Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mehr Fortschritt wagen“ – mit diesem Versprechen sind wir vor noch
nicht mal einem Jahr angetreten. Heute kann ich sagen: Wir halten unser Versprechen. Sowohl in der Digitalisierung als auch bei der Mobilität haben wir
entscheidende Weichen gestellt und kommen trotz der schwierigen Bedingungen aufgrund des Ukrainekrieges enorm gut voran, beispielsweise bei der Digitalstrategie
und der Gigabitstrategie. Beides zusammen ermöglicht Deutschland endlich den umfassenden digitalen Aufbruch, auf den alle schon so lange warten. Den
Personalausweis beantragen, einen neuen Wohnort mitteilen oder ein neues Unternehmen anmelden – das alles soll künftig in wenigen Minuten online zu erledigen
sein, am besten mit dem Smartphone vom eigenen Sofa aus.
Bis 2025 soll zumindest die Hälfte aller Anschlüsse in Deutschland mit Glasfaser versorgt sein. Außerdem sollen alle im Mobilfunk bis 2026 drahtlose
Sprach- und Datendienste verlässlich flächendeckend nutzen können. Denn klar ist: Homeoffice, Streaming im ICE und Empfang auf der Berghütte – all das muss
endlich auch in Deutschland problemlos möglich sein.
Oder nehmen wir den öffentlichen Personennahverkehr. 52 Millionen haben in diesem Sommer Ja gesagt. Sie haben Ja gesagt zum ÖPNV und das 9‑Euro-Ticket
gekauft. Hinzu kommen 10 Millionen Menschen, die den ÖPNV ohnehin bereits im Abo nutzen. Das ist sensationell und ein klares Signal. Es zeigt: Die Menschen sind
bereit, Neues auszuprobieren und Dinge anders zu machen als gewohnt, wenn wir es ihnen einfach machen. Genau das war das Erfolgsgeheimnis dieses Tickets: die
Einfachheit. Einmal kaufen und dann losfahren, ohne nachdenken, ohne sich mit Waben und komplizierten Tarifstrukturen auseinandersetzen zu müssen. Das hat
überzeugt, mehr noch als der Preis. Deshalb freue ich mich, dass Bund und Länder fest entschlossen sind, so schnell wie möglich eine Nachfolgelösung für dieses
Ticket zu schaffen. Wir müssen den Schwung aus dem Sommer nutzen.
({0})
Der öffentliche Personennahverkehr und die Schiene insgesamt gehören zu den ganz zentralen Elementen einer modernen nachhaltigen Mobilität. Sie
bündeln Verkehre, entlasten Straßen, schonen Klima und Umwelt. Deshalb werden wir zum Beispiel auch bei der Schiene die wichtigen Korridore generalsanieren; das
heißt, Schritt für Schritt wird sich die Bahn auf ihren hochbelasteten Strecken darum kümmern, dass auf einen Schlag ein Rundum-Upgrade erfolgt. Also statt, wie
bisher üblich, bei einer Strecke erst die Weichen auszutauschen, in einem halben Jahr die Oberleitung zu erneuern, im folgenden Jahr die Schwellen und dann am
Bahnhof zu arbeiten, soll künftig alles auf einmal erledigt werden, in einem einzigen Zeitfenster, inklusive Modernisierung der Stellwerke. Nach solch einer
Generalsanierung haben wir dort dann jahrelang freie Fahrt. Fortschritt! Das ist ein Paradigmenwechsel, von dem Personenverkehr und Güterverkehr gleichermaßen
profitieren.
Oder nehmen Sie den Masterplan Ladeinfrastruktur II, den das Kabinett heute beschlossen hat. Mit 68 Maßnahmen bringen wir die Infrastruktur so voran,
dass sie dem Hochlauf der Elektromobilität gerecht wird.
({1})
Auch mit unserem Gesetz zur Planungsbeschleunigung, das wir im Rahmen des Herbstpakets der Bundesregierung demnächst vorlegen werden, greifen wir
genau die richtigen Themen auf, die die Leute in Deutschland von uns erwarten.
Oder nehmen Sie das Brückenprogramm, mit dem wir in weniger als zehn Jahren ein zusammenhängendes Kernnetz von besonders wichtigen Autobahnabschnitten
durchgängig mit leistungsfähigen Brücken herrichten wollen: statt 200 künftig 400 pro Jahr im Sanierungsprogramm.
Oder nehmen Sie sichere Radwege und die entsprechende Infrastruktur. Uns ist es gelungen, was Länder und Kommunen schon lange fordern, nämlich die
Verstetigung der Fördermittel für den Radverkehr in Deutschland. Damit haben Länder und Kommunen endlich die Planungs- und Finanzierungsperspektive, die sie
benötigen, um wirklich anpacken zu können. Sie sehen: Noch ein Fortschritt.
Ich könnte jetzt weitermachen, aber Sie sollen die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen. Deswegen möchte ich es an dieser Stelle mit dem
Eingangsstatement, Frau Präsidentin, bewenden lassen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Wir beginnen die Regierungsbefragung zu den einleitenden Ausführungen des Bundesministers, Herrn Dr. Volker Wissing, und zum
Geschäftsbereich sowie zu den vorangegangenen Kabinettssitzungen und allgemeinen Fragen.
Das Wort hat zuerst aus der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ulrich Lange.
Sehr geehrter Herr Bundesminister, 27,5 Prozent des Energiebedarfs braucht der Verkehrssektor. Jetzt haben Sie sich ja diese Woche verständigt –
oder Sie wurden verständigt – bei der Diskussion bezüglich der Laufzeit der AKW. Zu 10 Prozent fährt die Bahn laut Ihrem Staatssekretär Theurer mit Kernenergie.
Ihr Koalitionskollege Jürgen Trittin warf Ihnen gestern im Deutschlandfunk Wortbruch vor und sagte, dass es beim Thema Sektorziele nach dem Klimaschutzgesetz
insbesondere im Verkehrsbereich exakt die gleiche Blockadehaltung seitens der FDP gebe. – Herr Minister, blockieren Sie klimagerechte Mobilität?
Nein, Herr Kollege, im Gegenteil. Wir sorgen dafür, dass in Deutschland das, was lange versprochen worden ist, umgesetzt wird, nämlich nachhaltige
Energieerzeugung vorangebracht wird. Gleichzeitig müssen wir natürlich auf die gegenwärtigen Herausforderungen des Ukrainekrieges reagieren. Selbstverständlich
tut die Bundesregierung zunächst einmal alles, damit die Energieversorgung in den nächsten Monaten, über diesen schwierigen Winter hinweg, gesichert bleibt. Das
ist die vorrangige Aufgabe, der wir uns jetzt gemeinsam stellen. Dass das keine einfachen Fragen sind, das versteht sich von selbst. Aber dass die
Bundesregierung klare Ziele hat und auch klare Wege definiert hat, wie sie diese Ziele erreicht, das wissen alle.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit einer stabilen, sicheren Energieversorgung rechnen können. Natürlich bleiben die Herausforderungen aufgrund
des Ukrainekrieges groß; aber die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ist noch größer.
({0})
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Ich stelle gerne eine Nachfrage. – Herr Minister, glauben Sie wirklich, dass Sie dabei in der Koalition an einem Strang ziehen?
({0})
Ich denke an das Interview von Toni Hofreiter gestern im „Frühstart“ bei ntv.
({1})
Da wirft er Ihnen vor, ein Tempolimit wäre sinnvoll, aber das blockiere die FDP. Wie wollen Sie sich überhaupt noch ideologiefrei
({2})
für faire Energiepreise im Verkehrssektor einsetzen?
({3})
Herr Kollege, dass die Bundesregierung ideologiefrei zu arbeiten versteht, das haben, glaube ich, alle inzwischen gemerkt.
({0})
Und dass wir in unserer Gesellschaft und auch in diesem Hohen Haus unterschiedliche Positionen diskutieren und dass das auch die Fraktionen innerhalb
einer Regierungskoalition tun, das ist das große Glück parlamentarischer Demokratien.
Das Ringen um die beste Lösung setzt ja immer voraus, dass unterschiedliche Positionen, unterschiedliche Blickwinkel ausgesprochen und diskutiert
werden. Das ist, Herr Kollege, kein Problem, sondern eine Chance für eine Demokratie; ich würde sagen: Es ist unsere Stärke. Es wird nur dann zum Problem, wenn
eine Regierung dadurch handlungsunfähig wird. Und Sie können sicher sein: Das wird bei dieser Bundesregierung nicht passieren.
({1})
Jetzt zeigen ganz viele auf. Ich wollte gerade eröffnen. Jetzt ist Zeit für die Nachfragen – ich weise noch mal darauf hin – zum Thema. Obwohl das
Thema sehr breit gefasst war, versuchen Sie bitte, dies bei der Fragestellung zu beachten. Vor allen Dingen bitte ich, darauf zu achten, dass die Zeiten
eingehalten werden. Wir notieren gleich die nachfragenden Kollegen.
Zuerst hat das Wort aus der AfD-Fraktion Frau von Storch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, dass die Energiesicherheit jetzt gewährleistet ist, weil Sie ja beschlossen
hätten, drei AKWs bis April nächsten Jahres am Netz zu belassen. Faktisch hat die Regierung das Gegenteil beschlossen.
({0})
Sie haben nämlich den finalen Ausstieg komplett aus der Atomenergie im nächsten Jahr beschlossen.
Ich würde Sie vor dem Hintergrund gerne fragen, wie Sie uns erklären wollen, dass Sie im Nachgang, nach April nächsten Jahres, also 2023, die
Energiesicherheit grundlastfähig gewährleisten können, wo Sie doch jetzt gerade beschlossen haben, final aus der Atom- bzw. Kernenergie auszusteigen.
Frau Kollegin, die Versorgungssicherheit im Energiebereich beruht nicht auf einer einzelnen Maßnahme. Deswegen habe ich mich auch nicht so
ausgedrückt, wie Sie mich zitiert haben. Ich habe nicht gesagt: „Die Energieversorgung ist sicher, weil wir die Kernkraftwerke länger laufen lassen“, sondern
ich habe gesagt, dass die Energieversorgung wegen dieser und vieler anderer Maßnahmen sicher ist, beispielsweise auch wegen des Einsatzes von Kohlekraftwerken
und vielem mehr. Es ist die Summe der energiepolitischen Maßnahmen, die die Bundesregierung ergriffen hat, die uns eine Versorgungssicherheit im Energiebereich
verschafft.
Wir müssen ja immer zwei Dinge im Blick haben: zum einen die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Energie, zum anderen natürlich auch die
Energiepreisentwicklung. Deswegen ist es ein kompliziertes Konstrukt und, wie ich finde, sehr ausgewogen, was die Bundesregierung hier auf den Weg gebracht hat.
Wir tun alles, um Energiepreise zu stabilisieren, und selbstverständlich auch alles, was in unseren Möglichkeiten liegt, um die Energieversorgung zu
sichern.
({0})
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Sie haben gerade gesagt, es gehe um die Summe der Energieträger, und haben die Kohle angesprochen. Ich nehme mal Flüssiggas dazu. Dann sagen Sie mir
doch bitte, für wie viele Kohlekraftwerke Sie nunmehr eine verlängerte Laufzeit zulassen werden, ob also in der Tat eine Vielzahl von Kohlekraftwerken ans Netz
gehen kann, und für wie viele Kubikmeter Flüssiggas Sie schon Aufträge kontrahiert haben, um die entstehende Lücke an diesen beiden Stellen zu schließen.
({0})
Sie sprechen immer von einer Vielzahl von Maßnahmen, von vielen Einzelmaßnahmen. Aber werden Sie doch mal bitte konkret: Wie viele Kohlekraftwerke
gehen ans Netz, und für wie viel Flüssiggas haben Sie Aufträge kontrahiert?
Frau Kollegin, wenn ich von der Summe der Maßnahmen spreche, dann sind es die Dinge, die Sie kennen. Deswegen weiß ich gar nicht, warum Sie danach
fragen. Es ist die Versorgung mit Energie aus Gas, es ist die Versorgung mit Energie aus Kohle, die wir brauchen,
({0})
auch wenn sich das hinsichtlich unserer CO2-Minderungsziele natürlich nicht positiv auswirkt. Und natürlich nutzen wir auch noch Kernenergie. In der
Summe schaffen wir damit eine sichere Energieversorgung.
Der Einsatz der jeweiligen Energieträger ist nicht trivial, weil wir einerseits wissen, dass wir nicht unendlich Gas zur Verfügung haben, und
andererseits die Veränderung bei den Kernkraftwerken auch eine Herausforderung in technischer Hinsicht ist, weil man sich ja anders vorbereitet hatte. Was die
Kohle angeht, stehen wir natürlich auch vor einer großen Herausforderung, was die logistischen Anforderungen angeht. Aber die Summe der Maßnahmen zeigt: Die
Bundesregierung hat hier einen sehr richtigen Weg eingeschlagen.
Herr Minister, achten auch Sie auf die Antwortzeit. – Dann komme ich zur nächsten Nachfrage: aus der CDU/CSU-Fraktion Herr Kollege Donth.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, die aktuellen Preissteigerungen bei Diesel oder auch AdBlue sind für viele Bus- und Taxiunternehmen
im Land existenzbedrohend. Ohne sie haben wir aber keine Chance, den ÖPNV aufrechtzuerhalten oder noch zu steigern. Bislang haben diese Unternehmen keinerlei
Hilfen von der Bundesregierung bekommen. Über 2 500 mittelständische Busunternehmen und 20 000 Taxiunternehmen werden von der Regierung bislang im Stich
gelassen.
Jetzt fordern die Länder für 2022 und 2023 Regionalisierungsmittel von jeweils 1,65 Milliarden Euro für diesen Zweck. Halten Sie das für
gerechtfertigt, und werden Sie den Unternehmen helfen?
Zunächst einmal, Herr Kollege, hat die Bundesregierung hier schon sehr viel geholfen. Und zwar haben wir gemeinsam mit den Ländern einen paritätisch
finanzierten Corona-Rettungsschirm für den öffentlichen Personennahverkehr auf den Weg gebracht. Deswegen wundere ich mich, dass Sie sagen, für die Unternehmen
im Busbereich wäre nichts getan worden.
Die Länder sprechen gegenwärtig mit dem Bund über die Erhöhung der Regionalisierungsmittel. Das haben wir auch unlängst bei der
Verkehrsministerkonferenz in Bremerhaven getan. Wir sind dort nicht zu einer Einigung gekommen. Die Länder möchten das in der Ministerpräsidentenkonferenz
klären. Sie wird in Kürze stattfinden. Den Beratungen der Ministerpräsidentenkonferenz kann ich insofern heute nicht vorgreifen.
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Sie wundern sich, dass das Geld nicht angekommen ist. Das ist insofern nicht verwunderlich, weil gerade die eigenwirtschaftlichen Verkehre, die von
Unternehmern in unserem Land auf eigene Rechnung ausgebracht werden, von diesen Geldern beispielsweise überhaupt nichts gesehen haben, weil es in vielen Ländern
eben an einer allgemeinen Vorschrift fehlt. Haben Sie vor, damit Gelder dort zukünftig ankommen, bundesweit für solch eine allgemeine Vorschrift
einzutreten?
Zunächst einmal, Herr Kollege, ist der öffentliche Personennahverkehr keine Bundes-, sondern eine Landesaufgabe, und das gilt insbesondere für die
Busverkehre.
({0})
Deswegen wundere ich mich, dass Sie diese Kostenforderung so einseitig an den Bund richten.
Ich diskutiere mit den Ländern seit meinem Amtsantritt über die Frage: Wie können wir die ÖPNV-Finanzierung, die nach der Verfassung mit einem Teil
des Steueraufkommens vom Bund begleitet wird, besser strukturieren? Wir haben deshalb auf mein Betreiben hin schon im Februar eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die
jetzt ein Zwischenergebnis zu der Frage vorgelegt hat, wie wir das künftig besser machen können. Das Zwischenergebnis konnten die Länder in Bremerhaven nicht
beraten. Bei der nächsten VMK soll das stattfinden. Dann sind wir sicherlich einen Schritt weiter.
Wir sind immer noch bei den Nachfragen zur ursprünglich gestellten Frage; ich möchte nur darauf hinweisen. – Jetzt hat das Wort der Kollege Müller
aus der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Herr Minister, angesichts der Preisentwicklung beim Rohöl – Ende Februar hatten wir einen Preis pro Barrel von
130 Dollar, jetzt liegt er bei 90 Dollar – machen in Ihrer Regierungszeit die Mineralölkonzerne Rekordgewinne. Was wollen Sie konkret tun, damit dieser
unhaltbare Zustand nicht weiter anhält, dass gerade jetzt die Mineralölkonzerne Rekordgewinne einfahren, während die Verbraucher insbesondere im ländlichen Raum
unter diesen nicht nachvollziehbaren Energiepreisen zu leiden haben?
({0})
Herr Kollege, die Bundesregierung hat insbesondere durch verschiedene Entlastungspakete auf die Energiepreisentwicklung reagiert. Wir hatten im
Sommer ja eine Absenkung der Kosten für Kraftstoffe durch entsprechende Maßnahmen der Bundesregierung auf den Weg gebracht, die wir auch noch mit
Energiesparanreizen begleitet haben. Insgesamt nimmt die Bundesregierung das Thema Energiepreisentwicklung sehr ernst und steuert konsequent dagegen.
({0})
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Herr Minister, habe ich Sie demnach richtig verstanden, dass Sie dem Land zur Entlastung der Pendlerinnen und Pendler jetzt im Winter kein
annehmbares Konzept anbieten können?
Nein. Denn die Bundesregierung hat gerade ein neues Entlastungspaket auf den Weg gebracht, das sich an die gesamte Gesellschaft richtet. Dieses
Entlastungspaket befindet sich in der Umsetzung, und insofern sind wir jetzt mit dem nächsten Entlastungsschritt so vorbereitet, dass für alle Teile der
Gesellschaft passgenaue Maßnahmen gefunden werden.
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich noch zahlreiche Nachfragen habe. Ich lasse jetzt noch drei zu. – Gab es noch jemanden aus der CDU/CSU-Fraktion
mit einer Nachfrage? Nicht, dass ich jemanden übersehen habe. – Dann habe ich jetzt aus der SPD-Fraktion die Kollegin Dorothee Martin.
({0})
– Wir sind noch im Nachfrageverfahren.
({1})
– Dann Christian Schreider.
Sehr geehrter Herr Bundesminister, das Thema Versorgungssicherheit wurde angesprochen. Ein wichtiges Element ist die Kohle. Es wurde für eine
Bevorrechtigung der Kohlezüge auf der Schiene gesorgt. Wenn Sie uns eine konkretere Einschätzung dazu geben könnten, wären wir sehr dankbar. – Vielen Dank.
Herr Kollege, die Bevorrechtung der Kohle ist notwendig, weil sie sicherstellen muss, dass wir eine stabile Energieversorgung haben, und auch die
Schiene ist auf Stromversorgung angewiesen. Wir haben deswegen die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass im Zweifel Kohlezüge Vorrang haben.
Gleichzeitig haben wir zusätzliche Waggons ertüchtigt, die bereits ausrangiert waren. Diese wurden technisch aufgerüstet und wieder in Betrieb
genommen, sodass wir die 900 Waggons, die in Betrieb waren, inzwischen auf 2 000 aufstocken konnten. Damit haben wir eine maximale Verfügbarkeit geschaffen.
Mehr Waggons haben wir nicht. Aber damit können wir zusammen mit den Prioritätsregeln sicherstellen, dass die Kohletransporte vorrangig in den Kraftwerken
ankommen.
({0})
Letzte Nachfrage: Herr Lenders aus der FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundesminister, hier sind ja jetzt die Nachfragen zur Energie aufgekommen. Unzweifelhaft gehören ja auch der
Ausbau und die Beschleunigung der Energieinfrastruktur dazu. Welche Parallelen können Sie denn da ziehen, um die Planungsbeschleunigung auch im Verkehrsbereich
voranzutreiben?
Herr Kollege, insgesamt müssen wir bei Planungen schneller werden. Wir sehen, dass die Auswirkungen des Krieges uns vor so große Herausforderungen
stellen, dass wir nach Schema F bzw. standardmäßig nicht mehr schnell genug reagieren können. Wir haben das bei den LNG-Terminals festgestellt und sehen auch
bei anderen Bereichen, dass wir schneller reagieren müssen.
Wir wollen deshalb mit einem weiteren Planungsbeschleunigungsgesetz eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Weg bringen, um unsere Logistikketten zu
sichern, um Infrastruktur schneller zu ertüchtigen, um Klimaschutzziele erreichen zu können. Wir haben beispielsweise bereits die Planungszeiten bei
Raumordnungsverfahren auf sieben Monate begrenzt. Wir wollen bei transeuropäischen Netzen maximal vier Jahre Planungszeit haben, um die Dinge umzusetzen.
Das Ziel der Bundesregierung ist, die Planungszeiten in Deutschland zu halbieren, und dazu gehört eine ganze Reihe von Maßnahmen, beispielsweise auch
Building Information Modeling zu nutzen. Damit kann man 20 Prozent der Planungszeit einsparen. Wir haben schon viel vorgelegt; wir haben in diesem Bereich aber
auch noch viel vor in den nächsten Monaten.
({0})
Ich gehe weiter in die Fragerunde der angemeldeten Fragestellerinnen und Fragesteller. Jetzt hat das Wort aus der SPD-Fraktion die Kollegin Dorothee
Martin.
Vielen Dank. – Herr Minister, Sie haben in Ihren einführenden Worten ja schon auf einige wichtige Verkehrsträger hingewiesen. Ich möchte den Fokus
in meiner Frage heute auf die Wasserstraße legen; denn gerade wenn wir über die Erreichung von Klimazielen im Verkehr sprechen, ist die Wasserstraße neben der
Schiene der ganz entscheidende Verkehrsträger. Wir brauchen mehr Verlagerung von Güterverkehr von der Straße gerade auch auf unsere Wasserstraßen.
Wir sehen aber auch, dass die Wasserstraßen aufgrund international sehr angespannter Lieferketten und durchaus auch Fragen der Versorgungssicherheit
gerade besonders im Fokus sind, und wir sehen, dass wir durchaus auch einen Sanierungsstau haben, der aufgehoben werden muss. Daher meine Frage: Wie sehen Ihre
Konzepte, Ihre Strategien zur Aufhebung des Sanierungsstaus und zur Ertüchtigung unserer Wasserstraßen sowie zur entsprechenden Finanzierung aus? – Vielen
Dank.
Frau Kollegin, die Wasserstraße ist in der Tat ein enorm wichtiger Verkehrsträger. Wir können große Mengen bestimmter Rohstoffe kaum besser
transportieren als auf der Wasserstraße. Das gilt für Kohle, aber auch für viele andere Rohstoffe, die in großer Menge transportiert werden müssen, zu Fabriken
beispielsweise. Deswegen ist die Ertüchtigung unserer Wasserstraßen für uns eine ganz wichtige und zentrale Aufgabe.
Was wir hier allerdings bei Regierungsantritt vorgefunden haben, ist ein enormer Sanierungsstau etwa bei Wehren und Schleusen.
