnachteil für Europa ist; das ist klar. Dementsprechend gehen wir da den richtigen Weg.
Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen, dass unsere Industrie erhalten bleibt – es gibt kein Gesundschrumpfen; das kann man auch nicht ernsthaft vertreten –, der Mittelstand nicht abwandert und wir mit einer strategischen Förderpolitik weiterhin eine gesamteuropäische Antwort geben. Ich glaube, damit sind wir als Ampel auf einem guten Weg. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort Mark Helfrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?“ Dies scheint das Leitmotiv der Ampel zu sein, wenn es darum geht, Bürger und Unternehmen zu entlasten. Kaum jemand blickt bei der Gas-Soforthilfe noch durch, am wenigsten diejenigen, die entlastet werden sollen.
Ich gebe Ihnen mal eine Kostprobe: Wie wird die Höhe der Soforthilfe, die die Verbraucher im Dezember bekommen sollen, errechnet? Das ist ganz einfach: Sie nehmen ein Zwölftel der Jahresverbrauchsprognose, JVP, die der Abschlagszahlung, AZ, im September 2022 zugrunde liegt, multiplizieren diese mit dem Kilowattstundenpreis P im Dezember 2022 und addieren dazu noch ein Zwölftel des Jahresbruttogrundpreises, JBG, Stand: September 2022.
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Fertig, mehr ist es nicht; kinderleicht.
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Außer Sie sind Besitzer eines Mehrparteienhauses; dann müssen Sie die Formel natürlich noch anteilig runterrechnen auf jede einzelne Wohnung. Oder Sie sind einer von Millionen Mietern in diesem Land, die ihre Gasheizkosten an den Vermieter zahlen. Dann gehen Sie bei der Entlastung im Dezember erst mal leer aus. Diese bekommen Sie erst im nächsten Jahr mit der Betriebskostenabrechnung für 2022, es sei denn, Sie leisten bereits seit Frühjahr eine erhöhte Betriebskostenvorauszahlung. Dann dürfen Sie im Dezember Ihre Zahlung um die Erhöhung kürzen. Oder Sie sind Neumieter. Dann dürfen Sie 25 Prozent der vereinbarten Abschlagszahlung für Gas selber kürzen. – Wer soll hier noch durchblicken?
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Der Grund für dieses Regelungswirrwarr: Die Ampel hat den Sommer einfach komplett verschlafen. Statt sich um einfache Entlastungen Gedanken zu machen, haben Sie sich lieber mit zusätzlichen Belastungen für Bürger und Betriebe beschäftigt, Stichwort „Gasumlage“.
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Hätten Sie bereits im Frühsommer mit der Arbeit an dem Gasdeckel begonnen, dann gäbe es den jetzt schon, und Bürger sowie kleine und mittelständische Unternehmen müssten nicht um ihre Existenz fürchten.
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Jetzt fallen Sie in eine Winterlücke; denn die Gaspreisbremse soll frühestens im März kommen. Dann aber ist der Winter fast vorbei. Den Versorgern und Stadtwerken können wir hier auch nicht den schwarzen Peter in die Schuhe schieben. Sie weisen seit Wochen darauf hin, dass ein Vorziehen der Gaspreisbremse auf Januar technisch und organisatorisch nicht umsetzbar ist.
Und viel wichtiger noch: Damit Bürger und Betriebe im Dezember tatsächlich entlastet werden können, brauchen die Versorger das Geld bis spätestens 1. Dezember vom Bund. Leider hat die Ampel hierfür die operativen Voraussetzungen noch nicht geschaffen. Der Abschlagsverzicht im Dezember steht auf der Kippe, und Bürger und Betriebe schauen womöglich in die Röhre. Das Chaos geht in die nächste Runde.
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Stichwort „Chaos“. Selbstständige und Gewerbetreibende müssen sich auf Folgendes einstellen: Die Soforthilfe ist zu versteuern, und das nur, weil die Ampel sich weigert, die Steuerbefreiung ordentlich zu regeln.
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Meine Damen und Herren, während die Ampel immerhin Gas- und Wärmekunden entlasten will, gehen Millionen Heizöl-, Flüssiggas- und Pelletkunden leer aus.
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Auch sie haben mit immensen Preissteigerungen zu kämpfen. Für sie gibt es gerade mal die vage Ankündigung einer Härtefallregelung.
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Hart arbeitende Normalverdiener, Rentner, Mittelständler mit Öl- und Pelletheizungen sind aber keine Härtefälle. Sie sind die Mitte dieser Gesellschaft.
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Viele dieser Menschen leben auf dem Land und leiden unter Ihrer Großstadtpolitik.
Wir brauchen Entlastung für alle Heizungsarten. Wir brauchen eine schnelle Absenkung der Strom- und Energiesteuer sowie der Mehrwertsteuer auf alle Energieträger auf das EU-Mindestmaß. Das fordern wir mit unserem heutigen Antrag.
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Stimmen Sie diesem Antrag zum Wohle des vergessenen Drittels an Haushalten zu, die mit Öl, Flüssiggas oder Pellets heizen,
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wie auch wir Ihrem Gesetz zustimmen – trotz aller Kritik.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Andreas Mehltretter für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ampel hat in den vergangenen Wochen und Monaten viel Geld in die Hand genommen.
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Wir unterstützen Bürgerinnen und Bürger und Betriebe schnell und vor allem spürbar. Wir wollen, dass weder die Heizungen noch die Lichter ausgehen. Und wir wollen, dass alle ihre Rechnungen dafür bezahlen können.
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Mit drei Paketen haben wir dafür schon Entlastungen in Höhe von über 60 Milliarden Euro umgesetzt. Das sind echte Maßnahmen, Herr Helfrich, die wir jetzt schon umgesetzt haben. Daher müssen wir nicht warten, bis Sie tatsächlich mal irgendwann mit Vorschlägen um die Ecke kommen, die wir jetzt in Ihrer Rede leider vermisst haben.
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Bei all den Maßnahmen war uns aber immer wichtig: Sie müssen schnell wirken, und sie müssen alle erreichen, die auf die Entlastungen angewiesen sind. Nach dieser Prämisse handeln wir jetzt auch, um den extrem gestiegenen Gaspreisen entgegenzutreten. 200 Milliarden Euro stellen wir für den umfassenden Abwehrschirm zur Verfügung. Geld, mit dem wir die Preisbremsen für Strom, Gas und Wärme finanzieren,
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Geld, mit dem der Bund die Abschlagszahlung für Gas und Fernwärme im Dezember übernehmen wird.
Die große Preisbremse für leitungsgebundenes Erdgas und Wärme kommt im März. Schneller bekommen die Versorger das leider, aber doch nachvollziehbar nicht umgesetzt. Aber wie bei allen anderen Entlastungen gilt: Wir lassen niemanden allein.
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Wir sorgen dafür, dass alle gut durch den Winter kommen.
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Deswegen beschließen wir heute das, was schnell umgesetzt werden kann, nämlich die Übernahme des Dezemberabschlags. Damit das schnell funktioniert, können wir nicht vorher prüfen, ob jemand das Geld wirklich braucht. Das empfinden manche als ungerecht; das wissen wir. Bedürftigkeitsprüfungen würden die Auszahlung aber endlos in die Länge ziehen. Das wollen wir nicht. Wir wollen jetzt helfen, nicht irgendwann im nächsten Sommer.
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Trotzdem schaffen wir es mit diesem Gesetz, ein sozial gerechtes Paket vorzulegen. Damit vor allem kleine und mittlere Einkommen profitieren, wird die Soforthilfe bei besonders hohem Einkommen versteuert. Das heißt, alle, die auf das Geld angewiesen sind, bekommen die volle Entlastung, indem sie den Dezemberabschlag nicht bezahlen müssen. Aber alle, die diese Entlastung nicht zwingend brauchen, weil sie sehr viel Geld verdienen, müssen über die Einkommensteuer einen angemessenen Teil wieder abgeben. Das ist gerecht und finanzpolitisch verantwortungsvoll.
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Gerecht ist auch, dass wir im Gesetz festgelegt haben, dass Mieterinnen und Mieter, deren Abschlag bereits erhöht wurde, über die Entlastung informiert werden müssen und sie die Vorauszahlung entsprechend kürzen dürfen. Sie müssen also nicht auf die Betriebskostenabrechnung irgendwann im nächsten Jahr warten; auch bei ihnen kommt die Hilfe jetzt an. Falls bei der Kürzung aus Versehen was schiefgeht und zu wenig Vorauszahlung an den Vermieter geleistet wird, ist das kein Kündigungsgrund. Auch das haben wir im Gesetz festgehalten.
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Das zeigt: Wir entlasten schnell, und wir entlasten sozial gerecht.
Wir schaffen es tatsächlich, bei allen wichtigen Checkboxen einen Haken zu setzen. Wir sorgen mit der Dezembersoforthilfe auch für einen wichtigen Sparanreiz. Der Staat übernimmt nämlich nicht die Dezemberrechnung. Er übernimmt die Abschlagszahlung. Das ist ein extrem wichtiger Unterschied, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher das Geld komplett behalten dürfen. Aber jede Kilowattstunde, die sie im Dezember verbrauchen, müssen sie voll bezahlen. Das heißt, Sparen rentiert sich.
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Meine Damen und Herren, der nächste Schritt werden die Preisbremsen sein. Auch die müssen schnell kommen, damit wir auch den großen Industriebetrieben helfen können. Wichtig ist uns auch, dass Hilfen für Härtefälle eingeführt werden. Und wir brauchen eine gerechte Lösung für diejenigen, die mit anderen Brennstoffen wie Gas aus Tanks oder Holzpellets heizen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck.
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Bis dahin ist die Übernahme der Abschlagszahlung eine gut tragende Brücke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Betroffene, die uns heute zuschauen! Endometriose – Endo… was? Das hört man ganz oft, dass es viele gar nicht richtig aussprechen können, dass man gar nicht weiß, worum es eigentlich geht. Es geht aber darum, dass ungefähr 15 Prozent aller Frauen in Deutschland davon betroffen sind – natürlich nicht nur bei uns. Jedes Jahr werden 40 000 Diagnosen gestellt, aber es werden eben auch viele Diagnosen nicht gestellt. Und es ist so, dass viele Frauen, wenn sie Glück haben, nach fünf Jahren, nach zehn Jahren ihre Diagnose bekommen – wir hatten bei der Veranstaltung unserer CDU/CSU-Bundestagsfraktion Frauen, die nach 28 Jahren ihre Diagnose bekommen haben – und dann nicht mehr als Simulantinnen dargestellt werden, sondern es endlich erkannt wurde, dass sie eine schwerwiegende Krankheit haben.
Es wird oft von Unterleibsschmerzen berichtet. Aber nicht nur im Unterleib finden Schmerzen statt. Wir hatten eindringliche Schilderungen von anderen Schmerzen, von Blut in der Lunge. Eine Frau, die uns zugeschaltet war, hat gesagt, ihre Schmerzen im Arm waren durch die Endometriose so stark, dass sie kurz davor war, sich den Arm amputieren zu lassen. Das ist eine ganz, ganz schwere Krankheit, die wirklich viele Frauen betrifft, die sicherlich auch eine Schwester, eine Cousine, die Mutter, die Tochter von manchem bei uns im Bundestag betrifft, also eine Krankheit, die eine ganz große Aufmerksamkeit verlangt, wie übrigens alle Frauengesundheitsthemen.
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Jetzt hat unser Nachbarland eine nationale Strategie beschlossen. Ich bin Emmanuel Macron sehr dankbar, der die Vorstellung dieser nationalen Strategie mit den Worten eingeleitet hat, dass es eben kein Frauenproblem ist, dass es ein Problem für die gesamte Gesellschaft ist, weil es natürlich nicht „nur“ – in Anführungszeichen – diese wahnsinnig starken Schmerzen bis zur Besinnungslosigkeit sind, sondern weil das natürlich ganz oft auch mit Unfruchtbarkeit einhergeht, mit einer ungewollten Kinderlosigkeit, mit einem Kinderwunsch, der nicht mehr erfüllt werden kann. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns der Sache annehmen.
Mein Wunsch bzw. der Wunsch unserer gesamten Fraktion ist, dass wir auch in Deutschland eine nationale Strategie aufsetzen,
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dass wir Gelder für die Forschung zur Verfügung stellen. Mein Gruß geht beispielsweise auch stellvertretend für alle Ärztinnen und Ärzte an Frau Professor Mechsner an der Charité hier in Berlin, die Wartezeiten hat, die über viele Monate hinausgehen, die verzweifelte Patientinnen hat, die mehr tut, als sie muss, und auch mehr, als ihr vom Budget her, das sie an der Stelle hat, zusteht. Wir brauchen mehr Geld für die Forschung. Wir brauchen auch mehr Geld für die Therapien. Die nationalen Zentren sind alle überlastet. Das heißt, wir wünschen uns eine nationale Strategie.
Wir brauchen aber neben den Zentren auch mehr Ausbildung für die Medizinerinnen und Mediziner, weil es ganz wichtig ist, dass ich schon im Medizinstudium überhaupt was über diese Krankheit erfahre. Warum wird sie denn so spät diagnostiziert? Weil sie eben nicht ausreichend bekannt ist. Auch dahin geht unser Wunsch.
Aber der betrifft auch schon die Schulen. Wieso lernt man in den Schulen insgesamt viel zu wenig über den weiblichen Zyklus, über die möglichen Beschwerden, auch darüber, vielleicht später gar nicht die Möglichkeit zu haben, wenn man das möchte, Kinder zu bekommen? Wir müssen das Tabu endlich brechen. Wir müssen wirklich gendergerechte Gesundheitspolitik machen. Wir müssen viel mehr machen für Frauengesundheit.
Ich bin froh, dass unsere Arbeit dazu geführt hat, dass auch unser Bundesgesundheitsminister, der im September noch auf unsere Anfrage gesagt hat: „Es gibt keine Gelder“, eine Woche nach der Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zumindest mal mit 5 Millionen Euro anfängt. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist besser als nichts. Mehr muss folgen. Ich würde es mir für alle betroffenen Frauen wünschen.
Ganz herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort Heike Engelhardt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger hier auf der Tribüne, an den Bildschirmen und ganz besonders aus meinem Wahlkreis Ravensburg und aus dem Bodenseekreis! Zum Glück ertrinken wir jetzt hier nicht in Krokodilstränen.
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Wir können ja Gott sei Dank auch schwimmen.
Am 29. September, dem Tag der Endometriose, habe ich gemeinsam mit der Endometriose-Vereinigung zu einem Fachgespräch zu diesem Thema eingeladen. Ich habe mich sehr gefreut, dass so viele Kolleginnen und Kollegen der SPD, der FDP und der Grünenfraktion an der Veranstaltung teilgenommen haben. Besonders beeindruckt hat mich die Erzählung einer jungen Frau aus dem Vorstand. Sie leidet seit dem 13. Lebensjahr an Endometriose. Sie kann ihren Beruf nicht mehr ausüben und ist mit Mitte 20 erwerbsunfähig – aus dem Leben geworfen zu einem Zeitpunkt, an dem andere ihre Zukunft vor sich haben, an Familiengründung denken, ihre Karriere planen. Fünfeinhalb Jahre hat es gedauert, bis endlich eine Frauenärztin die Krankheit erkannte und die Patientin einen Namen für ihr Leiden erfuhr: Endometriose.
Die lange Leidensgeschichte bis zu einer Diagnose hätte ihr erspart bleiben können, wenn sich die CDU/CSU-Fraktion nicht in den letzten 16 Jahren so massiv gegen die Erhöhung der Forschungsmittel für die Frauengesundheit
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und speziell für die Erforschung der Endometriose gesperrt hätte. Besonders schade finde ich, dass es mit Schavan, Wanka und Karliczek eben Ministerinnen waren, die das Leid unnötig verlängert haben.
Umso mehr habe ich mich gefreut, dass es uns jetzt bereits in den Einzelplanberatungen für den Haushalt 2023 gelungen ist, die Mittel in diesem Bereich zu erhöhen. Zukünftig werden wir mindestens 5 Millionen Euro pro Jahr in die Erforschung der Endometriose stecken. Ein großer Erfolg, ein wichtiger Erfolg.
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An dieser Stelle möchte ich mich ganz besonders bedanken bei unserer zuständigen Haushälterin Wiebke Esdar und auch bei unserem Patientenbeauftragten Stefan Schwartze, der sich sehr für die Patientengruppe mit diesem Krankheitsbild einsetzt.
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Frauengesundheit! Wie gut, dass wir endlich mehr über Frauengesundheit sprechen, und heute über die Endometriose. Diese schwere Krankheit muss aus der Tabuzone raus. Wir müssen darüber sprechen, wir müssen damit umgehen, und wir müssen sie noch gründlicher erforschen. Ich bin sehr froh, hier mit tollen Kolleginnen und Kollegen der Ampelfraktionen zusammenzuarbeiten. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam noch viel für die Frauen, die Gesundheit und die Frauengesundheit erreichen werden.
Vielen Dank.
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Jetzt erhält das Wort Dr. Christina Baum für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion unterstützt den vorliegenden Antrag ausdrücklich. Bereits zu Beginn des Jahres hat meine Fraktion auf entsprechende Defizite, insbesondere auf den Versorgungsmangel, hingewiesen. Von der CDU/CSU haben wir damals nichts dazu gehört.
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Auch wenn der Antrag richtig ist, verwundert es schon, dass die Union nun schnellstmögliche Maßnahmen fordert, nachdem sie bis vor einem Jahr für 16 Jahre in Regierungsverantwortung war und davon die letzten acht Jahre auch den Gesundheitsminister gestellt hat.
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Endometriose ist wahrlich kein neues Phänomen, sondern wurde bereits vor mehr als 300 Jahren medizinisch beschrieben. Dass Frankreich bei dieser Thematik bereits deutlich fortgeschrittener agiert als Deutschland, liegt weniger an einer visionären Politik Frankreichs, sondern leider viel mehr an einer schlecht orientierten deutschen Politik.
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Es freut uns aber, dass die Union in der Opposition endlich Zeit findet, sich wenigstens in Teilen wieder mit den wahren Problemen der Menschen in Deutschland zu beschäftigen; denn Endometriose kann völlig zu Recht als weibliche Volkskrankheit beschrieben werden. Bei 40 000 Neuerkrankungen und etwa 2 Millionen betroffenen Frauen sollte davon ausgegangen werden, dass ein modernes Land wie Deutschland schon längst über eine entsprechende Infrastruktur verfügt. Leider ist das nicht der Fall.
Schmerzen, Organschäden und nicht zuletzt ein unerfüllter Kinderwunsch können die Folge dieser Erkrankung sein. Eine frühzeitige Diagnose ist deshalb elementar. Vor dem Hintergrund derartig heftiger gesundheitlicher Probleme und schwerwiegender Folgen sollte die Forschung längst ein anderes Niveau erreicht haben.
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Für uns zeigt sich deshalb erneut, dass es einen Wandel des gegenwärtigen Gesundheitssystems braucht, der wieder die Menschen und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt statt Profit und Wirtschaftlichkeit. Die Bürger unseres Landes sollten sich darauf verlassen können, dass ihre Krankheiten ernst genommen und auch dann behandelt werden und nicht hinten runterfallen, wenn die Behandlung nicht profitabel genug erscheint. Gesundheitsversorgung ist Daseinsfürsorge und kein Geschäftsmodell!
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Eine nationale Endometriosestrategie, Aufklärung, Forschung und nicht zuletzt die rechtzeitige Behandlung sind richtig und daher Ziele, die wir uneingeschränkt unterstützen. Damit das überhaupt möglich wird, muss eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten, insbesondere Frauenärzten, weiterhin gegeben sein. Das ist heute schon nicht mehr der Fall. Der Erhalt der bestehenden Praxen und Kliniken muss daher auch Teil dieser nationalen Strategie sein.
Noch einmal: Gesundheitsversorgung ist wenigstens für die AfD-Fraktion Daseinsfürsorge. Die Bundesregierung wirft derzeit so hemmungslos Gelder zum Fenster heraus wie selten zuvor. Deshalb sollte eine umfassende Struktur zur Bekämpfung der Endometriose an einem nicht scheitern: am Geld. Die Gesundheit des eigenen Volkes sollte ohnehin ganz oben auf der Prioritätenliste einer anständigen Regierung stehen.
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Wir werden Sie daran messen.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen erhält das Wort Saskia Weishaupt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dittmar! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marie ist 13, als sie das erste Mal ihre Periode bekommt. Nach einem Jahr treten plötzlich starke Schmerzen auf – während der Menstruation, aber auch ganz unabhängig von der monatlichen Blutung. Schmerzen, die so stark sind, dass sie nicht stehen, sitzen oder liegen kann, die ganz plötzlich auftreten und sich über Stunden, gar Tage hinziehen. Beim Toilettengang ist es zum Teil so unerträglich, dass sie ohnmächtig wird. Sie verpasst regelmäßig den Unterricht in der Schule. An Tanzen und Feiern in der Jugend ist nicht zu denken. Die Mitgliedschaft im Turnverein gibt sie letztlich auf. Sie ist körperlich erschöpft. Aber auch psychisch sind die plötzlich auftretenden Schmerzen eine zunehmende Belastung.
Über mehrere Jahre sucht Marie Ärztinnen auf, lässt sich untersuchen – eine Diagnose bleibt aus. Viel zu oft hört sie, sie solle sich nicht so anstellen; denn Schmerzen gehören zur Menstruation schließlich ganz normal dazu. Es vergehen zehn Jahre, bis Marie mit 23 Jahren in einem speziellen Zentrum die Diagnose bekommt: Endometriose. Das klingt für Sie wie ein dramatischer Einzelfall. Ich wünschte, es wäre so.
Endometriose ist die zweithäufigste gynäkologische Erkrankung in Deutschland. Laut dem aktuellen Frauengesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts leidet eine von zehn Frauen an Endometriose. Wir sprechen also hier von schätzungsweise 2 Millionen Erkrankten, und jährlich kommen 40 000 neu gestellte Diagnosen dazu. Um das besser einschätzen zu können: Endometriose gibt es damit öfter als Diabetes Typ 2. Und trotzdem bekommen Betroffene oft zu hören: Endo… was? An was leidest du ganz genau? – Deswegen fangen wir mal von vorne an und betreiben hier auch ein bisschen Aufklärung.
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Bei der Endometriose wächst Gewebe, das dem Gewebe der Gebärmutterschleimhaut sehr ähnelt, außerhalb der Gebärmutter. Dieses Gewebe wird häufig als Endometrioseherd bezeichnet. Diese Gewebe sind an ganz verschiedenen Stellen zu finden: im Bauchraum, an den Eierstöcken oder auch am Darm. Dieses Ansammeln von Gewebe außerhalb der Gebärmutter löst ganz verschiedene Beschwerden aus: starke Unterleibsschmerzen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Erschöpfung, Durchfall – und das sind nur einige wenige Symptome, über die Betroffene berichten. All das kann während der Menstruation auftreten, aber auch ganz zyklusunabhängig sein. Die Erkrankung ist damit gekennzeichnet von einer unterschiedlichen Intensität und Ausprägung.
Mittlerweile gibt es Endometriosezentren, die die Diagnose gezielt stellen können. Aber die Ursache bleibt bis heute unklar. Ist die Diagnose erst mal nach langer Zeit gestellt, gibt es keinen Ausblick auf Heilung; denn Endometriose ist eine chronische Erkrankung.
Fassen wir also mal zusammen: Ursache Endometriose – unklar. Diagnose – gestellt nach mehreren Jahren, wenn überhaupt. Heilungschance – 0 Prozent. Und das normale Leben für Betroffene – nahezu unmöglich.
Endometriose ist ein Beispiel, das systematisch zeigt, wie unsere Gesellschaft mit geschlechtsspezifischen Erkrankungen umgeht. Seit über 30 Jahren gibt es den Tag der Frauengesundheit, und trotzdem gilt in unserem Gesundheitssystem der Mann als Norm. Von der Forschung bis hin zu Medikationsplänen: Frauen sind oftmals einfach unsichtbar.
Es hat leider erst einen Regierungswechsel gebraucht, damit sich dieses Thema endlich mal in einem Koalitionsvertrag wiederfindet.
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Liebe Union, hätten Sie Ihre ganze Energie, die Sie beim Thema Gendern verbraten, mal ernsthaft in die Gendermedizin gesteckt, wären wir heute schon sehr viel weiter!
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Ihr Antrag zur Endometriose, liebe Union, ist per se erst mal sehr erfreulich, weil Sie erkennen, dass es das Thema gibt. Und ja, Sie waren auch daran beteiligt, dass das Thema Endometriose im Frauengesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts thematisiert wird. Aber das reicht doch nicht! Die Forschung steckt in den Kinderschuhen, weil Sie kläglich versagt haben. Es kann doch nicht sein, dass Forschende berichten, dass sie in den letzten Jahren Crowdfunding betreiben mussten, um forschen zu können, weil Sie die Augen verschlossen haben. Das gehört nämlich auch zur Wahrheit dazu.
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Deswegen bessern wir als Koalition hier nach: Nächstes Jahr gibt es 5 Millionen Euro für die Forschung.
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Das ist mehr Geld, als Sie in den letzten 16 Jahren dafür bereitgestellt haben. Das müssen Sie sich jetzt leider auch mal anhören.
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Liebe Union, ich freue mich wirklich sehr über eine Sache, und zwar, dass Sie sich dem Kampf einer feministischen Gesundheitspolitik anschließen wollen. Ich hoffe, ich kann auch bei anderen Themen, die Frauen betreffen, auf Ihre Unterstützung zählen: Zugang zu Verhütungsmitteln, gendersensible Forschung, die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen – da gibt es viele Themen, die wir als Koalition noch angehen werden.
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Auf Ihre konstruktive Mitarbeit zum Wohle aller Frauen bin ich wahrlich gespannt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Endometriose-Betroffene brauchen unsere politische Unterstützung; denn sie warten, ehrlich gesagt, schon ziemlich lange darauf.
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Geben wir endlich eine Antwort!
Vielen Dank.
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Das Wort erhält für Die Linke Heidi Reichinnek.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor: Sie stehen an diesem Pult. Plötzlich haben Sie Schmerzen im Unterbauch, die Ihnen die Beine wegziehen und Sie in die Knie zwingen. Sie liegen auf dem Boden und schreien vor Schmerzen. Und das passiert nicht nur einmal. Diese Schmerzen kommen immer wieder, regelmäßig, jeden Monat. Und wenn Sie dann zu einer Ärztin oder zu einem Arzt gehen, dann heißt es oft nur: Schmerzen während der Menstruation sind normal, nehmen Sie halt eine Tablette. – Fünfmal werden Frauen im Schnitt abgewiesen, bis sie ernstgenommen werden. Zehn Jahre dauert es durchschnittlich vom Erstkontakt bis zur Diagnose der Krankheit Endometriose. Dabei ist jede zehnte Frau betroffen, und fast 30 000 Frauen wurden 2020 deswegen sogar im Krankenhaus behandelt.
Ich weiß, das sind eine Menge Zahlen, aber eine muss noch sein: 16 Jahre lang hatte die Union Regierungsverantwortung,
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und jetzt spielt sie sich hier als Retterin der Endometriose-Erkrankten auf. Nichts ist in den 16 Jahren passiert!
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Ich weiß, da war wieder die böse SPD schuld – denen gebe ich auch gerne die Schuld; meistens auch zu Recht –, aber mal ehrlich: Das Gesundheitsministerium lag acht Jahre lang in Ihrer Verantwortung. Was haben Sie denn in der Zeit unternommen, um den Betroffenen zu helfen? Fragen Sie doch mal Ihren ehemaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe, wie sein Kampf gegen die Endometriose aussah.
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Oder Jens Spahn, was hat der denn gemacht? Auch das Forschungsministerium lag 16 Jahre lang in CDU-Hand – da können Sie sich aufregen, soviel Sie wollen, es stimmt halt trotzdem –,
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aber Sie haben es nicht geschafft, auch nur ein vernünftiges Forschungsprojekt dazu zu finanzieren. Aber gut, es lohnt sich nicht, sich aufzuregen.
Andere Länder sind da deutlich weiter. In Australien zum Beispiel hat sich die Regierung für die jahrzehntelange Vernachlässigung von Frauen entschuldigt. Dort gibt es jetzt einen landesweiten Aktionsplan. In Frankreich wurde der nationale Kampf gegen Endometriose ausgerufen, der eine umfassende Versorgung und Geld für Forschung sicherstellen soll. Aufgrund dieser Forschung wurde jetzt auch ein Speicheltest entwickelt, der binnen zwei Wochen feststellen kann, ob eine Frau an Endometriose leidet. Das sind doch genau die Ergebnisse, die wir brauchen.
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Auch die Ampelregierung hat sich die Gendermedizin auf die Fahnen geschrieben; das ist schon mal sehr gut. Entsprechend erzählte Minister Lauterbach der Presse auch, dass sein Ministerium mit dem Forschungsministerium einen guten Austausch zu dem Thema pflege. Immerhin, dachte ich mir. Aber dann habe ich mal nachgefragt und Akten angefordert. Das Ergebnis: Es gab seit Regierungsbeginn exakt ein Gespräch zwischen den Häusern – eins! Das ist schon ein bisschen peinlich, wenn Sie mich fragen.
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Dann habe ich nachgefragt, wie es denn mit der Förderung der Endometrioseforschung aussieht, und während das Haus des Gesundheitsministers mir erklärt, es gebe kein Geld, erklärt der Haushaltsausschuss am gleichen Tag, an dem ich diese Antwort bekommen habe, es würden 5 Millionen Euro bereitgestellt. Nur hat das anscheinend niemand dem Gesundheitsminister gesagt.
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Reden Sie nicht miteinander? Also, so sieht Austausch in meinen Augen nicht aus.
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Endometriose scheint im Gesundheitsministerium leider immer noch keine Priorität zu haben.
Immerhin, es geht voran, und was diverse Regierungen verschlafen haben, fängt wieder einmal die Zivilgesellschaft auf. Die Endometriose Vereinigung Deutschland kämpft seit Jahren um Aufmerksamkeit für die Krankheit. Sie hat aufgezeigt, wo Forschung nötig ist, und diese Aufmerksamkeit geschaffen. Ich möchte allen Engagierten für ihren Einsatz danken; denn Endometriose ist mit so viel Leid, mit Stigma, mit Schmerzen und mit Ängsten verbunden. Also, schaffen wir gemeinsam Aufmerksamkeit und Bewusstsein!
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Helfen wir gemeinsam, Tabus abzubauen, und vor allem: Nehmen wir endlich das Geld in die Hand, das wir brauchen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion erhält das Wort Nicole Westig.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Endometriose ist den Freien Demokraten ein sehr wichtiges Anliegen. In der Vergangenheit haben Kolleginnen von mir in den Länderparlamenten bereits verschiedene Initiativen dazu gestartet.
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Endometriose tritt häufiger auf als Diabetes Typ 2 und ist damit eine Volkskrankheit, doch kaum jemand weiß davon. Bis zu 10 Prozent aller Frauen leiden darunter, haben starke Schmerzen, Menstruationsstörungen und bleiben oft ungewollt kinderlos. Die Ursachen für Endometriose sind ebenso unbekannt wie der Leidensweg der Betroffenen lang; denn viele Diagnosen werden oft erst zehn Jahre nach Auftreten der ersten Symptome gestellt. Bis dahin wird das Leiden oft abgetan als bloße Menstruationsbeschwerden oder Wehleidigkeit von Frauen. Frauen werden alleine gelassen, obwohl sie Monat für Monat mit diesen Einschränkungen leben.
Die Fortschrittskoalition will das nicht länger hinnehmen. Deshalb haben wir gemeinsam mit unserer Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger eine neue Förderrichtlinie zu Frauengesundheit und Endometriose erstellt.
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Im nächsten Jahr stellen wir dafür 5 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung, und ab 2024 soll dieser Betrag noch steigen. Damit sorgen wir für eine bessere Versorgung, mehr Aufklärung und vor allem für mehr Forschung.
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Dass Endometriose so lange verkannt wurde, ist auch Ausdruck eines Tabus, das nach wie vor die Menstruation und spezifisch weibliche Erkrankungen betrifft. Wenn es um Aufklärung über den weiblichen Körper geht, scheinen wir oft noch im Mittelalter zu stecken. Lange Zeit gab es für den Biologieunterricht an unseren Schulen kein Schulbuch mit der korrekten Darstellung der weiblichen Geschlechtsteile. Erst im Februar dieses Jahres – ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie hören richtig –, im Jahr 2022, haben die Schulbuchverlage endlich ihre Biobücher aktualisiert.
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Analog dazu sind Frauen in medizinischen Studien nach wie vor unterrepräsentiert; der männliche Körper gilt noch immer als Standard. Aus diesem Ungleichgewicht ergibt sich ein deutlicher Gender Data Gap, den es endlich zu beseitigen gilt.
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Denn während die Auswirkungen von Krankheiten auf Männer bereits sehr gut erforscht sind, leiden Frauen in der Versorgung aufgrund der fehlenden Datenlage für ihr Geschlecht. Diesen Gender Data Gap, gerade im medizinischen Bereich, will die Ampel schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind wir den Frauen in unserem Lande schuldig. Insbesondere unter den jungen Frauen wächst eine kritische, selbstbewusste Generation heran, und das macht mich zuversichtlich. Junge Frauen wie meine zwanzigjährige Tochter setzen sich zum Beispiel sehr kritisch mit Fragen der Verhütung auseinander. Sie können nicht verstehen, warum Verhütung noch immer in erster Linie Frauensache sein soll.
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Diese Generation wird uns Politikerinnen und Politiker daran messen, was wir für ihre Gesundheitsversorgung tun. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir uns als Ampelkoalition auch darauf verständigt haben, die Forschungsförderung für Verhütungsmittel für alle Geschlechter anzuheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ampel sagt der Endometriose den Kampf an und wird sie enttabuisieren. Aber wir wollen weit mehr. Unser Ansatz ist ein ganzheitlicher. Wir wollen die gleichberechtigte Versorgung, Gesundheitsförderung und Prävention für Frauen und Männer. Nachhilfe von der Union brauchen wir dazu nicht.
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Nächste Rednerin in dieser Debatte ist Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Satz zu Beginn meiner Rede sollte eigentlich lauten: Das Bemerkenswerte am Thema Endometriose ist, dass sie, so schlimm die Krankheit an sich ist, Frauen dazu bringt, füreinander einzustehen. – Das ist das, was ich jetzt so tragisch finde, liebe Kollegin Weishaupt: Sie suggerieren hier, dass der Union die Frauen in diesem Lande egal wären, und das finde ich einfach nicht redlich.
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Ich könnte Sie dann jetzt auch fragen: Warum haben Sie denn beispielsweise die Hebammen aus dem Pflegebudget herausgenommen?
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Das haben nämlich Sie als Ampelkoalition vor zwei Wochen getan, und damit haben Sie allen Wöchnerinnen einen Bärendienst erwiesen.
Das ist deswegen so schade an dieser Debatte, weil es hier eigentlich darum geht, dass wir zusammenstehen sollten, um eine Verbesserung in diesem Bereich zu erhalten.
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Liebe Kollegin Engelhardt, die Kollegin Baehrens, die Staatssekretärin Dittmar und auch ich waren in der letzten Legislaturperiode gemeinsam in Verantwortung. Das Thema Endometriose wurde aber nicht so besprochen, wie Sie es behauptet haben. Es war nicht so, dass die Union da alles verhindert hätte.
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Das stimmt einfach nicht! Das ist nicht redlich, was Sie hier von sich geben, und das lasse ich so nicht auf uns sitzen.
Wir haben heute diesen Tagesordnungspunkt ganz bewusst ins Plenum geholt. Da bin ich auch den Kolleginnen Bär, Breher und wie sie alle dasitzen, sehr dankbar. Es war uns ein Anliegen, und es ist wichtig, dass wir diesen Tagesordnungspunkt heute hier debattieren.
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So geht es auch den Kolleginnen der FDP: Die junge Kollegin hat vor Kurzem noch hier vorne gesessen. So geht es auch den jungen Frauen bei uns in der Jungen Union Bayern. Die haben, genauso wie die Jungen Liberalen, zu Beginn dieses Jahres dieses Thema im Rahmen eines Onlinegesprächs aufgerufen. Auslöser war – und das ist das Bemerkenswerte an diesem Thema – nicht die eigene Betroffenheit, sondern es war die Betroffenheit einer Freundin. Mit viel Empathie haben sie für diese Freundin dieses wichtige Thema aus der Tabuzone herausgeholt. Darum geht es, und deshalb sollten wir hier zusammenstehen.
