Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/9/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die 19. Änderung des Atomgesetzes. Ich muss eingangs ganz klar sagen: Mir wäre es lieber, wenn diese Änderung des Atomgesetzes nicht erforderlich wäre. ({0}) Deutschland hat sich aus sehr guten Gründen entschlossen, aus der Atomkraft auszusteigen, und heute beraten wir darüber, dass wir den Atomausstieg angesichts der sehr schwierigen Lage auf dem Energiemarkt um dreieinhalb Monate nach hinten verschieben. Wir sehen uns dazu gezwungen, weil Russland in seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine versucht, mit seiner fossilen Erpressung die Unterstützung des demokratischen Europas für den ukrainischen Freiheitskampf zu schwächen, und weil das Abwürgen der Energiewende und der verhängnisvolle Pakt mit dem billigen Gas in 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierungen zu dieser fossilen Erpressbarkeit geführt haben. ({1}) Ich sage dazu ganz klar: Wir lassen uns nicht erpressen. Und: Atomkraft kann jetzt einen Beitrag dazu liefern, besser über den jetzt anstehenden Winter zu kommen – einen kleinen Beitrag, nicht mehr, nicht weniger. Gleichwohl wäre es absolut fahrlässig, in dieser Situation auf diesen Beitrag leichtfertig zu verzichten. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes dürfen drei Atomkraftwerke in Deutschland über den 31. Dezember 2022 hinaus bis spätestens zum 15. April 2023 Elektrizität erzeugen. Meine Damen und Herren, der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf macht andererseits aber auch absolut deutlich: Es muss beim Atomausstieg bleiben. ({2}) Atomenergie ist und bleibt gefährlich. Und: Ja, nichts ist ohne Risiko. Aber bei Atomkraft wären die Folgen eines Unfalls oder gar eines Angriffs so unglaublich verheerend, dass wir gerade jetzt da rausmüssen. Der Deutsche Bundestag hat 2011 abgewogen und beschlossen, dass dieses Restrisiko der Atomkraftnutzung noch bis zum 31. Dezember 2022 vertretbar ist. Zu der Zeit gab es eine Bundesregierung geführt von CDU/CSU und FDP. Die nötige Abwägung zwischen Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Energie und den Risiken für den Schutz der körperlichen Unversehrtheit unserer Bevölkerung ist gerade im Vergleich zu diesem Ausstiegsbeschluss von 2011 jetzt eigentlich viel klarer. Atomkraftwerke sind erstmals im Jahr 2022 zum Ziel eines Krieges geworden. Sie werden beschossen. Sie werden besetzt. Sie werden vom Stromnetz gekappt. Und wir erleben Angriffe und Sabotageakte auf die Energieinfrastruktur in Europa. Meine sehr geehrten Damen und Herren, deshalb ist es natürlich absolut richtig, dass die Bundesregierung, dass die Koalition in ihrer Abwägung zu dem Ergebnis kommt, dass wir zwar drei Kraftwerke noch einige Wochen länger laufen lassen, um möglichst sicher durch den Winter zu kommen, dass aber vor allem mit dieser Gesetzesnovelle klargestellt wird, dass es beim Atomausstieg in Deutschland bleibt. Punkt! ({3}) Um das vorwegzunehmen: Es wäre natürlich aus den genannten Gründen absolut falsch, die AKW einfach weiterlaufen zu lassen, auch nur über den Winter 2023/24 hinaus. Ein preisdämpfender Aspekt bei einer Laufzeitverlängerung wäre, wenn überhaupt, absolut überschaubar, bereits die technische Realisierbarkeit wäre zweifelhaft, Fragen der Sicherheit ohne Sicherheitsrabatt wären kaum zu beantworten. Grundlegende Aspekte der Haftung, grundlegende Aspekte der Rolle des Staates müssten neu verhandelt werden. Nicht zuletzt haben die Betreiber ihre Skepsis mehrfach zu Protokoll gegeben. Deshalb, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Ihr Werben für eine echte Laufzeitverlängerung wäre glaubwürdiger, wenn Sie nicht bereits vor dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine genau diese Debatte begonnen hätten – vor dem Angriffskrieg. ({4}) Mit Ihren Atomträumen versuchen Sie, tatsächlich eine Entscheidung, die Sie unter der von Frau Merkel geführten Bundesregierung getroffen haben und die Teile von Ihnen nie verschmerzt haben, zurückzunehmen und in dieser Situation, wo unser Land vor einer potenziellen Krise steht, diese Debatte erneut anzuheizen, ({5}) nachdem Sie uns, unserem Land und der Sicherheit in unserem Land mit Ihrer damaligen Abkehr vom Atomausstieg und wenige Monate später dem Ausstieg vom Ausstieg einen Bärendienst erwiesen haben. Diesen Schmerz jetzt in dieser Krise noch zu verarbeiten, halte ich für verantwortungslos. ({6}) Die Abhängigkeit Europas und der gesamten Welt von russischem und kasachischem Uran ist nicht minder ausgeprägt als die von Gas – von der Abhängigkeit von russischer Atomtechnologie ganz zu schweigen. Wir sehen mit Bedauern, wie unsere osteuropäischen Nachbarn versuchen müssen, sich aus dem Klammergriff von Rosatom zu entwinden, und dass es Gründe hat, dass die nukleare Versorgung immer noch nicht vom europäischen Sanktionsregime erfasst ist. All diese Gründe führen dazu – die Endlagerfrage kommt noch dazu –, dass wir Generationen unserer Kinder, Enkel, Ururenkel den Atommüll überlassen, während bisher weltweit kein einziges Endlager in Betrieb befindlich ist. All diese Probleme, all diese völlig ungelösten Fragen und vor allem eine notwendige neue Sicherheitsbewertung von Atomkraft nach dem Angriffskrieg Russlands, der Atomkraftwerke in der Ukraine mit erfasst hat, führen dazu: Wir bleiben beim Atomausstieg. Atomkraft ist nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Anja Weisgerber. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, mit Ihrer Politik verspielen Sie das Vertrauen der Menschen in unserem Land. Das Thema Kernenergie macht das ganz besonders deutlich. ({0}) Warum sage ich das? Dazu drei Punkte. Erstens. Wirtschaftsminister Habeck hat zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine eine ergebnisoffene Prüfung der Nutzung der Kernenergie versprochen. Die Mär von einer ergebnisoffenen und ideologiefreien Prüfung nimmt Ihnen spätestens nach den letzten Enthüllungen keiner mehr ab, Frau Ministerin. ({1}) Frau Lemke und Herr Habeck hatten nie vor, das Potenzial unserer Kernkraftwerke in einer Gesamtstrategie jetzt in der Krise – ja, ich sage ganz bewusst: jetzt in der Krise – für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung unseres Lands wirklich miteinzubeziehen. Die Aspekte „Was ist am besten für unser Klima?“, „Was ist am besten für die Strompreisentwicklung?“ waren doch gar nicht wirklich Teil dieser Prüfung. Sehr geehrte Frau Ministerin, das geht so nicht. Aus meiner Sicht wäre eine Entschuldigung bei den Menschen in unserem Land jetzt angebracht. ({2}) Zweiter Punkt. Sie negieren weiterhin hartnäckig die möglichen preisdämpfenden Effekte einer nicht nur dreieinhalb Monate dauernden, sondern weiter reichenden Laufzeitverlängerung. Frau Professor Veronika Grimm, andere Ökonomen, auch der Energiekonzern EnBW, der von einer grün geführten Landesregierung kontrolliert wird, sagen es eindeutig: Für 2024 ließe sich der Strompreis unter bestimmten Voraussetzungen um bis zu 12, 13 Prozent senken. ({3}) Die Experten sagen: Wir brauchen dringend, auch 2023 und 2024, ein breiteres Energieangebot, um die Preissteigerungen beim Strom zu dämpfen. – Die 0,8 Prozent, Herr Vorsitzender des Umweltausschusses, die vorhin von den Experten genannt wurden, beziehen sich nur auf die dreieinhalb Monate Streckbetrieb. Ich rede von den zwei Jahren, die wir vorschlagen.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Dr. Weisgerber, gestatten Sie eine Zwischenbemerkung oder Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde jetzt gerne fortfahren.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Okay.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit einem Streckbetrieb der drei derzeit noch laufenden Kernkraftwerke für nur dreieinhalb Monate erreichen Sie letztendlich viel zu wenig. Wir brauchen stattdessen einen Weiterbetrieb bis mindestens Ende 2024, so wie wir es vorschlagen, und natürlich frische Brennelemente. ({0}) Frau Lemke, Frau Ministerin – Sie sind Verbraucherschutzministerin –, warum lassen Sie die Verbraucherinnen und Verbraucher so im Regen stehen und nehmen diesen einfachen Preisdämpfungseffekt für die kommenden Jahre nicht mit? Sie tun nicht das, was jetzt in der Krise – ich betone: jetzt in der Krise; es ist kein Ausstieg aus dem Ausstieg – angezeigt ist, und verspielen noch mehr Vertrauen. Das ist nicht das, was unser Land jetzt braucht, Frau Ministerin. ({1}) Dritter Punkt. Mit Ihrem Gesetzentwurf suggerieren Sie, dass die Energiekrise, die Stromkrise im April nächsten Jahres beendet sein wird – schön wär’s. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit wird das genau so eben nicht kommen. Es ist eine Irreführung der Bürgerinnen und Bürger, wenn Herr Kubicki – das geht an die Adresse der FDP – sagt, dass er sich sicher sei, dass wir im Frühjahr nächsten Jahres das Thema Kernenergie neu diskutieren werden; denn im Unterschied zum Streckbetrieb brauchen wir dann Ende April 2023 eben neue Brennelemente. Ohne neue Brennelemente wird es im nächsten Jahr einfach nicht weitergehen. Wenn wir jetzt keine neuen Brennelemente bestellen, verschenken wir weitere sechs Monate. Das heißt im Klartext: So wie Sie das Gesetz jetzt konzipiert haben, ist das Thema Kernenergie im April 2023 durch, und zwar egal, ob wir im nächsten Jahr Engpässe haben oder nicht. Das ist Murks, meine Damen und Herren. Das ist Politik ohne Weitsicht. ({2}) Was wäre die Lösung? Ganz einfach: eine Überprüfungsklausel, um im Laufe des nächsten Jahres zu entscheiden, welche Kernkraftwerkskapazitäten angesichts der Versorgungssicherheit und der Strompreisentwicklung benötigt werden. Haben Sie dazu in Ihrem Gesetzentwurf eine entsprechende Klausel vorgesehen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP? Natürlich nicht. Unser Gesetzentwurf sieht eine solche Überprüfungsklausel vor. Am Freitag haben Sie die Chance, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich fordere Sie auf: Beginnen Sie endlich mit einer pragmatischen, der Krise angemessenen und vor allen Dingen weitsichtigen Politik. Unser Land braucht weniger Ideologie und mehr Verantwortungsbewusstsein. ({3}) Nur so können wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Vielen Dank. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Jakob Blankenburg. ({0})

Jakob Blankenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005025, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung über den von der Ampelkoalition vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes. Dieser sieht vor, dass die drei Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland erst am 15. April 2023 und nicht, wie ursprünglich geplant, Ende dieses Jahres vom Netz gehen. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP strebt also an, Atomkraftwerke dreieinhalb Monate länger am Netz zu lassen als ursprünglich geplant – ein durchaus bemerkenswerter Schritt, ein Schritt, der vor einem Jahr für mich als frisch gewählten Abgeordneten unter anderem für das Wendland, die Keimzelle des Anti-AKW-Protests in Deutschland, vollkommen unvorstellbar gewesen wäre. ({0}) Zu lange musste im Wendland und in vielen anderen Ecken Deutschlands auf der Straße für den Atomausstieg gekämpft werden, genauso wie hier im Bundestag, vor allen auf der linken Seite des Hauses. Heute stehe ich vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und sage: Es ist richtig, dass wir die Änderung des Atomgesetzes auf den Weg bringen. Die Situation im November 2022 unterscheidet sich fundamental von der im November 2021: Wir leben in Zeiten eines abscheulichen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine. Russland führt diesen Krieg auf ukrainischem Boden gegen das ukrainische Volk, und Russland führt einen Energiekrieg, der Deutschland und viele andere Länder trifft. Die Unterbrechung der russischen Erdgaslieferungen kommt zusammen mit einem unzureichenden Ausbau der Windkraft und der Stromnetze, gerade in Süddeutschland – wir haben es in den Zwischenrufen gerade eben zu Recht gehört –, und dem Ausfall eines substanziellen Anteils der französischen Kernkraftwerke. Das hat die Lage auf den Energiemärkten weiter verschärft. Diese angespannte Energieversorgungssituation ist der Grund, warum wir hier heute die Änderung des Atomgesetzes diskutieren. Der Stresstest der vier Übertragungsnetzbetreiber hat gezeigt, dass wir im kommenden Winter im schlimmsten – ich wiederhole: im schlimmsten – Szenario temporäre regionale Stromausfälle – und keine Blackouts, wie immer wieder von der rechten Seite des Hauses glaubhaft gemacht wird – ({1}) in Deutschland nicht komplett ausschließen können, und das trotz der zahlreichen Maßnahmen, die durch die Bundesregierung bereits getroffen wurden. Deshalb gehen wir nun diesen Schritt des Weiterbetriebs der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke für die kommenden Wintermonate. Was der SPD-Bundestagsfraktion und mir dabei besonders wichtig war: Dieser Weiterbetrieb erfolgt als Streckbetrieb. Es werden keine neuen Brennstäbe gekauft. ({2}) Stattdessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden die bereits in den AKW genutzten Brennstäbe so neu konfiguriert, dass sie noch für einen etwas längeren Zeitraum Energie liefern können. Wir schöpfen die bereits bestehenden Energiequellen also voll aus. Das ist das, was wir in der besonders angespannten Energiesituation brauchen. Was wir mit dem Gesetzentwurf nicht tun, ist das, was Sie von der Opposition fordern und was ja auch koalitionsintern in den letzten Monaten intensiv diskutiert wurde: Wir kündigen den Atomausstieg nicht auf. ({3}) Wir halten an dem fest, liebe Kolleginnen und Kollegen, worum jahrzehntelang gerungen wurde und was 2011 in diesem Hohen Hause mit sehr breiter Mehrheit beschlossen wurde, übrigens auch von Ihrer Fraktion, sehr geehrte Frau Weisgerber: dem Ende der Hochrisikotechnologie Atomkraft. ({4}) Das ist wichtig; denn das, was 2011 galt, gilt auch heute, elf Jahre später. Punkt eins. Atomkraft ist für den Menschen nicht beherrschbar und birgt gewaltige Sicherheitsrisiken. Das haben wir 1986 in Tschernobyl erlebt, 2011 in Fukushima und auch jetzt, im Jahr 2022, mit den gezielten Angriffen auf ukrainische Atomkraftwerke wie das in Saporischschja. Menschliches Versagen, Naturkatastrophen, kriegerische Angriffe – sie alle können zu nuklearen Zwischenfällen von gewaltigem Ausmaß führen und damit Menschenleben zerstören und die Natur für Jahrzehnte oder Jahrhunderte unwirtlich machen. Selbst wenn die Nutzung der Atomenergie ohne Störfälle gelingt, dann bleibt immer noch Punkt zwei: die Frage der sicheren Endlagerung der hochradioaktiven Hinterlassenschaften der Nutzung der Atomenergie. Sie ist weiter ungeklärt. Jeden Tag, an dem wir die Atomenergie weiter nutzen, produzieren wir mehr Abfälle, von denen wir bis heute nicht wissen, wohin, und das ist eine gewaltige Bürde für die nachkommenden Generationen. ({5}) Damit komme ich zu Punkt drei. Atomenergie ist teuer, auch wenn Sie als Vertreter/-innen der Opposition uns immer wieder etwas anderes glauben machen wollen. Wir haben es gerade eben in der Anhörung im Umweltausschuss gehört: Atomenergie ist die teuerste der Energieformen. Sie ist deutlich teurer als Strom aus den Erneuerbaren, ({6}) und allein die Zwischen- und Endlagerung – das müssen Sie sich bewusst machen – der radioaktiven Abfälle verschlingt mehr als 1 Milliarde Euro jedes Jahr. ({7}) Diese Punkte haben 2011 den Ausschlag für die politische Entscheidung gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gegeben. Mit dieser Entscheidung wurde ein gesellschaftlicher Konflikt befriedet, und es wurde die Basis für ein strukturiertes Verfahren der Endlagersuche geschaffen. ({8}) An diesem im Standortauswahlgesetz festgelegten Verfahren müssen wir festhalten, statt mit immer wiederkehrenden Debatten um eine Renaissance der Atomkraft Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Atomausstiegs zu nähren. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einen Schlussstrich unter diese Debatte ziehen! Genau das machen wir mit dieser Änderung des Atomgesetzes. Die Debatte lenkt von den wirklich wichtigen Fragen ab. Wir müssen jetzt unter Hochdruck am Umbau unserer Energieversorgung hin zu Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit arbeiten, und Atomenergie ist dafür definitiv nicht die Lösung. ({10}) Wir brauchen stattdessen mehr Strom und Wärme aus Erneuerbaren, und wir brauchen Übertragungsnetze, damit der Strom auch dahin gelangt, wo er gebraucht wird. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese Vorhaben gelingen, statt Zeit mit den Debatten der Vergangenheit zu verschwenden! Vielen Dank. ({11})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kollegen! „Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen“ – Zitat Ende. So argumentiert das BMUV in seinem Prüfvermerk vom März, und selten lag eine Einschätzung so weit neben der Realität wie dieser Offenbarungseid aus dem Hause von Ministerin Lemke. ({0}) Obwohl also der jetzige Gesetzentwurf in Sachen der drei weiterlaufenden Kernkraftwerke das BMUV fachlich komplett vorführt, so ist er dennoch energiepolitisch vollkommen unzureichend, um der Energienotlage, in der sich dieses Land befindet, gerecht zu werden. Zu wenig und zu spät – das fasst sehr gut das bisherige Krisenmanagement der Bundesregierung zusammen. Nur scheibchenweise und unter enormem Druck der Bürger und Unternehmen, die am Ende die Zeche der energiepolitischen Inkompetenz der Regierung zu zahlen haben werden, ist diese Regierung des Aussitzens gewillt, den notwendigen Realitäten ins Auge zu schauen. ({1}) Erstens. Dieses Land hat ein Energieproblem. Und es ist nicht die Frage „Strom oder Gas?“, wie es der Herr Minister schon öfter gesagt hat; es sind sowohl Strom als auch Gas, die uns fehlen. ({2}) Strom und Gas – zweitens – werden jetzt benötigt. Wir müssen beim Thema Strom etwas tun, durch Maßnahmen, die kurzfristig wirken und nicht in einer fernen, irgendwann absehbaren Zukunft. Ankündigungen zum verstärkten Ausbau unzuverlässiger Wind- und Solarenergie sowie die Absicht, vielleicht irgendwann irgendwas mit Wasserstoff zu machen, sind bestenfalls Nebelkerzen in der entscheidenden Frage, wie wir durch diesen und den nächsten Winter kommen werden. Viel wahrscheinlicher ist es allerdings, dass wir hierbei Ressourcen verschwenden, die wir dann in diesen beiden Wintern dringend benötigt hätten. Eine dieser verschwendeten Ressourcen sind die drei noch laufenden Kernkraftwerke – sowohl die Union als auch die AfD haben vollkommen richtige Gesetzentwürfe präsentiert –; ({3}) die sind noch mindestens zwei Jahre unter Volllast an der Energieerzeugung in Deutschland zu beteiligen – voll abgeschriebene Kraftwerke mit geschätzten Gestehungskosten von um die 3 Cent die Kilowattstunde. ({4}) – Weil Sie gerade „Atommüll“ sagen: Wir hatten gerade die Anhörung. Sie waren ja leider nicht da. Auf dieses halbe bis 1 Prozent mehr kommt es am Ende überhaupt nicht an. ({5}) Es kommt auf dieses Prozent nicht mehr an. Der Entwurf der Bundesregierung will nun diese 4 Gigawatt an zuverlässiger Leistung in die Reserve verbannen und hofft gleichzeitig auf gutes Wetter und einen warmen Winter, damit wir gut durch den Winter kommen. ({6}) Das muss man sich mal vorstellen. ({7}) Die Verlierer dieses Postenspiels stehen auch schon fest: Es sind die Stromkunden und Steuerzahler. Um mindestens 4 Prozent könnte der Strompreis sinken, wenn die Kernkraftwerke weiterlaufen würden – so das renommierte ifo-Institut. Höhere Zahlen sind von der Kollegin hier genannt worden. Aber was scheren diese Bundesregierung schon 4 Prozent niedrigere Stromkosten? ({8}) Es ist ja nur das Geld der Wähler und Steuerzahler. Das ist Ihnen doch komplett egal. Dafür, dass deutsche Familien 4 Prozent weniger beim Strom bezahlen, tritt kein grüner Minister vor seine Leute, vor seine Parteimitglieder, und räumt alle diese grünen Lebenslügen weg. Für 4 Prozent niedrigere Stromkosten für kleine und mittlere Unternehmen stellt sich kein FDP-Minister hin und verzichtet auf seine Privilegien oder beendet diese irrlichternde Geisterfahrerkoalition. ({9}) Und um 4 Prozent reduzierte Stromkosten sind auch nichts, um die SPD aus ihrem Phlegma aufzuwecken. Hauptsache, die Koalition hält bis 2025, und wenn man dazu in der Frage der Kernkraft die Wähler, allen voran diejenigen in Niedersachsen, anlügen muss – komplett anlügen muss –: komplett egal. ({10}) Dass die Koalition in dieser Frage falschliegt, zeigt ein Blick in die Nachbarländer – ja, Kernenergie, Freiheit, Renaissance, allen Unkenrufen zum Trotz –: ({11}) Polen will einsteigen, Frankreich und Schweden verkünden den Bau neuer Kraftwerke, Belgien verschiebt erneut den Ausstieg. Die Liste der Nutzer ist lang, und sie alle haben etwas gemeinsam: Sie sorgen für preiswerte und zuverlässige Stromversorgung ihrer Länder, ({12}) und damit machen sich diese Länder energiesouverän und koppeln sich auch von den unzuverlässigen Stromversorgungen Deutschlands ab. Und weil diese Länder in Zukunft zuverlässig Strom haben, werden sie dann auch mit sattem Gewinn Deutschland mit Strom versorgen können. ({13}) Dazu sage ich: Gott sei Dank! Denn hier regiert eine mit dem Thema Energieversorgung komplett überforderte Bundesregierung, die das eben nicht kann. ({14})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Carina Konrad. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Jede Kilowattstunde zählt!“, mit dieser Botschaft, mit diesem Appell hat sich der Bundeswirtschaftsminister im Juni an die Menschen gewandt. Dieser Einsparappell ist auch bis heute richtig. Jeder Beitrag zur Bewältigung der Krise macht einen Unterschied. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine ist auch zu einem Energiekrieg gegen Europa geworden, und er hat uns besonders stark getroffen. Er höhlt das Fundament aus, auf das wir alle in den letzten Jahren und Jahrzehnten gebaut haben. ({0}) Diese Sabotage von Frieden, von Freiheit und von Wohlstand darf Putin nicht gelingen. Wir kämpfen hier Tag für Tag dafür, dass sie Putin nicht gelingt. ({1}) Haben wir wirklich schon alles getan? Diese Frage stelle ich mir jeden Tag neu. Die Menschen überprüfen sich auch alle jeden Tag, sie sparen Energie und leisten entscheidende Beiträge. Das ist anstrengend, und das ist auch unbequem. Ich habe mit einer Familie gesprochen, die den ganzen Oktober nicht geheizt hat. ({2}) Bei uns im Mittelgebirge in Rheinland-Pfalz war es nachts manchmal schon ganz schön kalt. So ein Verzicht ist unbequem, aber er ist machbar. ({3}) Tagtäglich senden jetzt aber Unternehmen unterschiedlichster Branchen Notrufe an uns: Stellenabbau, Produktionseinschränkungen, Produktionsabbau. Sogar die Standortfrage wird immer öfter offen gestellt. Menschen und Unternehmen sind angesichts der enormen finanziellen Herausforderungen überlastet. ({4}) Diese Krise geht an unsere Substanz. Wir als Parlament tragen die Verantwortung dafür, in dieser schwierigen Zeit die richtigen Antworten zu finden. ({5}) Und das tun wir. Wir können entlasten. Das haben wir mit drei Entlastungspaketen getan. Doch wir können diese Krise nicht wegsubventionieren; das funktioniert nicht. Wir müssen auch die Energieversorgung sichern. ({6}) Eine sichere, saubere und bezahlbare Versorgung mit Energie ist überlebensnotwendig für Menschen und Wirtschaft in unserem Land. ({7}) Dafür ändern wir in dieser Woche auch das Atomgesetz. ({8}) Das ist eine Frage der Vernunft. Diese Entscheidung ist unumgänglich geworden. Mit der Laufzeitverlängerung der drei sicheren und klimaneutralen Kernkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 wird die Stromversorgung über den Winter stabilisiert. ({9}) Natürlich war der Weg bis hierhin nicht einfach. Wer hätte denn ernsthaft im letzten Jahr gedacht, dass es eine Ampel ist, die die Laufzeitverlängerung von drei Kernkraftwerken beschließt? ({10}) Ich bin dankbar, dass unsere Koalitionspartner diesen Weg mit uns gehen. ({11}) Und ich bin auch Olaf Scholz dankbar: für seinen Mut, den Menschen in unserem Land mit seiner Entscheidung Stabilität zu geben; ({12}) denn wir haben nicht nur einen Stresstest bei den Kraftwerken durchgeführt. Machen wir uns ehrlich. Der Energiestresstest wurde für diesen Winter durchgeführt, und er hat gezeigt, dass uns Netzengpässe und schwierige Versorgungssituationen bevorstehen können. Um das zu verhindern, ist diese Entscheidung, diese Laufzeitverlängerung richtig. Doch diese Krise ist auch ein Stresstest für unsere Gesellschaft. Viele Menschen müssen die Komfortzone verlassen, ({13}) und sie erwarten zu Recht, dass auch die Politik alle notwendigen Entscheidungen trifft, um das Energieangebot zu sichern und auszudehnen. ({14}) Übrigens zeigen uns die Reaktionen bei Gas- und Strompreisen aktuell, dass wir auf dem richtigen Weg sind mit den Maßnahmen, die wir ergreifen. Das ist ein zentrales Signal zur Entspannung. Auch deshalb ist die Entscheidung, die wir heute treffen, richtig. ({15}) Auch Europa stresst diese Energiekrise. Wir sind eingebunden in den europäischen Energiemarkt. Da hilft man sich gegenseitig, und da ist man auch voneinander abhängig. Jedes Land muss deshalb auch seinen Beitrag dazu leisten, Energie zu sichern und Netze zu entlasten. ({16}) Auch deshalb ist diese Laufzeitverlängerung richtig. Mit der Verlängerung der Laufzeiten entspannen wir die Energiesituation für diesen Winter. Wir entlasten die angespannte Gesellschaft, und wir entspannen auch unsere Beziehungen zu den europäischen Nachbarn. ({17}) Doch nach diesem Winter – da haben Sie ja recht – kommt garantiert wieder ein Winter. ({18}) Man muss kein Prophet sein, um auch heute schon sagen zu können, dass auch dann die Frage der Energieversorgung zentral sein muss. Deshalb müssen auch heute schon alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden, ({19}) um über den nächsten Winter hinaus die richtigen Antworten zu geben. ({20}) Ich kann Ihnen für die FDP-Fraktion versprechen, dass wir dabei weiter genauso konstruktiv, aber auch genauso deutlich sein werden wie bisher. ({21}) Ein nachhaltiger Wohlstandsverlust und eine nachhaltige Destabilisierung unserer wirtschaftlichen Grundlage und unseres Zusammenlebens in Sicherheit und Freiheit stehen auf dem Spiel. Das ist doch genau das Ziel, was Putin verfolgt. Dieses Ziel darf er nicht erreichen. ({22}) Wir Freien Demokraten werden nicht zulassen, dass das Fundament unseres Zusammenlebens ausgehöhlt wird. Wir müssen diesen Stresstest hier wohl oder übel gemeinsam bestehen. Dafür werden wir gemeinsam miteinander ringen, und wir werden auch weiter streiten. Doch am Ende müssen Entscheidungen getroffen werden; denn unsere Aufgabe ist es, Frieden, Freiheit und Wohlstand zu beschützen, und das heute und auch für die Zukunft. Unser gesellschaftliches und unser wirtschaftliches Fundament ist auf eine sichere, auf eine saubere und auch auf eine bezahlbare Energieversorgung gebaut. Dieses Fundament braucht Stabilität, und dafür zählt jede Kilowattstunde. Deshalb bitte ich um breite Zustimmung in dieser Woche zu diesem Gesetz. ({23}) Vielen Dank. ({24})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Letzte Woche trat in Frankreich aus dem Leck eines Reaktors Radioaktivität aus. Zum Glück blieb die Radioaktivität im Reaktorgebäude. Dieser Reaktor ist 34 Jahre alt, und schon versagt das Material. ({0}) Wer denkt, dies wäre ein Einzelfall, den muss ich enttäuschen. In Frankreich ist zurzeit etwa die Hälfte der 56 Atomreaktoren wegen ähnlicher Materialprobleme außer Betrieb. Die deutschen Atomkraftwerke haben das gleiche Alter. Seit Monaten weise ich Sie auf die Probleme mit Atomkraftwerken hin, lege Ihnen die realen Gefahren von Atomkraftwerken dar. Das können Sie in meinen Reden nachverfolgen. Aber Sie, die Atomkraftlobbyisten in der Ampel, der Union und der AfD, blenden die unangenehmen Wahrheiten zur Atomkraft aus. Doch diese müssten in jede Abwägung einbezogen werden. Ihre Hauptbegründung für eine Laufzeitverlängerung ist Energieknappheit in diesem Winter. Im Frühjahr sah es auch danach aus. Aber durch die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken im Herbst ist die Energieversorgung technisch sichergestellt. Um eines klarzustellen: Es ärgert mich, dass vorübergehend Kohlekraftwerke wieder laufen müssen. Aber in dieser Situation ist mir Kohlestrom lieber, als mit den Risiken der Atomkraft leben zu müssen. ({1}) Die Koalition begründet ihre Entscheidung mit dem Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber. Aber wir haben kein Erzeugungsproblem in der Stromversorgung, sondern ein politisches Problem. Künstlicher Wettbewerb mit starren Regularien und Börsenspekulationen drängen uns den Atomstrom auf. Ich wiederhole es bewusst noch einmal: Wir brauchen keinen Atomstrom, um durch den Winter zu kommen. ({2}) Es wäre eigentlich ganz einfach: Teilen Sie Deutschland in zwei Stromhandelszonen, ({3}) dann dürfen die süddeutschen Kraftwerke ständig Strom liefern. Auch bei viel Windkraft im Norden werden sie dann nicht aus regulatorischen Gründen abgeschaltet. Um es Ihnen noch mal klar zu erläutern: Die Mangellage in Deutschland besteht nicht, wenn wenig Wind weht. ({4}) Die Mangellage besteht, wenn in Norddeutschland viel Wind ist, dann der Strom nicht nach Bayern geliefert werden kann, in Bayern aber wegen des Überangebots an Windstrom im Norden Gas- und Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. An solch einem Schwachsinn festzuhalten, ist falsch. ({5}) Und dann die Atomkraftwerke als Ersatz in die Waagschale zu werfen, ist der völlig falsche Weg. Das lehnen wir als Linke ab. ({6}) Im Übrigen: Wenn Sie diesem Vorschlag der Stromhandelszonentrennung folgen, dann brauchen Sie auch nicht 16 Milliarden Euro für die Mehrkosten zu bezahlen, die durch die einheitliche Stromhandelszone ausgelöst wurden. Die Laufzeitverlängerung löst keine Probleme, sondern schafft neue. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helmut Kleebank. ({0})

Helmut Kleebank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005105, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einigen Monaten diskutieren wir den Weiterbetrieb, die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Ich will noch mal kurz die Ursachen für diese Debatte aufzählen: Es ist in erster Linie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Es ist mit Sicherheit an zweiter Stelle das ausbleibende Gas aus Russland, wohlgemerkt kein Embargo, sondern das einseitige Abdrehen der Gaslieferungen durch Putin. Es ist der fehlende Ausbau der erneuerbaren Energien ({0}) im Süden unserer Republik durch die bayerische Landesregierung ebenso wie quasi der Boykott des Netzausbaus, mindestens genauso wichtig wie der fehlende Windkraftausbau. Und es ist natürlich auch – auch das wurde schon gesagt – der Ausfall der Atomkraftwerke in Frankreich. An dieser Stelle: Hier wurde von einer Renaissance der AKW international gesprochen. Wir hatten gerade in der Anhörung ein interessantes Ergebnis: International betrachtet ist gerade das Gegenteil der Fall, weil der internationale Kraftwerkspark der AKW schneller altert, als Ausbaupläne der entsprechenden Staaten vorhanden sind. Das heißt, es passiert statt einer Renaissance de facto ein schleichender Ausstieg aus der Atomenergie, also das komplette Gegenteil. ({1}) Positiv am vorliegenden Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht auf jeden Fall, dass es sich gerade nicht um eine Notreserve, sondern es sich um einen regulären, geregelten, auf absehbare Zeit festgelegten, steuerbaren, vorbereitbaren Streckbetrieb handelt, also nicht um irgendeine Konstellation nach dem Motto: Gehen wir mal schnell mit ein paar AKW ans Netz. – Das kann nicht funktionieren. Insofern: Völlig richtig, dass wir das hier so machen. Ausgangspunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, war der hier schon mehrfach angesprochene zweite Stresstest. Und es ist eben nicht so, Herr Lenkert, dass alles zu 100 Prozent gesichert ist, sondern der Test hat eindeutig ergeben, dass es ein gewisses, wenn auch kleines Leistungsrisiko für ein paar Stunden gibt. ({2}) Es ist auch klar, dass die Atomkraftwerke, die wir in den Streckbetrieb geben werden, dieses Risiko leider nur zum Teil auffangen werden. Es besteht also ein Risiko. Ich persönlich bin überzeugt, dass dieser Fall nicht eintreten wird, weil eben auch unsere anderen Maßnahmen zum Tragen kommen. Der Preiseffekt, über den geredet worden ist – auch das hat die Anhörung ergeben –, ist höchst spekulativ. Die Spannbreite, die da berechnet worden ist – je nachdem, welches Szenario angenommen worden ist –, zeigt aber eines: Der Preiseffekt, den wir damit erzielen würden, insbesondere auch bei einem Betrieb bis Ende 2024, ist so gering, dass er weit hinter dem zurückbleibt, was wir an Entlastungspaketen geschnürt haben, und auch weit hinter dem zurückbleibt, was mit der Strompreisbremse erreicht werden wird. Insofern ist es völlig richtig, den Weg, den Sie vorschlagen, nicht zu gehen. ({3}) Es ist klar: Der Streckbetrieb der Atomkraftwerke ist nur ein Baustein, um zu einer Energiesicherheit in diesem Winter zu kommen. Es sind bereits einige Dinge genannt worden. Ich will nur betonen: Die Gasspeicher sind zu fast 100 Prozent gefüllt; es wurde übrigens der höchste Füllstand der letzten Jahre erreicht, obwohl Putin seinen Gashahn zugedreht hat. Wir werden weiter Gas einsparen. Die Preissignale, die gesetzt sind, werden trotz der Preisbremsen erhalten bleiben. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Und zum Jahresende werden die schwimmenden LNG-Terminals am Netz sein und uns unterstützen. Wir werden die Gaskraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung nicht abschalten, wir werden auch weiterhin Gas verstromen; das ist ein wichtiges Signal. Wir haben also eine Fülle von Maßnahmen, und wir werden in diesem Winter energiesicher sein. ({4}) Noch ein Wort zum längerfristigen Weiterbetrieb, den Sie vorschlagen – ich bin da wirklich sehr erstaunt –: Nach Ihrer Idee läuft der Weiterbetrieb bis 2024. Aber das Entscheidende ist ja Ihr Hintertürchen – und das muss man hier ganz klar benennen – in Form dieser Prüfoption. Das ist ein ganz klares Hintertürchen – und ich zähle es jetzt mal auf – für den Ausstieg vom Ausstieg des Ausstiegs aus dem Ausstieg. ({5}) Ich habe selten so eine Kapriole gesehen, die Sie hier schlagen. Die ist mit uns nicht zu machen. ({6}) Noch ein paar Sätze zum Thema „Abhängigkeiten von Brennstäben und Brennelementen sowie Uranförderung“. Wir würden uns auf diesem Weg in dieselbe Abhängigkeit von Russland begeben, die wir beim Gas hatten. ({7}) 50 Prozent der weltweiten Förderung sind in Russlands Hand, entweder direkt oder mittelbar. Das heißt, dieses Preisspiel mit der Verunsicherung der Märkte, das Putin mit uns beim Gas gespielt hat, kann er, könnte er, würde er an dieser Stelle wieder genauso spielen, ({8}) auch wenn die Konstellation ein klein wenig anders ist; das ist mir bewusst. ({9}) Aber wir dürfen dieses Risiko an dieser Stelle auf keinen Fall eingehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Ein Satz vielleicht noch – – Nein, kein Satz mehr. ({11}) Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Danke schön. ({12})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Klaus Wiener. ({0})

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lange wurde darüber geredet, jetzt ist es so weit: Die Heizperiode hat begonnen. Und? Sind wir gut vorbereitet? Leider nicht. Man muss es so deutlich sagen. ({0}) Die Speicher sind zwar voll – das klang ja gerade schon an –, aber der Preis dafür war hoch. Gefracktes Gas wurde teuer eingekauft. ({1}) Aber was in dem Zusammenhang noch viel schlimmer ist: Sie haben ärmeren Ländern das Gas auf den Weltmärkten vor der Nase weggeschnappt. ({2}) Die Aufregung hierüber ist groß – zu Recht, wenn man bedenkt, was das für die Menschen dort oftmals an existenzieller Not bedeutet. ({3}) Nicht minder groß ist die Aufregung darüber, dass in der aktuellen Mangellage alte Kohlekraftwerke zum Einsatz gebracht werden, während die viel klimafreundlichere Alternative Atomstrom von Ihnen ausgeklammert wird – bis, ja, bis auf den kläglichen Streckbetrieb, über den wir heute in erster Lesung beraten. Viele aus Ihrem Lager sagen immer wieder gebetsmühlenartig, das sei eine Hochrisikotechnologie. ({4}) Darüber, meine ich, lässt sich streiten. Zumindest wird das im Ausland ganz überwiegend nicht so gesehen, und man findet den Begriff auch gar nicht in der wissenschaftlichen Literatur. Sicher ist aber, dass Sie mit Blick auf das Klima inzwischen eine Hochrisikopolitik betreiben. Und wenn Sie mir schon nicht glauben, dann zitiere ich hier noch mal Herrn Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung – das ist in der „FAZ“ vom Wochenende nachzulesen –: „Die Klimakrise ist zu ernst, um bestehende Kernkraftwerke zu schließen.“ Nur Sie wollen es einfach nicht verstehen. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Entschuldigung, Herr Dr. Wiener, gestatten Sie eine Zwischenbemerkung oder ‑frage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde gerne weitermachen. ({0}) Der Einsatz der Kernkraftwerke würde im Vergleich zu Strom aus Kohle die Emissionen um jährlich 70 Millionen Tonnen CO2 verringern. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: 70 Millionen Tonnen CO2. Das sind knapp 10 Prozent aller unserer Emissionen oder 40 Prozent der Emissionen, die wir bis 2030 einsparen müssen, wenn wir die Pariser Klimaziele einhalten wollen. Deutschland wird seine CO2-Ziele in den nächsten Jahren krachend verfehlen. Und dafür tragen Sie die Verantwortung. ({1}) Jetzt höre ich – sehr guter Hinweis, Herr Ebner – aus Ihrem Lager immer wieder: Hätte Deutschland die erneuerbaren Energien stärker ausgebaut, hätten wir das Energieproblem nicht. Das ist – das muss man mal so deutlich sagen – blanker Unsinn. ({2}) Zum einen, weil Deutschland die erneuerbaren Energien deutlich stärker ausgebaut hat als fast alle anderen Länder auf dieser Erde. Das habe ich hier an dieser Stelle auch schon wiederholt ausgeführt. Noch schlimmer aber ist, dass Sie die Dimension des Problems verkennen. ({3}) Von 600 Terawattstunden Strom, die wir jährlich brauchen, kommen aktuell 300 Terawattstunden aus den Erneuerbaren. Das sind 50 Prozent – ein schöner Erfolg der letzten 16 Jahre, über den ich mich wirklich freue. ({4}) Unser jährlicher Energiebedarf beträgt in toto aber nicht 600 Terawattstunden, sondern 3 400 Terawattstunden, also mehr als das Elffache. Verstehen Sie mich nicht falsch. ({5}) Auch ich will, dass die Erneuerbaren ausgebaut werden, und das mit Tempo. Aber seien Sie doch endlich mal ehrlich zu den Menschen. Das wird Zeit brauchen, viel Zeit. ({6}) Auch ein Scheitern ist möglich, weil Geld, Technologien und Fachkräfte fehlen. Deshalb wäre es klug – vielleicht mal zuhören –, alle Energieformen so lange zu nutzen, bis wir wissen, dass wir es geschafft haben, und sie nicht vorher abzuschalten. ({7}) In dieser dramatischen Situation beraten wir heute in erster Lesung ein Atomgesetz, das einen Weiterbetrieb nur bis zum 15. April vorsieht, aber nicht mit neuen Brennstäben, was sinnvoll wäre, sondern im dürftigen Streckbetrieb; ich habe es schon gesagt. Und das auch nicht aus tieferer Einsicht heraus, sondern weil der Kanzler mit einem Last-minute-Machtwort den Koalitionsfrieden retten musste. Ich war im Sommer mit dem Umweltausschuss in Schweden. Sie, Herr Ebner, waren ja auch dabei. Auch da will man aus der Kernenergie aussteigen. Das macht man aber mit einem gewissen Pragmatismus. ({8}) Man steigt nämlich erst dann aus, wenn die Erneuerbaren hinreichend ausgebaut sind. Das würde ich mir auch für Deutschland wünschen. Aber das würde erfordern, dass Sie einen klaren Plan haben, wie wir die Energiewende unter den dramatisch geänderten Rahmenbedingungen tatsächlich hinbekommen. ({9}) Der liegt aber bislang leider nicht vor. Und es würde erfordern, dass Sie Ihrer Verantwortung endlich gerecht werden und wirklich alle Optionen auf den Tisch bringen. Dazu gehört in der aktuellen Krise auch ein Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke über den 15. April hinaus. Kein Wiedereinstieg wohlgemerkt, ({10}) aber schon so, dass es für die Menschen und die Unternehmen einen Unterschied macht. Das ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht der Fall. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Vielen Dank. ({11})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich schließe die Aussprache.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat sich heute unter anderem mit der gegenwärtig in Ägypten stattfindenden Konferenz zum Schutz des globalen Klimas befasst und in diesem Sinne die Maßnahmen und die Beiträge, mit denen Deutschland auf der Klima-COP vertreten ist, besprochen. Klar ist, dass diese Klima-COP in einer international extrem schwierigen Situation stattfindet, dass die Verhandlungen durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ebenfalls belastet sind und dass wir alle daran arbeiten, dass die COP unter diesen schwierigen Umständen dennoch zu einem Erfolg werden wird. Die Klima-COP steht in enger Verbindung zur auch noch in diesem Jahr im Dezember in Montreal stattfindenden Weltnaturschutzkonferenz, der sogenannten Biodiv-COP. Das heißt, auch dort wird es – das zweite Mal in diesem Jahr – auf internationaler Ebene um gute Abschlüsse, um gute Verhandlungen für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen in Deutschland, in Europa und global gehen. Das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz, das ich als Bundesministerin aufgelegt habe, adressiert beide Krisen: die Klimakrise und die Naturkrise, das Artenaussterben. Das heißt, mit diesem Programm wollen wir Ökosysteme so renaturieren, das sie Kohlenstoff einspeichern können, einen positiven Beitrag für den Wasserhaushalt leisten und außerdem die Natur, die biologische Vielfalt, schützen. Als ein Bestandteil des Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz habe ich heute die Moorschutzstrategie im Kabinett eingebracht, die auch verabschiedet wurde. Moore sind gegenwärtig in Deutschland für 7,5 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Das ist, glaube ich, gar nicht unbedingt bekannt, aber ein wirklich relevanter Beitrag zu den klimaschädlichen Gasen. Deshalb werden wir mit der Moorschutzstrategie die Länder, die Kommunen, die Landnutzer dabei unterstützen, einerseits die wenigen noch vorhandenen Moore zu schützen, also keine weiteren Moore zu zerstören und zu entwässern, und andererseits Moore wieder zu vernässen, den Wasserstand etwas oder stark anzuheben, um zu verhindern, dass weiter Kohlendioxid aus diesen Mooren ausgast, und idealerweise zu ermöglichen, dass Kohlenstoff sogar wieder eingelagert werden kann. Das ist eine Win-win-Situation. Wir machen das im kooperativen Verfahren. Wir haben mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz jetzt auch das erste Mal Geld zur Verfügung, um die Landnutzer bei den Nutzungsänderungen zu unterstützen. Von daher möchte ich mich bei allen beteiligten Ressorts sehr herzlich bedanken für die äußerst konstruktive und angenehme Zusammenarbeit bei der Moorschutzstrategie. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen weiteren Punkt erwähnen. Wir haben ja gleich noch die Gedenkveranstaltung zum Pogrom. Aber heute Nacht jährt sich zum 33. Mal auch das Symbol für die Friedliche Revolution 1989: der Fall der Mauer. Wichtig an diesem Tag ist mir, den Beitrag, den Umwelt- und Naturschützer in der ehemaligen DDR für die Friedliche Revolution geleistet haben, zu würdigen. Es ist, glaube ich, wenig bekannt, dass es eine äußerst engagierte Umwelt- und Naturschutzbewegung gegeben hat, die schweren Repressalien ausgesetzt war. Akten, Daten über die Umwelt waren in der DDR Geheimsache; sie durften nicht publiziert werden. Dennoch hat es viele Menschen gegeben, die sich für saubere Luft, gegen den Braunkohletagebau, für gesunde Flüsse eingesetzt haben. Diesem wirklich großen und starken Bestandteil der Bürgerrechtsbewegung der Friedlichen Revolution sind wir zu tiefem Dank verpflichtet. Wir verdanken ihm nämlich das Nationalparkprogramm, das in der Wendezeit begonnen wurde. Engagierte Umweltschützer – Michael Succow und seine Mitstreiter seien hier stellvertretend genannt – haben es damals quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschafft, relevante und wertvolle Naturschutzflächen in der ehemaligen DDR unter Schutz zu stellen, das sogenannte Tafelsilber der deutschen Einheit. Daraus abgeleitet haben wir heute Nationalparks, Naturreservate und Biosphärenreservate in der gesamten Republik. Und diesen Impuls aus der Wendezeit heraus, aus der DDR-Naturschutzbewegung heraus, der heute überall in unserem Land zu spüren ist, möchte ich an diesem Tag ganz explizit würdigen. Ich glaube, unser Dank gebührt all diesen Menschen. Es ist unsere Verantwortung – im doppelten Sinne –, das nationale Naturerbe am Leben zu erhalten: für unsere Kinder und Enkel und für unsere Demokratie. Vielen Dank. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. Wir beginnen die Regierungsbefragung zu den einleitenden Ausführungen der Bundesministerin Frau Steffi Lemke und zum Geschäftsbereich sowie zu den vorangegangenen Kabinettssitzungen und mit allgemeinen Fragen. Zuerst hat das Wort der Kollege Steffen Bilger aus der CDU/CSU-Fraktion.