({0})
Deswegen ist es immer ganz wichtig, dass wir beides im Blick haben: einerseits den Sanierungsstau, der hinterlassen worden ist, abarbeiten; denn ein
Ausfall von Schleusen bedeutet immer auch einen Stopp der Binnenschifffahrt. Und andererseits müssen wir gleichzeitig unsere Wasserstraßen ausbauen, etwa den
Rhein oder auch andere Wasserstraßen vertiefen. Wir fahren deswegen ein Konzept, das sicherstellt, dass die Infrastruktur intakt bleibt, saniert wird, und wir
bauen gleichzeitig aus, wo immer wir das aufgrund der Möglichkeiten des Bundeshaushalts auch leisten können.
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Besten Dank, Frau Präsidentin. – Jeglicher Ausbau, jegliche Modernisierung von Infrastruktur braucht gutes Personal. Das gilt nicht nur für die
Wasserstraße, aber vielleicht dort konkret. Von daher eine kurze Nachfrage oder Präzisierung meiner Frage: Wie ist Ihr Konzept zur Nachwuchskräftesicherung, zur
Fachkräftesicherung im Bereich der Infrastruktur? – Danke schön.
Das Thema Fachkräftesicherung ist eines der vorrangigsten. Die Bundesregierung hat deswegen eine gemeinsame Fachkräftestrategie entwickelt. Ich habe
für mein Haus aber entschieden, dass mir das nicht ausreicht, weil ich natürlich einen sehr großen Personalkörper habe, insbesondere etwa bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Deswegen habe ich zusätzlich zur Fachkräftestrategie der Bundesregierung insgesamt auch eine eigene spezifisch auf den Mobilitätssektor
zugeschnittene Strategie vorangebracht.
Wir hatten unlängst einen Fachkräftegipfel, wo wir uns ganz konkret mit der Frage beschäftigt haben: Was können wir denn speziell im Mobilitätsbereich
tun, um Fachkräfte zu sichern? Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen identifiziert, die wir umsetzen wollen, und natürlich werben wir insbesondere für unsere
Ausbildungsberufe, etwa die Wasserbauer, die wir so dringend in unserer Wasser- und Schifffahrtsverwaltung brauchen.
({0})
Wir sind beim Thema Wasserstraßen. Die erste Nachfrage: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Gelbhaar.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte die Frage etwas weiten. Sie haben selber die höheren Baukosten, die knappen Baustoffe, aber auch den
hohen Sanierungsbedarf nicht nur bei der Wasserstraße schon angesprochen. Das kann man auf die Schiene, auf die Straße insgesamt übertragen. Daraus folgen ja
dann ein paar Fragen, insbesondere was die Ausbauvorhaben der Bedarfspläne Straße, Schiene und Wasserstraße angeht. Da wollte ich die allgemeine Frage stellen,
wie die vor diesem Hintergrund notwendige Priorisierung erfolgen soll, welche Gedanken es da in Ihrem Haus und auch von Ihnen gibt und – mal ein bisschen weg
von der Wasserstraße – wie insbesondere auch im Straßenbereich Neubauvorhaben von Autobahnen, zum Beispiel A 100, A 20, in diesem Kontext priorisiert oder
gerade herunterpriorisiert werden.
Herr Kollege Gelbhaar, Sie haben vollkommen recht: Wenn die Dinge knapp sind, ist die Frage nach der richtigen Priorisierung die hohe politische
Kunst. Deswegen brauchen wir – um diese Priorisierung vorzunehmen – Fakten; wir brauchen Wissen. Und dieses Wissen holen wir uns, indem wir gegenwärtig ein
Gutachten erstellen lassen, das uns hilft, eine Bedarfsplanüberprüfung des Bundesverkehrswegeplans vorzunehmen. Anhand dieser Bedarfsplanüberprüfung können wir
dann unter Berücksichtigung der Verkehrsbedarfe identifizieren, was prioritär gemacht werden muss, um Mobilität und Logistikketten sicherzustellen und natürlich
auch unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Dabei werden auch die Projekte im Einzelnen überprüft. Diese Überprüfung ist aber nicht abgeschlossen, sodass ich dem
Verfahren jetzt nicht vorgreifen kann.
({0})
Sie dürfen eine Nachfrage stellen, Herr Gelbhaar.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Dann möchte ich nachfragen. Zum einen: Vor diesem Hintergrund der Knappheiten und wenn man auch politisch
Prioritäten setzen kann: Geben Sie da Vorgaben in Ihr Haus?
Zum anderen: Es gibt ja an vielen Stellen Widerstände gegen Projekte aus dem Verkehrsinfrastrukturbereich. Wird das dann auch jenseits der
Bedarfsplanüberprüfung herangezogen, sodass wir an der Stelle nicht vor Gerichten und Ähnlichem versanden, und werden die Projekte, die zumindest
gesellschaftlich hoch anerkannt sind, vorgezogen?
Ja, Herr Kollege, ich gebe sogar sehr präzise Vorgaben in mein Haus. Ich habe beispielsweise, als es um die Brückensanierung ging, klar gesagt, dass
die sanierungsbedürftigen Brücken anders identifiziert werden müssen, mit mehr Präzision, etwa indem man den Traglastindex zugrunde legt und nicht nur von außen
schaut. Also, zu identifizieren, was zuerst gemacht werden muss, ist genau die entscheidende Frage.
Natürlich gibt es Widerstände gegen einzelne Infrastrukturprojekte. Wir sind gut beraten – wenn wir die Priorisierung vornehmen –, dass wir sie auch
mit einem breiten Dialogprozess begleiten; das wollen wir tun. Wir wollen noch in diesem Jahr, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, mit einem Dialogprozess
starten, um Transparenz für die Abwägungsprozesse zu schaffen, die am Ende zur richtigen Priorisierung führen sollen.
({0})
Nächste Nachfrage zum Thema: aus der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Schreiner.
Herr Minister Wissing, vielen Dank für Ihre Antwort. – Sie haben jetzt ein Plädoyer für die Wasserstraßen in Deutschland gehalten. Wie erklären Sie
sich aber die Kürzungen Ihrer Koalition in den aktuellen Haushaltsberatungen in Höhe von 350 Millionen Euro für den Ausbau der Wasserstraßen in unserem Land,
und was bedeutet das konkret für die Neckarschleusen in Baden-Württemberg?
Ich erkläre mir die Kürzungen damit, dass die Haushaltsmittel knapp sind und wir bei der Verteilung der Haushaltsmittel natürlich auch jetzt
Priorisierungen setzen müssen. Ich bin als Bundesminister für Digitales und Verkehr sehr darum bemüht, dass wir auch für die Wasserstraßen eine ausreichende
Finanzierung bekommen.
Wir sind ja nicht am Ende der Haushaltsberatungen, sondern noch in den laufenden Haushaltsberatungen und führen konstruktive Gespräche, um das zu
erreichen, was mir am Herzen liegt. Ich hoffe auch auf eine breite Unterstützung dieses Hauses. Und was die Neckarschleusen angeht, so würde ich mir wünschen,
dass ich sie nicht in einem so schlechten Zustand übergeben bekommen hätte, wie das tatsächlich der Fall war.
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Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, dass das Land Baden-Württemberg seit 2007 15 Stellen finanziert, um den Ausbau der Neckarschleusen auf 135 Meter
zu unterstützen? Und ist Ihnen auch bekannt, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg, zu der ja auch der grüne Teil dieser Koalition gehört, sich
vehement für den Ausbau einsetzt? Wie antworten Sie auf diese Forderung aus Baden-Württemberg?
Ich bin, Herr Kollege, in einem sehr guten Dialog mit der baden-württembergischen Landesregierung; ich habe auch vor Ort mit
Wirtschaftsvertreterinnen und Wirtschaftsvertretern gesprochen. Ich bin mir darüber im Klaren, wie wichtig die Neckarschifffahrt ist, und ich werde alles tun,
um die Bemühungen der Akteure vor Ort zu unterstützen, dass die Schleusen verlängert werden.
Wir müssen nur leider einen großen Sanierungsstau zur Kenntnis nehmen. Und wir haben die Situation, dass man die Neckarschleusen so hat verkommen
lassen, dass man prioritär jetzt dafür sorgen muss, dass sie nicht ausfallen und die Schifffahrt auf dem Neckar nicht zum Erliegen kommt. Gleichzeitig
unterstütze ich den weiteren Ausbau, weil die Binnenschifffahrt mir wirklich ein sehr wichtiges Anliegen ist.
({0})
Ich sage jetzt schon voraus – da ich noch sechs Nachfragen habe –: So kommen wir nicht durch; es tut mir leid. Ich werde jetzt noch ein paar
drannehmen, und dann werde ich zur nächsten angemeldeten Frage übergehen. – Jetzt erhält das Wort aus der AfD-Fraktion Herr Spaniel.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich darf aber darauf hinweisen, dass ich einen Doktortitel erworben habe, anders als viele andere.
Entschuldigung, Herr Dr. Spaniel.
({0})
Ja, darüber muss man auch mal reden. Es ist ja nicht selbstverständlich in diesem Haus.
Herr Verkehrsminister, Sie haben gerade explizit ausgeführt, dass Sie sich für die Vertiefung des Rheins eingesetzt haben und Sie die Maßnahmen dafür
auch befürworten – das wäre ja im Wesentlichen das Ausbaggern. Haben Sie Ihre Antwort eigentlich mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung abgestimmt? Der
nordrhein-westfälische Umweltminister, Oliver Krischer von den Grünen, hat nämlich gerade in einem Gespräch mit der „Rheinischen Post“ der Rheinvertiefung eine
Absage erteilt. Er fordert hingegen zusätzliches Geld für Schiffe mit geringerem Tiefgang. Wie ist denn jetzt die Haltung der Bundesregierung zur
Rheinvertiefung? Und wie gehen Sie mit einem Verkehrsminister in einem Land um, das offensichtlich gewillt ist, den Rhein als europäische Wasserstraße deutlich
einzuschränken und damit natürlich auch unsere Infrastruktur hier bewusst zu limitieren? Wie verhält sich das Bundesministerium dazu?
Die Abladeoptimierung des Rheins ist eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte im Bundesverkehrswegeplan. Es hat ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von
nahezu 30; deswegen arbeitet die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung auf meine Anweisungen hin mit Hochdruck daran, dieses Projekt voranzutreiben. Ich
habe dafür gesorgt, dass hier ausreichend Personal zur Verfügung steht.
Gleichzeitig habe ich veranlasst, dass eine Beschleunigungskommission eingesetzt wird, in der alle Akteure, auch Industrievertreter, beteiligt werden,
um Vorschläge zur Beschleunigung dieses Projekts auf den Tisch zu legen. Ich habe diese Äußerung des Herrn Kollegen Krischer wahrgenommen; allerdings habe ich
auch gelesen, dass er sich später anders geäußert hat. Jedenfalls sind diese Äußerungen kein Hinderungsgrund für mich, den Bundesverkehrswegeplan
umzusetzen.
({0})
Ich habe verstanden, dass Sie keine Nachfrage mehr haben; das beschleunigt das Verfahren. – Dann ist der Kollege Arlt aus der SPD-Fraktion der
nächste Fragesteller.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben ja berichtet, dass Sie Schleusen und Wasserstraßen in beklagenswertem Zustand übernommen haben. Oft reden wir
über die großen Wasserstraßen, über Rhein und Neckar; wir haben aber auch kleinere Wasserstraßen. Zum Beispiel ist in meinem Wahlkreis die Schleuse Diemitz mit
etwa 45 000 Schleusungsvorgängen pro Jahr, also die Schleuse mit der größten Zahl an Vorgängen pro Jahr. Es gibt auch eine große Zahl an touristisch genutzten
Wasserstraßen in Gebieten, wo der Wassertourismus eine erhebliche Bedeutung hat. Wenn Sie diese Priorisierung angesichts der knappen Mittel vornehmen müssen,
wie fließen diese berechtigten touristischen und wirtschaftlichen Belange in diese Priorisierung mit ein?
Herr Kollege, wir wissen um die touristische Bedeutung unserer Wasserstraßen. Aus der Sicht des Bundesministers für Digitales und Verkehr sind
natürlich die logistischen Leistungen unserer Wasserstraßen prioritär. Gleichwohl sind wir immer bemüht, wenn es um Ausbaufragen geht, auch touristische Belange
zu berücksichtigen. Ich habe unlängst ein beeindruckendes Schiffshebewerk einweihen können, das ein richtiger Touristenmagnet ist. In solchen Fällen arbeiten
wir eng mit der kommunalen Ebene zusammen, weil wir uns natürlich freuen, wenn Infrastrukturen nicht nur als Belastung gesehen werden, sondern insbesondere bei
der Binnenwasserstraße auch als touristische Bereicherung. Insofern: Wir denken diese Dinge mit.
Sie dürfen eine Nachfrage stellen.
Vielen Dank. – Es ist ja durchaus auch ein Wirtschaftsfaktor, also nicht nur eine Bereicherung, sondern es hängen wirklich viele Arbeitsplätze
daran. Es gab im letzten Haushalt zum ersten Mal einen Titel extra für den Ausbau touristischer Wasserstraßen in einer recht kleinen Höhe: Herr Minister, wie
sehen Sie die Weiterentwicklung dieses Titels in der mittelfristigen Finanzplanung?
Dieser Titel bringt das zum Ausdruck, was ich eben gesagt habe. Sie haben völlig recht, Herr Kollege, dass touristische Attraktionen natürlich immer
auch einen wirtschaftlichen Faktor darstellen, vor allen Dingen in ländlicheren Räumen; dort sind es sehr wichtige Faktoren. Deswegen ist der Bundeshaushalt
auch mit einem entsprechenden Haushaltstitel ausgestattet. Wir haben ein großes Interesse daran, dass wir diese touristischen Ziele immer mit unseren
Infrastrukturausbauzielen in Einklang bringen können. Das sind optimale Bedingungen, wenn man sich so ergänzt. Insofern freue ich mich, wenn dieser
Haushaltstitel steigt.
Wir sind immer noch beim Thema Wasserstraßen. – Ich habe noch eine Nachfrage des Kollegen Seidler.
Vielen Dank. – Herr Minister, ich bin übrigens sehr froh über die Frage der Kollegin Martin; denn sie spricht ja ein wichtiges Thema an: die
Wasserstraßen.
Es wurde eben auch gesagt, dass es sich bei Ihrem Haushalt im Bereich Wasserstraßen leider um eine signifikante Unterdeckung handelt. Deshalb ist die
Frage an Sie: Erwarten Sie denn in den kommenden Jahren einen Anstieg dieses Titels in Ihrem Haushalt, um diesen zusätzlichen Finanzbedarf, den Sie eben selbst
angesprochen haben, dann auch zu decken? Und weil Sie jetzt Priorisierungen angesprochen haben, stelle ich eine direkte Frage dazu: Wo steht der
Nord-Ostsee-Kanal bei Ihnen auf der Prioritätenliste?
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Herr Kollege, ich sehe, dass die Wasserstraße für uns so wichtig ist, dass wir es uns nicht leisten können, dass wir in unseren Ausbauzielen und
auch Sanierungszielen aus finanziellen Gründen hinter unseren Möglichkeiten bleiben. Deswegen strebe ich schon bei diesem Haushalt eine gute Lösung an und bin
auch im entsprechenden Dialog. Wir versuchen, mit den vorhandenen Haushaltsmitteln das zu erreichen, was wir erreichen müssen.
Der Nord-Ostsee-Kanal ist von überragender Bedeutung und steht deswegen bei mir auf der Prioritätenliste ganz oben. Er ist auch sehr wichtig, um CO2
einzusparen. Damit kommt dem Nord-Ostsee-Kanal eine besondere Bedeutung in vielerlei Hinsicht zu. Das ist eine Infrastruktur, auf die wir stolz sein können, die
wir brauchen und die auch voll in die Zeit passt.
Es gibt jetzt immer noch drei Fragen zu den Wasserstraßen. Wenn diese drei Fragesteller jeweils nur eine Nachfrage stellen würden, dann würde ich
sie jetzt noch zulassen. Danach würde ich zu den nächsten Fragen übergehen.
Zuerst Herr Brandner aus der AfD-Fraktion.
Ich habe nur eine Nachfrage. Sie knüpft an die erste Nachfrage der Hauptfragestellerin, Frau Martin, an. Da ging es um die Frage der
Fachkräftegewinnung im Bereich des Wasserstraßen- und Schifffahrtsstraßenbaus.
Jetzt sind ja sozusagen – um das Wort hier mal zu bemühen – die Schleusen für die Fachkräftezuwanderung seit 2015 offen.
({0})
Millionen Menschen sind nach Deutschland geströmt. Wenn man der Propaganda folgt, waren darunter auch Millionen Facharbeiter. Deshalb meine konkrete
Frage zum Wasser- und Schifffahrtsbereich:
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Wie hoch ist die Quote derjenigen, die seit 2015 an Fachkräften zu uns gekommen sind? Wie hoch ist die Beschäftigungsquote in diesem Bereich in
etwa?
({2})
Herr Kollege, die Bundesregierung tut alles, um die Berufe, die wir im Bereich der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung haben, bekannter zu machen.
Oft ist es so, dass diese Berufe gar nicht jedem bekannt sind. Der Wasserbauer etwa ist ein Beruf, der unglaublich chancenreich ist, weil man eine Vielzahl von
Fähigkeiten und Kompetenzen erlernt. Im handwerklichen Bereich ist der Wasserbauer ein wirkliches Multitalent. Ich selbst habe mir viel Zeit genommen, um mit
Azubis zusammen zu sein und zu verstehen, warum sie den Beruf ausüben, um daraus auch die notwendigen Schlüsse zu ziehen, wie wir diesen Beruf stärker bewerben
können.
Wir arbeiten im engen Austausch mit unserer Jugendvertretung an ganz konkreten Konzepten, wie wir Fachkräfte in Deutschland gewinnen können. Uns sind
natürlich alle Fachkräfte herzlich willkommen. Ich kann Ihnen jetzt die Zahl, die Sie erbeten haben, nicht aus dem Stegreif liefern; aber wir können Ihnen dazu
gerne eine Aufstellung zukommen lassen.
({0})
Vielen Dank. – Nächste Frage: aus der CDU/CSU-Fraktion Kollege Ploß.
Ich wollte noch einmal auf die Neckarschleusen zurückkommen. Verstehe ich Ihre Ausführungen richtig, dass Sie sich zum Ausbau der Neckarschleusen
mit allen vorgeschlagenen Maßnahmen bekennen, wie sie der Deutsche Bundestag beschlossen hat? Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.
({0})
Ich habe schon darauf geantwortet. Ich bin für den Ausbau der Neckarschleusen und muss trotzdem immer wieder an der Stelle sagen, dass es niemandem
hilft, wenn man an einem Ausbau der Neckarschleusen arbeitet und dabei vergisst, die Schleusentore zu ertüchtigen, und damit für die Neckarschifffahrt ein
Risiko schafft, dass sie jederzeit eingestellt werden muss, weil Schleusentore ausfallen. Deswegen muss ich mich prioritär mit der Sanierung von Schleusentoren
befassen. Das hätten andere, ehrlich gesagt, auch tun können. Aber ja: Ich bin für den Ausbau.
({0})
Ich schließe jetzt mit der letzten Nachfrage zu diesem Thema auch diese Schleusen. Das Wort hat der Kollege Uwe Schmidt aus der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin, recht schönen Dank. – Es geht nicht um Schleusen. Auch wenn ich nur einen Facharbeiter- und einen Gesellenbrief habe, frage ich
jetzt mal in Richtung der seewertigen Anbindung der deutschen großen Seehäfen, die wir haben.
Herr Minister, Sie wissen, wir haben sehr lange Planungsverfahren. Sie haben dazu bereits Stellung bezogen. 19 Jahre dauerte das Planungsverfahren zur
Elbvertiefung, die Umsetzung 18 Monate. Immer wieder gibt es diese unendlich langen Planungsverfahren, auch auf der Außenweser. All dies sind wichtige
Infrastrukturmaßnahmen, bei denen sich die Umsetzung der politischen Entscheidungen teilweise über Jahrzehnte – das kennen Sie aus anderen Genehmigungsverfahren
auch – hinzieht.
Sie haben eben darüber hinaus die Akquise der Fachkräfte aus der maritimen Wirtschaft angerissen. Wir sehen, dass sie für ihre jeweiligen Häuser kaum
noch einen Zulauf aus der deutschen nautischen Branche bekommen, die sie brauchen, um diese großen Intrastrukturprojekte, die Sie eben angesprochen haben,
dementsprechend auf den Weg zu bringen. Wie wollen Sie gemeinsam mit uns die Zukunft dahin gehend gestalten, dass wir deutlich schneller, aber auch deutlich
besser in der Umsetzung werden?
Herr Kollege, wir haben, was Verfahrens- und Planungsbeschleunigung angeht, schon einiges gemacht und bringen noch einiges mit einem neuen
Planungsbeschleunigungspaket in diesem Jahr auf den Weg. Insgesamt brauchen wir für unsere Häfen eine nationale Hafenstrategie, an der wir arbeiten. In so eine
Strategie müssen natürlich auch Fragen der Fachkräftegewinnung miteinbezogen werden. Die Häfen sind Infrastrukturen von überragender Bedeutung. Ich kann nur
sagen, dass allen klar sein muss: In der jetzigen Situation können wir dankbar sein, dass wir eine so gute Infrastruktur haben, wie wir sie haben. Die
Versorgung mit LNG und all die Dinge setzen gute Hafenanbindungen voraus. Deswegen spielt die Hafenstrategie eine sehr wichtige Rolle bei mir im Haus.
Vielen Dank. – Ich gehe zu den angemeldeten Fragen über. Jetzt ist der nächste Fragesteller aus der AfD-Fraktion Kollege Wiehle.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Vielen Dank für das Wort. Sie haben eingangs das 9‑Euro-Ticket in hohen Tönen gelobt. Aber man muss auch wissen,
dass dieses 9‑Euro-Ticket die Bahn und ihre Mitarbeiter stark überlastet hat. Natürlich haben es viele ausprobiert und den Rabatt mitgenommen; aber es gab auch
einen kräftigen Rückgang des Ticketverkaufs von Juni bis zum August. Drastisch gelitten hat unter der Maßnahme auch die Busbranche.
Jetzt möchten Sie mit einem 49‑Euro-Ticket weitermachen und wieder Fahrausweise großzügig mit Steuergeld subventionieren. Daher habe ich Fragen an
Sie, Herr Minister: Was sagen Sie den Menschen, die auf dem Land leben, wo vielleicht zweimal täglich ein Bus fährt? Die bezahlen dieses Geschenk auch mit ihren
Steuergeldern, aber sie haben davon nichts. Was sagen Sie den Busunternehmen, denen Sie schon wieder eine staatlich subventionierte Konkurrenz
entgegenstellen?
Eigentlich nur eine Frage.
Ich versuche das jetzt mal als Kombination.
({0})
Was sagen Sie dem Bundesrechnungshof, der jüngst wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahverkehr Ländersache ist?
Zur ersten Frage. Ich sage den Menschen im ländlichen Raum, dass sie nicht denjenigen glauben sollen, die behaupten, dass ihnen dieses Ticket nichts
brächte.
({0})
Die Wahrheit ist nämlich, dass die ÖPNV-Tickets im ländlichen Raum so teuer sind, die Einzelfahrscheine und Monatsfahrkarten so teuer sind, dass es
einen prohibitiven Charakter hat. Man kann nicht erwarten, dass die Leute den ÖPNV nutzen, wenn man Einzelfahrscheine für über 10 Euro anbietet oder
Monatskarten für 300 Euro oder mehr.