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Durch den Schutz durch eine große Gruppe junger Frauen konnte für diese Freundin Raum geschaffen werden, sodass sie nicht mehr im Verborgenen leiden musste.
Wir versuchen, diesen Raum auch hier zu schaffen; denn – das wurde angesprochen – an Endometriose sind nach aktuellen Schätzungen rund 15 Prozent der weiblichen Bevölkerung erkrankt. Und ja, natürlich müssen wir in diesem Bereich bei den Daten besser werden. Deswegen brauchen wir eine nationale Endometriosestrategie, und das haben wir auch so in unserem Antrag formuliert. Der Antrag, in dem Sie das formulieren, fehlt uns bis heute. Also legen Sie ihn gerne vor, oder stimmen Sie uns zu!
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Ich bin dankbar, dass unsere junge Generation dieses Thema selbstbewusst setzt. Ich würde Ihnen gerne zum Schluss dieser Rede anbieten, dass wir gemeinsam einen Gesetzentwurf zu diesem Thema auf den Weg bringen, und wollte beispielsweise auch die Expertise –
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin?
– unserer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden oder AG-Vorsitzenden anbieten. Aber es ist sehr schade, was Sie heute gemacht haben; denn Sie haben dieses Bündnis der Frauen in gewisser Weise gesprengt. Das finde ich sehr bedauerlich.
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Ich unterbreche kurz die Debatte und komme zurück zu Tagesordnungspunkt 18. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend oder in der Lobby, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die namentliche Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird uns wie immer später mitgeteilt.
Wir fahren fort in der Debatte. Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion Ruppert Stüwe.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition hat 5 Millionen Euro für die Endometrioseforschung im Haushalt 2023 bereitgestellt. Wir haben damit das Thema von der Nische ins forschungspolitische Zentrum der Debatte gerückt
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und vielleicht – auch angesichts der aktuellen Situation – Frauen, die an Endometriose leiden, Hoffnung gegeben, dass sich etwas verbessert bei der Aufklärung, bei der Diagnose, bei der Versorgung und bei der Therapie.
Nur um noch mal zu verdeutlichen, was es heißt, das Thema forschungspolitisch von der Nische ins Zentrum zu rücken: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat seit 2018 keinen Antrag mehr zur Endometriose finanziert, und in den letzten 16 Jahren haben wir als Bund 4 Millionen Euro für die Endometrioseforschung ausgegeben. Allein im nächsten Jahr, 2023, geben wir 5 Millionen Euro für dieses Thema aus. Das meine ich, wenn ich sage: von der Nische ins Zentrum der Debatte geholt.
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Ich habe gestern in Vorbereitung auf die Debatte noch mal mit Professor Sylvia Mechsner vom Endometriosezentrum der Charité in Berlin gesprochen.
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Sie hat mir noch mal in beeindruckender Art und Weise geschildert, was es eigentlich für ihre Patientinnen heißt, zehn Jahre lang auf eine ordentliche Diagnose, auf eine ordentliche Therapie zu warten, und wo eigentlich aus ihrer Sicht die Forschungsfelder in diesem Bereich liegen.
Die fangen bei der Grundlagenforschung an. Wir wissen nämlich noch gar nicht, warum sich Gebärmutterschleimhautgewebe eigentlich irgendwo anders im Körper ansiedelt. Wir wissen auch noch nicht, wie eine ordentliche Versorgungsstruktur für Betroffene auszusehen hat. Dafür gibt es viel zu wenig Forschung. Und wir müssen übrigens auch an der Therapie in der ganzen Breite forschen: von der Schmerztherapie über die Hormontherapie bis zum operativen Eingriff.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema, das 8 bis 15 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter betrifft, ist kein Nischenthema. Ein Thema, das 8 bis 15 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter betrifft, ist kein Frauenthema. Es gehört endlich raus aus der Nische und in die Mitte unserer Gesellschaft und in die Mitte unserer Debatte.
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Zu lange hatte es damit zu tun, dass wir in der Medizin den männlichen Körper zur Norm gemacht haben. Obwohl wir bei jeder Untersuchung, bei jedem Besuch einer Ärztin oder eines Arztes, immer dann, wenn wir ins Krankenhaus gehen, wenn wir Daten zu medizinischen Vorgängen aufnehmen, das Geschlecht abfragen, spielte es in der Forschung lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Das muss sich ändern.
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Wir haben dafür gesorgt, dass das Thema Endometriose forschungspolitisch aus der Nische herauskommt. Deswegen freue ich mich über die Debatte, die wir heute führen, und über die Debatten, die wir in Zukunft dazu führen. Es ist richtig, mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen, und ich bin stolz darauf, dass wir als Koalition dafür jetzt auch die notwendigen Mittel forschungspolitisch bereitgestellt haben.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort Silvia Breher.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diesen Antrag gestellt, um 2 Millionen Betroffene allein in Deutschland, um das Thema Endometriose und um Frauenkrankheiten in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist uns wichtig, das ist unser Anliegen, und dem dient unser Antrag.
Ich bin absolut enttäuscht davon, dass Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, heute nichts anderes einfällt, als auf 16 Jahre zurückzublicken, anstatt nach vorne zu blicken.
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Wenn Sie einen Antrag gestellt hätten, wenn Sie jetzt einen Antrag vorlegen würden, dann wäre das ja gut.
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Dann könnten wir über unterschiedliche Vorschläge diskutieren. So finde ich es tatsächlich einfach ein bisschen schade.
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Wir sprechen hier über 2 Millionen Frauen allein in Deutschland. Und ja, auch in den letzten 10 Jahren hätte sicherlich mehr passieren können. Ich kann da sicherlich die eine oder andere Frage vorwegnehmen. Aber die Erkenntnisse verändern sich, die Wahrnehmung verändert sich, Frauen gehen an die Öffentlichkeit.
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Wir wollen und müssen doch erreichen, dass mir nicht mehr jeder Mann und jede zweite Frau auf das Wort „Endometriose“ die Frage stellt: „Was ist denn das, wie heißt das?“, und niemand etwas damit anfangen kann.
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Der Weg bis zur Diagnose ist einfach unfassbar lang. Dieses Tabu müssen wir alle gemeinsam brechen.
Wir haben im August die Bundesregierung gefragt: Gibt es dafür Mittel? Die Antwort der Bundesregierung: Nein. – Die Linke hat die Bundesregierung noch deutlich später gefragt. Die Antwort „Nein“ kam am 20. Oktober, und am gleichen Tag kam dann das Deckblatt mit den 5 Millionen Euro.
Es ist richtig so, dass hier Geld investiert wird. Aber da dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir brauchen mehr.
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Wir brauchen eine Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne. Wir brauchen eine nationale Strategie gegen Endometriose, um Frauen mit diesem Krankheitsbild – und es gibt sicherlich noch viele andere – wirklich helfen zu können. Genau dazu trägt allein diese Debatte bei. Die Ärztinnen und Ärzte müssen angemessen vergütet werden. Es kann nicht sein, dass sie querfinanzieren müssen, wenn sie erkrankte Frauen behandeln.
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Am Ende braucht es vor allen Dingen mehr Öffentlichkeit. Die Betroffenen trauen sich, und wir können unseren Anteil dazu beitragen. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Betroffenen an dieser Stelle unterstützen und hier eine nationale Strategie zu Frauengesundheit, zu Endometriose auf den Weg bringen können.
Wenn Sie eine Idee haben, dann stellen Sie einen eigenen Antrag. Aber alles, was ich heute gehört habe, von allen anderen Kolleginnen und Kollegen an dieser Stelle, ist Zustimmung zu unserem Antrag, ist Unterstützung dessen, was wir gerade gesagt haben.
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Ich würde mich freuen, wenn Sie das dann auch bei Ihrer Abstimmung zeigen.
Vielen Dank.
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Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Liebe Betroffene! Rund 2 Millionen Frauen, Menstruierende leiden unter Endometriose. Für sie bedeutet das, dass sie in einem Alltag voller Schmerzen leben, immer wiederkehrend, monatlich, oft noch häufiger; denn Endometriose ist eine chronische Schmerzerkrankung, bei der sich der Gebärmutterschleimhaut ähnliches Gewebe außerhalb der Gebärmutter ansiedelt. Dadurch hervorgerufen gibt es Entzündungen, und diese Entzündungen sind dann eben so schmerzhaft. Sie können zu Blutungen und auch zu Fruchtbarkeitsstörungen führen. Die Ursache für diese Krankheit ist bis heute unbekannt, und es gibt bisher leider auch keine heilenden Behandlungsmethoden.
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass wir das Thema heute auch im Plenum beraten – darum der Dank an die CDU/CSU-Fraktion, die es mit ihrem Haushaltsantrag auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es gehört der Vollständigkeit halber aber auch dazu, dass wir vor einigen Wochen in den Haushaltsberatungen bereits beschlossen haben, dass im Einzelplan für Bildung und Forschung im nächsten Jahr mindestens 5 Millionen Euro im Rahmen der Gesundheitsforschung für die Erforschung des Krankheitsbildes Endometriose zur Verfügung gestellt werden.
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Ich finde, am Ende der Debatte lohnt es sich aber auch, diese Frage zu stellen: Warum tun wir das, warum debattieren wir das heute hier? Natürlich, ganz klar: weil es dringend notwendig ist. Aber ich finde, uns allen als Politik steht an dieser Stelle auch Demut gut zu Gesicht, weil wir einfach ehrlich sein und zugeben müssen, dass wir viel zu lange gebraucht haben. Die verschiedenen Fachgespräche – die Kollegin Engelhardt hat eben darauf hingewiesen – haben gezeigt, wie viele Betroffene wir haben. Endometriose ist eine Volkskrankheit; es gibt 2 Millionen Frauen, Menstruierende in Deutschland, die betroffen sind. Die durchschnittliche Dauer bis zur Diagnose beträgt zehn Jahre. Das bedeutet zehn Jahre lang Unklarheit, wiederholende Arztbesuche, Ärztinnenbesuche, und man weiß nicht, was passiert. Darum sollten wir auch ein Stück weit demütig sein, weil wir uns des Themas in den letzten Jahren nicht angenommen haben.
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Die einen haben den Gesundheitsminister gestellt, die anderen waren in Mitregierungsverantwortung, aber auch von der Opposition sind die Themen nicht ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt worden.
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Das gehört zur Ehrlichkeit einfach dazu.
Dass wir heute über das Thema diskutieren, liegt auch daran, dass es mutige junge Frauen gab. Eine mutige junge Frau ist Theresia Crone. Sie hat das Thema nämlich ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt, indem sie eine Petition gestartet hat, „#EndEndoSilence“; diese haben inzwischen 135 000 Menschen unterzeichnet. Wir müssen doch ehrlich sein und sagen, dass Politik reagiert, weil die Öffentlichkeit an uns herangetreten ist. Ich finde, wir sollten an dieser Stelle demütig sein, finde aber auch, dass wir etwas Positives darin sehen können. Denn es hat funktioniert, dass Menschen sich an uns wenden, dass Menschen Öffentlichkeit schaffen. Das gilt für viele Themen, mit denen wir konfrontiert sind. Dann sollten wir doch jetzt das Beste daraus machen, indem wir gemeinsam an dem Thema arbeiten und das, was die von Endometriose Betroffenen brauchen, als Politik ganz umfassend bereitstellen.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist wieder an der Zeit, mehr Demokratie zu wagen. Es war ein großartiger Erfolg, als Bundeskanzler Willy Brandt, direkt folgend aus seiner damaligen Regierungserklärung, die unter dem Titel „Mehr Demokratie wagen“ stand, es 1970 geschafft hat, eine große Mehrheit im Deutschen Bundestag, nämlich auch die Stimmen der Opposition, zu organisieren, um eine verfassungsändernde Mehrheit für die Absenkung des Wahlalters bei der Bundestagswahl auf 18 Jahre herzustellen.
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Heute, meine Damen und Herren, gehen wir den nächsten Schritt: Über 52 Jahre, nachdem wir das Wahlalter auf der Bundesebene auf 18 Jahre festgelegt haben, senken wir das Wahlalter bei Europawahlen auf 16 Jahre. Das ist ein hervorragender Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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In der Zwischenzeit haben sich unser Land und unsere Gesellschaft gewandelt. Unser Land ist eine erfolgreiche Republik geworden, und wir haben viel erreicht. Aber im Rahmen des demografischen Wandels hat sich auch die Stimmmacht älterer Wählerinnen und Wähler verstärkt. Wenn wir beachten, dass das durchschnittliche Wahlalter auch davon beeinflusst wird, dass heute immer mehr Menschen in diesem Land immer älter werden – ein großer Erfolg –, zeigt sich, dass auch die junge Generation ihre Stimme braucht.
Auch die Gegenargumente, die wir in der Wahlrechtskommission vernommen haben, sind schon damals formuliert worden. Es war von der mangelnden Einsichtsfähigkeit und der fehlenden Reife die Rede. Meine Damen und Herren, wenn sich junge Menschen in diesem Land dafür einsetzen, dass etwas gegen den Klimawandel getan wird, wenn sie Verfassungsbeschwerden anstrengen, wenn Petitionen eingereicht werden, dann zeigt die junge Generation: Wir wollen mehr Demokratie! Wir wollen stärker beteiligt werden! – Heute wird die Ampelkoalition diesen Schritt gehen.
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Die Ablehnenden sollten ihre Argumente heute vielleicht noch einmal überdenken. Ich richte mich ausdrücklich an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Geben Sie sich einen Ruck! Selbst in Koalitionsverträgen der schwarz-grünen Koalitionen senken Sie das Wahlalter bei Landtagswahlen von 18 auf 16 Jahre ab. Es ist doch ein Wertungswiderspruch, wenn Sie das gerade an dieser Stelle, auf der Ebene des Bundes, für das Wahlalter bei Europawahlen verweigern.
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Geben Sie sich einen Ruck! Dann können wir nämlich den Weg frei machen, um das zu erreichen, was wir auch wollen, nämlich das Wahlalter für die Bundestagswahlen ebenfalls auf 16 Jahre abzusenken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir geben der jungen Generation die Möglichkeit, zu entscheiden. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat von der intertemporalen Freiheitssicherung gesprochen, wenn es darum geht, zum Beispiel Klimaschutz voranzubringen. Die Art und Weise, sich einzubringen, sich zu beteiligen, ist so mächtig, dass wir auch hier einem Leitsatz folgen, den ich in Anlehnung an Willy Brandt formuliere: Mehr Mitbestimmung bedeutet auch mehr Mitverantwortung. – Warum verweigern wir denjenigen, die von den Entscheidungen, die wir heute fällen, am längsten betroffen sind, die Entscheidung darüber, wie Parlamente wie das Europaparlament zusammengesetzt sind? Es ist ein Widerspruch in sich, genau hier den Ausschluss zu formulieren.
Darum haben wir als Ampelkoalition das sowohl in der Wahlrechtskommission als auch im Innenausschuss ausführlich diskutiert. Heute beraten wir unseren Gesetzentwurf hier im Plenum abschließend.
Es ist wahrhaft so: Das soll der Ausgangspunkt sein, um auch über die Bundestagswahlen zu sprechen. Aber es ist nicht Mittel zum Zweck; denn auch das Europäische Parlament hat in einer Entschließung klar formuliert: Wir wollen, „dass das Mindestwahlalter … 16 Jahre“ beträgt. Das ist den Mitgliedstaaten eröffnet worden; es ist nicht ausgeschlossen worden. Im Gegenteil: Die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament haben gesagt: Mehr Europa wagen bedeutet, mehr Menschen die Beteiligung an den Wahlen zum Europaparlament zu ermöglichen. – Das tun wir heute, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Diejenigen, die sagen: „Es gibt genügend Möglichkeiten, sich einzubringen, zum Beispiel auf Demonstrationen, bei Petitionen, in Gesprächen bei Abgeordneten oder indem man im Netz irgendeine Initiative startet usw. usf.“, frage ich: Ist es dann nicht ein Widerspruch, dass man schon mit 16 Jahren Mitglied einer Partei – bei der SPD geht das schon im jüngeren Alter von 14 Jahren – und auch Vorsitzender einer Partei – das ist vielleicht für Friedrich Merz als Vorsitzendem der CDU unvorstellbar – werden kann? Die jungen Menschen haben die Möglichkeit, sich in Parteien einzubringen. Ich werbe natürlich für den Eintritt in die SPD, meine Damen und Herren, das soll hier keinen falschen Zungenschlag haben.
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– Der Applaus in der Ampel konzentriert sich jetzt auf die SPD.
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Aber es ist doch ein Widerspruch, dass wir einerseits die Beteiligungsmöglichkeit in den Parteien eröffnen, andererseits aber gerade denjenigen, die sich in Parteien auch in allen Ämtern und Funktionen engagieren können, verwehren, die Parlamente zu wählen. Auch hier gibt es einen Wertungswiderspruch. Wir werden nachher vermutlich von der Opposition die üblichen Gegenargumente hören. Diese sind aber nicht stichhaltig.
Deswegen: Nach den Beratungen und nach der Sachverständigenanhörung,
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in der eine einhellige Meinung weit über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg herrschte, und mit der klaren Botschaft aus der Zivilgesellschaft – –
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– Alexander, du weißt genau, wie es ist, und deswegen könnt ihr von der CDU/CSU auch dem Spruch Adenauers folgen, der sinngemäß lautet: „Es ist niemand daran gehindert, klüger zu werden“, und heute Abend für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre stimmen.
Die SPD ist klar dafür; die Ampel hat sich verständigt. Wir haben die Argumente auf unserer Seite. Wir sind uns sicher, dass in diesem Land demnächst 1,4 Millionen zusätzliche Wahlberechtigte das Europaparlament wählen sollen. Wir senken das Wahlalter ab; darum geht es.
Herzlichen Dank.
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Einen schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir. Ich grüße auch die Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen.
Wir führen die Debatte fort, und der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ansgar Heveling.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Änderung des Europawahlgesetzes und sollten vielleicht als Erstes den Blick auf die rechtlichen Grundlagen für die Europawahl richten.
Wir stellen fest: Im Jahr 2018 wurde vom Europäischen Parlament eine Änderung des Direktwahlakts beschlossen, der für die Europawahl eine ganze Reihe von Vorgaben macht, etwa dass bei der Wahl zum Europaparlament eine Sperrklausel in Höhe von 2 bis 5 Prozent eingeführt werden kann.
Damit diese Änderung des Direktwahlakts in Kraft treten kann, müssen die EU-Mitgliedstaaten gemäß ihren nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen. Außer Zypern, Spanien und Deutschland haben das bereits alle EU-Mitgliedstaaten getan. In Deutschland müsste dafür lediglich ein Gesetz nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes sowie eine Änderung des Europawahlgesetzes beschlossen werden.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben dazu die zwei entsprechenden Gesetzentwürfe vorgelegt. Es wäre eine simple technische Umsetzung dessen, was bereits 2018 auf europäischer Ebene als Rechtsgrundlage beschlossen wurde und von Deutschland umzusetzen ist. Hinzu kommt im Übrigen, dass sich das auch im Koalitionsvertrag der regierenden Ampel wiederfindet. Sie hat sich dazu verpflichtet, diese Regelungen umzusetzen.
Man sollte von daher meinen, dass die Umsetzung europäischen Rechts etwas ist, auf das sich die demokratische Opposition hier im Bundestag sowie die Regierungsmehrheit problemlos verständigen könnten. Indes hat die Ampel unsere Gesetzentwürfe von der Tagesordnung genommen und die Ratifizierung und die Umsetzung des europäischen Direktwahlakts auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das Ganze passierte in der Ausschusssitzung mit dem Hinweis, dass Zypern und Spanien die Ratifikation noch nicht vorgenommen hätten; diese solle man doch erst einmal abwarten. Das blendet einmal aus, dass alle anderen Staaten es schon umgesetzt haben. Aber es ist gleichzeitig auch der Beweis dafür: Die Ampel will offensichtlich, dass Deutschland das Schlusslicht in der Europäischen Union ist.
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Stattdessen hat die Ampel nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem das aktive Wahlalter zum Europäischen Parlament von 18 auf 16 Jahre abgesenkt werden soll. Im Gegensatz zu den Regelungen in unserem Gesetzgebungsvorhaben ist dies europarechtlich allerdings überhaupt nicht vorgeschrieben. Bezugspunkt ist hier lediglich eine nicht bindende Entschließung des Europäischen Parlaments. Zudem wird hier ein deutscher Sonderweg beschritten; denn das Standardwahlalter in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union beträgt nun mal 18 Jahre.
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Lediglich Malta, Österreich und Griechenland haben ein niedrigeres Wahlalter.
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Warum dann eine Absenkung auf 16 Jahre? Offensichtlich geht es der Ampel vor allem darum – das hat auch der Beitrag des Kollegen Hartmann gezeigt –, politischen Druck aufzubauen, auch bei den Wahlen zum Bundestag eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre in Angriff zu nehmen. So soll eine politische Notwendigkeit und Folgerichtigkeit für etwas begründet werden, für das es aber in der Bevölkerung wohl keinen Rückhalt gibt.
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im November des vergangenen Jahres im Auftrag der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eine Umfrage zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre durchgeführt. Das Ergebnis dieser Umfrage kam zu einem an Deutlichkeit kaum zu überbietenden Ergebnis: 71 Prozent der befragten Deutschen sind für eine Beibehaltung des Wahlalters von 18 Jahren, 19 Prozent für eine Senkung auf 16 Jahre, und lediglich 10 Prozent sind unentschlossen.
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Daher appelliere ich an die Ampel: Hören Sie auf damit, unsere Oppositionsrechte mit den Mitteln des Geschäftsordnungsrechts zu torpedieren, so wie es bei der Frage der Umsetzung und Ratifikation der Änderung des Direktwahlakts geschehen ist! Setzen Sie Ihren eigenen Koalitionsvertrag um, und stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen zu! Die entsprechenden Drucksachen liegen vor und müssen nur auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Deutschland muss die 2018 beschlossene Änderung des Direktwahlaktes jetzt umsetzen. Der Änderung des Wahlalters werden wir nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Kopf.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die politische Urteilsfähigkeit von jungen Menschen infrage stellt, sollte vielleicht mal mehr mit ihnen reden, statt immer nur über sie.
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Ja, wie in allen Altersgruppen gibt es auch bei jungen Menschen unterschiedlich ausgeprägte politische Kenntnisse und Weitsicht.
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Wer von uns sich regelmäßig im Wahlkreis mit Schulklassen zu politischen Themen austauscht oder sie hier im Bundestag zur Diskussion begrüßt, der muss aber doch zugeben: Ganz viele junge Menschen sind bestens informiert; sie drängen darauf, mitzubestimmen.
Wie oft erwähnt, geht es dabei viel um Klimaschutz. Schließlich betrifft diese gewaltige Menschheitsaufgabe die jungen Generationen ganz unmittelbar. Aber es geht ihnen auch um sehr viele andere Themen: von der Digitalisierung über Migration, Bildung, soziale Sicherheit bis hin zur Außenpolitik. Die Politik und wir als Gesellschaft brauchen die Perspektiven junger Menschen bei diesen wichtigen Themen dringend.
Gleichzeitig brauchen wir bei diesen Themen Europa. Europäische Antworten auf europäische und internationale Herausforderungen, genau darum geht es bei Europawahlen. Darum arbeiten wir übrigens auch auf die Einführung transnationaler Listen hin.
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Europäische Antworten im politischen Bewusstsein junger Menschen zu verankern, dazu wird auch das Europawahlrecht ab 16 beitragen.
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So beziehen wir nicht nur diejenigen, die sich für die EU interessieren und sich mit ihr beschäftigen, die ohnehin eine große Affinität zu Europa haben und ein Erasmus-Semester im Lebenslauf eingeplant oder ihr Interrail-Ticket schon gekauft haben, sondern alle 16- und 17‑Jährigen in die Gestaltung der europäischen Demokratie mit ein.
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So stärken wir den europäischen Blick auf die politischen Herausforderungen. So stärken wir das Wahlrecht und Europa, und darüber freue ich mich persönlich wirklich sehr.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort Dr. Christian Wirth.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wir diskutieren heute über das Wahlrecht, darüber, das Wahlalter zur Ausübung des aktiven Wahlrechts bei EU-Wahlen auf 16 Jahre herabzusetzen. Aus Sicht der AfD-Fraktion sprechen gute Gründe dagegen.
Man geht davon aus, dass es einer gewissen geistigen Reife und Lebenserfahrung bedarf, um überhaupt eine vernünftige Wahlentscheidung treffen zu können.
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In 24 der insgesamt 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union liegt das Wahlalter bei 18 Jahren. Die Altersgrenze hat sich bewährt und entspricht fast überall der gängigen Praxis.
Auch in anderen Bereichen wird allgemein das vollendete 18. Lebensjahr als Grenze angenommen. So sieht etwa die UN-Kinderrechtskonvention alle Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, als Kinder an. In Deutschland ist man erst mit Erreichung der Volljährigkeit voll geschäftsfähig und strafmündig. Wir als Gesetzgeber, aber auch die Rechtsprechung nehmen diese Grenze an, um Jugendliche vor den Folgen von falschen Entscheidungen zu schützen, die sie in ihrem vollen Umfang und ihren Konsequenzen oft noch nicht überblicken können.
17-Jährige dürfen keinen Handyvertrag abschließen. Bei 17‑jährigen Straftätern ist zwingend das Jugendstrafrecht anzuwenden. Vor gerade einmal fünf Jahren hat der Bundestag beschlossen, Eheschließungen künftig nur noch zu erlauben, wenn beide Heiratswillige volljährig sind. Bis dahin war es möglich, dass ein Familiengericht Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet hatten, vom Alterserfordernis der Ehemündigkeit befreite. Der Bundestag änderte dies im Interesse des Kindeswohls. Offenbar ist eine Mehrheit dieses Hauses der Ansicht, man müsse Jugendliche davor schützen, zu früh gewichtige Entscheidungen zu treffen.
Die Argumente, die zu einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre angeführt werden, sind zumeist gar nicht geeignet, eine Altersgrenze ab 16 zu begründen. In der Regel zielen sie nämlich darauf ab, eine Altersgrenze an sich anzugreifen. Mit den meisten Argumenten ließe sich ebenso gut auch eine Absenkung der Altersgrenze auf 15 Jahre begründen, auf 14 oder 13 Jahre oder vielleicht gleich ein Kinderwahlrecht ab Geburt, wie es einige in diesem Hause eigentlich möchten und das schon artikuliert haben.
Dabei geht es gar nicht, wie immer wieder vorgebracht wird, um die Fähigkeit, eine Meinung zu politischen Fragestellungen haben zu können. Zweifellos haben 16-Jährige und auch Kinder diese Fähigkeit. Es geht jedoch bei der Beurteilung der Wahlaltersgrenze um die Urteils- und Einsichtsfähigkeit. Die Meinung muss fundiert sein. Dass dies bei Jugendlichen gerade bei komplexen Fragstellungen nicht immer gewährleistet ist, sieht man schon daran, dass sich Meinungen mit zunehmender Reife, Lebenserfahrung und fortschreitendem Lebensalter ändern.
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Das wohl dümmste Argument ist, dass Jugendliche schon deswegen politische Mitbestimmungsrechte bekommen sollen, weil sie aufgrund ihres jungen Alters von politischen Entscheidungen statistisch am längsten betroffen wären. Mit demselben Argument könnte man fordern, das Stimmrecht älterer Menschen zu mindern, was niemand, der noch bei Trost ist, ernsthaft fordern würde.
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Junge Menschen sind zu begeistern. Sie denken mit, sie arbeiten mit; das ist zu begrüßen. Allerdings sind junge Menschen auch leicht manipulierbar.
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Manche wollen sie vielleicht als Wähler gewinnen. Mit Weltuntergangsszenarien – seit den 80er-Jahren kennt man das von den Grünen – verunsichern sie diese Menschen, siehe die „Letzte Generation“ mit ihren strafrechtlich relevanten Aktionen, über die wir heute schon gesprochen haben.
Die AfD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf ab und spricht sich für eine Beibehaltung des Wahlalters ab 18 aus.
Vielen Dank und Glück auf!
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Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Valentin Abel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Juni 2009 durften Millionen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger im Alter von 18 bis 23 Jahren das erste Mal an einer Europawahl teilnehmen. Ich selber war einer von ihnen, kurz nach meinem 18. Geburtstag. Meine Entscheidung damals beruhte nicht auf einer Erkenntnis, die mich am Tag meines 18. Geburtstags von oben herab erreicht hat,
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sondern auf Überzeugungen, die in den Jahren zuvor aus jahrelanger Auseinandersetzung mit den politischen Themen und den Antworten der Parteien hierauf erwachsen sind.
Dennoch wird von Kritikern des Wahlalters ab 16 immer wieder angebracht, die Jugend solle erst mal etwas leisten, bevor sie in der Politik mitbestimmen darf. Dabei leisten junge Menschen einen immensen Beitrag zu unserer Gesellschaft, auch wenn dieser regelmäßig – leider auch von prominenter Stelle – durch die immer selbe Debatte über ein soziales Pflichtjahr in Abrede gestellt wird.
Die Statistiken beweisen jedoch, dass die Jugend heute schon einen erheblichen Beitrag leistet: Jeder fünfte Minderjährige zahlt Steuern, da er sich in Ausbildung befindet. Über die Hälfte der 14- bis 17‑Jährigen ist ehrenamtlich aktiv, die Tendenz ist steigend. Erst dieser großartige Beitrag zu unserer Gesellschaft ermöglicht uns in vielen Bereichen den Austausch und das gesellschaftliche Miteinander. Ich glaube, diesem Engagement und diesem Einsatz gebühren Respekt und Anerkennung, auch abseits, aber eben auch nicht entkoppelt von der heutigen Debatte.
Die junge Generation zeichnet sich aber nicht nur durch steigendes Verantwortungsbewusstsein für die Gesellschaft aus, sondern auch durch ein politisches Bewusstsein. Das ist wohlgemerkt nicht ein schnelllebiger Trend in Zeiten von Greta, sondern eine konstante Entwicklung über die letzten 20 Jahre hinweg, wie wir in allen Studien sehen. Dabei stimmt es auch, dass sich junge Menschen weiterhin in politischen Parteien und ihren Jugendorganisationen organisieren. Daher finde ich es schon bigott, dass man sowohl bei der CDU und CSU als auch bei der AfD mit 16 Jahren Mitglied werden kann,
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also reif genug für die innerparteiliche Willensbildung ist, aber nicht reif genug ist, um wählen zu können. Das ist bigott.
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Die politisch aktiven Jugendlichen von heute haben aber auch andere Möglichkeiten der Partizipation: Sie organisieren sich in überparteilichen Initiativen zu bestimmten Themen, betreiben Campaigning in den sozialen Medien und arbeiten grenzüberschreitend. Dieses Engagement zeigt uns zwei Dinge: dass die junge Generation mitarbeiten möchte und dass sie es auch konstruktiv tun will. Und dass sie das will, ist auch nur logisch. Denn die Entscheidungen, die wir hier im Parlament treffen, haben eine Halbwertszeit, die länger ist als nur bis zur nächsten Legislaturperiode, und die Konsequenzen reichen weit darüber hinaus.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Wahlrecht ist das kostbarste Gut, das wir in der Demokratie haben. Dabei will aber der Ausschluss vom Wahlrecht gut begründet sein und nicht das Wahlrecht an sich. Der Ausschluss der 16- und 17‑Jährigen ist meines Erachtens nicht mehr haltbar.
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Also: Debattieren wir lieber mal darüber, wie wir jungen Menschen – und übrigens nicht nur denen – das Rüstzeug in die Hand geben, wehrhafte Demokratinnen und Demokraten zu werden. Erweitern und fördern wir politische Bildung an Schulen. Schaffen wir nicht nur Verständnis dafür, wie die Parteien heißen und welche Wahlgrundsätze es gibt, sondern befähigen wir sie, kritisch zu hinterfragen, sich eigene Meinungen zu bilden und billigen Populismus als solchen zu erkennen. Das ist die Aufgabe der Politik.
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Und zuletzt möchte ich noch ein Gerücht aus der Welt schaffen: Es geht nicht, wie manche behaupten, darum, bestimmten Parteien durch eine Absenkung des Wahlalters einen Vorteil zu verschaffen.
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Wer glaubt, dass junge Menschen so einfach in die Tasche zu stecken wären, dass sie einfach aus Gewohnheit immer eine Partei wählen, ignoriert demoskopische Realitäten und beleidigt darüber hinaus den Intellekt unserer Bürgerinnen und Bürger.
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Anstatt die Jugend für naiv zu halten, sollten sich politische Parteien aus ureigenstem Interesse fragen, warum sie gewissen Wählergruppen kein gutes Angebot machen können. Dazu kann ich nur sagen: Wer bei Klimaschutz und der Zukunft der Rente, bei Bildungspolitik und Digitalisierung kein vernünftiges Konzept vorlegen kann, muss sich nicht wundern, wenn junge Menschen ihre Antworten woanders suchen.
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Dafür ist aber nicht das Wahlrecht verantwortlich.
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Wir glauben jedenfalls an die Jugend in Deutschland und in Europa. Wir glauben daran, dass sie einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leistet, ihre eigenen Themen setzt und Lösungen entwickelt.
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Wir glauben daran, und wir wissen,
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dass sie es verdient hat, ihre eigene Zukunft frei bestimmen zu können. Darum ist das Wahlalter mit 16 richtig.
Danke schön.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Alexander Ulrich.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Jugend ist politisch aktiv, kritisch und will mitbestimmen. Gerade in Zeiten wie diesen, Zeiten des Krieges, der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, der Umweltzerstörung, der Klimakatastrophe, braucht die Jugend eine Stimme. Und jeder, der sich mit Jugendlichen unterhält, der Schulen besucht, der weiß: Sie wollen diese Stimme auch. Deshalb ist das, was heute hier gemacht wird, überfällig.
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Die Forderung des Wahlalters ab 16 ist im Europa- und im Bundestagswahlprogramm meiner Partei enthalten. Herr Hartmann, man fragt sich da eher: Warum hat das so lange gedauert? Warum muss man sich heute noch an Willy Brandt erinnern? Mehr Demokratie hätte man auch zwischenzeitlich wagen können. Das Wahlalter ab 16 ist überfällig. Man konnte schon jetzt vielen Jugendlichen nicht mehr erklären, warum sie in ihrer Gemeinde den Gemeinderat, den Bürgermeister und möglicherweise auch schon den Landtag wählen dürfen, aber nicht bei der Europawahl oder bei der Bundestagswahl teilnehmen können.
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1,4 Millionen Menschen, die sich – auch durch die Wahlen – in Zukunft zusätzlich mit Europa beschäftigen, sind ein Gewinn für die Demokratie, sind ein Gewinn für den europäischen Gedanken. Denn diese Jugendlichen werden sich dann auch früher damit beschäftigen, dass viele Probleme nicht mehr in nationalen Grenzen zu bewältigen sind, sondern dass wir für viele Zukunftsfragen Europa brauchen.
Aber, Herr Hartmann, ich sage Ihnen auch, und ich sage das an alle hier im Haus: Wer das ernst nimmt, was heute hier gesagt worden ist, der darf bei der Europawahl nicht stehen bleiben; diesen Eindruck dürfen wir nicht hinterlassen. Denn dann hätten wir wieder Schaden verursacht, wenn wir sagen: Mit 16 darf man an der Europawahl teilnehmen, aber weiterhin erst mit 18 den Bundestag wählen nach dem Motto: Europa ist nicht so wichtig, da dürft ihr mal, aber bei der Bundestagswahl nicht. – Deshalb fordern wir als Linke: Wer das heute hier beschließt, muss alles dafür tun, dass wir auch bei der nächsten Bundestagswahl 16-Jährige an die Urne schicken dürfen.
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Meine Partei bzw. meine Fraktion wird dieses Anliegen unterstützen.
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Da rennen Sie bei uns offene Türen ein.
Bei zwei anderen Themen, die die CDU/CSU gerne besprechen will, haben wir unterschiedliche Auffassungen. Ja, auch wir als Linke werden zustimmen, wenn es um transnationale Listen geht. Was wir aber ablehnen werden, ist, wenn eine neue Prozenthürde bei der Europawahl eingeführt wird. Bitte lesen Sie sich alle noch einmal die Urteile des Bundesverfassungsgerichts durch: wie es begründet hat, warum die Sperrklausel fällt.