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihre Ausführungen. – Ich muss aber noch mal auf Ihre Rede gerade zum Atomgesetz Bezug nehmen. Da haben Sie sich ja auf vieles bezogen, aber Sie haben nichts zum sogenannten Prüfvermerk vom 7. März gesagt. Aktuelle Medienrecherchen bestätigen unseren Vorwurf, dass es sich bei diesem sogenannten Prüfvermerk zum Weiterbetrieb von Atomkraftwerken eben nicht um eine fachlich unvoreingenommene Prüfung gehandelt hat, sondern letztendlich um eine politische Auftragsarbeit. Zurzeit läuft sogar noch eine Klage auf Herausgabe von Akten gegen das Bundeswirtschaftsministerium. Die recherchierenden Journalisten konnten aber bereits Unterlagen aus Ihrem Haus dazu einsehen, und die belegen eben diesen Vorwurf, dass der Prüfvermerk politisch und nicht fachlich so erstellt wurde. Ich frage Sie ganz konkret, Frau Ministerin: Warum haben die Auswirkungen auf den Klimaschutz beim Weiterbetrieb der Kernkraftwerke im Prüfvermerk keine Rolle gespielt? Warum haben die Auswirkungen auf die Strompreisentwicklung beim Weiterbetrieb der Kernkraftwerke im Prüfvermerk keine Rolle gespielt? Sie kamen zu dem Ergebnis: Der Weiterbetrieb sei weder nötig noch sinnvoll. Waren das politische Vorgaben? Ganz konkret: Haben Sie die Öffentlichkeit hier getäuscht, Frau Ministerin?

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Ministerin.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Abgeordneter, diese Vorwürfe weise ich auf das Entschiedenste zurück. ({0}) Ich glaube, dass wir es der Bevölkerung in dieser Krisensituation wirklich schuldig sind – die Regierungsfraktionen, aber auch die Oppositionsfraktionen –, seriös, ernsthaft und sachlich unsere Probleme hier zu diskutieren. ({1}) Ich habe in meinem Haus bereits Anfang des Jahres Informationen zu einem potenziellen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken erbeten, weil im öffentlichen Raum die Debatte über die Verlängerung von Laufzeiten begonnen hatte, bevor der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begann. Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, wurde am 11. Februar in einem Artikel des RedaktionsNetzwerks Deutschland unter der Überschrift behandelt: „Strahlende Zukunft? Das steckt hinter den Atomkraftträumen von Friedrich Merz“. Das heißt, Ihr Konstrukt, dass Sie die Laufzeitverlängerung ausschließlich wegen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine zur Krisenbewältigung fordern, ist falsch. Diese Diskussion wurde bereits vorher von Ihnen im politischen, im öffentlichen Raum begonnen. ({2}) Deshalb habe ich ebenfalls bereits Anfang des Jahres begonnen, mir Informationen aus meiner Fachabteilung zukommen zu lassen, um zu erfahren, unter welchen Bedingungen so etwas überhaupt stattfinden könnte, bzw. natürlich, was dagegenspricht. Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, abzuwägen: ({3}) Was wären die Bedingungen, und was spräche dagegen?

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Ministerin.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank. Ich hatte die Uhr bisher noch nicht im Blick, Frau Präsidentin; sie fing jetzt erst an zu leuchten. Vielleicht darf ich noch eine zweite Anmerkung hinterherschieben; ich spare die Zeit später wieder ein. ({0}) Ich glaube, dass es notwendig ist, in der Öffentlichkeit noch mal transparent zu machen, dass mein Ministerium für nukleare Sicherheit zuständig ist und das Wirtschaftsministerium für die Energieversorgung und dass genau diese beiden Aspekte – Energiesicherheit und nukleare Sicherheit – von uns wirklich wochen- und monatelang öffentlich und transparent abgewogen worden sind. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Bilger, Sie können eine Nachfrage stellen, jetzt aber nur noch im 30-Sekunden-Takt: 30 Sekunden für die Nachfrage und auch nur 30 Sekunden für die Antwort.

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir können meine Fragezeit ja vielleicht auch so auslegen wie die Antwortzeit gerade eben. Nun gut. – Frau Ministerin, Sie haben meine Frage nicht wirklich beantwortet. Ich will noch mal konkret nachfassen: Sie haben in der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion vom 14. April 2022 angegeben – ich zitiere –: Der Prüfvermerk wurde auf der Grundlage von Gesprächen mit den Betreibern der Kernkraftwerke … erstellt. Nun wissen wir aber durch die Medienrecherche, dass die EnBW Ihnen bereits am 2. März 2022 – also wenige Tage vor Veröffentlichung Ihres Prüfvermerks – schriftlich mitgeteilt hat, dass der Weiterbetrieb für die Versorgungssicherheit sinnvoll und für eine Preisdämpfung erforderlich sei. Wir reden hier immerhin über einen Strompreis, der – je nach Studie – ohne die Laufzeitverlängerung um bis zu 14 Prozent höher sein wird. Wir wissen auch, dass die von Ihren eigenen Experten berechnete Einsparung an Treibhausgasen bei einem Weiterbetrieb ab 2024 – es wären etwa 25 bis 30 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr – aus einem Entwurf des Prüfvermerks gestrichen wurde. Auch hier die konkrete Frage: Haben Sie oder hat jemand anderes aus der politischen Leitung Ihrer beiden Häuser diese Streichung veranlasst?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Bilger, ich weise den Vorwurf, dass hier irgendetwas intransparent ausgehandelt oder vertuscht worden wäre, erneut zurück. Wenn irgendein Thema in unserem Land in den letzten neun Monaten in der Öffentlichkeit absolut transparent und auch kontrovers ausgetragen worden ist, dann ist es die Diskussion um die Laufzeitverlängerung. Das konnten Sie alles nachlesen; Sie haben den EnBW-Vermerk eben selber zitiert. Es hat eine Vielzahl von Informationen gegeben, von verschiedensten Seiten. Es gab Gespräche mit verschiedenen Betreibern, in der Schlussphase auch mit der Atomaufsicht der Länder. Natürlich sind all diese Informationen in die Abwägung der Bundesregierung eingeflossen und haben dazu geführt, dass wir Ja zu einer kurzzeitigen Laufzeitverlängerung sagen, um in diesem Winter Energiesicherheit herzustellen. Zu einer Neubeschaffung von Brennelementen und einer jahrelangen Laufzeitverlängerung sagen wir Nein. Genau das ist der Abwägungsprozess gewesen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kraft.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, bleiben wir beim Thema; das muss ich ja sowieso, weil ich eine Nachfrage stelle. Es ist erstaunlich, dass der Minister Habeck hier gerade den Ärger kriegt; denn die Reaktor-Sicherheitskommission untersteht ja Ihrem Haus, dem BMUV. „Die Welt“ zitiert jetzt Personen aus der Reaktor-Sicherheitskommission, also einer Behörde, die Ihnen untersteht. Diese Personen sagen, dass das Gremium von den Ministerien – im Plural, also von beiden Ministerien – nicht konsultiert worden ist, Frau Ministerin. Deswegen eine ganz einfache Frage: Haben Sie die RSK, die Reaktor-Sicherheitskommission, konsultiert? Sind die Antworten der RSK am Ende in den Prüfbericht vom März eingeflossen? – Vielen Dank, Frau Ministerin.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Auch dazu, Herr Abgeordneter, sage ich noch mal: All diese Dinge liegen ebenfalls öffentlich und transparent auf dem Tisch. Auch die Kritik aus der Reaktor-Sicherheitskommission heraus wurde ja von einem Mitglied öffentlich vorgetragen. Wir haben alle zuständigen Institutionen in meinem Haus und in den nachgeordneten Behörden – in ihren jeweiligen Funktionen, die eben unterschiedlich sind – im Rahmen unserer Abwägung miteinbezogen. Selbstverständlich habe ich mir persönlich und hat sich mein Haus die notwendige Beratung für den Abwägungsprozess hinzugeholt. Alles andere wäre vollkommen fahrlässig. Um genau diese Abwägung seriös treffen zu können, haben wir sehr früh mit den Betreibern gesprochen. Dass wir bereits im März das Gespräch mit den Betreibern gesucht und geführt haben, ist doch ein Ausweis dessen, dass wir auch die Expertise der Betreiber selbst in unsere Abwägung miteinbeziehen wollten und dass es dennoch kontrovers ist, weil auch die nukleare Sicherheit abgewogen werden musste unter dem Eindruck des Krieges von Russland und des Beschusses von Saporischschja, all das haben wir monatelang getan mit dem entsprechenden Ergebnis.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Eckert.

Leon Eckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005047, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Bundesministerin, mein Wahlkreis liegt direkt zwischen zwei Kernkraftwerken. Wir haben einmal den Forschungsreaktor in Garching und einmal das Landshuter Kraftwerk. Kraftwerke sind – das muss seit dem Krieg auch dem Letzten aufgefallen sein – auch Angriffsziele. Während Kugeln um das Kraftwerk in Saporischschja fliegen, sind auch wir Ziel von Angriffen. Meine Frage an Sie ist: Wie ist die Bewertung der aktuellen Sicherheitslage? Wie können wir den Schutz unserer Kernkraftwerke auch hier in Deutschland verstärken, um sie vor möglichen Angriffen, vor Sabotage oder Unfällen zu schützen? ({0})

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Sie beschreiben richtig, dass wir durch den Angriffskrieg Russlands eine komplett veränderte Sicherheitslage für die zivile Atomkraftnutzung in ganz Europa und weltweit haben, weil Atomkraftwerke beschossen worden sind, okkupiert worden sind, vom Stromnetz getrennt worden sind, und das selbstverständlich zu einer veränderten Sicherheitsbewertung führen muss. Deshalb haben wir einerseits über die Internationale Atomenergie-Organisation sofort Kontakt aufgenommen und beobachten fortlaufend die Situation um Saporischschja und auch um Tschernobyl herum. Wir haben einen ständigen Kontakt dorthin. Wir haben andererseits natürlich das Messstellennetz in Deutschland überprüft und dort die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet. Wir haben ja ein hervorragendes Messstellennetz in Deutschland, das eine potenzielle Strahlenbelastung sofort erkennen würde. Es gibt eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen, die wir diesbezüglich überprüft oder ergriffen haben. Das ändert aber nichts daran, dass das Restrisiko der Atomkraftnutzung bestehen bleibt und dass wir gemeinsam als Gesetzgeber in dieser Woche die Entscheidung treffen, ob wir verantworten wollen, dass dieses Restrisiko aufgrund der Energieversorgungssituation noch dreieinhalb Monate länger von uns in Kauf genommen wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Weisgerber.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie verzichten also auf die klimafreundliche Kernenergie. ({0}) Deswegen verwundert es auch nicht, dass die möglichen CO2-Einsparungen aus dem Prüfvermerk gestrichen wurden. Das wurde nämlich auch im Rahmen der Recherche der Medien bekannt. Da Sie auf die klimafreundliche Kernenergie verzichten, verwundert es auch nicht, dass Sie in den Eckpunkten zum Klimaschutz-Sofortprogramm auch auf die Sektorziele verzichten und sie deutlich aufweichen. Wir haben diese extra auch als Daumenschrauben und als Kontrollmechanismen eingeführt. Was ist das für ein Signal an die Klimakonferenz?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Diese Frage, Frau Weisgerber, hätte ich gerne von Ihnen beantwortet; denn ich stehe ja hier als Ministerin, die an die geltende Gesetzeslage gebunden ist. Die heute geltende Gesetzeslage besagt, dass die Atomkraftwerke zum 31. Dezember dieses Jahres abgeschaltet werden müssen. Nach meiner Kenntnis ist diese Gesetzeslage von einer Koalition aus CDU, CSU und FDP herbeigeführt worden. ({0}) Wenn Sie also danach fragen, ob es unter Klimaschutzaspekten verantwortbar ist, aus der Atomkraft auszusteigen, so sage ich Ihnen: Diese Frage haben CDU, CSU und FDP mit einem glasklaren Ja beantwortet. ({1}) Das finde ich eigentlich gut, weil ich persönlich die Atomkraft nach wie vor für so riskant halte, dass ich auch bei Einbeziehung von Klimaschutzargumenten der Meinung bin: Wir sollten die Nutzung von Atomkraft nicht fortsetzen. Sie müssten jetzt erläutern, warum sich Ihre Bewertung seit 2011 verändert hat und warum Sie, nachdem zu lange nicht in die erneuerbaren Energien investiert worden ist, jetzt sagen: 2011 ging es mit dem Ausstieg – aus Klimaschutzgründen –, aber jetzt geht es – aus Klimaschutzgründen – nicht mehr mit dem Ausstieg. Ich glaube, die Erklärung müssten Sie dann noch in Ihre Frage miteinflechten. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Ebner. ({0}) – Nein, in dieser Form machen wir das nicht. Jetzt ist Herr Ebner dran.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, mir kommt jetzt die Frage nach den Risiken der Atomkraft zu kurz. Wir sehen, wenn wir nach Frankreich schauen, dass dort ein Großteil des Kraftwerkparks aus Sicherheitsgründen stillgelegt ist. Es wurden Risse entdeckt, wo sie nicht erwartet worden waren. Für mich ist es erstaunlich, dass im Nachhinein gesagt wird, das sei ja erklärbar. Wir sehen an diesem Beispiel, dass im Bereich einer Hochrisikotechnologie ein Learning by Doing stattfindet, was mich, ehrlich gesagt, schockiert. Wie würden Sie denn vor diesem Hintergrund die Debatte um die Laufzeitverlängerung und vor allem um die Sicherheit von Atomkraftanlagen bewerten?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank. – Ich glaube, dass die Situation in Frankreich vor allem unter Energieversorgungsaspekten für unsere französischen Partner im Moment extrem schwierig ist, weil aus Wartungsgründen und aus Sicherheitsgründen rund die Hälfte der französischen AKWs jetzt seit vielen Monaten vom Netz ist und es deshalb, wegen der intensiven Atomkraftnutzung dort, ein Strom- und ein Preisproblem gibt. Wir sind natürlich auch hier im Austausch über die Fragen der Sicherheit von französischen Atomkraftwerken, insbesondere was die Grenzregionen zu Deutschland anbetrifft. Ich verlasse mich selbstverständlich, wenn ich eine solche Gesetzesnovelle hier heute in den Deutschen Bundestag einbringe, darauf, dass die Betreiber der deutschen AKWs und die Atomaufsicht der jeweils zuständigen Bundesländer wirklich Tag und Nacht und zu jeder Stunde die Sicherheit unserer Atomkraftwerke gewährleisten können. Ansonsten wäre der Betrieb nicht verantwortbar. Aber ich habe im Moment keinen Zweifel, dass das von den Betreibern und der Atomaufsicht der Länder gewährleistet wird, darüber hinaus natürlich auch von der obersten Atomaufsicht, sprich: meinem Hause.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Blankenburg.

Jakob Blankenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005025, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Ministerin, für die Möglichkeit, Ihnen hier auch noch mal zu diesem hochkomplexen Thema und zu dieser Hochrisikotechnologie eine Frage stellen zu dürfen. Ihr Haus hat jetzt in dieser Sitzung einen sehr besonnenen Gesetzentwurf eingebracht, der beinhaltet, dass wir für wenige Monate in einen Streckbetrieb gehen. Das sehen andere Teile dieses Hauses anders. Sie sind in regelmäßigen Gesprächen mit den Energieversorgungsunternehmen, mit den Betreiberinnen und Betreibern der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke. Diese haben – so ist zumindest auch aus Medienberichterstattungen zu hören – gar kein Interesse daran, über einen möglichen Streckbetrieb hinaus das wirtschaftliche Risiko dafür zu tragen, sondern fordern stattdessen, dass der Bund eine Quasieignerschaft übernimmt und er die Atomkraftwerke betreibt. Jetzt ist meine Frage: Wäre das aus Ihrer Sicht, aus Sicht des BMUV, überhaupt rechtlich möglich, und wie bewerten Sie diese Forderung der EVUs?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Vielleicht darf ich präzisieren, dass mein Haus und ich persönlich nicht in regelmäßigem Austausch mit den Betreibern stehen, weil die Fragen der Energieversorgung und Energiesicherheit im Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt sind. Das heißt, der Austausch dort ist wesentlich enger. Wir haben jetzt im Zuge der Diskussion über potenziellen Streckbetrieb oder Reservebetrieb ebenfalls direkte Gespräche mit den Betreibern gehabt, auch mit der Folge, dass dann die Diskussion über die Ventilleckage öffentlich geworden ist. Aber der engere Austausch findet auf BMWK-Seite statt. Nichtsdestotrotz hielte ich eine Haftungsübernahme für den Betrieb von Atomkraftwerken weder in rechtlicher noch in politischer oder in sicherheitstechnischer Hinsicht für verantwortbar. Das kann und das muss ich ausschließen. Wir haben zwischenzeitlich auch über solche Fragen mit den Betreibern diskutiert, und die Bundesregierung ist definitiv der Auffassung, dass dies kein Weg wäre. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann komme ich jetzt wieder zurück zu den angemeldeten Fragen. Da hat Frau Dr. Seitzl als Nächste das Wort.

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Ministerin, das Artensterben ist die zweite globale Krise neben der Weltklimakrise, die wir derzeit erleben. Der Verlust der Biodiversität ist hierzulande, aber auch weltweit dramatisch. Im Dezember soll in Montreal die 15. Weltnaturkonferenz, die CBD COP 15, stattfinden. Wir wünschen uns einen Paris-Moment für den Artenschutz, für klare, deutliche Ziele und auch für messbare Indikatoren. Für wie wahrscheinlich schätzen Sie ein, dass es ein solches anspruchsvolles Rahmenabkommen für den Artenschutz geben wird?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank für die Frage und an dieser Stelle auch ein Dank an das ganze Haus für die immerwährende und große Unterstützung, wenn es um die Frage des Aussterbens von Arten geht, die zweite große ökologische Krise, und auch für die Unterstützung dafür, dass in diesen Zeiten diese Krise nicht aus dem Blick gerät. Ich gehe davon aus, dass es möglich sein wird, ein neues globales Rahmenwerk zu verabschieden und das 30-x-30-Ziel, also 30 Prozent der Fläche von Land und Meer unter Schutz zu stellen, auch tatsächlich umzusetzen; sicher ist es nicht. Die Klima-COP zeigt gerade, wie schwierig die geopolitische Situation ist. Die Verhandlungen schließen auch Russland, China und die Vereinigten Staaten, die nicht CBD-Mitglied sind, natürlich dennoch ein, bei der Klima-COP sowieso. Es ist also in diesen Zeiten schwierig, solche Abkommen zu erreichen. Deshalb arbeiten wir quasi Tag und Nacht in unserem Haus und auch mit Ihrer Unterstützung daran, die europäische Verhandlungsposition so auszurichten, dass es möglich sein wird. Ich bin sehr dankbar, dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen auch die Finanzzusage von 1,5 Milliarden Euro für die internationale Biodiversitätsunterstützung zugesagt hat. Das ist gutes Reisegepäck für schwierige Verhandlungen. Ich hoffe, dass es ein Erfolg wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage? – Bitte schön.

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben gerade die Finanzzusage des Bundeskanzlers Olaf Scholz genannt, die vorsieht, eine Verdopplung des deutschen Beitrags für den Schutz der weltweiten Artenvielfalt auf 1,5 Milliarden Euro ab 2025 durchzusetzen. Sehen Sie die Bereitschaft anderer EU-Mitgliedstaaten, ähnlich ambitionierte Finanzierungszusagen für die COP 15 zu machen?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Wenn mein Sachstand noch aktuell ist – das verändert sich ja gerade täglich oder stündlich –, gibt es in diesem Umfang noch keine weiteren Finanzzusagen. Ich gehe aber davon aus, dass diese bis zur COP noch kommen werden, weil wir auch in einer High Ambition Coalition mit mehreren Staaten zusammenarbeiten, die sich hier zusammengeschlossen haben, um Rückenwind für die Biodiv-COP zu geben und nicht nur Industriestaaten, sondern auch Schwellenländer in diese High Ambition Coalition mit einzubeziehen. Es ist ein wirklich intensiver und großartiger Arbeitsprozess. Man merkt, dass es sehr viele Menschen umtreibt, global unsere Natur und unsere natürlichen Lebensgrundlagen schützen zu wollen. Von daher setze ich darauf, dass diese Finanzzusagen noch kommen werden. Wir werden in Ägypten nächste Woche – ich werde selber zur Klima-COP reisen – ({0}) auch ein Treffen dort haben, das die Biodiv-COP vorbereiten soll. Ich will eine Brücke zwischen diesen beiden internationalen großen Konferenzen schlagen, und ich hoffe, dass wir spätestens nächste Woche auch bei den Finanzen den nächsten Schritt haben werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Dr. Hoffmann, bitte.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, zunächst einmal herzlichen Dank an die Bundesregierung, dass der Kanzler auf der Klimakonferenz noch 1 Milliarde Euro für Wald- und Biodiversitätsschutz draufgelegt hat; herzlichen Dank auch für Ihre Moorinitiative. Das dient sowohl dem Klimaschutz als auch dem Artenschutz. Auf der anderen Seite höre ich, dass Sie wollen, dass Deutschland dem International Council for Game and Wildlife Conservation nicht mehr angehört, und dass Sie den Austritt aus dieser Organisation erwägen, die sich um Artenschutz verdient gemacht hat, zum Beispiel das Nashorn geschützt und auch in vielen Regionen wiedergebracht hat. Meine Fragen: Erstens. Ist es wirklich Ihr Ernst, dass Sie aus dieser Organisation austreten wollen? Zweitens. Gibt es dazu einen Kabinettsbeschluss, oder wie wird das in der Regierung behandelt? Drittens ist die Frage, ob wir damit nicht einer Art neokolonialen Politik Vorschub leisten, dass wir den Ländern dort vorschreiben wollen, wie sie mit ihren natürlichen Ressourcen umgehen.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Ich gehe davon aus, dass Sie auf die Gespräche im Rahmen der dritten großen internationalen Konferenz in diesem Jahr, der CITES-Konferenz, abzielen, die am 14. November starten wird und wo es zwischen Umweltorganisationen und verschiedenen afrikanischen Staaten eine kontroverse Debatte darüber geben wird, wie der Schutz verschiedener stark gefährdeter Tierarten am besten zu gewährleisten ist. Wir haben uns in dieser Diskussion noch keine abschließende Meinung gebildet. Sie haben wahrscheinlich gesehen, dass es da gerade ziemlich hoch hergeht. Einerseits teile ich Ihr Anliegen, dass wir gerade aus Europa heraus, auch aus Deutschland heraus, nicht den Eindruck erwecken dürfen, wir wüssten es besser als die afrikanischen Staaten, wie es geht. Aber andererseits sind wir seit vielen Jahren als Bundesrepublik im Naturschutz in den afrikanischen Staaten sehr stark engagiert. Diese Balance werden wir in den nächsten Tagen herstellen müssen und uns in dieser auch diplomatisch schwierigen Situation positionieren. Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich dazu jetzt keine weiteren Details ausführen kann.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Sichert.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie haben jetzt gerade viel zum Artenschutz gesagt, auch ganz am Anfang einleitend vom Moorschutz gesprochen. Wir haben einen Bereich in Deutschland, wo wir eine Menge an geschützten Arten haben. Das ist das Wattenmeer – ich komme aus Friesland –, und jetzt plant man, im Wattenmeer mit dem LNG-Terminal am Zulauf vom Jadebusen 180 Quadratkilometer Wattenmeer regelmäßig mit Chlor und anderen Chemikalien zu verseuchen. Dort sollen 0,2 Mikrogramm Chlor pro Liter eingeleitet werden, direkt im Zulauf des kompletten Jadebusens. In Wilhelmshaven am LNG-Terminal soll das eingeleitet werden, und alle zwölf Stunden wird dann der Jadebusen sozusagen mit Chlor desinfiziert. Die Betreiberfirma Uniper selbst sagt, dass die Grenzwerte um das Zehnfache überschritten werden. Was machen Sie, um zu verhindern, dass wir hier diesen Chloreinsatz haben, und um dafür zu sorgen, dass das Wattenmeer als Naturschutzgebiet entsprechend geschützt wird?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter, auch für diese Frage. – Das illustriert, glaube ich, noch mal eindrucksvoll, wie wichtig der Schutz unserer Umwelt einerseits ist und warum es andererseits auch Gründe gegeben hat, dass in der Vergangenheit keine LNG-Terminals gebaut worden sind. Was wir jetzt gemacht haben, um die Energiekrise – das ist ja ein Anliegen aller Fraktionen dieses Hauses – in diesem Winter und auch in der Zukunft im Griff zu behalten, ist Planungsbeschleunigung für die Errichtung von LNG-Terminals, um Beschleunigung in den Verfahren zu ermöglichen, aber keine Absenkung der Schutzstandards. Das heißt, es gibt da weder einen Freibrief noch erleichterte Rahmenbedingungen bei den Schutzstandards. Ich habe entsprechende Informationen der Presse entnommen, die Ihrer Frage jetzt vermutlich zugrunde liegen. Wir gehen dieser Sache nach. Aber es gibt keine Erlaubnis, auch nicht mit der beschleunigten UVP-Prüfung, dort Standards abzusenken. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Gesenhues.

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Ministerin, und vor allem vielen Dank dafür, dass Sie in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder auf die Relevanz der UN- Biodiversitätskonferenz hingewiesen haben – das ist ganz wichtig – und dass auch die Bundesregierung in allen globalen Gesprächsformaten, beispielsweise in der Umweltgruppe der G 7, die Relevanz des Biodiversitätsschutzes verankert hat. Denn es geht in der Tat um nichts weniger als um ebendieses globale Netz der Arten und Ökosysteme, das unsere Lebensgrundlage ist, das uns versorgt mit allem, was wir zum Überleben brauchen, und das im Übrigen auch einen ganz wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Jetzt hat ja die EU auf dem Umweltministerrat das Verhandlungsmandat auf den Weg gebracht. Mich würde einmal interessieren: Wie bewerten Sie das Verhandlungsmandat? Und was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte und die wichtigsten Ziele für die Konferenz in Montreal?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank. – Das Verhandlungsmandat der EU betrachte ich als ein sehr starkes und sehr gutes Verhandlungsmandat. Wir haben uns auch hier in den vergangenen Monaten als Bundesumweltministerium sehr stark eingebracht. Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch meinem Haus einmal Dank dafür sagen. Es sind wirklich intensive Arbeiten, die ja parallel zur akuten Krisenbewältigung stattfinden. Die wichtigste Zielvereinbarung, das 30-x-30-Ziel, den neuen globalen Rahmen, hatte ich bereits angesprochen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses erreichen werden. Aber eigentlich brauchen wir noch mehr. Auch das Paris-Momentum ist ja jetzt schon ein paar Jahre alt, sodass wir eigentlich bereits darüber hinweg sein müssen. Deshalb habe ich mich persönlich sehr stark dafür eingesetzt, dass die Ziele auch umsetzbar und kontrollierbar sein müssen. Das heißt, dass wir nicht nur Ziele für in fünf oder in zehn Jahren verabschieden, sondern tatsächlich ins Handeln kommen. Dafür brauchen wir dann auch die internationale Biodiversitätsfinanzierung und die Kontrollierbarkeit von solchen Zielvereinbarungen und einen Anpassungsmechanismus, falls Ziele nicht erreicht werden. Sie merken an den Ausführungen: Das sind wirklich ehrgeizige globale Verhandlungsziele, die wir haben. Und ich freue mich, mit der EU-Kommission einen wirklich starken und versierten Verhandlungspartner in Montreal an meiner Seite zu haben. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Lenkert.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin Lemke, Fischarten sind stärker vom Aussterben bedroht als Vogelarten. Leider sieht man sie nicht. Von den 103 Süßwasserfischarten in Deutschland sind 55 Prozent vom Aussterben bedroht und weitere 10 Arten sind bereits ausgestorben. Ich frage Sie: Was unternimmt die Bundesregierung zum Schutz unserer einheimischen Fischarten? Welche Maßnahmen ergreifen Sie? Und werden Sie sich in der Europäischen Union dafür einsetzen, dass es ähnlich der europäischen Vogelschutzrichtlinie eine europäische Fischschutzrichtlinie geben wird?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Kollege Lenkert. – Der Hauptbeitrag meines Hauses in dieser Legislaturperiode wird das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz sein, mit dem wir genau auf den Wasserhaushalt, aber auch auf Fließgewässer und auf Seen abzielen. Das heißt, dass wir hier nicht nur den Schutz verbessern, sondern auch renaturieren wollen. Sie und ich haben ja viele Jahre in der Parlamentariergruppe „Frei fließende Flüsse“ zusammengearbeitet. Von daher kennen Sie mein Engagement in diesem Bereich. Ich hoffe, dass die Parlamentariergruppe ihre Arbeit fortsetzt; es war ein wichtiger Treiber. Wir werden jetzt das erste Mal wirklich Geld zur Hand haben, um nicht nur die Havel-Renaturierung fortzusetzen, sondern auch in anderen Bereichen Auen und Fließgewässer, die besonders bedroht sind, zu schützen. Ich persönlich habe mich dafür eingesetzt, dass wir bei Bauwerken der kleinen Wasserkraft, also denjenigen, die nur eine minimale Energieerzeugung haben und keinen Beitrag zur Energiewende in relevantem Umfang leisten, aber möglicherweise Fließgewässer negativ beeinträchtigen, die Förderung nicht fortsetzen. Ich hoffe, dass wir auch da in Zukunft mit den Betreibern oder den Errichtern in ein Umbauprogramm eintreten können, weil das gerade für kleine Fließgewässer an vielen Stellen ein großer ökologischer Fortschritt wäre – ohne Verlust für die Energiewende.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Grau.

Prof. Dr. Armin Grau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für die Möglichkeit, hier fragen zu können. – Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Hinweisen darauf, dass der massive Artenschwund und die Verarmung einzelner Biotope, was den Artenreichtum angeht, die Gefahr für Zoonosen deutlich erhöht, also für Krankheiten, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden, wie wir es jetzt gerade bei der Coronapandemie gesehen haben. Wie sehen Sie die Bedeutung der Biodiversität und des Artenschutzes für die menschliche Gesundheit insgesamt und für den Schutz vor Infektionskrankheiten insbesondere? Und welche politischen Maßnahmen leiten sich daraus ab? – Vielen Dank.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Ich sehe die Bedrohung durch Zoonosen für die menschliche Gesundheit als extrem an. Wir leben gerade noch mit Corona, also einer Zoonose. Die Wissenschaft sagt uns, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass zumindest das Risiko besteht, dass solche Übersprünge von Viren von Wirtstieren auf den Menschen und dann ein Fortsetzen der Erkrankung mit der Übertragung von Mensch zu Mensch in Zukunft häufiger auftreten können. Wir wissen auch aus der Wissenschaft, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Vernichtung von Naturräumen und der Erhöhung dieses Risikos. Das heißt, je kleiner der Raum ist, in dem Wildtiere leben können, und je weniger Ausbreitungsmöglichkeiten sie haben, desto größer wird das Risiko solcher Zoonosen mit der Übertragung von Wildtieren auf den Menschen. Deshalb ist Naturschutz auch ein Beitrag zum Zoonosenschutz. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, dass wir damit alle Probleme in den Griff bekommen würden, um Gottes willen. Aber weitere Naturraumvernichtung erhöht das Risiko. Auch deshalb brauchen wir Naturschutz, brauchen wir Artenschutz. Wir haben auf internationaler Ebene mit dem Global Health Fund ein Instrument gestartet, um auch dieses Thema stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich glaube, hier gibt es noch große Wissenslücken in unserer Gesellschaft – wir alle hier im Parlament haben, glaube ich, bei Corona eine steile Lernkurve diesbezüglich gehabt – und hier können wir finanziell unterstützen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Brandner.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Lemke, Sie haben erwähnt, dass Sie in der kommenden Woche zur Weltklimakonferenz nach Scharm al-Scheich reisen, Weltklimakonferenz in einem idyllischen Touristenort in Ägypten mit über 30 000 Teilnehmern – die wenigsten werden mit dem Fahrrad oder zu Fuß CO2-neutral anreisen. Daher meine Frage: Wie reisen Sie nach Scharm al-Scheich? ({0}) Und welcher CO2-Ausstoß ist damit verbunden? Und auf die Bundesregierung bezogen: Wer von der Bundesregierung reist wie nach Scharm al-Scheich? Und welche CO2-Emissionen haben wir allein aufgrund dieser Reisetätigkeit zur Weltklimakonferenz zu erwarten? ({1})

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Brandner, ich habe keine Zugverbindung nach Scharm al-Scheich gefunden. ({0}) Ich reise aber in meinem Alltag sehr häufig mit dem Zug, und ich tue das auch gerne – ich glaube mindestens wöchentlich, auch mit Maske unter den Bedingungen, die wir aufgrund von Corona immer noch haben. ({1}) Wenn Ihre Frage darauf abzielt, ob solche Konferenzen Sinn ergeben trotz des CO2-Ausstoßes, der damit verbunden ist – unbestritten damit verbunden ist –: Ja, diese Konferenzen ergeben dennoch Sinn, auch wenn sie in der Kurzfristperspektive einen negativen Klimabeitrag haben, weil es im Moment unser einziges Instrument ist, um globale Klimaschutzvereinbarungen zu erreichen. Gerade Ihre Fraktion versucht ja, Klimaschutz damit zu diskreditieren, dass es nichts bringen würde, wenn wir ihn nur in Deutschland betreiben würden. Das ist insoweit richtig. Ich glaube, Sie meinen das anders als ich. Aber wir brauchen die internationale Verständigung auf Klimaschutz, wenn die Menschheit überleben will. Deshalb müssen wir miteinander reden, muss man sich miteinander treffen. Ich lade Sie herzlich ein, auch einmal eine solche Konferenz zu besuchen und sich mit Vertretern der Staaten auszutauschen, die jetzt vom steigenden Meeresspiegel betroffen sind, wo bereits jetzt Ernten vernichtet wurden – etwa Pakistan, das von einer verheerenden Flut heimgesucht wurde –, direkt mit den Menschen dort vor Ort zu sprechen, die sich für Klimaschutz engagieren. Ich glaube, es ist auf jeden Fall eine Erfahrung. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Träger.