({1})
Deswegen ist es wichtig, dass wir gerade an die Menschen im ländlichen Raum denken. Natürlich haben die Menschen den vollen Vereinfachungseffekt, und
natürlich können die Menschen dieses Ticket auch intermodal nutzen. Man muss ja nicht mit dem ÖPNV von zu Hause losfahren, wenn man dieses Ticket nutzt; man
kann ja auch eine Etappe mit dem Ticket fahren. Deswegen ist es nicht wahr, dass das im ländlichen Raum nichts bringt. Die Entlastungwirkung bei diesem Ticket
ist im ländlichen Raum deutlich höher als im urbanen Raum. Vielleicht können Sie meine Antwort mitnehmen und das den Leuten so sagen.
Zur zweiten Frage. Mit den Busunternehmen sind wir in einem engen Austausch, um sie miteinzubeziehen. Wir wollen natürlich ein gutes
Gesamtkonzept.
Zur dritten Frage. Zum Bundesrechnungshof sage ich, dass ich seinen Auftrag sehr ernst nehme und deshalb schon im Februar die
Verkehrsministerkonferenz gebeten habe, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um die Finanzierungsfragen zu klären. Das Zwischenergebnis dieser Arbeitsgruppe wurde
jetzt innerhalb von wenigen Monaten vorgelegt. Die Länder konnten das bei der Verkehrsministerkonferenz in Bremerhaven nicht aufrufen, sodass es jetzt in einer
Sonderkonferenz beraten werden wird. Damit arbeiten wir auch den Arbeitsauftrag des Bundesrechnungshofs ab. Ich bin in einem engen Austausch mit dem
Rechnungshof und nehme die Kritik, wie gesagt, sehr ernst und möchte diese Fragen klären.
({2})
Vielen Dank. – Sie hatten eigentlich schon drei Fragen, Herr Wiehle.
({0})
– Eine ganz kurze Nachfrage.
Herr Minister, Sie haben gerade schon das 49‑Euro-Ticket – so habe ich es verstanden – und die Zusammenarbeit mit den Ländern angesprochen. Sie
geben jetzt gemeinsam mit den Ländern wieder eine Milliardensumme aus. Aber auch dieses Geld kann man ja nur einmal ausgeben. Ich darf Sie also fragen: Was
sagen Sie den Leuten, die auf den Ausbau der überlasteten Bahnstrecken warten, auf die Renovierung von Bahnhöfen oder einen besseren Takt ihres Busses und das
jetzt nicht bekommen, weil dafür dann das Geld fehlt?
({0})
Ich sage den Leuten, dass das Nachfolgeticket des 9‑Euro-Tickets keine Auswirkungen auf unsere Ausbauziele bei der Schiene hat.
({0})
Wir werden selbstverständlich den ÖPNV weiter ausbauen, weil wir ihn brauchen. Aber gleichzeitig vereinfachen wir den ÖPNV, machen es attraktiver, ihn
zu nutzen. Denn es macht ja keinen Sinn, Angebote zu machen und sie dann so kompliziert zu gestalten: mit Wabensystemen, unendlich vielen Tarifsystemen,
Ticketsystemen. Wir haben für ÖPNV-Tickets in Deutschland 2 Milliarden Euro Vertriebskosten. Sie mögen das richtig finden und so belassen wollen. Wir wollen das
ändern, weil wir uns dem Fortschritt in unserem Land verpflichtet fühlen.
({1})
Ich habe zum Thema „9‑Euro-Ticket/Nachfolgeticket“ noch eine Nachfrage aus der FDP-Fraktion. Der Kollege Lenders.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundesminister, das 9‑Euro-Ticket und sein Nachfolger – es sollte mit Sicherheit spätestens ab jetzt Ihren
Namen tragen, sprich: das Wissing-Ticket – sind die nachhaltigste ÖPNV-Reform, die wir uns seit Jahren denken können. Das Ticket ist unkompliziert, es ist ein
digitales Angebot für die Menschen. Aber welche Schritte müssen vonseiten der Länder denn jetzt unternommen werden, um die regionalen Verkehrsverbünde
entsprechend anzupassen? Was ist aus Ihrer Sicht jetzt seitens der Länder notwendig, um daraus auch nachhaltig einen Erfolg zu machen?
({0})
Herr Kollege Lenders, wir haben einen Zeitplan gewählt, der bisher voll eingehalten wurde. Wir haben im September eine Arbeitsgruppe gebildet, die
einen Beschluss für die Verkehrsministerkonferenz in Bremerhaven vorbereitet hat. Dieser Beschluss wurde jetzt gefasst. Wir haben eine Einigung zwischen Bund
und Ländern erzielt: Das Ticket soll für 49 Euro angeboten werden. Es soll papierlos sein, sodass es entsprechende Daten generieren kann, womit wir besser
planen können, präziser planen können. Das muss jetzt alles mit den Verkehrsverbünden abgestimmt werden. Diese Arbeiten laufen, weil wir keine Verzögerung
erreichen wollen.
Am Ende schaffen wir mit diesem Ticket einen riesigen Vereinfachungsschritt. Die Vorstellung, dass man in Deutschland mit einem Ticket überall die
ÖPNV-Strukturen nutzen kann, ist etwas, was die Menschen wirklich begeistert hat und was wahrscheinlich auch die größte Reform des ÖPNV in Deutschland
darstellen wird. Ich bin mir sehr sicher, dass wir damit auch Vertriebskosten einsparen können, was wir nutzen werden, um den Ausbau voranzutreiben.
Aber wir brauchen natürlich auch andere Infrastrukturen. Etwa wenn es um den Umstieg vom Auto oder E-Bike auf den Zug geht, brauchen wir andere
Infrastrukturen am Bahnhof. Diese zu standardisieren und gemeinsam zu finanzieren, das ist das Ziel, das die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern verfolgt,
und Taktgeber dabei sind wir.
({0})
Ich sehe, Sie haben sich hingesetzt und wollen keine Nachfrage mehr stellen. – Dann folgt der Kollege Kröber aus der SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, gehe ich recht in der Annahme, dass viele Kundinnen und Kunden bereits im Juni und insbesondere Ende
Mai gleich drei Tickets auf einmal gekauft haben und womöglich deshalb die Verkaufszahlen im Juni höher waren, als das im Juli der Fall war?
Die zweite Frage wäre, ob Sie die Auffassung teilen, dass insbesondere Menschen und Familien mit sehr niedrigem Einkommen durch das Ticket endlich
auch die Chance hatten, den öffentlichen Nahverkehr deutlich besser zu nutzen.
Zur ersten Frage. Ihre Frage klingt plausibel. Ich würde aber gerne, bevor ich sie beantworte, einmal die Fachleute befragen und würde Ihnen die
Antwort, ob das daran liegt, nachliefern. Aber wahrscheinlich ist es so. Ich habe aber keine positive Kenntnis davon. Deswegen liefere ich Ihnen das nach.
Zur zweiten Frage. Sie haben völlig recht: Dieses besonders attraktive Angebot im Sommer – nur 9 Euro – war ja als Entlastung gedacht. Es hat vielen
Menschen neue Mobilitätsmöglichkeiten eröffnet, und es hat vielen Menschen die Hürde genommen, einfach mal den ÖPNV auszuprobieren. Auch die zeitliche
Befristung war sicherlich ein Punkt, weshalb die Leute gesagt haben: Das lasse ich mir nicht entgehen. Jetzt probiere ich es aus.
Die Rückmeldungen, die wir bekommen haben, waren fulminant: Menschen, die mehr Teilhabe verspürt haben, die vieles in Deutschland erlebt haben; auch
Seniorinnen und Senioren, die längere Strecken zurückgelegt haben und erlebt haben, dass der ÖPNV funktioniert; auch junge Menschen auf dem Land, die begeistert
waren und die, obwohl sie vielleicht gerade erst ihren Führerschein gemacht haben, trotzdem gesagt haben: So kann ich mobil sein, ohne dass ich CO2 emittiere. –
Die Rückmeldungen, die wir bekommen haben, sind eine Reihe rührender Geschichten.
({0})
Deswegen ist das insgesamt ein wirklich großer Erfolg gewesen. Das war am Ende sicherlich auch der Grund, warum die Verkehrsministerkonferenz gesagt
hat: Ja, wir unterstützen das Ansinnen des Bundes, das fortzusetzen.
({1})
Ich habe gerade eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung von Herrn Lutze aus der Fraktion Die Linke bekommen. Ich würde Sie bitten, einmal
vorzutragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich hatte eigentlich gesagt, dass ich das auch gerne nach dem Punkt ansprechen kann; aber ich kann es auch jetzt
machen.
Der Tagesordnungspunkt lautet: „Befragung der Bundesregierung“. Wir haben jetzt fast eine Stunde rum. In der Geschäftsordnung sind die Spielregeln ja
relativ klar festgelegt. Ich stelle nur fest, dass es innerhalb dieser einen Stunde meiner Fraktion – möglicherweise gilt das auch für andere Fraktionen – nicht
möglich ist, Fragen an die Bundesregierung zu stellen,
({0})
da die Fragen, die wir haben, nicht explizit zu Wasserstraßen, zum 9‑Euro-Ticket oder zum Thema „Verkehr und Energie“ sind. Ich möchte an dieser
Stelle einfach mal klipp und klar für meine Fraktion sagen: Es müssen Regeln gefunden werden, die sicherstellen, dass zumindest jede Fraktion eine Frage stellen
kann, bei der sie das Thema selbst gewählt hat. Ansonsten wird das hier ad absurdum geführt.
({1})
Nein, es war kein Geschäftsordnungsantrag. Deshalb gibt es jetzt auch keine Debatte. Ich mache folgenden Vorschlag:
Erstens. Wir können laut Geschäftsordnung noch um eine Viertelstunde verlängern; das würde ich jetzt auch tun.
Zweitens. Das Thema Fragestunde/Befragung generell ist auch Thema im Geschäftsordnungsausschuss. Insofern würde ich auch Ihren Antrag, den Sie gerade
gemacht haben, dass wir uns noch mal damit befassen sollten, wie die Befragungen ablaufen, in diese Geschäftsordnungsausschussdebatte geben. Sicherlich ist auch
der Ältestenrat ein Gremium, wo wir dieses Format noch mal besprechen können.
Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Deswegen: Die Viertelstunde hängen wir jetzt auf jeden Fall dran, sodass wir noch einmal bei den anderen Fraktionen
durchkommen. Nachfragen lasse ich jetzt auch nur noch eine einzige zu.
({0})
Ansonsten haben sich ja letztendlich alle Fraktionen gerade beteiligt. Aber ich sehe ein, dass natürlich auch andere, nicht zum jeweiligen Thema
passende Fragen gestellt werden sollten.
Ich gehe jetzt weiter in der Reihenfolge, obwohl es gerade zu dem Thema Ticket noch weitere Nachfragen gab. Aufgrund dieses Antrages würde ich jetzt
aber in der Reihenfolge der angemeldeten Fragesteller weitergehen. Ich bitte auch um Verständnis – –
({1})
– Doch.
({2})
– Er hat ja nur einen Hinweis gegeben. Er bittet darum, dass wir uns in Zukunft noch einmal mit diesem Format beschäftigen;
({3})
das habe ich jetzt aufgenommen. Den Rest können wir gerne morgen im Ältestenrat miteinander besprechen.
({4})
Ich gehe jetzt weiter in der Befragung der Bundesregierung. Ich habe sie um eine Viertelstunde verlängert. Die nächste Frage stellt die Kollegin
Slawik aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister Wissing, der Sommer 2022 war der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in
Europa. Schätzungsweise 100 000 Menschen sind in Europa an den Folgen der Hitze gestorben. Das waren mehr als bei der letzten großen Hitzewelle 2003.
Deutschland gehört zu den Ländern mit der größten historischen Verantwortung für die Klimakrise. Gleichzeitig hat Deutschland im letzten Jahr seine
Klimaziele gemäß Klimaschutzgesetz, das infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nachgeschärft wurde, gerissen. Auch dieses Jahr hat das
Verkehrsministerium keinen Maßnahmenkatalog vorgelegt, mit dem eine Verringerung unserer CO2-Emissionen erreicht werden würde. Der Expertenrat für Klimafragen
hat die Maßnahmen des Sofortprogramms für den Verkehrssektor verrissen und – ich sage dazu – sie sich nicht mal mehr im Detail angeguckt, weil er zu dem Urteil
gekommen ist, dass sie völlig unzureichend sind.
Wann wird Ihr Ministerium einen Maßnahmenkatalog vorlegen, der im Einklang mit dem Ziel der Einhaltung der deutschen Klimaziele steht? – Vielen
Dank.
Ja, Frau Kollegin, es ist so, dass Deutschland die Klimaschutzziele nach dem Klimaschutzgesetz im Jahr 2021 verfehlt hat. Im vergangenen Jahr wurden
3 Millionen Tonnen CO2 zu viel ausgestoßen. Nach der Systematik des Gesetzes bin ich verpflichtet, einen Vorschlag zu machen, wie diese 3 Millionen Tonnen
kompensiert werden können. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, den wir vom Fraunhofer-Institut haben prüfen lassen. Die Wissenschaftler kommen zum Ergebnis,
dass mit den von mir vorgelegten Maßnahmen 13 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden können, sodass wir den Vorgaben des Klimaschutzgesetzes genügen.
Die Bundesregierung hat noch keine Zahlen für das Jahr 2022, weil es noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben uns aber vorgenommen, in diesem Jahr ein
Klimaschutz-Sofortprogramm vorzulegen, weil wir ehrgeizigere Klimaschutzziele haben als die Vorgängerregierung. Für die Vorlage dieses
Klimaschutz-Sofortprogramms ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zuständig, und ich weiß aus Gesprächen mit meinem Kollegen Herrn Habeck,
dass er das Klimaschutz-Sofortprogramm noch in diesem Jahr vorlegen wird. Dieses umfasst dann alle Sektoren, auch den Verkehr. Selbstverständlich unterbreiten
wir im Rahmen des Klimaschutz-Sofortprogramms des Klimaschutzministers entsprechende Vorschläge, und selbstverständlich werden diese, sobald er das Programm
vorlegt, auch öffentlich.
Bedauerlicherweise haben Sie den Balken nicht gesehen, aber gefühlt war es jetzt sehr lang.
Oh, Entschuldigung.
Sie dürfen noch eine Nachfrage stellen.
({0})
– Ja, ich sage ja: Er war aus.
Alle mir vorliegenden wissenschaftlichen Bewertungen der Maßnahmen im Verkehrsbereich, die aktuell durch die Bundesregierung diskutiert werden,
sagen, diese seien nicht ausreichend. Sind Sie als verantwortlicher Minister für den Verkehrsbereich darauf vorbereitet, dass es auch Klagen gegen die
Bundesregierung geben kann, die auf die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes pochen?
Frau Kollegin, wir sind als Bundesregierung bestrebt, so viel wie möglich und so schnell wie möglich Klimaschutz zu betreiben. Natürlich müssen wir
dabei auch die gegenwärtige Gesamtbelastung der Bevölkerung berücksichtigen, müssen Maßnahmen finden, die die Gesellschaft auf der Strecke dorthin mobil halten,
genau wie wir beispielsweise im Energiesektor dafür sorgen müssen, dass wir auf der Strecke hin zur Klimaneutralität eine Energieversorgung haben. Sie werden
mir recht geben, dass der Betrieb von Kohlekraftwerken nicht zu CO2-Einsparungen führt; aber er ist notwendig, um Energieversorgung sicherzustellen. Ähnliche
Notwendigkeiten gibt es auch im Bereich der Mobilität. Die berücksichtigen wir, ohne dabei unsere Klimaschutzziele zu vernachlässigen. Das ist der Geist des
Klimaschutz-Sofortprogramms, das das zuständige Ministerium vorlegen wird.
Vielen Dank. – Einen schönen guten Nachmittag auch von meiner Seite, auch an die Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen. – Wir haben eine
Nachfrage von Herrn Brandner.
Meine Nachfrage bezieht sich auf die einleitenden Worte der Hauptfragestellerin, die sagte, dass wir im letzten Jahr 100 000 oder Hunderttausende
Hitzetote zu beklagen gehabt hätten und als Deutschland zu den Ländern mit der größten historischen Verantwortung für die Klimakrise gehören würden. Der
CO2-Emissionsanteil Deutschlands liegt aktuell, glaube ich, bei ungefähr 1 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes.
Jetzt haben Sie dem nicht widersprochen. Teilen Sie die Auffassung, Deutschland trage die größte historische Verantwortung sowohl an den Hitzetoten
als auch an der Klimakrise, wie es Ihre Koalitionspartnerin hier gerade von sich gegeben hat?
({0})
Herr Kollege, die Bundesrepublik Deutschland ist ein Land, das sich seiner großen internationalen Verpflichtung bewusst ist. Viele Technologien, die
die Menschheit weitergebracht haben, stammen aus unserem Land. Darauf sind wir einerseits stolz; aber wir wollen auch in Zukunft Technologien entwickeln, die
weltweit zu einer Verbesserung der Lebensgrundlagen und vor allen Dingen auch zum Schutz natürlicher Lebensgrundlagen beitragen. Schon daraus ergibt sich für
uns eine besondere Verpflichtung. Wir sind ein weit entwickeltes Land, das sehr viel leisten kann. Dass wir Klimaschutz betreiben müssen, ist unbestritten.
Deswegen wollen wir in Deutschland sehr viel leisten und wollen natürlich vorangehen. Im Übrigen bringt uns das auch international sehr viel Ansehen.
({0})
Dann kommen wir zum nächsten Fragesteller. Die Hauptfrage stellt der Kollege Thomas Lutze.
({0})
Vielen Dank. – Herr Wissing, ich habe jetzt eine Frage zum Tempolimit auf Autobahnen; wir hatten das Thema heute im Verkehrsausschuss. Ich kenne die
Position, die Sie persönlich haben, ich kenne die Ihrer Fraktion und Ihrer Partei. Doch beim Mindestlohn ist es ja dann auch irgendwann mal anders entschieden
worden, als Sie es ursprünglich vorhatten.
Deswegen möchte ich gerne von Ihnen wissen, welchen Preis die Einführung eines Tempolimits bezogen auf unseren Haushalt möglicherweise hätte. Ich
finde überall nur, dass man rund 1,9 Millionen Tonnen CO2 einsparen könnte, wenn man auf 130 Kilometer pro Stunde gehen würde. Aber was würde es denn kosten,
wenn wir – eine Mehrheit hier im Haus vorausgesetzt – ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen einführen würden? Was hätten Sie dadurch für einen
Aufwand?
Also, das kann ich Ihnen aus dem Stegreif nicht beantworten. Jedenfalls spielt das keine Rolle bei der Beantwortung der Frage, ob die
Bundesregierung eine solche Maßnahme ergreift. Es gibt andere Gründe, warum wir das nicht tun. Wir haben uns auf andere Klimaschutzmaßnahmen verständigt, und
wir als Bundesregierung verfolgen selbstverständlich die Ziele des Koalitionsvertrages. Er ist die Grundlage unseres Regierungshandelns. Aber wenn es solche
Zahlen gibt – wir prüfen das gerne mal –, liefern wir Ihnen die.
Sie dürfen noch einmal nachfragen, wenn Sie möchten. – Das ist nicht der Fall. Ich sehe auch aus den anderen Fraktionen keine weitere Frage
dazu.
Dann können wir fortfahren in der Runde der Fragesteller. Es fragt jetzt für die FDP Maximilian Funke-Kaiser.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Bundesminister, kommen wir zum aus meiner Sicht wichtigsten Geschäftsbereich in Ihrem Haus, nämlich zum
Thema Digitalisierung.
({0})
Schade, dass es in den Fragen aktuell noch nicht angeklungen ist, aber gut, dass Sie in Ihrer Ausführung zu Beginn darauf hingewiesen haben.
Mit der Digitalstrategie haben Sie eine schlüssige Strategie vorgelegt – und zwar wurde zum ersten Mal eine schlüssige Strategie vorgelegt –, wie wir
die Digitalisierung in diesem Land voranbringen können, und Sie haben klare Ziele und Wegmarken formuliert. Damit nehmen Sie als Digitalminister auch die
anderen Ministerien mit in die Pflicht. Meine Frage: Welchen Nutzen hat dieses Vorgehen für die Bürgerinnen und Bürger, und anhand welcher konkreten Dinge
werden wir nun merken, dass es mit der Digitalisierung endlich vorangeht?
Herr Kollege Funke-Kaiser, wir werden mit drei Hebelprojekten Türen zu Räumen unbegrenzter digitaler Möglichkeiten öffnen. Diese Hebelprojekte sind
nicht frühzeitig genug angegangen worden; wir tun das jetzt. Sie betreffen zum einen die digitalen Identitäten, die Voraussetzung dafür sind, dass man als
Bürger mit dem Staat bzw. mit der Verwaltung überhaupt kommunizieren kann. Zum anderen betreffen sie Normungen und Standards, die übereinstimmen müssen. Wenn
man mit unterschiedlichen Standards arbeitet und die Datensätze nicht zusammenpassen, dann kann man Digitalisierung nicht wirklich vorantreiben. Und natürlich
spielt auch die digitale Konnektivität eine große Rolle.
Man sieht die Umsetzung jetzt an konkreten Beispielen, etwa am Building-Information-Modeling-Portal, das wir dieser Tage freigeschaltet haben, wo
klare Standards für Building Information Modeling gesetzt werden. Das ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass wir ab 2025 flächendeckend für den Bund
die Planung am digitalen Zwilling einführen können.
({0})
Sie haben die Möglichkeit einer Nachfrage.
Herzlichen Dank. – Sie haben es angesprochen: Digitalisierung ist eine Gemeinschaftsaufgabe; deswegen nehmen Sie auch die anderen Ministerien mit in
die Pflicht. Wie wollen Sie das denn bewerkstelligen? Wie stellen Sie sicher, dass auch die anderen Häuser liefern und ihre Hausaufgaben machen?
Nun, wir haben eine Digitalstrategie sorgfältig abgestimmt, in der sich die einzelnen Ministerien verpflichtet haben, konkrete Projekte umzusetzen,
und auch ein konkretes Datum angegeben haben, an dem sie sich messen lassen wollen. Es hat damit jeder die Chance, erfolgreich zu sein mit seinen Versprechungen
oder nicht. Das ist, glaube ich, schon ein sehr ehrlicher Weg, den die Bundesregierung insgesamt gegangen ist. Natürlich wollen wir alle erfolgreich sein.
Gleichzeitig halten wir die Umsetzung im kontinuierlichen Austausch nach –
Herr Minister, denken Sie bitte an die Zeit.
– und stellen so sicher, dass wir unsere Zeitpläne einhalten.
({0})
Das hat ja gepasst. – Dann habe ich eine Nachfrage vom Kollegen Brandl.
Herr Minister, vielen Dank. – In Ihrer Digitalstrategie ist ein zentrales Element die digitale Identität. Es steht darin zu lesen, dass Bürgerinnen
und Bürger in Zukunft ihren Personalausweis auf dem Smartphone speichern können sollen. Können Sie interessierten Bürgern in einfachen Worten erklären, welche
Schritte sie dafür unternehmen müssen, welche Apps sie dafür installieren müssen und ab wann das möglich ist? – Herzlichen Dank.