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An diesen Begründungen hat sich nichts verändert. Es gibt keinen Grund, eine neue Sperrklausel einzuführen. Damit werden Hunderttausende Wählerinnen und Wähler ihrer Stimme beraubt und sollen wieder ausgegrenzt werden. Und niemand kann doch behaupten, dass aufgrund dieser wenigen Abgeordneten, die in Deutschland durch den Wegfall der Sperrklausel ins Europaparlament gewählt worden sind, die Arbeitsfähigkeit des Europaparlaments nicht gewährleistet wäre. Lassen Sie die Finger von einer neuen Sperrklausel!
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Und zum Schluss: Herr Wirth von der AfD hat in seiner Rede gesagt bzw. unterstellt, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– dass viele unter 18-Jährige eine fehlende geistige Reife hätten. Ich kenne viele Jugendliche unter 18 Jahren, die reifer im Kopf sind als viele von der AfD.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Carmen Wegge hat für die SPD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Sehr geehrte Damen und Herren! Früher hat die SPD plakatiert: „Mehr Demokratie wagen“, und es geschafft, dass wir das Alter für das Wahlrecht in Deutschland von 21 auf 18 Jahre absenken konnten. Heute, 52 Jahre später, geht es um das Wahlrecht ab 16 für die Europawahl. Und hier ist das sicher kein Wagnis mehr. In 11 von 16 Bundesländern können 16-Jährige bei der Kommunalwahl wählen, in 5 Bundesländern sogar schon länger auch bei der Landtagswahl. Und gestern kam das sechste Bundesland dazu: Gestern hat das Land Mecklenburg-Vorpommern das Wahlalter für die Landtagswahl auf 16 Jahre abgesenkt.
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Das heißt, wir setzen heute einen Prozess fort, der der notwendigen Ausweitung von politischer Teilhabe von jungen Menschen Rechnung trägt. Ich muss mich manchmal schon über die Argumente wundern, die ich aus der konservativen Ecke gegen das Wahlalter ab 16 Jahren höre. Mal plakativ zusammengefasst, wird dort gesagt: Junge Menschen hängen nur auf TikTok rum, trinken Alkohol und interessieren sich gar nicht für Politik. Sie sind nicht reif genug.
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Abgesehen davon, dass es auch Menschen über 18 gibt, die auf TikTok rumhängen, Alkohol trinken und sich nicht für Politik interessieren, ist das eine verzerrte Wahrnehmung.
Der verzweifelte Ausruf „Diese jungen Leute!“ bedeutet heute schon längst etwas anderes. Alle gesellschaftlichen Protestbewegungen der letzten Jahre sind maßgeblich von jungen Menschen initiiert und auf die Straße gebracht worden, seien es Fridays for Future, der Kampf gegen rechtswidrige Polizeigesetze in den Bundesländern oder aktuell „Genug ist genug“.
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Das sind junge Menschen, die sich Gedanken darüber machen, in welcher Welt sie leben wollen, wie die Zukunft gestaltet werden soll, und sich andere Wege suchen, damit sie von Politikerinnen und Politikern und der Gesellschaft gehört werden. Und ihr Erfolg gibt ihnen recht.
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Aber es sind nicht nur sie, über die ich hier sprechen möchte. Im Jahr 2021 lag die Anzahl der Auszubildenden in Deutschland bei 1,26 Millionen Menschen. Der Großteil von ihnen ist zwischen 15 und 19 Jahre alt. Sie sind aktiver Teil unseres Arbeitsmarktes und damit auch unserer gesellschaftlichen Solidarsysteme, in die sie einzahlen. In der EU, aber auch in Deutschland treffen wir tagtäglich Entscheidungen, die ihr Leben maßgeblich beeinflussen, ohne dass sie darauf selbst einen aktiven Einfluss durch ihre Stimme bei einer Wahl nehmen können.
Aber es sind noch viel mehr, die sich in unserer Gesellschaft bereits jetzt politisch engagieren; das wurde schon gesagt. Nach einer Erhebung des BMFSFJ engagieren sich 53,8 Prozent der jungen Menschen zwischen 14 und 17 Jahren ehrenamtlich. Sie sind bei der freiwilligen Feuerwehr, im Jugendrotkreuz, bei der Jugend des Deutschen Alpenvereins, im Kreisjugendring oder gar in politischen Parteien engagiert.
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Bei uns in der SPD kann man mit 14 Jahren Mitglied werden,
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inhaltliche Anträge einbringen und sie beschließen, delegiert werden oder unsere Vorsitzenden wählen. Ja, sie konnten sogar darüber entscheiden, ob es in diesem Land eine Große Koalition geben wird oder nicht.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke.
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Auch bei Ihnen, liebe Union, kann man mit 16 Jahren Mitglied werden und Ihre Politik wesentlich mitgestalten. Wie passt das mit Ihrer Ablehnung zusammen? Ich glaube vielmehr, dass Sie Angst haben,
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Angst vor „diesen jungen Leuten“. Denn das ist ein Muster, das sich schon durch andere Entscheidungen und Haltungen konservativer Parteien gezogen hat, als es um die Möglichkeit des Wahlrechts ging.
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Konservative Parteien waren damals gegen das Frauenwahlrecht, weil sie Angst vor selbstbestimmten Frauen hatten. Und Sie, liebe Union, sind gegen das Wahlrecht ab 16 Jahren, weil Sie Angst vor selbstbestimmten jungen Menschen haben.
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Damals wurde gesagt, dass Frauen doch nur das wählen würden, was man ihnen einflüstert, dass Frauen nicht intelligent und reif genug seien, um zu wählen, oder dass sie alle die SPD wählen würden, weil wir die Partei waren, die sich für ihr Wahlrecht eingesetzt hat.
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Und genauso haben Sie heute Angst, dass wir mit der jetzigen Entscheidung 1,4 Millionen Menschen ein Wahlrecht geben, die Sie nicht wählen werden.
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Und Überraschung: Das werden sie vielleicht auch nicht, wenn Sie es nicht schaffen, bei Ihren politischen Inhalten auch Lebensrealitäten und Bedürfnisse von jungen Menschen mitzudenken.
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Aber genau dafür haben Sie dann ja die Mitglieder ab 16 Jahren bei Ihnen. Ich bin mir sicher: Die Junge Union hilft Ihnen da gerne.
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Zum Schluss möchte ich Ihnen eine weitere Angst nehmen. In der Debatte nennen Sie auch immer die Kohärenz der Rechtsordnung. Ihre Furcht ist, dass wir dann die Geschäftsfähigkeit in der deutschen Rechtsordnung auf 16 Jahre absenken werden müssen. Zunächst geht es hier aber natürlich um das Europawahlrecht und nicht um das Wahlrecht für den Deutschen Bundestag und schon gar nicht um die Geschäftsfähigkeit. Aber auch damals, als wir das Alter für das Wahlrecht von 21 auf 18 Jahre abgesenkt haben, dauerte es weitere vier Jahre, bis dies auch für die Geschäftsfähigkeit geschah. Eine Kausalität kann ich hier nicht erkennen.
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Sie als Union haben die Absenkung damals übrigens mitgetragen mit der Begründung, dass man dem Wandel in der Gesellschaft und der bestehenden Lebenswirklichkeit Rechnung tragen muss.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Dann komme ich tatsächlich zu meinem letzten Satz, und zwar: Liebe 1,4 Millionen neue Wahlberechtigte, herzlich willkommen bei uns! Lasst uns darüber reden, wie wir die EU besser, solidarischer und gerechter gestalten können! Wir stehen an eurer Seite.
Frau Wegge, letzter Satz, bitte.
Viel Spaß beim Kreuzchenmachen 2024!
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Emilia Fester.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Wissen Sie, was für mich eine der schlimmsten hohlen Phrasen im politischen Betrieb geworden ist? „Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft.“ Ja, Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft. Sie werden länger auf diesem Planeten verweilen als die meisten hier.
Die Jugend wird einerseits als etwas Romantisiertes, ja gar Sorgloses wahrgenommen und andererseits irgendwie als etwas Unvollständiges, Mangelhaftes. Irgendwann ist man ja nicht mehr jung, sondern ein vollwertiges Mitglied in dieser Gesellschaft: mit Abschluss und Einkommen, mit Steuererklärung und Vernunft.
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„Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft.“ Das suggeriert: Was sie auf jeden Fall nicht sind, ist unsere Gegenwart. Es scheint legitim zu sein, jungen Menschen abzusprechen, Wünsche an das Heute zu richten oder gar Gestaltungsanspruch zu haben. Die Anliegen junger Menschen werden strukturell als zu unwichtig oder irgendwie zu idealistisch eingestuft: das Anrecht auf ein Jahr Pause zum Orientieren nach zwölf Jahren oder mehr Schulstress, Freiräume zum Cornern ohne Sperrzeiten, Ausbildungsgehälter, die wirklich zum Leben reichen, Klimaschutz.
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Nur weil die Jugend eines Tages vorbeigeht, kann das nicht heißen, dass junge Lebensrealitäten bei der Gestaltung unserer Gesellschaft keine Bedeutung haben sollten.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Kinder und Jugendliche sind unsere Gegenwart.
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Deshalb gehen wir heute als Ampel einen bedeutsamen Schritt. Wir senken das Wahlalter für die Europawahlen auf 16 ab.
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– Pscht!
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Dadurch sind allein in Hamburg bei der nächsten Wahl über 30 000 junge Menschen mehr wahlberechtigt, in ganz Deutschland sind es insgesamt 1,3 Millionen oder 1,4 Millionen. So können junge Menschen ihren Erfahrungen und Bedürfnissen Gewicht verleihen, und Politiker/-innen müssen sich endlich ernsthaft mit ihren Anliegen auseinandersetzen. Die beste Lobby für Zukunft und Gegenwart sind und bleiben die Wählerinnen und Wähler.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort Alexander Hoffmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir gegen Ende der Debatte drei Bemerkungen.
Herr Kollege Hartmann, wir sind uns nicht immer einig, so auch heute nicht bei der Rede. Aber in der Wahlrechtskommission hat Kollege Hartmann einen sehr klugen Satz gesagt. Er sagte nämlich – und das ist die erste Bemerkung –: Das Wahlrecht muss über jeglichen Zweifel erhaben sein. – Gemeint ist damit, dass wir, wenn wir hier über das Wahlrecht diskutieren, immer alles unternehmen müssen, um parteiübergreifend und im Übrigen auch unter Einbindung der Opposition zu einem Ergebnis zu kommen, sodass eben nicht an irgendeiner Stelle der Eindruck entsteht, hier könnten tatsächlich parteipolitische Eigeninteressen eine Rolle gespielt haben.
Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir von der Union sind schon besorgt, wenn wir sehen, wie Sie vor allem die zwei Anträge von uns, die der Kollege Heveling vorhin skizziert hat, im Innenausschuss mit einer fadenscheinigen Begründung einfach weggewischt haben. Im Übrigen sind das Anträge, die für die europäischen Wahlen wirklich wichtig gewesen wären, weil wir uns ernsthaft die Frage stellen müssen: Wie bringen wir das Europarecht, dieses ominöse Ding „Brüssel“, näher an den Wähler? Da wären sowohl die Sperrklausel als auch der Direktwahlakt ein taugliches Instrument gewesen. Das wischen Sie weg. Was Sie haben wollen, ist die Altersgrenze 16 Jahre. Die Erklärung ist auch ganz einfach – und da wird es schon schwierig –: Die Ampel ist sich einig, und dann verkündet sie.
Lieber Kollege Hoffmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alexander Ulrich aus der Fraktion Die Linke?
Nein. Die Kollegin von den Grünen, glaube ich, oder von der SPD hat vorhin so dick aufgetragen, dass ich keine Zwischenfragen zulasse.
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Die zweite Bemerkung. Wir brauchen maximale Sachlichkeit in diesen Debatten. Entschuldigung, schauen Sie sich die Debatte heute doch mal an. Ich hätte es mir leicht machen – da oben sehe ich viele junge Menschen – und in die Runde rufen können: „Wir trauen euch das zu“, und das Ding wäre gefrühstückt gewesen und hätte Applaus bekommen.
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Aber, meine Damen, meine Herren, so einfach ist die Fragestellung nicht. Tatsächlich war es doch so, dass keiner Ihrer Redner heute ein ernsthaftes wahlrechtliches, verfassungsrechtliches oder staatsrechtliches Argument gebracht hat.
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Vielmehr ging es darum, Emotionen und Stimmungen zu bedienen. Es ist keiner Ihrer Redner auf die Anhörungen eingegangen,
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außer der Kollege Hartmann, der offensichtlich in einer völlig anderen Anhörung war;
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denn in der Anhörung haben namhafte Verfassungs- und Staatsrechtler erhebliche Bedenken gegen die Senkung des Wahlalters vorgebracht.
Sie bringen im Übrigen nicht ein tragfähiges Argument zur Kernfrage. Die Kernfrage ist ganz einfach: Warum liegt das Wahlalter aktuell bei 18? Das Wahlalter liegt deshalb bei 18, weil es in unterschiedlichen Bereichen – medizinisch, psychologisch und biologisch fundiert – Studien und Erkenntnisse gibt, dass man davon ausgehen kann, dass ein junger Mensch ab 18 die Konsequenzen seines Handelns überblicken kann.
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Deswegen gilt die Geschäftsfähigkeit ab 18. Deswegen können Sie ein Fahrzeug ohne Begleitung mit Führerschein führen, wenn Sie 18 sind. Selbst das Jugendstrafrecht tritt ab 18 in den Hintergrund; allerdings hat der Gesetzgeber noch eine Art Sicherheitszulage bis 21 eingeräumt.
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Sie können an keiner Stelle erklären, warum das jetzt ausgerechnet beim Wahlrecht in Europa anders sein soll. – Frau Präsidentin, es gibt eine Zwischenfrage. Die Kollegin drängt es.
Vielen Dank, Herr Hoffmann, dass Sie mich daran erinnern. Lassen Sie denn die Zwischenfrage zu?
Selbstverständlich.
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– Ich darf mir das immer noch aussuchen.
Stimmt, die Entscheidung liegt beim Redner. – Dann hat jetzt die Kollegin Eichwede, SPD, das Wort.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, auch wenn sich mir nicht ganz erschließt, welcher demokratischen Partei Sie eine Zwischenfrage gewähren. Aber ich freue mich, dass Sie meine zulassen.
Sie sagten vorhin, es gebe bisher noch keine juristischen Argumente in dieser Debatte. Ich habe aber sehr deutlich vernommen, dass das juristische Argument angeführt wurde, dass es in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat richtig ist, dass man rechtfertigen muss, wenn man etwas verweigert, aber nicht, wenn man etwas zulässt.
Es geht hier um ein Mehr an Demokratie. Es gibt keine Argumente, weshalb wir das Wahlrecht für 16-Jährige nicht zulassen sollten. Deswegen ist es aus rechtsstaatlichen Gründen richtig, das hier und heute zu beschließen. Wir freuen uns auf die Debatten, hoffentlich mit mehr Einsicht Ihrerseits, das auch auf die Wahl des Deutschen Bundestags anzuwenden. – Vielen Dank.
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Ich bin für Ihre Frage sehr dankbar. Der Sachverhalt ist in der Anhörung ganz konkret angesprochen worden. Noch mal: Namhafte Verfassungsrechtler, im Übrigen auch Verfassungsrichter, haben genau erklärt, wo der Unterschied besteht. Es ist nämlich nicht so, dass man ein Wahlrecht ab Geburt hat, was dann vorenthalten wird, sondern es wird letztendlich qua Gesetz zugeteilt.
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Das ist genau derselbe Grund, warum Jugendliche zum Beispiel keinen Handyvertrag abschließen dürfen. Das wäre auch Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit, und trotzdem kann es der Gesetzgeber beschränken. Sie können letztendlich nicht erklären – und das ist doch das Problem –, warum Sie hier einerseits behaupten: „Wir trauen jungen Menschen zu, zu wählen“, und andererseits sagen: Wir trauen ihnen nicht zu, einen Handyvertrag abzuschließen.
Vorhin kam das Argument: 53 Prozent der jungen Menschen engagieren sich öffentlich, auch in Debatten. Das ist ja richtig – das bestreitet niemand von uns –, aber Sie würden doch nie gelten lassen, wenn ich argumentiere: Ungefähr 100 Prozent aller jungen Menschen mit 16 haben ein Handy, und deswegen müssen wir jetzt plötzlich das Recht ändern und den Menschen die Möglichkeit einräumen, einen Handyvertrag abzuschließen. – Solange Sie diese Inkongruenz nicht erklären können, gibt es in Ihrer Argumentation einen massiven Widerspruch. Das müssen Sie einfach gelten lassen. – Danke.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zu meiner dritten Bemerkung kommen. Heute ist wieder der Satz „Mehr Demokratie wagen“ angeklungen. Tatsächlich geht es aber um eine Rollenverteilung, mit der hier gespielt wird. Sie sagen: „Wir sind die guten Demokraten, weil wir alles tun, damit jeder wählen kann“, und die Union ist böse. Es gab Redner, die sich während ihrer ganzen Redezeit an der Union abgearbeitet haben. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wer dieses Guter-Demokrat-Sein daran festmacht, der muss sich natürlich schon fragen lassen: Wie ist das eigentlich mit der Aufarbeitung des Wahldebakels in Berlin?
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Sie erklären immer, dass das Wahlrecht des Einzelnen das vornehmste Recht in einer Demokratie ist. Die Durchführung der Wahl war allerdings – Entschuldigung – ein Saustall. Aber noch viel liederlicher und peinlicher ist die Aufarbeitung der Fehler bei der Wahl. Darüber wird diskutiert, und man muss ehrlicherweise sagen, dass Sie dieses höchste Recht des Wählers mit Füßen treten.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Berliner Verfassungsgerichtshof möchte eine Wiederholung in allen Stimmbezirken, der Landeswahlleiter in 50 Prozent; das sind immer noch über 2 000 Stimmbezirke.
Lieber Kollege Hoffmann, in Anbetracht der Zeit: Bitte zum Schluss kommen!
Die Ampel will eine Wiederholung der Wahl in gerade einmal 431 Stimmbezirken. Deswegen glaube ich nicht, dass wir hier Nachhilfestunden in Sachen Demokratie brauchen.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner in der Debatte ist Dr. Till Steffen, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Hoffmann, mit dem letzten Argument haben Sie sich ein bisschen verlaufen, muss man sagen.
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Wir haben hier über das Wahlalter für die Europawahl gesprochen. Wir haben darüber gesprochen, was wir mit den Ergebnissen der intensiven Beratungen machen, die wir in der Wahlrechtskommission hatten und die es dann im Folgenden auch in den Ausschüssen gegeben hat.
Wir sitzen zusammen in der Wahlrechtskommission. Wir beraten eine ganze Menge Dinge. Diese Kommission hat die Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen, ob wir das Wahlrecht an verschiedenen Stellen modernisieren wollen, können oder müssen. Und wir haben eine Menge Themen auf dem Zettel: Wir haben uns mit dem Wahlalter beschäftigt. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, ob Deutsche aus dem Ausland wählen dürfen. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie es uns gelingen kann, dass wir ein besseres Verhältnis von Männern zu Frauen in diesem Parlament hinbekommen.
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Und wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie wir es hinkriegen, dass der Bundestag nicht immer weiter wächst.
Und bei all diesen Themen kommt von Ihnen: Ja, aber es gibt Bedenken, alles ganz schwierig.
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– Ja, genau. – Dies ist die erste Gelegenheit, bei der wir hier etwas beraten, und Sie sagen: Wir haben Bedenken. – Das macht deutlich, dass es ein bisschen schwierig ist, bei notwendigen Reformbedarfen tatsächlich zu einem parteiübergreifenden Konsens zu kommen, der auch die große Oppositionsfraktion einschließt,
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was ich mir tatsächlich wünsche. Das haben Sie eben noch einmal illustriert; denn die Argumente sind eigentlich widerlegt worden.
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– Doch, natürlich. – Wir haben doch zusammengesessen in der Wahlrechtskommission. Sie verweisen aber auf den Autoführerschein. Und dann sage ich: Ja, und was ist mit dem Moped, das 80 km/h fährt, oder mit dem Trecker, der mehrere Tonnen schwer ist? Was ist denn damit? Keine Gefahr? Doch, natürlich geht auch von diesen Fahrzeugen eine Gefahr aus.
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Und was ist mit der Lebenswegentscheidung, die viele junge Menschen mittlerweile treffen müssen, wenn sie nach zwölf Jahren Schule fertig sind, bevor sie volljährig sind? Sie müssen sich entscheiden, in welche Richtung es für sie für den Rest des Lebens geht. Das ist doch eine ganz wichtige, zentrale Weichenstellung. Wir erwarten von ihnen, dass sie diese Entscheidung treffen, aber die müssen die jungen Leute doch selber treffen.
Ich wünsche mir, dass die Union bei Reformschritten für das Wahlrecht dabei wäre. Ich bin froh: Die Ampel als Fortschrittskoalition geht heute immerhin diesen Schritt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit dem 1. Oktober 2022 gilt ein Mindestlohn von 12 Euro. 6,2 Millionen Menschen haben davon profitiert. In den letzten acht Jahren ist der Mindestlohn eine Erfolgsgeschichte, und Millionen Menschen profitieren vom Mindestlohn – übrigens auch die, in deren Tarifverträgen geringere Löhne vereinbart wurden. Das hat noch einmal einen Schub nach oben gegeben. Darauf können wir stolz sein.
Wir stellen aber auch fest, dass es sehr viele Menschen gibt, denen der Mindestlohn vorenthalten wird, die um den Mindestlohn geprellt werden. Dabei hätten sie ihn so verdient, weil sie eine wichtige Arbeit für uns machen. Deswegen freue ich mich auch über die Anträge und über die Beratung; denn die Kontrollen des Mindestlohnes können besser werden und können ausgebaut werden.
Wir haben die Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit deutlich verbessert und durch einen großen Stellenaufwuchs die Anzahl der Mitarbeiter gesteigert. Die Kolleginnen und Kollegen dort machen einen tollen Job. Vielen Dank dafür! Daneben haben wir sie auch mit mehr Kompetenzen im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz ausgestattet. Das heißt, wir haben vieles verbessert, damals übrigens unter einem Finanzminister Olaf Scholz. Darauf sind wir sehr stolz.
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Aber – und da müssen wir uns ehrlich machen – das nützt nichts, wenn wir nur Sollzahlen sehen; wir müssen die Istzahlen sehen. Viele Stellen sind nicht besetzt; zwischen 10 Prozent und 40 Prozent der Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sind nicht besetzt. Das liegt nicht nur am Fachkräftemangel. Denn andere Bereiche des Zolls haben diese Probleme nicht; die konnten ausreichend Personal finden. Es wird nicht mehr ohne externe Einstellungen gehen.
Es geht aber nicht nur um den Stellenaufwuchs, sondern wir müssen auch Strategiedefizite feststellen; das muss man offen ansprechen. Wir brauchen Lagebilder, Kontrollen dürfen nicht angekündigt werden, verdachtsunabhängige Kontrollen müssen durchgeführt werden. So können wir die schwarzen Schafe herausfischen. Und es gibt auch immer noch Doppelstrukturen im Zoll und in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Gestern haben wir auf einer Podiumsdiskussion ja auch gehört – Axel Knoerig war dabei, und ich glaube, das war eine gute, auch wissenschaftlich basierte Diskussion mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung –, dass auch die Ausbildung noch mal verbessert werden muss.
Was sollen der Zoll und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit aber kontrollieren, wenn wir ihnen nicht die entsprechenden Werkzeuge an die Hand geben, die dafür sorgen, dass die Arbeitszeit digital und fälschungssicher dokumentiert werden muss? Deswegen helfen uns die zwei Gerichtsurteile vom EuGH, die damals auch nur wegen des Verbandsklagerechts der Gewerkschaften zustande kamen – Gott sei Dank –, und auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes. Wir werden hier handeln und hierzu einen Gesetzentwurf vorlegen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ja, nicht alle sind stark und laut genug, um zu sagen: Dieser Mindestlohn steht mir zu. – Das fällt bei 12 Euro vielleicht leichter, weil es eine gerade Zahl ist, als bei 9,82 Euro. Also werbe ich auch dafür, gerade Summen hinzubekommen und die Menschen auch durch Werbekampagnen, durch Aufklärungskampagnen darauf hinzuweisen – das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ macht da einen klasse Job –, damit alle, die zu uns kommen, wissen: Das steht mir zu, und darauf kann ich mich verlassen.
Noch besser ist, wenn die Beschäftigten einen Betriebsrat haben, wenn es Tarifverträge gibt; denn das ist der Goldstandard.
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Der Mindestlohn ist nur der Mindeststandard.
Vielen Dank
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Wilfried Oellers.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge zum Stichwort Mindestlohnkommission, aber auch die Sicherstellung des Mindestlohnes. Ich würde den Antrag der Linken vielleicht insoweit noch etwas erweitern wollen, dass man nicht nur über die Sicherstellung des Mindestlohnes reden sollte, sondern dass im Ergebnis jede Arbeitsstunde zu vergüten ist, egal in welchem Preissegment, und dass Überstunden, wenn sie anfallen, entweder auch zu vergüten oder eben in Freizeit abzugelten sind.
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Alles andere ist rechtswidrig und war schon rechtswidrig, bevor wir Mindestlohngesetze gemacht haben. Ich will für meine Fraktion ganz klar sagen, dass Verstöße dagegen und Missbrauch konsequent zu behandeln und auch zu ahnden sind. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss da entsprechend tätig werden, weil es eben auch ein Punkt der Wettbewerbsgleichheit ist, dass sich alle an die Regeln halten.
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Im Antrag der Linken wird gefordert, dass der Stellenaufwuchs bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit schneller und auch weiter vorangehen soll, und es wird auch die Zusammenarbeit der entsprechenden Kontrollbehörden angesprochen. Da sage ich ganz ehrlich: Da sind wir mit Ihnen einer Meinung. Und das haben wir auch immer so vertreten.
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Allerdings muss ich sagen: Bei den übrigen Punkten sind wir weniger einer Auffassung. – Was die Erfassung der Arbeitszeit betrifft, will ich darauf hinweisen, dass wir im Mindestlohngesetz und auch im GSA Fleisch durchaus jetzt schon entsprechende Regelungen haben. Das gilt gerade für Bereiche mit Arbeitsverhältnissen – viele fallen in den Regelungsbereich des GSA Fleisch –, die recht schwierig zu kontrollieren sind.
Ich darf hier auch noch mal unseren beliebten Kollegen Karl Schiewerling zitieren – Gott hab ihn selig –, der damals sehr daran mitgewirkt hat, das GSA Fleisch in Kraft zu setzen.
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Wir werden die Urteile und die Urteilsbegründung des Bundesarbeitsgerichts natürlich abwarten müssen, um zu sehen, inwieweit Handlungsbedarf besteht. Ich will allerdings schon sagen, dass wir mit § 16 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz jetzt natürlich durchaus auch schon eine Regelung haben, die ausdrücklich festlegt, dass Überstunden verpflichtend aufzuzeichnen sind. Das heißt ja im Umkehrschluss, dass alles das, was vertraglich vereinbart worden ist, erst mal so hingenommen wird. Das ist eine Regelung, von der ich hoffe, dass sie nach wie vor Bestand haben wird. Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Je nachdem, wie das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ausfällt, hoffe ich doch sehr, dass die sogenannte Vertrauensarbeitszeit nicht unter gesetzgeberischen Vorgaben bzw. Änderungswünschen leiden wird.
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– Ja, da bin ich mal sehr gespannt auf das, was Sie einbringen.
Die nächsten Punkte im Antrag der Linken, die ich ansprechen will: Sie haben natürlich wieder mal ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften eingefordert. Da will ich mal ganz deutlich sagen: Die Geltendmachung von Arbeitslohn ist ein Individualanspruch. Daran können sich Gewerkschaften unterstützend beteiligen, auch ohne dass sie ein Verbandsklagerecht haben.
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Ich will da mal einen Gewerkschafter aus meinem Wahlkreis zitieren. Der sagte, es sei eigentlich eine Aufgabe der Gewerkschaften, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu unterstützen, wenn sie das wünschen. Deswegen lehnen wir ein solches Verbandsklagerecht auch ab. In der ersten Instanz gibt es keinen Anwaltszwang. Von daher kann da jeder einen Arbeitnehmer vertreten, der entsprechende Kenntnisse hat.
Den Punkt Schwerpunktstaatsanwaltschaften will ich auch noch kurz ansprechen. Ob es hier sinnvoll ist, Schwerpunktstaatsanwaltschaften einzurichten, wagen wir zu bezweifeln, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass man Schwerpunktstaatsanwaltschaften einrichtet, wenn es um wirklich komplexe und schwierige Fälle geht. Ich weiß nicht, ob die Geltendmachung von Arbeitslohn ein so schwieriger Komplex ist, dass man dafür Schwerpunktstaatsanwaltschaften gründen muss. Ich denke, dass das die Staatsanwaltschaften vor Ort besser regeln können, vor allen Dingen weil sie ihre Pappenheimer da auch etwas besser kennen.
Abschließend will ich sagen: Liebe Fraktion der Linken, inhaltlich sind wir bei diesem Thema relativ weit auseinander.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Da, wo wir eher einer Meinung sind – wir kommen da vielleicht von unterschiedlichen Seiten; Kollege Birkwald, danke auch für Ihre Beiträge –, ist, dass man sich dagegen wehren muss, wenn die Ampelkoalition wieder mal versucht, die Oppositionsrechte zu schreddern.
Danke schön.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Frank Bsirske.
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Frau Präsidentin! Abgeordnete! Zwischenzeitlich ist in mehreren Studien untersucht worden, in welchem Umfang Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land um den ihnen gesetzlich zustehenden Mindestlohn betrogen werden. Die Schätzungen differieren zwischen 1 Million und 3 Millionen. So oder so sind das Größenordnungen, die alarmieren müssen und zum Handeln zwingen.
Der vorliegende Antrag greift das völlig zu Recht auf und weist mit seinen Vorschlägen grundsätzlich in die richtige Richtung. Das betrifft etwa die Forderung nach einer tagesaktuellen elektronischen und manipulationssicheren Aufzeichnung der Arbeitszeit und ihrer Erstreckung auf alle in § 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Branchen. Tatsächlich würde damit eine zentrale Voraussetzung für eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohngesetzes durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit geschaffen. Das entspricht zugleich einer von den Beschäftigten der FKS immer wieder vorgebrachten Empfehlung.
Beachtenswert ist auch die Einrichtung einer Hotline, über die Hinweise auf Gesetzesbruch gegeben werden können, denen, soweit plausibel, nachgegangen werden muss. Das ist etwas, was in Großbritannien seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mit Erfolg praktiziert und übrigens besonders intensiv von Unternehmen genutzt wird, die sich gegen Gesetzesbrecher und unlautere Wettbewerber aus den eigenen Reihen wehren.
Zielführend ist auch ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften. Das ist angesichts des Umfangs, in dem gesetzliche Ansprüche vorenthalten werden, ein richtiger Schritt.
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Nachvollziehbar ist auch, dass der Antrag die Aufmerksamkeit auf die Stellenausstattung der FKS lenkt. Sicher macht eine bessere Stellenausstattung Sinn. Fraglich ist allerdings, ob die Priorität an dieser Stelle richtig gesetzt ist. Vorrang sollte hier zunächst die Besetzung der erschreckend hohen Zahl freier Stellen haben.
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Im März 2022 waren von rund 9 500 Stellen lediglich 7 500 besetzt, rund 20 Prozent der Stellen also unbesetzt – ein Unding. Deswegen muss über das Finanzministerium Druck auf die Behörden- und Dienststellenleitungen gemacht werden. Neben der bereits eingeleiteten Aufstockung der Ausbildungskapazitäten gehört dazu vor allem die Bereitschaft, Stellen vermehrt auch mit Angestellten zu besetzen und die Bezahlung attraktiver zu gestalten.
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Der Antrag hebt ferner auf die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und besondere Zuständigkeiten bei den Gerichten ab. Das vermag nicht zu überzeugen, sollten Schwerpunktstaatsanwaltschaften doch komplexen Rechtsmaterien vorbehalten bleiben. Dazu gehört das Mindestlohngesetz nicht.
Die hohe Dunkelziffer des Mindestlohnbetruges verweist dagegen auf die Notwendigkeit, Gesetzesbrecher schärfer zu sanktionieren:
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mit deutlich höheren Strafzahlungen und langanhaltendem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen. Überlegungen dazu fehlen in dem Antrag.
In Abwägung der verschiedenen Aspekte wollen wir dem Antrag deshalb nicht zustimmen, auch wenn wir davon überzeugt sind, dass eine Reihe der angesprochenen Punkte es verdienen, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ernsthaft weiterverfolgt zu werden.
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– Aber das war dir doch klar.
Für die AfD-Fraktion hat das Wort Norbert Kleinwächter.
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Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Viele Arbeitnehmer in Deutschland haben Angst,
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insbesondere diejenigen, die wenig verdienen.
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– Ich finde es traurig, dass Sie das verlachen. – Sie haben Angst, weil sie nicht wissen, wie sie im Winter noch durchkommen sollen mit der Heizung, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Einkäufe noch leisten sollen aufgrund der irren Preissteigerungen, die wir in Deutschland sehen.
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– Das ist nicht ein anderes Thema, sondern wir sprechen über die Mindestlohnkommission – darauf komme ich noch zurück – und die Anpassung der Mindestlohnhöhe, was eigentlich ein Interessenthema linker Parteien sein sollte. Aber sie verlachen ja lieber die Bedürfnisse der Arbeitnehmer, die Sie eigentlich vertreten sollten.
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Meine Damen und Herren, wer ist denn verantwortlich für diese Preissteigerungen? Und ich sage es immer wieder sehr gerne:
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Es ist auch die Krise in der Ukraine, der Krieg in der Ukraine; aber das ist ein Tüpfelchen auf dem i. Maßgeblich verantwortlich ist die Politik der Europäischen Zentralbank, die seit zwei Jahrzehnten irrsinnige Mengen Geld druckt.
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Das ist die Politik der Bundesregierung – von Ihnen gutgeheißen –, die in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission eine sozial-ökologische Transformation begleiten will, einen radikalen Umbau der Gesellschaft betreiben will – so steht es im Arbeitsprogramm der EU-Kommission –,
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mit Verteuerung, mit Verordnungen, mit Verboten auf dem Rücken und zulasten des einfachen Bürgers, der ganz normal arbeiten geht.
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Und ich sichere Ihnen eines zu: Die Alternative für Deutschland wird den Arbeitnehmer vor dieser Verarmung per Verordnung bewahren.
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Genau deswegen haben wir heute einen Antrag eingebracht, der sich mit dem Thema Mindestlohn beschäftigt – in der Tat ein wichtiges Thema, das man nicht nur aus der Kontrollperspektive betrachten darf, so wie Die Linke, die bei diesem Thema regelmäßig über das Ziel hinausschießt. Es bringt nichts, die Arbeitgeber zusätzlich zu belasten. Es bringt nichts, ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften einzuführen. Wir müssen uns erst mal über die Höhe des Mindestlohns selbst unterhalten, meine Damen und Herren, und die liegt ja normalerweise in den Händen der Mindestlohnkommission.
Der Mindestlohn an sich ist ja ein Instrument, das man gar nicht bräuchte in einem freien Markt und mit einer guten Politik; denn ein freier Markt regelt normalerweise die Dinge vollkommen selbstständig. Aber wir haben leider keinen komplett freien Markt. Wir haben exogene Faktoren wie Preissteigerungen, wir haben Verordnungen und Regulierungen ohne Ende, wir haben viel zu hohe Steuern und Abgaben, und wir haben eine grottenschlechte Politik in Deutschland.