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich würde ganz gern wieder zur Biodiversitätsfrage zurückkehren, weil ich es nämlich großartig finde, dass wir uns heute mal Zeit nehmen, um dieses Thema zu diskutieren. ({0}) Wir haben das als SPD-Bundestagsfraktion auch schon getan, und dabei hat sich die Frage nach neuen Bündnissen, danach, wie wir das Thema breiter in die Öffentlichkeit bringen können, gestellt. Ich finde den „One Health“-Ansatz ganz spannend, bei dem wir sozusagen auch noch mal in den Blick nehmen, welche Auswirkungen der Verlust der Artenvielfalt auch auf die Gesundheit des Menschen hat. Deswegen meine Frage an Sie – Sie werden ja nach Montreal fahren –: Wird nach Ihrem Kenntnisstand diese Frage dort auch in dieser Dimension diskutiert? Das würde mich tatsächlich sehr interessieren. – Vielen Dank.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Wir werden das Thema der globalen Gesundheit auf jeden Fall auch auf der Biodiversitäts-COP adressieren. Ich habe mein konkretes Veranstaltungsprogramm für den Dezember noch nicht vorliegen, aus dem hervorgeht, welche bilateralen Gespräche ich jeweils führen werde. Aber dort, wo ich spreche, werde ich diesen Ansatz auf jeden Fall weiterverfolgen. Natürlich spielt das Thema auch jetzt auf der Klima-COP eine große Rolle. Es gibt aktuelle Prognosen, die zeigen, dass Hitzewellen in Zukunft in Europa verstärkt Todesursache sein werden. Hitzewellen bzw. die Klimaveränderungen werden also Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, gerade auf die Gesundheit von vulnerablen Gruppen, also älteren Menschen und kleinen Kindern, die schlechter auf Hitze reagieren können und die häufig massiv davon betroffen sind. Das heißt, wie wir da Vorsorge treffen können, wird ein Thema sein. Sie wissen, glaube ich, auch, dass von meinem Ressort mit Klimaanpassungsmaßnahmen in sozialen Einrichtungen genau diese Vorsorge unterstützt wird, indem wir Hitzeschutzmaßnahmen – sei es in Altenheimen, Pflegeheimen oder Kitas – finanziell unterstützen –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ministerin.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

– Entschuldigung –, und dass uns hier noch eine große Aufgabe bevorsteht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich habe jetzt noch drei Kolleginnen und Kollegen, die Nachfragen hierzu stellen wollen; dann gehe ich weiter zu den angemeldeten Fragen. Dazwischen teile ich Ihnen noch etwas Trauriges mit. Jetzt ist erst mal Herr in der Beek dran.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, erst mal vielen Dank für die ganzen Informationen. – Biodiversität finde ich auch großartig; insofern, finde ich, passt diese Frage noch in diesen Zusammenhang. Der Deutsche Bundestag hat in der letzten Sitzungswoche mit wirklich beeindruckender einstimmiger Mehrheit beschlossen, das Weddellmeer zu schützen. In der letzten Woche ist eine sehr negative Entscheidung gefallen, international, und ich würde mich wirklich dafür interessieren, von Ihnen mal zu hören, ob es wenigstens Bewegung gibt bei den beiden, die dort immer blocken, also Russland und China. Gibt es aus den Gesprächen irgendwas zu berichten, was uns Hoffnung machen kann für die nächsten Jahre?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Zu meinem großen Bedauern liegen mir solche Erkenntnisse im Moment nicht vor. Ich hatte sowohl bei der Klima-COP als auch bei der Biodiversitäts-COP darauf hingewiesen, wie schwierig die gegenwärtige geopolitische Situation für globalen Fortschritt ist. Sie haben die beiden Haupt-Player angesprochen. Es wird unglaublich schwer sein, gerade in diesen Zeiten, wo Fischfanggründe an verschiedenen Stellen unserer Welt noch brutaler ausgeplündert werden, eine solche Schutzvereinbarung hinzubekommen. Das ist der negative Teil der Nachricht. Der positive ist, dass wir bis auf diese beiden Player inzwischen wirklich breiten Rückenwind haben, auch Staaten gewinnen konnten, die anfangs diesen Schutzvertrag nicht unterstützt haben. Ich habe mit der Klimabeauftragten der Bundesregierung, Frau Jennifer Morgan, über dieses Thema bereits persönlich gesprochen. Es ist auch ihr ein wichtiges Anliegen. Das heißt, auch aus dem Auswärtigen Amt, das bei diesen diplomatischen Verhandlungen federführend ist, gibt es in allen Gesprächen, in denen wir dieses Thema adressieren können, einbringen können, Rückenwind dafür. Wahrscheinlich kann nur der Spruch „Steter Tropfen höhlt den Stein“ an dieser Stelle helfen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat sich Frau Weisgerber noch gemeldet; das hatte ich offenbar nicht gesehen. Dann ist sie jetzt erst dran, damit wir auch mal einen Wechsel haben. Bitte schön.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Ministerin, die Radikalität der Klimaproteste hat in der letzten Zeit zugenommen. Sie selbst sagten am 9. Februar 2022 auf der Konferenz „Europe 2022“: „Es ist absolut legitim, für seine Anliegen zu demonstrieren und dabei auch Formen des zivilen Ungehorsams zu nutzen.“ ({0}) Würden Sie diese Aussage angesichts der jüngsten Aktionen der sogenannten Letzten Generation wiederholen? ({1})

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Frau Weisgerber, Ich schätze Sie als für Umweltthemen engagierte Kollegin und als seriöse und sachliche Kollegin. Deshalb hätte ich mir gewünscht, wenn Sie dieses Zitat hier vortragen, dass Sie auch den zweiten Teil des Zitates vortragen. Darauf haben Sie jetzt offensichtlich bewusst verzichtet. Der zweite Teil des Zitates lautete sinngemäß, dass ich keinerlei Protestformen unterstütze, akzeptabel finde oder gutheiße, bei denen Menschenleben in Gefahr gebracht werden könnten. Dieses Zitat ist damals teilweise bewusst verkürzt wiedergegeben worden. Ich hatte das aber in der Öffentlichkeit korrigiert, und diese Aussage steht. Ich hatte – ich glaube, es ist vor drei Wochen gewesen – bereits Ihrem Kollegen Willsch hier von der Regierungsbank aus bestätigt, dass ich solche Protestformen für falsch und für inakzeptabel halte, und das im Übrigen nicht nur, weil sie anfangen, für den Klimaschutz kontraproduktiv zu werden, sondern auch, weil ich es für nicht akzeptabel halte, durch Protest, der in der Sache legitim ist, andere Menschen in Gefahr zu bringen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das war jetzt nicht unbedingt eine Nachfrage zum Thema Biodiversität, höchstens im weitesten Sinn. ({0}) Nichtsdestotrotz hat jetzt Herr Ebner eine Frage, die ich noch zulasse.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin, Biodiversität als Lebensgrundlage und Ökologie als das Komplexeste, was es gibt, betreffen ja auch die Fließgewässer, die vorhin schon angesprochen worden sind. Sie haben gerade von den Fischen gesprochen, und da fällt mir die Oder-Katastrophe vom Sommer ein, die für uns bislang fast ungekannte, unvorstellbare Ausmaße hatte; ich will das gar nicht weiter ausführen. Im Zuge dessen ist auch darüber debattiert worden, was denn zu tun sei, um die Verquickung solcher Umstände wie zu hohen Salzgehalten und der daraus folgenden Algenblüte zu verhindern, und wie man Biodiversität in solchen Fließgewässern retten und sichern kann. Ich wollte Sie deshalb erstens fragen: Was ist Ihr Kenntnisstand zum Ausbau der Oder? Da gibt es ja ein Abkommen. Wie ist Ihre Positionierung dazu? Und zweitens: Welche Konsequenzen müssten wir eigentlich aus den Erkenntnissen für unsere deutschen Fließgewässer insgesamt ziehen?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank. – Der Ausbau der Oder – ich hatte mich dazu in der Vergangenheit mehrfach positioniert – ist aus meiner Sicht etwas, was jetzt zurückstehen muss hinter der notwendigen, wichtigen Aufgabe, der Oder die Möglichkeit zur Regeneration zu geben, ({0}) das heißt auch auf die natürlichen Regenerationskräfte zu setzen, die in Ökosystemen ja vorhanden sind. Das muss nach dieser verheerenden Katastrophe im Sommer absolute Priorität haben. Mein Haus wird das unterstützen, indem wir dort Renaturierungsmaßnahmen versuchen zu eruieren und zu identifizieren; das werden wir mit dem Land Brandenburg und dem Nationalpark dort natürlich gemeinsam machen. Ich werde deshalb auch versuchen, zeitnah erneut an die Oder zu reisen, um mir über die jetzige Situation ein eigenes Bild zu machen. Das Hauptproblem für die Zukunft wird aus meiner Sicht aber sein, dass wir in vielen Fließgewässern in ganz Europa massive Einleitungen haben – genehmigte Einleitungen –, die das Maß dessen, was die Flüsse in Zeiten der Klimakrise verkraften können, offensichtlich überschreiten. Diese Baustelle müssen wir bearbeiten. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kersten.

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben ausgeführt, dass die Moorschutzstrategie jetzt verabschiedet worden ist. Ich hätte dazu Fragen. Im Prinzip geht es um hydrologische Körper, und die müssen im Ganzen angeschaut werden. Es gibt durchaus kleinteilige Besitzverhältnisse. Wie wollen Sie dieses Problem lösen, und stehen Sie dazu auch mit dem BMEL im Austausch? Denn neben dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz besteht auch die Möglichkeit, entsprechende Maßnahmen über die Eco-Schemes der ersten Säule der GAP oder über die zweite Säule zu finanzieren.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Frau Abgeordnete, für die Frage. – Selbstverständlich stehe ich mit meinem Kollegen Cem Özdemir, dem Bundesagrarminister, dazu im Austausch, der sich heute im Kabinett ebenfalls positiv zur Moorschutzstrategie geäußert hat. Das heißt, unsere Hausfreundschaft trägt – auch für den Moorschutz –, und wir werden diese Arbeiten zusammen weiter fortsetzen. ({0}) Es geht gar nicht ohne die Landwirtschaft; deshalb steht der kooperative Ansatz im Vordergrund. Ich gehe im Moment davon aus, dass wir genug Unterstützer für die Moorschutzstrategie finden werden, sodass es mit dem freiwilligen Ansatz gelingt, die Moore ausreichend zu schützen und unsere Ziele zu erreichen. Das halte ich im Moment für den besseren Weg. Mein Ziel ist, dafür eine Welle der Begeisterung und der Unterstützung auszulösen. Deshalb freue ich mich besonders, dass ausgerechnet heute die Moorschutzstrategie verabschiedet wurde; denn Michael Succow ist einer der Väter des Moorschutzes. Ich durfte in meinem Eingangsstatement an ihn erinnern. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt gibt es eine Nachfrage zur Nachfrage. Bitte schön.

Klaus Mack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Ministerin, zunächst einmal eine Frage zur Wiedervernässung. 90 Prozent dieser Moore sind landwirtschaftlich genutzt. Deswegen geht diese Wiedervernässung natürlich auch zulasten landwirtschaftlicher Betriebe wie Obst- und Gartenbau. Vor dem Hintergrund der Unsicherheiten bei der Ernährungsversorgung im Moment stellt sich deshalb natürlich die Frage, ob das sinnvoll ist; denn wir wollen ja auch klimaneutrale und regionale Lebensmittel herstellen. Können Sie den wirtschaftlichen Schaden beziffern, der dadurch entstehen wird? Und welche Ausgleichsmaßnahmen haben Sie konkret – wirklich ganz konkret – für die betroffenen Nutzer vorgesehen?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Ich will mit dieser Veränderung wirtschaftlichen Nutzen erreichen. Deshalb gehen wir mit dem kooperativen Ansatz vor. Ich glaube, in diesen Zeiten ist es notwendig, dass wir stärker darüber nachdenken und reden, was geht und was notwendig ist, statt darüber, was vielleicht Probleme erzeugt und nicht geht. Ich glaube, wir müssen unseren Fokus nach vorne richten, auf das, was möglich ist, und unsere knappen Ressourcen entsprechend einsetzen. Wir haben bereits im Frühjahr angefangen, die Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass auf solchen Flächen auch PV eingesetzt werden kann. Photovoltaiknutzung und Moorschutz gehen zusammen; wahrscheinlich nicht auf jedem Standort, das liegt in der Natur der Dinge, aber das ist eine neue Einkommensmöglichkeit für solche Böden. Ich hatte das Greifswald Moor Centrum – dazu gehört die Michael Succow Stiftung – bereits erwähnt. Dort werden neue Wirtschaftsformen mit der Paludikultur entwickelt. Wir können dort möglicherweise neue Dämm- und neue Baustoffe einsetzen. Das heißt, wir haben die Interessen der Landnutzer und auch neue wirtschaftliche Nutzungsformen definitiv im Blick. Da können Sie sich auf uns verlassen. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Ministerin, nach Schätzung des Deutschen Bauernverbandes gab es 2021 1 300 bis 2 300 Wölfe. Mit der Anzahl der Wölfe steigt auch die Anzahl der Wolfsrisse. Die ohnehin unter Druck stehende deutsche Weidetierhaltung wird auch zusätzlich durch den Wolf stark belastet. Vor allem in nord- und in ostdeutschen Bundesländern werden diese Probleme immer drängender. Die Wolfsdichte beispielsweise in Brandenburg ist bereits höher als in Alaska und Sibirien. Auch Schutzzäune, Herdenschutzhunde und – von der Bundesregierung gefördert; man glaubt es kaum – Herdenschutzesel haben zu keiner Entspannung der Lage geführt. Ich frage Sie: Ist die Bundesregierung endlich bereit, den guten Erhaltungszustand des Wolfes zu quantifizieren und damit die erste von mehreren Grundlagen zu schaffen, den Wolfsbestand in Deutschland regulieren zu können?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Abgeordneter, wie Sie wissen, ist das Töten, das Abschießen von Wölfen bereits jetzt möglich und erlaubt, wenn Wölfe nachweislich Risse vorgenommen haben. Dafür sind die Bundesländer zuständig. Das passiert in unserem Land, das findet statt. Darüber hinaus arbeiten wir beim Wolfsschutz mit der Europäischen Kommission zusammen. Wir sind an europäische Gesetzgebung für diese aus gutem Grund streng geschützte Tierart gebunden. Ich nehme die Sorgen der Weidetierhalter sehr ernst. Deshalb habe ich mich als Bundestagesabgeordnete auch immer für eine Weidetierprämie eingesetzt, ({0}) die wir gegen den Widerstand verschiedener anderer Fraktionen dann auch etablieren konnten. Das wird den Weidetierhaltern am meisten helfen; denn die ökonomischen Probleme sind auch unabhängig von Wolfsrissen vorhanden gewesen. Ansonsten plädiere ich dafür, den Herdenschutz vor Ort ernst zu nehmen, sowohl mit vorsorgendem Herdenschutz als auch dort, wo Wolfsrisse aufgetreten sind, das Instrument der Entnahme des Wolfes – das ist der Fachbegriff; ich sage mal: es handelt sich um Totschießen – zu nutzen, wenn es notwendig ist. Im Übrigen bin ich gerade gestern beim Präsidium des Deutschen Bauernverbandes zu Gast gewesen, wo auch alle Landesbauernverbandspräsidenten anwesend waren, und das Thema „Wolf“ wurde mir dort nicht vorgetragen. Aber ich wurde gebeten, ob wir uns in der Politik möglicherweise des –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ministerin.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

– Themas „Leinenzwang“ annehmen könnten, dort, wo andere Tiere durch Hunde gefährdet sind. Auch das nehme ich ernst. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage? – Bitte sehr.

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Ministerin, die Entnahme von sogenannten Problemwölfen in Deutschland ist nach wie vor sehr bürokratisch und stark reguliert. Darüber hinaus haben wir das Problem, dass sich mit dieser Form der Entnahme der Wolfsbestand, der stark zunimmt, nicht wirklich regulieren lässt. Schweden geht einen anderen Weg. In Schweden wird nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der Wolfsbestand auf eine Bestandsgröße von etwa 400 reguliert. Die Europäische Kommission hat damit im Wesentlichen kein Problem. Jetzt würde ich Sie gerne fragen, ob Sie es eigentlich für angemessen halten, dass ein Land wie Deutschland, das viel dichter besiedelt und viel stärker kulturlandschaftlich geprägt ist als Schweden, einen Wolfsbestand von bis zu 2 300 Wölfen hat, während in Schweden 400 Wölfe quantitativ ausreichend sind für den Erhaltungszustand.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Abgeordneter, Sie wissen vermutlich, dass verschiedene Länder in Europa verschiedene Wege gehen und überall dort, wo pauschale Abschüsse genehmigt worden sind, die Europäische Kommission diese Praxis überprüft und teilweise auch bereits zurückgewiesen hat und auch die Gesetzesänderung, die die letzte Bundesregierung hier vorgenommen hat, die in Teilbereichen einen pauschalen Abschuss ermöglicht, kritisch untersucht wird und wir noch nicht wissen, wie die Europäische Kommission sich dazu verhalten wird. Wenn ein Wolfsabschuss tatsächlich an Bürokratie scheitert, dann werden Sie in mir eine Partnerin finden, zu schauen, wie diese Bürokratie – ich rede von Bürokratie, nicht von Gesetzen – abgebaut werden kann. Meine Kenntnis des letzten hochproblematischen Wolfsabschusses ist, dass der Wolf über ein Jahr nicht geschossen werden konnte, weil er schlichtweg nicht gefunden werden konnte und es dadurch der Jägerschaft nicht möglich gewesen ist, ihn zu schießen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ministerin, wir schätzen Ihr Engagement sehr, aber Sie müssen bitte versuchen, während Sie sprechen, auf diese Uhr zu schauen. Und wenn es anfängt, rot zu leuchten, ist die Zeit vorbei. Ich sage es noch einmal, damit ich nicht immer dazwischenquatschen muss; das ist ja nicht sehr schön. – Herr Mack, bitte.

Klaus Mack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie weichen leider der Frage immer wieder aus, –

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Nein, das stimmt nicht.

Klaus Mack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– wann der günstige Erhaltungszustand tatsächlich zum Tragen kommt. Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag sehr hehre Ziele gesetzt. Darin haben Sie geschrieben, das Ziel sei, das Zusammenleben von Weidetieren, Mensch und Wolf so gut zu gestalten, dass es trotz steigender Population möglichst wenige Konflikte gibt. Jetzt ist ein Jahr vergangen, und nichts ist passiert. Sie haben den günstigen Erhaltungszustand nicht nach Brüssel gemeldet. Sie sagen uns hier auch nicht, wann er tatsächlich erreicht ist. Dann frage ich mich: Was sagen Sie den Weidetierhaltern, wenn lebende Schafe angefressen morgens auf der Weide liegen? Wie sollen sie damit umgehen? Wir haben in Deutschland die höchste Wolfsdichte pro Quadratkilometer weltweit.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Abgeordneter, ich hatte Ihre Frage beantwortet. Wir können den guten Erhaltungszustand gegenwärtig nicht feststellen; denn es geht darum, ob die Population tatsächlich einen Grad erreicht hat, der sicherstellt, dass diese Population auch in Zukunft bei uns heimisch bleiben wird. Durch das europäische Recht haben wir sehr eng begrenzte Möglichkeiten, bei einer streng geschützten Tierart Tötungen vorzunehmen, Abschüsse vorzunehmen. Der Wolf ist streng geschützt. Ich glaube, das müssen wir uns vielleicht auch hier im Parlament doch gegenseitig ab und zu noch mal sagen. Wir werden international den Schutz von Großtieren wie Elefanten oder Tigern, glaube ich, schwer von den afrikanischen Ländern einfordern können, wenn wir es nicht schaffen, den Wolf in unserem Land in Zukunft weiterhin zu schützen. Ich bin gerne bereit, die Möglichkeiten, die wir haben, dafür gut auszunutzen; aber ein pauschales Erklären des guten Erhaltungszustandes und pauschale Abschüsse sind rechtlich nicht möglich, und ich halte es auch naturschutzfachlich für falsch. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Gesenhues.

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie hier noch einmal sagten: Der Wolf ist streng geschützt, und das ist auch gut so. Herr Bleck, ich will Ihnen einmal sagen: Die Erklärung zum Erhaltungszustand umfasst zwei Kriterien: das Bestandskriterium und das Ausbreitungskriterium. Und die sind schlicht und einfach nicht erfüllt. ({0}) Außerdem ist dazu zu sagen: Die Entnahme ist heute schon möglich, auch ohne Aufnahme ins Jagdgesetz. Das, was hier immer suggeriert wird, dass der Wolf für den Rückgang der Weidetierhaltung verantwortlich sei, ist schlicht und einfach populistisch. Das sage ich auch ganz deutlich in Richtung der Union. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine Weidetierprämie einzuführen. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine andere Landwirtschaftspolitik zu machen – im Interesse der bäuerlichen Betriebe. Sie haben das nicht getan ({1}) und damit auch zu verantworten, dass die Weidetierhaltung zurückgegangen ist. Deswegen möchte ich die Ministerin einmal fragen: Was sind nach Ihrer Perspektive die Ursachen für den Rückgang der Weidetierhaltung, und was können wir tun, zum Beispiel mit Fördermitteln auch im Naturschutzbereich, um die Weidetierhaltung als wichtige Verbündete für den Biodiversitätserhalt zu unterstützen? ({2})

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Die ökonomische Situation der Weidetierhalter, also der Schafhalter, und insbesondere der Wanderschäferei, ist seit vielen Jahren prekär. Ich glaube, das ist ein Beruf, der zwar gern angeschaut wird; aber die wenigsten von uns würden ihn wahrscheinlich ausüben wollen, weil er hart ist. Deshalb gebührt den Menschen, die das machen, auch Respekt. Die Weidetierprämie ist und bleibt das wichtigste Instrument, um die ökonomische Basis tatsächlich stabil zu halten. Wir werden auch im Rahmen des Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz schauen, wie wir die für den Artenschutz sinnvolle Weidetierhaltung und Wanderschäferei unterstützen können. Wir sind mit den Förderrichtlinien noch nicht so weit, dass ich diese Frage abschließend beantworten kann. Fakt ist: Eine Weidetierprämie ist das wichtigste und entscheidendste Instrument und guter Naturschutz ebenfalls.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kraft.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich kann nicht erkennen, wo die Wolfspopulation, die bis weit nach Russland hineinreicht und mehrere Zehntausend Tiere umfasst, irgendwie gefährdet ist; aber okay. Es geht um etwas anderes. Der Kollege Bleck hat auf die bürokratischen Hürden hingewiesen, die einem Abschuss im Wege stehen. Die Vorschläge der Bundesregierung, wie die Weidetierhalter ihre Herden schützen sollen, sind absolut ungenügend. Das Internet ist voll von Videos, wie Wölfe, zum Teil mit Schafen im Maul, über die Zäune springen, die angeblich vor Wölfen schützen sollen. Wer einmal einen Wolfspark besucht hat, weiß: Dort gibt es 3 bis 4 Meter hohe Zäune. Aber die Empfehlung der Bundesregierung an die Weidetierhalter ist irgendwo bei 1,20 bis 1,60 Metern; das ist hanebüchen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass die Politik, die diese Bundesregierung betreibt, dazu führt, dass die Schafhalter und die anderen von Wolfsrissen Betroffenen in die Illegalität getrieben werden, nämlich in das Wildern von Wölfen, weil die Bundesregierung nicht in der Lage ist, den betroffenen Leuten adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Am Ende bleibt diesen Leuten nur noch der wirklich undankbare Weg in die Illegalität, indem sie die Wölfe, unter denen sie zu leiden haben, schießen müssen. Ist das Ihr Ziel, das Sie weiterhin so betreiben wollen, oder können Sie den Betroffenen da Besserung versprechen?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Wenn Sie sich gegen Bürokratie wenden, gehe ich davon aus, dass Sie sich auch gegen kriminelles Handeln wenden und es im Zweifelsfall zur Anzeige bringen würden, falls Sie davon Kenntnis erlangen. Es ist falsch, dass die Politik der Bundesregierung dazu treibt, Wilderei zu betreiben. Vielmehr haben wir die entsprechenden Institutionen und Möglichkeiten, um Wolfsabschüsse zu ermöglichen. Wenn Sie Gespräche mit Bürgern in Ihrem Wahlkreis führen, sollten Sie die Bürger darauf hinweisen, wie Wolfsabschüsse erzielbar sind und wie Herdenschutz möglich ist. Sie engagieren sich ja schon seit sehr vielen Jahren für diese eine Tierart – ob für oder gegen den Wolf, das weiß ich jetzt nicht ganz genau. Sie können dabei mittun, dass Herdenschutz tatsächlich umgesetzt wird. Zäune sind nicht das einzige Instrument. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten wie Herdehunde oder auch Esel, was Sie vorhin etwas ins Lächerliche ziehen wollten, um den Herdenschutz zu unterstützen. Das wird auch von den Bundesländern teilweise – das ist unterschiedlich – finanziell gefördert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Seitzl.

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Ministerin, es wurde hier bereits mehrfach gesagt: Es ist eben nicht nur die reine Anzahl der Wölfe, sondern es sind auch ihre Verbreitung und andere Indikatoren, wie zum Beispiel die genetische Vielfalt, zentral. Um diese messen zu können, braucht man Monitoring. Das passiert in Deutschland durch die Länder. Zudem gibt es eine zentrale Dokumentationsplattform des Bundes, die die Daten der Länder zusammenführt, und zwar jährlich. Das Monitoring der Länder kann man sich regelmäßig, auch in kürzeren Abständen, anschauen. Dennoch gibt es immer wieder Kritik bezüglich des Monitorings des Wolfs in Deutschland, insbesondere hinsichtlich der Jungwölfe, die häufig als Einzelwölfe hin- und herstreifen. Hat die Bundesregierung vor, das Monitoring noch einmal zu überarbeiten, und, wenn ja, in welche Richtung soll diese Überarbeitung gehen?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Zunächst: Danke, dass Sie auf das Monitoringzentrum hinweisen. Um den Ratschlag der Präsidentin in Sachen Redezeit zu befolgen, konnte ich das selber nicht machen. Deshalb vielen Dank. Das ist natürlich eine wahnsinnig wichtige Institution. Wir sind permanent im Gespräch mit dem Monitoringzentrum des Bundes wie auch mit den Bundesländern darüber, wo es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, um die Daten noch besser und sicherer zur Verfügung zu stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Menschen auf der Tribüne will ich sagen: Es sind jetzt einige Leute hinausgegangen, die auch Fragen gestellt haben. Das hat damit zu tun, dass der Umweltausschuss parallel tagt, während die Umweltministerin hier befragt wird. Das wusste ich nicht. Sonst hätte ich hier etwas straffer versucht, alle einmal dranzunehmen. Das würde ich jetzt gerne noch machen. Ich nehme noch all diejenigen Fraktionen dran, die Fragen angemeldet hatten, sie aber bisher nicht stellen konnten, und lasse dazu jeweils noch eine Nachfrage zu. Danach kommen wir zur Fragestunde. Mithin kommt jetzt Karlheinz Busen dran. ({0}) – Nein? Wer stellt denn die Frage für die FDP? – Die stellt im Moment niemand. ({1}) Dann machen wir es anders. Es stellt jetzt erst Herr Birkwald seine Frage, und dann schauen wir noch einmal.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dann sage ich ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Frau Ministerin Lemke, im Oktober 2022 – das ist also noch nicht so lange her – veröffentlichte ein Journalistenteam von Correctiv die Entwicklung der Grundwasserstände in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland und wertete Daten von 6 700 Messstellen über diesen Zeitraum aus. Das Ergebnis: An knapp der Hälfte aller ausgewerteten Orte ist das Grundwasser in den Dürrejahren zwischen 2018 und 2021 auf den tiefsten Stand seit 1990 gefallen. Bisher gab es keinen bundesweiten Überblick zu den Grundwasserständen. Auch im Entwurf der Nationalen Wasserstrategie fehlen entsprechende Vorhaben. Darum frage ich Sie: Wann wird das Umweltministerium gemeinsam mit den Bundesländern ein Grundwassermonitoring einführen? Und bitte begründen Sie freundlicherweise Ihre Antwort. – Vielen Dank dafür vorab.

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Herr Abgeordneter, Sie wissen, dass mir das Thema „Wasser“ am Herzen liegt. Es ist ein großes und ein schwieriges Feld. – Ich schaue gerade in meinen Unterlagen, ob ich den Zeitplan auf die Schnelle finde, wann wir den Entwurf der Wasserstrategie einbringen. – Der Entwurf der Wasserstrategie ist gegenwärtig in der Ressortabstimmung. Wir werden dann in die Anhörung von Ländern und Verbänden eintreten und planen die Verabschiedung im Bundeskabinett für Anfang/Mitte 2023; so hatte ich zumindest einen Teil Ihrer Frage verstanden. Grundwasser wird natürlich ein relevanter Bestandteil sein. Ich werde die Thematik der Dürre, die Oderkatastrophe und die Frage von Einleitungen in Gewässer auch auf der Umweltministerkonferenz mit den Bundesländern in Goslar in zwei Wochen thematisieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben noch eine Nachfrage?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass ich die Nachfrage stellen kann. – Erst mal danke für die Antwort, Frau Ministerin. Große Industrieansiedlungen, wie beispielsweise Tesla in Brandenburg, aber auch der steigende Bewässerungsbedarf in der Landwirtschaft, der Konzentrationsprozess in der Getränkeindustrie und auch wachsende Wasserverbräuche durch die Bewässerung von Grünanlagen und Gärten in Dürrezeiten führen vielerorts zu steigenden Grundwasserentnahmen. Gleichzeitig genehmigen die zuständigen Behörden Grundwasserentnahmen auf der Grundlage veralteter oder nicht vorhandener Gesamtübersichten zu Grundwasserleitern. Darum, Frau Ministerin, frage ich Sie: Wie will die Bundesregierung eine Übernutzung des Grundwassers verhindern?

Steffi Lemke (Minister:in)