Die Einführung einer digitalen Identität wird federführend im Bundesinnenministerium organisiert. Wichtig ist, dass wir in diesem Bereich
Rechtssicherheit und natürlich auch Datensicherheit schaffen. Es muss technisch so aufgesetzt sein, dass die Identifikation des Bürgers, der Bürgerin im Rahmen
der digitalen Kommunikation zweifelsfrei möglich ist. Im Analogen geschieht das durch Vorlage eines Personalausweises oder durch eine Unterschrift. Das geht im
Digitalen nicht, weil wir sonst Medienbrüche haben.
Mit der digitalen Identität schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass das Stellen von Anträgen, das Anmelden eines Wohnsitzes und vieles mehr künftig
digital möglich ist. Deswegen ist dieser Hebel der digitalen Identität so wichtig. Wir stimmen das selbstverständlich auch europäisch ab; denn das ist ja nicht
nur ein nationaler, sondern ein internationaler Auftrag.
({0})
Dann habe ich noch eine Nachfrage. Frau Domscheit-Berg.
Herzlichen Dank. – Ich habe auch eine Frage zu den Hebelprojekten in der Digitalstrategie. Eines davon ist ja der Ausbau der digitalen
Infrastruktur. Dieser soll auch durch eine Verbesserung der Datenlage erleichtert werden, nämlich insbesondere durch das Gigabit-Grundbuch. Dazu soll es einen
einheitlichen Internetauftritt für den Breitbandatlas, den Infrastrukturatlas und das Mobilfunkmonitoring geben. Es sollte bis zum dritten Quartal 2022 kommen;
das ist vorbei. Die Bundesnetzagentur ist dafür zuständig und hat mir geantwortet, dass sie nicht anfangen konnte, weil sie keine Ressourcen dafür hat. In der
Haushaltsberatung wurde uns gesagt: 20 Stellen wurden angemeldet, aber noch nicht bewilligt.
Daher möchte ich Sie gerne fragen, Herr Minister: Wenn im günstigsten Fall diese 20 Stellen bewilligt werden – man muss die ja noch ausschreiben, das
Personal einstellen und anlernen –, bis wann kann man dann mit dem Gigabit-Grundbuch rechnen? Und wenn das im ungünstigsten Fall mit dem Haushalt 2023 nicht
klappt, wann kommt es dann?
Frau Kollegin Domscheit-Berg, das Gigabit-Grundbuch ist enorm wichtig, und es muss über eine bestimmte Strecke hinweg mit dem Gigabit-Ausbau
entwickelt werden. Wir wollen das Gigabit-Grundbuch so schnell wie möglich haben und tun alles dafür, dass es nicht an Stellen oder an Ausschreibungen
scheitert. Wir verfolgen dieses Projekt mit Nachdruck und mit hoher Priorität.
Gibt es da ein Datum? Ich habe ja gefragt, wann.
Ich werde Ihnen einen Zeitraum nachreichen.
({0})
Vielen Dank. – Dann kommen wir zum nächsten angemeldeten Fragesteller, Stefan Seidler.
Herr Minister, wie Sie wissen, lassen sich durch die Digitalisierung die Kapazitäten unseres Schienenverkehrs deutlich erhöhen, und zudem steigt
auch die Verlässlichkeit. Allerdings sind mit der Digitalisierung der Schiene auch erhebliche Kosten verbunden. Ist es zutreffend, dass die Länder bei Strecken,
auf denen ausschließlich Regionalverkehr betrieben wird, wie beispielsweise bei mir im Norden zwischen Flensburg und Kiel, diese Investitionen alleine tragen
müssen? Sie sprachen eben von den Regionalisierungsmitteln. Könnten diese Digitalisierungsaufgaben, die damit zusammenhängen, vielleicht in Zukunft auch darüber
finanziert werden?
Die Digitalisierung der Schiene ist in der Tat, Herr Kollege, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir effizienter werden und dass die Schiene
auch mehr Verkehr aufnehmen kann. Das digitale System setzt voraus, dass sowohl in der Schiene als auch im Fahrzeug selbst entsprechende Technik verbaut wird.
Deswegen können wir die digitale Schiene nur nutzen, wenn alle Züge, die darauf fahren, entsprechend aufgerüstet sind.
Die bisherige Förderpraxis oder die bisherige Finanzstruktur sieht vor, dass wir in die Schiene investieren und diejenigen, die Züge betreiben, in die
Züge investieren. Das wird jetzt durch die Digitalisierung, durch die neuen Anforderungen etwas vermischt. Da suchen wir nach Konzepten. Aber unser Ziel ist
jedenfalls, zu verhindern, dass die Digitalisierung der Schiene an Finanzfragen scheitert. Wir werden auch an die Beantwortung der Frage gehen müssen, wie wir
mit Güterzugunternehmen umgehen, die mit zum Teil geringer Marge arbeiten, aber zeitgleich auch diese Investitionen tätigen müssen.
Herr Minister, die Uhrzeit.
Da suchen wir nach Lösungen.
Vielen Dank. – Eine Nachfrage von Leon Eckert.
Vielen Dank. – Die Digitalisierung der Schiene macht das Schienennetz noch angreifbarer. Gerade in diesen Zeiten, in der aktuellen
sicherheitspolitischen Lage ist das wichtig, im Auge zu behalten. Deswegen wollte ich Sie fragen, ob Sie zum Schutz der Schienen und der Infrastruktur der Bahn
insgesamt nach der Konzeption Zivile Verteidigung Ihren Part vorbereitet haben. Dort wird unter anderem genannt, dass man Behelfsbrücken, mobile Stellwerke und
geschützte Krisenkoordinierungsstellen einrichten soll. Ist das bereits erfolgt? Oder kann es sein, dass schon die Vorgängerregierung die Konzeption Zivile
Verteidigung in diesem Ressort nur schleppend umgesetzt hat?
Selbstverständlich bedeutet Digitalisierung auch neue Anforderungen im Sicherheitsbereich. Wenn wir digitale Systeme nutzen, müssen wir sie vor
Angriffen schützen. Für uns ist aber klar, dass wir wegen dieser Fragen nicht den Weg einschlagen können, auf Digitalisierung zu verzichten, sondern wir müssen
diese Schutzaufgaben, diese Sicherungsaufgaben ernst nehmen, und das tut die Bundesregierung. Ich habe in meinem Zuständigkeitsbereich beispielsweise auf die
Sabotage, die wir neulich erleben mussten, mit der Einrichtung einer Stabsstelle Infrastruktursicherheit reagiert, um da noch mal aufzurüsten.
Die Antworten auf die konkreten Fragen, die Sie zu einzelnen Systemen gestellt haben, würden wir Ihnen gerne nachreichen.
Noch eine Nachfrage von Herrn Brandner.
Auch eine Nachfrage zur kritischen Infrastruktur. Ich hatte in der vergangenen Woche die Kollegin Schwarzelühr-Sutter gefragt, wie das denn mit dem
Schutz der kritischen Infrastruktur sei. Da hat sie geantwortet, ich müsste doch wissen, dass das gar keine Bundesaufgabe wäre, sondern dass der jeweilige
Betreiber für den Schutz der kritischen Infrastruktur zuständig sei – also für Pipelines der Pipeline-Betreiber, für die Bahn die Deutsche Bahn –, also dass der
Bund damit gar nichts zu tun hätte. Wie gesagt, das ist jetzt eine Woche her. Und jetzt plötzlich ist die ganze Regierung in Aufruhr und sagt: Huch, dann muss
sich doch der Staat um den Schutz der kritischen Infrastruktur kümmern. – Also, das ist „AfD wirkt!“ pur, muss ich sagen: Ich frage in der letzten Woche, und
blitzartig handelt die Bundesregierung. Dafür zunächst einmal vielen Dank.
({0})
Aber konkret: Wie sieht das aus? Ist es jetzt tatsächlich so beabsichtigt, dass der Bund teilweise den Schutz – durch die Bundespolizei oder durch die
Bundeswehr – der kritischen Infrastruktur übernimmt? Gibt es dazu schon konkrete Pläne?
Also, zunächst hat man Ihnen die richtige Auskunft gegeben, dass das in der Betreiberverantwortung liegt; insofern gibt es da nichts zu korrigieren.
Entscheidend ist natürlich, dass wir dort, wo wir selbst Infrastrukturbetreiber sind – das bin ich als Verkehrsminister in vielen Bereichen –, unsere eigenen
Sicherheitsstrukturen immer überprüfen. Wir haben gute Sicherheitsstrukturen; das hat man bei dem Sabotageangriff auf die Bahn gesehen. Da hat alles
hervorragend funktioniert. Wir konnten innerhalb von zweieinhalb Stunden Notleitungen legen, den Zugbetrieb wieder aufnehmen und abends eine vollständige
Reparatur der Beschädigungen durch die Sabotagehandlungen vornehmen. Niemand ist zu Schaden gekommen. Alle Sicherheitsmechanismen haben gegriffen. Das zeigt:
Wir sind gut aufgestellt.
Gleichzeitig muss man immer wieder neu überlegen: Was bedeuten veränderte Zeiten für die Sicherheitsanforderungen? Und darauf reagiert die
Bundesregierung, aber nicht in Aufruhr, sondern mit sachlicher Kompetenz und Gelassenheit.
({0})
Ich habe jetzt noch eine letzte Nachfrage des Kollegen Brandl.
Vielen Dank. – Herr Minister, es geht um kritische Infrastrukturen. Sehen Sie die aktuellen Regelungen für die Sicherheit kritischer Infrastrukturen
von privaten Betreibern als ausreichend an, oder halten Sie es für notwendig, mehr zu tun – auch mit gesetzlichen Regelungen – zur Erhöhung der Sicherheit
kritischer Infrastrukturen von privaten Betreibern, Stichwort – beispielsweise – „Tiefseekabel“?
Herr Kollege, Sicherheit und auch Sicherheit von Infrastrukturen kann niemals ein abgeschlossener Prozess sein, an den man einen Haken macht,
sondern das muss eine Daueraufgabe sein. Und insbesondere bei Infrastrukturen bieten ständig neu entwickelte Technologien Möglichkeiten, die Sicherheit zu
erhöhen. Deswegen ist das eine Daueraufgabe, der man sich zuwenden muss. Wichtig ist, dass man das mit hoher Konzentration tut und dass man auch die Kompetenzen
der verschiedenen Stellen in unseren Behörden bündelt und nutzt. Das tut die Bundesregierung.
Die Bundesinnenministerin bereitet auch entsprechende gesetzliche Maßnahmen vor, um die Sicherheit zu erhöhen. Es sind beispielsweise Verstärkungen
bei der Kontrolle der Schieneninfrastruktur vorgesehen, zum Beispiel bei den Kamerakontrollen. Es gibt 34 000 Kilometer Schiene, dort sind 4 300 Beschäftigte im
Sicherheitsdienst der Bahn und 5 500 Bundespolizisten eingesetzt. Damit sind wir mit einem engmaschigen Sicherheitssystem gut aufgestellt. Das wird ständig
überprüft und, wo nötig, feinjustiert und noch weiter verschärft.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Alle verfügbaren Energieträger ans Netz“. Die Wirtschaftsvertreter warnen
eindringlich: Alle verfügbaren Energieträger! Der DIHK-Präsident hält es für notwendig – ich wiederhole: für notwendig! –, alle drei Kernkraftwerke auch über
den April hinaus weiterlaufen zu lassen. Der Chef des Verbandes der Chemischen Industrie sagt, dass das Gasembargo einen Herzinfarkt für die deutsche Wirtschaft
zur Folge hat. Ich könnte weiter ausführen, was die Wirtschaftsvertreter sagen. Aber eines ist klar: Die Lage ist ernst. Die Bürger werden von den
Kostensteigerungen erdrückt. Die Pleitewelle ist längst angelaufen. Die Unternehmen verlieren das Vertrauen in eine Zukunft in Deutschland. Sie verlagern die
Produktionen ins Ausland. Es lohnt sich leider schlichtweg nicht mehr, in Deutschland zu produzieren.
({0})
Wie können wir das ändern? Ganz einfach: indem wir das Angebot erhöhen. Also: Renaissance der Kernenergie. Nicht nur im Nachzüglerland Deutschland,
sondern weltweit sehen wir, dass das passiert. Das muss aber nicht nur für die drei verbliebenen Kernkraftwerke gelten, sondern für alle Kernkraftwerke, die
verfügbar sind – und eben nicht nur bis März, sondern darüber hinaus unbefristet. Dann müssen die Kohlekraftwerke ans Netz. Vor allem Braunkohle kann hier einen
großen Beitrag leisten. Und wir müssen alle Ressourcen zur Belieferung mit Gas nutzen. Ja, auch die russischen Ressourcen müssen genutzt werden.
In Pakistan zum Beispiel herrscht aktuell Energiemangel. Wir kaufen denen gerade das LNG-Gas weg. Unsere selbstverletzende Politik hat eben nicht nur
Auswirkungen auf uns hier. Nein, die Bundesregierung ist mit ihrer Verknappung der Ressourcen mitverantwortlich dafür, dass die Energiearmut in
niedrigentwickelten Ländern verstärkt wird. Die grüne Politik der Ampel ist für diese Länder nicht nur dumm und wohlstandszerstörend wie bei uns. Nein, dort ist
sie gefährlich, unmoralisch und neokolonialistisch, meine Damen und Herren.
({1})
Dann kommen solche irren Geschichten, dass wir den Kohleausstieg von 2038 vorziehen. Der Kohleausstieg war nach Diskussionen auf 2038 festgelegt
worden, jetzt steht ohne Diskussionen 2030 im Raum. Es ist völlig klar, dass uns das nicht weiterbringt. Im Gegenteil: Damit werden wir weiter den Ast absägen,
auf dem wir sitzen. Und die Folgen sind verheerend. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle sieht die Anzahl der Insolvenzen im September
gegenüber dem Vorjahr um mehr als 34 Prozent gestiegen; für November sind leider 40 Prozent prognostiziert.
Zu Recht wirft man Putin vor, den Mittelstand nicht zu fördern. Doch hier passiert genau das Gleiche: Gerade der Mittelstand erstickt unter den hohen
Energiepreisen.
({2})
Der Antrieb einer solch beschädigenden Politik ist der gleiche, nämlich die Wirtschaft lenken zu wollen. Das geht eben nicht mit einem Mittelständler,
der nah am Kunden und an der Gesellschaft ist.
({3})
Das geht aber durchaus mit Großunternehmen, deren Manager mit der Politik verflochten sind, an einigen Stellen sogar mit ihr verfilzt sind. Wie leicht
die Planwirtschaftler in der Bundesregierung es hatten, unsere weltweit führende Dieseltechnologie zu beschädigen und einzustampfen, ist ein Beleg dafür. Mit
einem gesunden und seinen Mitarbeitern und der Gesellschaft verpflichteten Mittelstand ginge das nicht so leicht, meine Damen und Herren.
({4})
Wir erleben hier Morgenthau-planmäßige Züge – die nehmen leider Schritt für Schritt Form an –, nur dass es eben nicht die gesamte Industrie betrifft,
sondern nur den energieintensiven Bereich und den Mittelstand.
Es wird immer gesagt, die Beschädigung unserer Energieversorgung sei sozialverträglich. Man legt dann einen Fonds auf oder sagt: Ja, das wird
sozialverträglich, nämlich durch Umverteilung. – Heute hören wir aber, dass die erste Kindertagesstätte in Deutschland sagt, sie könne ihren Winterbetrieb nicht
mehr leisten. Sie stellt den Betrieb ein, eine Kindertagesstätte!
({5})
Das heißt, diese unsoziale Politik geht zulasten unserer Kinder. Das ist mitnichten sozial! Das ist hochgradig unsozial, meine Damen und Herren.
({6})
Wo Gas und Strom herkommen sollen, ist völlig unklar. Die Gasspeicher sind gefüllt; das ist angeblich ein Kriterium dafür, dass es uns gut geht.
({7})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Aber mitnichten ist all dieses Gas für uns; das geht auch noch ins Ausland. Es ist völlig unklar, wie wir damit umgehen.
({0})
Völlig unklar ist auch, wie es zum Beispiel bei PCK in Schwedt weitergeht.
Herr Kotré, kommen Sie bitte zum Schluss.
Auch hier gibt es nur Absichtserklärungen und leere Worte. Nein, meine Damen und Herren, –
Letzter Satz, Herr Kotré.
({0})
– diese Politik der Bundesregierung ist eine sozialistische Verbotskultur. Die Bundesregierung sollten wir „Zentralkomitee der Einheitsparteien“
nennen. Das wäre ehrlicher.
({0})
Wir haben eine Vereinbarung, was die Aktuelle Stunde anbelangt: Jeder Redner hat fünf Minuten. – Da geht es nicht, dass man 30 Sekunden überzieht.
Ich bitte, darauf zu achten. Wenn das Zeichen „Präsident“ am Pult aufleuchtet, dann hat das eine Bedeutung. Ich bitte, sich daran zu halten.
Dann kommt der nächste Redner: Markus Hümpfer für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann gut verstehen, dass es eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema gibt. Die
Menschen wollen wissen, wie es wirklich um die Energieversorgung in unserem Land steht.
({0})
Aber dass ausgerechnet Sie sich um die Energieversorgung in unserem Land scheren, habe ich bisher noch nicht mitbekommen.
({1})
Stattdessen führen Sie in jeder Rede die Atomkraft an. Das Thema hat sich doch schon lange erledigt:
({2})
Isar 2, Neckarwestheim 2, Emsland gehen in den Streckbetrieb.
({3})
Das dient der Versorgungssicherheit. Davon profitieren vor allem die Bundesländer, die in der Vergangenheit wenig erneuerbare Energien ausgebaut
haben, Bayern zum Beispiel.
({4})
Sie wollen die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern. Sie wollen sogar neue Kernkraftwerke bauen.
({5})
Aber wo kommt denn das Uran dafür her?
({6})
Sie kennen die Antwort. Selbst wenn Sie das Uran haben: Die Herstellung von Brennstäben dauert bis zu zwölf Monate, meistens länger. Das ist doch
keine Lösung für diesen Winter und auch nicht für den nächsten. Das müssen Sie doch langsam verstanden haben.
({7})
Und dann haben wir immer noch das Problem mit dem Atommüll. Wo soll der denn hin? Sollen wir ihn auf den Mond schießen?
({8})
Bayern will den Müll auf jeden Fall nicht, aber die Atomkraft. Das widerspricht sich ein bisschen. Sie finden kein Bundesland, das den Atommüll
freiwillig nimmt. Aber vielleicht schlagen Sie der Endlagerkommission ja mal Ihre Vorgärten vor.
({9})
Dann zum Thema Erdgas. Sie wollen das konventionelle und das unkonventionelle Fracking ausbauen. Fangen wir mal mit dem konventionellen Fracking an,
also mit der normalen Erdgasförderung. Wir haben 2021 5,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas in Deutschland gefördert. Wir verbrauchen aber 100 Milliarden Kubikmeter
Erdgas jedes Jahr. Unsere Erdgasvorkommen sind so klein, dass es sich gar nicht lohnt, sie weiter zu erschließen; da würden Sie nur Geld verbrennen.
({10})
Aber Wirtschaftskompetenz haben Sie ja nicht.
Jetzt zum unkonventionellen Fracking. Dabei werden mithilfe von Druck und Flüssigkeiten Gesteinsschichten aufgespalten,
({11})
um gebundenes Erdgas freizusetzen, Flüssigkeiten, die nicht ohne sind. Sie enthalten stark wassergefährdende, krebserregende und hormonverändernde
Toxine.
({12})
Das ist pure Chemie. Das will niemand bei sich in der Nähe haben. Diese Flüssigkeiten können ins Grundwasser eindringen.
({13})
Das verpestet unser kostbares Grundwasser, und davon haben wir sowieso schon zu wenig.
({14})
Was wollen Sie den Menschen in diesem Land eigentlich noch alles zumuten?
({15})
Sollen die für ein bisschen Erdgas giftiges Wasser trinken?
({16})
Deshalb ist es gut, dass diese Koalition das Land durch diese schwere Krise führt.
({17})
Wir haben das Energieangebot bereits konsequent ausgeweitet. Wir haben dafür gesorgt, dass die Versorgung sichergestellt ist.
({18})
Wir haben zwölf Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 7 Gigawatt ans Netz genommen – trotz Kohleausstieg –, weil wir nicht zwischen Politik und
Idealismus unterscheiden, anders als Sie. Isar 2, Neckarwestheim 2, Emsland, das sind drei Atomkraftwerke mit einer Leistung von 4,5 Gigawatt.
({19})
Wir haben ermöglicht, dass unsere Biogasanlagen kurzfristig mehr Gas und Strom produzieren.
({20})
Das sind 7 Terawattstunden Strom; das entspricht dem Verbrauch von 2 Millionen Haushalten. Wir haben schon im Osterpaket den Ausbau der erneuerbaren
Energien deutlich beschleunigt: Windkraftanlagen, PV, Wasserkraft.
({21})
Wir haben auch den Netzausbau beschleunigt. Das schafft Versorgungssicherheit,
({22})
vor allem für den Süden Deutschlands. Wir bauen LNG-Terminals in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Stade, Lubmin. Das macht uns unabhängig.
({23})
– Ja. – Und das haben wir beschlossen, lange bevor Sie auf die Idee gekommen sind, heute eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema zu beantragen. Diese
Koalition handelt entschieden. Wir stärken die Versorgungssicherheit Deutschlands.
({24})
Vielen Dank.
({25})
Für die CDU/CSU hat das Wort Jens Spahn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn ein paar Worte zu der Fraktion, die diese Aktuelle Stunde beantragt hat.
({0})
Sie wollen Wut und Unzufriedenheit schüren. Sie sind Wutschürer.
({1})
Das ist Ihr Geschäftsmodell.
({2})
Sie wollen, dass es diesem Land möglichst schlecht geht, wie Sie ja mittlerweile ganz offen zugeben, in der Hoffnung, davon zu profitieren.
({3})
Mit den Reden, die Sie hier halten, sind Sie die fünfte Kolonne Putins.
({4})
Herr Kotré, Sie haben davon gesprochen – ich meine, sonst hören wir hier ja noch ganz andere Töne von Ihnen –,
({5})
Deutschland und Europa nicht aus der Abhängigkeit von Russland herausführen zu wollen, Sie wollen uns sogar weiter hineinführen. Auf Ihren
Demonstrationen schwenken Sie russische Fahnen. Sie sind eine destruktive Opposition.
({6})
All das, was Sie tun, hat mit Patriotismus nichts zu tun. Sie schaden diesem Land durch die Art, wie Sie Debatten führen.
({7})
Wir als Oppositionsfraktion Union wollen, dass es unserem Land gut geht,
({8})
dass es gut durch diese Krise kommt.
({9})
Und wir unterstützen die Regierung, wenn sie das Richtige tut, um durch diese Krise zu kommen.
({10})
Das haben wir in den letzten Monaten gezeigt, als wir vielen Ihrer Gesetze zugestimmt haben.
({11})
– Auch das sei gesagt, Herr Kollege Gremmels: Unsere Hand ist weiterhin für eine Zusammenarbeit ausgestreckt. Nur gab es in den letzten acht Monaten,
bis heute übrigens, nicht ein Angebot zum Gespräch.