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Die Mindestlohnkommission tritt eigentlich ein Mal alle zwei Jahre zusammen, um die Mindestlohnhöhe entsprechend anzupassen. Sie wurde von der Koalition im Endeffekt beiseitegeschoben. Politisch wurde ein Mindestlohn von 12 Euro die Stunde entschieden, als hätten Sie schon geahnt, dass Ende dieses Jahres eine deutliche Erhöhung der Preise in Deutschland zu erwarten sein würde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Die Mindestlohnkommission hat eigentlich die Aufgabe, diese Lohnsätze immer wieder festzusetzen. Sie trifft sich aber lediglich ein Mal alle zwei Jahre. Dann beachtet sie die Tarifentwicklung, die stattgefunden hat, und wir sind uns hoffentlich einig, dass das bei einer Inflationsrate von 10 Prozent und bei Verbrauchsgüterpreisen von plus 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr kein ausreichendes Mittel ist. Deswegen schlagen wir vor, dass die Mindestlohnkommission, sobald die Inflation 3 Prozent überschreitet, sich innerhalb von vier Wochen wieder trifft, um über die Mindestlohnhöhe zu beraten, natürlich unter Berücksichtigung der Tarifentwicklung, aber auch unter Berücksichtigung des Inflationsniveaus.
Meine Damen und Herren, der kleine Mann ist nicht für Ihre sozial-ökologische Transformation und für Ihren radikalen Umbau der Gesellschaft verantwortlich.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Aber Sie haben eine Verantwortung dafür, dass dieser Mensch, wenn er denn überhaupt noch arbeiten geht und nicht im Bürgergeld harzt, wenigstens ein menschenwürdiges Auskommen hat.
Haben Sie vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darüber informieren, dass das Sitzungsende trotz vieler zu Protokoll gegebener Reden bei 2 Uhr liegt und ich deshalb die Praxis der vorhergehenden Präsidentin fortführe und keine Zwischenfragen mehr zulasse.
Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion ist der nächste Redner.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht überall war die Begeisterung groß, als die Entscheidung gefallen ist, den gesetzlichen Mindestlohn im politischen Verfahren auf 12 Euro anzuheben, bei der antragstellenden Fraktion Die Linke vermutlich schon.
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Immerhin kann der Kollege Matthias W. Birkwald ein Stück weit die Vaterschaft für den Mindestlohn von 12 Euro für sich reklamieren. Lange vor Olaf Scholz hat er die politische Forderung erhoben.
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Nicht alle haben gejubelt, aber jetzt haben wir die 12 Euro gesetzlich festgeschrieben. Deswegen sollten wir uns alle gemeinsam freuen, und zwar mit den Menschen, die seit dem 1. Oktober 2022 in wahrlich schweren Zeiten eine kräftige Lohnerhöhung bekommen haben.
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Für viele Betriebe in der Gastronomie und im Einzelhandel bedeutet der staatliche Eingriff in die Lohnfindung trotz allem erst einmal eine zusätzliche Belastung. Diese Betriebe erleben auch harte Zeiten. Sie müssen unter schweren Bedingungen gegen Inflation und Kaufzurückhaltung anwirtschaften. Und sie zahlen die 12 Euro oder mehr – die überragende Mehrheit jedenfalls zahlt –, auch wenn es vielen schwerfällt.
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Ja, es gibt schwarze Schafe – die hat es immer gegeben –, und ja, die müssen gefunden und bestraft werden. Das ist ein wichtiger Punkt. Verstöße gegen den Mindestlohn sind strafbewehrt. Verstöße gegen den Mindestlohn sind kein Kavaliersdelikt, liebe Kolleginnen und Kollegen; da müssen wir eingreifen.
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Sie gehen zulasten der Beschäftigten und der ehrlichen Betriebe gleichermaßen. Niemand darf um seinen Lohn betrogen werden, und niemals darf der ordentliche Unternehmer im Wettbewerb im Nachteil sein, weil er sich an Recht und Gesetz hält. Niemals darf der Ehrliche der Dumme sein.
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Recht hat Die Linke, wenn sie eine effektivere Zusammenarbeit der Behörden und die Überwindung des Kompetenzwirrwarrs anmahnt. Das haben wir übrigens 2019 beim Arbeitsschutzkontrollgesetz auch gefordert. Vielmehr müssen FKS, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, und andere Behörden reformiert werden; Bernd Rützel hat schon darauf hingewiesen. Kompetenzen bündeln, Kontrollen digitalisieren: Darum geht es jetzt. Das tut auch der jetzige Finanzminister, und das ist gut so.
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Ich habe bei einem Besuch mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auf einer Baustelle im Sauerland selbst erlebt, wie sie arbeitet. Analoger geht es nicht. Ganz ehrlich, das Klemmbrett muss ein für alle Mal in die Mottenkiste. Das gehört nicht zur Arbeit von heute.
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Kommen wir zur zentralen Antragsforderung der Linken, zu der verpflichtenden Arbeitszeiterfassung. Es ist schon mal gut, dass wir heute unsere Arbeitszeit nicht erfassen. Das wäre wahrscheinlich auch nicht ganz gesetzeskonform.
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Die Linke stützt sich auf das EuGH-Urteil von Mai 2019 zur Arbeitszeit. Das Urteil verlangt, dass der Arbeitgeber ein System zur Arbeitszeiterfassung zur Verfügung stellt – nicht mehr und nicht weniger. Eine Aufzeichnungspflicht verlangt das Urteil nicht. Stempeluhr statt Vertrauensarbeitszeit passt auch nicht zu Homeoffice, und Homeoffice ist das, was immer mehr Beschäftigte wollen. Millionen Beschäftigte würden es als Verlust von Selbstbestimmung wahrnehmen, wenn sie jetzt an die Stempeluhr zurückkehren müssten.
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Ich sage ganz klar: Hände weg von der Vertrauensarbeitszeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken! Da machen wir nicht mit.
Bei 95 Prozent der im Sommer dieses Jahres kontrollierten Arbeitsverhältnisse wurden keinerlei Beanstandungen erhoben. Deshalb entspricht die pauschale Unterstellung, Rechtsbruch bei Mindestlohn sei die Regel, nicht der Realität. Ihr Antrag atmet den Geist des Misstrauens gegenüber allen Betrieben, und da machen wir nicht mit.
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Kurz zum Antrag der AfD: Da wird gefordert, die Verbraucherpreisentwicklung als verbindliches Kriterium ins Pflichtenheft der Mindestlohnkommission aufzunehmen. Ich warne davor. Ich warne davor, Inflation zum Anlass zu nehmen, die Tarifautonomie zu übersteuern, indem in die Arbeit der Mindestlohnkommission eingegriffen wird. Damit öffnen Sie den Weg in die Preis-Lohn-Spirale und heizen Sie die Inflation, die Sie zu bekämpfen vorgeben, sicherlich an. Das ist genau der falsche Weg.
Orientierung an Arbeitsmarktdaten und Tarifentwicklung und vor allem die Unabhängigkeit der Kommission sind die richtigen Voraussetzungen für einen Mindestlohn, der fair für Beschäftigte und Betriebe ist. Die Politik hat bessere Instrumente, Menschen mit geringen Einkommen vor Inflation zu schützen. Steuern runter, Kindergeld rauf, Wohngeld rauf: Das hilft besonders einkommensschwachen Haushalten. Und genau das wird im Moment gemacht. Das ist besser als ein Eingriff in die Arbeit der Tarifpartner und der unabhängigen Mindestlohnkommission.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Susanne Ferschl.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 1. Oktober 2022 gilt ein Mindestlohn von 12 Euro, und das ist gut. Aber er ist eben auch missbrauchsanfällig. 2 bis 3 Millionen Beschäftigte werden um diesen Mindestlohn betrogen. Sorgen Sie als Bundesregierung dafür, dass die Einhaltung kontrolliert und Betrug sanktioniert wird!
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Im Schnitt wird jeder Betrieb nur alle 55 Jahre kontrolliert. 55 Jahre: Das ist doch unfassbar! Diese Praxis ist ein Freifahrtschein für kriminelle Unternehmen, mit dem Geschäftsmodell Mindestlohnbetrug weiterzumachen; denn die Gefahr, erwischt zu werden, ist nahezu ausgeschlossen. Das geht natürlich zulasten der Arbeitgeber, die sich an Recht und Gesetz halten, und diese miese Schmutzkonkurrenz muss unterbunden werden.
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Dafür braucht es zuallererst mehr Personal in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Und es ist richtig: Es reicht nicht, die Planstellen nur auf dem Papier auszuweiten; sie müssen auch tatsächlich besetzt werden. Die Lücke ist in all den Jahren immer größer geworden. Bis Juni dieses Jahres sind im Vergleich zum letzten Jahr sogar noch mal über 80 Stellen nicht besetzt worden. Da muss doch das Finanzministerium mal aktiv werden!
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Es wäre im Übrigen auch wichtig, die Kontrollarbeit zu erleichtern. Das könnte man ganz einfach machen, indem man eine elektronische, manipulationssichere und vor allem tagesaktuelle Arbeitszeiterfassung einführt. Die sieben Tage Karenzzeit, bis die Arbeitszeiten erfasst werden müssen, ist das Einfallstor für Mindestlohnbetrug. Schließen Sie das doch endlich!
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Und stärken Sie die Beschäftigtenrechte, zum Beispiel mit einer Informationspflicht gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, wenn im Betrieb Mindestlohnverstöße festgestellt wurden, damit sie das überhaupt mitbekommen; zum Beispiel mit einem Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, damit Ansprüche auch durchgesetzt werden können; denn die Praxis zeigt, dass Arbeitnehmer in bestehenden Arbeitsverhältnissen so gut wie nie ihren Arbeitgeber verklagen. Sie brauchen dabei einfach Unterstützung.
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Aber nötig ist auch eine staatliche Meldestelle, an die sich Beschäftigte bei Mindestlohnverstößen wenden können. Es wurde schon gesagt: In England ist das gängige Praxis. Dort werden im Übrigen auch die Namen der schwarzen Schafe veröffentlicht. Solange es eine solche Meldestelle bei uns nicht gibt, kann ich den Kolleginnen und Kollegen nur empfehlen, sich an www.mindestlohnbetrug.de zu wenden.
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Das ist ein Portal, das unser Fraktionskollege Victor Perli erfolgreich ins Leben gerufen hat.
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In der jetzigen Zeit mit der hohen Inflation ist es besonders perfide, wenn Beschäftigte um ihren Lohn betrogen werden. Mit unserem Antrag stärken wir die Kontrollen und schließen wir die Schlupflöcher.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich schaue jetzt insbesondere mal zu den Grünen und zur SPD: Lassen Sie uns gemeinsam den Mindestlohn schützen; denn er ist eine Errungenschaft! Stimmen Sie deswegen unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
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Ich bitte Sie, das nächste Mal auf derlei Transparente zu verzichten. Sonst erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
Michael Gerdes gibt seine Rede zu Protokoll.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Axel Knoerig.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut und richtig, dass Beschäftigte mit geringen Einkommen nun 12 Euro Mindestlohn bekommen. Das hat auch die Union klar unterstützt. Doch wie die Ampel das durchgeboxt hat, das war schlichtweg falsch. Die Sozialdemokraten feiern sich immer noch für die Erhöhung des Mindestlohns,
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aber der politische Weg vorbei an den Tarifpartnern hat diese geschwächt.
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Für uns als Union gilt nach wie vor: Gute Löhne werden von den Sozialpartnern ausgehandelt. Von diesem bewährten Grundsatz haben sich SPD, Grüne und FDP allerdings verabschiedet.
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Damit sind wir als Union die einzige Partei, die noch zum Tarifvertragssystem steht.
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Dabei sorgt doch gerade eine starke Sozialpartnerschaft für gute Standards bei den Arbeitsbedingungen, und dazu gehören auch Branchenmindestlöhne, die zumeist über den allgemeinen Mindestlöhnen liegen. Wir brauchen selbstbewusste Betriebsräte, eine hohe Tarifbindung; dann gibt es insgesamt auch bessere Löhne. Das zeigt sich in den aktuellen Tarifverhandlungen.
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In der Chemieindustrie gibt es für Beschäftigte einen Bonus von 3 000 Euro sowie eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent; im Gebäudereinigerhandwerk sind es sogar 9,7 Prozent. Das lässt erahnen, wie weitere Tarifrunden ablaufen werden. Von diesen guten Abschlüssen profitieren oft gerade die unteren Lohngruppen.
Meine Damen und Herren, viele werden sich fragen: Warum soll ich eigentlich Mitglied einer Gewerkschaft werden, wenn der Staat doch die Löhne festsetzt? Damit entfällt, meine ich, ein wichtiges Argument für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft.
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Wir müssen doch unsere Sozialpartner stärken und dürfen nicht an ihnen vorbei Politik machen.
Beim Mindestlohn zeigt sich nun die große offene Flanke, die die Ampel hinterlassen hat. Die nächste Erhöhung durch die Mindestlohnkommission wird jetzt erst in 2024 möglich sein, ein Jahr später als geplant. Wenn man genau nachrechnet, sind es 15 Monate, die die Ampel alle, die wenig verdienen, im Grunde genommen warten lässt.
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Dabei war bereits in der Debatte über den Mindestlohn klar, dass es durch die Inflation zu steigenden Löhnen kommen wird, und diese Erhöhung hätte man über ein sozialpartnerschaftliches Instrument, nämlich die Mindestlohnkommission, an untere Lohngruppen weitergeben müssen. Doch die Regierung hat sich ganz bewusst darüber hinweggesetzt – gerade die SPD hat ja den Mindestlohn als Wahlkampfthema instrumentalisiert –,
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und nun geht das Ganze nach hinten los. Ausgerechnet Ihre Stammwähler, die Menschen mit kleinen Einkommen, müssen länger auf höhere Löhne warten.
Auch die Wähler der FDP hätten sich nicht vorstellen können, dass die Liberalen einmal den Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen ebnen. Wer vor einem Jahr Gelb gewählt hat, sieht heute nur noch Rot und Grün.
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Lieber Christian Lindner – wenn er denn hier säße –, ich erinnere an Ihre Worte: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“. – Nun haben Sie definitiv die falsche Richtung eingeschlagen.
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Minister Heil, ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die Mindestlohnkommission die rechtlichen Voraussetzungen erhält, den Mindestlohn schneller an akute Entwicklungen in der Tariflandschaft anzupassen, und sorgen Sie dafür, dass die Politik nicht dauerhaft in den Arbeitsmarkt hineindirigiert und die Löhne festlegt!
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Was wollen Sie denn machen, wenn der Mindestlohn in Zukunft unter den geplanten Vorgaben der EU bei 13 Euro liegt? Dann sind Sie doch gezwungen, wieder einen politischen Eingriff vorzunehmen.
Natürlich ist in Branchen, in denen es Probleme gibt, genau hinzuschauen. Wir erinnern an den Missbrauch in der Fleischwirtschaft, den wir in der letzten Wahlperiode bekämpft haben; dem haben wir einen Riegel vorgeschoben.
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Ich erinnere hier an Karl-Josef Laumann in NRW. Durch die strengeren Vorschriften haben wir die Arbeitszeiterfassung optimiert.
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Sollte sich Handlungsbedarf für weitere Branchen ergeben, muss man darüber nachdenken, wie man hier Abhilfe schaffen kann. Ich sehe hier auch das Thema Logistik. Bernd Rützel hat es vorhin angesprochen: Wir haben das auf einer Tagung gemeinsam thematisiert. – Wir sprechen es mittlerweile seit anderthalb, zwei Jahren an. Wir stellen zwar niemanden unter Generalverdacht, aber letztlich besteht hier Handlungsbedarf.
Ich halte fest: Der Staat kann und sollte nicht alles regeln. Die soziale Marktwirtschaft hat sich doch als erfolgreiches Modell bewährt. Wir als Union setzen auf starke Tarifpartner, die gemeinsam gute Lösungen für Betriebe und deren Beschäftigte entwickeln.
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Deswegen lehnen wir die Anträge von AfD und Die Linke ab.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Es freut mich, dass wir heute noch mal die Möglichkeit haben, über den Mindestlohn zu diskutieren. Seit 1. Oktober 2022 gilt ja jetzt der neue Mindestlohn in Höhe von 12 Euro. Damit heben wir rund 6 Millionen Beschäftigte über die Armutsschwelle. Davon profitieren vor allem viele Frauen. Die Erhöhung war also eine Frage der Gerechtigkeit, und ich finde, das muss hier einfach noch mal gesagt werden.
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Eines kann ich mir jetzt nicht verkneifen: Wenn die Union, wie gerade in der Debatte um das Bürgergeld, immer einen Lohnabstand einfordert, dann ist das nicht wirklich ehrlich; denn es waren doch Sie, die Union, die beim Mindestlohn immer blockiert hat.
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Damit ist jetzt Schluss. Wir haben jetzt den Mindestlohn erhöht. Das war überfällig, und es war wichtig.
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Wenn wir über den Mindestlohn reden, dann geht es um die Beschäftigten, die natürlich trotzdem wenig verdienen. Es geht beispielsweise um die Servicekraft in den Restaurants, um die Reinigungskraft in den Hotels, Paketboten; die Logistik wurde angesprochen. Genau diese Menschen müssen darauf vertrauen können, dass der Mindestlohn nicht nur auf dem Papier steht, sondern dass er auch tatsächlich gezahlt wird. Es darf keine Lücken geben, es darf keine Möglichkeiten geben, den Mindestlohn zu unterlaufen. Deshalb muss er effektiv kontrolliert werden.
Kontrollen sind effektiv, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
Erstens. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit braucht dafür Personal. Planstellen stehen ausreichend zur Verfügung.
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Mein Kollege Bsirske hat es aber schon gesagt: Das Problem ist, dass viel zu viele Stellen gerade nicht besetzt sind. Hier braucht es wirklich mehr Anstrengungen, und das haben wir auch genau im Blick.
Zweite Voraussetzung. Kontrollen sind dann effektiv, wenn die Arbeitszeit dokumentiert wird, und zwar nicht nur die Dauer, sondern auch der Beginn und das Ende der Arbeitszeit. Diese Dokumentationspflichten gibt es schon bei Minijobs und für die Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz stehen. Da müssen wir noch etwas nachschärfen.
Die Erfassung der Arbeitszeit muss natürlich auch ganz grundsätzlich zum Thema werden. Das steht bei uns im Koalitionsvertrag, das sagte uns das Bundesverfassungsgericht, und das sagt mittlerweile auch das Bundesarbeitsgericht. Wir werden hier eine Lösung entwickeln, die zeitgemäß, also digitalisiert, elektronisch und praktikabel ist. Gleichzeitig muss diese Lösung natürlich garantieren, dass jede Arbeitsstunde erfasst und damit auch bezahlt wird; denn alles andere ist nicht gerecht.
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Zurück zum Mindestlohn. Der Mindestlohn ist wichtig, aber er ist nur die unterste Haltelinie. Echte Lohngerechtigkeit gibt es am besten mit guten Tarifverträgen, und deshalb werden wir die Tarifbindung stärken.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Unser nächster Schritt ist ein Bundestariftreuegesetz; denn Arbeit muss fair entlohnt werden.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Bei der Bundestagswahl im September 2021 kam es in Berlin zu massiven Wahlfehlern und Wahlpannen. Es fehlten Stimmzettel, es wurden falsche Stimmzettel ausgeteilt, und es gab zu wenige Wahlkabinen. In der Folge gab es erhebliche Warteschlangen. Viele Bürgerinnen und Bürger konnten deshalb ihre Stimme bei der Bundestagswahl nicht oder nur nach deutlicher Wartezeit abgeben. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir die Bundestagswahl in Berlin wiederholen.
In unserer Demokratie ist die Stimmabgabe die wichtigste Beteiligungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb müssen wir alles tun, damit die Wählerinnen und Wähler ihre Stimme rechtssicher abgeben können. Deswegen wollen wir die Bundestagswahl in Berlin wiederholen. Wir müssen das Vertrauen in unser Wahlsystem sichern.
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Wir geben das klare Zeichen, dass wir die Pannen in Berlin eben nicht unter den Teppich kehren, sondern dass wir Konsequenzen daraus ziehen. Mit diesem Beschluss heute sorgen wir dafür, dass die Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden kann.
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Es ist ein ganz wichtiges Zeichen an die Berliner Wählerinnen und Wähler, dass sie ihre Stimme abgeben können, wenn sie sie bei der Bundestagswahl nicht abgeben konnten.
Klar ist für uns aber auch: Wir wollen die Bundestagswahl nur dort wiederholen, wo es tatsächlich zu Wahlfehlern gekommen ist,
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nur dort, wo wir Wahlfehler belegen können oder Indizien dafür haben; dort wollen wir die Wahl wiederholen.
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Das ist in 431 Wahlbezirken der Fall. Dort wollen wir deshalb die Wahl mit der Erst- und mit der Zweitstimme wiederholen.
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Damit – das will ich ausdrücklich anmerken – gehen wir übrigens über das hinaus, was der Bundeswahlleiter beantragt hat; der hat sich nämlich auf sechs Wahlkreise fokussiert. Wir gehen darüber hinaus und wollen in Wahlbezirken in allen zwölf Wahlkreisen wählen lassen; diese 431 Wahlbezirke verteilen sich nämlich auf alle Berliner Wahlkreise.
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Wir gehen also über das hinaus, was der Bundeswahlleiter beantragt hat.
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Um es ganz deutlich zu sagen – ich kann es für uns sagen, und die Kollegen aus der Ampel werden das sicher auch noch für ihre Fraktionen sagen –: Wir haben hier nicht auf Umfragen geschielt. Wie auch? Die Wahl wird ja leider erst 2024 wiederholt werden; wir können die Umfragen also gar nicht kennen.
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Wir haben hier nach Recht und Gesetz entschieden. Wir haben nicht auf die Umfragen oder darauf geschaut, was eine bestimmte Lösung welcher Partei an Vorteilen bringen könnte; das will ich hier ausdrücklich festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist falsch, zu behaupten, dass die Ampel sich hier einen Beschluss zurechtgeschustert hätte.
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Warum entscheiden wir so und nicht so, wie am Montag vermutlich der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin entscheiden wird? Warum lassen wir nicht überall, in allen zwölf Wahlkreisen, alle Wahlbezirke nachwählen?
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Das hat einen ganz einfachen Grund: Wir meinen, dass die vorläufige Einschätzung des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin zu pauschal ist. Wir sollten die Bundestagswahl nur dort wiederholen, wo wir tatsächlich Feststellungen oder Indizien dafür haben, dass dort Wahlfehler stattgefunden haben.
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Es ist nach unserer Auffassung einfach zu pauschal, wie der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin zu sagen, dass die Niederschriften und die Protokolle zwar nicht umfassend Auskunft geben, wo Fehler stattgefunden haben, man aber davon ausgehen könne, es sei die Spitze des Eisberges. Das haben wir uns angehört – ich war in der Verhandlung dabei –, aber wir meinen, eine Bundestagswahl können wir nicht einfach so vom Tisch wischen, sondern wir müssen auch das Vertrauen derjenigen Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme ja abgegeben haben – und das sind rund 70 Prozent –, in die Wahl, in ihre Stimmabgabe, berücksichtigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen wollen wir, wie gesagt, die Wahl nur dort wiederholen, wo es tatsächlich Wahlfehler gab.
Es wurde kritisiert, wir hätten, bis dieser Beschluss heute vorliegt, zu lange gebraucht. Dazu will ich ganz klar sagen: Zunächst einmal ein großes Dankeschön an das Ausschusssekretariat, das wirklich Großartiges geleistet hat! Herzlichen Dank!
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Ich darf daran erinnern: Der Ausschuss hat sich erst im Dezember konstituiert und im Januar seine Arbeit aufgenommen. Und ich darf daran erinnern, dass wir rund 1 700 Einsprüche gegen die Bundestagswahl in Berlin hatten. Das musste aufgearbeitet werden; das alles musste gesichtet und eingeschätzt werden. Deswegen konnte auch erst im Mai dieses Jahres die Verhandlung des Wahlprüfungsausschusses mit dem Bundeswahlleiter und der Landeswahlleitung stattfinden, und wir haben dann schon im Juli den Grundsatzbeschluss gefasst, dass wir dort, wo wir Wahlfehler erkennen können, die Wahl wiederholen lassen wollen.
Im Juli gab es also den Grundsatzbeschluss. Dann hat sich das superfleißige Ausschusssekretariat drangesetzt und eine Beschlussempfehlung erarbeitet, die rund 200 Seiten dick ist. Ich habe wirklich größten Respekt vor deren Arbeit.
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Dann – das gebe ich zu – vergingen ein paar Wochen, in denen wir durchaus abwechslungsreiche Gespräche, auch innerhalb der Ampel, hatten. Aber letztendlich haben wir Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses – ich sagte es: wir Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses – die Entscheidung getroffen, in diesen 431 Wahlbezirken Berlins die Bundestagswahl zu wiederholen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiges Zeichen an die Berlinerinnen und Berliner, dass sie ihre Stimme sicher abgeben können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch darauf verweisen, dass uns die Vorkommnisse in Berlin und dieses Verfahren durchaus Anlass sein sollten, kritisch zu prüfen, ob wir die Wahlgesetzgebung in Bezug auf die Durchführung der Wahlen verbessern müssen – der Bundeswahlleiter hat hier wichtige Hinweise gegeben –, zum Beispiel, ob es bei den Regelungen, wie Niederschriften zu erstellen sind, der Präzisierung bedarf und ob es Informationsrechte der Wahlleitungen gegenüber den Wahlbehörden darüber geben sollte, wie die Wahlen vor Ort abgelaufen sind.
Heute vor wenigen Stunden haben wir in der Kommission zur Reform des Wahlrechts mit Experten darüber debattiert, ob wir das geltende Wahlprüfungssystem, in dem der Bundestag diese wichtige Rolle hat, nicht ersetzen sollten durch ein anderes System, in dem Gerichte entscheiden.
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Ich finde, diese Frage sollten wir uns vornehmen. Es darf nicht der Hauch eines Anscheins entstehen, dass wir Abgeordnete, wenn wir bestimmte Entscheidungen treffen, befangen sein könnten, weil es um die politische Zukunft von Kollegen geht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns mit dieser Entscheidung streng an Recht und Gesetz und auch an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Wir haben uns entschlossen, die Wahl dort, wo Wahlfehler vorliegen, zu wiederholen. Wir haben die Mandatsrelevanz geprüft; insbesondere in Berlin-Reinickendorf und in Berlin-Pankow sind durchaus andere Erststimmenergebnisse möglich. Auch bei den Zweitstimmenergebnissen können Parteien hier mehr Sitze bekommen; die Mandatsrelevanz ist also absolut gegeben.
Der entscheidende Punkt aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum wir uns entschlossen haben, die Bundestagswahl in Berlin zu wiederholen, ist, dass in unserer Demokratie alle Wählerinnen und Wähler die Sicherheit und das Vertrauen haben müssen, dass ihre Stimme zählt. Deswegen werden wir die Berlin-Wahl wiederholen – dort, wo Wahlfehler passiert sind.
Vielen Dank.
({17})
Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Patrick Schnieder.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von einem deutschen Philosophen stammt das Diktum:
Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.
({0})
In gewisser Weise trifft das auf den Gegenstand zu, mit dem wir uns heute befassen, nämlich die Durchführung der Bundestagswahl 2021 in Berlin. In der Tat, es ist eine Tragödie, was sich in Berlin – übrigens unter einem rot-rot-grünen Senat
({1})
und in Verantwortung und unter Rechtsaufsicht eines sozialdemokratischen Innensenators – an Wahlchaos ereignet hat. Das hätten wir in Ländern erwartet, in die wir Wahlbeobachter schicken, aber nicht in Deutschland, nicht einmal in unserer Hauptstadt.
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Meine Damen, meine Herren, das hat zu einem massiven Vertrauensverlust in Sachen Rechtmäßigkeit und Korrektheit der Berlin-Ergebnisse der Bundestagswahl und damit eines Kernbestandteils unserer Demokratie geführt.
Das hätte eigentlich schon ausgereicht. Aber was wir bei der Aufarbeitung dieses Wahlchaos im Wahlprüfungsausschuss – heute in eine Entscheidung des Plenums des Deutschen Bundestages mündend – erlebt haben, das ist in der Tat eine Farce. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Wir haben eine Politisierung dieses Verfahren erlebt,
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einen rein politischen Basar bei der Ampel, die das Vertrauen in die Integrität des Wahlprüfungsverfahrens arg in Mitleidenschaft gezogen, vielleicht sogar zerstört hat. Das geht allein auf das Konto der Parteien der Ampel, auf das Konto dieser Ampelkoalition.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was Sie von der Ampel vorschlagen, nämlich in Berlin in 431 von 2 256 Wahlbezirken neu zu wählen, reicht absolut nicht aus; das ist nicht einmal ein Fünftel, sind nicht einmal 20 Prozent
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der Wahlbezirke in Berlin.
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Wie man dazu kommen kann, zu sagen: „Das geht über den Vorschlag des Bundeswahlleiters hinaus“,
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erschließt sich uns nun wirklich nicht.
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Der Bundeswahlleiter möchte in sechs Wahlkreisen komplett neu wählen lassen; das sind über 1 100 Wahlbezirke. Da bleibt immer noch ein Faktor drei zwischen Ihrem Vorschlag und dem, was der Bundeswahlleiter vorschlägt.
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Wir jedenfalls sagen: Es hat in Berlin ein systemisches Versagen bei der Organisation, bei der Vorbereitung und bei der Durchführung der Bundestagswahl gegeben, und dem kann man nicht mit kosmetischen Korrekturen beikommen;
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damit kann man den Vertrauensverlust, der entstanden ist, nicht beheben.
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Wir haben allerdings den Eindruck, dass genau das mit Ihrem Vorschlag bezweckt ist. Sie wollen hier minimalinvasiv eingreifen, weil mindestens Teile der Ampel Angst haben, dass sie bei einer Korrektur des Wahlergebnisses Mandate verlieren. Das ist auch das, was wir während des Wahlprüfungsverfahrens im Wahlprüfungsausschuss erleben mussten. Dieses Verfahren ist von Ihnen in einer Art und Weise politisiert worden, wie wir uns das nicht haben vorstellen können. Man kam sich teilweise vor wie auf einem politischen Basar.
Ich will Ihnen noch einmal darlegen, was Aufgabe, Wesen und Funktion des Wahlprüfungsausschusses ist – ein Blick in das Wahlprüfungsgesetz würde sofort dazu führen, dass man das erkennt –: Der Wahlprüfungsausschuss ist kein normaler Ausschuss des Deutschen Bundestages,
({12})
der Wahlprüfungsausschuss hat gerichtsähnliche Funktion, er hat allein nach Recht und Gesetz zu entscheiden.
Schon das Hin und Her Ihrer Entscheidungsvorschläge belegt, dass es Ihnen nicht um Recht und Gesetz geht. Das haben Sie als Instrument benutzt, um an den Schräubchen zu drehen, um das Ergebnis so passend zu machen, dass es nur zu einer kosmetischen Korrektur kommen kann. Sie sind gestartet bei 429 Wahlbezirken.
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Dann kam die mündliche Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, der Ihnen das alles um die Ohren gehauen hat, auch bei den Argumenten. Er hat, mit Verlaub, Herr Dr. Fechner, gesagt: In jedem Wahllokal hat es schon bei der Vorbereitung der Wahl Fehler gegeben, als der Senat geprüft und ermittelt hat, wie viel Wahlkabinen erforderlich sind, und in jedem Wahllokal viel zu wenige Wahlkabinen aufgestellt hat. Allein damit ist schon ein Fehler gegeben.
Jeder hätte erwartet, dass Sie nach dieser mündlichen Verhandlung von den 429 Wahlbezirken mit der Zahl nach oben gehen. Doch dann kam Ihr Vorschlag: 300 Wahlbezirke, und keiner weiß, welche das hätten sein sollen, geschweige denn, warum.
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Dann hört man, dass in der Ampel gesagt worden sei: Die Entscheidung wird ja gar nicht im Wahlprüfungsausschuss getroffen, sondern auf anderer, politischer Ebene.
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Da muss ich sagen: Wenn das stimmt, dann ist das ein massiver Verfahrensfehler,
({16})
weil es an der Funktion, an der Aufgabe des Wahlprüfungsausschusses vollkommen vorbeigeht. Allein deswegen, aber auch wegen der materiellrechtlichen Fehler, wird das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung, die heute hier getroffen wird, mit Sicherheit aufheben.
Ich muss schon sagen: Es hat fast Chuzpe, hier so zu tun, als ob das Verfahren reformbedürftig sei und man selbst auf diese Idee gekommen sei. 72 Jahre hat das Wahlprüfungsverfahren in dieser Form funktioniert.
({17})
Es hat die Ampel gebraucht, um es zu diskreditieren. Sie sind Brandstifter und Feuerwehrmann in einem, wenn Sie sagen: Wir müssen dieses Verfahren korrigieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie erkennen die Fehler, die hier passiert sind – das will ich gar nicht in Abrede stellen –; aber Sie rechnen das Fiasko klein. Wer einen Fehler erkennt, ihn aber nicht korrigiert, begeht einen zweiten Fehler, und der ist viel gewichtiger als der Ursprungsfehler.
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Deshalb sage ich: Die Bundestagswahl 2021 in Berlin war kein guter Tag für die Demokratie in Deutschland; aber das, was Sie im Wahlprüfungsverfahren gemacht haben und was Sie heute hier beschließen werden, ist auch kein guter Tag für die Demokratie in Deutschland.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Tesfaiesus.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Schnieder sagte gerade: 72 Jahre lang funktionierte das Wahlprüfungsverfahren gut. – Er scheint nicht erkannt zu haben, dass es seit dem Bestehen der Bundesrepublik keine Vorkommnisse gab, die mit dem, was bei der Wahl am 26. September letzten Jahres beobachtet werden konnte, vergleichbar wären.
Was dort stattfand, wird sicherlich nicht als Sternstunde der Demokratie in die Geschichte unserer Bundesrepublik eingehen.
({0})
Zu Recht haben zahlreiche Bürger/-innen und auch der Bundeswahlleiter Einspruch eingelegt. Was wir in den Einsprüchen lasen, war sehr beunruhigend. So schrieb eine Wahlberechtigte: Wir standen mit unseren ein- und vierjährigen Töchtern ab 12.15 Uhr in der Schlange. Um 13 Uhr, noch außerhalb des Gebäudes, habe ich mein Warten abgebrochen, bin nach Hause gegangen, damit meine Töchter Mittag essen konnten. Ich habe mindestens vier andere Personen gesehen, die aufgrund ihres Alters und der langen Wartezeit irgendwann auf ihre Stimmabgabe verzichtet haben. – Das, meine Damen und Herren, ist nicht hinnehmbar.
({1})
Die Gründe für dieses Chaos sind vielfältig: zu wenige Wahlkabinen, falsche, fehlende Wahlzettel, Nachlieferungen, die im Stau stecken blieben – all das wurde bereits genannt.
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Diese Mängel in der Organisation schaden unserer Demokratie und dürfen sich nicht wiederholen.
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In der Bundesrepublik haben Bürger/-innen berechtigte Erwartungen an den Ablauf einer Wahl. Bei uns gibt es glücklicherweise keine ungeschriebene Regel, die besagt: Wenn du wählen gehst, vergiss deinen Campingstuhl nicht! – Damit beziehe ich mich nicht auf einen dieser Staaten, die Herr Schnieder vielleicht gemeint hat, sondern auf die USA. Den berechtigten Erwartungen ist man, das haben die unzähligen Beschwerden gezeigt, in zahlreichen Wahllokalen nicht gerecht geworden.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es diese Probleme nicht überall in Berlin gab. Über 75 Prozent aller Wahlberechtigten haben gewählt – ja, manchmal trotz Schwierigkeiten. So nachvollziehbar der Ärger und die Enttäuschung in vielen Fällen sind, so schwierig ist es, die richtige Antwort auf die folgenden Fragen zu finden – Fragen, die sich auch für den Ausschuss ganz neu gestellt haben –: Gibt es eine zumutbare maximale Wartezeit? Was, wenn sich die Fehler nur auf die Zweitstimmen auswirken? Kann man die Zweitstimmenabgabe ohne die Erststimmenabgabe wiederholen? Was, wenn die Protokollierung in den Wahllokalen nicht stimmt, zu wessen Lasten geht das? Zu vielen dieser Fragen kann man mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen haben – Meinungen, die alle auf dem Boden des Rechts stehen, die sich gut begründen und vertreten lassen. Deshalb haben wir auch lange argumentiert, lange gehadert: weil es an dieser Stelle – wie die Opposition zu meinen glaubt – keine einfachen Antworten gibt.