Politiker ID: 11002720

Ich teile Ihre Besorgnis, die Sie durch die Zitate zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben in der Nationalen Wasserstrategie Ziele aufgeführt. Drei, die damit zu tun haben, will ich vielleicht kurz benennen. Ein Ziel ist, dass es auch in 30 Jahren in Deutschland hochwertiges, bezahlbares Trinkwasser geben soll. Dazu gehört, dass es sauberes Grundwasser geben soll, dass unser Grundwasser und die anderen Gewässer gegen die Auswirkungen der Klimakrise resilienter werden müssen und dass wir unsere Infrastruktur, Landnutzung und Stadtentwicklung an die Folgen der Klimakrise – Klammer auf: weniger Wasser, weniger Regen; Klammer zu – anpassen müssen. Das heißt, wir sind mit diesen Zielen – ich gehe davon aus, dass Sie sie unterstützen können – auf dem richtigen Weg. Die Ausgestaltung der Instrumente, die ich von der Bundesebene aus entwickeln möchte, wird nur gemeinsam mit den Ländern möglich sein. Den entsprechenden Diskussionsprozess – er wird nicht leicht sein – werde ich vorantreiben. Ich kann Ihnen aber noch nicht sagen, welche Instrumente wir letztendlich finden werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank. – Damit sind alle Fraktionen zu Wort gekommen. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Ministerin, für die Beantwortung der Fragen und beende die Befragung der Bundesregierung.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Dainow, sehr geehrter Herr Botschafter, schön, dass Sie heute dieser Debatte hier folgen. Heute vor 84 Jahren setzten staatlich organisierte Schlägertrupps jüdische Gotteshäuser und Geschäfte in Brand. Tausende von Jüdinnen und Juden wurden aus ihren Wohnungen gezerrt, öffentlich gequält und gedemütigt, verhaftet, getötet. Es war der Beginn des größten Massen- und Völkermords in unserer Geschichte. Diese barbarischen Taten fanden in ganz Deutschland für alle sichtbar statt, unter dem Gejohle von Anwohnern und Nachbarn. Es gab, bis auf Einzelfälle, keine Gegenwehr oder Unterstützung für die jüdischen Nachbarn. Sie waren der Gewalt schutzlos ausgeliefert. Familien, die über Generationen geschätzte und verdiente Bürgerinnen und Bürger waren, wurden ausgestoßen, misshandelt, ermordet. Die Nacht des 9. November 1938, meine Damen und Herren, bleibt für immer eine Nacht der Schande für unser Land. ({0}) Sie war der Beginn des größten Zivilisationsbruchs. Die Erinnerung daran darf niemals verblassen. Sie ist der Auftrag, dass sich so etwas niemals wiederholen darf. Sie mahnt uns, dass wir Antisemitismus immer und mit aller Kraft überall entgegentreten müssen. ({1}) Der Antisemitismus ist aber weder 1945 verschwunden, noch ist er, wie manche behaupten, erst durch Zuwanderung wieder hierhergekommen. Nein, er war immer da, und zwar nicht nur an den Rändern, sondern leider auch mitten in unserer Gesellschaft. Das zeigen uns Studien und Erhebungen immer wieder sehr klar. Seit Jahren verzeichnen wir einen kontinuierlichen Anstieg antisemitischer Straftaten. Oft sind es sogenannte Volksverhetzungsdelikte. Aber dass aus Worten Taten folgen können, hat uns der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle sehr bitter vor Augen geführt. Ich will persönlich hinzufügen: Ich schäme mich dafür, dass in diesem Land jüdische Kindertagesstätten und Schulen noch immer polizeilich bewacht werden müssen. Wir müssen alles dafür tun, dass das nicht mehr nötig ist, meine Damen und Herren. ({2}) Der antisemitische Verschwörungswahn hat während der Coronapandemie leider Zulauf bekommen, und antisemitische Stereotype tauchen auch in vermeintlich aufgeklärten Milieus immer wieder auf. Das konnten wir gerade erst auf der Documenta in Kassel schmerzvoll beobachten. Klar ist: Antisemitismus bedroht nicht allein Juden, er bedroht uns alle. Dieser Satz kann schnell wie eine Plattitüde wirken, aber er bringt es auf den Punkt; denn der Antisemitismus ist ein Feind aller Jüdinnen und Juden und zugleich der Feind aller Demokratinnen und Demokraten in unserem Land. ({3}) Die Bekämpfung von Antisemitismus muss uns allen ein Anliegen sein; denn Antisemitismus ist niemals harmlos, egal ob er aus dem rechtsextremen, dem linksextremen oder dem islamistischen Milieu stammt, egal ob er an einem Stammtisch oder in einer Moschee verbreitet wird oder ob es sich um israelfeindlichen Antisemitismus handelt. Hier möchte ich, weil er 50 Jahre her ist, an den furchtbaren Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972 erinnern, dessen wir dieses Jahr gedacht haben. Ich denke, dass es ganz wichtig ist, auch dieses herausragend schlimme Ereignis für Jüdinnen und Juden an einem solchen Tag in Erinnerung zu rufen. ({4}) Wir werden deshalb, meine Damen und Herren, nicht müde, jede Form von Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen. Dabei gehören an erster Stelle die politische Bildung, die Präventionsarbeit, die von klein auf passieren muss, und das entschlossene Handeln unserer Sicherheitsbehörden eng verzahnt zusammen. Alle diese drei Maßnahmen müssen immer ineinandergreifen, und das ist auch der Kern unseres Aktionsplans gegen Rechtsextremismus. Zusätzlich erarbeiten wir gerade die erste nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Diese Strategie wird ein Werkzeug sein, um Antisemitismus noch besser und zielgerichteter zu bekämpfen. Glücklicherweise gibt es in Deutschland eine starke und lebendige Zivilgesellschaft, die mit Engagement und Beharrlichkeit die Arbeit gegen Antisemitismus unterstützt. All den engagierten Menschen gilt dafür mein ausdrücklicher Dank; denn sie leisten wirklich Hervorragendes in der Bekämpfung dieses furchtbaren, judenfeindlichen Handelns und von Hass und Hetze. Diese Menschen, von denen viele das in ihrer Freizeit tun, aber auch die NGOs, die da engagiert sind, brauchen dafür eine verlässliche Unterstützung und Finanzierung des Staates. Deshalb werden wir noch dieses Jahr das Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen, meine Damen und Herren. ({5}) Heute geht es zuallererst darum, dass wir der Millionen Opfer gedenken und uns ihrer erinnern. Und doch hört man immer wieder, das sei doch gar nicht mehr nötig. Bei einem Drittel der Bevölkerung hören wir das in Umfragen. Das erschüttert mich sehr, und es muss uns wachrütteln, dass wir etwas für das aktive Erinnern tun müssen. Wer so argumentiert, meine Damen und Herren, hat den Sinn und Zweck von Erinnern nämlich nicht verstanden. Es geht darum – so hat es Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, gesagt –, „dass auch die nachfolgenden Generationen lernen, wozu Menschen fähig sind. Sie sollen verstehen, warum in unserem Staat die Achtung der Menschenwürde und der Schutz von Minderheiten so wichtig genommen werden“. Meine Damen und Herren, das darf ich auch sagen: Wer in diesem Zusammenhang von einem „Vogelschiss“ oder einer „Auschwitz-Keule“ spricht, verhöhnt die Opfer der Shoah. Das werden wir in diesem Land nicht zulassen. ({6}) Wir werden nie vergessen, und wir werden alles tun, damit so etwas, was sich in diesem Land so furchtbar durch Menschen ereignet hat, durch Menschen, die das bewusst getan haben, nie wieder in unserem Land passieren kann. Dazu gehört aktives Handeln des Rechtsstaates, aber auch eine herausragende Erinnerungskultur. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Breilmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Breilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! „Die Erinnerung darf nicht enden“, unter diesem Titel veranstalten eine Bürgerinitiative und die jüdische Gemeinde in meinem Wahlkreis in Recklinghausen in diesen Minuten ein Gedenkkonzert und eine Gedenkstunde in der örtlichen Synagoge. Es wird heute nicht die einzige Veranstaltung in unserem Land sein. Auch wenn ich nicht dabei sein kann: „Die Erinnerung darf nicht enden“, das ist an dieser Stelle die Losung, die wir heute in dieser Debatte erneuern und den Menschen zurufen sollten. Das gilt gerade, wenn wir heute an die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von SA und SS organisierten Pogrome erinnern. Wir erinnern an diese schreckliche Nacht und an all das, was auf sie folgte. Aber in dem Titel unserer Debatte heute hier im Deutschen Bundestag verbirgt sich ein wichtiger Satz: „Erinnern heißt handeln.“ Und Handeln ist wichtig; denn es geht schlicht darum, dass jeder – gleich welcher Religion – in unserem Land sicher und frei leben darf. Das ist unser Auftrag. ({0}) Der Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, Maram Stern, hat im Vorfeld, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht glauben sollten, dass Gedenkdebatten – so nützlich und wichtig sie auch sind – schon ausreichen, um uns vor zukünftigen Katastrophen zu bewahren – allein ganz sicher nicht. Blicken wir aktuell auf den Antisemitismus in unserem Land, dann gibt es nichts schönzureden. Er ist in der Gesellschaft offener denn je präsent. Studien bei der Polizei und Umfragen zeigen: Antisemitische Vorurteile, Stereotype, kollektive Schuldzuweisungen und Verschwörungsmythen sind leider fast alltäglich. Und ja, deswegen braucht es übrigens auch einen starken Verfassungsschutz, ein Amt, an dem sich gut ablesen lässt, wie wichtig es ist, weil sich die Extremisten von allen Seiten so sehr daran abarbeiten, und an dem sich zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur zu reden, sondern als Demokratie auch zu handeln, schlicht wehrhaft zu sein. Egal wo in unserem Land: Es ist inakzeptabel, dass sich jüdische Menschen oft nicht mehr trauen, ihre Religion zu praktizieren und zu zeigen. Das wirft einen Schatten auf unser Gemeinwesen, auf unsere freiheitliche Demokratie. Denn ein Angriff auf jüdisches Leben – das muss heute klar sein – ist immer auch ein Angriff auf uns alle. Ich begrüße daher, dass die Innenministerkonferenz auf ihrer Tagung im Sommer den dringenden Handlungsbedarf bei der Prävention von antisemitischer und antiisraelischer Hetze erkannt hat. Am 30. November treffen sich die Innenminister erneut, und ich bin mir sicher, dass es konkrete Ansätze für eine notwendige Weiterentwicklung von Maßnahmen geben wird und diese auch beschlossen werden. Aber wenn wir den Blick auf dieses Jahr werfen, so gehört in dieser Debatte auch die Frage dazu, wie es möglich sein konnte, dass die öffentlich geförderte documenta fifteen in Kassel zu einem der schwersten Fälle von Antisemitismus in den letzten Jahren mutieren konnte. Dass dort judenfeindliche Kunstwerke offen gezeigt wurden, ist durch nichts zu entschuldigen. Es wäre heute eine gute Gelegenheit, wenn wir als Konsequenz aus diesen Vorkommnissen uns fraktionsübergreifend einig darüber zeigen, dass es einer grundsätzlichen Förderklausel des Bundes bedarf, die vorsieht, keine Veranstaltungen mehr mit Steuermitteln zu finanzieren, die Antisemitismus propagieren. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. ({1}) Natürlich haben wir in den letzten Jahren im Kampf gegen den Antisemitismus parteiübergreifend gerade auch bei der Schaffung von Strukturen viel Gutes erreicht. Ich nenne eine neu aufgestellte Antisemitismusforschung, die Einrichtung einer Bund-Länder-Kommission sowie das Amt des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Ich möchte heute in diesem Zusammenhang dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, für sein großes und wichtiges Engagement ausdrücklich danken und einen herzlichen Dank weitergeben. Der Bericht heute im Innenausschuss, er war sehr eindrucksvoll. ({2}) Wir brauchen, wenn wir es ernst meinen, in der Zukunft den 360-Grad-Blick. Neben dem Rechtsextremismus stellt das von Islamisten verbreitete antisemitische Gedankengut eine wachsende Gefahr für das friedliche und tolerante Zusammenleben in der Bundesrepublik dar. Auch im linken Spektrum hat Antisemitismus Zulauf, etwa im Zuge von Kapitalismuskritik, Antizionismus und Antiimperialismus. Es ist eine Schande, wie viel antisemitische Hetze, Menschenverachtung und Verharmlosung des Völkermordes an den europäischen Juden auch von Coronaleugnern und Verschwörungstheoretikern verbreitet wird. Das dürfen wir als Rechtsstaat nicht dulden! ({3}) Dies alles geschieht auch immer mehr über das Internet. Es ist inakzeptabel, wenn Betreiber sozialer Netzwerke ihrer Pflicht nicht nachkommen, antisemitische Hassbotschaften innerhalb der vorgesehenen Fristen, die vorgegeben sind, zu löschen. Die Plattformen – das muss ein Appell sein – müssen hier konsequenter vorgehen und ihrer unternehmerischen Verantwortung gerecht werden. Gleichzeitig müssen wir aber auch an neuen Wegen arbeiten, um anonyme Hetzer im Netz besser zu identifizieren. Daneben sind auch länderübergreifende Konzepte im Justizbereich erforderlich. Die Bewertung als antisemitisch motivierte Straftat verlangt umfassende Kenntnis der Tatumstände, um den Kontext jeder einzelnen Tat richtig beurteilen zu können. Wir müssen außerdem im Schulterschluss – und das tun wir auch – mit den europäischen Partnern agieren. Mit der im Oktober 2021 vorgelegten Strategie der EU zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens verpflichtet sich die EU-Kommission dazu, jüdisches Leben in Europa und auch weltweit künftig zu fördern. Meine Fraktion begrüßt diese Strategie ausdrücklich. Auch der Sport spielt eine große Rolle. Im Kampf gegen Antisemitismus und rechtsextremes Gedankengut trägt insbesondere der Fußball eine Riesenverantwortung. Da war es gutes Zeichen, dass für die Verdienste zum Beispiel des Fußballbundesligisten Borussia Dortmund im Kampf gegen Antisemitismus vor wenigen Tagen Funktionäre des BVB ausgezeichnet wurden. Wir müssen auch positiv vorangehen und jüdisches Leben positiv in den Vordergrund stellen und fördern. In diesem Sinne sehe ich mit großem Optimismus insbesondere auf die jüngere Generation. Ich erlebe dort oft Offenheit, Neugier, ehrliches Interesse. Das macht mir, das kann uns allen Hoffnung machen. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Breilmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Lamya Kaddor, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lamya Kaddor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005095, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. November ist für uns Deutsche ein sehr wichtiges Datum. Ich bin daher sehr froh, dass wir heute diese Debatte zum Antisemitismus hier im Plenum gemeinsam führen; denn wir erinnern an das antisemitische Grauen in unserem Land. Vor 84 Jahren wurden über 1 200 Synagogen niedergebrannt, unzählige Wohnungen verwüstet und etwa 7 500 jüdische Geschäfte zerstört. Jüdinnen und Juden wurden erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt. Kurz darauf wurden im ganzen Deutschen Reich über 30 000 Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald deportiert. Alles Geschichte? Mitnichten. Auch 84 Jahre später müssen wir ausgerechnet in Deutschland – es ist absolut beschämend – noch immer über Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden sprechen. Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen von einer Begegnung berichten. Meine muslimischen Kinder besuchen beide den jüdischen Kindergarten in Duisburg. Dieser liegt aus Sicherheitsgründen am Ende eines Innenhofs, mit einer Pforte aus Panzerglas, hinter der ein Sicherheitsmann sitzt, der den Sicherheitszaun samt Grundstück bewacht. Ich holte eines unserer Kinder an einem Nachmittag ab und ging mit ihm Hand in Hand aus dem Kindergarten. Plötzlich rief ein älterer Mann von seinem Balkon: Euch hätte man alle vergasen müssen! – Ich legte mich lautstark mit ihm an und versuchte, meinem erschrockenen Kind zu erklären, dass der Herr voller Abneigung wäre, es aber nicht an uns liege. Ich gebe zu, dass ich nach dem Schlagabtausch still, aber aufgewühlt dachte: Was hätte er gesagt, wenn er gewusst hätte, dass ich Muslimin und nicht Jüdin bin? Wut und Frustration erfüllten mich. Diese Szene, die ich nicht vergessen kann, zeigt, dass Antisemitismus keine Jüdinnen und Juden benötigt, um zu funktionieren. Es kann jede und jeden treffen. Jedes Mal, wenn eine Jüdin oder ein Jude angegriffen wird, ist es, als würden wir selbst angegriffen. So sehe ich es. Menschenfeindlichkeit macht nämlich vor niemandem Halt. Am Ende trifft es die Demokratie als Ganzes. Es ist daher inakzeptabel, dass Jüdinnen und Juden im Jahr 2022 in Deutschland Angst haben müssen, in der Öffentlichkeit religiöse Symbole zu tragen, die Schule zu besuchen oder in eine jüdische Kultureinrichtung zu gehen. ({0}) Insbesondere seit Beginn der Coronapandemie verzeichnen wir eine Ausbreitung des Antisemitismus. Von Impfgegnerinnen und Impfgegnern, sogenannten Spaziergängern und Spaziergängerinnen, Querdenkern und Querdenkerinnen, flankiert von den altbekannten rechtsextremistischen, islamistischen und auch linksextremistischen Strömungen mit ihren antisemitischen Denkmustern und Verschwörungsideologien, wird der Hass in die Mitte der Gesellschaft gespült. Die steigenden Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität und die Hasskriminalität gegen Jüdinnen und Juden, die auch in der digitalen Realität tobt, unterstreichen den Handlungsbedarf. Bekämpfung von Antisemitismus ist Kernaufgabe einer Bundesregierung, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Resilienz der Demokratie stärkt und Sicherheit gewährleistet. ({1}) Wir verzeichnen zwar Erfolge bei der Sichtbarmachung jüdischen Lebens und beim Empowerment jüdischer Gemeinden in Deutschland. Das heißt aber nicht, dass nicht noch viel zu tun wäre. Um jüdisches Leben weiter zu stärken, ist die Errichtung einer Stelle zur Erforschung jüdischer Lebensrealitäten ein wichtiger Schritt. Daher werden wir eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus vorlegen, deren Notwendigkeit auch Dr. Klein heute im Innenausschuss betont hat. Bei der Prävention müssen wir schon früh anfangen. Lehrinhalte und Exkursionen mit sehr guter Vor- und Nachbereitung müssen aus meiner Sicht verpflichtend werden. Pädagoginnen und Pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher müssen besser geschult werden. Wer Diskriminierung in unserer Gesellschaft verkennt, wer bei Protesten jeglicher Couleur mitmarschiert und dabei antisemitische Bekundungen duldet, ist eine Gefahr für unser Land. Dieser Gefahr müssen und werden sich die demokratischen Fraktionen in diesem Haus gemeinsam entgegenstellen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kaddor. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer im Jahr 2022 über Antisemitismus redet, kann von der gefährlichsten antisemitischen Bewegung in Westeuropa nicht schweigen, der BDS-Bewegung. Die hat eine Schlüsselfunktion. Sie ist das dreckige Bindeglied zwischen dem linken und muslimischen Antisemitismus von Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten, von Greta Thunberg und Claudia Roth und dem gewaltbereiten muslimischen Antisemitismus von Hisbollah und Hamas. ({0}) Der Titel dieser Aussprache lautet „… Erinnern heißt handeln“. Also erinnern wir uns: Der Bundestag hat eine Resolution zu BDS verabschiedet und eine gegen Antisemitismus, alles ohne jede messbare Wirkung. ({1}) Die Antisemitismusresolution fordert ausländerrechtliche Konsequenzen, also Abschiebung bei Antisemitismus. Das ist nicht ein einziges Mal passiert. ({2}) Die BDS-Resolution sagt, dass die BDS-Bewegung keine Räume mehr bekommt und keine finanziellen Mittel. Das lehnt Kulturstaatsministerin Roth in ihrer Abstimmungserklärung vom 17. Mai 2019 expressis verbis ab. Solange sich Deutschland also eine solche Kulturstaatsministerin leistet, ist der Kampf gegen Antisemitismus eine Farce, bestenfalls eine Farce, eigentlich eher eine Verhöhnung der Opfer. ({3}) Kommen wir zum Handeln. Wenn man etwas gegen den Judenhass erreichen will, sollte man sich das Land angucken, in dem sich die Juden als einziges seit Merkels Flüchtlingskrise 2015 sicherer fühlen, ({4}) weniger angegriffen fühlen als vor Merkels Flüchtlingskrise. Das ist Ungarn. Die Europäische Union hat in ihrer zweiten großen Erhebung 2018 16 000 Juden in Westeuropa befragt. Das Ergebnis ist eindeutig: Der Anteil der Juden, die zum Beispiel Angst vor gewaltsamen Angriffen haben, wurde in Ungarn zwischen 2012 und 2018 auf unter 30 Prozent halbiert. In Deutschland ist im selben Zeitraum diese Quote auf über 60 Prozent gestiegen. ({5}) Angst vor Übergriffen haben nach einer Erhebung der Europäischen Union über 60 Prozent der Juden. ({6}) Der Anteil der Juden, die tatsächlich Opfer von Übergriffen wurden, ist in Ungarn auf 17 Prozent zurückgegangen und in Deutschland um etwa ein Drittel auf knapp 30 Prozent gestiegen – knapp 30 Prozent aller Juden in Deutschland Opfer von Angriffen. Rabbiner Slomo Köves sagte, das gute Beispiel Ungarn sollte man auf die ganze EU anwenden. Merkels Buntland ist für Juden immer gefährlicher, und Orbans dezidiert katholisches Ungarn ist für Juden immer sicherer. Oder, wie im Dezember 2017 die linksliberale israelische Zeitung „Haaretz“ titelte – ich zitiere wörtlich –: „Hungary Is Keeping Jews Safe by Keeping Muslims Out …“ Zitat Ende. Statt Hans-Georg Maaßen zu verleumden, sollten sich unsere linken Klimaterroristen um Luisa Neubauer dem Antisemitismus in ihrer Klimasekte widmen. „Von Hamburg bis nach Gaza Klimaintifada“, das war der Schlachtruf. Mehr muss man gar nicht wissen. Diese grünen Klimaspinner sind ideologisch verloren, extremistisch und auch antisemitisch. Wir sollten die alle irgendwohin kleben, an irgendeinen hohlen Baumstumpf, wo sie niemanden stören und keinen mehr töten können. ({7}) „Erinnern“ und „handeln“ steht über dieser Debatte heute. Sie sind in der Regierung und könnten handeln, aber Sie werden wieder nichts tun. Wenn die AfD regiert, werden wir Judenhasser und Islamisten abschieben und keine neuen mehr hereinlassen, ({8}) werden wir Hassmoscheen schließen, die BDS-Bewegung verbieten, die Auslandsfinanzierung von Moscheen unterbinden. Und wo die AfD regiert, wird der Muezzinruf in unseren Städten verstummen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Und die ganze Straße sah zu“, so schilderte Josef Schuster heute bei einer Gedenkveranstaltung auf Einladung des Bundespräsidenten Gedanken von deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, die diese Pogromnacht erlebt haben, diese Tage der Ermordung, Erniedrigung von Menschen in unserem Land, was uns mit Scham und Trauer erfüllen muss. Es ist ein großes Geschenk für unser Land und Ausdruck eines großen Vertrauensvorschusses, dass wieder Jüdinnen und Juden in unserem Land leben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Umso beschämender ist es – denn Erinnern heißt handeln, und dabei geht es auch um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden heute in unserem Land –, dass verschiedene Akteure es sich heute nicht verkneifen können, diesen historischen Tag für andere politische Anliegen zu benutzen. Ich will jetzt nicht über die Kundgebungen reden, die heute Abend leider auch in Berlin stattfinden werden, bei denen wahrscheinlich auch wieder der israelbezogene Antisemitismus Ausdruck finden wird. Ich will etwas anderes herausgreifen, etwas, was ich mir nach dem Documenta-Skandal, der einer mit Ansage und Wegbereitern war, nicht hätte vorstellen können: Das Goethe-Institut in Tel Aviv hatte ernsthaft vor, am heutigen Tag gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Veranstaltung unter dem Motto „Den Schmerz der anderen verstehen“ über die Nakba durchzuführen, gefördert mit öffentlichen Geldern. Das zeigt, wie tief das Problem sitzt und wie ernsthaft wir uns damit auseinandersetzen müssen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Antisemitismus kein neues Thema ist, dass er ein beschämender Teil des Alltags in unserem Land ist, das ist für uns Freie Demokraten nicht neu, und es ist nicht überraschend. Allein: Das tröstet nicht, es beruhigt nicht. Denn es geht um eine gemeinsame große Verantwortung für ein hohes Gut, nämlich darum, dass jüdisches Leben bei uns sicher, frei und selbstbestimmt stattfinden kann, und vor allem darum, dass Jüdinnen und Juden selbst darauf vertrauen. Es darf nicht von der Stärke einer Synagogentür abhängen, wie in Halle, ob Jüdinnen und Juden sich sicher fühlen können. Der Polizeischutz ist ebenso notwendig, wie es traurig ist, dass er notwendig ist. Deshalb ist es nicht hinreichend, dass wir ihn gewährleisten. Wir müssen die gesellschaftlichen Türen vor Antisemitismus fest verschließen, vor menschenverachtendem Gedankengut, damit es auf die realen Türen nicht ankommt. ({2}) Auffällig am Antisemitismus ist, dass er regelmäßig Hand in Hand mit Verschwörungserzählungen geht und dass er uns auch in verschiedenen Debatten, außenpolitischen, wirtschaftspolitischen und kulturpolitischen, begegnet. Er ist ein hilfloser Reflex auf die Komplexität moderner Gesellschaften und ihrer Herausforderungen. Es gilt, diesem menschenverachtenden Gedankengut immer und überall klar entgegenzutreten, egal ob es vermeintlich geschmeidig, gefällig, harmlos daherkommt; denn klar ist: Jede Erscheinungsform des Antisemitismus ist inakzeptabel. ({3}) Die Erinnerungskultur, die wir uns in unserem Land erarbeitet haben, ist in liberalen Demokratien übrigens gerade nicht Normalität. Es ist etwas sehr Besonderes und Kostbares, dass man eine historische Tatsache auch moralisch eindeutig bewertet und nicht verschiedene Meinungen darüber hat. Gerade weil wir einen klaren Konsens über die Singularität des Menschheitsverbrechens der Shoah erreicht haben, müssen wir besorgt darüber sein, dass es neue Tendenzen der Relativierung und der Verharmlosung gibt. Weil diese Erinnerungskultur so kostbar ist und weil sich die Erinnerungskultur mit unserer Gesellschaft weiterentwickeln muss, ohne diese Verantwortung zu verlieren, müssen uns Apartheids- und Kolonialismusanalogien besorgt stimmen. ({4}) Es darf nicht zu einer Verharmlosung kommen, nicht zu einer Relativierung; denn dann sind regelmäßig Doppelstandards, Dämonisierung und Delegitimierung des Staates Israel nicht weit. Die Shoah ist singulär. Ihre Dimension ist schwerlich in Sprache zu fassen. Und doch müssen wir sie benennen, weil wir sie nicht beschweigen dürfen. Die Glaubwürdigkeit des Kampfes gegen Antisemitismus hängt davon ab, dass es keinen Unterschied macht, aus welcher Ecke Antisemitismus kommt. Wir brauchen eine ganzheitliche Strategie gegen Antisemitismus. Über die werden wir in den nächsten Wochen auch ausführlicher sprechen können. Deshalb geht es jetzt darum, dass wir in eine Situation kommen, in der mehr Raum ist, als er heute da war – heute beschäftigt und belastet uns, denke ich, eher der unerträglich starke Antisemitismus –, damit wir auch über die Vielfalt jüdischen Lebens und die Vielfalt jüdischer Kultur in unserem Land sprechen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich finde, es wäre ein gutes Ziel für zukünftige Debatten, dass man seine Redezeit auf diese Vielfalt jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Deutschland verwenden kann. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Das Wort erhält nunmehr die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Es war und bleibt richtig, dass wir im Bundestag an den 9. November 1938, die Reichspogromnacht, erinnern. Danach beschlossen die Nazis den systematischen Mord an allen Jüdinnen und Juden, und es folgte ein unsägliches Menschheitsverbrechen. Deshalb sage ich auch: Wer diese furchtbare Zeit und diese Vorgänge als Vogelschiss deutscher Geschichte verharmlost, macht sich nachträglich mitschuldig. ({0}) Der nötige Rückblick ersetzt aber nicht den aktuellen Draufblick, und die pünktliche Debatte im Bundestag darf nicht das alltägliche Dilemma ausblenden. Antisemitismus ist präsent und bedroht Jüdinnen und Juden hierzulande, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Das ist wider den Anspruch des Grundgesetzes, aber es ist vor allen Dingen auch eine Gefahr für Leib und Leben und deshalb nicht hinnehmbar. ({1}) Einmal im Quartal frage ich die Bundesregierung, wie viele Straf- und Gewalttaten sie mit antisemitischem Hintergrund registriert hat. Die Zahlen sind hoch und steigend. Das ist schlimm. Zugleich stapeln sie tief; denn Antisemitismus erfahren Jüdinnen und Juden auch im Alltag. Viele wagen es bereits nicht mehr, sich öffentlich jüdisch zu bekennen. Deshalb reicht es nicht, an 1938 und die Nazizeit zu erinnern. Der Bundestag, die Politik, die Gesellschaft müssen sich verstärkt gegen aktuellen Antisemitismus engagieren. Das Kontra zum Antisemitismus bedarf aber eines Pro zum jüdischen Leben. Das beginnt in der Schulzeit. Schülerinnen und Schüler erfahren allzu oft im Unterricht erstmals etwas über Juden, wenn es um den Holocaust geht. Danach sind Juden dann vor allen Dingen Opfer. Über jüdische Kultur, jüdisches Leben in der Geschichte und in unserer Gesellschaft erfahren sie kaum etwas, und das muss sich dringend ändern. Die Nobelpreisträger, die Künstlerinnen und Künstler, die erfolgreichen Sportler, überhaupt Jüdinnen und Juden gehören in die Lehrpläne und in das alltägliche Leben. ({2}) Noch ein aktuelles Thema: Natürlich sind die christlichen Feiertage aus unserem Jahreskalender nicht wegzudenken. Was ist eigentlich mit jüdischen Feiertagen oder wenigstens dem Respekt vor der Religionsausübung, sei es bei der Terminierung von Prüfungen oder bei der Organisation in den Hochschulen oder im Arbeitsleben? Auch hier ist noch viel Handlungsbedarf. ({3}) Ein letzter Punkt – es wurde schon erwähnt –: Wir haben heute Vormittag im Innenausschuss mit dem Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus über die im Moment in Entwicklung befindliche nationale Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus gesprochen. Ich hoffe sehr – die Bundesregierung ist ja hier nahezu vollständig vertreten –, dass Sie Ende des Monats diese Strategie verabschieden und dass wir uns gemeinsam der Umsetzung und der Verbreitung derselben bis in die letzte Kommune annehmen und uns entsprechend engagieren. Ich danke Ihnen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Botschafter! Der heutige 9. November ist kein normaler Tag. Es ist ein Tag zum Innehalten, zum Erinnern, an dem wir den Blick in die Vergangenheit richten müssen; denn der 9. November wird zu Recht als Schicksalstag der Deutschen bezeichnet. An diesem Tag nahmen viele Schicksale in diesem Land in den letzten Jahrzehnten eine unerwartete, hoffnungsvolle, aber auch grausame Wendung. Am 9. November 1989 haben viele in der ehemaligen DDR neue Hoffnung auf eine Zukunft mit mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten für sich und ihre Familien geschöpft, und es war ein guter Tag für unser heute wiedervereinigtes Land. Der 9. November 1938 war aber das genaue Gegenteil. Im nationalsozialistischen Deutschland kommt es zu organisierten Übergriffen gegen Jüdinnen und Juden; jüdische Läden, Institutionen werden zerstört, Synagogen brennen, werden verwüstet, bei mir im Sauerland unter anderem in Arnsberg, Meschede und Brilon. Polizei und Feuerwehr hatten damals die Weisung, nicht einzugreifen, wollten es oftmals auch gar nicht. Bürgerinnen und Bürger, Nachbarn machten aktiv mit oder schauten weg. In dieser Nacht haben jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vielleicht endgültig erkannt: Dieser Terrorstaat hat sich gegen sie entschieden. Er hat über ihr Schicksal befunden und es für nicht schützenswert, ja nicht lebenswert erachtet. Und dieser Hass gegen unsere jüdischen Mitbürger mündete in dem schrecklichsten Zivilisationsbruch unserer Geschichte, dem Menschheitsverbrechen der Shoah. Ich sage ganz deutlich: Für unsere Verantwortung vor der Geschichte gibt es keinen Schlussstrich. Der 9. November ist hierfür Mahnung und Warnung an uns alle zugleich. ({0}) Der Kampf gegen Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens sind unsere gemeinsame Aufgabe und die Aufgabe aller Demokraten hier im Haus. Denn das vergangene Jahr hat es uns doch gezeigt: Jüdisches Leben gehört seit 1 700 Jahren zu unserem Land, zu unserer Geschichte, und es ist ein Teil von uns. Gerade deshalb sind wir alle verpflichtet, gegen Judenhass und Judenfeindschaft aufzustehen und zu handeln. Das ist die Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen müssen. Gerade die jüngere Generation steht hier in der Verantwortung, gerade in einer Zeit, wo wir uns die Frage stellen müssen, wie Erinnerungskultur zukünftig möglich ist, wenn die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind. Kolleginnen und Kollegen, erheben wir deshalb gemeinsam unsere Stimme gegen jede Form des Antisemitismus, egal, in welchem Gewand er daherkommt, und egal, wie er sich in der Neuzeit ausbreitet, sei es mit verschwörungstheoretischen Vorurteilen während der Finanzkrise, während der Coronapandemie, wo es abscheulichste Vergleiche gerade mit Anne Frank gegeben hat. Gerade in diesen Zeiten, wo Hass und Hetze einer lauten Minderheit zuzunehmen scheinen, sind wir gemeinsam gefordert. Klären wir darum auf, wo Verschwörungserzählungen und Diffamierungen jüdische Menschen treffen. Stehen wir gemeinsam auf, und geben wir dem Antisemitismus in der Mitte unserer Gesellschaft keinen Platz. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wiese. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine gute Entscheidung gewesen, dass wir am heutigen Tage hier im Hohen Hause der Frage nachgehen, was wir gegen Antisemitismus in Deutschland tun können. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland hat ein klein wenig gemahnt und hat gesagt: Der 9. November ist in der deutschen Geschichte eben mit vielen Facetten versehen. – Ich glaube, dasjenige, was mich am meisten zum Nachdenken bringt, ist eben doch das Datum des 9. November 1938, weil das, was damals und in der Folge geschehen ist, ein so unbeschreiblicher Zivilisationsbruch gewesen ist, dass man als junger und auch als erwachsener Mensch immer noch damit zu kämpfen hat, das wirklich zu verstehen und nachzuvollziehen. Wir denken an die vielen Opfer; aber wir denken auch an diejenigen, die sich in der Folge des 9. November 1938 schuldig gemacht haben, weil sie weggesehen haben, weil sie die Hilfe gegenüber jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern verweigert haben, die von der SA und vom Mob verprügelt worden sind, die deportiert und umgebracht worden sind, und die sich an dem Vermögen ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bereichert haben und die zum Teil bis weit in die Nachkriegszeit, bis zu ihrem Tode nicht verstanden haben, dass es Unrecht war, sich an dem Vermögen zu bereichern, das den Juden weggenommen worden war. Das ist auch ein Thema, an das ich heute denke. Ich komme aus einem Wahlkreis im Bergischen Land, nämlich Solingen–Remscheid–Wuppertal, in dem es eine starke jüdische Gemeinde gibt. Die ist in den 90er-Jahren deutlich gewachsen, auch als Ergebnis des Falls des Eisernen Vorhangs. Es hat in meiner Heimatstadt Wuppertal ein Ereignis gegeben, an dem der heutige Botschafter des Staates Israel in Deutschland, Ron Prosor, persönlichen Anteil hatte. Es wurde in Wuppertal eine neue Synagoge gebaut, und zwar auf dem Grund und Boden der evangelischen Gemarker Kirche in Wuppertal, wo die Barmer Synode getagt hatte, ein letztes großes Aufbäumen gegen den Nationalsozialismus 1935. Diese Kirchengemeinde hat für eine symbolische D‑Mark der jüdischen Gemeinde ein Grundstück verkauft, auf dem dann die neue Synagoge errichtet worden ist. Ron Prosor hat damals als junger Diplomat maßgeblichen Anteil daran gehabt, dass diese von den Präsidenten Katsav und Rau – Wuppertaler Bürger – eingeweiht wurde. Ich erinnere aber auch daran, dass im Jahr 2014 drei Jugendliche versucht haben, auf diese Synagoge einen Brandanschlag zu verüben. Gott sei Dank ist der Brandsatz nicht gezündet. Aber wenn er gezündet hätte, wäre diese Synagoge erheblich beschädigt worden oder gar in Brand geraten. Daraufhin gab es ein Gerichtsverfahren. In diesem Verfahren haben die jungen Menschen gesagt, sie wollten mit ihrer Aktion ja nur gegen die israelische Politik gegen die Palästinenser demonstrieren. Bemerke den Fehler: Der Angriff auf ein jüdisches Gotteshaus in Deutschland wird gerechtfertigt mit einem Protest gegen israelische Politik. Es hat die Richter zu einem vergleichsweise milden Strafmaß verleitet. Das hat international Aufsehen erregt und wirkt bis heute in der jüdischen Gemeinde in Wuppertal nach. Wir hatten 2021 die Situation, dass unsere Freunde aus der Partnerstadt von Solingen, Ness Ziona, in der Stadt waren. Die Fahne des Staates Israel war vor dem Rathaus in Solingen gehisst, auch über Nacht. Und dann wurde diese Fahne in einer Nacht im Frühsommer 2021 in Brand gesetzt. Wir haben daraus den Schluss gezogen, dass wir einmal im Jahr – nämlich immer dann, wenn unsere Freunde aus Ness Ziona in Solingen sind – einen Tag veranstalten, an dem wir das jüdische Leben in Solingen sichtbar machen. Wir versammeln uns vor dem Rathaus, tragen eine Kippa und zeigen damit, dass man als Mensch jüdischen Glaubens in Deutschland den Schutz aller anderen verdient und genießt, wenn man sich zu seinem Glauben bekennt und seinen Glauben ausübt. Dass nach wie vor in Deutschland israelische Fahnen angezündet werden, ist ein erschreckendes Zeichen und mahnt uns, weiter aktiv gegen Antisemitismus zu kämpfen. ({0}) Zum Schluss möchte ich als Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft einen Satz dazu sagen, was wir noch tun können, um das Verständnis der Deutschen für die Politik und für das Leben in Israel zu verbessern. Ich glaube, dass wir noch viele Wege beschreiten können und müssen, um die Deutschen und die Bürger Israels näher zueinander zu bringen, den Austausch der Jugend zu fördern, die Zusammenarbeit der Wissenschaft und der Wirtschaft weiter zu entwickeln und zu fördern, damit wir dem deutsch-jüdischen Verhältnis eine neue, zusätzliche Dimension verleihen, die uns hilft, Antisemitismus auch in Deutschland ein für alle Mal zu überwinden. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Das Wort hat nun Frau Staatsministerin Claudia Roth für die Bundesregierung. ({0})

Claudia Roth (Gast)

Politiker ID: 11003212

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Ron Prosor! Charlotte Knobloch, deren 90. Geburtstag wir vor wenigen Tagen gefeiert haben, hat nie vergessen, was sie am 9. November 1938 in München erleben musste. Sie hat es nie vergessen können! Niemand könnte das. Wer erlebt, dass in wenigen Tagen alles, was dem eigenen Leben Gewissheit und Vertrauen gab, zerstört wird, der wird das sein Leben lang nie vergessen. „Wer den November 1938 erlebt hat, für den kann ‚Nie wiederʼ niemals nur ein leeres Wort bleiben“, sagt Charlotte Knobloch. Kein leeres Wort – nicht im Land der Täter, nicht in dem Land, das Charlotte Knobloch, Fritz Bauer und mit ihnen viele Jüdinnen und Juden trotz der Shoah, trotz der unermesslichen Schuld dieses Landes mit aufgebaut haben. Wir sind heute versammelt, um voll Scham zu bekennen: Jüdisches Leben ist in Deutschland noch immer bedroht. Antisemitismus existiert noch immer in diesem Land. – Deswegen heißt Erinnern an den 9. November auch immer Kämpfen für die Demokratie und gegen Antisemitismus. ({0}) Diese Erinnerung ist keine Pflicht und keine Bußübung, keine – ich zitiere – „dämliche Bewältigungspolitik“, wie sie Björn Höcke für die AfD bezeichnet. Diese Erinnerung ist ein Kampf auch gegen die Feinde der Demokratie. Die Erinnerung an den 9. November, an die Opfer des Terrors, an das, was diesem Tag vorausging, und an die Konsequenzen, die dieser Zivilisationsbruch hatte, diese Erinnerung ist ein Dienst an uns selber, an uns allen. Der 9. November, sagt Charlotte Knobloch, war das Tor nach Auschwitz. Es ist die Wahrheit, und diese Wahrheit ist uns zuzumuten. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht vergessen dürfen, dass das Gift des Hasses langsam wirkte und wirkt, dass auf Verleumdung Diskriminierung folgte, auf Ausgrenzung Verfolgung und am Ende Zerstörung und Vernichtung standen. Hass, Missgunst und Ausgrenzung bedeuten Verrat an der Demokratie. Über 3 000 Fälle antisemitischer Straftaten, die das Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr feststellte, sind über 3 000 Fälle zu viel. Die Vielzahl an judenfeindlichen Straftaten und ja, auch der schlimme Vorfall bei der Documenta sind nicht nur ein Angriff auf jüdisches Leben in unserem Land, sondern auch ein Angriff auf unser Zusammenleben, auf das „Wir alle“, und sie sind deswegen eine riesengroße Herausforderung für die Politik in unserem Land. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Land hat am 9. November 1938 seine Würde verloren. Es hat Jahre und Jahrzehnte gedauert, um wieder aufgenommen zu werden in den Kreis der zivilisierten Länder. Ganz zuallererst verdanken wir dies Israel und unseren jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen. Die Freundschaft mit Israel, die Zusammenarbeit und der Kampf gegen Antisemitismus sind unverrückbarer Teil der deutschen Staatsräson. Und sie sind konstitutiv für unsere Demokratie und für die Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Es war der Kampf gegen das Vergessen, der dieses Land, der unsere Gesellschaft verfasst hat. Ich glaube, man kann sagen: So sind wir zu einer freien und demokratischen Gesellschaft geworden. Und wir sind nicht am Ende der Geschichte angekommen. Unser Leben in Freiheit und Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wer sich erinnern kann, weiß das, und wer daran erinnert, weiß das auch. Wir werden unsere Freiheit und Demokratie verteidigen müssen, sagt Charlotte Knobloch. Recht hat sie. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen 9. November, dem deutschen Schicksalstag im Guten wie im Bösen, zur Bekämpfung des Antisemitismus aufzurufen, ist angemessen und geboten. „Erinnern heißt handeln“, wie es im heutigen Titel heißt, stimmt in diesem Kurzschluss aber leider nicht. Die deutsche Erinnerungskultur macht zunehmend den Eindruck einer kompensatorischen Veranstaltung: viel symbolischer Aufwand und pathetische Worte, die immer öfter aber nur kaschieren, dass es einen eklatanten Mangel an Handlungen gegen den wachsenden Antisemitismus gibt. ({0}) Schlimmer noch: Während immer neue Mahnmale und Gedenkorte zu den NS-Verbrechen errichtet werden, sorgt Ihre aktuelle Politik zugleich dafür, dass sich Juden wieder unsicher und bedroht fühlen in Deutschland, dass sie an Auswanderung denken müssen; in Frankreich ist es längst so weit. Das ist doch die peinliche Wahrheit. ({1}) Sie sorgen dafür, indem Sie weiter die Massenmigration aus einem Kulturkreis fördern, nämlich dem islamischen, in dem nachweislich der größte Judenhass weltweit grassiert; die Umfragen und Statistiken sind hier eindeutig. Fragen Sie bitte jüdische Mitbürger, in welchen Stadtvierteln in Berlin oder analog in Paris oder anderswo in Europa sie am allerwenigsten mit einer Kippa spazieren gehen würden, und Sie werden eine eindeutige Antwort erhalten. Es sind nicht die Viertel mit der angeblich so rassistischen einheimischen Mehrheitsbevölkerung. Natürlich gibt es Antisemitismus überall. Aber hören Sie endlich auf, die Gesellschaft pauschal anzubräunen, ({2}) und benennen Sie Ross und Reiter, wenn Sie von Antisemitismus sprechen! ({3}) Frau Faeser, Sie haben heute den Islamismus benannt. Aber Ihre generelle Blindheit auf dem islamistischen Auge ({4}) kann unser Land und speziell die Juden in Deutschland noch teuer zu stehen kommen, wenn Sie hier nicht umsteuern. ({5}) Sie fördern den Antisemitismus ja auch ganz systematisch auf der ideologischen Ebene. Die Documenta 15 mit ihren Skandalen hat es ans Licht gebracht: Der Postkolonialismus, dem Kulturstaatsministerin Roth genauso huldigt wie ihre Vorgängerin im Amt, Monika Grütters, CDU, ist nicht nur eine Ideologie des Ressentiments gegenüber dem Westen und allem Weißen; es ist auch eine Ideologie der tief verwurzelten Judenfeindschaft. ({6}) Edward Said, Gründervater des Postkolonialismus palästinensischer Herkunft, hat „sein wissenschaftliches Werk… explizit in den Kontext seines politischen Engagements gegen Israel“ gestellt – ich zitiere hier die „FAZ“ vom September. Die Saat dieses Hasses ist heute breit aufgegangen. Sie hat den akademischen Diskurs zuerst vergiftet, und sie vergiftet jetzt zunehmend auch unsere Kultur- und Erinnerungspolitik. ({7}) Solange Sie eine Ideologie ideell und finanziell fördern, deren Sumpfgewächs die Israel-Boykottbewegung BDS ist, eine existenzielle Bedrohung für Juden in aller Welt, ist Ihr Erinnern kein Handeln, sondern – es tut mir leid, das sagen zu müssen – zu einem großen Teil Heuchelei. ({8}) Und hören Sie bitte auf, Frau Roth, mit Ihren wirklich haltlosen Anschuldigungen in unsere Richtung! ({9}) Wenn eine Politik für die Sicherheit der Juden in Deutschland sorgen würde, dann ist es die Politik der AfD. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anikó Glogowski-Merten, FDP-Fraktion. ({0})

Anikó Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005150, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf der Tribüne! Es sind eigentlich so manche Worte an diesem Pult, die das Erinnern vergiften. – Dieser Satz sei mir gestattet. ({0}) Jüdisches Leben gehört zu Deutschland. Das gilt für die Vergangenheit genauso wie für die Zukunft. Die Novemberpogrome und das, was daraus folgte, sind jedoch in unser kollektives Gedächtnis als grauenhafte Verbrechen eingebrannt; jüdisches Leben sollte in Deutschland komplett vernichtet werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist mitnichten eine Selbstverständlichkeit. Erinnerungskultur braucht Raum. Sie braucht Orte, innerhalb derer sie sich entfalten kann. Sie braucht Mut und Zuversicht. In meinem Heimatwahlkreis Braunschweig hatte ich vor Kurzem das Glück, einen dieser Orte, das Braunschweiger Landesmuseum „Hinter Aegidien“, an welchem wir die Erinnerungskultur für jüdisches Leben in Deutschland pflegen, dokumentieren und archivieren, zu besuchen. Die Sammlung von Objekten des religiösen Gebrauchs gehört zu den historisch bedeutendsten in Deutschland. Sie ist ein Zusammenspiel aus Erinnerung, Dokumentation und Aufarbeitung. Letzteres ist vor allem dann unabdingbar, wenn es um die Schaffung von Perspektiven für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft jüdischen Lebens geht. Die historische Aufarbeitung der Novemberpogrome und des Holocausts wirft stets auch die Frage von Schuld und Verantwortung auf. Die Auseinandersetzung mit diesem Teil unserer Vergangenheit ist und bleibt schmerzhaft, aber auch unabdingbar. Die Frage nach der historischen Verantwortung ist für jede Generation, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland geboren wurde, eine sich immer wieder aufs Neue stellende Herausforderung. Umso wichtiger ist es, bewusst Raum für die Präsenz jüdischen Lebens in Deutschland zu schaffen. Bis heute ist jüdisches Leben in Deutschland bedroht. Der Hass auf Jüdinnen und Juden nimmt vielerorts zu. Dies bestätigen leider auch die Zahlen des Bundeskriminalamtes für antisemitisch motivierte Straftaten. Nur wenige Straßenzüge von hier entfernt steht die Synagoge der jüdischen Gemeinde Berlins unter andauerndem Polizeischutz, und auch an der Braunschweiger Synagoge kann zum heutigen Gedenken an die Reichspogromnacht die Kranzniederlegung wieder nicht ohne Gegenwart eines Streifenwagens stattfinden. Ich wünsche mir sehr, dass jüdisches Leben 84 Jahre nach den furchtbaren Vorfällen der Reichspogromnacht Raum im öffentlichen Leben in Deutschland findet. Ich wünsche mir, dass die Präsenz jüdischen Lebens zur Normalität und zur Pluralität unseres Alltags in der Bundesrepublik gehört, dass es möglich und selbstverständlich ist, ohne Angst und Hass jüdische Religion und Kultur im privaten und öffentlichen Raum in Deutschland zu praktizieren und zu leben. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das Pflegen von Erinnerungskulturen, wie es zum Beispiel durch das Landesmuseum Braunschweig, aber auch an vielen anderen Orten praktiziert wird, schafft, so hoffe ich, weiterhin die Grundlage für die Entfaltung jüdischen Lebens in Deutschland. Wir brauchen einen sensiblen Umgang mit unserer Erinnerungskultur – im Inneren wie auch im Ausland. ({1}) Das verdeutlichte auch eine für diese Woche geplante Veranstaltung des Goethe-Instituts in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv; meine Kollegin Linda Teuteberg hat es angesprochen. Es ist unsere Pflicht als Menschen, nicht wegzusehen, wenn jüdischem Leben in Deutschland das Existenzrecht abgesprochen wird. Es ist unsere Pflicht, Räume zu schaffen und zu bewahren, in denen die Erinnerung an jüdische Kultur in Deutschland bewusst gepflegt und erhalten wird. Wir brauchen auch für zukünftige Generationen, die noch vor der schwierigen Auseinandersetzung mit den Erinnerungen an die Pogrome und den Holocaust stehen, kollektive Anknüpfungspunkte und Orte in Form von Museen und Synagogen, vor allem aber auch Menschen, die die Erinnerung nicht vergessen. Wir müssen Orte der Erinnerung schaffen und erhalten; denn Handeln im Hier und Jetzt, das Einstehen für Präsenz jüdischen Lebens im öffentlichen Raum, setzt Bewusstsein um das Geschehene voraus und um die historische Verantwortung, die damit einhergeht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte, Frau Kollegin.