({12})
Das ist okay; Sie haben die Mehrheit. Aber wenn Sie hier immer einfordern, konstruktiv zu sein, sollten Sie vielleicht gelegentlich das Gespräch
suchen, statt nur zu schreien.
({13})
Das eigentliche Problem ist ja ein anderes. Das Ampelbild der letzten Wochen ist fatal: zu oft Zögern, Zaudern, Zoffen. Es ist nicht mal klar, welchen
Teil der Ampel man überhaupt unterstützen sollte: den Wirtschaftsminister oder den Finanzminister.
({14})
In keiner Frage herrscht Einigkeit.
({15})
– Genau, es geht zu wenig um die eigentliche Sachfrage.
Worum geht es nämlich?
({16})
Es geht um eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für unser Land und um gezielte Entlastungen für Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger.
({17})
Das sogenannte Machtwort des Kanzlers scheint für die Koalition ein großer Schritt, ein Kraftakt zu sein. Für Deutschland ist es in Wahrheit ein
Minischritt, ein Schrittchen; denn auf dem Weg, das Stromproblem zu lösen, bringt uns das nur ein klein wenig weiter.
({18})
Bundesminister Habeck sagt, er könne gut leben mit diesem Kompromiss. Das ist aber nicht der Maßstab. Es geht nicht darum, ob Herr Habeck oder die
Grünen damit leben können. Es geht darum, ob es Deutschland gut durch diese Krise bringt, und dafür reicht es nicht.
({19})
Es ist notwendig, alle Energieerzeugungsmöglichkeiten zu nutzen, die wir haben. Es ist notwendig, dass alles, was ohne Erdgas Strom produzieren kann,
ans Netz geht. Und ja, nachdem wir es mehrfach hier vorgeschlagen haben, ist einiges passiert – da haben wir auch zugestimmt – bei Biogas, Sonne und Wind. Bei
der Kohle – bisher sind nur zwei Steinkohlekraftwerke zusätzlich am Netz – ginge mehr. Aber es geht eben auch um die Kernkraft. Da verlieren Sie weiter Zeit. Es
gibt keinen Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag, den wir beraten. In dieser Woche wird es keine erste Lesung geben.
({20})
Die Bundesregierung sagt selbst: Der zweite Winter wird wahrscheinlich härter für uns werden, auch in Fragen der Energiesicherheit, als der erste
Winter. Deswegen sollten diese Kernkraftwerke bis mindestens Ende 2024 laufen, und wir sollten neue Brennelemente bestellen. Niemand, der mit Vernunft auf das
Problem und eine mögliche Lösung schaut, kann zu einem anderen Ergebnis kommen.
({21})
Deswegen: Wenn Sie sich schon bewegen, dann bewegen Sie sich richtig, um Deutschland gut durch die nächsten zwei Winter zu führen.
({22})
Was ich in den Diskussionen nie verstehen werde: Sie lassen lieber den Klimakiller Kohle und Ölkraftwerke auf Schiffen mit Schweröl laufen als
klimaneutrale sichere Kernkraftwerke. Bitte erzählen Sie uns nichts von Klimaschutz, wenn Sie ein Kohlekraftwerk aus DDR-Zeiten, eines der ältesten
Kohlekraftwerke in Europa, für die nächsten zwei Jahre ans Netz bringen.
({23})
Da gehen Blei, Quecksilber, Kupfer und Arsen als Emissionen in die Luft.
({24})
Sie entscheiden sich für den Klimakiller Kohle und lassen lieber die ältesten Kohlekraftwerke in Deutschland ans Netz gehen als sichere, verlässliche
Kernkraftwerke. Deswegen: Erzählen Sie uns nichts von Klimaschutz in dieser Krise!
({25})
Was für die Energiesicherheit gilt, gilt auch für die Entlastung. Ein Doppel-Wumms – eher die Sprache der Kirmes als die eines Kanzlers, aber nun ja –
war angekündigt. Aber was ist nun damit?
({26})
Vor sechs Wochen das dritte Entlastungspaket angekündigt, vor drei Wochen ein Abwehrschirm angekündigt, vor eineinhalb Wochen hat die Gaskommission
Vorschläge gemacht, und wir wissen immer noch nicht, was davon Sie wann umsetzen wollen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Mittelstand und Handwerk machen sich Gedanken, wie sie ihre Strom- und Gasrechnungen in diesem Winter bezahlen
sollen. Sie haben bis jetzt nichts entschieden, keine Perspektive gegeben.
({0})
Solange Sie das nicht tun, machen Sie es den Vereinfachern von links und rechts zu einfach. Deswegen: Entscheiden Sie endlich! Das gibt dem Land
Zuversicht und Zusammenhalt.
({1})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Bernhard Herrmann.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Spahn, wir haben uns schon wieder – diese ganze Runde – über Lösungsoptionen für gut
5 Prozent der Versorgungssicherheit – um diese geht es nämlich – unterhalten
({0})
und damit 95 Prozent der Zeit verschwendet. Das werde ich nicht fortsetzen.
({1})
Ausgerechnet die AfD beklagt die vorgebliche „Uneinigkeit in der Regierungskoalition“; so heißt es im Titel der von der AfD beantragten Aktuellen
Stunde. Ja, unterschiedliche Auffassungen gehören nun einmal zur Demokratie, so ist das. Und ja, auch innerhalb einer Koalition wird um gute Lösungen gerungen.
Das mag der AfD suspekt sein. Schließlich werden dort die Auseinandersetzungen meist nicht inhaltlich ausgetragen. Sie zerstreiten sich immer wieder persönlich,
verschleißen seit Ihrer Gründung einen Parteivorsitzenden nach dem anderen, schrumpfen regelmäßig Ihre Fraktionen auf allen Ebenen. Einigkeit bei der AfD? Wohl
kaum!
Mit der Sache aber beschäftigt sich die AfD so gut wie nie; denn sonst hätten Sie gemerkt, dass Atomkraftwerke eben nicht verlässlich zur Versorgung
oder gar deren Sicherheit beitragen.
({2})
Stattdessen ist das Desaster der westeuropäischen Atomkraftwerke neben der Verknappung beim Gas durch den Angriffskrieg Putins das maßgebliche Problem
für die vernetzte europäische Stromversorgung, die zum Glück vernetzt ist und nicht nur auf nationaler Ebene funktioniert. Heute vor zwei Stunden waren ganze
44 Prozent der französischen AKW-Leistung am Netz. Zuverlässig? Nein, das sähe anders aus.
({3})
Sie hätten gemerkt, dass es die Ampel trotz der Einstellung der Gaslieferungen aus Russland geschafft hat, dass die Gasspeicher schon jetzt zu fast
100 Prozent gefüllt sind und so auch die Preise für den Gasimport sinken. Schauen Sie hin: Es geht voran!
({4})
Sie hätten gemerkt, dass die Koalition 200 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds bereitstellen wird,
({5})
um niemandem wegen hoher Wärme- und Strompreise zahlungsunfähig werden zu lassen, keine Mittelstandsunternehmen und auch keine Industrieunternehmen.
Sie hätten gemerkt, dass wir die kluge Entscheidung getroffen haben, die Kohlekraftwerke im nötigen Maß vorübergehend ans Netz zu nehmen, aber auch – denn der
Klimawandel wartet nicht – das Aus der Kohleverstromung bis 2030 ansteuern.
({6})
Das BMWK hat inzwischen mehr als 50 Gesetze und Verordnungen auf den Weg gebracht, die allesamt nötig sind, um möglichst unbeschadet durch die jetzige
Situation zu kommen. Wir stärken die Energieeffizienz und bauen die Erneuerbaren massiv aus, so wie noch nie. Leider hat Herr Merz heute Morgen im
Deutschlandfunk wieder so getan, als wenn das alles nicht ginge. Er wünscht sich durch die Aufrechterhaltung des Betriebs der AKWs das Ausbremsen der
Windenergie; ganz klar.
({7})
Der einsetzende Boom bei der Photovoltaik ist beeindruckend und wird zurzeit nur durch die mangelnde Verfügbarkeit von Technik und Installateuren
ausgebremst. Der Boom ist kein Wunder: selbsterzeugt für 10 Cent pro Kilowattstunde Strom, selbstverbraucht – das ist eine geniale Sache –, steuerlich absolut
vereinfacht, gemeinsam vom gelben Finanzministerium und grünem Wirtschaftsministerium auf den Weg gebracht. Das ist eine gewaltige Verbesserung; so erfolgreich,
dass selbst in der Partei am rechten Rand zumindest einige ab und zu vom Solarstrom schwärmen, um dann aber kurz danach wieder das „Ende der Energiewende“
auszurufen. Wie passt das zusammen? Natürlich gar nicht. Aber Postfaktikern ist das doch egal.
Was also ist mit „Uneinigkeit“ im Titel dieser Aktuellen Stunde gemeint? Ja, in der Tat kam das klare Bekenntnis, das nötige Geld in die Hand zu
nehmen, dass Menschen und Unternehmen ihre Energierechnungen bezahlen können, reichlich spät. Es ist absolut richtig – das hat Robert Habeck schon immer
gesagt –: Vernachlässigungen von Investitionen in der Realität in Bildung, Infrastruktur, Klimaschutz und Sozialem sind genauso schädlich wie Schulden in den
Büchern. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und unsere zu erhaltenden Wirtschaftsstrukturen sind knallharte Realität. – Daher Dank auch an den Finanzminister, dass
nun – ich muss sagen: endlich! – das Geld da ist, um Haushalte und Unternehmen zu entlasten, Dank vor allem an die Menschen, Unternehmen und Stadtwerke bei mir
in Sachsen, die mich in meinen Forderungen in den letzten Monaten auch schriftlich immer stärker unterstützt haben.
Oder meint die AfD den Umgang mit den AKWs? Darüber wurde auch wieder so viel geredet. Dass die drei Ampelparteien hier unterschiedliche
Einschätzungen haben, ist doch nun bekannt. Wir Grünen haben die Notreserve für zwei AKWs vorgeschlagen, die es angesichts der Mangellage im Süden, nah an
Frankreich, wirklich braucht. Wir stellen sicher, dass die AKWs gut vorbereitet sind, damit sie auch wirklich durch den Winter kommen und nicht der
Profitmaximierung dienen.
({8})
Für den Einsatz des AKW Emsland sehe ich aber keinen fachlichen Grund.
({9})
Vielmehr twittert ein SPD-Kollege, dass so die Windräder im Norden ausgebremst werden, schon jetzt müssten jährlich 5 Terawattstunden Windstrom
abgeregelt werden.
Aber in der Debatte mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien, wird deutlich: Wir wahren immer ein Mindestmaß an
Sachlichkeit, an Sachorientierung.
({10})
Wir unterscheiden uns damit von denen, die in Wirklichkeit Schaden für das Land wünschen – da bin ich voll bei Ihnen, Herr Spahn –, weil das deren
politisches Geschäftsmodell ist.
({11})
Wir werden nun konkret die finanziellen Entlastungen auf den Weg bringen, sehr schnell bei Gas und Wärme insgesamt. Etwas komplizierter ist das – das
müssen wir den Menschen auch so ehrlich sagen, damit es keine Brüche gibt – beim Strom. Aber auch dort werden wir liefern und noch dieses Jahr und rückwirkend
für 2022 massiv entlasten. Bitte schließen wir dazu die Reihen unter uns Demokraten. Bei aller berechtigten und manchmal auch nötigen Uneinigkeit in der Sache:
Das gehört zur Demokratie.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Ralph Lenkert.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es nervt. Schon wieder reden wir über Atomkraft. Und an die AfD: In jeder Ehe gibt es
Meinungsverschiedenheiten, zumindest wenn man, anders als Sie, Gleichberechtigung ernstnimmt. Ich habe Verständnis, wenn Koalitionspartner unterschiedliche
Positionen vertreten, auch wenn ich in diesem Fall das Festhalten an Atomkraft blödsinnig finde.
({0})
Aber es nervt, dass die AfD einen erledigten Koalitionsstreit erneut anfachen will, nur um sich zu profilieren. Wir haben hier wirklich wichtigere
Themen zu bearbeiten.
({1})
Aber nein, dann drehen wir halt die hundertste Extrarunde und kauen erneut durch, warum Atomkraft Schwachsinn ist. Erstens. Atomkraft ist hochriskant.
Geht was schief, dann war es das.
({2})
Zweitens. Atommüll will keiner haben. Niemand will ihn lagern. Er strahlt Hunderttausende Jahre, und der irre Glaube an Transmutation ist mehr Fiktion
als Realität.
({3})
Drittens. Der Mythos, dass französischer Atomstrom Deutschland rettet, ist seit diesem Sommer widerlegt. Von 56 französischen Atomreaktoren laufen
keine 30. Raten Sie mal, welcher deutsche Strom Frankreich jetzt vorm Blackout rettet? Viertens. Der von Ihnen ignorierte Klimawandel vereitelt die von Ihnen
glorreich verehrte Atomenergie, weil wegen der Dürren ausreichend Kühlwasser fehlen wird, so wie diesen Sommer in Frankreich. Fünftens. Lange Bauzeiten von über
15 Jahren für neue AKW. Sechstens. Keine Versicherung bezahlt Schäden nach Atomunfällen. Siebtens. Ohne Milliarden Steuersubventionen wäre Atomstrom
unbezahlbar. Achtens. Ganze Regionen werden durch Uranbergbau zerstört, und Tausende Bergleute sterben vorzeitig an Krebs. Und neuntens. Ich habe jetzt lange
genug über den Irrweg Atomkraft gesprochen.
({4})
Geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe Lust, mit Ihnen an einer Energieversorgung zu arbeiten, die wirklich risikoarm ist, die bezahlbar und
sicher ist und von der die Menschen in den Regionen profitieren.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass jede erzeugte Kilowattstunde auch genutzt wird. Dafür schlägt Die Linke beispielsweise den Ausbau der Wärmenetze und die
Nutzung von Überschussstrom für Wärme vor; dann stehen Windräder seltener still. Wir fordern auch neue Netzentgelte für Unternehmen. Es ist doch Schwachsinn,
dass Unternehmen den billigsten Strom bekommen, wenn sie 7 000 Stunden lang konstant Strom verbrauchen. Ich fordere ein System, das Industrierabatte an die
Flexibilität der Erzeugung von Wind und Solarstrom koppelt.
({6})
Wir fordern, regional erzeugten Strom auch regional in Deutschland zu verbrauchen. Dafür sollten in Deutschland die Preiszonen getrennt werden.
({7})
Energie ist Daseinsvorsorge und muss bezahlbar sein. Jeden Tag an der Tanksäule sieht man, dass Konzerne stets versuchen, ein Maximum an Profiten
herauszuschlagen. Wir fordern eine strenge Preisaufsicht, die Abzocke und Spekulation verhindert. Die Linke fordert Preisdeckel für Strom, Gas, Fernwärme und
alle anderen Heizenergien.
({8})
Die Netzentgelte steigen, weil privat organisierte Netzbetreiber ihren Aufbau an Gewinnmargen statt am volkswirtschaftlichen Bedarf orientieren. Wir
fordern, die Übertragungsnetze in einem Unternehmen zu verstaatlichen.
({9})
Die Menschen brauchen preiswerte Grundkontingente für Strom, Gas und Heizenergie. Auch Handwerk, Landwirtschaft und Unternehmen benötigen diese.
Liebe Bürgerinnen und Bürger, die genannten Maßnahmen helfen; aber ihre Umsetzung wird Zeit brauchen. Deshalb braucht es wirksame Soforthilfen: ab
sofort 125 Euro monatlich für jeden Haushalt, das macht 1 500 Euro im Jahr, plus 50 Euro für jede weitere Person; das sind noch mal 600 Euro. Es braucht einen
Heizkostenzuschuss zum Wohngeld nach Haushaltsgröße. Wir fordern Zuschüsse zu Energiekosten an Kommunen, an Krankenhäuser, Pflegeheime und an alle
Sozialeinrichtungen. Zur Bezahlung können wir 100 Milliarden Euro aus der Extrabesteuerung von Sondergewinnen der Konzerne nehmen und eine Vermögensteuer
einführen.
({10})
Kolleginnen und Kollegen, ich muss wiederholen: Über unsere Vorschläge rede und streite ich gern mit Ihnen. Das wäre produktiv, brächte wirksame
Ergebnisse für die Menschen, für die Umwelt, fürs Klima. Die eigentlichen Probleme liegen noch vor uns: Es ist der Klimawandel. Der Streit über Atomkraft bremst
uns nur aus.
Vielen Dank.
({11})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort Dr. Lukas Köhler.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Spahn, Sie haben eben gefragt, wen Sie unterstützen sollen. Ich
hätte einen Tipp: Unterstützen Sie doch mal jemanden, der Ihnen ein Konzept aufschreibt, jemanden, der ihnen sagt, in welche Richtung Sie gehen.
({0})
Denn es gab einen Unterschied. Das war erschreckend zu sehen, dass Ralph Lenkert von der Linken hier konzeptuell mehr vorlegt als die Union.
({1})
– Ich weiß, das findet die SPD nicht sehr erschreckend; aber mich erschreckt das in dieser Debatte ehrlicherweise.
({2})
– Ich finde, es ist eine Überraschung.
Die Diskussion um Netzentgelte und die Zukunft des Stromsystems zu führen, das ist, finde ich, jetzt in dieser Situation tatsächlich geboten; denn,
meine Damen und Herren, klar ist doch: Wirtschaftliches Vorankommen – ich weiß, da hören wir jetzt auf, einer Meinung zu sein –, Wirtschaftswachstum hängt doch
davon ab, inwieweit wir stabile, verlässliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen setzen. Natürlich sind die Energiepolitik, die Energieversorgung, die
Netzstabilität, die Preisstabilität zentrale Bestandteile von wirtschaftlichem Vorankommen. Das ist etwas, in das wir jetzt investieren müssen, in das wir jetzt
Gedanken, aber auch Finanzmittel, auch Kapital reinstecken müssen. Deswegen haben wir doch in dieser Bundesregierung mit diesem Parlament schon so viele
hervorragende Dinge beschlossen. Wir haben dafür gesorgt, dass die Netze im überragenden öffentlichen Interesse sind. Wir haben dafür gesorgt, dass Speicher
endlich eine eigene Definition haben und so viel besser angereizt werden können. Neben allen anderen Krisenmaßnahmen räumen wir die großen Probleme der letzten
Jahrzehnte auf. Das ist der richtige Weg; denn nur das schafft Verlässlichkeit im Netz.
({3})
Wir müssen darüber nachdenken – das hat Ralph Lenkert ja angesprochen –, wie Flexibilität belohnt wird; denn die Zukunft ist doch nicht mehr eine
Welt, in der wir von russischem Pipelinegas abhängig sein dürfen. Das darf uns nie wieder passieren.
({4})
Das bedeutet gleichzeitig: Wir müssen jetzt darüber nachdenken, wie in Zukunft andere Netze, eine andere Flexibilität, aber auch ein anderes
Strommarktdesign aussehen können. Genauso müssen wir aber darüber nachdenken: Wie sieht die Industrie in der Zukunft aus, eine Industrie, die auf einem Gaspreis
aufsetzt, der sich eben am LNG-, am Weltmarktpreis orientieren wird? Das sind Debatten, die wir jetzt führen müssen.
({5})
Wir müssen auch darüber debattieren, wie eine solche Gaspreisbremse, wie die Kommission sie fordert, in einer grundsätzlich neuen Welt, in einem New
Normal aussehen wird. Das ist exakt die Diskussion, die wir führen.
Aber das ist nicht nur die Diskussion, die wir jetzt führen. Wir müssen erst mal über diesen Winter kommen.
({6})
Deswegen ist es völlig richtig, dass wir über diesen Winter die Kernkraft weiterlaufen lassen. Wir sorgen dafür, dass jetzt alles dafür getan wird,
Netzstabilität, Preissicherheit, Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten. Aber das bedeutet doch auch, dass wir über den nächsten Sommer und den nächsten
Winter nachdenken müssen. Dafür haben wir aber eine Menge anderer Optionen. Wir haben LNG-Schiffe.
Der Gaspreis fällt übrigens gerade glücklicherweise, weil die Speicher voll sind, weil es genügend LNG-Schiffe in der Pipeline gibt, um angedockt zu
werden. Der Gaspreis fällt aber auch deswegen, weil wir politisch klarmachen, in welche Richtung wir uns bewegen. Das ist Verantwortungsübernahme. Das sind
Konzepte, die wir jetzt umsetzen und die wir weiterbringen.
Aber natürlich hängt der zukünftige Strompreis auch davon ab, wie schnell wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommen. Natürlich ist das
ein zentraler Bestandteil, weil etwas mit Grenzkosten null, das also in der Produktion nichts kostet, ökonomisch sinnvoll ist. Das sehen wir heute.
({7})
Das sehen wir an jeder Stelle. Das sehen wir übrigens dann, wenn viel Sonne scheint und viel Wind weht. Jetzt müssen wir doch dafür sorgen, dass die
Rahmenbedingungen drumherum aufgebaut sind. Da braucht es gar keine Förderung mehr. Da geht es jetzt darum, dass wir ausreichend Speicher, ausreichend Netze,
ausreichend Versorgungskapazitäten haben.
Aber der Wirtschaftsstandort Deutschland hängt nicht nur von der Energieversorgung ab; er hängt auch von verlässlichen Rahmenbedingungen an anderer
Stelle ab. Deswegen ist es richtig, dass wir jetzt darüber nachdenken, bei welchen Bürokratiemaßnahmen entlastet werden kann und muss. Wir müssen die
Produktivität in diesem Land in den Vordergrund stellen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir mehr und schneller produzieren und dass wir an einer Industriewelt
der Zukunft arbeiten. Das ist der Standort, den wir wollen. Das ist der Standort, den wir gemeinsam weiterentwickeln werden.
Aber es geht auch darum, wie wir die Fachkräfteversorgung in den Vordergrund stellen, wie wir im Freihandel weiterkommen. Deswegen fand ich den
Vorschlag aus der SPD, auch noch mal mit den USA zu reden, großartig; wir unterstützen das sofort. Es geht darum, wie wir Menschen weiterqualifizieren. Es geht
darum, dass wir Menschen entlasten, darum, wie wir Menschen auch in Verantwortung nehmen. Deswegen geht es auch darum, dass wir mit solchen Konzepten wie dem
Bürgergeld weiter vorankommen.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Land enorm viel zu tun. Wir gehen es an den unterschiedlichen Stellen an – ich glaube, das ist das
Wichtige –, und zwar mit einem anständigen Konzept und viel Diskussionsbereitschaft. Beides freut mich.
Danke.
({8})
Für die AfD-Fraktion hat das Wort Marc Bernhard.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war einmal ein Land mit sicherer und bezahlbarer Energie für jedermann, ein Land mit den sichersten
Kernkraftwerken und den saubersten Kohlekraftwerken der Welt, ein Land, in dem niemand frieren oder im Dunkeln sitzen musste. Doch im Jahr 2011 beschloss die
Regierung, als einziges Land auf der Welt aus der sicheren Energieversorgung auszusteigen.