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In langjähriger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht klare Vorgaben für die Wahlprüfung formuliert: Gibt es Wahlfehler? Sind diese Fehler mandatsrelevant, das heißt, wirken sie sich auf das Wahlergebnis aus?
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Und schließlich: Ist die daraus folgende Maßnahme verhältnismäßig?
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt eine wichtige Rolle, er ist nicht umsonst ein Grundsatz von Verfassungsrang. Wir müssen einen Beschluss fassen, der es sowohl den Betroffenen ermöglicht, ihre Stimme abzugeben, aber auch den Eingriff auf das Nötigste beschränkt. Die Stimmen von 75 Prozent der Berliner dürfen nicht – das scheint die Opposition nicht verstanden zu haben – leichtfertig annulliert werden.
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Weil die Opposition sich so sehr auf die Wahlkreise bezieht, sage ich: Wir haben doch in der Anhörung den Bundeswahlleiter gefragt, ob es auch legitim ist, nicht für ganze Wahlkreise eine Neuwahl vorzusehen, sondern wirklich zu schauen, in welchen Wahllokalen die Fehler passiert sind, und nur dort neu wählen zu lassen. Und seine Antwort war: Auch dieser Weg ist möglich.
({8})
Diesen manchmal steinigen Weg sind wir also gegangen und zu dem Ergebnis gekommen, dass in 327 Wahllokalen Fehler von relevantem Ausmaß vorkamen. 104 Wahllokale sind als Briefwahllokale mit diesen verknüpft, sodass wir schließlich zu dem Votum kommen, dass die Wahl in insgesamt 431 Wahllokalen zu wiederholen ist. Damit werden über eine halbe Million Berliner genau in den Wahlbezirken, in denen die Fehler passiert sind, zur Wahl aufgerufen.
Damit diese Bürger/-innen nun schnellstmöglich
({9})
– nun schnellstmöglich – Rechtssicherheit bekommen, bitte ich Sie, dem vorliegenden, meines Erachtens ausgewogenen Votum zuzustimmen.
Damit danke ich Ihnen.
({10})
Für die AfD-Fraktion erteile ich das Wort Thomas Seitz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Bundeswahlleiter hat den Ausschuss geradezu angefleht, wegen des organisatorischen Totalversagens der Berliner Verwaltung und Politik eine Wahlwiederholung anzuordnen. Ich nenne nur ein paar der festgestellten Wahlfehler: Ausgabe von Stimmzetteln eines anderen Wahlkreises, Unterbrechungen der Wahlhandlung und Abweisung von Wahlberechtigten aufgrund fehlender Stimmzettel, unzumutbar lange Wartezeiten vor der Stimmabgabe, auch infolge einer unzureichenden Anzahl von Wahlkabinen, oder Öffnung der Wahllokale noch weit nach 18 Uhr, während im Fernsehen schon Prognosen und Hochrechnungen veröffentlicht wurden.
({0})
Während einerseits schwerste Wahlfehler festgestellt sind, bekundeten die Niederschriften der Wahlvorstände regelmäßig, dass es keine besonderen Vorkommnisse gegeben hätte. Daraus folgt, dass die Dokumentation der Wahl in einem Ausmaß fehlerhaft ist, dass der gesamten Dokumentation keinerlei Aussagekraft und Beweiswert mehr zugesprochen werden kann.
({1})
Die landesweit völlig ungenügende Organisation legt den Schluss nahe, dass Wahlfehler überall in Berlin aufgetreten sind und nicht nur partiell in den Wahlbezirken, in denen gehäuft Wahlfehler aktenkundig gemacht wurden.
Die festgestellten Wahlfehler sind von Mandatsrelevanz, sodass zumindest in sechs Wahlkreisen die Wiederholung der Wahl zwingend ist, und zwar im gesamten Wahlkreis und mit Erst- und Zweitstimme.
Da man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen muss, dass sich die Organisationsmängel auch in den anderen sechs Wahlkreisen genauso verwirklicht haben und die Dokumentation auch dort nicht verlässlich ist, halte ich es für zumindest vertretbar, auch für diese Wahlkreise von relevanten Wahlfehlern auszugehen.
({2})
Jedenfalls bleibt kein Raum für die Annahme eines legitimen Bestandsinteresses aller in Berlin gewählten Abgeordneten, sodass es nur eine mit dem Demokratieprinzip vereinbare Rechtsfolge hätte geben dürfen, nämlich Wahlwiederholung für ganz Berlin.
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Die Regierungsmehrheit will leider nur eine Miniwahlwiederholung im geringstmöglichen Umfang – eine Alibientscheidung, die den durch das Wahlchaos verursachten Schaden für die Demokratie noch vertieft und zu noch mehr Nichtwählern führen wird. Die Vorgänge während der Bundestagswahl haben das Vertrauen der Bürger in die Demokratie nachhaltig erschüttert, weil die demokratische Legitimation von Parlament und Regierung eine ordnungsgemäße Wahl voraussetzt.
Im Verfahren ist deutlich geworden, dass es der Koalition um den Erhalt ihrer Mandate geht, nicht um den Schutz des Wahlvorgangs als konstitutivem Element unserer repräsentativen Demokratie.
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Von Abraham Lincoln stammt das Zitat: Demokratie ist Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk. – Den Abgeordneten aus Berlin fehlt diese Legitimation durch das Volk, und da die Regierung auch von diesen Abgeordneten getragen wird, fehlt auch der Regierung teilweise die Legitimation.
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Diese Delegitimierung des Staates durch die Koalition wird hoffentlich vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden.
Für die Zukunft gibt es drei Folgerungen: Als Erstes muss das materielle Wahlprüfungsrecht modernisiert werden. Wenn nicht festgestellt werden kann, dass eine Wahl korrekt war, kann eine scheinbar gewählte Volksvertretung keinerlei Bestandsschutz beanspruchen und es muss neu gewählt werden – oder „BRD“ steht künftig für „Bananenrepublik Deutschland“.
({6})
Der zweite Punkt betrifft das Verfahren der Wahlprüfung. Der Verfahrensgang hat deutlich gemacht, dass die Koalition nicht der Sach- und Rechtslage folgt, sondern der politischen Opportunität. Das missachtet die gerichtsähnliche Funktion der Wahlprüfung. Der Bundestag darf deshalb nie wieder als Richter in eigener Sache tätig werden!
({7})
Eine unparteiische Wahlprüfung erfordert unabhängige Gerichte.
Zum Dritten müssen natürlich die Vorschriften zur Wahlvorbereitung reformiert werden. Die Demokratie kann es nicht hinnehmen, dass Wahlen durch dysfunktionale Länder wie ein rot-grün-links-geschädigtes Berlin sabotiert werden. Als letzte Sanktion braucht es deshalb auch den Durchgriff des Bundeswahlleiters in die Wahlorganisation auf Landesebene, durch ein Selbsteintrittsrecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Hartewig.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Wahlprüfung der Bundestagswahl ist diesem Haus eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen. Was am 26. September 2021 im Land Berlin geschehen ist, hat das Vertrauen vieler Menschen in demokratische Entscheidungsprozesse massiv erschüttert.
({0})
Nur eine sorgsame Aufarbeitung auf allen zuständigen Ebenen kann das Vertrauen in die Wahl zumindest teilweise wiederherstellen.
Wie schon angesprochen, ist die Aufgabe, die Wahl auf Wahlfehler zu überprüfen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, zunächst Sache des Bundestages, wie es Artikel 41 Grundgesetz uns vorschreibt.
Wir schlagen Ihnen heute vor, zu beschließen, dass die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag im Land Berlin in insgesamt 431 Wahlbezirken wiederholt wird.
Fest steht: Die Organisation der Wahl zum Deutschen Bundestag war im Land Berlin von schwerwiegenden strukturellen Mängeln geprägt. Wenn in einem Wahllokal falsche Stimmzettel ausgegeben werden oder Wahlhandlungen für viele Minuten unterbrochen werden müssen, weil nicht genügend richtige Stimmzettel zur Verfügung stehen, dann liegen darin klare Wahlfehler.
Besonders viele Einsprüche bezogen sich auf Fälle, in denen Wahllokale weitaus länger als bis 18 Uhr geöffnet hatten. Es entspricht der Lebenserfahrung und der bisherigen Spruchpraxis des Wahlprüfungsverfahrens, dass nicht jede Warteschlange automatisch auf einen Wahlfehler schließen lässt; wer vor 18 Uhr am Wahllokal ist, der soll auch noch abstimmen können. Erreicht die Wartezeit jedoch eine gewisse Länge, so kann man daraus auf ein organisatorisches Versäumnis schließen. In diesem Fall kann dann ein Wahlfehler vorliegen. Nach Vorschlag des Ausschusses ist eine solche Schlussfolgerung jedenfalls ab 18.30 Uhr plausibel.
Bei der Entscheidung, ob ein festgestellter Wahlfehler auch zu einer Wahlwiederholung führt, ist stets zu berücksichtigen, ob dieser Fehler überhaupt einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages haben konnte. Nur wenn eine – es wurde schon angesprochen – Mandatsrelevanz gegeben ist und wenn eine Wahlwiederholung überdies verhältnismäßig ist, darf sie auch stattfinden; denn einer aus einer Wahl hervorgegangenen Volksvertretung kommt auch Bestandsschutz zu; dies folgt unmittelbar aus dem Demokratieprinzip.
Auch in Berlin haben weitaus mehr Wählerinnen und Wähler ihr vornehmstes Recht in der Demokratie fehlerfrei ausgeübt, als Wählerinnen und Wähler durch Wahlfehler an der Abgabe ihrer Stimme gehindert wurden. Ein Indiz ist tatsächlich die Wahlbeteiligung von 75,2 Prozent.
({1})
In den Bestand eines gewählten Bundestages darf daher nur insoweit eingegriffen werden, wie es nötig und verhältnismäßig ist, um mandatsrelevante Wahlfehler und deren Folgen zu heilen.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet diesen Gedanken als das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs.
Weil das in der öffentlichen Diskussion oft durcheinandergebracht wird, möchte ich zur Unterscheidung der Einsprüche, über die wir hier entscheiden, und der Einsprüche zur Wahl des Abgeordnetenhauses von Berlin, über die nächste Woche entschieden wird, noch mal erläutern: Die Wahlfehler, beispielsweise falsche Stimmzettel, waren bei den am 26. September 2021 vorgenommenen Wahlen nicht automatisch deckungsgleich. Außerdem ist die individuelle Mandatsrelevanz eines festgestellten Wahlfehlers mit Blick auf das Land typischerweise deutlich geringer als mit Blick auf den Bund.
({3})
Entsprechend sind auch Unterschiede bei möglichen Veränderungen in der Zusammensetzung der jeweiligen Parlamente.
Auch bei der Prüfung der Wahl zum Abgeordnetenhaus gilt das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Zur vorläufigen Rechtsauffassung des Landesverfassungsgerichts Berlin erklärte der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza
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deshalb am 29. September 2022 gegenüber der dpa – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern stehen. Man kann nicht flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war.
Diese Auffassung sollte sich auch der Deutsche Bundestag zu eigen machen!
({5})
Es ist das gute Recht jeder Fraktion, gegen eine solche Entscheidung Wahlprüfungsbeschwerde einzulegen. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache hätte den Vorteil, dass Karlsruhe auch zu den bisher nicht höchstrichterlich geklärten Fragen – einige wurden angesprochen – Stellung nehmen könnte.
Noch ein abschließender Gedanke: Mit der heutigen Entscheidung allein ist es natürlich nicht getan. Das Land Berlin muss seine schweren organisatorischen Mängel abstellen. Es ist peinlich und unwürdig, dass die Behörden in der Bundeshauptstadt nicht in der Lage waren oder sind, einen im Wesentlichen fehlerfreien Wahlprozess zu organisieren.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Alexander Ulrich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlchaos, Wahldesaster, völliges Versagen, Debakel, Bananenrepublik – das alles war die in den Medien, auch international, veröffentlichte Beurteilung dessen, was bei den beiden Wahlen am 26. September in der Bundeshauptstadt passiert ist. Das Landesverfassungsgericht hat sich damit beschäftigt. Nach dem Wahlprüfungsausschuss kommt heute das Plenum des Deutschen Bundestages im Hinblick auf die Einsprüche zur Bundestagswahl in Berlin zu einer Entscheidung.
Das Ganze hat einen Schaden weit über das Land Berlin hinaus herbeigeführt; die demokratischen Wahlen in Deutschland sind insgesamt in ein schlechtes Licht gerückt worden. Was mich bis heute irritiert, was einen sprachlos macht, ist, dass der damalige Innensenator Geisel immer noch Mitglied der Landesregierung Berlin ist.
({0})
Wenn man von politischer Verantwortung redet – und bei so einem Debakel muss man von politischer Verantwortung reden –, dann muss dieser Senator spätestens nächste Woche, wenn das Landesverfassungsgericht geurteilt hat, zurücktreten.
({1})
Wenn er das nicht tut, dann muss die Bürgermeisterin die Notbremse ziehen. Es geht nicht, dass man sagt: Er ist jetzt nicht mehr Innensenator. – Ich bin schon ein paar Jahre im Bundestag dabei. Ich habe erlebt, wie ein Minister für Arbeit und Soziales zurückgetreten ist wegen einer politischen Verantwortung aus seiner Zeit als Verteidigungsminister.
({2})
In diesem Sinne, glaube ich, sollte Herr Geisel nächste Woche zurücktreten.
({3})
Wahlfehler müssen vor dem Hintergrund der Mandatsrelevanz immer überprüft werden. Wir als Linke sagen deutlich: Ja, es sind grobe Fehler gemacht worden; wenn das nicht zu Wahlwiederholungen führt, was denn dann? – Wir sind aber mit der Beschlussempfehlung nicht ganz einverstanden. Deshalb werden wir uns heute enthalten.
({4})
Wegen der Mandatsrelevanz muss man immer prüfen, ob es zu Veränderungen kommen kann. Wir sind allerdings nicht damit einverstanden, dass man die Erststimme in vielen Wahllokalen hinzugenommen hat, wo die Ergebnisse nicht mehr veränderbar sind. Ich weiß nicht, was das bringen soll. Es erscheint uns willkürlich, dass man bei all den genannten Wahllokalen auch die Erststimme noch einmal abgeben lassen will. Deshalb werden wir uns bei dieser Sache heute enthalten.
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Weil hier ein Zuruf kam, sage ich: Wahlkreise, wo linke Abgeordnete gewonnen haben, sind doch gar nicht großartig betroffen.
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Bei uns passiert doch überhaupt nichts. Dort, wo richtig gewählt worden ist, sind Linke gewählt worden; insoweit war das doch alles in Ordnung.
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Was, glaube ich, deutlich gemacht werden muss, ist Folgendes: Wir müssen die Wahlprüfung reformieren. Ich glaube, da hat die CDU/CSU einen Punkt: Hier hat zu viel Politik bei der Wahlprüfung mit reingespielt. Wir als Linke schlagen vor, dass man mit der Wahlrechtsreform auch die Wahlprüfung reformiert. Lassen Sie uns ein Wahlprüfungsgericht installieren, das sich zusammensetzt aus Richtern der einzelnen Landesverfassungsgerichte, die diese Sachen dann zu beurteilen haben. Die Ergebnisse können dann auch vor das Bundesverfassungsgericht getragen werden. Das wäre eine Reform, die uns allen, glaube ich, helfen würde. Noch einmal: Wer in der eigenen Sache entscheidet, entscheidet meistens nicht gut.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Esther Dilcher gibt ihre Rede zu Protokoll.
({0})
Die letzte Rednerin in der Debatte ist für die Unionsfraktion die Kollegin Daniela Ludwig.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass diese Berliner Bundestagswahl 2021 in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes war, zeigt sich in der Tat schon an der Zahl der Einsprüche, die gegen diese Wahl vorlagen. Wir haben im Normalfall bei Bundestagswahlen auf das gesamte Bundesgebiet gesehen um die 200 Einsprüche. Bei dieser Bundestagswahl hatten wir auf das gesamte Bundesgebiet gesehen über 2 000 Einsprüche, 1 900 davon für Berlin. Allein diese Zahl spricht schon für sich. Da müssen wir die langen Warteschlangen, die Tatsache, dass bis 21.30 Uhr gewählt wurde, dass Wahlberechtigte abgewiesen, Nichtwahlberechtigte aber Stimmzettel bekommen haben, gar nicht mehr extra erwähnen. Die Zahl der Einsprüche spricht für sich.
Es spricht übrigens auch für sich, dass niemand Geringerer als der Bundeswahlleiter sich bemüßigt sah, Einspruch gegen diese Bundestagswahl einzulegen; auch das dürfte ein durchaus einmaliger Vorgang sein.
Als wir dann als Wahlprüfungsausschuss – zu diesem Zeitpunkt durchaus noch gutwillig – versucht haben, diese Wahlfehler aufzuarbeiten, und die Landeswahlleitung in Berlin gebeten haben, uns doch bestimmte Informationen zukommen zu lassen, mussten wir feststellen: Auch das war im Nachgang nicht möglich. Deshalb die mündliche Verhandlung, übrigens die erste seit Jahrzehnten in der Geschichte des Wahlprüfungsausschusses.
Das, was wir in dieser mündlichen Verhandlung erleben mussten, hat uns dann – ich glaube, da spreche ich für alle Kollegen – weitestgehend erschüttert. Denn der Eindruck einer chaotischen Vorbereitung und einer chaotischen Durchführung am Wahlsonntag hat sich nicht abgemildert, sondern vielmehr verfestigt. Es ist immer noch schlimmer geworden. Deswegen bleibt bei mir als Vorsitzender der Eindruck: Wir haben auch wegen mangelhafter oder gar nicht vorhandener Protokollierung nicht all das gesehen, was sich bei der Bundestagswahl in Berlin abgespielt hat. Das bedaure ich sehr.
({0})
Ich bedaure auch, dass wir im Nachgang zu dieser mündlichen Verhandlung und nach einem sich zunächst anbahnenden guten Zusammenwirken im Ausschuss dann leider zwischen den Fraktionen zerfasert sind. Ich sage das auch in aller Deutlichkeit als Ausschussvorsitzende. Wir waren erst stringent unterwegs, und dann begann das, was der Kollege Schnieder so liebevoll als „Basar“ bezeichnete. Es begannen Auseinandersetzungen darüber, in wie vielen Wahllokalen es Wahlfehler gab, in welchen genau, ob sowohl Erst- als auch Zweitstimmen oder nur die Erst- oder nur die Zweitstimmen betroffen waren und warum und weshalb.
Ich sage ganz klar: Wir haben in diesem Wahlprüfungsausschuss die ganz große Aufgabe – und dieser Aufgabe ist dieser Ausschuss immer nachgekommen –, gnadenlos den Finger in die Wunde zu legen, wenn etwas schiefgelaufen ist, Vertrauen wiederherzustellen, den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl zu geben: Hier sind Parlamentarierinnen und Parlamentarier am Werk, die diese Aufgabe sehr ernst nehmen, fraktionsübergreifend und möglichst ohne Parteipolitik. Ich möchte gerne, dass wir aus diesem Verfahren nicht nur formaljuristische Konsequenzen ziehen; das Wahlprüfungsgesetz mag an der einen oder anderen Stelle für so ein monströses Chaos gar nicht geeignet sein. Ich erwarte für die Zukunft schon, dass wir nicht nur den Vertrauensverlust wieder aufholen, der durch die fehlerhafte Wahldurchführung entstanden ist, sondern dass wir auch den leider entstandenen Vertrauensverlust wieder aufholen, der da lautet: Hier ist nur anhand der Fraktions- und Parteiarithmetik entschieden worden.
Ich bedauere das zutiefst; ich hätte mir das anders vorgestellt. Wir haben eigentlich den Weg für ein ordentliches Verfahren geebnet. Dass es am Schluss auch hier – nicht nur in Berlin, sondern auch hier – chaotisch wurde, bedauere ich sehr. Deswegen liegt es in unser aller Hand, heute eine vernünftige Entscheidung zu treffen, die den Bürgerinnen und Bürgern ganz klar macht: Wir nehmen das hier verdammt ernst, und wir wollen auf keinen Fall, dass sich solche Zustände wiederholen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich befürchte nur, dass die Beschlussempfehlung, die uns heute vorliegt, dafür nicht ausreichen wird.
Vielen Dank.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schweinehaltung in Deutschland ist eine prekäre Branche, und zwar für Menschen und für Tiere. Der Antrag der Union kommt heute wenig überraschend, und er hilft natürlich auch wenig, weil er das Problem mal wieder nicht bei der Wurzel angreift, sondern nur auf kurzfristige Maßnahmen abzielt, die die Symptome lindern sollen. Und das ist falsch.
({0})
Sie müssen doch endlich einsehen, dass es nichts bringt, einfach Geld in ein krankes System zu pumpen und sich für Bestandsschutz einzusetzen. Es hilft nicht nur nichts, es manifestiert die Probleme, die wir in der Landwirtschaft haben. Nach 16 Jahren unionsgeführtem Landwirtschaftsministerium müssten Sie doch gemerkt haben: So kann es nicht gehen.
({1})
Was wir brauchen, ist ein grundlegender Umbau und ein Abbau der Tierhaltung,
({2})
und zwar auch, um Planungssicherheit zu schaffen. Denn wir müssen einsehen: Planungssicherheit kriegt man nur dann, wenn man versteht, dass die Menschen diese Art der Tierhaltung in Deutschland nicht mehr haben wollen,
({3})
und wenn man versteht, dass der Klimaschutz ein Umdenken absolut notwendig macht.
({4})
Was ich an Ihrem Antrag aber wirklich skandalös finde, ist, dass Sie zwischen den Zeilen mal wieder verstecken, dass Sie den tierschutzwidrigen Kastenstand in Deutschland verlängern wollen.
({5})
Das Signal, das heute von der Union ausgeht, ist, dass Ihnen Tierleid vollkommen egal ist, und das finde ich beschämend.
({6})
Was wir brauchen, ist eine Transformation. Lassen Sie uns bitte darüber reden, was wir für Transformationsimpulse in Deutschland für eine krisensichere und nachhaltige Landwirtschaft setzen können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält Albert Stegemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Erlauben Sie mir zunächst, Frau Mayer, Ihnen ein Kompliment auszusprechen: Sie sind ganz nah an der Basis, ganz nah an Ihrer grünen Basis, aber leider ganz weit weg von den Lebensrealitäten der Tierhalter in Deutschland. Darüber sollten Sie mal nachdenken.
({0})
Zu später Stunde will ich mich kurzfassen; deswegen können sich die koalitionstragenden Fraktionen zurücklehnen. Denn heute richtet sich meine Kritik nicht gegen die Arbeit des Ministers, nein, vielmehr richtet sich meine Kritik gegen die Nichtarbeit des Ministers, der heute leider nicht da ist.
Vor einigen Monaten haben wir unseren Antrag „Schweinehaltern durch die Krise helfen“ das erste Mal dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Was seitdem seitens der Bundesregierung zur Unterstützung der Tierhalter gemacht wurde, lässt mich fassungslos zurück und ist mit nur einem Wort zusammenzufassen: Nichts. Statt den Sauenhaltern, wie von uns gefordert, eine gezielte Zukunftsberatung anzubieten, fordert die Staatssekretärin Bender öffentlich – und Sie haben das ja gerade noch mal bestätigt – eine Halbierung der Tierzahlen in Deutschland. Statt umgehend eine Haltungs- und Herkunftskennzeichnung mit „5xD“, also geboren, gemästet, geschlachtet, zerlegt und verarbeitet in Deutschland,
({1})
als Orientierungshilfe für die Verbraucherinnen und Verbraucher einzuführen, hat sich die Ampel bei der Tierhaltungskennzeichnung immer stärker verrannt.
Zur Erinnerung: Erst legt Bundesminister Özdemir einen unabgestimmten Gesetzentwurf vor, den die Ampelfraktionen dann der Fachpresse entnehmen dürfen,
({2})
dann positionieren sich alle Verbände, vom Tierschutzbund bis zur Initiative Tierwohl, gegen diesen Vorschlag.
({3})
Und in dieser Woche hat das Trauerspiel seinen vorläufigen, traurigen Höhepunkt erreicht:
({4})
Die Landesagrarminister haben den Gesetzentwurf zur Tierhaltungskennzeichnung im Bundesrat abgelehnt.
({5})
Leider versäumt Minister Özdemir die heutige Debatte.
({6})
Seine Arbeitsbilanz nach 337 Tagen lässt sich nur als Pleiten-, Pech- und Pannenshow ertragen.
({7})
Allerdings wurde die bekannte Fernsehshow bereits nach 153 Folgen eingestellt.
({8})
Richten Sie, Frau Nick – Sie sind ja heute in Vertretung da –, Herrn Özdemir aus: Er muss sich jetzt dringend darum kümmern.
({9})
– Ach, da sitzt er. Entschuldigung.
({10})
Dann nehme ich es zurück. Herr Özdemir, Entschuldigung. Ich habe Sie nicht gesehen. Dann entschuldige mich dafür. Ich hatte Sie auf der Regierungsbank erwartet.
Aber: Machen Sie sich im Kampf gegen die Afrikanische Schweinepest jetzt endlich auf den Weg! Machen Sie das Ganze zur Chefsache! Von den ganzen Wettbewerbsverzerrungen, die es momentan in der Schweinehaltung, in der Tierhaltung gibt, ist die ASP die wettbewerbsverzerrendste. Werden Sie endlich aktiv gegen den Strukturbruch in der Tierhaltung, und schauen Sie sich auch mal den Brandbrief der ISN an; der spricht Bände.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Alle reden von Inflation, nur in der Schweinehaltung fallen die Preise. Schweinehalter legen rund 35 Euro obendrauf, nur weil sie ein Tier halten und sich darum kümmern.
Herr Stegemann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Legen Sie endlich ein durchdachtes Förderprogramm für den Wirtschaftssektor vor. Von Sonntagsreden über die großen Vorzüge von Vegetariern für Klima, Umwelt und Ernährung bekommt kein Landwirt eine Baugenehmigung. Und setzen Sie endlich die Vorschläge der Borchert-Kommission um.
({0})
Die orientierungslose Landwirtschaftspolitik der Ampel muss endlich ein Ende haben. Wir wollen Ihnen da zuarbeiten. Deshalb werbe ich um Ihre Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gott zum Gruße! Ja, die deutsche Schweinehaltung befindet sich in ihrer schwersten Krise. Wir haben es mit einem brutalen Strukturbruch zu tun. Eigentlich sollten bei allen die Alarmglocken schrillen. Innerhalb von nur einem Jahr ist die Zahl der gehaltenen Schweine in Deutschland um fast 10 Prozent oder, besser gesagt, 2,5 Millionen Schweine gesunken. Das ist der niedrigste Schweinebestand seit der Wiedervereinigung, meine Damen Herren. Im gleichen Zeitraum mussten 2 000 Betriebe die Schweinehaltung für immer aufgeben. Das sind Arbeitsplätze, das sind selbstständige Leute, das sind Menschen, die ihren Beruf mit Liebe ausgeführt haben.
Die wirtschaftliche Lage der Schweinehalter bleibt aufgrund der massiv gestiegenen Kosten für Energie, Düngemittel, Futter usw. usf. leider katastrophal. Für die Branche ist es nicht fünf vor zwölf, meine Damen und Herren, für die Branche ist es mittlerweile fünf nach zwölf. Die Schweinehalter benötigen jetzt unsere Unterstützung und unsere Hilfe.
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Aber von den Grünen ist ja leider nichts zu erwarten; das haben wir in der ersten Rede zu diesem Tagesordnungspunkt gehört.
({1})
Sie haben aus Ihrem Hass gegenüber der Tierhaltung in Deutschland noch nie ein Geheimnis bzw. einen Hehl gemacht. Selbst im grün geführten Landwirtschaftsministerium werden die Forderungen nach der Halbierung der Tierbestände immer lauter. Und wenn Sie die heimischen Betriebe endgültig plattgemacht haben, dann – dafür ist ja schon vorgesorgt, nicht wahr, Herr Özdemir? die Handelsabkommen mit Südamerika werden ja gerade ausgehandelt – importieren wir unser Fleisch aus Südamerika, aus Gebieten mit abgeholzten Regenwäldern, der Lunge der Welt.
({2})
Das ist einfach nur Wahnsinn. Das ist Irrsinn. Das ist Zerstörung der Natur und der Umwelt, und das aus grüner Hand, meine Damen und Herren.
({3})
Es besteht dringender politischer Handlungsbedarf, um sowohl die Existenz der systemrelevanten Bauernfamilien als auch die Versorgung mit hochwertigsten tierischen Lebensmitteln aus Deutschland zu sichern. Die Tierhaltung ist wichtig für die Kreislaufwirtschaft, und gerade angesichts der Mineraldüngerknappheit brauchen wir den tierischen Dünger dringender denn je.
({4})
Die deutschen Schweinehalter benötigen verlässliche und planungssichere Rahmenbedingungen, damit sie markt- und tiergerecht produzieren können. Dazu gehören auch Mindeststandards für Importe und ein Herkunftskennzeichen. Meine Damen und Herren, wir können und dürfen uns eine Verlegung der Tierhaltung ins Ausland nicht leisten. Das alles fordert die AfD seit Monaten, ja, seit Jahren.
({5})
Liebe Kollegen der CDU/CSU, stimmt doch einfach in Zukunft unseren Anträgen zu – der unsere ist schon älter –, dann braucht ihr sie nicht immer abzuschreiben; beim Abschreiben macht ihr auch noch Fehler.
Danke für die Aufmerksamkeit. Schönen Abend!
({6})
Für die FDP-Fraktion folgt Ingo Bodtke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute die 66. Sitzung in dieser Legislaturperiode. Es ist mir ein Bedürfnis, das zu sagen; denn genau vor 33 Jahren, wahrscheinlich sogar auf die Minute genau, stand ich hier das erste Mal auf der Westseite der Mauer, am Berliner Brandenburger Tor. Und heute hier zu stehen, ist wirklich cool.
({0})
Deswegen habe ich meine Rede heute auch nicht zu Protokoll gegeben, sondern nehme die Möglichkeit wahr, hier zu sprechen.
Aber jetzt zur Sache. Die Union bemängelt, dass die Bundesregierung angesichts der prekären Situation vor allem von schweinehaltenden Betrieben zu wenig finanzielle Hilfe für den Umbau der Tierhaltung zur Verfügung stellt. Die aktuelle Bundesregierung hat insgesamt bereits 1 Milliarde Euro für eben genau dieses Ziel zur Verfügung gestellt; das ist mehr als jede Bundesregierung vor ihr.
({1})
Das ist mehr, als in jedem einzelnen Haushalt der vergangenen 16 Jahre hierfür zur Verfügung gestellt wurde.
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Eine eigenartige Koalition aus Opposition, NGOs und Teilen der Bundesregierung überbietet sich gerade trotzdem mit ihren Forderungen, es müssten 3, 5 oder 8 Milliarden Euro sein. Gleichzeitig sind in den letzten Jahren und auch in diesem Jahr noch immer nicht die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass auch nur ein einziger Euro von dieser Milliarde überhaupt zur Auszahlung kommen kann. Über 16 Jahre wurde das Baugesetzbuch nicht derart reformiert, sodass Kommunen überhaupt Genehmigungen für Neu- und Umbauten erhalten könnten. Es ist eine absolute Scheindebatte, den Gesetzgeber aufzufordern, mehr Geld einzustellen, bevor überhaupt der Rechtsrahmen dafür geschaffen ist, dass diese Mittel zur Auszahlung kommen können.
({3})
Wohl kaum eine Branche ist in den vergangenen Jahrzehnten seitens der Politik häufiger mit falschen Versprechungen und ungedeckten Schecks überzogen und gelockt worden als die Landwirtschaft.
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Genau deswegen machen wir bei diesem Überbietungswettbewerb nicht mit. Wir locken die Landwirtschaft nicht mit ungedeckten Schecks in noch größere Abhängigkeiten von Politik und in Geschäftsmodelle mit noch höheren Standards, die vom Verbraucher nur in Umfragen, aber zu selten an der Supermarktkasse nachgefragt werden.
Stattdessen machen wir der Landwirtschaft ein faires Angebot. Politik schafft die Voraussetzungen dafür, dass Investitionen zuverlässig getätigt werden können und dass hierfür die größte jeweils beschlossene finanzielle Unterstützung erfolgen kann, die es in diesem Land jemals gegeben hat.
({5})
Hierfür müssen Baugesetzbuch und Immissionsschutzrecht endlich reformiert werden. Die Koalition führt außerdem endlich eine Haltungs- und Herkunftskennzeichnung zugunsten von mehr Transparenz für den Verbraucher ein und setzt sich in Europa für eine Angleichung von Produktionsstandards ein.
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An all dem sind sämtliche Vorgängerregierungen in den letzten Jahrzehnten krachend gescheitert.
Welches Geschäftsmodell aber schließlich das richtige für den Betrieb ist, diese Entscheidung sollte nicht von der Politik, sondern von selbstbewussten, unternehmerisch denkenden Betriebsinhabern getroffen werden. Sich heute hierhinzustellen und wiederum den zweiten Schritt, noch höhere finanzielle Mittel, vor dem ersten Schritt, nämlich die hierfür nötigen Rahmenbedingungen, zu fordern, ist ein peinlicher, oberpeinlicher Versuch der Ablenkung vom eigenen politischen Versagen in der Vergangenheit.
Herzlichen Dank.
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Ina Latendorf gibt Ihre Rede zu Protokoll.
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Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht nicht allein ums Geld, es geht auch um die Wertschätzung der Arbeit unserer Bauernfamilien.
({0})
Wenn wir hier eine Debatte über die prekäre Lage unserer Schweinehalter in Deutschland führen, dann hat ein Bundeslandwirtschaftsminister nicht seinen Platz in den Reihen des Parlaments, sondern er muss auf der Regierungsbank Flagge zeigen, meine Damen und Herren.
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Viele von Ihnen kennen sicherlich den Schwarzwälder Schinken,
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kennen die Thüringer Bratwurst und auch die Nürnberger Rostbratwurst.
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Aber kennen Sie eigentlich auch die Ansbacher Bratwurst, die Treuchtlinger Stadtwurst?
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Das ist Vielfalt von Genüssen, die wir in Deutschland haben. Das hängt auch daran, dass wir ein leistungsfähiges Metzgerhandwerk haben, und auch das gilt es zu erhalten. Denn wir müssen die Gesamtheit denken: vom Erzeuger bis zur Ladentheke. Das ist eine gesamte regionale Struktur, und die gilt es zu erhalten, meine Damen und Herren.
({5})
140 000 Beschäftigte allein im Metzgerhandwerk arbeiten zusammen mit den Landwirten, mit den Erzeugern, um gemeinsam diese Vielfalt an Produkten zu produzieren.
Sehr oft wird darüber diskutiert: Wir brauchen regionale Strukturen. Wir brauchen die Produktion nah am Verbraucher. Jetzt sind wir dabei, diese Strukturen zu zerstören, zum einen durch die für unser Metzgerhandwerk zu hohen Energiekosten, zum anderen durch die prekäre Lage der Schweinehalter. Meine Damen und Herren, es ist Zeit, zu handeln, und zwar jetzt und nicht erst in zwei, drei Monaten.
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Aber Sie merken an dieser Debatte: Dieser Ampelkoalition ist es vielleicht wichtiger, die Menschheit umzuerziehen in Richtung vegane Produkte oder von künstlich erzeugtem Fleisch. Nein, wir wollen Freiheit. Die Menschen sollen selber entscheiden können, wie sie sich ernähren, wie sie sich gesund ernähren, und vor allem, wie sie sich regional ernähren.
({7})
Dazu gehören auch Metzgerhandwerk und regionale Landwirtschaft. Bitte unterstützen Sie unseren Antrag.
Danke schön.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes demokratisches Gut, das wir als Parlamentarier/-innen achten und schützen müssen. Das gilt für Deutschland und für die gesamte EU. Mit dem Beitritt zur Rechts- und Wertegemeinschaft EU haben sich alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Rechtsstaatlichkeit in ihrer Gesetzgebung zu verankern und umzusetzen, auch Ungarn. Für uns ist klar: Grund- und Menschenrechte, Schutz vor staatlicher Willkür und die Unabhängigkeit der Justiz sind nicht verhandelbar.