Anikó Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005150, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Denn ganz im Sinne dieser Debatte, meine sehr verehrten Damen und Herren: Erinnern heißt handeln. Es heißt, Erinnerungskultur bewusst zu pflegen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Anikó Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005150, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es heißt, Raum für jüdisches Leben in Deutschland zu schaffen. Es heißt, nachzufragen, wenn es unangenehm ist. Und es heißt, nicht wegzusehen, wenn seine Existenz bedroht wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Glogowski-Merten, das Lächeln hilft auch nicht, wenn Sie die Zeit so überschreiten. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Simona Koß, SPD-Fraktion. ({0})

Simona Koß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005112, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 9. November 1938, einem Mittwoch wie heute, rotteten sich um diese Uhrzeit die Horden derer zusammen, die nur wenige Stunden später Synagogen anzündeten und abbrennen ließen, Geschäfte und Wohnungen von Jüdinnen und Juden zerstörten und Menschen misshandelten, verhafteten, auf sie einschlugen und töteten – nur, ja nur weil sie Juden waren und den Nationalsozialisten als billiges Feindbild, als Sündenbock dienten. Die Reichspogromnacht steht für eine der schrecklichsten antisemitischen Gewalttaten, gerade weil sie, im Vorfeld wohlorganisiert, den Volkszorn simulierte und anstachelte. Es sollte in dieser Nacht deutlich werden, dass die Nazis mit ihren Massenverhaftungen, mit Sondergesetzen und Demütigungen im Sinne der Bevölkerung handelten, die angeblich noch härteres Vorgehen gegen Jüdinnen und Juden verlangte. Auf diese Nacht folgten in noch größerem Umfang Vertreibung, Verschleppung und letztlich die Ermordung von 6 Millionen Menschen in den Vernichtungslagern – nur, ja nur weil diese Menschen Juden waren. Die Nationalsozialisten knüpften für ihr schreckliches Handeln an tief geprägte Vorurteile an. Judenhass und Judenfeindlichkeit waren längst salonfähig. So wie der Antisemitismus des 9. November 1938 keineswegs spontan war, so hat er leider keineswegs mit dem Jahr 1945 aufgehört, zu existieren. Ganz im Gegenteil: Er ist da – Tag für Tag. Glücklicherweise wurden in den vergangenen Jahren in den Bundesländern Recherche- und Informationsstellen zum Antisemitismus eingerichtet, die RIAS. Wir gemeinsam, meine Damen und Herren, sollten diese Stellen weiter unterstützen und verstetigen. Nach den Zahlen im Bericht von RIAS wurden im letzten Jahr 2 738 antisemitische Vorfälle verzeichnet – eine schrecklich hohe Zahl. Leider müssen wir von einer noch höheren Dunkelziffer ausgehen. Der RIAS-Jahresbericht liest sich bedrückend. In ihm ist die Rede von Bedrohung, Massenzuschriften, Hassmails, Sachbeschädigung, Angriffen und von sechs Fällen extremer Gewalt. Nicht verzeichnet sind antisemitische Schimpfwörter, der Glaube an die zionistische Weltverschwörung und natürlich die Vorsicht und Angst von Jüdinnen und Juden, in unserem Land sichtbar ihren Glauben zu leben und als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden. Ich habe es auch bei uns in Brandenburg erlebt und sehe es jeden Tag in den sozialen Netzwerken: Im Zuge der Coronaproteste, aber auch im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg werden immer wieder antisemitische Muster bemüht. Und wir erleben auch hier im Bundestag immer wieder, wie dieses Muster von rechts befördert wird. ({0}) Das, was damit geschieht, meine Damen und Herren, ist geistige Brandstiftung. ({1}) Dem setzen wir Demokratinnen und Demokraten Folgendes entgegen: Der Härtefallfonds wird kommen, sobald die Bundesländer einer Beteiligung zugestimmt haben. Noch in diesem Jahr muss das Geld fließen. Es wird allerhöchste Zeit für die hochbetagten jüdischen Kontingentflüchtlinge. ({2}) Ich bin sehr froh darüber, dass die Verhandlungen zwischen dem Bundesfinanzministerium und der Jewish Claims Conference erfolgreich verlaufen sind und wir deutlich gemacht haben, dass wir mit der Bundesregierung der Verpflichtung den Holocaustüberlebenden gegenüber nachkommen. Es ist unsere Pflicht, den Holocaustüberlebenden in der Ukraine zur Seite zu stehen, ({3}) ebenso wie den jüdischen Kindern aus ukrainischen Waisenhäusern und allen Geflüchteten. ({4}) Ich bin stolz auf diese Bundesregierung, die hier unkompliziert hilft. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten alle eine Vorstellung davon haben, was Judentum in Deutschland ausmacht. Jüdisches Leben gehört zu uns, ob in Neukölln, in Frankfurt oder in Bernau. Lassen Sie uns wachsam sein. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, unserer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Lassen Sie uns noch offener und interessierter aneinander sein und jüdisches Leben in Deutschland in seiner Vielfalt mit Interesse und als Bereicherung betrachten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Koß. – Als nächster Redner ist an der Reihe der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits im Jahr 2019 hat Rabbiner Henry Brandt gewarnt – Zitat –: „Der Antisemitismus zeigt wieder seine Fratze.“ Henry Brandt wurde 1927 in München geboren. Im November 1938 ist er mit seinen Eltern nach Israel geflüchtet und konnte so der Ermordung entkommen. Er diente als Soldat in der israelischen Armee, wurde in London zum Rabbiner ausgebildet und kehrte in das Land seiner Eltern, in sein Land zurück. Allein das ist eine Gnade. Er wurde Vorsitzender der Rabbinerkonferenz, war bis zuletzt Rabbiner in meiner Heimatstadt Augsburg. Er ist im Frühjahr dieses Jahres gestorben. Er hat gesagt: Ich bin überzeugt, dass das Gespräch, die Konfrontation mit Unterschieden und Geschichte die beste Waffe gegen Antisemitismus und Vorurteile ist … Geschichte. Die Novemberpogrome des Jahres 1938 haben in den Abgrund der Shoah, in die Ermordung von Millionen und in die Entmenschlichung verwiesen – mit all der Verantwortung von jenen, die mitgemacht oder auch nur weggeschaut haben. Wir müssen aber auch die Zeit vor dem 9. November 1938 vor Augen haben. Wie konnte es dazu kommen? Die Antworten sind: Es waren antisemitische Verschwörungserzählungen im Umlauf, Vorurteile und Verrohung in der Sprache, gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung. Es ist heute nicht wie damals; aber die Mechanismen funktionieren ähnlich. Deswegen müssen wir stets wachsam sein. ({0}) Unser Anspruch muss sein: Juden müssen heute ohne Angst leben können – überall. Aber ist das stets möglich, wenn Schulen, Kindertagesstätten und Synagogen polizeilich geschützt werden müssen? Ist das möglich, angesichts von 3 000 antisemitischen Straftaten? Die meisten kommen aus dem rechtsextremen Spektrum. ({1}) Dazu hätte ich mir von der rechten Seite des Hauses etwas gewünscht; aber es war absehbar, dass dazu nichts kommt. ({2}) Es gibt auch islamistischen und linksextremistischen Antisemitismus, gar keine Frage. ({3}) Und er beginnt nicht mit strafbaren Handlungen; das wäre eine unzulässige Verengung, eine geradezu gefährliche Sichtweise. Wir dürfen nicht schweigen über Antisemitismus, der sich mit Verschwörungstheorien durch Chatgruppen frisst und droht, die Mitte der Gesellschaft zu vergiften: vermeintliche Kritik am Staat Israel, die aber nur als Deckmantel für Antisemitismus steht. Dazu zählen auch kulturelle Vorkommnisse wie dieses Jahr auf der Documenta. Wir haben Verantwortung, zu erinnern. Die Verpflichtung besteht in der Aufklärung, aber auch in der Prävention. Kein Mensch wird als Antisemit geboren. Menschen werden dazu. Wie können wir verhindern, dass Menschen zu Antisemiten werden? Das ist eine Frage von Bildung und Aufklärung. Henry Brandt hat gesagt: von gemeinsamer Arbeit und Gesprächen. Ein versöhnender Ton. Was für eine Stärke dieses Mannes! Gerade weil Rabbiner Henry Brandt und immer mehr Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind – und sie fehlen –, liegt es an uns, die Erinnerung zu bewahren: nicht als Ritual, sondern als aufrichtige Mahnung. Es gibt keinen Zeitablauf für die Notwendigkeit des Gedenkens. Die Erinnerung an die Opfer endet nie. Erinnern bleibt in diesem Land jedem stets zumutbar. Für ein „Nie wieder!“ einzutreten, ist eine unerlässliche Pflicht: mit dem Aufruf am 9. November, aber auch mit jedem Tag unseres politischen Handelns. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marlene Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marlene Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Ehrengäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Von den 200 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland leben circa 70 000 jüdische Seniorinnen und Senioren unter der Armutsgrenze, darunter viele Shoah-Überlebende. Das ist ein krasses Versagen der Politik. ({0}) Wenn wir jetzt endlich einen Härtefallfonds schaffen, dann ist das ein Anfang; aber es kommt spät. Jüdische Organisationen kritisieren seit Jahrzehnten, dass der Armut von Jüdinnen und Juden nicht begegnet wird. Das ist nur ein Beispiel für die Ignoranz, die jüdische Stimmen in diesem Land erfahren. Viele Jüdinnen und Juden haben Bedenken, Kritik zu äußern oder sogar Selbstverständliches einzufordern, weil sie Angst haben, dass die Politik sie im Stich lässt. So auch, wenn es um Antisemitismus geht: Viel zu selten spielt das, was Betroffene berichten, dabei eine Rolle. Mir ist wichtig, dass von der heutigen Debatte ausgeht: Wir haben diesen Missstand erkannt, und wir wollen daran etwas ändern. ({1}) Dafür müssen wir bei uns selbst anfangen. Wir müssen uns fragen: Wie können wir der Kritik und den Anliegen von Jüdinnen und Juden mehr Gehör verschaffen? Wie können wir politische Räume zu Safer Spaces auch für Jüdinnen und Juden machen? Wie schaffen wir es, dass wirklich immer klare Kante gegen Antisemitismus gezeigt wird, auch dann, wenn er aus dem eigenen politischen Lager kommt? Eine Umfrage des American Jewish Committee zeigt, dass die Anhänger/-innen demokratischer Parteien keineswegs immun gegen Antisemitismus sind. Unter Grünenwählerinnen und ‑wählern sind es 24 Prozent und unter Unionsanhängerinnen und ‑anhängern 32 Prozent, die der Meinung sind, dass „die Juden ihren Status als Opfer der Shoah zu ihrem Vorteil nutzen“ würden. Bei der SPD, der FDP und der Linken sind die Zustimmungswerte sogar noch höher. Mit Abstand am höchsten sind sie bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD. Studien zeigen längst, dass der Antisemitismus zum programmatischen Kern dieser radikal rechten Partei gehört. ({2}) Ihre Inszenierung als projüdisch ist heuchlerisch und schäbig. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine oberflächlich anti-antisemitische Haltung reicht nicht aus; wir brauchen mehr, nämlich eine dauerhafte Auseinandersetzung und eine konsequente Positionierung. An Gedenktagen sagen wir ritualisiert „Nie wieder!“, und überall höre ich, dass kein Platz für Antisemitismus sei. Doch seien wir ehrlich: Leider gehörte der Antisemitismus immer zu Deutschland. ({4}) Wenn es bei der Bekämpfung des Antisemitismus bei Phrasen bleibt, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen. ({5}) Dem Antisemitismus konsequent zu begegnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist mühsam, das ist schmerzhaft, das ist frustrierend, und es ist ein Kampf, bei dem wir Jüdinnen und Juden viel zu lange alleingelassen haben. Wir müssen jeden Tag daran arbeiten, das zu ändern. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schönberger. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Professor Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Wir erinnern heute in dieser Debatte an die Pogrome vor 84 Jahren. Uns beschäftigt die Frage, wie es dazu kommen konnte. Keiner von uns ist naiv; wir wissen, es gibt das Böse, es gibt das Verbrechen, es gibt die Radikalisierung – manchmal sogar von diesem Pult aus. Aber die entscheidende Frage, an der ich immer am meisten festhänge, ist: Wie konnte das alles mitten unter uns passieren? Das ist doch die zentrale Lehre der Ereignisse vom 9. November 1938: dass eben zu viele zugeschaut haben, dass es zu viele haben passieren lassen oder aber sogar manche der Gedanken und Einstellungen, die die anderen zu den radikalen Taten trieben, geteilt haben. Deswegen möchte ich auch heute sagen: Wir haben bei dieser Debatte natürlich über die Verbrechen, die in den letzten Jahren in unserem Land passiert sind, gesprochen. Wir haben den Skandal der Documenta besprochen. Aber der andere große Skandal, den wir in diesem Land haben, ist der, der jeden Tag in den Köpfen von zu vielen Menschen stattfindet, dort, wo die antijüdischen Ressentiments und Stereotype auch heute noch festsitzen. 20 Prozent der Menschen glauben, Jüdinnen und Juden hätten in diesem Land zu viel Einfluss auf Wirtschaft und Finanzwesen oder auf Politik und Medien. Deswegen kann ich nur appellieren: Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht allein ein Kampf gegen die Täter und auch nicht allein ein Kampf von Zuständigen, sondern eine Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen müssen, weil sie in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sein muss. ({0}) Verzichten können wir auf Bekenntnisse zur Bekämpfung des Antisemitismus, die sich ihrerseits dieser Stereotype bedienen und nur gegen andere Gruppen richten; denn stereotype Vorurteile oder sogar verfestigte Einstellungen, die sich zu Menschenfeindlichkeit auswachsen, ({1}) haben eine gemeinsame Wurzel, aus der auch der Antisemitismus erwächst, und dem müssen wir uns entgegenstellen, mit allem, was wir als Demokratinnen und Demokraten aufzubieten haben. ({2}) Ich will abschließend auch als Religionspolitiker sagen: Die Religion wird irgendwie kleiner und weniger in unserem Land. Die Menschen sollen selber entscheiden, wie sie es damit halten. Aber wir brauchen, auch zur Bekämpfung des Antisemitismus, eine religiöse Alphabetisierung in diesem Land. Die Menschen, auch wenn sie mit Religion nichts am Hut haben wollen und müssen, sollen verstehen können, was es mit Religion auf sich hat. Deswegen ist unsere Religionsverfassung, die ein kooperatives Verhältnis zwischen Kirche und Staat, Religion und Staat vorsieht und die auch eine aktive Förderung von religiösem Leben in diesem Land vorsieht, eine gute Verfassung. Deswegen der wichtigste Satz dieser Debatte am Schluss: Wir sind froh und dankbar, dass jüdisches Leben in diesem Land wieder seinen Platz hat, und wir werden es weiter fördern. Vielen Dank. ({3})

Kaweh Mansoori (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005141, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende! Im Iran gibt es keine freien Wahlen; es gibt keine Selbstbestimmung, es gibt keine Gleichheit vor dem Gesetz, es gibt keine Freiheit der Meinungen. Immer wieder haben Iranerinnen und Iraner auf Reformen gehofft. Sie haben darauf vertraut, dass sich die Republik von innen heraus verändern kann. Immer wieder sind sie enttäuscht worden, immer wieder ist ihre Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung niedergeschlagen worden, immer wieder haben die Menschen im Iran ihren Glauben verloren; denn die Islamische Republik ist keine Demokratie. Am 20. September wurde Jina Mahsa Amini, eine iranische Kurdin, im Gewahrsam von Sicherheitsbehörden getötet. Ihr Tod war kein tragischer Unfall, sondern Mord. Seitdem gehen jeden Tag Tausende und Abertausende auf die Straße – nicht etwa weil sie einen Iran ohne Hidschab wollen, sondern weil sie einen Iran wollen, in dem man nicht zu jeder Zeit an jedem Ort ohne einen einzigen gerechtfertigten Grund von Sittenpolizei, Revolutionsgarden oder einfach nur staatlich bezahlten Schlägertrupps verhaftet, entführt, gefoltert oder getötet werden kann. Sie wollen einen Iran ohne dieses Regime, meine Damen und Herren. ({0}) Sie rufen: „Tod dem Diktator!“ Der Mut und die Tapferkeit dieser Menschen sind grenzenlos; denn anders als bei uns arbeiten die Sicherheitsbehörden nicht zu ihrer Sicherheit, sondern zur Sicherung des Machtapparats. Mehrere Hundert Menschen wurden seit Beginn der Proteste getötet. Das Scheinparlament – echte Reformer werden gar nicht erst zur Wahl zugelassen – hat mit einer 80-Prozent-Mehrheit entschieden, dass 15 000 politische Gefangene hingerichtet werden sollen. Die Mullahs fürchten den Ruf nach Freiheit – uns ist die Freiheitsbewegung ein leuchtendes Beispiel. ({1}) Die Mehrheit dieses Parlaments unterstreicht heute, dass unsere Solidarität kein Lippenbekenntnis ist. Die Machthaber im Iran müssen wissen: Sie haben keine Zukunft. Wir werden ihnen das Leben so schwer machen, wie wir es können: Weitere Verantwortliche kommen auf die Sanktionslisten. Wir wollen nicht nur ihr Vermögen einfrieren, sondern auch solches, das von ihnen stammt und sich bei Dritten befindet. Wir werden Behörden in die Lage versetzen, sanktioniertes Vermögen aufzuspüren. Wir werden Visasperren ausweiten. Wir werden die Sanktionen auch beim Handel verschärfen, damit geltendes Recht nicht umgangen wird. Solange sie Menschenrechte mit Füßen treten, wird es keine normalen Beziehungen geben. Für die demokratische Zivilgesellschaft müssen wir tun, was wir können. Lassen Sie uns Brücken zu Kultur, Wissenschaft und NGOs aufrechterhalten! Wir müssen beim Aufbau eines freien Internets unterstützen. Wir müssen iranische Stimmen vor Regimekräften in Deutschland konsequent schützen. Wir müssen humanitäre Visa vergeben und Asylverfahren für Iranerinnen und Iraner erleichtern; denn das ist es, was Solidarität konkret bedeutet, meine Damen und Herren. ({2}) Den Menschen im Iran sagen wir: Haltet durch! Die Zukunft des Irans ist eine, die ihr bestimmt. Wir stehen an eurer Seite. Meine Großmütter werden die Befreiung dieses großartigen Landes leider nicht erleben, aber meine Mutter, meine Tanten, meine Cousinen, deren Töchter und Millionen von Frauen im Iran, die der ganzen Welt gerade beweisen, dass Frauenrechte, dass Menschenrechte nicht gegeben werden, sondern von Geburt an bestehen. Zan, Zendegi, Azadi! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mansoori. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir seit einigen Wochen im Iran erleben, ist in der Dimension und in der gesellschaftlichen Breite – natürlich nicht in den Intentionen – nur mit einem historischen Ereignis vergleichbar, nämlich dem Sturz des Schahs im Jahre 1979 und der folgenden islamischen Revolution. Das ist keine Prognose, wie es ausgeht; aber ich beschreibe das, um die Dimension des Geschehens zu verdeutlichen. Es geht nicht mehr nur um Proteste – Sie haben es auch gesagt, Herr Kollege –, sondern es ist eine revolutionäre Bewegung im Iran im Gange. Daraus folgt, dass für Deutschland die Zeit gekommen ist, dass wir uns entscheiden. Es ist jetzt nicht mehr die Zeit, zu lavieren, sondern Deutschland muss Position und Partei beziehen in dieser historischen Situation. ({0}) Schon im Titel Ihres Antrags greifen Sie diese Dimension nicht auf: Sie sprechen von einer „Protestbewegung“. Aber es geht um eine revolutionäre Bewegung, die im Iran stattfindet. Die richtige Antwort Deutschlands müsste sein: maximaler Druck auf das Regime, maximale Unterstützung für die Protestierenden. Das wäre die richtige deutsche Außenpolitik. ({1}) Wir erleben das Gegenteil. Auch in diesem Antrag ist es wieder dokumentiert. Man könnte fast glauben, dieser Antrag der Fraktionen wäre im Auswärtigen Amt geschrieben worden, ({2}) weil er den Geist atmet: Deutschland macht in dieser Situation Minisanktionen, Deutschland macht nur das, was das obligatorische Mindestmaß an Druck für das Regime ist. Dadurch fühlen sich die Protestierenden im Stich gelassen, meine Damen und Herren. Deutschland leistet zu wenig. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Röttgen, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Röttgen, ich bin über Ihre heutige Rede wie auch über Ihre letzte Rede mehr als irritiert und kann Ihnen nur empfehlen, mal unseren Antrag zu lesen. Und was glauben Sie eigentlich, warum der deutsche Botschafter im Iran dauernd einbestellt wird, warum von außenpolitischer Einmischung geredet wird, warum gerade unsere Außenministerin Baerbock dort als Speerspitze des Widerstands, der Kritik und vor allem der konkreten Maßnahmen gegen dieses Regime immer wieder mit aller Härte kritisiert wird? Haben Sie nicht mitbekommen, dass es bereits ein Sanktionspaket gab, dass das nächste ansteht, dass die Listung weiterer Personen vorbereitet wird, dass dies ebenso eine deutsche Initiative war wie der Ansatz, das im Menschenrechtsrat zu thematisieren sowie Maßnahmen zur Accountability und zum Schutz der Zivilbevölkerung auf den Weg zu bringen? Das alles hat diese Bundesregierung geleistet. Natürlich wünschen wir uns alle, wir hätten ein Instrument, diese Gewalt zu beenden. Wer tut das nicht? Aber hören Sie auf, zu behaupten, dass diese Bundesregierung nichts tut. Denn es ist Annalena Baerbock, die hier an der Speerspitze des Widerstands steht. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Brugger, ich glaube, dass sowohl Sie als auch die Bundesaußenministerin darin übereinstimmen, dass keiner von uns, die wir hier in Sicherheit stehen und in einem freien Parlament debattieren, sich anmaßen sollte, zu behaupten, dass wir an der Spitze irgendeines Widerstandes stehen. An der Spitze des Widerstandes stehen die Frauen und Männer im Iran, die für ihren Freiheitskampf gefoltert und getötet werden. ({0}) Wir alle tun, glaube ich, gut daran, mit einem angemessenen Maß an Demut und Bescheidenheit an dieser Debatte teilzunehmen. ({1}) Aber Ihr Punkt ist der ganz entscheidende Punkt: Sie wollen hier darstellen, dass die Einbestellung des Botschafters Ausdruck der Entschiedenheit der Sanktionspolitik und der Unterstützungspolitik Deutschlands ist. ({2}) Wenn dies das Maß an Reaktion ist, das Sie herbeiführen wollen, dann ist das ein Beweis dafür, dass es einfach zu wenig ist. Es ist eine Realität, dass die Bundesaußenministerin nach dem Mord an Jina Mahsa Amini tagelang geschwiegen hat. Es ist eine Realität, dass Kanada 10 000 Angehörige der Revolutionsgarden sanktioniert hat, dass die USA dabei sind, die Internetkommunikation wiederherzustellen. Und Deutschland und Europa rühmen sich, dass elf Personen und vier Organisationen sanktioniert worden sind. ({3}) Herr Bundeskanzler, Sie haben sich zu diesem Thema bislang in zwei Tweets geäußert. ({4}) Ich bin ganz sicher und überzeugt: Die protestierenden Frauen im Iran, die Iraner in Deutschland, die iranischstämmigen Deutschen würden es wirklich begrüßen, wenn Sie sich einmal in persönlicher Rede dieser historischen Situation stellen würden, wenn Sie sich als deutscher Regierungschef hier zu Wort melden würden. ({5}) Ich kehre zu meiner Rede zurück. – Sie betreiben eine Politik des minimalen Drucks auf das Regime. Frau Bundesaußenministerin Baerbock, Sie haben am 30. Oktober in der ARD gesagt – und ich bleibe bei Ihrem Thema, Frau Kollegin Brugger, obwohl die Zeit für meine Rede wieder läuft –, es werde geprüft – und ich zitiere jetzt –, „wie wir die Revolutionsgarden auch als Terrororganisation listen können“. Das war Ihre Ankündigung am 30. Oktober, vor neun Tagen. Bislang ist nichts passiert. Und in diesem Antrag steht nichts davon, dass die Revolutionsgarden als Terrororganisation gelistet werden sollen. Es ist von Ihrer Seite nichts passiert. Ich wäre sehr dankbar – Sie reden gleich –, wenn Sie uns das Ergebnis der Prüfung neun Tage nach Ihrer Ankündigung vielleicht einmal mitteilen könnten. Denn jetzt sind nicht Prüfungen gefragt, sondern Taten. Handeln, Entscheidungen, klare Signale – alles das ist gefragt. ({6}) Das Regime hat in der Zwischenzeit, als die Regierung anfing, zögerlich zu agieren, ein bisschen was zu machen, immer weiter eskaliert. Sie haben es eben auch beschrieben. Die ersten Hinrichtungen sind erfolgt. Die Gewalt wird immer brutaler. Menschen werden gefoltert. 14 000 Menschen sitzen in den Gefängnissen. Das Parlament hat gerade mit großer Mehrheit gefordert und beschlossen, dass praktisch jeder Protestierende hingerichtet wird. Wenn diese Revolution scheitert, dann wird es Hinrichtungen in Massen geben, wie man sie selbst im Iran noch nicht gekannt hat. Was ist dann eigentlich Ihre Politik? Was machen Sie dann? Um das zu verhindern, müssen Sie doch jetzt aktiv werden und nicht dann, wenn es passiert, wieder Ihr Bedauern äußern. Wir müssen endlich handeln. ({7}) In Ihrem Antrag gibt es auch eine Passage der Transparenz. Warum machen Sie diese Politik, die wir für grundfalsch halten? Das beschreiben Sie dort implizit, indem Sie nämlich auf Seite 4 des Antrages ausführen, dass das Scheitern der Verhandlungen um das Nuklearabkommen „eine immense und unberechenbare Gefahr für die gesamte Region“ wäre. Die größte Gefahr für die gesamte Region ist das Regime – um das mal klarzustellen –, ({8}) dieses Terrorregime, das die gesamte Region in Flammen setzt. Ich stimme der Aussage zu, dass wir alles daransetzen müssen, dass das Nuklearabkommen wirksam wird, und wir haben alles darangesetzt. Aber Sie machen zwei grundlegende, gewaltige Fehler. Der erste Fehler ist: Mit Ihrem Festklammern am Nuklearabkommen verschließen Sie die Augen vor der inzwischen eingetretenen Realität. Sie schreiben, das Regime sei in diesen Verhandlungen – ich muss leider aus der Erinnerung zitieren – nur zögernd konstruktiv, zurückhaltend konstruktiv gewesen. Nein, die Realität ist: Das Regime hat den europäischen Vorschlag, das letzte Wort, das äußerste Angebot brüsk abgelehnt, hat dieses Angebot mit unannehmbaren Forderungen verbunden und spielt in dieser Frage nur noch auf Zeit, um in dieser Zeit die Atomwaffenfähigkeit zu erreichen. Das ist die Realität. Sie klammern sich an etwas, was der Iran schon lange aufgegeben hat. ({9}) Letzte Bemerkung: Selbst wenn es eine Chance gäbe, das Atomabkommen zu retten, wäre Ihre Politik falsch. Denn was erleben wir im Iran? Nicht irgendeinen Protest.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir erleben, dass die Menschen in der Breite der Gesellschaft für ihre Würde, für ihre Freiheit aufstehen. Historische Veränderung im Iran ist möglich. In dieser Situation haben wir nicht das Recht, andere Prioritäten zu setzen; wir haben die Pflicht, das zu unterstützen. Meine Damen und Herren der Bundesregierung, in dieser Situation der Möglichkeit historischer Veränderungen appelliere ich an Sie: Positionieren Sie Deutschland auf der richtigen Seite der Geschichte, auf der Seite von Würde und Freiheit, für die die Iranerinnen und Iraner kämpfen! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Röttgen. – Herr Kollege Erndl, Ihre Redezeit hat sich gerade um eine Minute verkürzt. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. – Nächste Rednerin ist Frau Bundesministerin Annalena Baerbock für die Bundesregierung. ({0})

Annalena Baerbock (Minister:in)

Politiker ID: 11004245

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Jina Mahsa Amini ist 22 Jahre alt, als sie getötet wird. Abolfazl Adinezadeh ist 17, als er die Schule schwänzt, um an Protesten in der iranischen Stadt Maschhad teilnehmen. Bei seiner Beerdigung fragt sein Vater, welches Verbrechen sein Sohn dafür begangen haben soll, dass ihm 24 Schrotkugeln in den Bauch gejagt wurden. Nika Shakarami ist 16, als sie bei Protesten in Teheran getötet wird. Mohammad Rakhshani und Omid Sarani aus Sistan und Belutschistan sind 12 und 13 – Kinder. Minu Majidi ist 62, Kurdin. An ihrem Grab steht ihre Tochter; ihre Haare sind abrasiert. Ihr Blick dringt ins Mark. Ihr Foto ging um die Welt. Getötet, ihren Familien entrissen: Mahsa, Abolfazl, Nika, Mohammad, Omid, Minu. Sie sind 6 von geschätzt über 300 Menschen, die getötet und ihren Familien entrissen wurden, weil sie für das eingestanden sind, was für uns selbstverständlich ist: das Recht, frei über ihr Leben zu entscheiden, das Recht, in Würde zu leben. Dafür gehen die Frauen und Männer in Iran seit fast zwei Monaten auf die Straße. Über 14 000 Menschen sind dabei verhaftet und verschleppt worden, und das Regime droht Protestierenden auch mit der Todesstrafe. Angesichts der Wucht, angesichts dieser Brutalität reichen mahnende Worte nicht aus, ({0}) und ich verstehe nicht, wie man sich an dieser Stelle über Tweets austauschen kann. Ich glaube, dass es Aufgabe von verantwortungsvoller Politik ist, dass wir strategisch und ehrlich analysieren – ich richte meinen Blick auf die Herren von der CDU –, wie wir diesen Menschen beistehen können – ({1}) nicht, indem wir hier aus einem sicheren Raum Versprechungen machen! Sie haben mit keinem Wort die Namen dieser Menschen erwähnt. ({2}) – Nein. – Wissen Sie was? Ich habe mir sehr genau überlegt, ob ich auf Ihre Rede eingehe. Ihre Rede wurde ja zum Glück – wir sind in einem freien Parlament – weltweit gehört. Deswegen möchte ich genau auf Ihre Punkte eingehen. ({3}) Warum nehmen wir uns Zeit, um Sanktionspakete zu verabschieden? Weil wir zum Glück in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat leben, ({4}) weil wir in einer gemeinsamen Europäischen Union so leben, wie die Menschen in Iran das gerne tun würden. Wissen Sie was? Ich möchte nicht, dass eine einzige Person auf unseren Sanktionslisten entlistet wird, wie das auch bei Listungen von russischen Akteuren passiert ist. Wir haben strenge Regeln dafür. Sie fragen mich, warum ich auf die anderen Europäer eingehe, warum ich warte, warum ich nicht wie die Kanadier vorgehe. – Weil alles rechtssicher sein muss. Sie sind Jurist. Sie wissen, dass wir in Teilen andere Rechtssysteme haben als die Amerikaner und die Kanadier. Wenn ich möchte, dass jede Person verantwortlich zur Rechenschaft gezogen wird, dann reicht es nicht, dass ich hier reflexhaft irgendwelche Zahlen in den Raum stelle, sondern ich möchte, wenn ich den mutigen Frauen und Männern in Iran verspreche: „Ich stehe an eurer Seite“, dass ich rechtssicher gemeinsam mit den Europäerinnen und Europäern an ihrer Seite stehe. ({5}) – Sie haben hier gefragt. Jetzt hören Sie auch die Antworten auf Ihre Fragen. Sie haben hier gefragt, was wir seit neun Tagen mit Blick auf die Terrorlistung getan haben. Ich sage Ihnen was: Das auszusprechen, war gewagt, weil wir eben ein anderes Rechtsverständnis haben als Herr Trump damals bei seiner Terrorlistung. Ich fand es wichtig, das auszusprechen, um deutlich zu machen, dass das nach meinem politischen Verständnis terroristische Aktivitäten gegen die eigene Bevölkerung sind. Sie sind Jurist; Sie wissen, wie die Terrorlistung in Europa ist. Da kann die deutsche Außenministerin nicht einfach sagen: „Das ist jetzt meine persönliche Auffassung; deswegen machen wir das in Europa so“, ({6}) sondern wir müssen uns die Rechtslage anschauen; das können wir gerne gemeinsam tun. Und da kommen viele andere Europäer zu anderen Auffassungen. Und wissen Sie was? Das klingt jetzt vielleicht so – aber das bin ich mittlerweile gewöhnt –, dass sich eine Frau rechtfertigen muss. ({7}) Sie haben gefragt, warum Agnieszka Brugger gefragt hat, warum der Botschafter einbestellt wird. Meinen Sie, es ist ein Zufall, dass sich der iranische Außenminister beim Hohen Vertreter Borrell über die deutsche Außenministerin beschwert? Ich möchte hier einmal ganz undiplomatisch reden: Wenn wir an der Seite der Frauen und der Männer in Iran stehen wollen, dann ist unsere Verantwortung – so wie wir das auch getan haben bei den mutigen Menschen in Belarus –, dass wir gemeinsam auch ganz ehrlich sagen, wo unsere Baustellen sind, was unsere Maßnahmen sind, weil wir eben nicht von außen einfach so eingreifen können. Es gibt Dinge, die würden wir uns gerne wünschen. Die sind aber in den internationalen Beziehungen und aufgrund der Rechtssysteme nicht möglich. ({8}) Erst haben Sie gesagt, Sie kritisieren den Passus vom JCPoA, und dann haben Sie gesagt, irgendwie kritisieren sie ihn aber doch nicht. Diese Haltung kann man sich als Bundesregierung nicht leisten. Deswegen möchte ich an diesem heutigen Tag deutlich unterstreichen, warum es für uns als Bundesregierung so zentral ist, dass dieses Regime, das das Existenzrecht Israels infrage stellt, niemals zu einem nuklearen Waffenarsenal kommt. ({9}) Ich habe mehrfach deutlich gemacht: Es gibt keine Verhandlungen. Das haben wir in Münster beim G-7-Treffen unterstrichen. Aber ich werde diesem Regime niemals einen Blankoscheck geben und sagen: Jetzt akzeptieren wir doch irgendwie, dass ihr nuklear anreichert. – Nein, diese nukleare Anreicherung muss mit Blick auf das Existenzrecht Israels und auch zum Schutz der Menschen in Iran gestoppt werden. ({10}) Ich kann niemandem versprechen, dass das alles Wirkung zeigt. Zur Realität gehört: Das wissen wir nicht. Politik ist kompliziert, Außenpolitik erst recht, weil wir den Menschen in Iran eben von außen in dieser Situation beistehen. Ich weiß nicht – ich glaube, das weiß niemand; das wissen auch Sie nicht –, wie das Regime weiter vorgehen wird. ({11}) Was ich aber weiß, ist: Wir lassen nicht nach. Jeden Tag werden wir versuchen, weitere Sanktionspakete auf den Weg zu bringen. Ich telefoniere mir gerade die Finger wund, damit wir im Menschenrechtsrat endlich den Accountability-Mechanismus aktivieren können. Ob das gelingt, können Sie mich dann wieder fragen; ich weiß es nicht. Die Resolution zu Xinjiang ist im Menschenrechtsrat gescheitert. Das zeigt aber, wie wichtig es ist, dass wir uns tagtäglich dahinterklemmen, weil alle, die für Menschenrechte arbeiten, wissen, wie wichtig es für die Opfer ist, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. ({12}) Deswegen stehen wir – ich komme zum Schluss – an der Seite der starken Frauen und Männer in Iran, solange es notwendig ist. ({13}) Wir tragen ihre Stimmen in die Welt. Sie heißen Mahsa, sie heißen Nika, sie heißen Abolfazl, sie heißen Mohammad, sie heißen Omid, sie heißen Minu. Mindestens 30 von ihnen sind Kinder, und sie sind stärker als das Unrecht und die Gewalt. Herzlichen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Braun, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tja, das ist das Ergebnis dieser Rede der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock: Nicht die Iraner leiden unter dem Mullah-Regime, sondern die Bundesaußenministerin leidet im Auswärtigen Amt und entblättert hier den entsetzlichen Zustand in Sachen Außenpolitik. Es ist wirklich beschämend! ({0}) Es ist beschämend, was Sie hier abgeliefert haben in den letzten Minuten. ({1}) So eine Rede – unglaublich! Jene Parteien, die sich niemals kritisch zum Kopftuchzwang in Deutschland geäußert haben, inszenieren sich jetzt als Unterstützer der Proteste im Iran – ausgerechnet jener Proteste, die sich am Kopftuchzwang entzündet haben; ({2}) am Kopftuchzwang, das ihnen ein Regime aufgezwungen hat, das von Anfang an von den europäischen Linken hofiert und gestützt worden ist. Die Links-Grünen Steinmeier, Joschka Fischer, Claudia Roth und Co haben uns jahrzehntelang weismachen wollen, die sogenannten Reformer seien ja unsere Partner und ach so viel humaner als Typen wie Ahmadinejad. Glückwunschtelegramme zum Jahrestag der Islamischen Revolution, unwürdige Atomabkommen und sogar devote Delegationsreisen mit Kopftuch waren die Folge. Am Sonntag hat das iranische Scheinparlament mit fast 80‑prozentiger Mehrheit, also auch mit Unterstützung der angeblichen Reformer, beschlossen, dass die Teilnahme an den Demonstrationen fortan als „Krieg gegen Allah“ gelten soll – ein Tatbestand, auf den im Iran die Todesstrafe steht. Die Leben von rund 14 000 inhaftierten Demonstranten befinden sich in Gefahr, allein weil sie von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben. Seit dem gewaltsamen Tod der 22‑jährigen Mahsa Amini sind den islamistischen Schlägertrupps der Mullahs unzählige weitere junge Frauen und Mädchen zum Opfer gefallen. Insgesamt geht es mittlerweile um mehr als 300 Demonstranten, Männer wie Frauen, die vom Regime innerhalb von zwei Monaten ermordet wurden. Aber anders, als wohl insgeheim im Auswärtigen Amt erhofft, reißen die Proteste keineswegs ab. ({3}) Nein, die Proteste gehen weiter, und zwar keineswegs nur in Teheran, sondern ebenso in der Provinz. Auch die dortige Bevölkerung hat seit Langem genug vom Mullah-Regime. ({4}) Die Islamische Republik ist ein Staat, in dem Schwule vor die Wahl gestellt werden, entweder wegen Unzucht hingerichtet zu werden oder sich sterilisieren und zu Frauen umoperieren zu lassen, und das alles im Namen des Islam. Denn es gibt eine Fatwa des Ajatollah Chomeini, die das vorschreibt. ({5}) Das führt dazu, dass der Iran nicht nur im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, sondern sogar in absoluten Zahlen das Land mit den meisten Geschlechtsumwandlungen weltweit ist. Vielleicht haben unsere Gender-Gaga-Fanatiker deshalb immer so viel für die Mullahs übriggehabt. ({6}) Ein solcher Staat darf hierzulande Interessensvertretungen haben. Ein solcher Staat darf hier Handlangervereine gründen, die auch noch als gemeinnützig anerkannt werden und deutsche Steuergelder aus Staatsverträgen bekommen, wie im Fall der Blauen Moschee im rot-grünen Hamburg. Jahrelanges deutsches Zaudern, jahrelange Halbheiten haben nur der Islamischen Revolutionsgarde genutzt. Sie unterhält einen Schlägertrupp al-Basidsch, der an der Niederschlagung der Demonstrationen beteiligt ist. Aber die Revolutionsgarde ist nicht nur kriminell-islamistisch, sondern auch kriminell-kleptokratisch. Sie hat sich etliche Fabriken und Raffinerien unter den Nagel gerissen. Die Drohnenproduktion und nicht zuletzt das iranische Streben nach der Atombombe erfolgen unter Aufsicht von Revolutionsgardisten. Wenn Sie wirklich Druck auf das Regime in Teheran ausüben wollen, dann beenden Sie Ihre heuchlerische Farce, und benennen Sie die Vorgänge als das, was sie sind: brutaler islamistischer Terror. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Braun. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Renata Alt, FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Homepage des Auswärtigen Amtes aufruft, der liest dort – ich zitiere –: „Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Deutsche Staatsangehörige werden aufgefordert, Iran zu verlassen. Für deutsche Staatsangehörige besteht die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden.“ Wir Deutsche können dieser Gefahr entgehen, indem wir dem Iran einfach fernbleiben; aber über 80 Millionen Iranerinnen und Iraner können und wollen ihre Heimat nicht einfach verlassen. Die Proteste, die wir im Iran aktuell sehen, sind keine einfachen Proteste. Das, was im Iran gerade passiert, ist eine Revolution; es ist eine Frauenrevolution. ({0}) Die iranischen Frauen kämpfen für die Freiheit, für die Selbstbestimmung, für ihre Menschenwürde. Wir müssen ihnen solidarisch zur Seite stehen und sie bei diesem Kampf unterstützen. Die iranischen Frauen haben keine Angst mehr. Auch wir dürfen keine Angst haben, gegen das iranische Regime klar Position zu beziehen. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini vor acht Wochen wurden bereits 300 Menschen bei den Protesten getötet, und 15 000 wurden verhaftet. Zwei Drittel der Abgeordneten im iranischen Parlament forderten harte Urteile gegen die Protestierenden, bis hin zur Todesstrafe. Auch der Sänger Saman Yasin wurde für die Teilnahme an Protesten zum Tode verurteilt. Parlamentarier, die die Todesstrafe für Demonstranten fordern, gehören für mich auf die Sanktionsliste, und zwar sofort. ({1}) Die ersten Sanktionen gegen den Iran wurden seitens der EU verhängt. Das reicht aber nicht. ({2}) Frau Bundesministerin Baerbock, Deutschland muss beim Schutz der Menschenrechte entschlossener handeln! Die Entscheidungen, Sanktionen zu verhängen, dauern zu lange und sind zu zögerlich. ({3}) Feministische Außenpolitik bedeutet für mich, dass angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Repressalien im Iran umgehend weitreichende Sanktionen folgen. Die Ampelkoalition legt heute einen Antrag vor, mit dem wir die Protestbewegung unterstützen und den Druck auf das Regime erhöhen wollen. Mir geht der Antrag aber nicht weit genug. Es müssen rasch weitere personenbezogene Sanktionen gegen führende Vertreter des Regimes und gegen die Revolutionswächter folgen. ({4}) Die USA und Kanada machen es vor, wie schnell gehandelt werden kann. Beide Länder haben wesentlich schneller effektive Sanktionen gegen Personen und Organisationen verhängt, die an der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten und an Tötungen beteiligt sind. Warum wartet Deutschland immer ab, bis andere den ersten Schritt machen? ({5}) Frau Bundesministerin, das ist nicht die neue Außenpolitik, die Sie angekündigt haben. Mit dieser iranischen Regierung aktuell Verhandlungen über ein Atomabkommen führen zu wollen, ist für mich nicht nachvollziehbar. ({6}) Im Iran geht es gerade um das Ende des Mullah-Regimes. Das wünschen sich die mutigen Menschen im Iran. Wichtig ist, jetzt auch jene zu unterstützen, die Gewalt gegen Demonstranten dokumentieren und Beweismaterial gegen die Verantwortlichen für die Verbrechen sammeln. Wir müssen außerdem mehr tun, um demokratische Oppositionelle und besonders gefährdete Iranerinnen und Iraner in Deutschland vor dem iranischen Geheimdienst zu schützen. Auch die Rolle der iranischen Botschaft bei der Drangsalierung von Regimekritikern muss untersucht werden. Für uns Freie Demokraten steht fest: Länder, die Menschen töten, weil sie für ihre Freiheit einstehen, dürfen nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. ({7}) Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Proteste blutig niedergeschlagen werden. Tun wir jetzt alles dafür, dass ein politischer Wandel und die langersehnte Freiheit für alle im Iran endlich Wirklichkeit werden! ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Alt. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Ideologien und Religionen versuchen, die Menschen zu entindividualisieren. Immer wieder geht es darum, dass die Menschen sich nach einschränkenden Moralvorstellungen und Verhaltensweisen zu bewegen haben. Eigentlich müsste der Grundsatz gelten: Jede und jeder darf sein, wie sie oder er will; es gibt nur eine Grenze: wenn dadurch Rechte anderer verletzt werden. ({0}) Dass dies nicht so ist, führte in der Menschheitsgeschichte zu schweren Auseinandersetzungen einschließlich Religionskriegen. Die evangelische Kirche hat sich in der Reformation von der katholischen getrennt, sich demokratischer strukturiert und Schritt für Schritt Chancengleichheit für Frauen hergestellt: Sie dürfen Pastorinnen und Bischöfinnen werden. Natürlich hat sich auch die katholische Kirche entwickelt; aber nach wie vor werden Frauen vom Pastoren-, Bischofs-, Kardinals- und Papstamt ausgeschlossen. Eine Gleichstellung der Frauen fehlt auch im Judentum, wenn ich daran denke, wie der Aufenthalt in Synagogen für Frauen und Männer geregelt ist. ({1}) Und im Islam fehlt die Gleichstellung erst recht. Ganz schlimm wird es aber erst dann, wenn eine Religion zum Machtmissbrauch genutzt wird. Genau das erleben wir bei dem „Islamischen Staat“, bei anderen bestimmten Sekten, seit geraumer Zeit gerade auch im Iran. Bestimmte Männer missbrauchen Religion, um eigene Herrschaftsverhältnisse zu sichern. Wie kommen diese Kerle eigentlich dazu, den Frauen vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden haben? Noch nie haben die Frauen den Männern dies vorgeschrieben, und nun wird gerade im Iran eine Frau in Haft wegen angeblich falscher Kleidung getötet. Wieso verletzt die Führung des Iran das Menschenrecht auf Gleichstellung von Frau und Mann? Eine Mehrheit im iranischen Parlament will gegen alle inhaftierten Protestierenden Todesurteile verhängen. 14 000 sind inhaftiert – ungeheuerlich! Selbst Kinder werden bei den Protesten getötet. Schon in den 80er-Jahren mussten wir erleben, dass im Iran Tausende Demokratinnen und Demokraten hingerichtet wurden. Der Mut der jetzt Protestierenden im Iran ist bewundernswert. ({2}) Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit für eine feministische Außenpolitik, die solidarisch mit den Protestierenden ist? Doch was macht die deutsche Botschaft im Iran? Sie versagt Touristenvisa aus der Furcht, dass die Iranerinnen einen Asylantrag in Deutschland stellen könnten. In Bayern, wo die CSU regiert, wurde ein iranischer Asylbewerber unter falschem Vorwand in die Passauer Ausländerbehörde bestellt und festgenommen, weil man ihn noch am 5. Oktober abschieben wollte, drei Wochen nach dem Beginn der Proteste. Zum Glück hat die öffentliche Aufmerksamkeit dies verhindert. ({3}) Das Mindeste ist, dass wir Iranerinnern und Iranern, die vor dem Regime geflohen sind oder jetzt fliehen, umfassenden Schutz gewähren. Die Gewalttaten des Regimes müssen unter UN-Hoheit untersucht werden. Die Täter dürfen sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, und sie müssen generell zur Verantwortung gezogen werden. ({4}) Wir müssen unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen nutzen, damit im Iran das Verhältnis zur Gewalt und zu den Frauenrechten grundsätzlich verändert wird. Hoffentlich erleben wir tatsächlich eine Revolution. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gysi. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Derya Türk-Nachbaur, SPD-Fraktion. ({0})