({0})
Die Welt staunte über die von der Regierung ausgerufene sogenannte Energiewende. Aber nach kurzer Zeit war sich die ganze Welt einig, dass es sich um
die weltdümmste Energiepolitik handelt,
({1})
nämlich gleichzeitig aus Kernkraft und Kohleenergie auszusteigen.
({2})
Denn um zu wissen, dass man ein Industrieland nicht mit Wind und Sonne allein betreiben kann und so schon gar nicht für sichere und bezahlbare Energie
sorgen kann,
({3})
muss man wirklich kein Raketenwissenschaftler sein.
Dennoch machten die Regierung und ihre Nachfolgeregierungen, egal ob mit roter, schwarzer, gelber oder grüner Beteiligung,
({4})
trotz aller wissenschaftlicher Evidenz und weltweiter Warnungen
({5})
in immer schnellerem Tempo weiter. Und so dauerte es keine acht Jahre, und es mussten bereits 7,4 Millionen Menschen im Land frieren.
({6})
Und es wurde schlimmer: Nach zehn Jahren hatten sich die Kosten für Energie so erhöht, dass viele um ihre Wohnungen und ihre Arbeitsplätze bangten und
auf Almosen vom Staat angewiesen waren.
({7})
So oder so ähnlich wird man einmal die Geschichte unseres Landes erzählen,
({8})
wenn wir nicht sofort und entschieden gegensteuern.
({9})
Deutschland braucht im Durchschnitt 60 Gigawatt Strom. Diese Leistung wurde 2011 vollständig durch Kohle- und Kernenergie erzeugt, auch wenn es Nacht
war und kein Wind wehte. Bis heute wurden fast 30 Gigawatt Kohle- und Kernenergie, also praktisch die Hälfte davon, abgeschaltet – von Ihnen.
({10})
Diese können eben nicht durch Wind und Sonne ersetzt werden, weil auch 1 Million Windräder oder Solaranlagen eben keinen Strom erzeugen, wenn es Nacht
ist und kein Wind weht.
({11})
Das hat ja wohl auch die Regierung erkannt und uns deshalb in den letzten Jahren von russischen Gaslieferungen völlig abhängig gemacht
({12})
und damit versucht, die verheerenden Auswirkungen Ihrer Politik zu vertuschen – da waren ja Sie an der Regierung, oder? –,
({13})
mit dem Ergebnis, dass wir heute die höchsten Strompreise der Welt bezahlen, dass die Spritpreise seit Jahresbeginn um 60 Prozent gestiegen sind
({14})
und der Gaspreis sich verdreifacht hat. – Genau. – Die Ursache für diese sogenannte Energiekrise ist eben gerade nicht der Ukrainekrieg,
({15})
sondern das größte Regierungsversagen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({16})
Wie unfähig diese Regierung ist, die Energieversorgung der Menschen – schreien Sie nur! – in Deutschland sicherzustellen, hat sich eindrücklich beim
Anschlag auf Nord Stream 1 und 2 gezeigt.
({17})
Sie war merkwürdig still und tatenlos,
({18})
um dann in plötzlicher Hektik sage und schreibe drei Wochen später ein Untersuchungsteam loszuschicken, das vor Ort festgestellt hat, dass es gar
nicht die notwendige Ausrüstung hat, um den Anschlag überhaupt untersuchen zu können. Das zeugt schon von ganz besonderem Aufklärungswillen. Peinlicher geht es
wirklich nicht mehr.
({19})
Als Begründung gibt es wirklich nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie können nicht oder Sie wollen nicht die Menschen mit ausreichend bezahlbarer
Energie versorgen.
({20})
Dabei liegt es einzig und allein bei Ihnen. Bringen Sie die saubersten Kohlekraftwerke der Welt wieder ans Netz!
({21})
Nehmen Sie die noch intakte Leitung von Nord Stream 2 endlich in Betrieb!
({22})
Nutzen Sie unsere eigenen Gasvorkommen! Die können russisches Gas nämlich für die nächsten 40 Jahre komplett ersetzen.
({23})
Lassen Sie unsere aktiven Kernkraftwerke weiterlaufen, und nehmen Sie die kürzlich abgeschalteten wieder in Betrieb! Machen Sie die weltdümmste
Energiewende rückgängig, und schützen Sie die deutsche Energieversorgung endlich wirksam gegen alle Staatsterroristen!
({24})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Und vor allem: Kommen Sie Ihrer Verantwortung für die Menschen nach, und bringen Sie alles, was Energie erzeugt, sofort ans Netz!
({0})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Nina Scheer.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss immer erst mal tief durchatmen, wenn man nach der AfD ans Rednerpult
geht,
({0})
weil man sich wirklich zusammenreißen muss, die Redezeit, die wir alle hier sammeln sollten, nicht für Stumpfsinn zu verwenden, den es hier zu
entkräften gälte.
({1})
Aber ich fange gleich mit der Sache an. Also, Sie wollen gerne, dass wir uns heute in der Aktuellen Stunde mit einer Erweiterung des Energieangebots
auseinandersetzen, aber bringen dann nach und nach immer wieder nur das Gleiche vor, wie wir es aus früheren Anträgen kennen. Sie meinen, in der Atomenergie die
Lösung zu sehen.
({2})
Sie wissen genau, dass Sie mit den Dingen, die Sie in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wollen, von den Technologien her Energiesicherheit sowieso
nicht mehr bringen könnten. Damit sind die Kernfusion und die Dinge, die Sie sonst noch in der Atomenergie entdecken wollen, angesprochen.
Dann sehen Sie eine Energiesicherheit, die faktenbasiert schlichtweg nicht gegeben ist. Man muss einfach ganz klar konstatieren, dass ein zunehmender
Ausbau erneuerbarer Energien, den wir dringend brauchen, sowohl aus ressourcenpolitischen Gründen als auch aus Klimaschutzgründen, mit Blick auf das
Strommarktdesign, das man dafür braucht, und mit Blick auf die Netzinfrastruktur, die wir haben und die wir weiter ausbauen, einen sinkenden Anteil von fossilen
Energien und natürlich auch Atomenergie verlangt, weil diese beiden Dinge einfach schlecht zusammenpassen.
Wir brauchen ein Strommarktdesign – auch Lukas Köhler hat es angesprochen – und insgesamt ein Energiesystem, das auf die Eigenschaften der
erneuerbaren Energien zugeschnitten ist. Mit „Eigenschaften“ meine ich die fluktuierenden Eigenschaften. Natürlich gibt es nicht zu jeder Minute Wind und nicht
zu jeder Minute Sonne; aber es ergänzt sich teilweise. Es muss mit Speichern ergänzt werden, und es muss mit gutem Netzmanagement ergänzt werden.
({3})
Viele Speicher haben wir schon; sie sind aber zurzeit nicht richtig ins Netz zu bringen, weil sie blockiert werden, genauso wie auch erneuerbare
Energien blockiert werden. Sie werden auch von Atomenergie blockiert.
Insofern muss auch konstatiert werden: Wir haben mit der Entscheidung von Olaf Scholz, die überfällig war und zur richtigen Zeit kam, jetzt auch eine
politische Entscheidung im Raum. Ich sage das deswegen, weil natürlich damit nicht gesagt ist, dass hier tatsächlich eine energiepolitische Entscheidung, an die
noch anzuknüpfen wäre, getroffen wurde, sondern eine Entscheidung, mit der wir – mit den verschiedenen Perspektiven, die wir in der Koalition bei diesem Thema
nun mal haben – zu einer gemeinsamen Lösung kommen wollen.
({4})
Das betrifft jetzt einen Streckbetrieb, und nichts weiter.
({5})
Es ist insofern wichtig, das noch mal zu betonen, als natürlich alles Weitere, wie zum Beispiel die Anschaffung neuer Brennelemente, überhaupt nicht
mit einer kostengünstigen Energieversorgung vereinbar wäre,
({6})
mit einer importunabhängigen Energieversorgung, mit einer den nachfolgenden Generationen gerecht werdenden Energieversorgung.
({7})
Der World Nuclear Industry Status Report, der gerade wieder neu aufgelegt wurde, hat es auch noch mal belegt. Es ist auch Fakt, dass weltweit kein
Atomkraftwerk krisenresistent gebaut wurde – kein einziges! Insofern ist es einfach ein Himmelfahrtskommando, weiter auf diese höchstrisikoreiche Technologie zu
setzen,
({8})
die sich nicht mit erneuerbaren Energien verträgt, die erneuerbare Energien im Netz blockiert.
({9})
Deswegen haben wir richtigerweise erst vor ein paar Wochen – –
({10})
– Besser heute runterfahren?
({11})
Widersprechen Sie sich da nicht vielleicht gerade, by the way? Also, Herr Spahn, das ist ja schon bemerkenswert. Jetzt höre ich gerade – wer es nicht
vernommen hat –: Dann lieber gleich runterfahren! – Entscheiden Sie sich mal! Sie widersprechen sich da gerade.
({12})
Gut, aber wir nehmen das gerne mit. Deswegen haben wir ja erst vor wenigen Wochen den Erneuerbare-Energien-Booster beschlossen. Mit diesem
Erneuerbare-Energien-Booster wird zum Beispiel die stärkere Nutzung von Bioenergie ermöglicht.
({13})
Allein diese Mengen, die bis Ende 2024 genutzt werden können – allein diese Mengen! – werden errechnetermaßen mehr bringen als die Mengen, die jetzt
durch die drei AKWs durch Streckbetrieb ermöglicht werden. Und: Wir haben die Nachtabsenkung für die Windenergie abgemildert; wir haben Erleichterung für das
Repowering geschaffen, und es werden noch viele weitere Maßnahmen ergriffen werden können. Insofern sind Sie jederzeit herzlich eingeladen, mitzuwirken.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – In der Energiewende, in den erneuerbaren Energien liegt die Ausweitung des Energieangebots, die Sie heute diskutieren
wollen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Anja Weisgerber.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am 6. Juli dieses Jahres habe ich hier in der Regierungsbefragung dem Bundeskanzler
die Fragen gestellt: Warum nutzen Sie nicht alle Optionen? Warum bremsen Sie die Biomasse aus? Und warum lassen Sie die drei Kernkraftwerke, die grundlastfähig
und sicher am Netz sind, nicht weiterlaufen?
({0})
Darauf antwortete der Bundeskanzler damals, dass es bei den Kernkraftwerken doch nur um einen kleinen Teil der Stromproduktion gehe. Das Mantra der
Bundesregierung war über Monate hinweg: „Wir haben doch gar kein Stromproblem; wir haben nur ein Wärmeproblem“, meine Damen und Herren.
Die Menschen und Unternehmen laufen angesichts der hohen Preise Sturm in unserem Land; sie haben Angst vor einem Blackout.
({1})
Die Experten haben klar dargelegt, dass das Stromangebot ausgeweitet werden muss, und zwar mit allen Optionen, die wir haben. Die Realität hat die
Bundesregierung doch eingeholt. Genau dieses Ausweiten des Angebots stellt unsere Energieversorgung sicher und dämpft auch den Preis. Je mehr
Kraftwerkskapazität im Netz ist, desto niedriger die Strompreise, so auch zum Beispiel die Aussage von Veronika Grimm. Und was macht die Bundesregierung
bezüglich der Ausweitung dieses Angebots? Sie entscheidet viel zu spät, vor allem mit Ankündigungen, die dann auch noch verschleppt und schlecht umgesetzt
werden.
Ein Beispiel ist die Biomasse. Wir haben immer wieder beantragt, auch im Juli schon, dass der Biomassedeckel, der die Nutzung der Biomasse
einschränkt, aufgehoben wird. Das ist immer wieder hier im Deutschen Bundestag abgelehnt worden. Jetzt ist er endlich aufgehoben worden.
Die Förderung der kleinen Wasserkraft sollte abgeschafft werden.
({2})
Auch da mussten wir Sie, wie man bei uns in Franken sagt, zum Jagen tragen.
Meine Damen und Herren, das ist nicht das, was unser Land jetzt braucht.
({3})
Das Machtwort des Bundeskanzlers zur Kernenergie greift viel zu kurz.
({4})
Damit löst er vielleicht ein Problem in der Ampel, aber nicht das Stromproblem in unserem Land. Unsere europäischen Nachbarn, liebe Kolleginnen und
Kollegen, schütteln doch den Kopf über uns. Merkt ihr das eigentlich?
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger, der Mittelstand, das Handwerk, alle erwarten, dass wir alles dafür tun, dass die Preise sinken, dass wir die
Energieknappheit verhindern, und zwar nicht nur in diesem, sondern auch im nächsten Winter.
Ich sage euch eines: Wenn der Bundeskanzler schon das schärfste Schwert nutzt, das er hat, nämlich die Richtlinienkompetenz bemüht und davon Gebrauch
macht, dann hätte ich erwartet, dass er diese auch richtig nutzt und nicht so halbherzig, meine Damen und Herren.
({6})
Auch die eigenen Experten der Bundesregierung von der Gaskommission – das ist ja so bezeichnend – sagen, dass die Energiekrise und die Knappheit von
Energie noch bis in den Winter 2023/24 andauern werden. Die Herausforderungen werden mindestens genauso groß, wenn nicht noch größer sein, sagt die
Gaskommission.
({7})
Und die viel zu kurze Laufzeitverlängerung, die Kanzler Scholz jetzt durchgesetzt hat, wirkt nicht so preisdämpfend, wie sie wirken könnte, und sie
gibt nicht die Antwort auf die mögliche Energieknappheit im nächsten Winter.
Wir haben die längere Nutzung der Kernenergie seit März als Thema auf die Tagesordnung gesetzt und haben vor einigen Wochen einen eigenen
Gesetzentwurf erarbeitet. Wir haben eure Arbeit gemacht! Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass die Kernkraftwerke – und zwar alle drei – mit neuen Brennelementen
bis Ende 2024 weiter genutzt werden können; denn wir brauchen diese Kernkraftwerke als Brücke neben dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Das eine tun
und das andere nicht lassen. Es wird uns ja immer unterstellt, wir würden den Ausbau der Erneuerbaren nicht wollen.
In der Aktuellen Stunde sind, glaube ich, keine Fragen zugelassen. Aber da ich schon weiß, was die Kollegin von den Grünen sagen und fragen will, kann
ich auch gerne sagen,
({8})
dass wir in Bayern bei den erneuerbaren Energien bezüglich der installierten Leistung an der Spitze stehen.
({9})
Wie hat es der Landesgruppenchef neulich gesagt? Die einzige erneuerbare Energie bei der wir nicht an der Spitze stehen, ist Wind auf See,
({10})
und bei Wind an Land stehen wir im Mittelfeld in Deutschland und noch vor Baden-Württemberg. Das ist doch die Wahrheit.
Es ist auch der absolute Hammer – das sage ich Ihnen –, dass das parlamentarische Verfahren zur Laufzeitverlängerung der Kernenergie gar nicht in Gang
gesetzt wurde. Es ist ein schlechter Kompromiss.
Frau Kollegin.
Die FDP hat sich nicht durchgesetzt und versucht, es als Erfolg zu verkaufen. Das ist doch die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({0})
Genauso, wie Sie es gesagt haben, ist es in Bezug auf die Zwischenfragen, die in der Aktuellen Stunde nicht genehmigt sind; da ist das nicht
vorgesehen.
Ansonsten freue ich mich, Sie alle frisch und munter zu sehen, und gebe offensichtlich das Wort an Kathrin Henneberger für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, dass wir die Ehrlichkeit haben, auch über die globalen
Auswirkungen der sich verändernden Lieferwege fossiler Rohstoffe zu diskutieren. Deutschland sowie andere europäische Länder können es sich leisten, auf dem
internationalen Markt hohe Preise für Flüssiggas, aber auch für Steinkohle zu zahlen. Damit verringert sich natürlich auch das Angebot für andere Länder, die es
sich nicht leisten können, die höheren Preise zu zahlen. Die Verknappung und die höheren Preise, beispielsweise von LNG-Gas, führen bereits zu Stromausfällen
und einer erheblichen Gefährdung der Energiesicherheit in Ländern wie Pakistan und Bangladesch.
({0})
Die Auswirkungen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine verschärfen globale Ungerechtigkeit, verschärfen Armut und Hunger. Dieser Realität
müssen wir uns in Deutschland stellen und die Verantwortung übernehmen, Lösungen zu erarbeiten und die prekäre Situation in den anderen Ländern nicht außer Acht
zu lassen. Das darf uns nicht egal sein. Dafür werden wir Lösungen finden, Verantwortung übernehmen.
Die Lösung muss gleichzeitig natürlich auch Antworten auf die Herausforderungen der Klimakrise finden. Dass wir global aus der Verfeuerung von Öl,
Gas, Kohle und aus Atom aus Sicherheitsgründen aussteigen müssen, bedeutet, dass wir natürlich die Versorgung mit Energie komplett auf Erneuerbare umstellen
müssen.
({1})
Ich finde es wahrlich gefährlich, dass hier im Bundestag Desinformationen verbreitet werden
({2})
und versucht wird, den Ausbau der Erneuerbaren zu behindern. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich sehen würde, dass in Bayern mehr Windanlagen
erstellt worden wären;
({3})
denn die Ausbremsung der Erneuerbare-Energie-Wende in anderen Regionen führt dazu, dass in meiner Region der soziale Friede wieder gefährdet ist.
Danke für nichts!
({4})
Atom ist aber auch keine Lösung für die Zukunft. Koloniale Ausbeutung und Ungerechtigkeit beginnen bei der Atomenergie bei den Uranminen. Verletzung
von Menschenrechten und massive Verseuchung von Umwelt dürfen nicht die Grundlage sein, der Beginn unserer Energieversorgung.
({5})
Deshalb möchte ich auch die Forderung nach neuen Brennstäben sehr klar zurückweisen. Atomkraft ist und bleibt eine Risikotechnologie. Ich weiß nicht,
ob Sie sich an Fukushima oder Tschernobyl erinnern. Ich kann mich sehr wohl an die Auswirkungen erinnern. Wir sollten wahrlich um jedes AKW froh sein, das
irgendwo auf der Welt vom Netz geht.
({6})
Wenn im nächsten Jahr erneut ein Hitzesommer droht – solche Sommer werden durch die Klimakrise nun mal normal, auch in unserer Region –, wird
Frankreich erneut massive Kühlwasserprobleme bei seinen AKWs bekommen. Das ist wahrlich nicht der einzige Grund, warum wir in der Energieversorgung die
Klimakrise nicht ausklammern dürfen.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat erst vor Kurzem vor der drohenden Überschreitung der Kipppunkte in unserem Klimasystem gewarnt. Ein
Kipppunkt ist beispielsweise beim Grönländischen Eisschild zu befürchten. Ab einem gewissen Punkt wird es so sein, dass das Abschmelzen nicht mehr aufzuhalten
ist, egal ob wir uns entscheiden, die Emissionen zu reduzieren. Unsere Erde wird sich aufgrund des verlorenen Kühleffekts des reflektierenden Eisschildes weiter
erhitzen.
({7})
Laut dem PIK besteht die Gefahr, dass dies ebenso wie das Auftauen der Permafrostböden passiert, und zwar bereits bei dem derzeitigen Stand der
globalen Treibhausgaserhöhungen.
Unsere Energieversorgung ist untrennbar mit dem Aufhalten der Klimakrise verknüpft. Das bedeutet nur eines: erstens massiver Ausbau der erneuerbaren
Energien, zweitens eine Energieeffizienzrevolution und drittens Maßnahmen, um die Energieeinsparungen voranzubringen.
Um unsere Energieversorgung krisenfest zu machen, benötigen wir aber auch eine Abkehr von der Abhängigkeit von großen Konzernen. Die Beinahepleite von
Uniper ist hier ein konkretes Beispiel. Wir brauchen aber auch politischen Handlungsspielraum bei der Abschaltung von Kohlekraftwerken bis 2030,
Handlungsspielraum, um beispielsweise Kohlekraftwerke aufgrund der Realität der Klimakrise doch eher abzuschalten und damit unsere Klimaziele einzuhalten, die
1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten.
({8})
Damit die Alternativen zu Fossilen groß werden und wir eine Abkehr von unbelehrbaren Kohlekonzernen haben, sind Erneuerbare in Bürger/-innenhand die
Lösung. Gut die Hälfte unseres Stromverbrauchs decken bereits die erneuerbaren Energien. Rund 50 Prozent der Anlagen sind immer noch in Bürger/-innenhand. Das
wollen wir unterstützen, weiter fördern und damit die Grundlage für eine klimagerechte und demokratische Zukunft legen.
Vielen Dank.
({9})
Michael Kruse hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns zu einer Aktuellen Stunde versammelt. Ich habe aufmerksam gelauscht und
festgestellt: So richtig aktuell war das alles nicht, was hier von der Opposition vorgetragen wurde.
({0})
Diese Reden aus Richtung der AfD habe ich, glaube ich, jetzt fünf-, sechs-, siebenmal gehört. Manchmal kannte ich schon ganze Sätze und Absätze.
Mindestens die Formulierungen sind mir alle bekannt.
({1})
Ich möchte auch darauf eingehen. Das ist ein kleiner Tick von mir: Obwohl Sie immer das Gleiche erzählen und sich nicht an Fakten orientieren,
versuche ich trotzdem immer noch, bei den Inhalten hinzuhören. Und siehe da: Es kommt gerade bei den Erneuerbaren immer der gleiche Anwurf. Das ist
Vogelschreddern. Ich habe dann mal über alle anderen Reden, die ich hier im Parlament verfolgt habe, nachgedacht und überlegt, wie oft Ihnen die Vögel in diesem
Land eigentlich sonst am Herzen lagen. Und mir ist aufgefallen: genau null Mal. Die Vögel in diesem Land sind nicht Ihr Herzensanliegen. Sie sind immer nur ein
Anliegen, wenn es darum geht, den Ausbau der Erneuerbaren zu blockieren. Meine Damen und Herren von der ganz Rechten, so wird kein Schuh daraus. Sie ziehen sich
Hilfsargumente heran, wann immer es Ihnen passt.
({2})
Auch dass Ihnen die Stromversorgung in Pakistan am Herzen liege – das kaufe ich, ehrlich gesagt, der Kollegin Henneberger von den Grünen wesentlich
mehr ab als Ihnen, weil sie es zumindest regelmäßig vorträgt.
({3})
Jetzt kommen wir zur Aktualität. Den ersten Teil im Titel Ihrer angemeldeten Aktuellen Stunde kann man eigentlich gleich überspringen; denn er
suggeriert nicht mal Aktualität. Es geht dabei darum, wie die Regierung über das Thema Kernkraft diskutiert hat. Auch beim Betrachten des Titels der Aktuellen
Stunde, deren Anmeldung ja sehr kurzfristig erfolgt ist, kann man also feststellen: Sie setzen sich mit der Vergangenheit auseinander. Das Gute an der
Regierung, die dieses Land hat, ist: Wir diskutieren über die Gegenwart, und wir lösen die Probleme, die wir in der nahen Zukunft haben werden.
({4})
So wird ein Schuh daraus. Wir sorgen für Energiesicherheit in diesem Land, auch in diesem Winter, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Gerade diese Aktuelle Stunde hat eines gezeigt: Sie haben sich in Probleme verliebt. Wir sorgen für die Lösung dieser Probleme.