({0})
In der Vergangenheit mussten wir oft sehen, wie schwer es der EU fiel, offenkundige Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu verurteilen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Begründet wurde das stets mit der Angst vor der Spaltung Europas. Es wurde gezögert, und die Gelder flossen weiter. Dennoch ist die Spaltung vorangeschritten, ohne dass Orban daran gehindert wurde, den Rechtsstaat immer tiefer auszuhöhlen. Stattdessen hat die Zögerlichkeit ihn darin bestärkt, so weiterzumachen. Das hat System und zeigt wieder einmal: Angst ist kein guter Berater.
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Es ist sehr gut, dass sich die EU mit der Konditionalitätsverordnung ein neues Instrument gegeben hat, um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu ahnden. Das stärkt ihre Widerstandsfähigkeit und Glaubwürdigkeit. Es ist auch sehr gut, dass die Kommission ihre Verantwortung ernst nimmt und die Konditionalitätsverordnung zum ersten Mal anwendet. Wir als Ampelfraktionen erwarten nun, dass sie diesen Weg mit aller Entschlossenheit weitergeht und sich keinen Sand in die Augen streuen lässt.
Der jahrelange systematische Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn kann nur schwer von heute auf morgen mit Abhilfemaßnahmen rückgängiggemacht werden. In meinen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der ungarischen Zivilgesellschaft und der Opposition wurde wiederholt die große Sorge geäußert, dass die Versprechen der ungarischen Regierung in Brüssel und die realen Entwicklungen im Land zwei völlig verschiedene Welten spiegeln, dass etwa die neue Integritätsbehörde nicht mit der nötigen Unabhängigkeit oder Autorität ausgestattet wird. Genau solche Fragen müssen Kommission und Mitgliedstaaten sorgfältig prüfen. Solange Ungarn keine ausreichenden und langfristig wirksamen Maßnahmen ergreift, um zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren, darf es auch kein Einlenken geben.
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Auch wenn wir wissen, dass wir Ungarn für eine geschlossene Antwort auf Russlands Aggression brauchen, dürfen wir uns nicht erpressen lassen; denn das Ringen um die Rechtsstaatlichkeit hat neben der innenpolitischen natürlich auch eine außenpolitische Komponente. Nur wenn die EU ihre Werte nach innen verteidigt und durchsetzt und nur wenn die EU rechtspopulistischen, antiliberalen Bestrebungen in Europa eine rote Linie aufzeigt, nur dann kann sie auch nach außen glaubwürdig auftreten, und nur dann kann sie sich auch den Angriffen von außen in all ihren Formen widersetzen.
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Mit unserer Stellungnahme stärken wir deshalb der Bundesregierung in ihrem Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit sowie für eine stabile, handlungsfähige EU den Rücken und machen von unseren Mitwirkungsrechten Gebrauch. Wir fordern ein transparentes, sorgfältiges Verfahren, um sicherzustellen, dass die ungarischen Abhilfemaßnahmen einen effektiven Schutz für den EU-Haushalt entfalten und nicht nur auf dem Papier bestehen.
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Der Durchführungsbeschluss muss im Rat zur Abstimmung gestellt werden. Solange die praktische Umsetzung und die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht nachvollziehbar nachgewiesen werden, fordern wir die Bundesregierung auf, im Rat zuzustimmen, sodass die Mittel zurückgehalten werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Denn eines muss allen Autokraten dieser Welt klar sein, liebe Kolleginnen und Kollegen: In Europa gilt die Herrschaft des Rechts.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU erhält das Wort Gunther Krichbaum.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erste Anmerkung: Wenn wir heute hier nur über Ungarn sprechen würden, dann wäre das nur sehr vordergründig. Ich glaube, es gilt hervorzuheben, dass wir für diesen Rechtsstaatsmechanismus, diesen Konditionalitätsmechanismus, den wir jetzt haben – die Begrifflichkeit ist etwas sperrig –, lange gekämpft haben, auch als Europaausschuss. Warum? Weil wir sonst immer nur das sogenannte Artikel-7-Verfahren hatten – das den Kundigen hier natürlich etwas sagt –, das heißt ein Verfahren, das auf den Stimmrechtsentzug abstellte. Das ist ein sehr scharfes Schwert, eine Sanktionsmöglichkeit, für die die Hürden sehr, sehr hoch waren, und deswegen war es kaum tauglich. Ich weiß, dass genau dieser Konditionalitätsmechanismus am Anfang von vielen abgelehnt und belächelt wurde. Warum? Weil man sagte: Na ja, das ist ja kein scharfes Schwert. – Doch, es ist ein scharfes Schwert, aber es ist geknüpft an negative Auswirkungen auf den EU-Haushalt. Deswegen: Wir haben ihn jetzt, und damit ist der Instrumentenkasten voller geworden.
Zweite Anmerkung: Es ist eine Stellungnahme, die wir als Deutscher Bundestag insgesamt abgeben, und das ist gut, weil damit dem Regierungshandeln Leitplanken gesetzt werden. Damit liefern wir einen weiteren Beitrag dazu, dass die Europapolitik stärker parlamentarisiert wird. Ich hätte mir schon in der Vergangenheit durchaus gewünscht, dass wir als Deutscher Bundestag mehr Stellungnahmen beschlossen und abgesendet hätten. Es ist gut, dass wir das jetzt gemeinsam als Deutscher Bundestag tun.
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Dritte Anmerkung: Zum Antrag selbst: Was das formelle Verfahren angeht, darf ich für die Unionsfraktion anmerken, dass wir sehr gerne früher eingebunden worden wären; gerade einmal 48 Stunden vor der Ausschusssitzung ist doch etwas knapp. Und wenn dann die Botschaft kommt: „Na ja, ihr könnt den Antrag zur Kenntnis nehmen, ihr könnt natürlich mitmachen und auch darüber abstimmen, aber Änderungen daran könnt ihr nicht vornehmen“, dann wird das dem Anspruch an gemeinsame Anträge nicht gerecht. Deswegen kann ich an dieser Stelle sagen, dass wir uns bei diesem Antrag enthalten werden, gleichwohl wir die Stoßrichtung als solche gutheißen; das hat gestern Kollege Seif im Europaausschuss ausdrücklich dargestellt.
Allerdings gibt es inhaltlich das eine oder andere, was wir anders gemacht hätten:
Ungarn hat selbst gesagt, dass es 17 Maßnahmen auf den Weg bringen wird. Dafür hat Ungarn bis Mitte Dezember Zeit; die Frist ist also noch gar nicht abgelaufen. Das heißt, für eine Vorverurteilung ist es einfach zu früh, und wir sollten der Kommission das Zutrauen entgegenbringen, dass sie als die Hüterin der Verträge das dann auch richtig einzuordnen und zu beurteilen weiß.
Ein weiterer Punkt, auf den Kollege Seif gestern im Europaausschuss hingewiesen hat: Bei dem Antrag, den Sie als Ampelkoalition vorlegen, gilt das Guillotineprinzip: Alles oder nichts! – Was ist denn in dem Fall, dass nur ein Teil dieser Maßnahmen umgesetzt wird und ein anderer Teil nicht? Dann lässt Ihre Vorgehensweise kein flexibles Handeln zu. Das scheint aber wichtig.
In der Summe – und da bleibe ich beim wahrsten Wortsinn – steht hier viel im Feuer; denn es geht um 7,5 Milliarden Euro. In der jetzigen Zeit gehen dem einen oder anderen hier solche Beträge sehr leicht über die Lippen. Wenn wir das in Relation zur Bevölkerungsgröße setzen, dann entspräche das für uns einer Summe von 60 Milliarden Euro. 7,5 Milliarden Euro sind für Ungarn also schon eine starke Ansage.
Ich möchte eines hervorheben: Es geht hier nicht um eine Ungarn-Debatte. Die Maßstäbe, die wir in der Rechtsstaatlichkeitskonditionalität anlegen, gelten für alle Staaten in Europa, und wir erwarten und müssen auch von allen Staaten in Europa erwarten, dass sie sich an diese Prinzipien halten, die doch unser Fundament sind und die wir gemeinsam vereinbart haben; sonst trägt das europäische Haus nicht. Darauf müssen wir immer wieder hinwirken.
Ich wollte das auch deswegen noch einmal sagen, weil wir gerade auch in Ungarn nicht nur Rechtssicherheit oder Rechtsstaatlichkeitsprinzipien, sondern auch Investitionssicherheit einfordern müssen. Ich darf in diesem Zusammenhang an den Investor AviAlliance erinnern. Das ist ein deutscher Investor, der den Budapester Flughafen betreibt. Die dortige Regierung setzt alles daran, diesen herauszudrängen. Baugenehmigungen, die erteilt wurden, beispielsweise für ein Parkhaus, wurden wieder zurückgenommen. Der Schaden liegt bei über 12 Millionen Euro, auf dem der Investor sitzen bleibt. Das heißt, das sind schon ziemlich abenteuerliche Vorgänge, über die wir reden und die wir auch nicht kommentarlos stehen lassen möchten.
Ich hätte dem ungarischen Botschafter, Herrn Peter Györkös, der heute auf der Tribüne anwesend ist, eine schönere Geburtstagsrede gewünscht; er feiert heute seinen Geburtstag, jedenfalls noch 25 Minuten. Es bleibt für alle eine Herausforderung, mit einem Beitrag und guten Nachrichten dafür zu sorgen, dass wir in Zukunft hoffentlich auch andere Reden hier in diesem Hause halten können.
Herzlichen Dank.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Botschafter Györkös auf der Tribüne als einer der letzten Gäste heute Abend! „Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn“ – das hört sich als Titel für diesen Tagesordnungspunkt erst mal sehr sperrig an. Wenn wir aber den Blick nur etwas weiter von Ungarn Richtung Osten richten, dann sehen wir, dass nicht zuletzt der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine durch das diktatorische Regime Russlands unterstreicht, wie wichtig es ist, die Europäische Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu bewahren.
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Deshalb ist es auch von größter Relevanz, dass die rechtsstaatlichen Grundpfeiler der europäischen Wertegemeinschaft gestärkt werden und dass Kommission, Rat und Parlament als die europäischen Institutionen die Instrumente zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, die ihnen zur Verfügung stehen, auch konsequent nutzen und durchsetzen können.
Es gibt Themen, die begleitet man parlamentarisch jahrelang. Immer wieder ist es mal zäh und schwierig, manchmal geht man wichtige Schritte voran, und es gibt Tage, an denen so richtig deutlich wird, dass sich was getan hat. Für mich gehört die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union genau in diese Kategorie.
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Ich kann mich als zuständiger Berichterstatter noch sehr gut an die Auseinandersetzungen mit Ihnen aus der CDU/CSU-Fraktion erinnern, als wir Anfang 2019 den Vorschlag für einen Bundestagsbeschluss für die Einführung einer solchen Konditionalitätsverordnung in der damaligen Großen Koalition eingebracht haben. Schließlich hatte die Unionsfraktion von CDU und CSU immer wieder ihre schützende Hand über Orban gehalten und ihn sogar mehrfach als Ehrengast auf die eigenen Parteitage eingeladen.
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Es stellt sich die Frage – zumindest für mich –, ob Orbans Aufstieg und der staatliche Umbau Ungarns zu einer von ihm ja auch selbst so benannten „illiberalen Demokratie“ ohne den Schutz der christdemokratischen Parteienfamilie tatsächlich möglich gewesen wäre.
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Die ungarische Regierungspartei Fidesz hat ihre Mitgliedschaft in der christdemokratischen Europäischen Volkspartei EVP im letzten Jahr jedenfalls selbst niedergelegt und ist dort nicht herausgeworfen worden, während die massiven Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ja nun schon seit Jahren gravierend waren.
Die Tatsache, dass die Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion diesem wichtigen Beschluss im Ausschuss, wie Kollege Krichbaum gerade erläutert hat, aus formalen Gründen nicht zugestimmt haben,
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offenbart aus meiner Sicht sehr deutlich, dass in Ihrer Fraktion offenbar immer noch erhebliche Loyalitäten zu Orban und seiner Fidesz-Partei vorhanden sind.
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2020 war es zwar im allerletzten Moment, aber immerhin doch gelungen – das muss man Ihnen zugutehalten –, hier im Bundestag einen Beschluss über die Verknüpfung der Auszahlung von EU-Geldern mit der Einhaltung von Rechtsstaatskriterien hinzubekommen. Das war verdammt knapp vor Ende der damaligen deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020, während der die Verhandlungen zum siebenjährigen europäischen Finanzrahmen und zum Konditionalitätsmechanismus zu Ende gebracht werden mussten. Aber immerhin konnten wir damals unserer Bundesregierung ein parlamentarisches Votum mit nach Brüssel auf den Weg geben.
Zähen Verhandlungen im Rat – insbesondere für Heiko Maas und unseren Staatsminister für Europa, Michael Roth, zu der Zeit – folgte zum Jahresende 2020 tatsächlich endlich der Beschluss für die Verordnung zum Schutz des Haushalts der Europäischen Union, und damit ging es endlich einen wichtigen Schritt voran. Indem der Erhalt von EU-Mitteln mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards verknüpft wurde, wurden die Möglichkeiten der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit erweitert und verstärkt.
Am 27. April dieses Jahres eröffnete die Kommission dann erstmalig endlich ein offizielles Verfahren gegen Ungarn auf Grundlage des Konditionalitätsmechanismus – ein Tag, an dem endlich deutlich wurde, dass sich etwas getan hat. Das war ein Meilenstein für die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union.
({6})
Systematische Unregelmäßigkeiten in öffentlichen Vergabeverfahren, ein hoher Anteil von Einzelausschreibungsverfahren, geringer Wettbewerb bei Vergabeverfahren, massive Probleme bei der Aufdeckung, Vermeidung und Korrektur von Interessenkonflikten und die mangelnde Bereitschaft bei der wirksamen Korruptionsbekämpfung: das sind Feststellungen, mit denen die EU-Kommission die vorläufige Einbehaltung von EU-Geldern stichhaltig begründete.
Die ungarische Regierung versucht nun aktuell mit 17 Reformankündigungen, diese greifbar drohende Mittelzurückhaltung abzuwenden. Der Rat der Europäischen Union muss bis kurz vor Weihnachten dazu befinden. Angesichts des langjährigen systematischen Abbaus der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und der damit bereits eingetretenen negativen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Europäischen Union scheint es zumindest für mich absolut fraglich, ob eine umfassende, praktisch wirksame Korrektur der festgestellten Rechtsstaatsverletzungen innerhalb dieser kurzen Frist – sozusagen bis Weihnachten – tatsächlich möglich ist und auch wirklich sichtbar wird; darauf hat die Kollegin Kopf zu Recht hingewiesen.
Mit dem Rechtsstaatsdialog, dem sogenannten Artikel‑7-Verfahren, das Kollege Krichbaum angesprochen hat, mit den Berichten zur Rechtsstaatlichkeit und mit dem EU-Justizbarometer gibt es bereits einige Instrumente zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Die meisten haben sich in der Vergangenheit leider als zahnlos erwiesen. Für uns ist deshalb ganz entscheidend, dass sich die Konditionalitätsverordnung zum Schutz des EU-Haushalts vor Mängeln bei der Rechtsstaatlichkeit bei dieser ihrer erstmaligen Anwendung auch wirklich als effektives Instrument erweist. Darauf arbeiten wir mit diesem Beschluss hin.
({7})
Wir fordern die EU-Kommission mit dieser Stellungnahme und dem Beschluss nach Artikel 23 Grundgesetz im federführenden EU-Ausschuss über diesen offiziellen Weg im Zuge der Mitwirkung in EU-Angelegenheiten dazu auf, besonders sorgfältig vorzugehen und unbedingt auf die nachhaltige, tatsächliche Abhilfe durch Ungarn zu bestehen, sonst kommen wir hier nicht voran. Sollten die praktische Umsetzung und die Wirksamkeit der Maßnahmen, die die ungarische Regierung anbietet, in der abschließenden Beurteilung durch die Kommission nicht uneingeschränkt bestätigt werden, dann fordern wir die Bundesregierung dazu auf, im Rat für die Zurückhaltung von Zahlungen in Milliardenhöhe an Ungarn aus dem EU-Haushalt zu stimmen.
Mir wäre es am liebsten, wenn unsere rechtsstaatlichen Grundlagen gar nicht erst derart infrage gestellt würden, dass sie den gemeinsamen europäischen Haushalt bedrohen. Wenn es notwendig ist, dann sind wir aber bereit, die rechtsstaatlichen Grundlagen unserer Demokratien in Europa gegen autoritäre und illiberale Bestrebungen zu verteidigen.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Werte Frau Präsidentin! Werter Herr Botschafter, herzlich willkommen und alles Gute zum Geburtstag! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Problem, über das wir heute diskutieren, gäbe es mit der AfD gar nicht – mit uns gäbe es weder einen Konditionalitätsmechanismus noch einen Kohäsionsfonds, mit uns wäre die Europäische Union kein Verschiebebahnhof für Abermilliarden Euro Steuerzahlergeld, sondern eine europäische Gemeinschaft der konstruktiven und friedvollen Zusammenarbeit souveräner europäischer Nationen.
({0})
Worum geht es hier? Die EU-Kommission bezichtigt Ungarn, nicht rechtsstaatlich zu sein, und die Koalitionsfraktionen wollen jetzt, dass der Bundestag sich dieser Einschätzung anschließt. Die EU-Kommission möchte Ungarn außerdem die Kohäsionsmittel kürzen, Abermilliarden Euro Steuerzahlergeld, die unter anderem von Deutschland aus nach Brüssel überwiesen werden. Brüssel entwickelt daraus irgendwelche Programme, über die nie irgendein Steuerzahler demokratisch entscheiden kann, und reicht die Mittel dann an die Mitgliedstaaten aus. Diese Überweisungen an Ungarn sollen jetzt zum Teil gekürzt werden.
Warum? Die EU-Kommission ist unzufrieden. Angeblich bekämpft Ungarn die Korruption nicht genügend. Aha! Da könnte man ja auch mal bei Ursula von der Leyen anfangen.
({1})
Außerdem gebe es Probleme bei Vergabeverfahren. Mutmaßlich – jetzt beschreibe ich, was in der Ratsempfehlung steht –, mutmaßlich sei es nämlich so, dass Unternehmen, die mutmaßlich nahe an der Regierung Viktor Orbans stünden, häufiger Aufträge bekämen als Unternehmen, die der Regierung Viktor Orbans mutmaßlich nicht so nah stünden. Ohne jeglichen Beweis wird hier ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit konstruiert, meine Damen und Herren, und da müssen Sie nicht mutmaßen, Sie erkennen hier sogar ohne Brille, dass das alles im Endeffekt an den Haaren herbeigezogen ist.
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Im Übrigen muss man sich schon wundern, dass dieser Deutsche Bundestag glaubt, ihm stehe das Recht zu, so auf ein befreundetes Land zu zeigen. Meine Damen und Herren, wie steht es denn mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa und in Deutschland?
({3})
In der „Budapester Zeitung“ vom 25. Oktober 2022 erschien ein Interview mit Viktor Orban, in dem er gefragt wurde, ob die Fidesz mit der AfD zusammenarbeiten würde. Darauf antwortete er:
Es ist eine Eigenheit der deutschen Demokratie, dass es, wenn wir bezüglich der AfD aktiv würden, die zwischenstaatlichen Beziehungen beeinträchtigen würde. Das ist in der Bundesrepublik so, daran können wir nichts ändern.
Diese Bundesregierung erpresst quasi das ungarische Volk, damit eine gewählte ungarische Partei mit einer gewählten deutschen Partei nicht zusammenarbeitet. Meine Damen und Herren, das ist das Gegenteil von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
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Wo wir schon dabei sind: Bevor Sie auf ein anderes Land zeigen – wo übrigens die Oppositionsfraktionen nicht diskriminiert werden –, sollten Sie vielleicht eher einmal der AfD-Fraktion, einer maßgeblichen Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag,
({5})
den Vizepräsidentenposten gewähren sowie die Posten der Ausschussvorsitzenden und die Sitze im Parlamentarischen Kontrollgremium, auf die sie Anspruch hat.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie praktizieren die Wahlautokratie, derer Sie Ungarn bezichtigen, und das ist keine Mutmaßung, das stelle ich fest.
({0})
Für die FDP-Fraktion erhält das Wort Dr. Ann-Veruschka Jurisch.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Botschafter! Vor 66 Jahren rollten sowjetische Panzer in Budapest ein. Bis zum 11. November 1956, das ist fast genau vor 66 Jahren, schlugen die Sowjets den Volksaufstand in Ungarn gewaltsam nieder. Viele Menschen starben, Zehntausende wurden damals festgenommen, Hunderttausende flohen ins Ausland. Ministerpräsident Nagy wurde nach einem Schauprozess der Sowjets hingerichtet.
Ungarn feiert den 23. Oktober – am 23. Oktober 1956 begann der Aufstand in Ungarn – als Nationalfeiertag. Die Menschen forderten damals Freiheit, wirtschaftliche und politische Reformen, ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen, Pressefreiheit und freie Rechtsprechung.
Heute diskutieren wir im Bundestag vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsmechanismus die Qualität der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Ganz konkret geht es um die Frage, ob Ungarn rechtsstaatliche Grundsätze in einer Form verletzt, die die finanziellen Interessen der EU beeinträchtigt. Die Verdachtsmomente sind leider groß. Die Jahresberichte des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung, OLAF, sprechen – für mich zumindest – eine klare Sprache.
({0})
Nun gibt es tatsächlich Stimmen, vor allem auf der rechten bzw. auf der ganz rechten Seite dieses Hauses, die sagen, das sei ein rein ungarisches Problem; was die Kommission mit dem Rechtsstaatsmechanismus mache, sei ein Verstoß gegen die Subsidiarität;
({1})
die EU solle sich da raushalten; wir sollten uns raushalten.
Meine Damen und Herren, so kommen wir mit der Europäischen Union nicht weiter! Die EU ist doch kein beliebiger Zusammenschluss zwecks Handelsabkommen – so wie die AfD das will.
({2})
Die EU ist doch ganz essenziell eine Wertegemeinschaft – auch wenn die AfD das nicht will.
({3})
Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenwürde, Pluralismus, Nichtdiskriminierung,
({4})
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit von Mann und Frau,
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das steht in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union. Mit seinem Beitritt hat Ungarn genau das auch unterschrieben. Das sollten Sie von der AfD sich einmal hinter die Ohren schreiben: Im Rechtsstaatsmechanismus konkretisiert und kristallisiert sich dieser Gedanke einer Wertegemeinschaft.
({6})
Rechtsstaatlichkeit muss gerade auch bei der Verwendung von EU-Mitteln walten. Es ist doch letztlich unser eigenes Geld, was da gefährdet ist.
({7})
Wir Freie Demokraten fordern, dass der Rechtsstaatsmechanismus ein scharfes Schwert ist. Keine Kompromisse, keine Rabatte, kein Weichspüler!
({8})
Die Kommission als Hüterin der Verträge muss jetzt wirklich ganz genau hinschauen, ob und wie Ungarn es schafft – und ich wünsche es mir wirklich –, die 17 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung umzusetzen.
({9})
Es wäre sehr begrüßenswert, wenn Ungarn die selbstgesetzten Ziele erreicht. Alle Maßnahmen müssen erkennbar, nachprüfbar und auf Dauer angelegt umgesetzt werden, und die Beweislast dafür liegt bei Ungarn. Von einer Vorverurteilung kann keine Rede sein, Herr Kollege Krichbaum, man wird sich selbstverständlich alles anschauen.
({10})
Ein glaubwürdiges, konkretes Zeichen wäre für mich gewesen, dass Ungarn der Europäischen Staatsanwaltschaft beitritt; denn die Europäische Staatsanwaltschaft überprüft ganz genau, wie Mittel verwendet werden.
({11})
Doch das ist leider für Ungarn noch kein Thema. Vielleicht wird es das ja noch.
Unsere Forderungen an die Bundesregierung und an die Kommission als Leitplanken sind: Keine Kompromisse, keine Rabatte, kein Weichspüler in diesem Verfahren! Der Rechtsstaatsmechanismus soll ein scharfes Schwert werden, im Sinne der europäischen Wertegemeinschaft, für eine dauerhaft saubere Verwendung von EU-Mitteln, gegen Korruption, für Rechtsstaatlichkeit.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Johannes Huber.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrter Herr Botschafter! Die Mehrheit des Europäischen Rates möchte den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn durchsetzen.
Wenn man die Argumente ernst nimmt, muss man feststellen, dass Ungarn beim sogenannten Korruptionswahrnehmungsindex tatsächlich an vorletzter Stelle in der Europäischen Union steht. Aber es gibt noch eine letzte Stelle, dort steht Bulgarien, und es gibt ein Mitgliedsland, das eine schlechtere Entwicklung genommen hat als Ungarn, und das ist Zypern. So stellt sich schon die Frage nach doppelten Standards. Warum werden keine Sanktionen ausgesprochen, wird kein Rechtsschutzmechanismus eingeleitet gegen Bulgarien und Zypern? Da stimmt etwas nicht, und das zeigt, dass es hier nicht in vorderster Linie um die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn geht und auch nicht um europäische Werte wie Vielfalt und Minderheitenrechte, sondern vielmehr um die knallharte Durchsetzung des politischen Gehorsams gegenüber der Zentrale in Brüssel.
({0})
Warum ist das so, warum ausgerechnet jetzt? Die Antwort ist ebenfalls einfach: weil Ungarn sich angemaßt hat, beim Ölembargo gegen Russland nationale Interessen durchzusetzen und nicht auf das Öl, das Ungarn von Russland bezieht – 65 Prozent des Öls, das Ungarn bezieht –, verzichten zu wollen.
Herr Abgeordneter, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
({0})
Anderthalb Minuten habe ich.
Sie haben eine Minute, und Sie sind gleich schon bei anderthalb.
({0})
Entschuldigung! – Deswegen kann ich damit enden, dass die Europäische Union letztendlich sich selbst entlarvt, nationale Interessen im Keim ersticken möchte und sogar das Einstimmigkeitsprinzip angesichts des russischen Angriffskrieges abschaffen möchte.
Sie müssen jetzt zum Ende kommen, Herr Abgeordneter.
Das ist ein fatales Signal für den europäischen Zusammenhalt angesichts des russischen Angriffskrieges.
({0})
Nächster Redner ist für Die Linke Andrej Hunko.
({0})
Genau, dann habe ich jetzt vier Minuten nach der Logik.
Nein, das ist es eben nicht. Hier darf nicht jeder verdoppeln, jeder bleibt bei seiner Zeit; am besten bleibt man drunter, das ist noch besser. – Bitte schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage in Ungarn ist hinreichend beschrieben worden: Rechtsstaatlichkeit, demokratische Grundsätze, Medienfreiheit werden von der Regierung Orban mit Füßen getreten. Deshalb war es höchste Zeit, dass die EU-Kommission im April nach langem Zögern ein offizielles Verfahren nach der Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit eröffnet hat.
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Ebenso richtig ist es, dass der Bundestag sich zum Verfahren äußert; das tun wir hier. Wir stimmen dem Antrag der Regierungsfraktionen zu, obwohl wir einige der inhaltlichen Punkte, die von der CDU/CSU angeführt worden sind, auch abgewogen haben, das nicht so gut finden; es geht um die Flexibilität bei der Umsetzung.
Wir vergessen aber nicht – das muss man auch sagen –, dass die CDU/CSU über viele Jahre lang – lange bevor diese Instrumente notwendig wurden –, als noch politisch reagiert werden konnte, die Buddys in Budapest geschützt hat. Ich erinnere an die Auseinandersetzung, die wir im Europarat hatten, als wir damals schon ein Monitoringverfahren eröffnen wollten.
({1})
Nicht nur in Ungarn, auch in Polen gibt es große Probleme; auch hier ist ein Verfahren möglich. Wenn man im Bericht aus Brüssel jetzt liest, dass es in der Kommission Sorgen gibt, dass möglicherweise gegen Ungarn so verfahren wird, aber gegen Polen mit Blick auf die Wahlen nächstes Jahr und vielleicht auch mit Blick auf die geopolitische Positionierung anders verfahren werden könnte, dann sagen wir: Das ist nicht akzeptabel.
({2})
Hier muss mit gleichem Maßstab gemessen werden. Gerade weil es um Rechtsstaatlichkeit geht, muss mit rechtsstaatlichen Maßstäben gemessen werden. Deswegen fordern wir ein gleiches Vorgehen wie gegen Ungarn auch gegen Polen.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der fraktionslose Abgeordnete Matthias Helferich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Botschafter! Man kann sich im Wesentlichen auf zwei Ebenen mit dem Gegenstand der heutigen Beratung befassen:
Die erste Ebene betrifft die Fragen danach, ob und in welchem Umfang man Ungarn Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Mitteln aus dem EU-Haushalt vorwerfen kann.
Die zweite Ebene bezieht sich auf den übergreifenden, kulturkämpferischen Zusammenhang, in den diese Bewertungen und Entscheidungen eingebettet sind. Wir können feststellen, dass Ungarn seit dem Wahlsieg Viktor Orbans im Jahr 2010 unter dem Dauerfeuer des linksliberalen Brüsseler Machtapparats steht.
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In Brüssel scheint man es nicht zu ertragen, dass die Ungarn keine Gesellschaft westeuropäischer Prägung zwischen somalischem Marktplatz und Christopher Street Day werden wollen.
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Die Ungarn wollen, dass Ungarn ungarisch bleibt, und dazu haben sie jedes Recht.
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Die heute zu beratenden Vorschläge der Kommission im Rahmen der Konditionalitätsverordnung dürfen daher nicht isoliert betrachtet werden, sie sind im Kontext des aggressiven Moral- und Werteimperialismus der EU zu betrachten.
Zivilisationen werden nicht ermordet, sondern sie begehen Selbstmord, warnt der Kulturtheoretiker Arnold J. Toynbee. Ungarn widersetzt sich seit Jahren Ihrem erweiterten westeuropäischen Suizid, und dafür wollen Sie Ungarn bestrafen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der AfD]#
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den größten Errungenschaften des Völkerstrafrechts der letzten Jahrzehnte gehört, dass das Führen eines Angriffskrieges heute als Verbrechen weltweit geächtet ist. Dieses Verbrechen steht als sogenanntes Führungsverbrechen neben den Straftatbeständen, mit denen der Internationale Strafgerichtshof Gewaltexzesse im Krieg verurteilen kann. Täter dieses Verbrechens können nur die obersten politischen und militärischen Entscheidungsträger sein, also die, die letztlich über Krieg und Frieden entscheiden. Und es ist gut, dass das Völkerstrafrecht inzwischen auch diese Täter in den Blick nimmt und eben nicht nach dem Motto handelt: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.
Aber Russland muss eine Anklage wegen dieses Verbrechens nach der geltenden Rechtslage überhaupt nicht befürchten. Russland wird mit seinem Veto im Sicherheitsrat immer verhindern können, dass dieser Sicherheitsrat den Strafgerichtshof zu einem Verfahren ermächtigt. Meine Damen und Herren, das können und das dürfen wir nicht hinnehmen.
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Die Menschen in der Ukraine, insbesondere an Orten unter russischer Besatzung, mussten und müssen Unvorstellbares erleiden. Es ist deshalb gut, dass die Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, etwa durch Angriffe auf Zivilisten oder Folter, begonnen haben. Aber das Verbrechen des Angriffskriegs als solches können wir nur und ausschließlich in einem Sondertribunal zur Anklage bringen. Im Einklang mit der ukrainischen Regierung und mit vielen Völkerrechtlern fordern wir genau deswegen dieses Sondertribunal.
Meine Damen und Herren, ich selbst habe mich einer internationalen Initiative hierzu bereits im März angeschlossen. Mit unserem Antrag haben wir etwas länger gewartet, bis zum jetzigen Zeitpunkt, weil wir – ich sage das offen – bis zuletzt gehofft haben, dass sich die Bundesregierung in dieser Sache selbst an die Spitze der Bewegung stellt. Das hat sie leider auch innerhalb der Europäischen Union nicht getan. Wir halten dieses Abtauchen auch deshalb für fatal, weil unser Land historisch doch eine besondere Verantwortung hat, für die Durchsetzung des Völkerrechts international einzutreten.
Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt der Ukraine dabei helfen wollen, die europäischen Rechtsstaatsstandards zu erreichen, dann sollten wir zugleich auch selber unsere Hausaufgaben machen, wenn es um die Durchsetzung des Völkerrechts geht. Meine Damen und Herren, es ist blamabel, dass die Bundesregierung und vor allem auch die Außenministerin sich bei diesem wichtigen Werkzeug des Völkerrechts wegducken.
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Wir wollen bitte keine Lippenbekenntnisse mehr, sondern wir fordern, dass Deutschland in der EU, in der UNO zum Treiber für die Einrichtung eines Sondertribunals wird; denn die Völkergemeinschaft muss nicht nur die vielen einzelnen Kriegsverbrechen vor Gericht bringen, sondern auch das Kriegsverbrechen, das, wie es schon im Nürnberger Urteil 1946 hieß –
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
– letzter Satz; ich würde den Satz aus dem Nürnberger Urteil gegen die NS-Kriegsverbrecher gerne noch zitieren –, –
Aber bitte schnell.
„alle Schrecken der anderen Verbrechen einschließt“. Es wäre schön, wenn Sie diesen Satz einmal auf sich wirken ließen. Das hat das Thema, glaube ich, verdient.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Der vorliegende Antrag der Union schreibt sich nichts Geringeres als die Durchsetzung der Gerechtigkeit auf die Fahne und zitiert nichts Geringeres als ein Urteil der Nürnberger Prozesse. Dieser entschlossene, mutige Sprung, der hier wohl versucht wird, gerät aber deutlich zu kurz, und das wird auch sofort im zweiten Absatz der Textbausteine, die hier vorliegen, kleinlaut eingeräumt.
Ja, es liegt ein russischer, überfallartiger Angriffskrieg nach Artikel 1 und 3 der entsprechenden Definition der Vereinten Nationen vor. Das bestreitet niemand, und das will auch niemand schönreden.
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Aber die sogenannte Sicherung des Weltfriedens wird nun mal nach Artikel 24 der UN-Charta dem heillos veralteten Konstrukt des Sicherheitsrats zugewiesen, in welchem Russland ein Vetorecht besitzt. Nach dem erst viel später errichteten Internationalen Strafgerichtshof können wir erst recht nicht verfahren; denn dort haben bezeichnenderweise mit den USA, China und Russland sich gleich drei Vetomächte aus der Bredouille gezogen. Seitens der USA wäre man sogar bereit, die eigenen Bürger per Kommandoeinsatz aus Den Haag zu befreien.
Daher nun diese offensichtliche Verlegenheitslösung eines Sondertribunals, welches seine Geltung rechtlich genau woher ableiten soll? Das Tribunal für Jugoslawien war damals durch den Sicherheitsrat abgesichert und befand sich damit im vollen Vollzug der UN-Charta. Das wird hier eben nicht funktionieren, da es gegen Russland geht. Also ein Gericht unterhalb der eigentlichen UN-Ebene, getragen von ein paar Mittelmächten? Man kann ja gewisse Haltungen international vertreten, wenn man das möchte; aber grundlegende reale Gegebenheiten vollständig zu ignorieren, das führt selten zum Erfolg und schadet immer der eigenen Glaubwürdigkeit.
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Sicherlich, dieses Sondertribunal würde uns erst einmal nicht direkt in der Substanz treffen, wie es die Wirtschaftssanktionen tun. Aber wozu haben wir im Westen denn vollmundig das Weltrechtsprinzip besungen und ausgeweitet? Wäre es nicht viel ehrlicher, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in der Ukraine direkt vor nationalen Gerichten zu verhandeln? Natürlich im Hinblick auf beide Kriegsparteien. Das Kooperationsproblem wäre dann auch nicht geringer, und man würde ohnehin nicht aller Täter habhaft.
Eines ist jedoch definitiv vermessen: zu glauben, dass wir per Tribunalbeschluss den Präsidenten einer Atommacht richten könnten. Die einzigen beiden Instanzen, die in der Lage wären, Putin zu richten, sind die russischen Oligarchen und das russische Volk. Ob diese das zu tun gedenken, ist aber allein deren Entscheidung.