Derya Türk-Nachbaur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005241, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen und andere! Für all die mutigen Frauen und Männer im Iran, die durch ihren Protest ihr Leben riskieren, gibt es kein Zurück mehr. So paradox es auch klingen mag: Die vereinte Kraft auf der Straße ist für sie der Garant fürs Überleben und Überwinden eines mordendenden Mullah-Regimes. Sie können und dürfen jetzt nicht aufhören. Denn der Mut und der Wille dieser Frauen und Männer sind stärker als der staatlich verordnete Terror gegen sie. Genau deshalb, Herr Röttgen, wird diese Revolution nicht scheitern. Es ist etwas ganz Besonderes, heute, am 9. November, über die Kraft der Straße zu sprechen, an dem Tag, an dem vor 33 Jahren mittels Protesten das Ende eines Unrechtsstaats eingeläutet wurde und das Ende der Teilung Deutschlands endlich Wahrheit wurde. Viel wurde in den letzten Wochen über die Protestbewegung im Iran gesprochen. Alle demokratischen Parteien haben sich mit den mutigen Frauen und Männern solidarisiert. Wir sind auf Demos gegangen, haben das brutale Vorgehen gegen Demonstrierende aufs Schärfste verurteilt und haben uns solidarisch in den sozialen Netzwerken geäußert. Das war und bleibt wichtig; das reicht aber nicht aus. Wir sind dem Kampf um Freiheit etwas mehr schuldig. Die Waffen der Protestierenden sind ihre Füße, die sie auf die Straßen tragen, die Haare, die sie offen im Wind wehen lassen, die Worte, die sie in Tweets und dann in Songtexte verpacken, die Bilder des Unrechts, das sie auf Leinwänden zu Kunstwerken verarbeiten. Bekämpft werden sie mit Schlagstöcken, Schrotflinten, scharfer Munition, Peitschenhieben und sexueller Gewalt. Es geht um Terror, es geht um Folter, es geht darum, über die Leichen des eigenen Volkes zu gehen, um an der Macht zu bleiben. Wir haben es mehrfach gehört: über 14 000 Inhaftierte, über 300 Tote, davon 45 Kinder. Das sind die Zahlen, die gestern kursierten. Über die Dunkelziffer, über die Tausenden von Verletzten, die in Krankenhäusern nicht behandelt werden dürfen, werden wir noch ausführlich sprechen müssen. All das macht ein Staat, der als Mitglied der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anerkennt und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert. Die iranische Verfassung erhält sogar einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dass das aber nicht mehr als nur Lippenbekenntnisse sind, wissen wir nicht erst seit dem 16. September, seit dem Tag, an dem Jina Mahsa Amini auf brutalste Weise zu Tode kam, weil sie ihr Kopftuch nicht so trug, wie es die Sittenpolizei gerne gehabt hätte. Wir haben vielleicht zu lange weggeschaut. Auch wir haben zugelassen, dass jahrzehntelang Folter und Missbrauch, Willkür und Korruption dieses Land geprägt haben. Es ist Zeit, dass wir uns eindeutig positionieren: für die Menschenrechte, für Freiheit, für Chancengleichheit, für Rechtsstaatlichkeit und für eine würdevolle Behandlung aller. Sich zu positionieren, heißt in diesem Fall auch, konkret zu sanktionieren. Deshalb ist jeder einzelne der 25 Punkte aus dem Forderungskatalog dieses gemeinsamen Antrags so richtig und genauso wichtig. Es ist gut, dass wir unsere Sanktionen ausweiten, und es ist gut, dass wir den Druck erhöhen. Wenn es nach mir persönlich ginge und wenn es rechtlich möglich wäre, würde ich sie sogar auf die 227 Abgeordneten ausweiten, die ihre Bereitschaft gezeigt haben, 14 000 Inhaftierte hinzurichten. „Krieg gegen Gott“ – das ist kein Krieg gegen Gott. Liebe Mullahs, um bei Ihrem Wording zu bleiben: Wenn es ein Krieg ist, dann ist das ein Krieg gegen die Unterdrückung, gegen Menschenverachtung und für die Freiheit und Selbstbestimmung. Dieser Krieg wird ohne Waffen geführt. Wir Demokratinnen und Demokraten in diesem Parlament stehen an der Seite dieser Demonstrierenden: Jin, Jiyan, Azadi. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Türk-Nachbaur. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 50 Tagen kämpfen die Demonstranten im Iran für Freiheit und Selbstbestimmung. Seit 50 Tagen protestieren sie gegen alltägliche Gewalt und Gängelung durch die Mullahs. Seit 50 Tagen sind sie Verschleppung, Folterung, Vergewaltigung und Mord ausgesetzt. ({0}) Es ist jeden Tag aufs Neue schockierend, die Berichte darüber zu hören, die Bilder und Videos davon zu sehen, wie dieses Verbrecherregime mit denen umgeht, die für ihre Freiheit einstehen. Ich spreche sicherlich für die meisten hier, wenn ich sage, dass wir mit Demut, Respekt und Bewunderung auf den Mut der Protestierenden im Iran blicken. ({1}) Meine Damen und Herren, seit 50 Tagen warten die Iranerinnen und Iraner auf den Straßen aber auch auf Unterstützung. Ich glaube, man kann angemessen und rechtzeitig Signale senden und Symbole zeigen und im Hintergrund trotzdem parallel rechtliche Fragen prüfen und klären. Sorgfältige Arbeit im Hintergrund kann doch keine Rechtfertigung für eine Haltung der Bundesregierung sein, die wieder vielen zu zögerlich und zu leise erscheint. ({2}) Und dabei geht es doch nicht um einen Tweet; es geht um Botschaften und um Zeitpunkte. Frau Bundesministerin, wir respektieren Ihre Arbeit; wir ziehen ja oft auch, siehe Ukraine, an einem Strang. ({3}) Aber diese Kritik ist legitim, und sie ist notwendig; denn wir müssen darauf hinweisen, dass zwischen Überschriften wie „feministische Außenpolitik“ und tatsächlichem Handeln eine Lücke ist. Das enttäuscht uns als konstruktive Opposition im politischen Wettbewerb, aber vor allem enttäuscht das die mutigen Menschen auf den Straßen im Iran. Wir denken uns das ja nicht aus. Das ist die Rückmeldung aus dem Iran, das ist die Rückmeldung der Exiliraner, das ist die Rückmeldung aus den USA, aus Kanada, und vor allem ist es offensichtlich auch die Ansicht vieler Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen Koalition. ({4}) Wenn Dinge komplex sind, dann lassen Sie uns doch die einfachen Dinge machen ({5}) und das auch konkret beschreiben. Im Antrag steht zum Beispiel drin, man müsse prüfen, das Islamische Zentrum Hamburg zu schließen. ({6}) Das wird doch seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. ({7}) Die Lage ist klar; da muss ich nichts prüfen. Da muss sich die Bundesregierung für eine Schließung einsetzen oder auf eine Schließung hinwirken. Das kann man doch ganz klar in diesem Antrag formulieren. ({8}) So hat das auch eine Signalwirkung an jene, die hier, in unserem Lande, Hass und Hetze betreiben; denn diesem verbrecherischen Regime müssen wir auf allen Seiten klare Kante zeigen. ({9}) Deshalb fordere ich sowohl von einem Antrag, den dieses Parlament hier beschließt, als auch vom Handeln der Bundesregierung echte Taten. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Nils Schmid, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bedauerlich, dass die große Einigkeit, die in der Sache besteht, jetzt nicht dazu geführt hat, dass wir diese Debatte auch mit großer Geschlossenheit entlang des Antrags der Koalitionsfraktionen geführt haben; denn es stört mich schon, liebe CDU/CSU-Fraktion, dass feministische Außenpolitik dann hier am Redepult vorkommt, wenn es einem parteitaktisch passt, aber man sonst von Ihnen bei feministischer Außenpolitik keinen Mucks hört. ({0}) Man kann sich über Antragsüberschriften streiten. Aber dass dieser Antrag klar benennt, dass es eben nicht eine der üblichen Protestbewegungen ist, sondern ein alle gesellschaftlichen Schichten ergreifender Prozess der Umgestaltung und der Ablehnung des Regimes im Kern, das ist doch klar ausgesprochen. Ich finde es auch bedauerlich, dass Sie nicht anerkennen wollen, dass es bei Sanktionspolitik eben nicht reicht, große Reden zu schwingen, sondern dass wir sehr konkret Rechtssicherheit für entsprechende Sanktionen brauchen. Und das letzte Wort ist ja noch gar nicht gesagt; es geht ja weiter. Die Außenministerin hat unsere volle Unterstützung, weitere konkrete Sanktionspakete mit Listungen vorzubereiten und durchzusetzen, zum Beispiel auch gegenüber den Parlamentarierinnen und Parlamentariern im iranischen Parlament, die jetzt die Todesstrafe durchsetzen wollen – so wie wir die russischen Parlamentarier sanktioniert haben, die die Annexion der Krim und den Eroberungskrieg in der Ukraine unterstützen. Dagegen spricht doch überhaupt nichts. Und wir werden das mit großer Entschiedenheit und Geschlossenheit vorantreiben. Deshalb hätte ich mir gewünscht, dass wir da mehr Geschlossenheit zeigen, um auch ein eindeutiges Signal in die iranische Gesellschaft hinein zu senden. ({1}) Ich bin ausdrücklich dankbar, dass wir uns beim Nuklearabkommen einig sind; denn das iranische Mullah-Regime ist furchtbar und schlimm. Aber ein Mullah-Regime mit Atombomben wäre noch schlimmer und noch furchtbarer für die Iranerinnen und Iraner, für die Region. Deshalb ist es gut, dass wir die Bemühungen um einen atombombenfreien Iran weiter unterstützen; denn wir sehen am Beispiel Nordkoreas, wo es endet, wenn diese Bemühungen scheitern. ({2}) Die völlige Unantastbarkeit eines Regimes mit Atombombe kann nicht unser Ziel sein. Ich will ein Letztes sagen – und dazu will ich uns alle einladen –: Ja, es gab auch Fehleinschätzungen, was die innere Entwicklung des Irans anbelangt. Wir haben vielleicht zu lange daran geglaubt, dass Reformkräfte sich tatsächlich durchsetzen können. Vielleicht haben wir auch zu große Hoffnungen in den Abschluss des Atomabkommens gesetzt, was die Effekte außerhalb der Atomwaffenfrage – Stichwort „Öffnung des Irans“ – anbelangt. Die innere Verhärtung des Irans stammt ja nicht von vorgestern, sondern war ein langwieriger Prozess. Deshalb sind auch Liberalisierungsspielräume, die wir durch dieses Abkommen versucht haben anzustoßen, vielleicht schon bei Abschluss des Abkommens gar nicht so groß gewesen, wie wir sie damals eingeschätzt haben. Ich glaube, diese Selbstkritik, was die Einschätzung eines autoritären bis totalitären Regimes anbelangt, steht uns auch gut an, wenn wir heute in den Iran schauen. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für diesen Antrag der Koalitionsfraktionen. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen schönen guten Abend von meiner Seite, auch an die Besucherinnen und Besucher auf den Zuschauertribünen. Ich schließe damit die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 6.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der Bund riskiert das Scheitern der Verwaltungsdigitalisierung.“ – Mit diesem klaren und einfachen Satz bringt es ein aktueller Brandbrief von heute von drei Digitalministern auf den Punkt. Die Alarmleuchten in Ländern und Kommunen stehen auf Rot, und auch wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind tief besorgt um die Zukunft der Verwaltungsmodernisierung in diesem Land. Und das hat drei Gründe. Die erste Sorge, die wir haben: Ende dieses Jahres laufen die sogenannten OZG-Gelder aus, die Gelder, die wir für die Verwaltungsmodernisierung eingestellt haben. Das Onlinezugangsgesetz, das Gesetz, das Bund, Länder und Kommunen verpflichtet, alle Dienstleistungen vollständig digital anzubieten, haben wir im Rahmen der Konjunkturprogramme mit 3 Milliarden Euro unterlegt. Gelder, die vor Ort zu einem wirklichen Push, zu einer neuen Dynamik geführt haben; denn sie wurden mit der verbindlichen Zusage der Länder verknüpft, dass sie ihre Leistungen nach dem EfA-Prinzip, dem sogenannten Einer-für-alle-Prinzip entwickeln. Das heißt, digitale Leistungen werden einmal entwickelt und können dann von allen Ländern und Kommunen ausgerollt und vor Ort implementiert werden. Das wurde auch gemacht; das wurde in den verschiedenen Ländern und in den Kommunen sehr dynamisch gemacht. Nun muss der zweite Schritt kommen, nämlich der Rollout in anderen Ländern, in anderen Kommunen. Die genannten Gelder werden genau dafür weiter gebraucht; das sagen uns auch alle Länder und Kommunen. Deshalb herrschte blankes Entsetzen, als man den Bundeshaushalt für das nächste Jahr betrachtet hat und dabei festgestellt hat, dass dort für Verwaltungsdigitalisierung insgesamt nur ein minimaler Betrag eingestellt war. Das ist besonders verwunderlich, weil von diesen 3 Milliarden Euro, die wir eingestellt haben, noch Gelder übrig sind. Und diese Gelder werden sogar von der Europäischen Union im Rahmen des Wachstumspakets im Zuge von Corona refinanziert. Was Sie also machen, liebe Koalition, ist, Gelder, die vorhanden sind, liegen zu lassen, Gelder, die vorhanden sind, nicht zu nutzen, sie stattdessen an die Europäische Union zurückzugeben und Länder und Kommunen im Regen stehen zu lassen. Das ist ein Skandal. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in dieser Woche die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren, und Sie müssen ihn korrigieren; denn sonst kommt die Umsetzung der digitalen Leistungen vor Ort zum Stillstand. Das sind wichtige Leistungen wie etwa das Breitband-Portal, über das wir gerade im Digitalausschuss diskutiert haben und das gebraucht wird, um den Breitbandausbau schneller voranzutreiben, um die Genehmigungsprozesse zu digitalisieren und zu flexibilisieren, oder – von Bayern entwickelt – das Förderportal oder – von Hessen entwickelt – die Leistungen für die Gewerbesteueranmeldungen. Das sind ganz wichtige Leistungen, die überall in unserem Land gebraucht werden. Dafür braucht man das Geld. Ich bitte Sie, in den Haushaltsberatungen dafür zu werben, dass diese Gelder auch künftig zur Verfügung stehen. ({1}) Die zweite Sorge – sie ist eng damit verknüpft – lautet: Das Onlinezugangsgesetz läuft ebenfalls Ende dieses Jahr aus, und es gibt noch kein Nachfolgegesetz. Auch hier entsteht eine Hängepartie, auch hier entsteht Unsicherheit für Länder und Kommunen, wie künftig die Governance beim Onlinezugangsgesetz erfolgen soll, wie man das Ganze weiterführen soll. Jetzt kann man ja sagen: Das war in der Vergangenheit nicht alles perfekt. – Aber man muss ein Gesetz doch besser machen. Es ist doch nicht damit getan, die Hände in den Schoß zu legen und einfach gar nichts mehr zu machen, so wie Sie das gerade tun. ({2}) Deshalb unterstützen wir Sie. Wir haben einen Antrag vorgelegt mit ganz konkreten Vorschlägen, die Sie gerne integrieren können. Wir wollen schnellere Verfahren für die Festlegung verbindlicher Standards. Wir wollen die FITKO stärken, ein ganz wichtiges Instrument, um die Standardisierung zwischen den Ländern und dem Bund voranzutreiben. Wir brauchen ein besseres Monitoring, eine bessere Steuerung, und wir wollen einen App-Store für die EfA-Verwaltungsdienstleistungen entwickeln. All das ist schon vorbereitet, muss jetzt aber intensiviert und besser gemacht werden, und dazu braucht es ein neues Gesetz. Das fällt uns nicht erst jetzt ein, sondern das sagen wir schon die ganze Zeit. Das sagt auch der Normenkontrollrat schon die ganze Zeit. Das wurde schon im Sommer angemahnt. Die Länder wurden auch schon gebeten, Vorschläge einzureichen. Aber seit gestern wissen wir: Bis Ende des Jahres werden wir einen entsprechenden Gesetzentwurf wohl nicht sehen. Und das ist der zweite Skandal. Was also macht diese Koalition? Sie lässt eine Hängepartie zu, die zu einem Rückschritt führen wird.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist das Gegenteil von dem, was Sie im Koalitionsvertrag versprochen haben. Deshalb fordern wir Sie auf: Nutzen Sie diese Woche, schaffen Sie Fakten – morgen im Gespräch mit dem IT-Planungsrat im Kanzleramt mit den Ländern und morgen Abend im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, damit wir die Verwaltungsdigitalisierung retten können. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Dunja Kreiser. ({0})

Dunja Kreiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005115, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Mehr Tempo bei digitaler Verwaltung – Onlinezugangsgesetz fortführen, Nutzungslücken schließen, Rechtsanspruch einführen“ – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, herzlichen Dank für diesen Antrag und vor allem vielen Dank für die Gedankenstütze dafür, was wir auf den Weg bringen werden. ({0}) Aber mal zur Geschichte! SPD-geführte Regierung: Helmut Schmidt beschloss 1981 einen flächendeckenden Glasfaserausbau, Deutschland sollte Spitzenreiter in Europa werden. CDU-geführte Regierung: 1983 wurde Helmut Kohl Kanzler und hatte den Plan gestoppt. Sein Zukunftsplan war gerichtet auf Kabelanschlüsse und Privatfernsehen. Ein klarer Rückschritt. SPD-geführte Regierung: Gerhard Schröder hat im Jahr 2000 seinen Zehn-Punkte-Plan zur Förderung der Internetnutzung vorgestellt. ({1}) Niemand sollte vom Zugang der neuen Medien ausgeschlossen werden, unabhängig von Herkunft, gesellschaftlichem Hintergrund und Geldbeutel, unabhängig vom Geschlecht. Dazu wurde 1999 die Initiative D21 gegründet: für digitale Selbstbestimmtheit, für eine digitale Lebenswelt und für einen digitalen Standort für flächendeckende Infrastrukturen. Apropos: Das war die Geburtsstunde des Girls’ Days. Frauen und Mädchen sollten in den MINT-Bereichen besser qualifiziert werden und somit den Zugang in die digitale Welt erhalten. ({2}) 2002 war der Startschuss für die deutsche Breitbandhilfe. Im Jahr 2003 ist im Onlineatlas zu erkennen, dass über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren online ist. Und dann, sehr geehrte Damen und Herren, kommt das Jahr 2005. CDU-geführte Regierung: Angela Merkel wird Kanzlerin, ({3}) und die Digitalisierung plätschert dahin. Erst 2014 redet Angela Merkel von der aktiven Begleitung des digitalen Wandels, 33 Jahre nach der Digitaloffensive von Helmut Schmidt. Im Jahr 2015 richtete sich der IT-Gipfel auf die Digitalisierung der Verwaltung aus. Schließlich trat dann 2017 das OZG in Kraft und verpflichtete Bund und Länder, 575 Verwaltungsdienstleistungen bis Ende 2022 auch digital anzubieten. Erst am 21. November 2018 hat Angela Merkel dazu aufgerufen, sich der großen digitalen Herausforderung zu stellen. Erst dann wird ein Digitalrat ins Leben gerufen; 18 Jahre nach der Digitaloffensive von Gerhard Schröder. Ja, und was wurde uns 2021 übergeben? Eine große Baustelle E-Government und Krater im Glasfasernetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die OZG-Umsetzung ist aktuell die größte Herausforderung der deutschen Verwaltung. Das Digitalisierungsprogramm Bund und das Digitalisierungsprogramm Föderal unterstützen die Bundesressorts und die Länder bei dieser Digitalisierungsaufgabe. Die Federführung liegt hier beim Bundesinnenministerium. ({4}) Bis Ende 2022 wird der Bund seinen Verpflichtungen nachkommen, von den 115 priorisierten OZG-Leistungsbündeln mindestens eine Verwaltungsdienstleistung digital anzubieten. Die leistungsfähige und interoperable OZG-Infrastruktur steht im Wesentlichen bereit. Der Aufbau der Nutzerkonten Bund wird zeitnah, im nächsten Jahr, abgeschlossen sein. Das Bundesportal und Bundes-ID sind etabliert und bieten einen sicheren und einfachen Zugang zur digitalen Verwaltung und werden stetig weiterentwickelt. Wir haben uns in kürzester Zeit auf den Weg gemacht, das OZG auszufüllen, und wollen es fortführen. ({5}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sicher, in Niedersachsen sagt man: Allein vom Wiegen wird das Schwein nicht fett. – Das stimmt wohl. Aber wir mussten ja auch hier erst mal mit dem Mästen beginnen. Wir liegen im Digitalisierungsprogramm Föderal hinter dem Zeitplan. Das wissen wir; ich habe gerade erzählt, warum das so ist. ({6}) – Er hatte ja immerhin den Digitalisierungspakt auf den Weg gebracht, bei Ihnen stockte es ja immer. – Wir wissen, dass wir die Länder deutlich mehr unterstützen müssen, um mehr Fortschritte bis zur Frist Ende 2022 und darüber hinaus zu erzielen. Wir werden deshalb im Haushalt 2023 für die OZG-Umsetzung die Restmittel aus dem OZG-Konjunkturpaket – 1,5 Milliarden Euro – platzieren. ({7}) Der IT-Planungsrat hat den OZG-Booster am 2. Mai 2022 auf den Weg gebracht. 35 besonders wichtige Verwaltungsleistungen sollten umgesetzt werden. Aktuell sind es allerdings nur zwei richtig funktionierende Dienstleistungen: der BAföG-Antrag und die Corona-Überbrückungshilfe. Traurig könnte man sagen, wir haben die digitale Offensive immerhin aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Unser Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ beginnt mit der Digitalisierungsoffensive: Deutschland wird endlich auf der Höhe der Zeit agieren können, wenn wir den Staat selbst modernisieren. Das OZG soll nach dem 31. Dezember 2022 fortgeführt werden; wir hören da auch noch nicht auf. Die Systeme werden kontinuierlich gepflegt, nach dem Once-Only-Prinzip werden sie weiterentwickelt. Die Zusammenarbeitsstrukturen „Einer für alle“ aus dem Digitalisierungsprogramm Föderal sollen fortgesetzt und verstetigt werden. Mit einer Digital-ID kann beispielsweise die Datendoppelerhebung vermieden werden. Das OZG 2.0 werde ein voller Erfolg. ({8}) Nutzerzentrierte Ansätze und Interoperabilität sollen Einfachheit, Klarheit und Sicherheit gewährleisten. Dies seien zentrale Nutzungsbedürfnisse. Aber ich habe da noch was vergessen: Helmut Schmidt wollte mit der Digitalisierungsoffensive den sicheren Staat stärken, eine Resilienzstrategie aufbauen und die Gesellschaft innovativ und paritätisch zukunftsfähig machen. Sehr geehrte Damen und Herren, Olaf Scholz hat als Finanzminister in der Großen Koalition die Stärke des Staates immer Blick gehabt. Olaf Scholz hat mit seinem damaligen Kollegen Bruno Le Maire aus dem Corona-Aufbaufonds der EU die Staaten mit Milliarden für Investitionen in Infrastruktur unterstützt, die am meisten in der Krise gelitten hatten, für Nachhaltigkeit, für Innovation. Die Fehler der unionsgeführten Regierungen sollten nicht wiederholt werden. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dunja Kreiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005115, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme gleich zum Schluss. – Dieser Paradigmenwechsel, sehr geehrte Damen und Herren, zeigte ein hohes Maß an Solidarität und wurde international hoch geachtet. Olaf Scholz als Bundeskanzler und Nancy Faeser als Innenministerin, das Kabinett, die Regierung sind mitverantwortlich für einen sicheren Staat.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Frau Kreiser, letzter Satz.

Dunja Kreiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005115, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gestern wurde die letzte Große Koalition in Deutschland beendet. ({0}) Wir blicken nach vorne, progressiv! Ich freue mich auf die weitere Beratung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Barbara Lenk. ({0})

Barbara Lenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005126, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet die Union heute in einem Antrag Tempo bei der digitalen Verwaltung fordert. ({0}) Es fragt sich doch, warum Sie in den langen Jahren des Regierens nicht einfach das umgesetzt haben, was Sie jetzt fordern. ({1}) Die deprimierenden Zahlen kennen Sie ja sicher. Beim Digital Economy and Society Index 2021 liegt Deutschland in Sachen digitaler Verwaltung auf dem 16. Platz – Platz 16 nach 16 Jahren Merkel! Personalausweis online verlängern? Nee! Die Anmeldung eines Zweitwohnsitzes in Berlin? Monatelanges Warten auf einen Termin, der aber immerhin online vereinbart werden kann. Dass Sie nun ein OZG 2.0 fordern, ist ja prinzipiell nicht verkehrt. Sie bleiben in Ihrem Antrag aber weiter im Ungefähren. Es sollen „zügig strukturelle Verbesserungen“ erwirkt werden. Verwaltungsleistungen sollen priorisiert werden. Der Bekanntheitsgrad digitaler Verwaltungsdienstleistungen solle durch eine Kommunikationsstrategie gesteigert werden. Als ob die Menschen dieses Landes nicht bereits wüssten, wie schlimm es hier um die Digitalisierung steht. Sie muss denen nicht erst schmackhaft gemacht werden. Die Bürger sind entnervt von digitaler Schwerfälligkeit und einer starren Bürokratie. ({2}) Ein OZG 2.0 halten wir von der AfD-Fraktion durchaus für geboten. Die Ampelregierung sollte sich bei den vorhandenen zeitlichen, personellen und auch finanziellen Ressourcen auf die in der Single-Digital-Gateway-Verordnung genannten Verwaltungsdienstleistungen konzentrieren. Diese begründen nämlich bereits einen individuellen Rechtsanspruch, der bei Nichtumsetzung Sanktionen nach sich ziehen kann. Weiterhin sollten bei dieser Gelegenheit das Vergaberecht und auch die Vergabepraxis für IT-Dienstleistungen angepasst werden, damit die Verwendung quelloffener Software eine größere Verbreitung erfährt. Das wäre vor dem Hintergrund der erstrebenswerten digitalen Souveränität dringend geboten, um sich nicht von einzelnen Anbietern abhängig zu machen. Im Kampf um die klugen Köpfe auch in der Verwaltung sollten das Dienst- sowie das Tarifrecht überarbeitet werden, um Karrieren gerade im öffentlichen Dienst aktiv zu fördern. Bereits in der Verwaltung sollten die Mitarbeiter in Fragen der Digitalisierung weiter qualifiziert werden. Big Data, Algorithmen, maschinelles Lernen und auch künstliche Intelligenz gehen alle an, nicht nur Nerds und Geeks. Ich selbst durfte auf einer Delegationsreise nach Japan und Südkorea mit dem Digitalausschuss erfahren, wie die Digitalisierung einer Gesellschaft und ihrer verschiedenen Systeme – Gesundheit, Verkehr – aussehen kann. Deutschland hat im Grunde gute Bedingungen, die bisherige Lücke gerade in der Verwaltungsdigitalisierung zu schließen. Das ist weniger eine Frage des Geldes, sondern des politischen Willens und der administrativen Möglichkeiten. Zeit, meine Damen und Herren, hat Deutschland allerdings nicht mehr. Ich wünsche mir, dass noch in dieser Legislatur Abgeordnete, Wissenschaftler oder auch Geschäftsleute nach Deutschland kommen, um sich bei uns zu erkundigen, wie denn Verwaltungsdigitalisierung funktioniert. Sie, meine Damen und Herren von der Ampel, haben es in der Hand. Machen Sie beim kommenden OZG 2.0 nicht die gleichen Fehler wie Ihre Vorgängerin! Vielen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Misbah Khan. ({0})

Misbah Khan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005104, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Unionsfraktion, Ihr Antrag ist wie eine OZG-Leistung: Er kommt Jahre zu spät. Aber in einem Punkt haben Sie recht: Nach über 20 Jahren Verwaltungsdigitalisierung ist der digitale Staat noch nicht in Sicht. 16 von den letzten 20 Jahren haben Sie regiert. ({0}) In dieser Zeit haben Sie uns immer wieder versprochen, Jahr für Jahr, dass wir die bürgerfreundlichste Verwaltung Europas bekommen: Digital, schnell und bürgernah sollte sie sein. Wenn ich mich an meinen letzten Termin auf dem Amt erinnere, kann ich feststellen: Nur die Bürgernähe war da. Und alleine das ist schon ein kleines Wunder. Immerhin müssen die Kommunen seit Jahren den Unsinn umsetzen, den Sie verursacht haben. Und jetzt werfen Sie uns in Ihrem Antrag vor, wir würden nicht genug für die Digitalisierung der Verwaltung machen. Gleichzeitig haben wir einen Ministerpräsidenten in NRW, der sich weigert, einfachste Verwaltungsleistungen wie den Kirchenaustritt zu digitalisieren. Mit Nichtdigitalisierung die Menschen an die Kirche binden, das schafft wirklich nur die CDU. ({1}) Wenn wir schon beim Thema Glaube sind: Ich glaube fest daran, dass Nancy Faeser – nach 16 Jahren unionsgeführtem BMI – gemeinsam mit der Ampel den Karren mit dem neuen OZG 2.0 aus dem Dreck ziehen wird. ({2}) Die Herausforderungen sind groß. Ich stelle Ihnen aber auch mal gerne dar, wie Ihr altes OZG war; denn das war eine reine Schaufensterdigitalisierung. Die Bürger sollten auf eine Onlineoberfläche schauen, die gut aussieht. Aber hintendran war nicht viel. Vielmehr wurden auf dem Amt die Onlineformulare ausgedruckt, sie wurden gestempelt, sie wurden in Umlaufmappen durch die Verwaltungsstockwerke getragen und hin- und hergefaxt. ({3}) Und die Antwort kam im besten Fall auch noch per Post. Eine schöne Homepage: Das war Ihr Verständnis von Verwaltungsmodernisierung. ({4}) Aber was will man auch erwarten von einer Partei, die 2013 das Internet als Neuland entdeckt hat. ({5}) Wenn wir es jetzt endlich angehen, dann schaffen wir es, ganzheitlich digital zu denken. Wir werden nutzerorientiert sein. Wir möchten Register, die sicher sind und die verfassungskonform miteinander verknüpft werden. Datenschutz und Transparenz werden wir nicht auf der Strecke lassen. So schaffen wir einen digitalen Staat, der für alle Bürgerinnen und Bürger einen Mehrwert bietet. ({6}) Eine Partei, die wirklich etwas von Digitalisierung verstünde, würde auch hierauf in einem Antrag ihren Fokus legen. ({7}) Sie beweisen mal wieder eins: Gut, dass Sie nicht mehr in Verantwortung sind. Vielen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke, gibt ihre Rede zu Protokoll. ({0}) Deshalb kommen wir zum nächsten Redner: Von der FDP ist das der Kollege Dr. Volker Redder. ({1})

Dr. - Ing. Volker Redder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005183, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Es war ja sehr laut gerade eben. ({0}) – Launig auf der Seite. Wir wissen alle: Das OZG, das Onlinezugangsgesetz, verpflichtet Bund und Länder, die Dienstleistungen der Verwaltung bis Ende 2022 digital anzubieten. Das betrifft nicht alle Dienstleistungen; es waren 575, um das noch mal etwas herunterzubrechen. Das war in der Theorie so. In der Praxis sieht es natürlich anders aus: Der Umsetzungsstand ist unbefriedigend, und die Umsetzungsfrist, die Ende dieses Jahres ausläuft, wird nicht einzuhalten sein. Woran liegt das? Die Union schreibt in ihrem Antrag, dass vieles im Bereich der Verwaltungsdigitalisierung erfolgreich angeschoben wurde und wir als Ampel jetzt nicht mit der gleichen Dynamik weitermachen. Ich kenne die Zahlen, und Sie kennen sie eigentlich auch. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich weiß nicht, was so ein Narrativ soll. Es war die von Ihnen geführte Große Koalition, die beim Thema Verwaltungsdigitalisierung wirklich nichts hinbekommen hat. ({1}) War das nicht sogar in der letzten Legislatur beim Kanzleramt angesiedelt? Ich habe mal nachgeguckt: Vor Corona lag der Umsetzungsgrad des OZGs bei 3 Prozent. Ende des letzten Jahres, mit Beginn der Ampelarbeit, waren es sagenhafte 7 Prozent. ({2}) Sie haben also in den vier Jahren von 2017 bis 2021 wirklich viel geleistet. ({3}) Und Sie erwarten jetzt von uns, dass wir in einem Jahr 93 Prozent machen? Wie kommen Sie denn darauf? ({4}) Das ist schon ziemlich dreist, mit dem Finger auf uns zu zeigen. Also, man kann mal zusammenfassen: Das OZG, Frau Schön, erlebt derzeit wegen Ihrer Politik eine Vollbremsung. Und jetzt schauen wir mal in Ihren Antrag; das haben Sie eben auch schon gemacht. Sie haben über EfA gesprochen. ({5}) – Ich erlaube Zwischenfragen. Gerne.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Danke, dass Sie gleich reagieren.

Dr. - Ing. Volker Redder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005183, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe es gerade gesehen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Frau Schön, Sie haben das Wort.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Dr. Redder, bei mir entsteht der Eindruck, dass Sie die Konstruktion des Onlinezugangsgesetzes nicht kennen. Das Onlinezugangsgesetz ist von seiner Struktur her so, dass immer Bund und Länder eine Leistung gemeinsam entwickeln. Das heißt: Wenn Sie eine politische Verantwortung sehen, müssen Sie die parteiübergreifend bei allen sehen; denn unsere Bundesländer werden von Koalitionen verschiedener politischer Couleur regiert. Dazu gehört auch die FDP, zwar nicht mehr so viel, aber durchaus zahlreich in der Vergangenheit. ({0}) Deshalb: Wenn Sie alle den Blick nach hinten werfen, können wir uns alle gemeinsam an die Nase fassen, wie gut oder schlecht wir da vorangekommen sind. Fakt ist aber, dass in den letzten Jahren eine Dynamik entstanden ist. Deshalb ist unser Ansatz, dass wir diese Dynamik nicht abbremsen wollen. Es ist ein Teil bereits digitalisiert und ganz vieles auf dem Weg, und deshalb müssen wir dafür sorgen, dass das weitergeht. Da hilft nicht der Blick nach hinten, sondern nur der Blick nach vorn. Es wäre schön, wenn ein Redner dieser Ampelkoalition auch mal den Blick nach vorne und nicht alle nur den Blick nach hinten werfen würden. ({1})

Dr. - Ing. Volker Redder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005183, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Ich habe jetzt die Frage nicht so ganz genau verstanden, aber ich beantworte das mal aus meiner Sicht. Natürlich ist es ein Bund-Länder-Problem. ({0}) Das Ganze ist aber auch so konzipiert: Wir haben 16 Bundesländer, einen Bund und ungefähr 10 000 Kommunen, denen in den letzten Jahren erlaubt worden ist, ihre IT‑Lösungen zu basteln. Wir haben da Access-Lösungen, Filemaker-Lösungen, die mit nichts interoperabel sind; das wissen Sie. Und was ist die Aufgabe des Bundes, wenn er ein OZG macht? Vorgaben zu machen, Standards zu definieren. ({1}) Das haben Sie nicht gemacht! Wir haben immer noch den Wildwuchs. Wir haben immer noch dasselbe Desaster wie vor fünf Jahren, vor zehn Jahren, vor zwanzig Jahren. Und, Frau Kreiser, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie: Genscher hat die IT 1974 eingeführt, also noch ein bisschen früher. Also: Da müssen wir ran. Wir müssen an Standards ran. ({2}) – Darf ich weitermachen? – Gut. Sie haben das Eine-für-alle-Prinzip so gelobt. Das ist aber tatsächlich ein Problem; weil dieses EfA-Prinzip dafür sorgt, dass bestimmte Bundesländer – dazu zähle ich dummerweise auch Bayern – immer wieder andere ausgrenzen. Wenn nicht deren Applikation gewinnt, dann sind sie beleidigt. Das funktioniert nicht. Deswegen ist diese ganze Idee mit dem EfA-Wettbewerb und -Prinzip keine gute, weil viele Redundanzen gemacht werden; das haben wir nun alles erlebt. Wir sind inzwischen immer noch bei vielleicht 8 Prozent Umsetzungsgrad. ({3}) Das müssen wir ändern. Jetzt gucken wir mal in die Zukunft. Sie reden also in Ihrem Antrag von technischen Standards; das klingt gut. Aber wir reden von Datenstandards, von Softwarestandards. Wir müssen dafür sorgen, dass diese mangelnde Dateninteroperabilität zwischen den Bundesländern und dem Rest wieder funktioniert, und zwar so, dass auch die Wirtschaft einen Anreiz findet, mitzumachen. Da sind wir übrigens gerade dabei. Das ist Bestandteil vom OZG 2.0. Mit anderen Worten: Das, was Sie uns da erzählen, ist schön, aber das ist alt. Wir machen es ganz neu. Wir betrachten die Sache ganzheitlich. ({4}) Das können wir auch super machen, weil wir ja vorgesehen haben, dass es ein Multi-Cloud-System gibt, und wir können die Kommunen und die Bundesländer in das Multi-Cloud-System nur dann reinlassen, wenn sie bestimmte Standards erfüllen. Das ist der Trick. Auf den hätten Sie auch mal kommen können in den letzten 16 Jahren. ({5}) – Ja, das steht jetzt im Antrag. Super. Vielen Dank. ({6}) Also, wir werden dieses Chaos der Vorgängerregierung in der Ampel mit einem OZG 2.0 beseitigen. Wir denken es ganzheitlich. Wir müssen auch – das hat Frau Khan gerade schon gesagt – an das Registermodernisierungsgesetz denken. Es geht um Verfassungskonformität. Sie haben ja im März letzten Jahres, also 2021, noch einen Beschluss dazu gefasst; der ist aber anscheinend nicht verfassungskonform. Da müssen wir ran. ({7}) Das muss nicht bedeuten, dass es ein neues Gesetz geben muss, aber es muss eine Neuregulierung dazu geben. Also, wir werden einen umfassenden datenschutz- und verfassungskonformen Rechtsrahmen bilden. Wir wollen die Digitalisierung vorantreiben. Ich nenne noch ein Beispiel, das zwar nicht mit dem OZG zu tun hat, das aber zeigt, dass wir die Fortschrittskoalition sind. Wir bringen nämlich Anfang des nächsten Jahres die Elster-App raus. Das heißt: Jeder Bundesbürger, jede Bundesbürgerin ist in der Lage, mit einem Smartphone die Steuererklärung zu machen, ({8}) und nicht so wie früher, als man Formulare hatte, in denen man ankreuzen musste. Vielmehr ist das Ganze prozess- und nutzerorientiert. Diese Denke brauchen wir bei allen OZG-Verfahren. Ich kann an dieser Stelle gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, die Digitalisierung in Deutschland voranzutreiben. – Ich lasse mal die anderen Punkte weg, weil hier schon die Anzeige „Präsident“ blinkt. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Gut erkannt. Letzter Satz.

Dr. - Ing. Volker Redder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005183, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir müssen weiter denken. Unsere Verwaltung muss als Vorbild dienen und die Wirtschaft einbinden. Die Verwaltung ist der größte IT-Auftraggeber in Deutschland; deswegen kann sie ein Treiber sein. Die Vision, die daraus entsteht, ist ein praktikables Vorbild für die Wirtschaft. Natürlich reden wir von quelloffener Software. Natürlich reden wir auch von kostenloser Software.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Dr. Redder, letzter Satz, bitte.