({6})
Sie haben sich in die Probleme regelrecht verliebt. Die Gasspeicher haben wir über das ganze Jahr befüllt – über 96 Prozent Füllstand, ein Erfolg
dieser Ampelregierung. Wenn wir das im März nicht angegangen wären, wenn wir dem Unionsvorschlag gefolgt wären, Nord Stream 1 zuzumachen,
({7})
dann würden wir jetzt nicht so gut gerüstet vor diesem Winter stehen.
({8})
Die Realität in diesem Land gibt uns recht.
({9})
Schauen Sie sich bitte die Preise am Gasspotmarkt an!
({10})
Schauen Sie sich die Preise am Gas-Future-Markt an! Schauen Sie sich die sinkenden Preise am Strommarkt an! Sie verlieben sich in Probleme, weil Sie
diese Probleme nutzen wollen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Wir lösen die Probleme im Energiebereich dieses Landes, weil wir ein Interesse daran
haben, dass dieses Land gut durch den nächsten Winter kommt
({11})
und dass die Industrie und die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land gut durch die nächsten Jahre kommen, meine sehr geehrte Damen und
Herren.
({12})
Wir werden mit den Maßnahmen, die wir vor allem in diesem Jahr haben ergreifen müssen, nicht stoppen.
({13})
Wir haben in diesem Jahr die größte EEG-Reform verhandelt, die dieses Land je gesehen hat.
({14})
Viele Vorschläge, die aus dem konstruktiveren Teil der Opposition gekommen sind, haben wir in den letzten Wochen und Monaten umgesetzt. Aber wir haben
ja gerade erst begonnen. Das eine ist der Kapazitätsausbau bei den Erneuerbaren,
({15})
das andere ist, dass wir erstmalig eine Speicherstrategie vereinbart haben. Wir haben erstmalig eine Speicherstrategie für dieses Land verantwortet.
Zu Recht wird ja immer darauf hingewiesen: Es reicht nicht, nur die Produktionskapazitäten auszubauen. Man muss die Energie dann auch speichern. Daher frage ich
gerade die Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wenn doch diese Erkenntnis auch in Ihren Köpfen schon Raum gewonnen hat, warum mussten wir dann überhaupt
erst mal Speicher im Gesetz definieren?
({16})
Es gab bisher gar keine eigene Definition!
({17})
Kein Wunder, Sie hatten keine Speicherstrategie. Wir räumen jetzt damit auf, damit die Erneuerbaren auch dann zur Verfügung stehen, wenn sie gerade
mal nicht so viel produzieren.
({18})
Das ist der Missing Link: die Lücken zu schließen, wenn die Erneuerbaren nicht zur Verfügung stehen. Wenn Sie das auch wollen, dann applaudieren Sie
jetzt heftig.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({19})
Jetzt hat Mark Helfrich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Februar leben wir in einer neuen Realität. Seit dem
russischen Angriffskrieg auf die Ukraine befindet sich Deutschland in einer nie dagewesenen Energiekrise. Gedrosselte und ausbleibende Gaslieferungen und
explodierende Strom- und Gaspreise, über all das diskutieren wir seit Februar. Und seit Februar diskutieren wir in Deutschland über die Notwendigkeit der
Laufzeitverlängerung bei den Atomkraftwerken.
({0})
Warum unsere AKWs weiterbetrieben werden müssen, hat der EU-Kommissar Breton für unsere Nachbarländer auf den Punkt gebracht: Man kann nicht sagen,
dass ich nicht das mache, was ich machen könnte, aber erwarte, dass andere liefern, was ich brauche.
({1})
Auch die fünf Wirtschaftsweisen fordern, die Atommeiler bis zum Ende der Energiekrise weiter zu betreiben. Und mehr als jeder Zweite in Deutschland
ist offen für einen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke sogar über das Jahr 2024 hinaus.
({2})
Und die Antwort des Bundeskanzlers auf die Atomfrage? Fahrlässig hat er die Debatte monatelang laufen lassen. Statt zu führen, begab er sich ohne Not
in die Geiselhaft der Grünen, die aus rein ideologischen Gründen den Fortbetrieb der letzten drei AKWs blockieren – und das alles nur, um den Gründungsmythos
der Grünen unangetastet zu lassen.
({3})
Diese Ampelregierung ist durch den Streit um die Atomkraft nach nicht einmal einem Jahr massiv beschädigt.
({4})
Inmitten der größten Wirtschafts- und Energiekrise ist diese Regierung uneinig, hilflos und nur bedingt handlungsfähig.
({5})
Noch am 11. August antwortete der Bundeskanzler auf die Frage zu seiner Richtlinienkompetenz: „Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in
der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe“.
({6})
Nun, am Montag hat der Bundeskanzler einen Brief geschrieben und seine Richtlinienkompetenz ausgeübt.
({7})
Findet den Fehler! Die Kernkraftwerke sollen jetzt bis Mitte April nächsten Jahres weiterlaufen. Aber: Wie souverän regiert der Kanzler, der nach
gerade mal zehn Monaten im Amt seinen drei Ministern in einem Brief mitteilen muss, was zu tun ist? Wie steht es um die Autorität des Kanzlers, der mit der
Ausübung der Richtlinienkompetenz fast sein gesamtes Pulver verschießt?
({8})
Und was bedeutet das eigentlich für die zukünftige Handlungsfähigkeit dieses Kanzlers? In den letzten Jahrzehnten war die öffentlich ausgeübte
Richtlinienkompetenz lediglich die ultimative Drohung. Ich sage Ihnen: Das kann ein Kanzler nur einmal machen,
({9})
danach kommt nur noch die Vertrauensfrage.
({10})
Herr Scholz, Sie halten diese Regierung nicht durch Führung auf Augenhöhe zusammen, sondern nur noch mit Ihrer Richtlinienkompetenz, und das für
läppische dreieinhalb Monate Streckbetrieb.
({11})
Mit Ihrer späten Entscheidung verringern Sie gerade mal das unmittelbare Risiko einer Stromknappheit in diesem Winter, mehr nicht. Längerfristig hilft
uns das kein Stück weiter; denn Sie unterlassen es vorsätzlich, jetzt neue Brennelemente zu bestellen.
({12})
Und wegen der langen Lieferzeiten ist damit endgültig klar:
({13})
Wir haben im Winter 2023/24 noch weniger gesicherten Strom zur Verfügung als in diesem Winter. Und woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass
die Energiekrise am 15. April 2023 endet?
({14})
Wir brauchen mindestens drei laufende Kernkraftwerke bis Ende 2024 und sofort neue Brennstäbe.
({15})
Allein der Weiterbetrieb von drei Kernkraftwerken senkt den Strompreis um bis zu 12 Prozent.
Die Ampel könnte übrigens noch etwas für Bürger und Märkte tun: uns endlich mal darüber aufklären, wie viel LNG aufgrund verbindlicher Lieferzusagen
eigentlich nach Deutschland kommen wird.
({16})
Auch das ist ja für die Versorgungssicherheit dieses Landes nicht ganz unwichtig.
Meine Damen und Herren, wie gern wünschte ich mir, dass ich hier im Frühjahr stünde und Ihnen zum Abschluss sagen könnte: Nutzen Sie die nächsten
Monate, um Versorgungssicherheit zu schaffen! Jetzt kann ich Ihnen nur noch zurufen: Winter is coming.
({17})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Titel der Aktuellen Stunde lautet: Ausweitung des Energieangebotes. Wenn die AfD das
Thema ihrer eigenen Aktuellen Stunde ernst nehmen würde, würde sie sofort Anträge zum Ausbau der Windkraft, zum Ausbau der Photovoltaik, zum Ausbau der
erneuerbaren Energien einbringen. Das sind die Möglichkeiten.
({0})
Aber nein, Sie haben noch nicht mal den Mut und die Ehrlichkeit, sich hierhinzustellen und zu sagen, Sie möchten eine Ausweitung des fossil-atomaren
Angebotes. Das ist es doch, was Sie wollen. Dann sagen Sie es auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren. So bringen Sie die Leute auf eine falsche
Fährte.
({1})
Ich sage Ihnen, Herr Spahn: Ich persönlich nehme es Ihnen ab, dass Sie sich als Person – zu Recht – hier am Rednerpult von der AfD distanziert haben.
Das wünsche ich mir auch mal von Ihrer Kollegin Julia Klöckner. Ich empfand ihre Tiraden gegen das Regenbogenportal der Bundesregierung
({2})
und ihre geteilten Artikel aus „Tichys Einblick“, ehrlich gesagt, als eine Bewegung nach rechts. Das sollte für die Union eigentlich eine rote bzw.
eine schwarze Linie sein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Wenn man versucht, der AfD nachzueifern, dann bekommt man solche Ergebnisse wie Sie in Niedersachsen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Friedrich Merz hat sich im Vorfeld der Wahl von Niedersachsen hierhingestellt und ausgerufen: Die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler am Sonntag
in Niedersachsen ist auch eine Volksabstimmung für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke über 2023 hinaus. – Ja, was ist denn aus dieser Volksabstimmung
geworden, Herr Spahn? Minus 5,5 Prozent, das schlechteste Ergebnis.
({5})
Wer eine solche Volksabstimmung ausruft, der muss hinterher auch mit den Ergebnissen des Volkes umgehen können, Herr Spahn. Das gehört auch zur
Ehrlichkeit dazu.
({6})
Ihr Parteivorsitzender sagte heute Morgen im Deutschlandfunk, man habe die Ausbauziele in der Vergangenheit nicht erreicht und man werde sie auch in
Zukunft nicht erreichen, weil die Ziele zu ambitioniert seien. Das ist doch eine völlig falsche Analyse. Warum haben wir denn die Ausbauziele unter Ihrer
Regierung nicht erreicht? Weil Sie auf der Bremse gestanden haben.
({7})
– Das wissen Sie doch selber, Herr Helfrich. Ich halte Sie hier noch für einen der Vernünftigen.
({8})
Aber an dieser Stelle können Sie mal die Kollegen Pfeiffer, Koeppen, Nüßlein und Co fragen.
({9})
Die standen doch alle auf der Bremse. Deswegen sind wir nicht weitergekommen: nicht weil die Ziele zu ambitioniert waren, sondern weil Sie Ihre
Hausaufgaben nicht gemacht haben, sehr geehrter Herr Spahn.
({10})
– Herr Spahn, Sie rufen jetzt: Was machen wir denn im Winter? – Gucken Sie sich mal an, was diese Koalition in den letzten Wochen beschlossen hat.
Ich würde auch mal die Pressevertreter/-innen,
({11})
die Zuschauerinnen und Zuschauer hier auf der Tribüne bitten, sich nicht auf das eine Thema zu fokussieren, was natürlich sehr viel einfacher
zuzuspitzen ist,
({12})
sondern auch mal genau hinzugucken, was wir gemacht haben. Wir haben zum Beispiel im Bereich der Photovoltaik das Potenzial für Freiflächenanlagen im
nächsten Jahr von 20 auf 100 Megawatt erhöht. Das ist eine riesige Potenzialerhöhung.
({13})
Wir haben das Repowering auf den Weg gebracht, das eine Erhöhung von 63 auf 100 Gigawatt mit sich bringt. Auch das wird kurzfristig helfen.
({14})
– Über diesen Winter, Herr Spahn, kommen wir doch auch deswegen, weil wir diese Leistungen beschlossen haben und weil es jetzt noch einen
Streckbetrieb geben wird.
({15})
Es geht jetzt hier um den nächsten Winter. Auch das Repowering von Photovoltaik wird dazu führen, dass die Potenziale deutlich steigen werden, dass
sich die Leistung eines Solarparks durch die neuen Solarmodule verdoppeln kann, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Gerade bei der Bioenergie, Baugesetzbuch, haben wir Änderungen beschlossen.
({16})
Die technischen Potenziale bestehen darin, dass man die Leistungen jetzt auf 19 Terawattstunden beim Gas bzw. 7 Terawattstunden beim Strom erhöhen
kann. Das ist etwas Konkretes; das nutzen wir. Wir haben auch die Dauer der Nachtabschaltung von Windkraftanlagen verkürzt. Genau das sind die Maßnahmen, die
uns helfen werden.
({17})
Dafür brauchen wir über den März des nächsten Jahres hinaus keine Atomkraftwerke, meine Damen und Herren.
({18})
Die Energiewende funktioniert mit dem konsequenten Ausbau der Erneuerbaren.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss die Zeit nutzen, um noch etwas zum Thema Strompreisbremse zu sagen. Bei allen
Diskussionen, die wir derzeit führen und auch in Zukunft führen werden, dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ich bin sehr dafür, dass wir
Zufallsgewinne abschöpfen, überall und konsequent. Aber auch diejenigen, die wir jetzt in der Energiewende brauchen, nämlich die Anbieter erneuerbarer
Energien,
({20})
brauchen zukünftig noch genügend Kapital und Investitionen, um die Energiewende voranzubringen.
({21})
Also, bei allem, was wir in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit der Zufallsgewinnabschöpfung diskutieren werden, dürfen wir nicht vergessen, dass
am Ende die Unternehmen, die wir für die Energiewende brauchen, auch noch ihre Investitionen tätigen können.
({22})
In diesem Sinne: Alles Gute und Glück auf!
Danke schön.
({23})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um das Pflegeentlastungsgesetz. Oft ist es bei Gesetzen ja so, dass man nicht
weiß, was sich hinter dem Namen des Gesetzes verbirgt. Hier könnten die Dinge nicht einfacher sein: Es geht um die Entlastung in der Pflege. Und weshalb
brauchen wir die Entlastung in der Pflege? Die Situation in der Pflege stellt sich seit Jahren so dar, dass die Pflege belastet ist, und zwar zunehmend belastet
ist. Das hat sich durch die Pandemie eher verstärkt und verschlechtert. Das gilt nicht nur für die Krankenhauspflege, sondern auch für Langzeitpflege.
Wir beschäftigen uns heute aber insbesondere mit der Krankenhauspflege. Hier haben wir eine mehrfache Belastung. Wir haben zum einen im
internationalen Vergleich sehr viele stationäre Betten, wir haben sehr viele Eingriffe, die eigentlich auch ambulant erbracht werden könnten, und wir haben
lange Liegedauern. Zum anderen ist die Pflege in Deutschland so strukturiert, dass viele Aufgaben, die eigentlich der Pflege vorbehalten sein könnten, nicht von
der Pflege erbracht werden dürfen. Somit wird die Pflege in vielerlei Hinsicht nicht so genutzt, wie sie genutzt werden könnte.
Zu viele stationäre Aufenthalte, die Pflege wird nicht voll in den Bereichen erbracht, in denen sie helfen könnte, und eine Dauerbelastung: Was kann
dieses Gesetz beitragen, um dieser Problematik Herr zu werden? Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern. Dazu muss erst einmal stationsgenau festgehalten
werden: Wie ist die Belastungssituation? Das kann man tun, indem man dokumentiert, welche Pflege notwendig wäre, und das mit der Pflege, die vorhanden ist,
vergleicht. Daraus kann man dann die tatsächliche Belastung ableiten. Wenn man das abgeleitet hat, dann soll es nicht dabei bleiben, sondern eine Entlastung
folgen. Diese Entlastung kann zum Beispiel darin bestehen, dass mehr freie Tage eingeführt werden, dass Schichten abgebaut werden, dass mehr Urlaub gewährt
wird, oder in einer besseren Vergütung. Wenn es nicht anders geht, dann können bestimmte Leistungen, die nur erbracht werden können, weil die Pflege überlastet
ist, nicht mehr angeboten werden. Da muss man ganz ehrlich sagen: Dann ist auch die eine oder andere Operation nicht mehr durchzuführen. Wenn eine überflüssige
Operation auf Kosten der Pflege durchgeführt wird und dies zu einer dauerhaften Überlastung der Pflege beiträgt, dann ist das nicht hinzunehmen.
Somit kann man das Gesetz auch wie folgt beschreiben: Wir machen hier ernst mit einer Entlastung der Pflege. Wir dokumentieren die Überlastung. Wir
führen Sanktionen ein, und diese Sanktionen können dann auch so weit gehen, dass bestimmte Leistungen nicht mehr erbracht werden können. So weit sind wir bereit
zu gehen.
({0})
Das dafür genutzte Instrument PPR 2.0 ist das Ergebnis der Konzertierten Aktion. Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir das umsetzen
wollen. Das machen wir jetzt. Es wird aber nicht die einzige Maßnahme sein, mit der wir die Pflege entlasten werden.
({1})
Wir haben zunächst einmal die Situation, dass viele Eingriffe, die in Deutschland stationär durchgeführt werden, mit einer Übernachtung verbunden
sind, obwohl die Übernachtung medizinisch eigentlich gar nicht indiziert ist und oft mehr Probleme bringt als löst. Daher wollen wir, dass die DRG-Fallpauschale
auch für eine stationäre Versorgung ohne Übernachtung abgerechnet werden kann, und wir wollen insbesondere die Schichtdienste in der Pflege abbauen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Wir haben dann weniger Schichtdienste in der Pflege. Das wäre eine wesentliche Entlastung.
Zum Zweiten. Wir wollen genau prüfen, welche Eingriffe möglicherweise ganz ohne eine stationäre Versorgung möglich sind. Daher dehnen wir den Katalog
von Leistungen aus, die auch ambulant erbracht werden können, derzeit aber stationär erbracht werden, um den stationären Bereich auf das zu reduzieren, was
medizinisch notwendig ist.
Zum Dritten. Wir wollen darüber hinaus die Pflege so gestalten, dass Pflegekräfte auch die Leistungen erbringen können, für die sie ausgebildet worden
sind. In Deutschland ist die Ausbildung oft viel besser als das, was in der Pflege dann geleistet werden kann, weil viele Eingriffe, viele Verrichtungen den
Pflegekräften nicht erlaubt sind, obwohl sie diese sehr gut vornehmen könnten. Wir wollen daher den Beruf professionalisieren und stärker akademisieren, um ihn
in voller Blüte zum Tragen kommen zu lassen.
Wir verfolgen mit diesem Vorhaben also mehrere Achsen gleichzeitig: Entlastung der Pflege durch den Abbau von Schichten in der Nacht, die Einführung
eines Pflegeentlastungsinstruments, mit dem wir die Überlastung sichtbar machen und Sanktionen ermöglichen, und eine bessere Nutzung der Pflege, indem wir die
Pflegekräfte auch Leistungen erbringen lassen, für die sie erstklassig ausgebildet sind, die sie bisher aber nicht erbringen durften. Das wird den Beruf
attraktiver machen.
({2})
Ich komme zum Schluss. – Dieses Gesamtpaket ist aus meiner Sicht aus einem Guss. Es ist ein Paket, für das wir auch bereit sind Geld in die Hand zu
nehmen; denn bessere Pflege ist teurer – auch das muss hier gesagt werden –, wird aber insbesondere zu einer besseren Versorgung führen. Wir werden daran lange
arbeiten und mehrere Gesetzentwürfe hintereinander einbringen. Aber dieses kurzfristig vorgelegte Pflegeentlastungsgesetz ist wirklich etwas, worauf die Pflege
schon sehr lange wartet. Wir werden es schnell einführen und damit die Transparenz schaffen, die wir benötigen, um die Pflege zu entlasten.
Aber auch jetzt ist nicht alles schlecht. Weil wir diese Schritte gehen und jeder weiß, dass wir Ernst machen, ist die Zahl der Auszubildenden in der
Pflege wieder gestiegen, ist die Zahl der Vollzeitkräfte in der Pflege wieder gestiegen, und auch die Bezahlung steigt. Somit ist nicht alles schlecht. Wir
gehen nach vorne – etwas langsamer, als es sein müsste –; aber man darf die Pflege nicht kleiner reden, als sie ist. Ohne die Pflege wären wir niemals so durch
die Pandemie gekommen. Die deutsche Pflege steht stark, und wir werden sie weiter stärken.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist Dietrich Monstadt jetzt der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen! Meine Herren! Stellen Sie
sich Folgendes vor: Ihr Kind braucht dringend medizinische Hilfe, doch der Krankenwagen fährt von einem Krankenhaus zum nächsten, weil die Krankenhäuser keine
Patienten mehr aufnehmen, und Ihr Kind kann deshalb nicht schnell und angemessen behandelt werden. Das ist keine Fiktion, meine Damen und Herren, sondern
Realität – hier bei uns, hier in der Hauptstadt.
Unsere Krankenhäuser sind so überfordert, dass sie kaum Patienten aufnehmen können. Wachsende Defizite, der Wegfall von Coronaausgleichszahlungen,
stagnierende stationäre Fallzahlen und Erlösausfälle durch Personalmangel,
({0})
Inflation, steigende Energiekosten und die Vorbereitung auf erwartbare Blackouts spitzen die Lage dramatisch zu. Herr Minister, Ernst ist hier
dringend geboten. Die Maßnahmen dieser Regierung, dieser Koalition kommen zu spät; es kommt schlichtweg zu wenig.
Um dem entgegenzutreten bzw. um unsere Einrichtungen zu entlasten, brauchen diese Häuser einen rückwirkenden Inflationsausgleich.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, wo bleibt hier der Doppel-Wumms? Unsere Krankenhäuser müssen seit Jahren mit immer größeren Problemen
kämpfen: bestehende Investitionsstaus, eine Pandemie, die das gesamte medizinische Personal an die Grenzen gebracht hat, und ein Krieg im Herzen Europas, der
steigende Energiekosten und Inflation verursacht. Viele dieser Krankenhäuser sind in schweren wirtschaftlichen Schieflagen.
Herr Bundesminister, Sie müssen dringend handeln. Nach meiner Wahrnehmung sollte die Regierung sich weniger mit dem Legalisieren von Kiffen
beschäftigen. Sie sollen endlich die wirklich wichtigen Probleme angehen.
({2})
– Kommt alles noch.
Das vorliegende Gesetz – mit zum Beispiel der Regelung zu PPR 2.0 – ist nicht nur handwerklich mangelhaft, sondern vor allem inhaltlich. Es bietet
faktisch keine Entlastung für unsere Krankenhäuser; meine Kollegin Frau Borchardt wird hierzu Näheres ausführen. Im Gegenteil: Im Gesetz vorgesehene Regelungen
zu Dokumentations- und Nachnachweisverpflichtungen führen zu einem noch höheren Bürokratieaufwand. Krankenhäuser, die ihre bereits begrenzten
Personalkapazitäten im Bereich der Patientenversorgung dringend brauchen, müssen Pflegepersonal nun für diesen erhöhten Bürokratieaufwand einsetzen. Bei
Nichtbefolgung drohen sogar Sanktionen, die die wirtschaftliche Situation weiter verschärfen. Unsere Krankenhäuser brauchen mehr Flexibilität. Richtig wäre ein
dynamisches System, welches eigenverantwortlich vor Ort Entscheidungen ermöglicht, wie und wo die knappe Ressource Personal eingesetzt werden kann. Ein
entsprechender Initiativantrag unserer Fraktion hierzu liegt vor.
Die Pandemie, der Personalmangel, die Energiekrise sowie die Inflation setzen unsere Kliniken massiv unter Druck. Die wirtschaftliche Prognose für
2022 ist alarmierend. Knapp 70 Prozent der Krankenhäuser machen Verluste. In den nächsten fünf Jahren wird sich die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser
weiter verschlechtern. Insolvenzen drohen in nicht gekannter Größenordnung. Aber vielleicht hält es diese Bundesregierung mit der Insolvenz-Doktrin von Herrn
Habeck: Menschen werden dann ganz einfach nicht versorgt, mit den dann ganz einfach nicht zu verhindernden Konsequenzen.