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Das vorliegend beantragte Sondertribunal wäre eine schön anzusehende Hülle –
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
– ohne wirklichen Inhalt, das sprichwörtliche Potemkinsche Dorf. Das sollten wir nicht errichten. Das sollten wir lieber anderen überlassen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Helge Limburg für Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der russische Überfall auf die Ukraine ist in der Tat ein eklatanter und offenkundiger Bruch des Völkerrechts. Ich möchte gleich zu Beginn meiner Rede klarstellen: Es war und ist wichtig, dass in diesem Hause nicht nur die Koalition, sondern, Herr Kollege Krings, mit der Union auch die größte Oppositionsfraktion von Anfang an bis heute fest in Solidarität an der Seite der Ukraine stand und steht.
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Uns alle eint der Kampf für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Gerade auch diese Rechtsstaatlichkeit wird durch die russische Armee mit Füßen getreten. Niemand, Herr Kollege Krings, weder Sie noch jemand aus der Bundesregierung duckt sich in dieser Frage weg.
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In Wahrheit wissen Sie das auch selber.
Die russische Armee tritt den Rechtsstaat mit Füßen. Mit dem Überfall gehen zahlreiche weitere Verbrechen einher: Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde, Angriffe auf Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Elektrizitätswerke, Wasserversorgung, Verschleppung von Menschen, Zwangsrekrutierung. Die russische Armee schreckt augenscheinlich vor keinem Verbrechen zurück. Diese Verbrechen sind allesamt justiziabel, nach ukrainischem Recht, nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch und in der Tat auch nach dem Statut von Rom. Für diese Verbrechen können nicht nur die unmittelbar Ausführenden zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch die höheren Ränge, bis hin zur Staatsspitze, bis hin zu Wladimir Putin.
Komplexer ist in der Tat die Sachlage – Sie haben es ausgeführt, Herr Kollege Krings – bei dem Verbrechen der Aggression. Dieses kann vor ukrainischen Gerichten geahndet werden. Es kann nicht, nach derzeitiger Rechtslage, vor dem Internationalen Strafgerichtshof geahndet werden. Es kann aber sehr wohl, Herr Krings, vor deutschen Gerichten geahndet werden. § 13 des Völkerstrafgesetzbuches stellt in der Tat auch das Verbrechen der Aggression unter Strafe
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und bedroht alle Beteiligten, auch die Staatsspitze, mit Strafe.
Das ist wichtig, um sich zu vergegenwärtigen, dass bezogen auf das Verbrechen der Aggression zwar eine Lücke bei der Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofs besteht, aber auch dieses Verbrechen bereits jetzt geahndet werden kann. Auch das ist Teil des Systems des internationalen Strafrechts.
Es gab in der Geschichte mehrfach internationale Tribunale, die Bergen-Belsen-Prozesse in Lüneburg, die Nürnberger Prozesse, das Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien, das Ruanda-Tribunal, das Tribunal für Verbrechen in Kambodscha, das internationale Gericht zur Ahndung des Anschlags von Lockerbie.
Nun fordern nicht nur die Ukraine, sondern in der Tat auch viele weitere Staaten, unsere Partnerländer, und der Europarat ein entsprechendes Tribunal zur Ahndung des russischen Angriffskriegs, so wie es die Union hier heute tut. Ein internationales Tribunal hätte in der Tat den Vorteil, dass nicht ein einzelner Staat, sondern die internationale Gemeinschaft über diesen Bruch der UN-Charta zu Gericht sitzen würde.
Andererseits bleibt zu bedenken: Seit dem Tribunal für das frühere Jugoslawien sind sämtliche von mir genannten Gerichte entweder durch Beschluss des UNO-Sicherheitsrates oder mit Zustimmung aller beteiligten Staaten eingesetzt worden. Sie haben es gesagt, Herr Krings: Dieser Weg ist bezogen auf Russland, vorsichtig ausgedrückt, wenig wahrscheinlich.
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Insofern müsste man einen anderen völkerrechtlich legitimierten Weg finden, um ein solches Tribunal international anerkannt einzusetzen.
Unabhängig von der Frage eines Sondertribunals gibt es eindeutige rechtliche Bewertungen des russischen Angriffskriegs. Die Ukraine hat den rechtlichen Weg zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesucht und in einem vorläufigen Beschluss bereits recht bekommen. Es ist abwegig, anzunehmen, dass in der Hauptsache eine andere Entscheidung fallen wird. Der Internationale Gerichtshof wird die russische Aggression eindeutig verurteilen. Es gibt Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Diese gilt es in jeder Hinsicht zu unterstützen. Der Strafgerichtshof ist auch eingesetzt worden, um aus dem System der Ad-hoc-Tribunale herauszukommen und die internationale Strafgerichtsbarkeit auf ein regelmäßiges Fundament zu stellen. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel ein Beitritt der Ukraine zum Internationalen Strafgerichtshof. Ob ein Sondertribunal in diesem Fall ein Weg sein kann, die internationale Strafgerichtsbarkeit zu stärken, sollten wir in den Ausschüssen sorgfältig, auch in Ansehung der Haltung unserer internationalen Partnerinnen und Partner, erwägen.
Ich danke für das Aufsetzen der Debatte. Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist für Die Linke Caren Lay.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wladimir Putin führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Vereinten Nationen zählen 6 500 tote Zivilistinnen und Zivilisten, die Ukraine zählt bereits 30 000 getötete Zivilisten. Schon jetzt sind dem Krieg schätzungsweise 100 000 ukrainische und ebenso viele russische Soldaten zum Opfer gefallen. Der brutale und imperialistische Überfall Russlands auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen.
In der ukrainischen Stadt Butscha wurden während der konsequent organisierten Säuberungsaktion russischer Truppen mindestens 458 Zivilisten gekidnappt, gefoltert, ermordet und geschändet. Dieser koordinierte Einsatz von Folter, Terror und Mord an Zivilistinnen und Zivilisten zeigt: Putin und seine militärischen Befehlshaber sind Kriegsverbrecher. Sie müssen als solche bestraft werden.
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Es ist gut, wenn jetzt Beweise für die juristische Aufarbeitung sichergestellt werden. Ich verstehe auch den Wunsch der Ukraine als angegriffenes und überfallenes Land nach schnellem Handeln. Doch das internationale Völkerstrafrecht hat Lücken. Es muss gestärkt werden, und es muss für alle einheitlich gelten.
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Wie das am besten gelingt, darüber müssen wir dringend diskutieren. Auch die Debatte über eine bessere und konsequente Verfolgung von Angriffskriegen müssen wir führen. Mir ist wichtig, zu sagen: Es darf bei der Anwendung des Völkerrechts keine Doppelstandards geben, auch nicht zugunsten derjenigen, die über ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat verfügen.
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Ob der Antrag der CDU/CSU nun der richtige und rechtsstaatlich mögliche Weg wäre, darüber bestehen juristische Zweifel. Nur die UN hat ein solches Sondertribunal einzurichten. Hier verfügt Russland aber über ein Vetorecht. Wir werden im Fachausschuss über diese und andere offene Fragen diskutieren, auch darüber, wie wir die bestehenden Institutionen stärken können.
Unstrittig ist: Kriegsverbrechen müssen international geahndet werden. Kein Kriegsverbrechen darf ungestraft bleiben. Den Opfern muss Gerechtigkeit widerfahren.
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Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion Peter Heidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der letzte Schritt zur Vermeidung periodischer Kriege, die in einem System der internationalen Gesetzlosigkeit unvermeidlich sind, besteht darin, die Staatsmänner dem Gesetz gegenüber verantwortlich zu machen. Und lassen Sie mich klarstellen, dass das Gesetz, während es zuerst gegen deutsche Aggressoren angewandt wird, auch die Aggressionen anderer Nationen einschließt und verurteilen muss, wenn es einem nützlichen Zweck dienen soll.
Dieses Zitat aus der Eröffnungsrede von Robert Jackson beim Nürnberger Prozess ist angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine aktueller denn je. „Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze“, hat Cicero gesagt. Nein, wenn die Waffen sprechen, schweigt das Recht nicht.
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Straflosigkeit für Kriegsverbrechen wäre eine große Niederlage für das Völkerrecht. Wir werden alles tun müssen, um das zu vermeiden. Nirgendwo dürfen sich Kriegsverbrecher sicher fühlen. Für mich ist völlig klar, dass Putin und seine Clique das Verbrechen der Aggression begangen haben.
Die Union möchte nun für das Verbrechen der Aggression, das heißt für das Verbrechen, einen Angriffskrieg zu führen, ein Sondertribunal einrichten. Das ist sicherlich ein gut zu diskutierender Vorschlag. Wie wir mit diesem Verbrechen in der Ukraine umgehen, ist sicherlich eine riesige Herausforderung für die Strafjustiz. Die Koalition ist bei dieser Forderung allerdings in der Tat etwas zurückhaltend; denn ein solcher Schritt will sehr gut überlegt sein. Kollege Limburg hat darauf hingewiesen. Wir reden hier nämlich von einem sehr grundsätzlichen Problem.
Für die Freien Demokraten ist der Internationale Strafgerichtshof eine extrem wichtige Einrichtung und eine große Errungenschaft. Unser Ziel muss deshalb sein, genau diese Einrichtung zu stärken. Das muss oberste Priorität sein. Die Einrichtung eines Sondertribunals stärkt aber eher nicht den Internationalen Strafgerichtshof; denn dieses wäre dann eine Einrichtung neben dem IStGH. Es stärkt auch nicht den Chefankläger beim IStGH. Unser Ziel muss aber sein, den IStGH zu stärken. Insofern finde ich es zunächst schade, dass die Ukraine bisher kein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs ist. Ich würde mich freuen, wenn sich die Ukraine entschließen könnte, das Rom-Statut zu ratifizieren.
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Das wäre ein Signal, dass die Ukraine insgesamt an einer Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg durch eine unabhängige Justiz interessiert ist.
Wir stellen ja fest, dass es eine wachsende Bereitschaft in der Welt gibt, das Gewaltverbot zu ignorieren, getreu den Worten von Clausewitz, der Krieg sei die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Damit ist gemeint, dass Gewalt ein rationales Instrument der Politik ist. Aserbaidschan ist so ein Beispiel. Ein Angriffskrieg ist aber ein völkerrechtliches Verbrechen. Diese Einstufung ist somit ein entscheidender Baustein der internationalen Rechtsordnung, und diesen Baustein müssen wir unbedingt schützen. Die Freien Demokraten sind ja schon länger der Auffassung, dass das Rom-Statut überarbeitet werden sollte, damit es bei dem Verbrechen der Aggression keine Beschränkungen gibt. Natürlich geht eine solche Änderung nicht von heute auf morgen. Aber schon Konfuzius hat gesagt: Auch ein langer Weg bedarf eines ersten Schrittes. – Deshalb sollten wir jetzt unbedingt auf diplomatischer Ebene beginnen.
Unser Justizminister Dr. Marco Buschmann ist seit Längerem in einem intensiven Austausch mit dem ukrainischen Justizministerium. Es geht gerade um die Verfolgung der Kriegsverbrechen und darum, dass die deutsche Justiz die ukrainische Justiz bei dieser Verfolgung noch mehr unterstützt, damit die Täter konsequent zur Verantwortung gezogen werden können. Es gibt jetzt – das ist eine besondere Sache – erstmals ein Justizministertreffen auf G‑7-Ebene unter Einbeziehung der Ukraine, um über die Verfolgung der Kriegsverbrechen zu sprechen. Das zeigt das große Engagement der Bundesregierung. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat bereits ein Strukturermittlungsverfahren eingeleitet. Wir haben dafür extra zwei weitere Referate beim GBA eingerichtet.
Und zum Schluss ein Gedanke für die Diskussion.
Der Gedanke muss jetzt schnell gehen.
Die Ukraine könnte ein eigenes Sondertribunal einrichten, das mit internationalen Richtern besetzt wird und das dann das ukrainische Recht bei der Verfolgung der Kriegsverbrechen anwendet. Eine interessante Idee!
Ich freue mich auf die Auseinandersetzungen und Diskussionen im Ausschuss.
Danke.
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Es folgt Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns hier im Hohen Hause einig, dass dieser grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist und dass die individuelle Verantwortlichkeit der jeweiligen Kriegsverbrecher aufgearbeitet werden muss, und zwar so, dass sie angeklagt und abgeurteilt werden.
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Das betrifft nicht nur diejenigen, die im Kriegsgebiet selber Grausamkeiten unvorstellbarer Art begehen, sondern auch die Täter hinter den Tätern. Das ist der Kern unseres Antrags. Wir wollen, dass wegen des Verbrechens der Aggression angeklagt und abgeurteilt werden kann. Das ist zentral, um die juristische Verantwortlichkeit dieses Angriffskriegs aufzuarbeiten.
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Wir haben aber ein juristisches Problem. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof kann das Verbrechen der Aggression nur gegenüber Mitgliedern von Vertragsstaaten vorgebracht werden. Ukraine und Russland haben jeweils das Römische Statut nicht ratifiziert. Es ginge also nur durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats. Dieser wird aber durch das Veto Russlands blockiert, sodass uns bei dieser Frage die Hände gebunden sind. Wir brauchen also einen Mechanismus, um die individuelle Aburteilung wegen des Verbrechens der Aggression sicherzustellen. Und da, lieber Kollege Limburg, möchte ich Sie mit allem Respekt korrigieren. § 13 des Völkerstrafgesetzbuches ermöglicht gerade keine Handhabe, auch nicht durch eine Aburteilung in Deutschland; denn nach § 1 des Völkerstrafgesetzbuches ist § 13 nur anwendbar, wenn die Täter Deutsche sind oder die Tat gegen Deutschland gerichtet ist. Das ist aber in der Ukraine nicht der Fall. Deswegen fällt es leider aus. Wir brauchen deswegen ein Sondertribunal durch Vertrag etwa mit dem Europarat, um deutlich zu machen, dass wir die individuelle Aburteilung wegen des Verbrechens der Aggression wollen. Es geht um eine Fortentwicklung des Völkerrechts angesichts eines sich blockierenden UN-Sicherheitsrats.
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Herr Kollege Peterka, dass Sie am Ende Ihrer Rede von Verlegenheitslösungen und Potemkinschen Dörfern gesprochen haben, zeigt, wo Sie bei dieser Frage stehen, jedenfalls nicht auf der Seite des internationalen Rechts.
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Lieber Herr Kollege Heidt, Sie haben davon gesprochen, dass die Koalition im Augenblick zurückhaltend ist. Ich hoffe, dass wir diese Zurückhaltung durch die Beratungen aufbrechen. Es geht um das Signal des Deutschen Bundestages, dass wir der internationalen Initiative beitreten, durch ein Sondertribunal das Verbrechen der Aggression anzuklagen und abzuurteilen, damit am Ende die Gerechtigkeit siegt und Kriegsverbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist der maßgebliche Rahmen für unsere Arbeit als Abgeordnete in diesem Haus. Mit dieser Reform werden wir das Parlament stärken, eine dynamischere und lebendigere Regierungsbefragung machen, und wir erhoffen uns bei diesem Unterfangen eine breite Unterstützung aller demokratischen Parteien in diesem Haus.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns zusammen den neuen Rahmen schaffen für eine lebendige, transparente Ausgestaltung unserer täglichen Arbeit. Ich lade Sie alle ein, gemeinsam mit uns die Arbeit im Bundestag, die Demokratie noch spannender, erlebbarer, auch familienfreundlicher und sichtbarer zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir hoffen auf breite Zustimmung zu unserer Reform.
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Für die AfD-Fraktion erhält das Wort Stephan Brandner.
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Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ampelfraktionen wollen die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags ändern. Da schwante uns zunächst mal nichts Gutes; denn es zeichnet sich ab, dass die hellbraune Koalition sukzessive die parlamentarischen Rechte der Opposition beschneidet, was inzwischen auch CDU und CSU zu spüren bekommen. Und wahlweise wenden die Akteure der Altparteien ihre eigenen Vorschriften gar nicht an und machen das Gegenteil von dem, was sie selbst beschlossen haben, Stichworte: penetrante Verweigerung der der AfD zustehenden Posten für den Bundestagsvizepräsidenten und die Ausschussvorsitzenden. So weit, so gut.
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Was wollen Sie nun hier? Zunächst einmal wollen es sich die Ampelmännchen und Ampelweibchen etwas gemütlicher machen. Die Möglichkeit, Ausschusssitzungen vom heimischen Sofa aus zu verfolgen wie zu tiefsten Pandemiezeiten, soll nun Standard werden. Als Grund dafür wird beispielsweise – ich zitiere – „die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit einer physischen Teilnahme … wegen bundesweiter Betriebsstörung der Verkehrsmittel“ genannt.
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Mit anderen Worten: Weil Sie jahrzehntelang unsere Infrastruktur ruiniert und das dafür erforderliche Geld in alle Welt verschleudert haben, bleiben die Abgeordneten nun einfach etwas öfter zu Hause, oder auch weil die von Ihnen jahrelang gepäppelten Klimaidioten ihre kriminellen Aktionen von den Straßen auf die Bahn und Flughäfen ausdehnen wollen. Das ist klassischer vorauseilender Gehorsam gegenüber einer kranken Ideologie, die Sie selber zu verantworten haben. Mit uns passiert so was nicht.
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Und ein Affront gegen alle Bürger draußen ist es zusätzlich. Denn die Bürger draußen können nicht sagen: Wegen der maroden Straßen, der heruntergewirtschafteten Bahn und den Klimaspinnern bleibe ich zu Hause. – Der Bürger draußen soll die versalzene Suppe, die Sie ihm eingebrockt haben, auslöffeln. Das ist Ihre Art der Politik. Unsere ist das nicht.
Und überhaupt: Statt sich Gedanken über virtuelle Ausschüsse zu machen, sollten Sie erst einmal in den Ausschüssen das Grundsätzliche regeln und zurückkehren zu unserer Geschäftsordnung, zum Rechtsstaat, indem sie die von der AfD benannten Ausschussvorsitzenden und stellvertretenden Ausschussvorsitzenden akzeptieren und nicht weiter rechtswidrig blockieren. Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt zur Stärkung der Demokratie. Aber daran haben Sie kein Interesse.
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Außerdem wollen Sie nun in die Geschäftsordnung schreiben, dass Bundesbedienstete in Ausschusssitzungen nicht mehr als Sachverständige gehört werden dürfen, was wohl Ihre Reaktion darauf ist, dass sich der Bundesrechnungshof in letzter Zeit zunehmend kritisch zur hellbraunen Politik äußert. Da wäre es nur konsequent, reinzuschreiben, dass Sie eine rot-grün-bunte Lobbyliste vorgeben, und daraus müssen wir uns dann etwas aussuchen. Das ist wahrscheinlich der nächste Schritt, den Sie in der Geschäftsordnung vorhaben.
Weitere Änderungen betreffen die Dauer der Fragestunden, die halbiert wird, dafür soll die Zeit für die Ministerbefragung verdoppelt werden. Da haben wir uns gefragt: Woran liegt das wohl? Ich gehe davon aus, dass Sie selber die blamablen Auftritte Ihrer Parlamentarischen Staatssekretäre, die nur Skripte vorlesen, nicht mehr ertragen können und deshalb ein bisschen davon ablenken wollen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Abgeordneter.
Ich komme zum Ende. – Ich freue mich auf die Ausschussberatungen, in denen wir noch vieles zu besprechen haben.
Vielen Dank.
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Stephan Thomae, Jan Korte und Macit Karaahmetoğlu geben ihre Reden zu Protokoll.
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Das Wort erhält Daniela Ludwig für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit möchte ich ganz bewusst auf inhaltliche Ausführungen verzichten. Ich möchte aber schon eines sagen: Digitale Ausschusssitzungen sind eine Errungenschaft aus der Coronapandemie, die ich für richtig und sinnvoll halte – auch und speziell als Ausschussvorsitzende. Ich finde es gut, dass wir das für die Zukunft nicht nur als Ausnahme- oder Sonderregelung festhalten, lieber Herr Kollege von der AfD,
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sondern auch festschreiben – nicht als Standard- und Dauerlösung, sondern als Möglichkeit, dass Ausschüsse auch einmal spontan, schnell, zügig, wie wir es als Geschäftsordnungsausschuss in der letzten Woche getan haben, zusammenkommen können.
Frau Polat, ich habe Ihnen gut zugehört, und wir haben das heute im Ausschuss auch so besprochen: Das ist jetzt ein erster Aufschlag von Ihrer Seite.
Mir ist wichtig: Die Geschäftsordnung hat immer davon gelebt, dass sie von einem breiten Konsens über die Fraktionen hinweg mitgetragen wurde und dass die Regierungsfraktionen, aber auch Oppositionsfraktionen Dinge durchsetzen konnten, die ihnen wichtig waren. Denn es geht um unsere gemeinsame tägliche Arbeit. Insofern würde ich tatsächlich auch als Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses darum bitten, dass wir uns im Vorfeld der öffentlichen Anhörung, die wir – vorbehaltlich der Überweisung heute – ja schon beschlossen haben, auch darüber unterhalten, welche Vorstellungen die Oppositionsfraktionen gerne einbringen möchten, um dann vielleicht tatsächlich an der einen oder anderen Stelle auch zu einer gemeinsamen Haltung dazu zu kommen. Das hat sich bewährt, und daran sollten wir bei allen inhaltlichen Differenzen, die wir sonst haben, auch festhalten.
Vielen herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kollegen! Ich kann Ihnen das nicht ersparen: Man muss diesen Skandal und die Skandale, die weit dahinter liegen, immer wieder in Erinnerung rufen. – Der Kanzler ist nicht da, und ich sehe auch keinen Vertreter des Kanzleramtes.
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Neben den vielen, vielen Krisen, die wir haben – wir haben es heute ja auch schon erörtert –, befinden wir uns auch in einer ausgeprägten Vertrauenskrise. Die haben Sie heute mit Ihrer Entscheidung zu der teilweisen Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin noch vertieft, und so muss man Ihnen diese Lücken immer wieder in Erinnerung rufen.
Ehemalige SPD-Mitglieder schimpfen mittlerweile über Sie, wie zum Beispiel der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post. Selbst Mitglieder Ihrer Koalitionsfraktionen glauben Ihnen kein Wort mehr. Das sieht man, wenn man sich die Aussagen vom Fraktionsvize der Grünen, Konstantin von Notz, im „Handelsblatt“ vom 30. August 2022 anschaut.
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– Das sind keine Dinge zum Lachen. Wenn Sie darüber lachen, meine Damen und Herren von den Grünen, zeigt das nur Ihre Einstellung zu den Menschen da draußen und zu dem Geld, das hier verloren gegangen ist.
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70 Prozent der Bevölkerung halten diesen Bundeskanzler und damit auch diese Bundesregierung für unglaubwürdig. Das stellte eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag des „Focus“ fest. Im gleichen Atemzug wirft der „Spiegel“ – immerhin sonst ja Ihre Haus- und Hofpostille – am 23. September 2022 in einem Artikel die Frage auf: „Erhielt die Hamburger SPD eine Dankeschön-Spende?“ Das Dankeschön bezieht sich darauf, dass die Finanzbehörde in Hamburg auf eine Rückzahlung in Millionenhöhe wegen Cum-Ex verzichtete und erst – so ist es auch zu unserem Antrag gekommen – auf BMF-Schreiben hin tätig wurde und diese Rückforderung tätigte.
Ich glaube, die Nähe vieler großer Politiker, Finanzminister und anderer Regierungsmitglieder zu Banken und ihrer heimischen Wirtschaft macht es erforderlich, dass sich das Finanzministerium und eigentlich auch der Kanzler – das wäre eine Maßnahme gewesen – an die Spitze dieser Aufklärung stellen und nicht mit Erinnerungslücken alle hier düpieren.
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Die Merkwürdigkeiten gehen weiter. Ich könnte den Namen Johannes Kahrs und das Schließfach nennen; wir haben das alles schon diskutiert. Aber Sie wissen ja: Wie immer, das hat alles nicht allein mit Hamburg, sondern auch mit anderen Bundesländern zu tun.
Nennen wir die Zahlen: Es geht um einen Schaden von 150 Milliarden Euro in Europa, der durch Cum-Ex entstanden ist. Allein 36 Milliarden Euro entfallen auf Deutschland. Stellen wir uns mal vor, dieses Geld wäre noch in den Staatskassen! Dann könnten Sie tatsächlich die Steuern senken.
Und der große Bruder, Cum-cum-Geschäfte, wird gar nicht richtig angegangen; der wird nach wie vor auf die leichte Schulter genommen. Auch dazu können Sie die Publikation auf finanzwende.de sehen.
Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, die Regierung, die Schuldenkoalition, ich rufe Sie mit diesem Antrag auf, dem weiter nachzugehen, weiter nachzuhaken und keine Lücken entsprechend aufzutun.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Nicht dass wir irgendwann vielleicht die Verjährung auf 20 Jahre ausdehnen müssen!
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Abgeordneter.
Handeln Sie im Interesse der Menschen!
Vielen Dank.
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An dieser Stelle muss ich nun aber doch hinzufügen, dass die Staatsministerin Roth aus dem Kanzleramt durchaus sehr sichtbar auf der Regierungsbank sitzt.
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Als nächster Redner erhält Parsa Marvi für die SPD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Cum-ex- und Cum-cum-Finanzgeschäfte gehören zweifelsohne zur historisch größten finanziellen Schädigung der öffentlichen Hand und der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Dass deren Bekämpfung und die Rückzahlung der rechtswidrigen Erträge eine hohe Priorität für uns alle haben müssen, versteht sich von selbst.
Dabei möchte ich noch mal ausdrücklich betonen, dass diese Geschäfte schon immer rechtswidrig waren und es nie eine Gesetzeslücke gab. Es war lediglich technisch möglich, sich bei einer einmal gezahlten Kapitalertragsteuer mehrere Steuerbescheide generieren zu lassen. Diese Form der Steuerhinterziehung war und ist nach Einschätzung sowohl des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesfinanzhofs einfach nur eines: kriminell.
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Gerade bei Cum-ex-Fällen ist die Strafverfolgung der Fälle bis 2012 schon vergleichsweise weit vorgedrungen. Anders sieht dies hingegen bei den Cum-cum-Fällen aus. Dass dem so ist, liegt auch an dem damals nicht von der SPD geleiteten Bundesfinanzministerium, das mit zwei BMF-Schreiben aus den Jahren 2016 und 2017 die Konsequenzen eines BFH-Urteils aus dem Jahr 2015 derart eingeschränkt hat, dass die Finanzämter nur Fälle nach März 2013 und mit positiver Vorsteuerrendite verfolgen konnten.
Waren wir nun als Gesetzgeber und regierende Partei in den letzten Jahren hinsichtlich der Eindämmung solcher Steuerhinterziehung untätig? Die Antwort lautet: Nein.
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Wir haben als SPD-Fraktion in der letzten Legislaturperiode erfolgreich darauf gedrängt, diese BMF-Schreiben zu ersetzen. Wir haben per Gesetz die Verlängerung der relativen Verjährungsfristen für Cum-ex-Geschäfte von 10 auf 15 Jahre beschlossen, wir haben ein Gesetz zur Meldepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen verabschiedet sowie mit dem sogenannten Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz – ein furchtbar langes Wort – eine Regelung zur präventiven Bekämpfung von Cum-ex-Betrügereien auf den Weg gebracht. Wir werden jetzt sogar noch weiter gehen und gemeinsam mit unseren Koalitionspartnern in der Ampel eine nationale Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle umsetzen. Das Bundesfinanzministerium zeigt in seiner Vorhabenplanung auf, dass es entschlossen ist, mit dieser Ampel konsequent gegen Steuerbetrugsmodelle vorzugehen.
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Zahlreiche Staatsanwaltschaften und Gerichte ermitteln bundesweit seit Jahren, um diesen Skandal aufzuklären. Die Schadensbegrenzung bzw. ‑wiedergutmachung für die öffentliche Hand nimmt dabei zu. Bis zum April 2022 wurden bereits 1,8 Milliarden Euro, nunmehr schätzungsweise bis zu 3,1 Milliarden Euro des durch die Cum-ex-Fälle entstandenen Schadens zurückgefordert, und ich kann Ihnen jetzt schon versprechen: Dabei wird es nicht bleiben.
Lassen Sie uns Maßnahmen im Kampf gegen Steuerbetrug zu einer gemeinsamen Sache im Parlament machen und Schaudebatten dieser Art dabei hinten anstellen!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! „Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren“ klingt erst mal gut, ist es aber nicht. Der einzige gute Ansatz, über den wir gerne mit Ihnen reden, ist die Angleichung des Asylprozesses an das allgemeine Verwaltungsprozessrecht. Diese kann zu einem schnelleren, effektiven Rechtsschutz führen; denn es ermöglicht die Vereinheitlichung einer zurzeit zersplitterten Rechtsprechung. Diesen Effekt verspielen Sie aber, indem Sie aus der Revisionsinstanz des Bundesverwaltungsgerichts eine dritte Tatsacheninstanz machen wollen.
Natürlich werden in Ihrem Entwurf die NGOs, die keine demokratische Legitimation haben, großzügig bedacht, indem sie gegen Vergütung im Vorfeld unentgeltlich beraten sollen. Im Übrigen ist das Gesetz geprägt von dem Vorhaben, weitere illegale Zuwanderung und Bleiberechte zu erleichtern – in einer Zeit, in der sämtliche Kommunen am Ertrinken sind.
Das Wort „Abschiebung“ kommt de facto nicht mehr vor. Im Gegenteil: Ausreisepflichtige, deren Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist, sollen nach fünf Jahren Aufenthalt eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten. Das Auswärtige Amt richtet ein Referat Familiennachzug ein. Hiermit sollen Minderjährige angelockt werden, die dann einen Antrag stellen können, um Eltern und Verwandte leichter und schneller nach Deutschland zu holen. Die finanziellen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen dieser verfehlten Politik sind bekannt.
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Auch heute haben wir gehört – von der FDP –, Deutschland sei ein Einwanderungsland. Das sind wir nicht. Moderne Einwanderungsländer öffnen nicht einfach ihre Grenzen. Im Gegenteil: Moderne Einwanderungsländer suchen sich aus, wen sie in ihr Land lassen, für ihren Arbeitsmarkt brauchen. Nicht umsonst sind Fachkräfte, Ärzte und Ingenieure aus zum Beispiel Syrien schon lange vor den Migrationsströmen nach den USA, Kanada und Australien ausgewandert.
Wir sind Opfer unserer Regierenden, die seit mindestens 2015 nicht in der Lage sind, zwischen Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, humanitärem Asyl, temporärem Schutz nach UN-Recht und illegaler Einwanderung zu unterscheiden.
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Wir sind das Opfer der Regierenden, die nur bei Corona und bei Gipfeltreffen mit ausländischen Politikern in der Lage sind, Grenzen zu schützen.
Mit Migranten aus Afrika und arabischen Ländern haben Sie weder ab 2015 den Arbeitskräftemangel gelöst – wir haben es jetzt in der Flughafenkrise gesehen –, noch werden sie ihn in Zukunft lösen. Hier hilft nur eine ambitionierte Familien- und Bildungspolitik. Das Ausbeuten von Arbeitskräften aus anderen Ländern, die dort ja selbst gebraucht werden, ist dagegen reiner Kolonialismus.
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Alle EU-Länder haben bei der illegalen Einwanderung die Reißleine gezogen, nur Deutschland ist mal wieder der Geisterfahrer – wie auch in der Energiepolitik.
Ganz pragmatisch: Sozialstaat und Gesundheitssysteme funktionieren nur so lange, wie Einzahlende und Anspruchsberechtigte sich die Waage halten. Was unsere Open-Border-Fetischisten hier im Hause nicht verstehen: Hier hilft nur der Nationalstaat mit seinen Grenzen. Regieren Sie weiter gegen die Interessen dieses Volkes, und Sie haben bald ausregiert.
Vielen Dank. Glück auf!
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Nächster Redner ist Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Herr Dr. Wirth noch einige Dinge durcheinandergewürfelt hat, muss ich, glaube ich, ein paar Dinge etwas einordnen und richtigstellen.
Migration ist natürlich eine große Herausforderung unserer Tage und wird es auch noch auf lange Zeit bleiben. Das ist unserer hochkomplexen Gesellschaft sicherlich eine Herausforderung, die wir meistern müssen.
Da haben die einen die Humanität im Blick, und die anderen haben Sorgen vor Fremden, die zu uns kommen. Das wird man alles ernst nehmen müssen. Wir wollen Humanität im Blick behalten, aber auch die Kontrolle behalten. Darum geht es uns doch.
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Deswegen ist das Gesetz, das wir heute auf den Tisch legen, eines von einem ganzen Bündel von Maßnahmen, mit dem wir in der Migrationspolitik ein neues Kapitel aufschlagen wollen. Dabei geht es um beides: um Humanität, Schutz und Hilfe, aber auch um die Steuerung der Einwanderung von Menschen, die wir bei uns wollen, weil sie bei uns arbeiten möchten oder sich bei uns ausbilden lassen wollen.
Der eine Komplex ist: Es gibt die einen, die bei uns arbeiten wollen oder sich bei uns ausbilden lassen wollen. Zu denen sagen wir: Geh an den Vordereingang, klingel am Tor, nimm die Haupttreppe, gib deine Bewerbung beim Pförtner ab! Dann wirst du bei uns arbeiten können oder dich bei uns ausbilden lassen können. Das ist das eine Element, um das es uns geht.
Worum es bei dem Gesetzentwurf heute Abend geht, ist: Es gibt natürlich immer auch Menschen, die auf der Flucht sind, die bei strömendem Regen, nachts, bei Kälte, in der Dunkelheit an den Nebeneingang kommen, da klingeln und nach Schutz und Hilfe suchen. Die weisen wir auch nicht zurück, die stoßen wir nicht wieder in die Kälte, in die Nässe, in den Regen hinaus. Wir lassen sie herein, wollen aber natürlich – und das wird hoffentlich jeder verstehen – im Treppenhaus, im Eingangsbereich erst mal klären: Wer ist denn das eigentlich? Woher kommt er? Und was will er bei uns?
Man kann die Leute nicht ewig im dunklen und kalten Treppenhaus stehen lassen. Deswegen wollen wir schnell klären: Wer ist denn das eigentlich? Braucht er Schutz? Braucht er Hilfe? Darum geht es: dieses Verfahren zu beschleunigen. Da gibt es nicht den einen Trick, wie man alles mit einem Schlag schneller machen kann, da brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen, um durch eine Kombination von Elementen die Verfahren insgesamt zu beschleunigen.
Da ist zum einen das Asylgerichtsverfahren. Auch da geht es nicht um eine Maßnahme, da geht es um verschiedene Dinge, die wir anwenden müssen. Momentan dauern die Asylgerichtsverfahren im Schnitt über 26 Monate. Das ist zu lang, das müssen wir beschleunigen. Dafür werden wir eine ganze Reihe von Maßnahmen ergreifen, die in der Summe zu einer Beschleunigung führen werden.
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Ein zweites Element betrifft die Asylverfahrensberatung, bei der manche den Verdacht haben, dass es darum geht, Tricks zu verraten, mit denen man das System unterlaufen kann.
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Darum geht es nicht. Es geht darum, das Beispiel anderer Länder – wie der Schweiz zum Beispiel, die ein gutes, schnelles Verfahren hat und schnell zu richtigen Ergebnissen kommt –
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zu übertragen, zu sehen, wie wir so etwas bei uns anwenden können. Es geht darum, Standards anzuwenden; denn durch die Anwendung von Standards wollen wir über die Vorbereitung von Asylbewerbern schneller zu guten und richtigen Ergebnissen kommen, weil bei der Anhörung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dann gleich die entscheidenden und erheblichen Tatsachen auf den Tisch kommen.
Wir wollen zum Beispiel eine Rückkehrberatung einführen.
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Denn es ist allemal besser, wenn jemand einen Hinweis erhält, Hilfe erhält für eine Rückkehr, als wenn er unter Zwang abgeschoben werden muss.
Wir wollen darüber hinaus, dass Widerrufsprüfungen nur dann vorgenommen werden, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie notwendig sind, um damit das Bundesamt zu entlasten.
Das ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die wir anwenden wollen, um auf diese Art und Weise schneller zu guten und richtigen Ergebnissen zu kommen. Das ist das, was wir heute Abend hier vorlegen.
Ich danke Ihnen.
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Clara Bünger gibt ihre Rede zu Protokoll.
Wir kommen zu Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wirth, AfD, Sie haben es bei Ihrem monotonen Selbstgespräch wirklich virtuos geschafft, kein einziges Wort über den vorliegenden Gesetzentwurf zu sagen. Dazu muss ich Ihnen gratulieren; das ist eine Leistung. Es zeigt aber, dass Sie von Asylrecht keine Ahnung haben.