Dr. - Ing. Volker Redder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005183, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So und nur so lässt sich mehr Souveränität und internationale Wettbewerbsfähigkeit für den Wirtschaftsstandort Deutschland generieren. Danke schön. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort Dr. Reinhard Brandl. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe sogenannte Fortschrittskoalition! Ist Ihnen das nicht langsam selber peinlich? Fast jede Woche diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag ein anderes Beispiel, wie Sie Digitalisierung und Fortschritt in Deutschland ausbremsen – aktiv ausbremsen! ({0}) Ich erinnere an die Debatte von letzter Woche: den Förderstopp im Breitbandausbau. Sie stoßen Hunderte Kommunen einfach vor den Kopf. ({1}) Die Wochen davor: Ihre Copy-paste-Digitalstrategie, das Zuständigkeitschaos bei der Bundesregierung im Bereich Digitalisierung, das fehlende Digitalbudget. Merken Sie es nicht selber? Sie sind eigentlich gar keine Fortschrittskoalition. ({2}) Sie sind eine Stillstandskoalition, vor allem im digitalen Bereich. ({3}) Die Debatte heute ist der beste Beweis dafür. Seit genau fünf Jahren gilt das Onlinezugangsgesetz. Seit genau fünf Jahren ist klar, dass am 31. Dezember 2022 die Umsetzungsfrist endet. ({4}) Bis heute, 52 Tage vor Auslaufen der Frist, haben Sie kein Nachfolgegesetz vorgelegt. Bis heute, 52 Tage vor Ende der Frist, wissen die Länder nicht, wie sie die Leistungen weiter finanzieren sollen. Heute habe ich Storys gehört von Hans-Dietrich Genscher, von Helmut Schmidt; aber ich habe keine einzige Idee gehört, ({5}) was Sie denn konkret am Onlinezugangsgesetz verbessern wollen. ({6}) Das höre ich von Ihnen nicht; das erwarten aber die Bürgerinnen und Bürger von Ihnen. ({7}) In Ihrem Koalitionsvertrag heißt es: Mehr Fortschritt wagen. – Davon höre ich bei Ihnen nichts. Ich kann Ihnen sagen, was wir machen würden, wenn wir jetzt weiter an der Regierung wären: ({8}) Wir würden als Bund mit gutem Beispiel vorangehen. ({9}) Erstens. Wir würden einführen, dass ab 1. Januar 2025 alle Bürger einen Rechtsanspruch auf digitale Verwaltungsleistung beim Bund haben. Dafür brauchen Sie kein Bundesland. ({10}) Das können Sie alleine machen. Das wäre in Ihrer Verantwortung. Sie könnten es sogar schneller machen. ({11}) – Nein, das hat nichts mit Föderalismus zu tun. Es geht um die Leistungen des Bundes. Der zweite Punkt. Wir würden eine Standardisierungsoffensive starten. Der Kollege Redder hat recht: Es geht um die Standards. Wir würden auch einen Anspruch einführen. Wenn ein Betreiber einer IT‑Dienstleistung oder eine Kommune sagt, er bzw. sie brauche für das Verfahren einen einheitlichen Standard vom Bund, dann besteht ein Anspruch darauf, dass der Bund diesen Standard auch setzt. Es wird nicht funktionieren mit der Lösung „Einer für alle“, sondern wir brauchen einen App-Store, und der App-Store braucht einheitliche Standards. Wir brauchen eine Standardisierungsoffensive. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. ({12}) Drittens. Wir würden den Ländern das Geld überlassen, das wir ihnen zugesagt haben. Wir haben im Jahre 2020 ein Coronakonjunkturprogramm gemacht. Wir haben 3 Milliarden Euro mehr für Verwaltungsdigitalisierung ausgegeben. Wo ist denn angesichts Ihrer Hunderte Milliarden Schulden Ihr zusätzliches Geld für Verwaltungsdigitalisierung? ({13}) Ich lese im Haushalt dazu nichts. ({14}) Aber was Sie jetzt machen, ist ein echter Vertrauensbruch gegenüber den Ländern. Sie streichen den Ländern das Geld, das sie nicht ausgegeben haben. Aber die Länder haben das Geld schon verplant. Jetzt haben einzelne Länder wie Schleswig-Holstein schon gesagt, sie könnten ihre Dienstleistungen nicht weiterentwickeln, sie müssten die Anwendungen stoppen. Das ist ein Desaster für die Bund-Länder-Beziehungen. Der vierte Punkt. Wir würden dem Thema wirklich politische Priorität geben. Zu unserer Zeit war es im Bundeskanzleramt angesiedelt. ({15}) Wo ist es jetzt? Keine Ahnung. Sehen Sie Nancy Faeser? Sehen Sie den sogenannten Digitalminister Volker Wissing? Die sind nicht da, sie finden in dieser Debatte nicht statt. ({16}) Meine Damen und Herren von der Ampelkoalition, Sie können nichts dafür, dass Ihre Minister nicht da sind. Sie können auch nichts für die Auswahl Ihrer Minister; das hat jemand anders entschieden. ({17}) Aber Sie hätten jetzt die Chance, mal selber einen Akzent zu setzen. Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. Sie haben in diesem einen Jahr im Amt keinen einzigen Antrag hier im Deutschen Bundestag zum Thema Digitalisierung gestellt. Sie haben keinen eigenen Vorschlag gemacht. Dabei wäre es Ihre Aufgabe als Parlamentarier, der Regierung mal ein bisschen Druck zu machen, ein bisschen Feuer zu machen. Davon sehe ich heute nichts. Davon habe ich das ganze letzte Jahr nichts gesehen. Das ist schade. Das ist ein Rückschritt für die Digitalisierung in Deutschland. Herzlichen Dank. ({18})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Robin Mesarosch. ({0})

Robin Mesarosch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU ist offensichtlich überzeugt: Die Ampel wird in den nächsten Tagen gute Entscheidungen für die Verwaltungsdigitalisierung treffen. Daran glaubt die CDU/CSU fest, und ich finde das toll. Wie komme ich darauf? Morgen ist die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses im Bundestag. Ebenfalls morgen trifft sich der IT-Planungsrat im Kanzleramt. Beide Male geht es um große Entscheidungen. Wenn die CDU/CSU wirklich glaubte, dass die Ampel morgen schlechte Entscheidungen treffen würde, dann hätten wir heute diesen Antrag nicht. Dann würden Sie uns nämlich morgen unsere Fehler fett aufs Brot schmieren. ({0}) Aber offensichtlich befürchten Sie, dass wir diese Fehler gar nicht machen. Dann wäre Ihre Gelegenheit weg. Deswegen stellen Sie Ihren Antrag heute, damit Sie noch was Schlechtes über uns sagen können. Das ist geschickt, aber, mit Verlaub, auch einigermaßen albern. ({1}) In Ihrem Antrag fordern Sie ganz Verschiedenes. Ich will das mal in drei Gruppen aufteilen: Erstens empfehlen Sie uns Dinge, die selbstverständlich sind. Sie empfehlen uns – ich zitiere –, „die Cybersicherheit bei der Umsetzung jeder OZG-Maßnahme zu berücksichtigen“. Da hätten Sie auch schreiben können: Morgens Aronal, abends Elmex. – Das ist das Papier nicht wert. Zweitens empfehlen Sie uns Dinge, an denen wir längst arbeiten. Wir finden auch, dass wir strengere Standards und schärfere Erfolgskriterien für digitalisierte Verwaltungsleistungen brauchen. Darum werden wir das OZG dahin gehend ändern. Wir wollen auch Nutzerkonten vereinheitlichen, wie Sie schreiben, und kommen dabei voran. Übrigens sind unter den Bundesländern mit noch eigenem Nutzerkonto auch solche, in denen Sie Teil der Regierung sind. Aber sei’s drum, wir denken hier ähnlich. Überhaupt fällt doch eins auf: Bezüglich der Verwaltungsdigitalisierung gibt es inhaltlich eine Menge Gemeinsamkeiten über Partei- und Landesgrenzen hinweg. Also graben Sie keine unnötigen Gräben. Das wäre meine Bitte. Die Tragödie der deutschen Verwaltungsdigitalisierung rührt nicht daher, dass man in der Vergangenheit zu sehr auf links oder rechts gehört hat, sondern wir stecken in dem Schlamassel, weil Deutschland dieses Projekt Verwaltungsdigitalisierung lange zu schlecht organisiert hat. So ehrlich müssen wir sein. ({2}) Hätten alle alles richtig gemacht, könnten wir heute dort sein, wo Estland, Finnland oder Dänemark sind. Und so komme ich zu meinem dritten Punkt. Das ist der Punkt, an dem sich unsere Auffassungen unterscheiden. Sie schreiben, die CDU/CSU hätte stark vorgelegt, aber der Ampel fehle jetzt – Zitat – die „Dynamik und Priorität“ der CDU/CSU, diese Erfolge fortzusetzen. Ich halte das für eine gefährlich schlechte Analyse. Die Verwaltungsdigitalisierung schleppt sich seit Jahren mühsam voran. Und Sie wollen jetzt von uns, dass wir mit der gleichen Dynamik wie bisher weitermachen. Das ist doch das Schlechteste, was wir jetzt tun können. Wir wollen nicht länger schleppen, wir wollen die Verwaltungsdigitalisierung vom Kopf auf die Füße stellen, dass sie selber gehen kann. Dabei geht es nicht nur um Geschwindigkeit, wir müssen einige Dinge grundsätzlich anders machen. Der erste Schritt muss sein, endlich mit dem ersten Schritt anzufangen. Das Erste, was ich brauche, wenn ich online was von meiner Verwaltung will, ist: Ich muss mich digital ausweisen können. Deswegen brauchen wir dringend eine digitale Identität. Technisch geeignet ist unser Personalausweis schon ganz lange. Damit es endlich was wird, muss er noch benutzerfreundlich werden, und er muss viele sinnvolle Anwendungen bekommen. Hier setzen wir an. Wo Deutschland sich bislang verzettelt hat, fokussiert sich diese Bundesregierung auf einen gangbaren Weg. Wir setzen auf den digitalen Perso. Das Nutzerdesign haben wir schon verändert. Wir arbeiten daran, dass die Wirtschaft mitzieht, und wir freuen uns, dass die Sparkasse und die ING-Bank jetzt durchstarten. Außerdem werden wir die Zertifikate für die eID günstiger machen. Das ist der Weg zum Erfolg. Zweitens müssen wir die Register digitalisieren. Ich finde es verwegen, dass Sie uns Prozesse anlasten, die Sie unter CDU/CSU-Führung aufgesetzt haben; aber es ist schön, dass wir uns möglicherweise einig sind. ({3}) Als Drittes brauchen wir für das OZG klare Standards, Kontrollen und Pflichten; das haben auch Sie in Ihrem Antrag geschrieben. Aber diese Stichworte helfen uns am Ende wenig. Uns hilft, wenn wir uns im IT-Planungsrat einigen, wie wir das konkret in die Tat umsetzen. ({4}) Darum finde ich es gut, dass Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt sich diese Woche mit dem IT-Planungsrat zusammensetzt. Lassen Sie uns schauen, wie wir hier an einem Strang ziehen können, anstatt jetzt eine Show zu veranstalten. Und uns hilft, wenn wir im Bundestag strengere Regeln beschließen und das Geld bereitstellen, das wir brauchen. Genau das werden wir tun. Noch wichtiger ist aber, dass wir dieses gigantische Projekt Verwaltungsdigitalisierung besser steuern. Darum müssen wir unter anderem die FITKO ausbauen und sie strategischer machen. Darüber müssen die Länder mitentscheiden. Somit brauchen wir auch alle demokratischen Parteien. Also, graben Sie keine Gräben. Lassen Sie uns lieber unser Land digital machen. Haben Sie vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Karoline Otte. ({0})

Karoline Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005172, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Eines ist klar: Wir müssen mit der Verwaltungsdigitalisierung weiterkommen. Als 2017 das Onlinezugangsgesetz die Bühne betrat, da saß ich in einer Landkreisverwaltung und habe Akten kopiert, Hunderte, Tausende Seiten, und dann mit einem Paginierstempel nummeriert. Gleichzeitig haben wir in der Uni über das OZG gesprochen. Liebe Union, meine Unimitschriften von damals hätten als Grundlage dienen können, um so circa 80 Prozent Ihres Antrages zu schreiben. Wohlgemerkt: Unimitschriften aus dem Jahr 2017 und zu Ihrem Antrag, den Sie heute gestellt haben. Das bisherige OZG hat nicht ausgereicht, um die Digitalisierung der Verwaltung ins 21. Jahrhundert zu holen. Es ist schön, dass die Union diese Analyse inzwischen teilt. Die Regierung arbeitet aktiv daran, das OZG in die nächste Runde zu bringen. Und natürlich muss hier einiges passieren. Die frühzeitige Einbindung des IT-Planungsrates und eine bessere Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist obligatorisch, und das BMI arbeitet daran. Es geht vor allem auch um die frühzeitige Einbindung der kommunalen Ebene, die beim OZG erst nach Kritik der Spitzenverbände überhaupt eingebunden wurde. Das aktuelle OZG trägt generell noch den Geist der Schaufensterdigitalisierung: Hauptsache, nach außen Dienstleistungen anbieten, die dann aber hinten, in der Verwaltung, nur mit hohem Aufwand verarbeitet werden können. – Das können wir uns nicht mehr leisten, erst recht nicht in Zeiten des Fachkräftemangels. ({0}) Verwaltungsdigitalisierung muss auch schnelle, muss auch automatisierte, muss auch effiziente Verwaltung bedeuten. In den kommenden Jahren müssen wir die Logik des OZG deshalb umdrehen und das Backend in den Blick nehmen. ({1}) Als Ampel müssen wir den Weg dafür ebnen. Wir wollen digitale Unterschriften leichter möglich machen und die koordinierenden Stellen wie FITKO und IT‑Planungsrat weiter stärken. Auch die Schaffung einer einheitlichen digitalen Identität hat für uns Priorität. Bei all diesen Themen sind wir übrigens auf die Kooperation der Länder angewiesen, die mitwirken müssen, um sich auf gemeinsame Standards für Basiskomponenten und Schnittstellen zu einigen und auch die Vernetzung der Kommunen voranzubringen. An dem Aufbruch in eine bessere digitale Verwaltung müssen Sie, liebe Union, in den Ländern mitarbeiten. Nur dann kommen wir wirklich voran. ({2}) Wir als Ampel sind bereits auf dem Weg und werden das OZG auf das nächste Level heben. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Damit schließe ich die Aussprache.

Not found (Minister:in)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wir brauchen Geschwindigkeit beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Warum das so ist, wurde in diesem Haus schon mehrfach und ausführlich diskutiert. Das Bauministerium nimmt sich dieser Aufgabe an. Wir haben in dieser Legislaturperiode mit dem Wind-an-Land-Gesetz schon einmal gezeigt, wie man durch eine Änderung des Baugesetzbuches auch dazu beitragen kann, mehr Geschwindigkeit beim Ausbau der Windenergie zu schaffen, und zwar, indem wir die Windenergieausbauziele schnell und umfassend durch eine entsprechende Regelung des Baugesetzbuches voranbringen. Nun liegt Ihnen eine weitere kleine Novelle des Baugesetzbuches vor. Sie soll zügig einen nächsten wichtigen Schritt einleiten, wie man mit den Mitteln des Planungsrechtes auch die erneuerbaren Energien ausbauen kann, und zwar bei Wasserstoff, bei Wind- und Photovoltaikanlagen sowie bei Biomasse. Zunächst zum ersten Punkt, zum Wasserstoff. Um Wasserstoff herstellen zu können, braucht es zunächst einmal Strom. Hierfür soll künftig leichter der überschüssige Strom genutzt werden können, der an Windenergieanlagen entsteht. Sie kennen die Bilder: Die Windräder drehen sich nicht immer, auch wenn Wind ist, weil sie manchmal den Strom nicht abtransportieren können. Deswegen ist es sehr logisch und günstig, auch hier entsprechend die Möglichkeit zu nutzen, Privilegierungstatbestände einzuführen, dass an diesen Windenergieanlagen dann entsprechend auch Wasserstoff-Elektrolyseure gebaut werden können. Wir sind für eine Debatte offen, ob das nicht auch für Photovoltaikanlagen eine sinnvolle Ergänzung wäre. Zweiter Punkt. Wir sind mitten im Umbau unserer Energieversorgung. Das heißt, wir werden aus dem Abbau von Kohle aussteigen, und gleichzeitig sind die ehemaligen Tagebauflächen gute Potenziale für den Ausbau von erneuerbaren Energien. Das hat auch den Vorteil, dass hier die Strom- und Kabelinfrastruktur bereits liegt, weil natürlich häufig in der Nähe von Braunkohletagebauen auch die entsprechenden Kraftwerke sind. Die Braunkohleabbaubereiche verfügen über große Flächen, die für den Aufbau von Photovoltaik- und Windenergieanlagen wunderbar geeignet sind, und auch die Betroffenheit der Nachbarn dürfte gering sein. Ich erwähnte es: Die Standorte sind zudem gut an die Energienetze angeschlossen. Um die Potenziale dieser sogenannten Tagebaufolgeflächen für Windenergie- und Photovoltaikanlagen schnell und unkompliziert zu erschließen, soll die Nachnutzung für solche Anlagen rechtlich privilegiert werden. Eine neue Verordnungsermächtigung im Baugesetzbuch – das ist wichtig – schafft den betroffenen Bundesländern die Möglichkeit, die sie dann nutzen können, diese Flächen ganz oder teilweise für die Erzeugung erneuerbarer Energien zu nutzen, ohne dass es dazu aufwendige Änderungen entsprechender Raumordnungs- oder Flächennutzungspläne braucht. Der dritte Punkt betrifft die Biomasse. Wir hatten bei der Errichtung und dem Betrieb von Biomasseanlagen eine Reihe von Regelungen eingeführt. Einige führten dazu, dass diese Anlagen technisch nicht maximal ausgelastet werden können. Deshalb wird einerseits die bestehende Kapazitätsgrenze für Biogasanlagen im Außenbereich befristet ausgesetzt, und zum anderen werden die Anforderungen an die Herkunft der Biomasse gelockert. Dies wurde schon in der Novelle des EnSiG geregelt, die bereits Ende September im Bundestag beschlossen wurde und schon in Kraft ist. Sehr geehrte Damen und Herren, insgesamt kann diese kleine Energienovelle – klein, aber fein – im Baugesetzbuch einen wichtigen Beitrag zur energiepolitischen Unabhängigkeit unseres Landes leisten und dabei zugleich den Klimaschutz voranbringen, und das Ganze auch noch kostenneutral für den Bundeshaushalt. Es funktioniert, mit dem Baugesetzbuch erneuerbare Energien voranzutreiben, wenn der politische Wille vorhanden ist. Das ist jetzt offenbar der Fall. Herzlichen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort Enak Ferlemann. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Minister, in der Tat, es ist eine sehr, sehr kleine Novelle geworden, die Sie uns hier heute vorlegen. Wir warten eigentlich als Ausschuss schon länger auf die versprochene große Baurechtsnovelle, die wahrscheinlich in diesem Jahr nicht mehr kommen wird, so wie wir vernommen haben. Aber wenigstens eine ganz kleine Novelle ist dabei herausgekommen. Um es kurz zu machen: Wir werden das, was Sie vorgeschlagen haben, inhaltlich voll unterstützen. Das ist sinnvoll, das ist richtig, und das ist so weit gut ausgearbeitet. Allerdings springen wir mit dieser Novelle, so klein sie ist, viel zu kurz. Wenn wir die Flächen des Braunkohletagebaus für die Erzeugung von erneuerbaren Energien reaktivieren können, dann gilt das natürlich auch für Gesteinsbrüche, für Kiesgruben, vielleicht auch für aufgelassene Flughäfen und anderes mehr. Wenn wir die erneuerbaren Energien vor allem im ländlichen Raum fördern wollen, dann sollte man dieses Gesetz mit diesen Öffnungen ermöglichen, sodass wir auch hier zu einer Privilegierung kommen, um es diesen Energien wirklich leichter zu machen; denn das derzeit vorherrschende Baurecht macht die Entwicklung der erneuerbaren Energien sehr, sehr schwer. Es stellt sich auch die Frage – Sie haben es selber schon angesprochen –, wieso Sie die Elektrolyseure nur für Windenergieanlagen privilegieren wollen. Sicherlich macht es Sinn, das gegebenenfalls auch bei den Flächensolaranlagen zu machen. Auch hierfür, denke ich, müssen wir in dem Gesetz eine Öffnung vorsehen. Das heißt, wir werden uns den § 35 des Baugesetzbuches im Hinblick auf diese Punkte, gerade auf Solarenergie, noch einmal intensiv angucken müssen, um hier zu Verbesserungen zu kommen, damit wir schneller die erneuerbaren Energien insbesondere im ländlichen Raum entwickeln können. Ein interessanter Ansatz dürfte auch sein, sich die Frage zu stellen, ob nicht kleine Freiflächen-PV-Anlagen an landwirtschaftlichen Betrieben – bis 1 Megawatt könnten wir uns vorstellen – ebenfalls privilegiert werden, sodass der landwirtschaftliche Betrieb eine Möglichkeit hat, auch mit erneuerbaren Energien selber die Energie zu erzeugen, die er für die landwirtschaftliche Produktion braucht. Auch hier ist es durchaus eine Überlegung wert, ob wir diese Anlagen nicht privilegieren: einerseits, um eben den Landwirten eine gute Möglichkeit zu geben, selbst an den erneuerbaren Strom zu kommen, andererseits aber auch, um damit den erneuerbaren Strom auch mehr in die Flächen bringen zu können, und dies vor allen Dingen wesentlich schneller; denn der Überschussstrom kann dann auch ins allgemeine Netz eingespeist werden. Ich glaube, das ist ja auch das große Ziel angesichts der drohenden Energieknappheit, die wir insbesondere beim Strom wahrscheinlich zu gewärtigen haben. Also, Strich drunter: Es ist eine sehr, sehr kleine Novelle geworden. Wir werden im Ausschuss dafür sorgen müssen – ich freue mich auf die intensiven Beratungen –, aus der sehr kleinen Novelle eine gute kleine Novelle mit vielen Möglichkeiten zu machen, die das Baurecht noch zusätzlich hat. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss und hoffe, dass wir noch vor Jahresende ein gutes Ergebnis haben, damit zum neuen Jahr dann auch mit den Investitionen gestartet werden kann. Herzlichen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Anja Liebert. ({0})

Anja Liebert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005130, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor großen Herausforderungen, und die Zeit zum Umsteuern ist knapp. Aber es ist möglich, die akute Energiekrise, die angespannte Energieversorgungslage aufgrund des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und die akute Klimakrise anzugehen. Unsere Antwort als Ampel ist: Wir wollen den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien mit aller Kraft vorantreiben, und zwar zu Wasser, zu Land und auf dem Dach. Die Ampel hat die Herausforderung angenommen und reagiert mit den größten energiepolitischen Reformen seit Jahrzehnten. Diese kleine, aber feine Energienovelle im Baugesetzbuch ist ein Beitrag für die schnelle Umsetzung des Ausbaus von Erneuerbaren. Ich danke ausdrücklich CDU und CSU, dass Sie mitmachen und auf dem Weg mit dabei sind. Es ist ein Angebot an die Länder, die Genehmigungsverfahren durch Änderungen an den bestehenden Planungsgrundlagen deutlich zu beschleunigen. Wir haben zwei Probleme. Erstens gibt es aktuell nicht genug Flächen für einen zügigen Ausbau der Windenergieanlagen, und zweitens können wir das vorhandene Energiepotenzial der Windenergie aus technischen Gründen nicht voll ausschöpfen, weil die Anlagen bei starkem Wind abgeregelt werden. Die Lösung sehen wir im Baugesetzbuch. Wir wollen das Potenzial von Wind- und auch von Photovoltaikanlagen auf konfliktarmen Flächen voll ausnutzen, zum Beispiel auf den Braunkohletagebauflächen. Herr Ferlemann hat gerade gefragt: Warum machen wir das nicht auch an anderen Stellen? – Es gibt natürlich an vielen Stellen Möglichkeiten, Photovoltaik- und Windenergieanlagen aufzubauen. Aber wir wollen, dass die Länder jetzt die Möglichkeit haben, diese Prozesse auf den Braunkohletagebauflächen beschleunigt anzugehen. ({0}) Das setzen wir mit dieser Verordnungsermächtigung für die Länder um. Zudem geht es darum, dass wir schnell in die Produktion von Grünem Wasserstoff kommen, und zwar direkt an den Anlagen, um den überschüssigen Strom zu speichern. Das schaffen wir mit der Privilegierung für Wasserstoffanlagen oder aber für Batteriespeicherung. Warum die Braunkohletagebauflächen? Es sind große Flächen, die schnell nutzbar sind für die Gewinnung von Wind- und Sonnenenergie. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und kenne dort viele große Flächen, die dringend auf eine Nachnutzung warten. Es sind aber auch vorbelastete Flächen. Die bieten an vielen Stellen weniger Konflikte mit dem Umweltschutz oder mit betroffenen Nachbarschaften und, was auch schon gesagt wurde, haben gute Anschlüsse an die Energienetze. Mit diesen Änderungen im Baugesetzbuch schaffen wir Klarheit. Wir schaffen eine Beschleunigung und einen echten Schub für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Mein Dank geht in dieser Zeit an die vielen Menschen und Unternehmen, –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Anja Liebert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005130, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– die bereits jetzt Strom, Gas und Öl sparen, bei der Energie- und Wärmewende mitmachen und viel Geld in Erneuerbare und Energieeffizienz investieren. So machen wir uns gemeinsam –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Frau Liebert, letzter Satz, bitte.

Anja Liebert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005130, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– unabhängiger von Energieimporten und fossilen Energien. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Marc Bernhard. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wollen also allen Ernstes alles abschalten – Kernenergie, Kohle, Gas – und einzig und allein mit Wasserstoff aus Wind und Sonne zukünftig unser Land mit 84 Millionen Menschen – eine der größten Industrienationen der Welt – versorgen? Was so sauber, so harmlos, so emissionsfrei klingt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine tickende Zeitbombe. ({0}) Denn Wasserstoff ist extrem leicht entzündlich, flüchtig, technisch problematisch, extrem teuer und belastet bei der Herstellung die Umwelt erheblich. ({1}) Wasserstoff aus erneuerbaren Energien wird zwar seit Jahren als angebliche Zukunftsalternative angepriesen, und es werden Milliarden in diese Technologie investiert, aber Umweltschützer wie der Naturschutzbund Deutschland wissen, dass die Herstellung unter anderem ein gefährlicher Eingriff in den Wasserhaushalt ist. Das haben Sie von den Grünen doch letztes Jahr noch ganz genauso gesehen. ({2}) Ihre energiepolitische Sprecherin Frau Nestle hat im „Handelsblatt“ genau vor diesen Eingriffen gewarnt. ({3}) Trotzdem wollen genau Sie auf dem Altar Ihrer Klimareligion alles ohne Rücksicht auf Verluste opfern: Umwelt, Gesundheit, Arbeitsplätze. Denn zur Erreichung Ihres Ziels sollen 2 Prozent der Fläche Deutschlands für Windindustrieanlagen geopfert werden. ({4}) Das heißt, Sie wollen zu den heutigen 30 000 Anlagen noch weitere 90 000 dazubauen. Weil kein Mensch weiß, wo denn diese ganzen Monsteranlagen überhaupt noch hingebaut werden sollen, ({5}) legen Sie in diesem Gesetzentwurf auch gleich noch fest, dass Windindustrieanlagen nur noch 300 Meter von Wohnhäusern entfernt sein müssen. ({6}) 300 Meter von Wohnhäusern! Giganten so hoch wie der Stuttgarter Fernsehturm mit einem Rotor von 160 Metern Durchmesser. ({7}) Diese Monsteranlagen quasi im Vorgarten der Wohnhäuser sollen dann Wasserstoff – ein hochgradig flüchtiges, extrem entzündbares und explosives Gas – erzeugen. Wie gefährlich dieses Gas ist, hat uns ja der Flug der wasserstoffbetriebenen „Hindenburg“, der in einem Inferno endete, ganz deutlich gezeigt, oder? ({8}) Um zu große Transportverluste zu vermeiden, muss der Wasserstoff idealerweise auch genau dort gelagert werden, wo er später dann auch verbraucht werden soll, nämlich direkt in den Wohngebieten. Sie wollen also, dass die Menschen zukünftig direkt neben Tanks mit extrem leicht entzündbarem Gas wohnen. ({9}) Zudem führt die Verwendung zu einer extremen Verteuerung der Nebenkosten. Wasserstoff muss dauerhaft auf minus 252,9 Grad heruntergekühlt werden. Die Herstellkosten für elektrische Energie verteuern sich dafür um das Vierfache. Dieses Gesetz wird also dazu führen, dass die Nebenkostenrechnungen der Menschen noch weiter in die Höhe getrieben werden. ({10}) Und das einzig und allein, um auf Teufel komm raus angeblich CO2 einzusparen. ({11}) Dabei wäre es doch so einfach, wenn wir es so machen würden wie unsere europäischen Nachbarn und der Rest der Welt, ({12}) nämlich CO2-freien, günstigen Strom mit Kernkraftwerken zu erzeugen ({13}) für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung, damit Wohnen in Deutschland wieder bezahlbar wird. ({14}) Ich weiß, dass Ihnen das völlig egal ist, ob das Wohnen bezahlbar ist in Deutschland oder nicht. Aber darum muss es gehen. Die Menschen müssen sich das Wohnen wieder leisten können und nicht alles auf dem Altar Ihrer Klimareligion opfern. ({15})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die „Hindenburg“ ist 1937 explodiert. Ich glaube, in dem Jahr ist auch das technische Wissen der AfD hängen geblieben. ({0}) Wir befinden uns aber in einer Situation, in der wir bei der Energieproduktion eine All-in-Strategie brauchen. Wir müssen alles aktivieren, was derzeit verlässlich Strom und Wärme produzieren kann. ({1}) Gleichzeitig – das ist die Voraussetzung, die wir als Ampel schaffen müssen – müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigen. Es gab bereits viele Vorhaben, die wir auf den Weg gebracht und umgesetzt haben. Die Frau Ministerin hat völlig zu Recht das Wind-an-Land-Gesetz und das Wind-auf-See-Gesetz erwähnt. Auch die EnSiG-Novellen, die wir vorgenommen haben, sind hier wichtig. Ich bin bei Ihnen, Herr Ferlemann: Es ist keine große, abschließende Reform, aber es ist ein weiterer notwendiger Baustein, um beim Thema „erneuerbare Energien“ Geschwindigkeit, die Deutschland dringend braucht, aufzunehmen. Das ist auch das Versprechen, das wir vor einem Jahr, als wir angefangen haben, gegeben haben: Wir werden das Land modernisieren. Wir werden Geschwindigkeit aufnehmen, und wir werden insgesamt dafür sorgen, dass Deutschland einen Fortschritt erlebt, der dringend notwendig ist. Dazu gehört es, dass wir es privilegiert ermöglichen, dass Elektrolyseure als Speichertechnik – vielleicht mit neuer Grundlastfähigkeit – an Windanlagen entstehen können. Dazu gehört es, dass große Flächen, die momentan der Nutzung harren, schnell und konfliktarm für Solar- und Windenergie verwendet werden können. Wir sind ja am Anfang der Debatte; das ist die erste Lesung. Lasst uns wirklich offen darüber reden, wo wir noch ansetzen können. Ich habe überhaupt kein Problem damit, die Flächen, die jetzt für privilegierte Vorhaben herangezogen werden sollen, zu erweitern. Wir müssen uns klarmachen: Man kann jetzt schon in allen Steinbrüchen Solaranlagen und Windanlagen errichten, aber halt nicht privilegiert. Es gibt ja auch notwendige Abwägungen. Wenn die Nutzung der Fläche nicht unstrittig ist, wenn die Anlage zu nah an einer Siedlung stehen würde usw. usf., dann muss abgewogen werden. Da ist die Privilegierung vielleicht nicht das richtige Mittel. Aber die Privilegierung ist das richtige Mittel bei der Bebauung von Tagebaufolgeflächen, und die Privilegierung ist das richtige Mittel beim Bau von Wasserstoffanlagen an Windenergieanlagen. Ich wäre sofort dafür, Solaranlagen mit aufzunehmen; denn wir brauchen Speicherkapazität, und wir brauchen Grundlastfähigkeit. Eine Sache muss ich noch erwähnen. Ich habe als Freier Demokrat ja immer das Pech, dass ich nach der AfD reden muss. Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob es Albert Einstein oder Winston Churchill war, aber einer von beiden hat gesagt: Nur ein Idiot ändert nie seine Meinung. – Werte Kollegen von der AfD, überprüft mal, ob ihr nicht darunter fallt. ({2}) Ich frage mich: Was muss jemand, der – wie auch heute wieder im Ausschuss – den Klimawandel leugnet, der so tut, als gäbe es keinen Klimawandel, im 21. Jahrhundert in dieser Welt noch erleben? ({3}) Ich mache einen Haken daran, dass Kernenergie momentan noch eine Übergangstechnologie ist, wie es die Europäische Union festgelegt hat. ({4}) Deswegen lassen wir die Kernkraftwerke ja auch erst mal weiterlaufen. Aber immer wieder so nebenbei anzudeuten, es gebe eine „Klimawandelreligion“, eine „Energieproduktionsreligion“, suggeriert, dass man grundsätzlich den Klimawandel leugnet. ({5}) Schaut mal nach, googelt es – Winston Churchill oder Albert Einstein –: Nur ein Idiot ändert nie seine Meinung. – Ihr von der AfD müsst das für euch mal überprüfen. ({6}) Diese kleine BauGB-Novelle steht am Anfang. Es gibt viele Themen, die wir besprechen müssen. Dazu gehören die Agri-PV, die Ertüchtigung von Biogasanlagen und Einspeiseanlagen, die Biogas für die Einspeisung vorbereiten. Wir haben noch viel zu tun; diese Novelle ist der erste Schritt. Ich freue mich über jeden, der sich konstruktiv in der Debatte einbringt und die nächsten Schritte mitgeht. Deutschland braucht Geschwindigkeit, Deutschland braucht Fortschritt, und Deutschland braucht die erneuerbaren Energien. Vielen Dank. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke erteile ich das Wort Susanne Hennig-Wellsow. ({0})

Susanne Hennig-Wellsow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005082, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren ja fast täglich über Energiesicherheit und über den klimapolitisch dringend notwendigen Umbau der Energieversorgung. Das ist auch völlig richtig so; und über einen beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien zu sprechen, erst recht. Der muss aus unserer Sicht noch viel schneller gehen; wir alle kennen die Zahlen. Und für mehr Geschwindigkeit braucht es entsprechende Rahmenbedingungen. So weit, so gut. Wir sollten dabei aber wichtige Aspekte nicht übersehen. Ich will deshalb hier an dieser Stelle auf die Tagebaufolgeflächen eingehen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es, Tagebaufolgeflächen seien besonders gut für den Ausbau der Solar- und Windenergie geeignet. Warum? Weil sie durch ihre Vorbelastung hinsichtlich Umweltschutz und Nachbarbetroffenheit konfliktfrei seien. Ist das tatsächlich so? Die Kohlekonzerne sind verpflichtet, Tagebaue nach der Schließung durch verschiedene Rekultivierungsmaßnahmen wieder für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Und ja, die Errichtung von Windkraft- und Solaranlagen dient offensichtlich der Allgemeinheit. Doch was bedeutet eine nahtlose Weiternutzung von Tagebauflächen für Natur und Umwelt? Wie können wir bei einer Privilegierung im Baugesetzbuch garantieren, dass trotzdem eine ordnungsgemäße Rekultivierung im Sinne des Bodenschutzes und der notwendigen Aufforstung erfolgen kann? ({0}) Wie wirkt sich Ihre Idee auf die bisherige Flächenaufteilung aus? Ich darf darauf hinweisen, dass die Landwirtschaft regional bereits Flächenansprüche angemeldet hat. Und welche Auswirkungen haben Ihre Pläne auf die Höhe der Rückstellungen, zu denen die Kohlekonzerne im Sinne der Wiedernutzbarmachung verpflichtet sind? Ich möchte diese Fragen in die Diskussion hier einbringen, weil es nach dem massiv umweltschädlichen Kohleabbau darauf ankommt, es jetzt mit erneuerbaren Energien in Sachen Klima- und Umweltgerechtigkeit richtiger zu machen. ({1}) Dazu gehört auch, sich einmal kritisch zu fragen, in wessen Verantwortung man die neue Nutzung von Tagebauflächen sehen möchte. Weiterhin in den Händen jener Unternehmen, die jahrzehntelang die Erde ohne Rücksichtnahme ausgebeutet haben, Schäden am Grundwasser verursacht und mit jeder Tonne gefährlicher Emissionen auch noch Geld gemacht haben? Oder wollen wir vielleicht eher, dass die Flächen, um die es hier geht, an diejenigen vergeben werden, die die beste Lösung für eine wirklich konfliktarme Nutzung bereithalten, ({2}) etwa an regional orientierte oder genossenschaftliche Unternehmen, die Photovoltaik und Landwirtschaft zusammen planen, an Akteure, denen beides gleichermaßen wichtig ist, Aufforstung und schnell mehr Windkraft? ({3}) Um es noch mal deutlich zu sagen: Ja, wir als Linke sind entschieden für den Ausbau erneuerbarer Energien, eben wegen der Energiesicherheit und des Klimas. Aber Umweltschutz und das Sehen potenzieller Zielkonflikte gehören eben auch dazu. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Claudia Tausend. ({0})

Claudia Tausend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004423, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche, noch mal zum Kern des Themas zurückzukehren, zur heute vorliegenden kleinen BauGB-Novelle, mit der wir die Rahmenbedingungen für den verbesserten Ausbau der erneuerbaren Energien herstellen wollen und einen weiteren wesentlichen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten wollen. Die Umsetzung der Energiewende – es wurde hier mehrfach angesprochen – ist eine große Herausforderung für uns alle. Wir brauchen einen Kraftakt und eine gemeinschaftliche Anstrengung aller beteiligten Ministerien. Die Bauministerin hat heute ihren Beitrag geleistet und schon fast alles Notwendige in ihren Ausführungen gesagt. Wir haben mit dem Windenergieflächenbedarfsgesetz und dem Wind-an-Land-Gesetz vor der Sommerpause die Flächenwerte für die Ausweisung geeigneter Flächen für den Ausbau der Windkraft festgelegt, die Verfahren vereinfacht und erleichtert. Und wir haben im Zuge der Verabschiedung des kürzlich novellierten Energiesicherungsgesetzes auch die Voraussetzungen für die bessere Nutzung von Biogasanlagen geschaffen, indem wir die Kapazitätsobergrenzen vorübergehend ausgesetzt und die Flächenbindung gelockert haben. ({0}) Mit der heutigen kleinen BauGB-Novelle wollen wir zwei wesentliche Bausteine hinzufügen. Ein Baustein ist: Wir wollen nun die Errichtung von Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff, von sogenannten Elektrolyseuren, dort ermöglichen, wo es bereits bestehende Windkraftanlagen gibt und wo ein Netz zur Anbindung vorhanden ist, und damit in Zukunft die Abregelung verhindern, durch die wertvoller Windstrom verloren gegangen ist. Und wir wollen den betroffenen Bundesländern mit Braunkohletagebauflächen – das sind Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen – die Möglichkeit geben, Windkraftanlagen und PV-Anlagen durch Rechtsverordnung baurechtlich zu privilegieren, wenn diese das wünschen. Damit schaffen wir eine weitere Möglichkeit zur Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien auf Flächen, die wir als eher konfliktarm einschätzen, und dort, wo die nötige Netzinfrastruktur bereits vorhanden ist; wir schaffen aber keine Pflicht. Frau Kollegin Hennig-Wellsow, ich habe Ihren Ausführungen mit Interesse zugehört, und wir werden Ihre Bedenken auf jeden Fall im weiteren Verfahren prüfen. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, was die Umsetzung dieser zwei Bausteine betrifft: Das klingt jetzt etwas einfacher, als es in Wirklichkeit ist – das ist in mehreren Redebeiträgen angeklungen –; denn uns haben seit dem Kabinettsbeschluss am 12. Oktober bereits eine Vielzahl von Stellungnahmen der Verbände erreicht, mit Kritik, mit Anregungen, aber vor allem auch, Kollege Ferlemann, mit weiter gehenden Wünschen und Vorschlägen. Wir werden uns im weiteren Verfahren damit befassen und am 28. November auch eine Anhörung durchführen. Auch der Bundesrat hat seine Stellungnahme mit weiteren Vorschlägen abgegeben. Ich bedanke mich schon an dieser Stelle bei allen Beteiligten, besonders bei den konstruktiven Kräften hier im Parlament, für ihre Redebeiträge und Vorschläge. Wir werden das alles prüfen und einfließen lassen. Für uns gilt auch in diesem Fall das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es ihn erreicht hat. – Das gilt, um noch mal konkret zwei Punkte anzuführen, für alle Fragen der Planungssicherheit für Vorhabenträger und der Wirtschaftlichkeit von Anlagen im Bereich der Wasserstoffwirtschaft. Wir können uns vorstellen, im Sinne der Wirtschaftlichkeit von den Größenvorschlägen des Ministeriums abzuweichen. Wir haben auch Überlegungen angestellt, ob wir uns eine Ausweitung auf PV-Anlagen vorstellen können. Wir wollen schließlich ein Gesetz, das in der Praxis auch angenommen wird, das funktioniert, und nicht ein Gesetz, das schlussendlich wegen zu hoher Hürden ins Leere läuft. Wir werden, wie gesagt, das Thema „Tagebaufolgeflächen im Braunkohletagebau“ noch einmal anschauen und prüfen, ob im Zusammenhang mit Rekultivierungsvorhaben Konflikte auftauchen, ob Nutzungskonkurrenzen mit künftigen landwirtschaftlichen Optionen bestehen. Wir werden uns auch bemühen – ich glaube, Kollege Föst hat es angesprochen –, weitere konfliktarme Flächen, die wir ähnlich behandeln, zu finden. Schlussendlich ist uns natürlich bewusst, dass nach Verabschiedung dieser kleinen BauGB-Novelle viele weitere Aufgaben auf uns warten werden, die wir zügig angehen müssen: der Umgang mit Freiflächen-Photovoltaikanlagen insgesamt, die Bewertung von Agri-PV-Anlagen, die Frage des Umgangs mit hofnahen kleinen PV-Anlagen. Das gilt aber auch für die künftige Rolle der Biomasse. Mir ist auch bewusst, dass es wünschenswert wäre, ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen, das alle Fragen abschließend regelt. Sie wissen aber auch, dass hierzu intensive Abstimmungen erforderlich sind, die in der Kürze der Zeit nicht leistbar sind; das dauert. Wir wollen eine schnelle Novelle auf den Weg bringen. Das müssen wir; denn uns läuft ansonsten die Zeit davon. Wir wollen das, was heute regelbar ist, nicht auf die lange Bank schieben.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Tausend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004423, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wissen aber auch: Vor der BauGB-Novelle ist nach der BauGB-Novelle ist vor der BauGB-Novelle. Insofern freue ich mich auf die weiteren Beratungen. Am 2. Dezember wollen wir in die zweite und dritte Lesung gehen und das Gesetz beschließen. Danke fürs Zuhören. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ulrich Lange. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Tausend, das war jetzt natürlich der richtige Einstieg: Wir haben noch diese Frage, wir haben noch diesen Punkt, nach der Novelle ist vor der Novelle, wir machen nur eine Mininovelle; denn irgendwann kommt die große Novelle. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist wieder nur mit heißer Nadel gestrickt. Das ist wieder nicht zu Ende gedacht. Das ist wieder kein Konzept. Das ist hier einfach etwas einbringen nach dem Motto: Dann tun wir irgendetwas ein bisschen. ({1}) Und – Kollege Ferlemann hat es schon angesprochen – warum nur Braunkohleabbaugebiete? Warum nicht andere auch? Wo ist das Gesamtkonzept? Sie sagen selber, es wäre wünschenswert. Sie haben uns vor ein paar Monaten noch gesagt: Wir haben kein Stromproblem. – Nein, haben wir nicht, inzwischen laufen die AKWs doch länger. Sie haben vor ein paar Wochen noch gesagt: Wir brauchen eine Gasumlage. – Dann hieß es: Nein, eine Gasumlage brauchen wir nicht. – Ich erkenne nicht, worin Ihr energiepolitisches Konzept besteht, und da ist das Bisschen, das Sie jetzt im BauGB ändern, noch weniger als ein Minimum, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Sie verweisen auf den Bundesrat. Der Bundesrat sagt Ihnen zwar sehr diplomatisch, aber auch sehr deutlich, dass hier ganz viele Punkte offen oder ungeklärt sind. Warum nehmen Sie denn die Hinweise des Bundesrates nicht an? ({3}) Die Vorschläge erreichen den Bundesrat so spät, dass der Bundesrat selber sagt: Eine vernünftige und sachliche Befassung damit ist kaum möglich. – Auf der anderen Seite, liebe Kollegin Liebert, sagen Sie: Die Länder müssen mit ins Boot, das ist nur gemeinsam zu schaffen. – Ist das unter „gemeinsamer Arbeit“ zu verstehen, wenn Sie den Bundesrat zunächst übergehen? Ich glaube, nein. ({4}) Das Thema Biomasse wurde schon angesprochen. Seit Wochen, seit Monaten fordern wir, Biogas zu entfesseln. Sie haben Monate gebraucht, bis Sie jetzt wieder nur einen Minischritt machen. Und dann irritiert uns, liebe Ministerin, der Vorschlag aus Ihrem permanenten Konkurrenzministerium, dem BMWK, für eine Übergewinnsteuer bei Biogas. ({5}) Sie können doch nicht im Ernst erwarten, dass die BauGB-Novelle die Probleme bei der Produktion von Biogas löst, wenn Sie auf der anderen Seite Biogas in die Übergewinnsteuer mit einbeziehen. ({6}) Wie unüberlegt und unbedacht ist das denn, was Sie uns hier heute vorlegen? Ja, das Ganze ist kleinteilig. Sie reißen an der einen Stelle etwas ein, an der anderen bauen Sie etwas auf. So wird das nichts; denn Sie schaffen eines nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, und das wäre jetzt so wichtig: Planungssicherheit. Diejenigen, die investieren, ob in erneuerbare Energie oder in die Laufzeitverlängerung, brauchen Planungssicherheit: im Baurecht, im Steuerrecht, in der Finanzierung. Und dies bleiben Sie weiter schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Kommen wir noch zu den Abstandsregelungen: Wenn ein Abstand von mindestens 300 Metern eingehalten wird, sei das keine optisch bedrängende Wirkung, so das Baugesetz. Im Immissionsschutzrecht gilt aber anderes. Wenn Sie beide Gesetze nebeneinanderlegen – das sollten eigentlich versierte Juristen in solchen Ministerien schon können –, dann werden Sie merken, dass das nicht zusammenpasst. Denn der Normalfall sind nach dem Immissionsschutzrecht natürlich größere Abstandsflächen. Und dann nehme ich, liebe Kollegin Tausend, wieder die Länder hinzu. Was sagen die Länder zu den Abstandsregelungen? Sie sagen: nicht erforderlich, unangemessen, akzeptanzschädigend. – Nehmen Sie die Bundesländer, auch Ihre Bundesländer, bei dieser Novelle ernst. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, der Ansatz ist richtig; aber er ist ein Minus vom Minimum. Wir werden ihn konstruktiv begleiten. Wir hoffen, dass Sie die Länder wirklich ernst nehmen und ins Boot holen. Es wird nur gemeinsam funktionieren. Für das parlamentarische Verfahren ist viel Luft nach oben. Dort wird sich der Wind drehen und das Gesetz noch deutlich verändern. Danke schön. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in der Debatte ist für Bündnis 90/Die Grünen Bernhard Herrmann. ({0})