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Wir legen stattdessen – was Sie stört; denn Sie haben offensichtlich keine Argumente dagegen – einen Gesetzentwurf vor, der ein Gesetzentwurf der praktischen Vernunft ist, der ganz konkret an der Lebenswirklichkeit aller Beteiligten orientiert ist. Es geht beim Asylrecht nämlich nicht um ein Sicherbarmen, es geht nicht um Wohltätigkeit, es geht auch nicht darum, Menschen abzustrafen oder Härte zu demonstrieren, sondern es geht darum, Rechte zügig, im Sinne aller Beteiligten fair, verwaltungskorrekt, rechtsstaatlich umzusetzen. Genau das machen wir.
Wenn wir die Kette des Weges begleiten, sehen wir, dass Menschen aus höchst bedrohlichen Situationen mit zum Teil fatalen Erfahrungen mit Verwaltung, mit Behörden, mit Polizei
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in dieses Land kommen. Wenn sie hier ankommen, dann ist für sie die Möglichkeit einer behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung äußerst sinnvoll. Denn stellen Sie sich einmal vor, eine Person hat nur negative Erfahrungen gemacht und soll dann ausschließlich von der Instanz, die über sie entscheidet, beraten werden. Das schafft kein Vertrauen, das schafft Zweifel.
So schaffen wir aber – und das ist, was Sie nicht begreifen – auch Vertrauen der Betroffenen, wenn es zu einem negativen Entscheid kommt. Es beschleunigt das Verfahren, wenn wir mündige Geflüchtete haben, die um ihre Rechte wissen.
Zum Zweiten. Wir kommen mit verschiedenen Maßnahmen dazu, dass die Asylverfahren selbst schneller werden. Das müsste allen in diesem Hause gefallen; denn wir wünschen uns doch, dass Menschen schnell wissen, ob sie bleiben können, ob sie nicht bleiben können; das ist im Sinne aller Beteiligten.
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Zum Dritten. Wir erleben gegenwärtig eine exorbitante Zahl von Verwaltungsgerichtsverfahren. Ganze Verwaltungsgerichte sind durch monate-, ja jahrelange Asylverfahren gebunden. Warum sollte es sinnvoll sein, diesen Zustand fortzuschreiben?
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Nein, es ist sinnvoll – im Sinne der Verwaltungsgerichte, im Sinne der Klagenden, im Sinne der Anwältinnen und Anwälte –, dies schneller zu gestalten, und das rechtskonform.
Jetzt kommen wir zum letzten Punkt – und da können Sie sich gar nicht gut aufregen; denn selbst das BAMF fordert das ausdrücklich ein –: Wir schaffen die Regelüberprüfung, die anlasslose Überprüfung von Widerrufs- und Rücknahmeverfahren, ab. Es macht nämlich einfach keinen Sinn, wenn systematisch ohne Anlass ganze Legionen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BAMF lahmgelegt werden, anstatt sich um die eigentliche Arbeit des Anhörens und Entscheidens zu kümmern.
Ich fasse zusammen: Das ist kein Wohltätigkeitsakt, das ist ein Gesetzentwurf, der sich an der Lebensrealität aller Beteiligten orientiert und der aus Lose-lose-Situationen, die die Realität darstellen, Win-win-Situationen macht.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie müssen zustimmen.
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Herzlichen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben an dieser Stelle bereits oft über die Frage diskutiert, wie wir Asylverfahren beschleunigen können. Wir alle sind uns einig, dass wir eine Beschleunigung brauchen, weil wir damit zum einen unsere Verfahrensstruktur entlasten können, zum Beispiel das BAMF und die Gerichte, aber auch – das muss man hier auch mal sagen –, weil die Menschen, die in schwierigen Situationen zu uns kommen, möglichst schnell Rechtssicherheit brauchen, wie es weitergeht in diesem Land oder im Herkunftsland.
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Wenn es darum geht, wie wir zu einer Beschleunigung kommen können, muss man sich natürlich schon einmal ehrlich die Frage stellen: Woher rührt denn das Problem an sich? Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, haben wir mit Sicherheit schon den ersten großen Dissens. Denn das Problem rührt doch gar nicht so sehr aus der Frage, wie wir die Verfahren ausgestalten, sondern bei ehrlicher Analyse muss man sagen: Das Problem ist die schiere Menge der Menschen, die zu uns kommen möchten.
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Allein in diesem Jahr werden bis zu 200 000 Menschen Asylerstanträge stellen – und das ohne die Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen. Deswegen gilt der alte Satz von Horst Seehofer: Wir müssen Zuwanderung ordnen und steuern. – Ja, und wir müssen sie begrenzen, vor allem, wenn wir wissen, dass ein Großteil der Menschen, die zu uns kommen, eigentlich keine tatsächliche Perspektive auf ein Bleiberecht hat.
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Wir müssen begrenzen und steuern, im Interesse der Menschen, die zu uns kommen und tatsächlich Hilfe brauchen.
Da will ich Ihnen ehrlich sagen: Das, was Sie hier vorschlagen, auch in diesem Gesetzentwurf, ist allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein und unter Umständen am Ende des Tages gar nichts, wenn Sie an anderer Stelle, Kollege Thomae, dem Grunde nach die Voraussetzungen dafür, dass Menschen zu uns kommen dürfen, immer weiter absenken. Ich will Ihnen Beispiele nennen: Sie wollen im Monat 1 000 Menschen aus Afghanistan aufnehmen, inklusive Angehörige,
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ausgewählt von NGOs, bei denen niemand weiß: Wer wählt aus, und was sind denn die Voraussetzungen? Sie wollen mit Ihrem Chancen-Aufenthaltsrecht den Spurwechsel erleichtern, Sie wollen umfassende Amnestieregelungen etablieren.
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Und die nächsten Vorschläge hat die FDP schon in der Pipeline: Man will tatsächlich die Westbalkan-Regelung erweitern auf Indien, Nigeria, Gambia, Tunesien, Marokko und Algerien.
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Ich sage Ihnen: Das ist Teil des Problems. Wir schlagen Ihnen dagegen vor, sich mal ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, ob wir nicht die Anzahl der sicheren Herkunftsstaaten erweitern müssen. Es gibt eine ganze Reihe von Herkunftsländern, bei deren Staatsangehörigen die Anerkennungsquote unter 5 Prozent liegt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Abgeordneter.
Das ist ein guter Ansatzpunkt, da können Sie mit uns rechnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wem gehört das Bett, in dem ich schlafe, der Teller, von dem ich esse, der WLAN-Router, den ich nutze?“ – Fragen, die ich und auch viele von Ihnen sich wahrscheinlich nie stellen müssen. „Wem gehört das Bett, in dem ich schlafe?“, mit dieser Frage eröffnete die Vertreterin des Careleaver e. V., einer Selbstorganisation für junge Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe, ihr Eingangsstatement bei der Anhörung zum Gesetzentwurf zur Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe. Damit hat sie uns auf beeindruckende und gleichzeitig auch bedrückende Art und Weise vor Augen geführt, worum es hier geht.
Junge Menschen, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können, sondern in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe, müssen sich diese Fragen stellen – spätestens wenn sie ausziehen. Sie müssen sich weitestgehend eigenständig finanzieren. Dabei können sie sich meist nicht auf ein familiäres und soziales Sicherheitsnetz und entsprechende finanzielle Unterstützung verlassen. Diese jungen Menschen haben in ihren Biografien viele Hürden genommen. Wir sollten es ihnen nicht noch schwerer machen, indem wir ihnen das Geld, das sie im Rahmen einer Ausbildung oder eines Schüler/-innenjobs verdienen, teilweise wieder abnehmen. Deswegen an dieser Stelle noch mal: Gut, dass wir die Kostenheranziehung von jungen Menschen endlich abschaffen!
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Wenn ich das oft angeführte Argument höre, die Kostenheranziehung habe eine pädagogische Aufgabe, kann ich das wenig nachvollziehen. Ich frage mich: Was ist das für ein pädagogisches Verständnis, wenn das einzige Mittel, um jungen Menschen den Umgang mit Geld beizubringen, das Einbehalten dieses Geldes ist?
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Es sollte vielmehr darum gehen, dass die jungen Menschen ihr selbstverdientes Geld eigenverantwortlich verwalten lernen. Für uns steht die Selbstbestimmung von jungen Menschen im Vordergrund.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zur Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe. In der Anhörung wurde zu Recht auf die jungen Menschen hingewiesen, die aufgrund einer Behinderung, einer anderen Einschränkung oder einer Benachteiligung eine geförderte Ausbildung im Rahmen des SGB III machen und die weiterhin von der Kostenheranziehung betroffen sind, und zwar weit über 25 Prozent hinaus. Das heißt konkret in der Praxis: Ein junger Mensch, der zum Beispiel aufgrund einer individuellen Einschränkung eine geförderte Ausbildung macht, lebt in der gleichen Wohngruppe wie eine junge Person, die in einem regulären Ausbildungsbetrieb arbeitet. Der eine darf künftig seine Vergütung behalten, und die andere Person nicht. Hier besteht noch eine massive Ungerechtigkeit, und dafür müssen wir Lösungen finden.
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Daher freue ich mich sehr, dass wir als Ampelkoalition – ein großer Dank gilt Martin Gassner-Herz und Ulrike Bahr – noch einen Änderungsantrag eingebracht haben, der die Situation dieser jungen Menschen in den geförderten Ausbildungen berücksichtigt. Sie dürfen künftig von ihrem Ausbildungsgeld einen Freibetrag behalten, den sie nicht an das Jugendamt abgeben müssen.
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Doch auch das kann nur ein erster Schritt sein. Schließlich ist unser Ziel eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe.
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Dazu steht in dieser Legislaturperiode auch noch eine umfassende SGB-VIII-Reform an. Das ist der Anlass, die Schnittstellen der unterschiedlichen Sozialgesetzbücher zu bereinigen und somit die Kostenheranziehung für alle jungen Menschen in stationären Einrichtungen und Pflegefamilien komplett abzuschaffen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte zu dieser späten Stunde um Zustimmung zu diesem wichtigen Anliegen. Die jungen Menschen haben es verdient.
Vielen Dank.
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Dr. Hermann-Josef Tebroke und Ulrike Bahr geben ihre Reden zu Protokoll.
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Wir kommen daher zu Martin Reichardt für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stimmen heute über eine Gesetzesänderung ab, die schon lange überfällig ist: die Abschaffung der Kostenheranziehung für junge Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe. Die komplette Abschaffung dieser für die Betroffenen demotivierenden Kostenheranziehung hat die AfD bereits im Januar 2020 in einem Antrag gefordert.
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Im Juni 2021 hatte die letzte Bundesregierung dieses Kostgeld für Pflegekinder an den Staat von 75 Prozent auf 25 Prozent herabgesetzt. Auch diese Regelung vermittelte damals das falsche Signal, nämlich dass der Mehrwert zwischen Arbeit und Müßiggang oft nur ein minimaler ist, und das ist eben falsch.
Diese Regelung minderte auch das Engagement, den Fleiß und die Förderung der Eigeninitiative. Die Zahlen belegen, dass bis zu einem Drittel der Pflegekinder einige Jahre nach der Verselbstständigung immer noch nicht berufstätig ist. Die Pflegekinder sind zu einem hohen Prozentsatz gefährdet, später auf staatliche Sozialleistungen angewiesen zu sein. 75 Prozent der jungen Menschen, die in einer Pflegefamilie untergebracht waren, sind später Transferleistungsempfänger. Das ist in Deutschland leider so: Arm bleibt oft arm. Das gilt nicht nur für Pflegekinder, sondern das gilt leider auch für viele andere Kinder in Deutschland. Herkunft entscheidet immer noch über Zukunft von Kindern. Heute tragen wir mit der Zustimmung zu diesem Gesetz dazu bei, Pflegekindern das befriedigende Gefühl zu geben, dass sich Leistung in Deutschland lohnt.
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Die heutige Debatte zeigt aber auch, dass es in Deutschland zu oft Jahre dauert, bis notwendige Maßnahmen für Deutsche erfolgen. Die Aufnahme von Sozialtouristen aus der Ukraine, wie sie Herr Merz nannte, die in das deutsche Sozialsystem eingespeist wurden, ging ruck, zuck. Leider gilt in diesem Parlament und bei unserer Regierung allzu oft: Alle Welt zuerst, Deutschland zuletzt. – Das ist viel zu oft der Fall. Das werden wir ändern.
Vielen Dank.
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Martin Gassner-Herz gibt seine Rede zu Protokoll.
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Wir kommen zu Heidi Reichinnek für die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen vor allem der Ampel! Es kommt selten vor, aber ich muss sagen: Was Sie hier machen, das ist schon ziemlich gut.
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Es ist nicht perfekt, aber alles in allem können wir zustimmen.
Die vollständige Abschaffung der Kostenheranziehung in der Jugendhilfe ist nicht nur richtig, sondern lange überfällig. Dass Jugendliche, die in einer stationären Einrichtung, in einer Pflegefamilie oder in betreutem Wohnen untergebracht werden, dafür einen Teil ihrer Ausbildungsvergütung beispielsweise an das Jugendamt zahlen müssen, ist unfair und absurd: unnötiger Verwaltungsaufwand bei den Jugendämtern, Chaos bei der Auslegung der Rechtslage und in der Umsetzung, Zeitaufwand bei den pädagogischen Fachkräften zur Erklärung und Unterstützung und vor allem Frust und Enttäuschung bei den betroffenen Jugendlichen. Denen vermittelt die Kostenheranziehung nämlich schlicht: Dein Problem, dass du in der Jugendhilfe bist, und damit deine Verantwortung, das zu zahlen!
Ja, dass manche in der Debatte immer wieder einen pädagogischen Sinn als Argument angeführt haben, ist mir ebenso wie der Kollegin Loop komplett unverständlich. Denn mal ehrlich: Was soll die Kostenheranziehung jungen Menschen denn zeigen? Dass wir in einem Staat leben, der denen, die es schon schwer haben, noch mehr Steine in den Weg legt? Das ist leider genau so, aber wir könnten das einfach gemeinsam ändern, statt die Menschen dazu zu erziehen, sich schon in jungen Jahren mit so einer Politik abzufinden.
Es ist auch absolut richtig, dass Sie die im ursprünglichen Entwurf enthaltenen Ungerechtigkeiten zumindest korrigiert haben, die insbesondere Jugendliche mit Behinderungen betroffen hätten. Aber wir alle wissen: Beim Thema Inklusion und Jugendhilfe haben wir noch einiges zu tun. Ich freue mich daher sehr, dass wir das in dieser Wahlperiode noch angehen werden.
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Eines sage ich Ihnen zum Schluss: Die Abschaffung der Kostenheranziehung im Bereich der Jugendhilfe ist eine gute Initiative – das kann man gar nicht oft genug sagen –, die den Bund nichts kostet und deswegen auch recht leicht durchzuwinken ist. Um für Kinder und Jugendliche endlich etwas zum Positiven zu verändern, erwarte ich deutlich mehr, und zwar vor allem mehr Geld im Haushalt des Familienministeriums.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem einstimmig verabschiedeten Gesetz freue ich mich sehr, dass ich Ihnen heute ein weiteres wirklich gutes Gesetz vorlegen kann: die Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes. Es ist deswegen ein guter Gesetzentwurf, weil er erstens einen wirklichen Mehrwert mit sich bringt für die Gerechtigkeit, weil wir mit dieser Gesetzesänderung dafür sorgen, dass das Aufstellen von Trinkwasserbrunnen an öffentlichen Orten fester Bestandteil der öffentlichen Wasserversorgung wird. Damit schaffen wir Zugang zu Trinkwasser. Das ist zum Beispiel auch ein wichtiger Beitrag gerade für wohnungslose Menschen, damit auch sie Zugang zu frischem Trinkwasser haben. Meine Damen und Herren, wir stärken damit das Recht auf Zugang zu Trinkwasser.
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Gleichzeitig ist diese Gesetzesänderung zweitens ein wichtiger Beitrag zur Klimaanpassung. Gerade an Hitzetagen, gerade in Zeiten eskalierender Klimakrise, wo Dürreperioden, wo besonders heiße Tage immer häufiger werden, ist es ein wichtiger Beitrag zum Gesundheitsschutz, wenn im öffentlichen Raum Zugang zu Trinkwasser gewährt wird und man die Möglichkeit hat, sich an öffentlichen Trinkwasserbrunnen abzukühlen.
Drittens leisten wir mit dieser Gesetzesänderung einen Beitrag zum Wasserschutz, indem wir das Risikomanagement rund um Entnahmestellen für Trinkwasser stärken.
Viertens – ich darf den Berichterstatterkolleginnen und ‑kollegen von den Ampelfraktionen sehr danken – tragen wir mit einem Änderungsantrag zu einer weiteren Stärkung dieses Gesetzes bei, indem wir klarstellen, dass Trinkwasserbrunnen im Innen- und Außenbereich aufgestellt werden müssen. Das heißt, dass nicht nur der Trinkwasserspender im Bürgeramt zu den üblichen Geschäftszeiten des Rathauses zur Verfügung steht, sondern dass im öffentlichen Raum wirklich Zugang zu Trinkwasser gewährleistet wird. Wir nehmen auch noch einige gute Anregungen des Bundesrates auf.
Von daher kann man zusammenfassend sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein guter Beitrag für Mensch und Umwelt. Deswegen darf ich Sie bitten, diesem Gesetz zuzustimmen, und schenke uns den Rest der Redezeit.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes folgt Astrid Damerow für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser späten Stunde geht die Harmonie weiter. Nur, sehr geehrter Kollege Dr. Gesenhues, ich muss schon noch darauf hinweisen: Ja, es ist ein Gesetzentwurf der Bundesregierung – alles gut –, es geht aber auch um die Umsetzung der Trinkwasserrichtlinie, zu der wir verpflichtet sind.
Die Umsetzung der Trinkwasserrichtlinie wird in Zukunft sicherstellen, dass wir an öffentlichen Plätzen allgemein zugängliches Trinkwasser bereitstellen. Die Wichtigkeit sehen wir als Union ebenso. Für uns war aber auch genauso der Zusatz und der Hinweis in der Richtlinie wichtig, dass diese Umsetzung dann erfolgen soll, wenn sie durchführbar ist, wenn sie verhältnismäßig ist, wenn die örtlichen Gegebenheiten es zulassen und vor allem – das finde ich ganz wichtig vor dem Hintergrund des Klimawandels – wenn Klimawandel und Geografie das notwendig machen.
Seitens der einschlägigen Verbände, die dazu gehört wurden, gab es Änderungswünsche; der Städtetag hat sich dazu geäußert, aber nicht zuletzt auch der Bundesrat. Wir nehmen zur Kenntnis – das freut uns auch –, dass die Bundesregierung den Änderungswünschen des Bundesrates weitestgehend Rechnung getragen hat.
Die Umsetzung der Trinkwasserrichtlinie obliegt in letzter Konsequenz den Ländern und Kommunen. Es wird am Ende natürlich auch eine Frage der Finanzierung sein. Ich habe es im Ausschuss schon angesprochen: Wir können bei unseren selbstbewussten Kommunen sehr sicher sein, dass sie sich sofort melden werden, wenn es für sie finanziell problematisch wird. Dann werden wir das sicherlich hier erneut diskutieren müssen.
Abschließend möchte ich für meine Fraktion festhalten: Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Er erscheint uns verhältnismäßig. Es ist auch unsere Pflicht, die entsprechende EU-Richtlinie umzusetzen. Insofern: Zustimmung unsererseits, natürlich auch zu den Änderungsanträgen. Wir sind gespannt, wie das die Länder respektive unsere Kommunen dann auch umsetzen werden.
Vielen Dank.
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Helmut Kleebank gibt seine Rede zu Protokoll.
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Wir kommen zu Andreas Bleck von der AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Regierung sucht Lösungen für bestehende Probleme, eine schlechte Regierung sucht Probleme für bestehende Lösungen. Letzteres trifft auch auf die Europäische Kommission und die Bundesregierung zu. Beide meinen, ein Problem bei der öffentlichen Trinkwasserversorgung entdeckt zu haben. Dies mag zwar in einigen Mitgliedsaaten der Europäischen Union der Fall sein, nicht aber in Deutschland.
Fakt ist: 99,7 Prozent der Haushalte sind an die öffentlichen Trinkwasserversorgungen angeschlossen, 0,3 Prozent an sonstige Trinkwasserbrunnen. Mit der Novelle der Trinkwasserrichtlinie und des Wasserhaushaltsgesetzes verhalten sich die Europäische Kommission und die Bundesregierung jedoch anmaßend. Sie verletzten den Grundgedanken des Subsidiaritätsprinzips. „Was du von unten kannst erledigen, das verschiebe nicht nach oben“ – diesem Grundgedanken fühlt sich die Alternative für Deutschland zutiefst verpflichtet.
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In der Trinkwasserrichtlinie geht es eigentlich darum, den Zugang zu Trinkwasser für alle zu gewährleisten. Der Bau und Betrieb einer Trinkwasserversorgung im öffentlichen Raum, beispielsweise an Straßen und auf Plätzen, ist im europäischen Recht als Mittel zum Zweck zu betrachten. Allerdings hebt der Gesetzentwurf der Bundesregierung dies im nationalen Recht in den Rang der Daseinsvorsorge. Das, was die Kommunen bisher freiwillig getan haben, soll nun verpflichtend getan werden. Das ist völlig unnötig.
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Die Kommunen können den Bedarf einer Trinkwasserversorgung im öffentlichen Raum besser einschätzen als alle anderen; denn nirgendwo ist der Bürger dem Staat und der Staat dem Bürger näher als in den Kommunen. In einigen Kommunen gibt es eine Trinkwasserversorgung im öffentlichen Raum, in anderen Kommunen nicht. Das hat mitunter verschiedene, aber stets gute Gründe. Der Deutsche Bundestag täte also gut daran, den Kommunen nicht zu misstrauen, sondern zu vertrauen.
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Bezüglich des Gesetzentwurfs gibt es eigentlich nur zwei Annahmen: Entweder die Kommunen schätzen den Bedarf einer Trinkwasserversorgung im öffentlichen Raum richtig oder falsch ein. Schätzen Sie ihn richtig ein, braucht es diesen Gesetzentwurf nicht. Schätzen Sie ihn falsch ein, stellt dieser Gesetzentwurf ein Misstrauensvotum gegen die Kommunen dar. Streng genommen, ist dies sogar ein Misstrauensvotum gegen die Unterstützer des Gesetzentwurfs selbst; denn in den Kommunen sitzen vor allem Kommunalpolitiker mit rotem und schwarzem Parteibuch. Im Fußball, werte Kolleginnen und Kollegen, wäre das ein Eigentor.
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Jeder Gesetzentwurf sollte danach bewertet werden, ob er unserem Land und unseren Bürgern nutzt. Eine Trinkwasserversorgung im öffentlichen Raum zugunsten der Bürger und zulasten der Gebührenzahler ist irgendwie „linke Tasche, rechte Tasche“. Nach 16 Jahren Merkel-Regierung und einem Jahr Scholz-Regierung scheint der Bundestag einen Gesetzentwurf jedoch als zustimmungsfähig zu betrachten, wenn dieser zwar nicht nutzt, aber auch nicht schadet.
Wir wollen die Kommunen stärken. Die Europäische Kommission und die Bundesregierung denken beim Wasserschutz hingegen an ihren Wasserkopf. Den wollen wir schwächen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In zehn Tagen beginnt die Fußballweltmeisterschaft in Katar – ein Großereignis, auf das viele Fußballfans seit Monaten hinfiebern. Doch die Vorfreude auf das Sportereignis ist getrübt; denn Tausende Menschen sind auf den Baustellen der Fußballstadien ums Leben gekommen. Es gab zahlreiche Unfälle. Es gibt Menschen, die Verletzungen erlitten haben und ihr Leben lang die Folgen davontragen werden. Bei den Betroffenen handelt es sich vorrangig um Arbeitsmigranten, die in den meisten Fällen weder von Katar noch von ihrer Heimat eine Wiedergutmachung oder Unterstützung erwarten können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wahrheit ist: Sichere Arbeitsbedingungen sind in vielen Staaten nicht vorhanden. Um diese Lücke zu schließen, haben die Vereinten Nationen den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, den sogenannten UN-Sozialpakt, ins Leben gerufen. Der Pakt, der 1966 verabschiedet wurde und dem Deutschland 1973 beigetreten ist, zählt zu den wichtigsten Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen.
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Das Fakultativprotokoll, über das wir hier sprechen, ist eine Ergänzung dieses Paktes. Es soll diesen um wichtige Beschwerdeverfahren erweitern. Dadurch macht das Fakultativprotokoll wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte noch verbindlicher.
Vor dem Hintergrund unserer globalisierten Märkte kann die Bedeutung des UN-Sozialpaktes gar nicht hoch genug geschätzt werden, stellt er sich doch entschlossen gegen Menschenrechtsverletzungen, wie zum Beispiel Kinder- und Zwangsarbeit. Mit dem Lieferkettengesetz haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der letzten Legislaturperiode einen Meilenstein dafür gesetzt, Menschenrechte in globalen Lieferketten zu stärken.
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Die Umsetzung des Fakultativprotokolls geht in eine ähnliche Richtung.
Wer die Diskussion über das Fakultativprotokoll in der Vergangenheit verfolgt hat, weiß aber auch, dass es eine ungelöste Frage bei der Umsetzung in deutsches Recht gibt, nämlich die besondere Stellung der Beamtinnen und Beamten und das damit einhergehende Streikverbot. Hier besteht ein möglicher Widerspruch zwischen dem Pakt und unserem nationalen Recht. Zum Umgang mit diesem Spannungsfeld habe ich die Bundesregierung befragt, und ich erwarte, dass diese Frage geklärt wird, da wir hier verfassungsrechtliche Grundsätze berührt sehen.
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Ungeachtet dieser speziellen Rechtsfrage sendet die Ratifizierung des Fakultativprotokolls ein wichtiges Signal für das Völkerrecht und für einen starken internationalen Menschenrechtsschutz in einer Zeit, in der Menschenrechte an vielen Orten der Welt mit Füßen getreten werden. Seit gestern wissen wir: Wer im Iran auf die Straße geht und demonstriert, der unterschreibt damit sein Todesurteil. Polizei und Sondereinsatzkräfte haben in den letzten Wochen immer wieder mit scharfer Munition in die Menge von Demonstranten geschossen. Menschenrechtsorganisationen sprechen bereits von mehr als 300 Toten. Selbst wer sich nur solidarisch erklärt und die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier der Staatsgewalt. 14 000 Menschen wurden demnach bereits festgenommen, 2 000 Gerichtsverfahren laufen. Eine unabhängige Verteidigung haben die Angeklagten dabei vermutlich nicht.
Unsere grüne Außenministerin, Annalena Baerbock, die von Hause aus eher aus dem Völkerrecht kommt, wie wir seit dem Wahlkampf wissen,
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bleibt in dieser Frage erstaunlich still. Andere Länder sind da deutlich entschlossener. Während zum Beispiel Kanada zehntausend der iranischen Sicherheitskräfte auf Sanktionslisten gesetzt hat, sanktionieren Deutschland und die EU lediglich elf Personen und vier Organisationen.
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Jetzt sollen weitere 31 Personen und Institutionen folgen. Und dafür feiert sich unsere sogenannte fortschrittliche Ampelregierung, die sich erst nach tagelangem Schweigen überhaupt zu den Protesten im Iran geäußert hat.
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Das hat nicht nur wenig mit dem Anspruch einer feministischen Außenpolitik zu tun, das ist vor allen Dingen deutlich zu wenig.
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Das Gleiche gilt für Katar. Auch hier muss der politische Druck erhöht werden; denn es ist nicht ausreichend, wenn die sozialdemokratische Innenministerin Nancy Faeser in Katar den Reformwillen lobt, ohne notwendige Entschädigungen für die vielen Verletzten und betroffenen Familien anzumahnen. Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Katar dürfen nicht folgenlos bleiben. Umso wichtiger ist es, dass wir heute hier mit der Zustimmung zu diesem Protokoll signalisieren, dass wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern zum Völkerrecht stehen und uns für einen internationalen Menschenrechtsschutz einsetzen. Darum stimmen wir als Union diesem Gesetz zu.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf um die WSK- Rechte, denen ich mich besonders verbunden fühle, um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die gleichgestellt sind mit den bürgerlichen und den politischen Rechten. Es ist wichtig, zu betonen, dass das gleichwertige Rechte sind. Die Kollegin Klein hat das am Beispiel Katar betont. Das ist ein sehr gutes Beispiel; da wurden im Zusammenhang mit der Vorbereitung der WM die Menschenrechte tatsächlichen mit Füßen getreten. Das kann man nur laut und deutlich betonen.
Aber die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind auch in Deutschland teilweise immer mal wieder bedroht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt immer mal wieder den Finger in die Wunde, zum Beispiel, wenn es um die Lage der Obdachlosen geht, wenn es um das Recht auf Wohnen geht oder das Recht auf Gesundheitsversorgung. Diese Rechte sind nicht für alle Menschen, die in Deutschland leben, gewährleistet. Man muss an dieser Stelle das Deutsche Institut für Menschenrechte loben dafür, dass es auch die Situation in Deutschland immer mal wieder betrachtet und auf Fehlentwicklungen aufmerksam macht.
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Die Kollegin Klein hat es schon gesagt: Der Sozialpakt ist von 1966, das Fakultativprotokoll von 2008. Wir haben 2022, 14 Jahre später. Wir Grünen haben in verschiedenen Anträgen und Gesetzentwürfen – 2012, 2015, 2018 – die Ratifizierung des Protokolls gefordert. Es steht im Koalitionsvertrag, und die Ampel setzt das jetzt um. Das ist ein gutes Signal für die Menschenrechte in Deutschland.
Ebenfalls ein gutes Signal ist, dass die demokratischen Oppositionsfraktionen, Union und Linke,
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dem auch zustimmen, sodass ein breites Signal von diesem Haus ausgeht für die Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist René Springer für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurde schon erwähnt, worum es geht, nämlich um die Ratifikation des Fakultativprotokolls von 2008 – das ist schon einige Zeit her – zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
Mich irritiert, dass meine zwei Vorredner Bezug genommen haben auf Katar. Die Menschenrechte werden in Katar doch nicht dadurch geschützt, dass wir hier heute diesen Vertrag ratifizieren.
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Das liegt in den Händen Katars. Und Katar hat diesen Vertrag nicht ratifiziert. Ich würde mir wünschen, dass Sie den Leuten, die zuschauen, nicht so einen Unsinn erzählen würden. Das ist eine völlige Irreführung.
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Was soll mit diesem Fakultativprotokoll ermöglicht werden? Ein Beschwerdeverfahren wird eingerichtet für Individuen und Gruppen, die, nachdem der nationalstaatliche Rechtsweg erschöpft ist, die Möglichkeit haben, bei einem UN-Ausschuss Beschwerde einzulegen, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt fühlen. Einzelpersonen und Gruppen? Was sind Gruppen? NGOs, das ist doch klar. Das hier ist ein NGO-Gesetz. Hier geht es darum, dass wieder einmal für NGOs die Möglichkeit geschaffen wird, über internationale Organisationen den Angriff auf Nationalstaaten zu vollziehen. Das ist das eigentliche Ziel.
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– Wenigstens klatschen Sie ehrlich.
Wir als Alternative für Deutschland stellen immer zwei Fragen: Welchen Nutzen hat ein Gesetz, und welche Risiken gehen von einem Gesetz aus? Was ist der Nutzen? Im doppelten Sinne: keiner. Die Rechte, um die es hier geht, die ja festgelegt sind im Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1973 – da wurde er ratifiziert –, werden in Deutschland geschützt und gewahrt. Niemand hier im Raum würde behaupten, dass diese Rechte in Deutschland mit Füßen getreten werden.
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Also brauchen wir schon deshalb dieses Gesetz nicht. Darüber hinaus ist es Aufgabe des Gesetzgebers, da nachzuregeln, wo Regelungsbedarf besteht. Und der Gesetzgeber sind wir und nicht irgendeine internationale Organisation fernab unseres Staates.
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Darüber hinaus gehen von diesem Gesetz, wenn wir das ratifizieren, Risiken aus. Was passieren wird, ist, das NGOs Deutschland vor den Vereinten Nationen lächerlich machen, indem dort beispielsweise Rechtseinschränkungen thematisiert werden, die in dem Sinne gar keine Rechtseinschränkungen sind, wenn man es ernst meint. Ich sehe auch schon irgendwelche irren Gendervereine, die dann vor den Vereinten Nationen beklagen, dass es hier keine Toiletten für das vierte Geschlecht gibt.
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Das ist doch das, worauf dieses Gesetz hinausläuft. Genau das wollen wir nicht, wir wollen nicht, dass ein UN-Ausschuss darüber entscheidet, was hier Recht und Gesetz ist.
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Sie sagen: Das, was da passiert, ist ja eh nicht rechtsverbindlich, ist ja nur Soft Law. – Aber Fakt ist doch, dass Soft Law sehr schnell zu Hard Law wird,
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indem nämlich die nationalen Gerichte bei ihren Entscheidungen diese Entscheidung der nächsthöheren Ebene zur Auslegung mit heranziehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit wird es am Ende doch wieder nationales Recht,
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und das lehnen wir ab.
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Wir lehnen die links-grüne Agenda ab, die nur ein Ziel verfolgt: –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– den Nationalstaat und die Demokratie sturmreif zu schießen, über internationale Organisationen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für mich erfüllt sich natürlich ein großer Traum, wenn ich hier um kurz vor 2 Uhr zu einem so spannenden Thema wie Betriebsprüfungen eine Rede halten darf. Ich freue mich, dass so viele hier sind, die nicht unbedingt zum Arbeitskreis Finanzen gehören. Es ist ja vielleicht mal ganz interessant, das zu hören.
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Es geht in diesem Gesetzentwurf um eine Beschleunigung der Betriebsprüfungen und die Kooperation zwischen dem Finanzamt und dem steuerpflichtigen Betrieb. Zu Kooperation kann man in dem Gesetzentwurf nicht viel finden. Kooperation heißt für mich, dass beide Seiten aufeinander zugehen. Dazu kann man im Gesetzentwurf eigentlich nichts finden. Vielmehr geht es darum, dass die Finanzbehörden Regelungen festlegen, die die Steuerpflichtigen zu befolgen haben. Das ist, glaube ich, etwas anderes als Kooperation.
Ein großer Mangel ist aus meiner Sicht, dass versucht wird, mit dem Gesetzentwurf Regelungen zu treffen, die für Kleinunternehmen genauso wie für Konzerne gelten sollen. Für einen Konzern mit einer Steuerabteilung von hundert Mann sind diese Regelungen natürlich einfach umsetzbar. Für einen Kleinunternehmer – etwa den Betreiber eines Imbisses an der Ecke, der seine Buchhaltung nach Ladenschluss macht – ist vieles nicht umsetzbar.
Ich werde nächste Woche Gäste empfangen. Unter ihnen sind viele Kleinstunternehmer, auch mit Migrationshintergrund. Wenn ich ihnen erzähle: „Hört mal zu! Es gibt ein neues Gesetz, ihr müsste jetzt Schnittstellen für das Finanzamt bereitstellen; ansonsten ist eure Buchführung nicht mehr beweiskräftig und wird verworfen“, werden sie mich mit großen Augen anschauen und sagen: Was ist denn das wieder für ein Quatsch, den ihr da beschlossen habt! Das lässt sich doch gar nicht umsetzen.
Im Gesetzentwurf heißt es, dass zum „Mitwirkungsverzögerungsgeld“
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– allein der Begriff ist ein Bürokratiemonster – auch noch ein Zuschlag festgesetzt werden kann, insbesondere dann, wenn die Umsatzerlöse 12 Millionen Euro betragen haben. Wie kommen Sie auf die Grenze von 12 Millionen Euro? Eine solche Grenze gibt es überhaupt nicht. Bei der Definition von KMUs gibt es Schwellenwerte bei 2 Millionen, 10 Millionen und 50 Millionen Euro Umsatz. Wer hat sich diese 12‑Millionen-Grenze ausgedacht?
Der Antrag der CDU/CSU – schade, dass Sie nicht vortragen wollen – beschreibt die Praxis. Der Gesetzentwurf der Regierung enthält nur Theorie. Diese Theorie lehnen wir ab.
Vielen Dank.
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