Bernhard Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005083, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon amüsant, zu hören, wenn diejenigen von Trippelschritten sprechen, die 16 Jahre gebremst haben. ({0}) Es ist schon gute Gewohnheit, dass wir hier über das Ermöglichen des Ausbaus der Erneuerbaren reden, wie gerade letztens über die Gesetze zu massiven Steuererleichterungen. Da haben Sie nie etwas getan. Es ist gut, dass wir es endlich tun. ({1}) Heute geht es auch um die vereinfachte Nutzung der Wind- und Solarenergie auf Tagebauflächen. Aber ich muss das etwas einordnen in den Gesamtkontext des Wandels hin zu erneuerbaren Energien: Klimakrise und Energiekrieg verlangen pragmatisches Handeln. Auch die Bevölkerung und die Wirtschaft, die den Wandel immer mehr als Chance begreifen, erwarten das von uns. Schöne Grüße aus der Solarhauptstadt Chemnitz – nicht Bayern, nicht Freiburg, nicht Münster –, einer Region, in der die Solarindustrie überlebt hat, wo auf E‑Mobilität umgestellt wurde. Ich unterhalte mich mit tollen Akteuren, die sich schon lange selbst geholfen haben und die damit ganz viel erreichen: Wohnungsgenossenschaften, die ihre Gebäude top saniert haben und die Dächer entweder selbst nutzen oder einträglich für die Solarnutzung vermieten. All das hält die Mieten und Nebenkosten langfristig stabil. ({2}) Menschen betreiben 20 Jahre alte PV-Anlagen und laden demnächst ihre Autos fast kostenlos. Der Strom, der übrig ist, fließt in die Heizung – unschlagbar günstig. Das ist nur ein winziger Ausschnitt aus einem Meer von Erfolgsgeschichten, für die hier die Zeit nicht reicht. Aber: Die Industrie in Sachsen ist in der Bredouille. Die Verhinderung des Ausbaus der Windenergie ist auch in Sachsen legendär, dramatisch. Hilferufe erreichen uns von energieintensiven Unternehmen. Sie haben heute größtes Interesse am Bau von Solaranlagen – da haben sie schon viel getan –, aber auch von Windkraftanlagen, und zwar überall im Land. Dieses Engagement ist hoch eindrucksvoll. Gehen Sie hin zu diesen Unternehmen, reden Sie mit ihnen. Sie werden Ihnen das erzählen. Und Sie von der AfD erst recht; sie werden Ihnen die Leviten lesen. Wie man sieht, brauchen wir überall – ja, überall – einen drastischen Ausbau der Erneuerbaren. Darum ist es gut, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Ausbau auf Tagebauflächen erleichtert. Weitere Energiemonopole, gerade auch in den Kohleregionen, wollen wir aber nicht. Sonne und Wind spenden Energie quasi an jedem Punkt der Erde: überall und dezentral, optimal für eine ungeheuer große Akteursvielfalt. Einfache Flächenausweisung stärkt auch die Möglichkeiten für Energie in der Hand von Bürgerinnen und Bürgern, ortsansässiger Unternehmen und einer bunten Energieversorgerlandschaft. Die Länder können und sollten das unbedingt berücksichtigen. Mit der heutigen Neufassung des Baugesetzbuches ermächtigen wir sie nämlich dazu, das auch selbst zu regeln; wir geben ihnen etwas in die Hand. In der Lausitz genauso wie in allen Kohleregionen stehen die Bergbautreibenden, die im Osten aufgrund ganz spezifischer Geschichte das Eigentum an besagten Flächen haben, in besonderer Verantwortung. Gigawatt-Factories mit Sonne und Wind, alles klasse – aber alles im Kontext der in der Tat noch ungeklärten Tagebausanierung. Die Wasserfrage beispielsweise ist noch vollkommen offen. Dafür kann nun aber auch die Nutzung der Erneuerbaren einen wesentlichen Teil des Geldes generieren. Die Menschen erwarten das auch. Die heutige Änderung des Baugesetzbuches birgt somit gleich mehrere Chancen. Dafür herzlichen Dank an die beiden beteiligten Ministerien, und vielen Dank auch für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wer, wie ich selbst und viele in meiner Fraktion, selbstständig ist oder es einmal war, der weiß – die wenigsten auf der linken Hälfte des Saales wissen das wahrscheinlich –, wie unendlich schwer es schon in normalen Zeiten ist, ein auf Dauer angelegtes Unternehmen auf die Beine zu stellen, ein Unternehmen, das die eigene und manchmal auch viele andere Familien ernähren kann. Wer das schon einmal versucht hat, der kennt die ständigen Sorgen um die Zukunft und der kennt die durchgemachten, oftmals auch schlaflosen Nächte. Dennoch sind es viele, viele Mutige, die diesen Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Denen sollten wir hier und jetzt Anerkennung zollen. ({0}) Der Mittelstand, meine Damen und Herren, die kleinen und mittleren Unternehmen sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft: Über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind mittelständische. 60 Prozent der Nettowertschöpfung, mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer und 70 Prozent aller Auszubildenden entfallen auf den Mittelstand. Der Mittelstand ist gesellschaftlich engagiert, standorttreu und – wenn man sich die familieninternen Nachfolgestatistiken anschaut – im echten und besten Sinne nachhaltig. Diesem Mittelstand, meine Damen und Herren, diesem Mittelstand tritt die Bundesregierung seit Jahren immer wieder mit voller Wucht in den Allerwertesten. ({1}) Inmitten Ihrer hausgemachten Energiekrise, in der vor allem der Mittelstand vor dem Abgrund steht, ist sofortige Hilfe geboten. Und was machen Sie von der Bundesregierung? – Herr Kellner hat gerade die Flucht ergriffen, wie ich sehe. – Sie bringen eine Gaspreisbremse ab März. Meine Damen und Herren, bis März halten nicht nur die Bäckereien nicht durch, da haben die fertig. Ihr Regierungschaos – Gasumlage ja oder doch nicht; Gaspreisdeckel oder ‑bremse, aber bitte sozial verträglich; wer soll profitieren, was ist mit Vereinen und Kommunalbehörden? –, was Sie von der Bundesregierung hier herumstümpern, ist nicht einmal eines karibischen Inselstaates würdig. ({2}) Herr Habeck – ich wollte es eigentlich Herrn Kellner mitgeben –, wenn Sie sich um die deutsche Wirtschaft und speziell um den Mittelstand verdient machen wollen, dann tun Sie bitte ganz einfach gar nichts. ({3}) Und wenn Sie doch etwas Sinnvolles tun wollen: Wir brauchen jetzt Sofortmaßnahmen, die keinen großen Aufwand erfordern. Die Gaspreisbremse ist ein bürokratisches Monster und für die, die sie organisieren müssen, ein Albtraum. Erfüllen Sie einfach die Forderungen in unserem Antrag: Senken Sie die Energiesteuer! Setzen Sie die Mehrwertsteuer auf Gas und Strom aus! Nehmen Sie Abstand von dieser blödsinnigen CO2-Steuer! Damit ist den Unternehmen auch geholfen. ({4}) Und beschränken Sie sich bitte nicht auf die Symptombekämpfung, für die Sie sich fortgesetzt und kräftig auf die eigene schmale Schulter klopfen. Schaffen Sie endlich die Grundlagen für erfolgreiches unternehmerisches Handeln, das heißt, beenden Sie diese hoffnungslos gescheiterte Energiewende! ({5}) Sie wissen doch selbst, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, dass Sie die Kernkraft brauchen. Warum sonst wurden wohl im gerade erst stillgelegten AKW Grohnde 28 neue Brennelemente eingelagert? Sagen Sie den Menschen doch endlich die Wahrheit! Machen Sie Schluss mit Ihrem ideologisch getriebenen Bürokratieirrsinn! Vor zwanzig Jahren kannte das Energierecht etwa 200 Einzelnormen; mittlerweile sind es um die 13 700. Wie soll das ein Tischlermeister oder auch ein kleiner Gesellschafter-Geschäftsführer noch neben seiner Arbeit stemmen? Er kann es nicht, und er sollte es auch nicht müssen. ({6}) Geben Sie den Menschen ihre unternehmerische Freiheit zurück! Unser Antrag, meine Damen und Herren, bezweckt genau das: den Unternehmern in Deutschland ihre unternehmerische Freiheit zurückzugeben. Darum geht es nämlich in einer sozialen Marktwirtschaft: um Freiheit für Unternehmer und Arbeitnehmer. Liebe Kollegen von der Union – Herr Linnemann, Sie reden ja gleich –, da Sie unsere Forderungen aus diesem Antrag in Ihrem morgigen Änderungsantrag zum Erdgas-Wärme-Soforthilfegesetz aufgegriffen haben, freue ich mich schon auf Ihre Zustimmung zu unserem Antrag im Ausschuss. Vielen Dank. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Esra Limbacher. ({0})

Esra Limbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005131, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren zu einer für den deutschen Mittelstand schweren Zeit. Die jetzige Energiekrise und die damit verbundenen Energiepreissteigerungen sind wohl die größten ökonomischen Herausforderungen, die wir in unserem Land seit der Wiedervereinigung haben. ({0}) Ich war – nicht erst in dieser Krise, sondern auch schon davor – in vielen kleinen und mittelständischen Betrieben bei mir vor Ort, aber auch im ganzen Land unterwegs. Die Ängste und Befürchtungen der Unternehmer, die selbstständig für ihr Wohl jeden Tag arbeiten, sind wirklich mit Händen zu greifen. Die Ängste und Befürchtungen sind da – und vor allen Dingen das Gefühl, nicht mitgenommen zu werden von einer Politik, für die wir hier in Berlin verantwortlich sind. Keiner dieser mittelständischen Unternehmer will den Staat um Almosen bitten; sie möchten lediglich, dass der Staat dafür Sorge trägt, dass ein Umfeld besteht, welches ein Fortführen des bisher funktionierenden, im Kern ja erfolgreichen Geschäftsmodells ihres Unternehmens ermöglicht, damit die Mitarbeiter bezahlt werden können. Darum geht es dem mittelständischen Unternehmer, über den wir heute diskutieren: Er erwartet vom Bundestag eine Politik, die ihn ernst nimmt und handelt. Wenn ich mir das erlauben darf: Was der mittelständische Unternehmer nicht braucht, ist dieses hohle Geschwurbel, das wir in Ihrem Antrag lesen mussten. Sinnlose Anträge und dumpfe parteipolitische Parolen, die brauchen wir nicht und, noch viel schlimmer, die können die Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land erst recht nicht gebrauchen. ({1}) Die derzeitige Krise geht viel, viel tiefer als die Coronakrise. Das gilt insbesondere für mittelständische Unternehmen, die immer noch dabei sind, die Auswirkungen der Coronakrise zu verarbeiten, und jetzt mit einem Energiepreiskostenschub konfrontiert sind, der für viele existenzgefährdend ist. Für uns ist klar: In dieser für viele existenzgefährdenden Krise und Zeit in unserem Land zählt rasches staatliches Handeln, und wir handeln auch. Unser staatliches Handeln kann man, glaube ich, ganz gut in einem Dreiklang zusammenfassen: Erstens, der Abwehrschirm für unser Land. Wir wollen die Energiepreisbremse auf den Weg bringen. Wir schützen damit mittelständische Unternehmen genauso wie Industriebetriebe. Die Gaspreisbremse und die Strompreisbremse wollen wir umsetzen. Das schafft Planungssicherheit für diese Betriebe. ({2}) – Wir werden das umsetzen. Warten Sie doch einmal ab! Immer mit der Ruhe! Wichtig ist auch noch – und das wollen wir – Schnelligkeit. Schon im Dezember wollen wir einen Vorschlag umsetzen, ({3}) der die Soforthilfe für die KMU betrifft, nämlich die Übernahme der Abschlagszahlungen auch für kleine und mittelständische Unternehmen. ({4}) Andere – wie Sie – lamentieren in diesem Hohen Haus und blockieren entsprechende staatliche Handlungen, die wir auf den Weg bringen wollen. ({5}) Wir handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. In der letzten Sitzungswoche hat der Deutsche Bundestag 200 Milliarden Euro für staatliche Programme bereitgestellt, ({6}) die ich gerade eben beschrieben habe. Das Sondervermögen Wirtschaftsstabilisierungsfonds wurde extra dafür angepasst. Da Sie es vielleicht vergessen haben, habe ich noch mal genau nachgeschaut, wer da wie abgestimmt hat. Die Fraktion der AfD: Mit Ja haben gestimmt null Abgeordnete. ({7}) Die Fraktion der CDU/CSU: Mit Ja hat gestimmt ein Abgeordneter. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kämpfer für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für den Mittelstand, für die Industrie ({9}) sitzen jedenfalls nicht rechts der Mitte in diesem Bundestag. Das wurde in der letzten Sitzungswoche klar. ({10}) Die Antimittelstands- und Antiindustrieparteien, das sind offensichtlich Sie und die Union. Wir dagegen haben etwas auf den Weg gebracht. Zweitens gehört zu dem Dreiklang eine Energiepolitik ohne Scheuklappen. Wir nutzen alle Möglichkeiten, um das Energieangebot in Deutschland effektiv zu erhöhen, ohne Scheuklappen, aber auch ohne Augenklappen, die den Blick auf die Zukunft versperren. Deswegen investieren wir auch so massiv in den Ausbau der erneuerbaren Energien. Drittens. Wir wollen konkrete, schnelle Hilfen für mittelständische Betriebe. ({11}) Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Härtefallregelungen endlich umsetzen. Das ist zumindest das, was wir geplant haben. Weitere 12 Milliarden Euro werden nur dafür zur Verfügung gestellt. ({12}) Davon profitieren auch Krankenhäuser, Universitätskliniken und Pflegeeinrichtungen. Das Gleiche gilt für andere Heizmittel, für Öl und Holzpellets. Ich komme aus dem Saarland. Dort heizt noch ein Drittel der Verbraucherinnen und Verbraucher mit Ölheizungen. Mit unserem Plan, auch für sie einen Härtefallfonds auf den Weg zu bringen, tragen wir dem Rechnung. Wir lassen hier niemanden allein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Mittelstand – das ist klar – ist und bleibt das Rückgrat unserer Wirtschaft. Um den Wirtschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig zu halten, ist es unumgänglich, mittelständische Betriebe, die aufgrund der explodierenden Energiepreise in Not geraten sind, zu unterstützen. Wir machen das, ({13}) wir lassen niemanden allein, wir reden nicht nur. Herzlichen Dank. ({14})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Linnemann. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was mich freut, ist, dass es in diesem Hause keinen Dissens über die Bedeutung des Mittelstandes für den Standort Deutschland gibt. Das ist einzigartig, was wir hier haben – wenn ich allein darüber nachdenke, dass wir 80 Prozent Personengesellschaften haben, die mit dem eigenen Vermögen volle Pulle Verantwortung übernehmen, bei denen Risiko und Handlung in einer Hand liegen, wenn ich sehe, wie sich alle vor Ort einsetzen, damit dieses Land zusammenhält, im Vereinswesen, überall. Ich denke an hohe Exporte, an Hidden Champions, die sich nach der Wiedervereinigung extrem in die internationale Arbeitsteilung eingeklinkt haben. Wenn ich mir jetzt die aktuelle konjunkturelle Lage anschaue, und zwar nur die Frühindikatoren – Auftragseingang negativ, ifo-Geschäftsklimaindex sehr kritisch, der Konsumklimaindex der GfK so niedrig wie seit 10 oder 15 Jahren nicht mehr –, und feststelle, dass die Produktion selbst im verarbeitenden Gewerbe rückgängig ist, dann muss ich zu dem Schluss kommen, dass der Mittelstand in den letzten Jahrzehnten noch nie so unter Druck stand wie im Moment, dass da Menschen abends mit Problemen ins Bett gehen und morgens aufstehen und sich die Frage stellen: Wie gestalte ich die Zukunft? ({0}) Wenn Sie mit den Menschen reden, dann merken Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, dass sie nicht denselben Schluss ziehen wie Sie in Ihrem Antrag. Ja, Sie sprechen da Punkte an, die umtreiben, die Energiepolitik etc. Aber mich lässt der Verdacht nicht los, dass Sie bewusst ein Sammelsurium von Punkten in den Antrag reinziehen – von Gutmenschen über Covid bis hin zu Flüchtlingen und vielem mehr –, das mit der Realität, die mir geschildert wird, wenn ich in der jetzigen existenziellen Phase mit Mittelständlern spreche, nichts zu tun hat. ({1}) Ich habe gestern Abend mit Mittelständlern gesprochen. Ich hatte mich aufgeregt, weil mein Heimatverein ein Spiel verloren hatte, und habe dann direkt bei sechs Mittelständlern angerufen. Ich habe mich mit ihren Problemen auseinandergesetzt. Alle sechs haben da drei Themen genannt. Erstens: das Thema Energiekosten. Wie geht es da weiter? Zweitens: das Thema Arbeitskräfte. Drittens: das Thema Lieferengpässe. Beim Thema Energiekosten hatte ich einen Metallverarbeiter am Telefon, der letztes Jahr 200 000 Euro an Energiekosten gezahlt hat. Dieses Jahr waren es 1,4 Millionen Euro Energiekosten bei 8 Millionen Euro Umsatz. – Da hat man mal eine Vorstellung, wie es denen geht. Zum Thema Lieferengpässe: Ich war vor zwei Wochen bei Claas. Die haben auf dem Hof 748 Mähdrescher stehen, die nicht verkauft werden können, vor allem, weil bestimmte Teile fehlen. – Das sind die Dinge, die die umtreiben. ({2}) In dieser Gemengelage, wo es wirklich um die Existenz von vielen, vielen Mittelständlern geht, erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie handelt. ({3}) Wir haben das übrigens bei Corona gemacht: Anfang bis Mitte März 2020 brach in Heinsberg Corona aus. Ende März lag ein Konzept vor. Anfang April wurden 7,3 Milliarden Euro freigegeben. Innerhalb von wenigen Wochen haben wir die Mittelständler unterstützt. Wie ist es heute, nach neun Monaten schrecklichem Krieg? Sie haben im Sommer im Rahmen einer Konzertierten Aktion mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zusammengesessen, haben dann gesagt: Wir treffen uns im Herbst wieder und entscheiden dann. – Im Herbst haben Sie sich wieder getroffen. Dann wurde eine Gaspreiskommission ins Leben gerufen. Jetzt weiß man so langsam, wo es hingehen soll. Aber dem Mittelstand hilft es immer noch nicht so richtig, weil er das Geld nicht im Januar kriegt, sondern erst irgendwann im März. Die Planungssicherheit ist also nicht da. Das heißt, am Ende muss der Mittelstand nach Ausbruch dieses schrecklichen Krieges ein Jahr warten, ({4}) um zumindest mal ein bisschen Planungssicherheit zu bekommen. ({5}) Wir haben bei Corona bewiesen, dass wir schnell handeln können. Der Mittelstand braucht – erstens – Planungssicherheit. Er braucht in diesen Zeiten – zweitens – keine neuen Belastungen. Ich würde mich – drittens – freuen, wenn man treffsicher und einigermaßen konzentriert diejenigen unterstützt, die es wirklich brauchen, und nicht die Gießkanne nutzt. Vielen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort dem Kollegen Maik Außendorf. ({0})

Maik Außendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005012, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für sehr wichtig, dass wir heute über den Mittelstand und damit natürlich auch über Kleinst- und Kleinunternehmen reden. Wie wir alle wissen – da sind wir uns ja einig –, sind sie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, mit über 32 Millionen erwerbstätigen Personen in diesem Bereich. Die Situation ist schwierig – Herr Linnemann, auch da sind wir einer Meinung –, und die Ausgangslage ist komplex. Sie haben schon einige Punkte genannt. Diese Entwicklung hat weit vor dem Krieg begonnen. Schon vor Kriegsbeginn hatten wir es mit einem massiven Fachkräftemangel zu tun, schon Ende 2021 war eine ansteigende Inflation erkennbar, und massive Lieferkettenprobleme begannen spätestens in der Zeit der Pandemie. Mit Kriegsbeginn kam dann der energieseitige Angebotsschock, dadurch in der Folge eine importierte fossile Inflation. Dazu kommt dann noch die Verunsicherung der Verbraucher/-innen durch Liquiditätsprobleme. Wir wissen: Etwa 40 Prozent der Menschen in diesem Land haben keine Rücklagen. Das heißt, sie werden direkt von den steigenden Energiepreisen getroffen. Das hat zu einem massiven Nachfrageschock geführt. – Das ist die Lage, in der wir uns bewegen. Was wir hier erleben, ist: Auf jedes komplexe Problem gibt es einfache Antworten; sie sind nur meistens falsch und populistisch, und das ist auch beim AfD-Antrag der Fall. Schauen wir uns den Antrag mal genau an. Ich habe zwei Punkte herausgenommen: Erstens. Sie fordern unter anderem das Ende der Sanktionen gegen Russland. Da sehen wir jetzt, worum es Ihnen eigentlich geht. Ihnen geht es überhaupt nicht um den Mittelstand, Ihnen geht es um Ihre Freunde in Russland, und das machen wir hier nicht mit. ({0}) Der zweite Punkt, den Sie nennen: die Atomkraft. Sie skizzieren die Atomkraft als Lösung. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Atomkraft jedenfalls nach Gas – je nachdem, wie hoch der Gaspreis ist – die teuerste Form der Stromerzeugung in Deutschland ist? Das ist überhaupt keine Lösung. Es ist eine Zombiedebatte. Das bringt uns überhaupt nicht weiter. ({1}) Was bringt uns aber weiter? Jetzt erzähle ich Ihnen mal, was wir als Koalition alles schon gemacht haben. Erstens – der wichtigste Punkt –: Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist die günstigste Form der Stromgewinnung mit Wertschöpfung in diesem Land. Da haben wir mit dem Oster- und Sommerpaket richtig was auf den Weg gebracht, und das hilft allen. ({2}) Zweitens. Gaspreis- und Strompreisbremse. Ja, der Abschlag wirkt erst im Dezember und die Bremse schließlich im März. Das Wichtige ist aber doch die Planungssicherheit; das ist das, was Unternehmen brauchen. Deswegen ist es gar nicht so entscheidend, dass das jetzt sehr schnell kommt, sondern es muss gründlich sein, und die Planungssicherheit ist das, was hilft. ({3}) Drittens. Wir haben das Bürgergeld auf den Weg gebracht. Die Union blockiert das jetzt gerade. Das würde eins zu eins in den Konsum gehen und den Nachfrageschock abmildern. ({4}) Viertens. Die Bundesregierung hat die Strategie gegen den Fachkräftemangel vorgestellt: Einwanderungsgesetz, damit wir Fachkräfte ins Land holen, Potenziale im Land heben, eine höhere Frauenerwerbstätigkeit, Aus- und Weiterbildung stärken. – All das sind die Konzepte, mit denen wir als Koalition arbeiten, und das hilft dem Mittelstand. ({5}) Damit ist es aber noch nicht getan. Die nächsten Schritte sind schon in Vorbereitung. Wir haben im Koalitionsvertrag Pakete zur Bürokratieentlastung vereinbart: viele Maßnahmen besonders für kleine und mittelständische Unternehmen, zum Beispiel einfachere Abschreibungsregeln für geringwertige Wirtschaftsgüter und eine vereinfachte Buchführung. – All das sind Maßnahmen, die wir jetzt als Nächstes auf den Weg bringen. Ich komme zum Schluss. Sie sehen, komplexe Probleme lassen sich eben nicht mit einfachen populistischen Forderungen lösen. Wir als Koalition packen die Probleme auf allen Ebenen an. ({6}) Das kommt auch und gerade dem Mittelstand zugute. So kommen wir gut und solidarisch durch den Winter. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Christian Leye. ({0})

Christian Leye (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005127, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD möchte heute den Retter des Mittelstandes spielen, ({0}) und deswegen zitiere ich mal den Abgeordneten Weyel. In einer öffentlichen Veranstaltung fiel die Aussage, dass die Situation dramatisch werde. ({1}) Seine Antwort – Zitat –: Man muss sagen, hoffentlich, oder? Wenn es nicht dramatisch genug wird, dann geht’s so weiter wie immer. Während dem Mittelstand das Wasser bis zum Hals steht, sich noch mehr Krise wünschen: Tolle Mittelstandsretter sind Sie! – Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen. ({2}) – Gucken Sie zu, wir zeigen Ihnen jetzt, wie es geht. ({3}) Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich Karl Marx: Zentralisation des Kapitals … bedingt Verschlucken der kleinen Kapitalisten durch die großen und „Entkapitalisierung“ der ersteren. Wie funktioniert das in der aktuellen Krise? Laut einer Umfrage des BDI haben 90 Prozent der Mittelständler ernsthafte Probleme mit den Energiekosten, und jeder vierte Mittelständler überlegt, Arbeitsplätze und Produktion ins Ausland zu verlagern, während die Eigenkapitalquote sinkt. Während die Krise für den Mittelstand immer heftiger wird, rollt für das Großkapital der Rubel. Mehr als die Hälfte der DAX-Konzerne konnte ihre Gewinne in diesem Jahr steigern. 15 Konzerne werden in diesem Jahr die höchsten Nettogewinne in ihrer Firmengeschichte einfahren. Wie kann das sein? Einerseits, weil Konzerne international und deswegen krisenfester aufgestellt sind, andererseits können Konzerne aufgrund ihrer Marktmacht gestiegene Energiepreise und gestiegene Materialpreise leichter an die Kunden weitergeben. Und wenn die schon dabei sind, dann können die auch die Profitmarge steigern. Welcher durchschnittliche Kunde kann denn bei einer durchschnittlichen Inflation von 10 Prozent unterscheiden, ob 9, 10, 11, 12 oder 13 Prozent Preisaufschlag richtig sind? Richtig: Niemand! – Und deswegen warnte auch Paul Donovan, Chefökonom der Schweizer Bank UBS, erst vor wenigen Tagen davor, dass die aktuelle Inflation profitgetrieben ist. Und dann stellte sich unser Finanzminister Christian Lindner hierhin und warnte vor einer Lohn-Preis-Spirale, während nirgendwo eine Lohn-Preis-Spirale in Sicht ist. Tatsächlich haben wir eine Profit-Preis-Spirale. Lassen Sie uns darüber reden! ({4}) Für den Mittelstand heißt das: Das Großkapital treibt die Inflation weiter an. – Und dann wird auch das Mithalten für den Mittelstand schwieriger, weil er die hohen Preise nicht so gut wegstecken kann und weil er mit der niedrigen Kaufkraft zu kämpfen hat. Dann profitiert das Großkapital wieder, wenn da Platz wird, weil Mittelständler vom Markt verdrängt werden, wie es Karl Marx uns ins Poesiealbum geschrieben hat. Die Ampel verschärft diese Entwicklung, wenn Konzerne Hilfen aus dem Energiekostendämpfungsprogramm bekommen, während mittelständische Unternehmen in die Röhre gucken. Deswegen fordern wir eine schnellere Umsetzung des Härtefallfonds und ein Entlastungspaket, bei dem der Mittelstand nicht strukturell benachteiligt ist gegenüber dem Industriekapital. Danke schön. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Carl-Julius Cronenberg. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mal gut, dass Carsten Linnemann klargestellt hat, wie sehr der Mittelstand der Union am Herzen liegt. ({0}) An der Präsenz heute Abend kann man das jedenfalls nicht erkennen. ({1}) Wenn ich den vorliegenden Antrag der AfD richtig verstehe, hält die AfD die Krisen der vergangenen zehn Jahre für existenzbedrohend für den deutschen Mittelstand. Sie führen die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Coronakrise und last, not least die Energiekrise an. ({2}) Dabei nehmen Sie die Bundesregierung und auch die Vorgängerregierungen in die Verantwortung. ({3}) Mit Verlaub: Die Regierungen vor uns und auch die jetzige Regierung mögen nicht in jeder Sekunde immer alles zu einhundert Prozent richtig gemacht haben, aber ich finde es geradezu entlarvend, dass Sie darauf verzichten, hervorzuheben, wer in Wahrheit Verantwortung für diese Krisen trägt: zockende Banker in den USA für die Finanzkrise, ein skrupelloser Präsident Baschar al-Assad für die Flüchtlingskrise und der Kriegstreiber Putin für die Energiekrise. Das sind die wahren Verantwortlichen für all diese Krisen. ({4}) Es geht Ihnen letztlich doch gar nicht darum, die Probleme des Mittelstandes zu lösen, sondern vielmehr darum, das ganze Land in Angst und Schrecken zu versetzen. ({5}) Panikmache ist Ihr Geschäftsmodell, und das ist exakt das Gegenteil dessen, was wir in dieser Zeit brauchen. ({6}) Was wir brauchen, sind Besonnenheit in der Lageanalyse, Ausgewogenheit in den Entscheidungen und Entschlossenheit im Handeln. ({7}) Und so agiert die Bundesregierung. Übrigens, Carsten Linnemann: Den Nachfrageschock kann man mit Geld tatsächlich ein bisschen heilen. Beim Angebotsschock heizt viel Geld die Inflation eigentlich nur weiter an. Das wollen wir nicht. ({8}) Die AfD beklagt, dass die Krisen den Mittelstand in seiner Existenz bedrohen. Ich frage Sie: Wie erklären Sie eigentlich, dass wir bis zum Ausbruch der Pandemie den längsten Aufschwung seit den Wirtschaftswunderjahren hatten, dass das Bruttoinlandsprodukt heute über dem Niveau von vor Corona liegt, dass der Arbeitsmarkt weiter robust ist und die Arbeitslosigkeit sinkt, dass offene Stellen – übrigens mangels Zuwanderung – ({9}) nicht besetzt werden können? Das alles erklären Sie nicht, weil das nicht in Ihr durchschaubares Framing vom Untergang des Abendlandes passt. Das ist der Grund, warum die AfD die Antwort auf diese Fragen schuldig bleibt. ({10}) Im Übrigen: Dass unsere Gasspeicher mit 99 Prozent so voll wie noch nie sind, mag die AfD genauso ärgern wie Herrn Putin. ({11}) Ja, der Mittelstand ist systemrelevant, und das ist er, weil er in der Krise eben nie zur Gänze einbricht, sondern sich schnell und innovativ neuen Marktlagen anpassen kann. Der Mittelstand braucht keine staatliche Super Nanny, der Mittelstand braucht leistungsfähige Infrastrukturen, eine digitale öffentliche Verwaltung, wettbewerbsfähige Energiekosten – das wurde schon gesagt – und Fach- und Arbeitskräfte. ({12}) Kurz: Der Mittelstand kann Strukturwandel. – Was er nicht kann, ist Strukturbruch. Deshalb hat die Bundesregierung ein ganzes Bündel an Maßnahmen in Rekordzeit – das muss man hier auch mal sagen – ergriffen, um Strukturbrüche zu vermeiden. Ich darf an die Abschaffung der EEG-Umlage, an den erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld, an das LNG-Beschleunigungsgesetz – geradezu eine Blaupause für beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren für praktisch alle Infrastrukturmaßnahmen – und an das Energiekostendämpfungsprogramm erinnern, ({13}) und weitere Maßnahmen werden folgen. ({14}) Esra Limbacher hat schon darauf hingewiesen: Noch im November kommt die Gas- und Stromkostenbremse ins parlamentarische Verfahren. Und Maik Außendorf hat darauf hingewiesen: Nächstes Jahr werden wir ein Bürokratieentlastungsgesetz mit Erleichterungen bei Abschreibungen von geringfügigen Wirtschaftsgütern auf den Weg bringen. Ebenfalls stärken wir die duale Ausbildung. Es geht darum, dass Handwerk und Handel endlich wieder ihre vielen offenen Stellen besetzen können. Wir sorgen für Fachkräftezuwanderung, digitalisieren die Verwaltung, erhöhen die Abschreibungen insbesondere für Investitionen in Digitalisierung und mehr Klimaschutz. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“, sagte uns einst Ludwig Erhard, und ich füge hinzu: Der Pessimist ist der einzige Mist, aus dem nichts wächst. ({16}) Der Mittelstand braucht keine Panikmache à la AfD. Was der Mittelstand braucht, ist die Zuversicht, dass sich Investitionen und Leistung auch morgen lohnen. Dafür brauchen wir entschlossenes Handeln, dafür brauchen wir Mutmacher, dafür brauchen wir genau die Regierung, die wir haben. ({17})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die Kollegin Lena Werner der SPD-Fraktion gibt ihre Rede zu Protokoll. ({0}) Somit kommen wir zum nächsten Redner; das ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hansjörg Durz. ({1})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich die Überschrift dieses Antrags erstmals gelesen habe, habe ich mich zunächst auf die Debatte gefreut. Denn in der Tat: Unser Mittelstand ist systemrelevant, und das zeigt sich auch in der ganzen Breite dieses Hauses. ({0}) Und ja, diese Regierung müsste eigentlich deutlich mehr tun und vor allem schneller handeln, damit dieser Wohlstandsmotor in der derzeitigen Krise keinen Schaden nimmt. Der Mittelstand steht massiv unter Druck. Ich hätte gerne den Großteil meiner Redezeit auf die Mittelstandspolitik des grünen Ministers verwendet: das Vergessen, das der Mittelstand bei den bisherigen Hilfspaketen erfahren musste – absolut unverständlich –, ({1}) die Weigerung, in der Energiekrise alle verfügbaren Ressourcen ans Netz zu bringen, um den Angebotsschock zu bekämpfen – rein ideologisch –, die viele Zeit, die im Sommer für die Erarbeitung wirksamer Hilfsmaßnahmen bestand – völlig verbummelt –, das Versprechen zur Ausweitung des Energiekostendämpfungsprogramms auf den Mittelstand – längst gebrochen –, Maßnahmen zur Vermeidung der Winterlücke bei der Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen bei den Energiekosten, gerade im Januar und Februar – Fehlanzeige. Ihr Antrag jedoch ist ein populistischer Giftpfeil auf die demokratische Debattenkultur unseres Landes. ({2}) Statt über die Politik dieser Regierung zu reden, zwingen Sie mich, die Widersprüche Ihres Antrags aufzudecken. Sie verweisen in Ihrem Antrag auf die hohen Steuern für Unternehmen; darüber muss man reden. Als Beleg dafür verweisen Sie auf einen Zeitungsartikel aus dem „Münchner Merkur“. Doch beim nächsten Mal sollten Sie solche Artikel lieber mal durchlesen; denn in dem Zeitungsartikel wird die Steuerlast von Durchschnittsverdienern in Deutschland beschrieben und mit den Durchschnittsverdienern anderer Länder verglichen. Über Unternehmensteuern verliert der Artikel nicht ein einziges Wort; vom Mittelstand ist dort überhaupt nicht die Rede. ({3}) Dabei hätten wir gerade heute über Steuerpolitik bestens diskutieren können. Der Vorschlag des Sachverständigenrates zu Steuererhöhungen böte dazu allen Anlass, und noch mehr die Kritik daran vom deutschen Mittelstand. Denn gerade in Zeiten horrender Energiekosten braucht unser Mittelstand Investitions- und Innovationskraft, aber keine zusätzlichen Belastungen. ({4}) Nächster Punkt. Um herzuleiten, dass der Mittelstand besonders unter der Energieknappheit leidet, zitieren Sie den BDI. Doch wenn Sie schon den BDI als Kronzeugen für Ihre Positionen nutzen, dann schauen Sie doch mal, was der BDI zu Corona zu sagen hat. Er äußert deutlich, dass nicht nur die Energiekrise eine Gefahr für das produzierende Gewerbe ist, sondern auch die Personalausfälle durch Corona zum Problem werden. Im Gegensatz zu Ihrem rückwärtsgewandten Blick auf die Pandemie nimmt der Mittelstand Corona sehr ernst. ({5}) Hilfreich wäre drittens eine schlüssige Argumentationskette. Auf der einen Seite beschweren Sie sich in diesem Antrag darüber, dass die Bundesregierung den Mittelstand bei der Konstruktion der Hilfsprogramme nicht berücksichtigt; das habe ich auch schon erwähnt. Gleichzeitig schreiben Sie – Zitat –: „Er“ – der Mittelstand – „hat es nicht nötig, durch einen Wust von staatlichen Hilfs- und Förderprogrammen aufgepäppelt zu werden.“ ({6}) Heute aber haben Sie im Wirtschaftsausschuss dem ERP-Wirtschaftsplangesetz auch zugestimmt und damit einem Förderprogramm für den Mittelstand. Ja, was denn jetzt? ({7}) Ein weiterer Widerspruch: Sie beklagen in Ihrem Antrag die Abhängigkeit von Gas aus Russland. Dabei wollten gerade Sie Gas aus Russland beschaffen. Am 19. November 2020 wurde im Bundestag ein Antrag der AfD debattiert; der Titel lautete „Energiesicherheit gewährleisten – Nord Stream 2 unterstützen“. ({8}) Widerspruch über Widerspruch! Aber erkennen Sie vor allem endlich an, dass die Energiekrise allein ein Mann im Kreml zu verantworten hat! ({9}) Die deutsche Geschichte lehrt uns, dass Appeasement-Politik nicht die richtige Antwort auf den ersten Angriffskrieg in Europa seit 1945 ist. ({10}) Das sieht übrigens auch der Mittelstand so. Das deutsche Handwerk unterstützt explizit die Verteidigung freiheitlicher Werte und auch die aktuelle Sanktionspolitik. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel! ({11})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Dr. Anne Monika Spallek. ({0})

Dr. Anne Monika Spallek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005225, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, der Mittelstand ist das Rückgrat und der Motor der deutschen Wirtschaft. Mittelständische Firmen sind entscheidend für unseren Wohlstand. Sie schaffen Arbeitsplätze, bilden junge Menschen aus und prägen durch Investitionen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Sie sind systemrelevant. Und ja, der Mittelstand leidet sehr unter der Energiekrise. Die Bundesregierung wird alles tun, damit jeder Betrieb und wir alle gemeinsam als Gesellschaft gut durch diese Krise kommen. ({0}) Keiner wird alleine gelassen. Das ist das Versprechen der Bundesregierung, und das ist das Versprechen der Ampel. Es ist absolut schändlich, nein, widerlich, dass Sie von der AfD in Ihrem Antrag schreiben, ({1}) dass die Energiekrise aktiv durch Deutschland, durch das Handeln der Regierung herbeigeführt worden ist. ({2}) Sie von der AfD möchten lediglich durch Ihre Lügen – dafür auch dieser Antrag hier – uns Demokraten und das Land spalten. ({3}) Das werden wir nicht zulassen. ({4}) Wir werden als Demokraten zusammenrücken in dem Bewusstsein, dass der wahre Gegner im Kreml sitzt. ({5}) Wir befinden uns in einer sehr ernsten Lage. Dafür verantwortlich sind allein Wladimir Putin und sein menschenverachtender, völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf die Ukraine. Ich erinnere gerne noch mal daran: Strategisch hat Russland als Kriegsvorbereitung bereits letztes Jahr dafür gesorgt, dass die Gasspeicher vor dem Winter fast leer waren. Und ich erinnere gerne auch noch mal daran: Zuletzt hat Russland über den Sommer die Gaseinführung immer weiter gedrosselt. Und ich erinnere noch mal: Ende August hat Russland die Gaseinführung endgültig gestoppt. Von den Zerstörungen an den Pipelines möchte ich gar nicht erst sprechen. ({6}) Ich bin unserem Wirtschaftsminister Robert Habeck sehr dankbar, dass er eben nicht, wie viele im Frühjahr lautstark gefordert haben, vonseiten Deutschlands den Import von Gas gestoppt hat. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er immer wieder bei seiner Haltung geblieben ist. ({7}) Denn genau das hat den Betrieben die wichtige Zeit gegeben, sich darauf einzustellen mit Fuel Switch, mit dem Ausbau von erneuerbaren Energien, mit Anpassungen von Produktionsprozessen. Und es waren Robert Habeck und die Koalition, die hier unideologisch und undogmatisch viele Entscheidungen für die deutsche Wirtschaft, für die Menschen getroffen haben, damit die Energieversorgung gesichert ist. In Windeseile wurden alternative Importstrukturen aufgebaut und diversifiziert, und so konnten die Speicher in Deutschland rechtzeitig vor dem Winter gefüllt werden, und zwar schneller als gedacht. Das ist eine große Leistung. ({8}) Und wir haben unideologisch entschieden, die Kohlekraftwerke übergangsweise noch ans Netz zu nehmen als Notfallmaßnahmen. Zudem wurden zahlreiche Maßnahmen beschlossen, mit denen der Ausbau der erneuerbaren Energien erleichtert und beschleunigt wird. Das alles wird sich langfristig auszahlen, sowohl finanziell für die mittelständische Wirtschaft als auch für das Klima. Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien, aber sie sind auch Billigenergien, – ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Anne Monika Spallek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005225, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– weil sie preiswert und ganz ohne Zustimmung von Putin bei uns ankommen. Herzlichen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Damit schließe ich die Aussprache.