Meine Damen und Herren, das ist insbesondere für Menschen im ländlichen Raum ein gravierendes Problem. Die medizinische Versorgung im ländlichen Raum
droht ganz oder in großen Teilen wegzubrechen. Diese Situation wird durch den Fachkräftemangel weiter verschlechtert. Ungeklärt und in diesem Gesetz nicht
geregelt sind die Fragen des Ausbaus der Telemedizin und Telematik, die hier zu einer Verbesserung führen können. Das gilt auch für eine weitere
Ambulantisierung wie auch die angekündigte Krankenhausstrukturreform. Wollen Sie, Herr Bundesminister, dass dieser Ausnahmezustand unserer Krankenhäuser
dauerhaft bleibt, dass die Krankenhäuser sich bei Notfällen dauerhaft abmelden?
Dieses Gesetz muss dringend nachgebessert werden. Wir stimmen dem Gesetz nicht zu.
Herzlichen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Kordula Schulz-Asche das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Monstadt, ich respektiere Sie seit Langem, auch für Ihre Arbeit hier im Parlament; aber Ihre
Rede gerade hat mich doch sehr erstaunt. Nicht nur, dass Sie Vorwürfe erhoben haben, nachdem diese Regierung ein Jahr im Amt ist, wo zwei Legislaturperioden,
acht Jahre lang, Gesundheitsminister der CDU regiert haben. Von daher wäre etwas Selbstkritik angemessen gewesen.
({0})
Es wäre sicher auch angemessen gewesen, wenn Sie zu dem Thema Krankenhauspflegeentlastungsgesetz und nicht über Hinz und Kunz geredet hätten. Danke
schön.
({1})
Die professionell Pflegenden in diesem Land warten seit Jahren auf spürbare politische Entscheidungen, die ihren Alltag erleichtern. Die
Coronapandemie war eigentlich nur das Brennglas, das ein völlig ausgedorrtes Gesundheitssystem entzündet hat. Wir können uns nicht länger damit begnügen,
einzelne Feuer zu löschen, sondern wir brauchen endlich eine nachhaltige Strategie für die Zukunft unseres Gesundheitswesens.
({2})
Der demografische Wandel mit Alterung und Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen unseres Jahrhunderts. Trotz einiger Verbesserungen,
auch durch die Vorgängerregierungen,
({3})
blieben spürbare Reformen in der Krankenhauspflege aus. Die Ampelregierung wird jetzt diese Reformen in Angriff nehmen.
({4})
Die Arbeitsbedingungen müssen besser werden, damit Bürgerinnen und Bürger, die jetzt und in Zukunft in ein Krankenhaus kommen, noch gute Pflege
erwarten können. Dazu brauchen wir mehr Pflegekräfte, gerade bei den Patientinnen und Patienten. Das wollen wir mit einer detaillierten wissenschaftlichen
Personalbemessung erreichen. Diese ist jetzt zu entwickeln.
Für eine gute Übergangslösung haben drei wesentliche Akteure des deutschen Gesundheitswesens, nämlich der Deutsche Pflegerat, die Deutsche
Krankenhausgesellschaft und Verdi, die Pflegepersonalregelung PPR 2.0 erarbeitet. Dieser Vorschlag wird jetzt endlich auf den Weg gebracht; denn die
professionelle Pflege braucht jetzt deutliche Zeichen für eine schnelle Verbesserung. Dazu gehört auch eine verbindliche Zusage der entsprechenden Finanzierung;
das sage ich ausdrücklich. Diese und andere Unklarheiten im Gesetzentwurf werden wir in den nächsten Tagen ausräumen.
Wenn wir in unserem Land die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen mit dem gleichzeitigen Fachkräftemangel in Einklang bringen wollen,
brauchen wir auch eine Strukturreform des Gesundheitswesens. Dazu gehört die Zusammenarbeit der Krankenhäuser mit dem ambulanten Sektor. Wir brauchen die
Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe, und insbesondere brauchen wir eine Aufwertung der Fachpflege. Dazu gehören Personalbemessungsinstrumente, mehr berufliche
Perspektiven, erweiterte Tätigkeitsprofile und mehr Selbstbestimmung der Pflegefachpersonen. In diesem Sinne werden wir Pflege stärken und nachhaltig aufwerten,
und zwar konsequent in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Dr. Christina Baum spricht jetzt für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Mit diesem Gesetz wird es keine einzige Pflegekraft mehr im Gesundheitswesen
geben. Denn die Festlegung einer Personalbesetzung ergibt überhaupt nur dann Sinn, wenn genügend Personal vorhanden ist. Anscheinend hat Ihnen, Herr Lauterbach,
noch niemand gesagt, dass es genau daran mangelt, und dies schon seit vielen Jahren.
({0})
Dass die geburtenstarken Jahrgänge nun in Rente gehen und dann über kurz oder lang – zumindest teilweise – auch auf Pflege angewiesen sein werden,
dazu braucht es keine Weissagung.
({1})
Diese demografischen Zahlen liegen allen seit Langem vor. Warum fragen Sie nicht die direkt Betroffenen, nämlich die Pfleger selbst, welche
Voraussetzungen erforderlich sind, um wieder einen personellen Zuwachs zu generieren? Ich habe das getan. Dazu gehören primär die Anerkennung und Wertschätzung
ihrer Arbeit, ordentliche Arbeitsbedingungen mit mehr Zeit für die Patienten, vernünftige Bezahlung und weniger sinnlose Bürokratie. Im Mittelpunkt der Pflege
muss immer das Patientenwohl stehen, die liebevolle Umsorgung der Kranken, die wesentlich zur Gesundung beiträgt.
Was Sie persönlich, Herr Lauterbach, unter Wertschätzung verstehen, hat die ganze Republik erfahren, als Sie den ungeimpften Pflegekräften nach zwei
Jahren Einsatz zuriefen: „Ihre Arbeit hat keinen Beitrag geleistet!“ und damit einen Spaltkeil in die Pflege getrieben haben.
({2})
Denn es sind auch die Ungeimpften, die aktuell vielerorts den Betrieb am Laufen halten, und dies aufgrund der klugen Entscheidungen der meisten
Gesundheitsämter, die sie bis heute weiterarbeiten ließen. Diese Mitarbeiter haben damit mehr Realitätssinn und Verantwortungsbewusstsein bewiesen als unser
Krankheitsminister.
({3})
Was geschieht eigentlich mit den Krankenhäusern, die die vorgegebene Personalbesetzung nicht einhalten können, weil einfach keine Leute zur Verfügung
stehen? Die werden dann obendrein zu ihren Personalproblemen auch noch dafür bestraft, dass sich durch politische Fehlentscheidungen die Rahmenbedingungen in
den letzten Jahren so dramatisch verschlechtert haben, dass niemand mehr in diesem Beruf überhaupt arbeiten möchte, oder sie müssen ganze Abteilungen schließen
oder werden gezwungen, Betten abzubauen, um einer Strafzahlung zu entgehen. Das kann jeden Einzelnen von Ihnen auch treffen, dass Sie vor einem verschlossenen
Krankenhaus stehen.
Es muss deshalb für viele Mitarbeiter wie ein Hohn klingen, dass Sie diesen Entwurf „Krankenhauspflegeentlastungsgesetz“ nennen. Auch die jahrelange
Praxis, gut ausgebildetes Personal aus ärmeren Ländern abzuziehen, war moralisch immer fragwürdig und von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es keine
dauerhafte Lösung sein kann.
({4})
Wir brauchen wieder ein System, das auf dem alten Grundverständnis basiert, dass Gesundheitsversorgung Daseinsfürsorge ist, dass nicht
Wirtschaftlichkeit oder gar Profit eines Krankenhauses, sondern das Wohl der Patienten im Vordergrund steht. Lassen Sie die Pfleger wieder in Ruhe und ohne
Bevormundung ihre Arbeit machen, von der Sie ohnehin nichts verstehen! Streichen Sie endlich das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht! Dann werden viele
in ihren Beruf zurückkehren und neue hinzukommen. Der Pflegemangel ist kein Mangel an Personalgrenzen; er ist und bleibt ein Mangel an politischer
Kompetenz.
Danke schön.
({5})
Nicole Westig ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich liegt er vor uns: der Gesetzentwurf zur Pflegepersonalregelung 2.0 in unseren Kliniken.
Damit werden wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Der Deutsche Pflegerat, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und Verdi haben die PPR 2.0 in
der letzten Wahlperiode gemeinsam erarbeitet. Aber lange schlummerte das Konzept in einer Schublade des BMG. Jetzt setzt die Fortschrittskoalition dieses
Vorhaben um.
({0})
Dabei müssen wir ehrlich sein: Die PPR 2.0 löst nicht mit einem Federstrich die Personalprobleme in unseren Kliniken. Doch als lernendes System
liefert sie uns den entscheidenden Schlüssel dazu. Als Bundesregierung senden wir das Signal an die Pflegenden: Wir sind bereit, Transparenz zu schaffen, und
lassen zu, dass Lücken sichtbar werden.
Aufgrund ihrer übermäßigen Belastung können Pflegende nicht vernünftig ihrer Arbeit nachgehen und weder den Patienten noch ihren eigenen Ansprüchen
gerecht werden. Das schafft großen Frust und führt im schlimmsten Fall zum Pflexit, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht länger
zulassen.
({1})
Die PPR 2.0 weist uns auch den Weg hinaus aus den Pflegepersonaluntergrenzen; denn diese haben ihren Zweck nicht erfüllt. Sie stellen einen reinen
Rechenwert dar und sagen nichts über die Pflegequalität aus. Wir brauchen aber eine Personalausstattung, die sich am tatsächlichen Patientenbedarf orientiert.
Der Gesetzentwurf schafft dafür eine Grundlage.
Wir müssen allerdings noch einige Verbesserungen vornehmen. Dazu gehört gerade die Personalbemessung in der Intensivpflege; sie muss konkret benannt
werden.
({2})
Als FDP möchten wir die Pflegewissenschaft und das Pflegemanagement aktiv in den Prozess einbinden; denn sie liefern uns Antworten auf die
entscheidende Frage nach dem Qualifikationsmix und der besten Aufgabenteilung im Team.
({3})
Der Gesetzentwurf ist ein erster Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege. Damit dies gelingt, müssen weitere Vorhaben wie
Zahnräder ineinandergreifen: Zum Beispiel – der Minister hat es angesprochen – die Krankenhausstrukturreform; denn mit ihr können wir das Personal, das uns zur
Verfügung steht, auch zielgenau einsetzen. Gemeinsam mit den Ländern müssen wir die Pflegeausbildung stärken, mit einheitlichen Qualitätsstandards für die
Pflegeassistenz und dem Ausbau akademisierter Pflege, besonders der Pflegepädagogik. Ebenso gilt es, die Anerkennung von Fachkräften aus dem Ausland jetzt
dringend zu beschleunigen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ich bin jetzt fast am Ende meiner Rede.
Dann nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles das wird diese Koalition beherzt angehen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
({0})
Ates Gürpinar hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie eine eigentlich gute Idee, die PPR 2.0, so schlecht umgesetzt werden kann, das ist
wirklich eine Frechheit – eine Frechheit gegenüber denjenigen, die das Ganze erarbeitet haben, eine Frechheit vor allem gegenüber den Pflegekräften hier im Land
und dem gesamten medizinischen Personal, weil sie mit der Vorlage nun wirklich niemals entlastet werden.
({0})
Aber das ist beispielhaft für das Ministerium und Herrn Lauterbach, und zwar in drei Punkten:
Erstens. Lauterbach und sein Ministerium scheinen überhaupt nicht den Anspruch auf eine Richtlinienkompetenz für den Gesundheitsbereich zu besitzen
oder zu verlangen. Das hat man bei der Pandemiepolitik vermehrt feststellen dürfen. Und nun steht im vorliegenden Gesetzentwurf das Bundesfinanzministerium
sogar mit Vetorecht. Da die Frage im Raum steht, woher in der jetzigen angespannten Situation das Geld für die Einstellung notwendiger Pflegekräfte kommen soll,
ist der Entwurf mit dem Vetorecht nun wirklich ein schlechter Witz.
({1})
Wir beschweren uns ja immer wieder mal gemeinsam mit der CDU/CSU, Herr Sorge, dass der Gesundheitsminister so selten unseren Ausschuss besucht. Ich
würde vorschlagen, uns mal ehrlich zu machen und den Finanzminister einzuladen. Der taugt mir politisch zwar noch weniger, aber er scheint irgendwie
Entscheidungskompetenz in dieser Regierung zu besitzen.
({2})
Zweitens. Der Koalitionsvertrag ist für Herrn Lauterbach obsolet, und das ist nun wirklich bemerkenswert. Von der SPD, aber nicht nur von ihr, ist man
ja gewohnt, dass vor der Wahl Sachen versprochen, danach aber nicht umgesetzt werden. Bei Herrn Lauterbach ist selbst ein nach der Wahl unterschriebener
Koalitionsvertrag Makulatur. Das Versprechen im Koalitionsvertrag war: Wir setzen kurzfristig PPR 2.0 um. – Nun schreiben die Erfinderinnen und Erfinder der
Pflegepersonalregelung 2.0: Das steht gar nicht drin. Der Deutsche Pflegerat, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und Verdi haben das Konzept erarbeitet. Sie
schreiben – ich zitiere –: Dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf „fehlt der eindeutige Bezug zur PPR 2.0“. Und weiter: Der Entwurf „ birgt die Gefahr, dass das
gesamte Personalbemessungsverfahren verpufft.“ Die Umsetzung der PPR 2.0 bleibt offen.
({3})
Drittens – und das verdient nun wirklich irgendwie Respekt –: Der Ankündigungsminister Lauterbach, der ein Jahr lang allein von Ankündigungen lebt,
der seit einem Jahr bis auf einen winzigen Pflegebonus kein Koalitionsversprechen umsetzte, schafft es nun, selbst ein Gesetz zu schaffen, das nahezu
ausschließlich ankündigt, prüft, in Aussicht stellt, aber keine Regelung umsetzt, sondern das eigentlich Entscheidende in Verordnungen regeln will. Das ist nun
wirklich richtig spannend, Herr Lauterbach.
({4})
Wir werden im Ausschuss einiges zu tun haben, um das alles noch irgendwie zu retten. Ich fasse zusammen: Das ist der Gesetzentwurf eines Ministers,
der von Ankündigungen lebt, Versprechen nicht einhält und die Restkompetenz dann sogar noch an andere Minister abschiebt. Es könnte witzig sein; in der Pandemie
ist es eine Frechheit – eine Frechheit gegenüber den Pflegekräften und dem gesamten medizinischen Personal, das seit Jahren für ein Licht am Ende des Tunnels
kämpft, das den Laden am Laufen hält und nun eine nichts regelnde Ankündigung erhält, die vom Finanzminister abhängig ist. Im wahrsten Sinne also: Danke für
nichts, Herr Lauterbach. Danke für nichts.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Christos Pantazis.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ein seltenes Bild, mal die CDU und Die Linke hier im Plenum in Eintracht zu sehen!
({0})
Kommen wir zur Sachebene. Seit dem Frühjahr 2020 hat die Coronapandemie den Alltag im ganzen Land auf den Kopf gestellt. Die Krise hat wie ein
Brennglas bereits vorher bestehende Probleme offengelegt und verstärkt. Krankheitsbedingte Personalausfälle in Krankenhäusern haben mittlerweile flächendeckend
zugenommen, rund 90 Prozent davon in den patientennahen Bereichen. Am stärksten betroffen von krankheitsbedingten Ausfällen sind die Pflegekräfte. Viele
Ausfälle also wegen Corona. Die Personaldecke bei Pflegekräften ist dadurch noch stärker ausgedünnt worden, als sie es vorher schon war. Dementsprechend ist der
Fachkräftemangel jetzt offenkundig. Der Mangel an helfenden Händen wurde spätestens mit der Coronapandemie quasi demaskiert und verstärkt.
Aber Corona ist beileibe nicht das einzige Problem. Pflegekräfte scheiden in zunehmendem Maße aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus ihrem Beruf
aus. Sie benennen dabei Belastungsfaktoren wie Zeitdruck, hohen Verwaltungsaufwand, organisatorische Mängel, körperliche Belastung. Der demografische Wandel
spielt ebenfalls eine Rolle. In den nächsten zehn bis zwölf Jahren gehen circa 500 000 Pflegefachkräfte in Rente. Der Mangel wird sich also noch verstärken, bei
steigendem Bedarf.
Um den Bedarf decken zu können, braucht es mehr helfende Hände. Dafür müssen wir sicherlich neue Kräfte rekrutieren und alte zurückholen. Die Studie
der Hans-Böckler-Stiftung „‚Ich pflege wieder, wenn …ʼ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegekräften“ zeigt auf: Viele
Pflegefachkräfte wären bereit, in ihren Beruf zurückzukehren
({1})
oder ihre Stundenzahl zu erhöhen, wenn sie dort eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorfinden würden.
Es gibt nicht das eine Patentrezept – das ist uns allen klar –; denn bessere Arbeitsbedingungen erfordern mehr Pflegepersonal. Und andersherum: Um
mehr Pflegepersonal gewinnen zu können, braucht es eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
({2})
Wir als Politik müssen dementsprechend die Negativspirale aufbrechen; denn bei sehr vorsichtiger Kalkulation ergibt sich ein Potenzial von mindestens
300 000 Pflegekräften in Vollzeit und in einem optimistischen Szenario sogar 660 000 Vollzeitpflegekräfte, die zurückgeholt werden könnten. Das heißt also: Wir
brauchen eine angemessene Bezahlung durch weitere Aufwertung der Tarifbindung. Aber Geld ist nicht alles. Wir brauchen auch eine vereinfachte Dokumentation,
Bürokratieabbau, Digitalisierung und – essenziell dabei – ausreichende Zeit für eine gute Pflege durch bedarfsgerechte Personalbemessung, verlässliche
Arbeitszeiten durch teambasierte Dienstplangestaltung sowie Ausfallmanagement.
Im Koalitionsvertrag – meine Kollegin hat es vorhin gesagt – hat sich die Fortschrittskoalition darauf verständigt. Sie möchte mit dem hier
vorliegenden Entwurf zum Krankenhauspflegeentlastungsgesetz den nächsten Schritt gehen, für das ich Ihnen, Herr Minister, und Ihrem Haus ausdrücklich danke;
denn wir gehen jetzt einen Schritt weiter. Wir wollen eine angemessene Personalausstattung in der Pflege im Krankenhaus, um die Arbeitssituation der
Pflegekräfte als auch die Qualität der Patientenversorgung spürbar zu verbessern. Ziel ist es dabei, mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf Transparenz über
die Personaldefizite herzustellen und darüber hinaus Krankenhäuser zu verpflichten, die Defizite mittel- bis langfristig auszugleichen.
Die Maßnahme, um die Personalsituation in der Pflege in Krankenhäusern zu verbessern, führen wir entsprechend der Pflegepersonalregelung 2.0 –
PPR 2.0 – in drei Phasen ein: in einer Erprobungsphase ab Anfang 2023, in einer Einführungsphase ab Januar 2024 und in einer dritten Phase, der Konvergenzphase.
Die Einführung wird mit Augenmaß erfolgen. Der Wunsch wird nicht sofort Wirklichkeit werden. Das muss uns klar sein.
Wir schaffen die Rahmenbedingungen, um den Bedarf der Pflege so attraktiv wie nur möglich zu machen. Die Fortschrittskoalition löst mit der Einführung
einer solchen verbindlichen Personalbemessung im Krankenhaus ihr Versprechen ein, sich mittels struktureller Veränderungen für gute Arbeit in der Pflege
einzusetzen.
({3})
Gute Arbeit in der Pflege hat nicht nur mit Respekt und Anerkennung für Beschäftigte zu tun – ja, auch das –, sondern insbesondere auch mit
menschlicher Würde von Patientinnen und Patienten, die auf eine qualitativ hochwertige Pflege angewiesen sind.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausschussberatungen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Simone Borchardt hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Folge der Pandemie herrscht nicht nur in der klinischen Pflege ein
Ausnahmezustand. Arbeitsbelastung und Krankheitsausfälle sind auf einem Höchststand. Viele Beschäftigte halten diese extreme Mehrfachbelastung nicht mehr aus
und wollen aus diesem Beruf heraus. Verstärkend kommt noch die Idee unseres Gesundheitsministers hinzu, dass die Nachtdienste jetzt wegfallen sollen. Da sage
ich: Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein? Damit gefährden wir die Versorgung der Patientinnen und Patienten und vor allem die Qualität der Versorgung.
Sie machen den ganzen Zinnober angeblich, um die Qualität zu verbessern, und dann kommen Sie mit einer solchen Idee um die Ecke. Das kann nicht wirklich Ihr
Ernst sein.
({0})
Sie pochen auf die Einhaltung starrer Quoten und Schlüssel, und damit verschärfen Sie die ganze Situation noch. Legen Sie doch einfach die
Verantwortung in die Hände derjenigen, die die meiste Fachkompetenz haben, und setzen Sie sich einmal mit Kliniken und Krankenhäusern an einen Tisch. Sie
versuchen gerade als Politik, die besseren Manager zu sein. Das funktioniert so nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wegen der schlechten Bezahlung gehen die Beschäftigten aber schon lange nicht mehr auf die Straße. Die Vergütung
für die Pflegenden hat sich in den letzten Jahren massiv verbessert. Was jetzt fortgeführt werden muss, ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
({1})
Mit Ihrem Vorschlag machen Sie aber genau das Gegenteil. Mit Ihrem Gesetzentwurf verfehlen Sie das Ziel vehement, und das mit ganz klarer Ansage. Ich
mache Ihnen das auch sehr gerne an einem Beispiel deutlich.
Sie wollen mit der PPR 2.0 ein neues Personalbemessungsinstrument einführen. Ab dem Jahr 2025 veranschlagen Sie 5 000 zusätzliche Pflegekräfte im
Klinikbereich. Die Bundesregierung selbst geht von einem zusätzlichen Bedarf von 63 000 Vollzeitpflegekräften allein in Krankenhäusern bis zum Jahr 2030 aus.
Diese Info haben wir aus einer Kleinen Anfrage. Das ist unterm Strich eine Mogelpackung allererster Güte. Das wird der prekären Situation in der Pflege nicht
gerecht.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, momentan ist es so, dass es für jeden Pflegenden am Bett eine vollständige Refinanzierung durch die
Krankenkassen gibt, ob der Bedarf vorhanden ist oder nicht. Hinzu kommt das Problem der Abwerbung. Es wird dadurch aber am Markt keine einzige Pflegekraft
zusätzlich geben.
Deswegen, meine Damen und Herren: Überdenken Sie diese starre Quotenregelung. Lassen Sie mehr Dynamik und Eigenverantwortung zu. Schaffen Sie endlich
Anreize für einen effizienten Einsatz von Beschäftigten und finanziellen Ressourcen. Damit sorgen Sie dann nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen, sondern Sie
entlasten auch die Beitragszahler.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Janosch Dahmen für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir befinden uns heute in der ersten Lesung zu einem
sehr wichtigen Gesetz, wie der Bundesgesundheitsminister es am Anfang bereits eingeführt hat. Wir treten ein in eine wichtige Phase überfälliger Reformen im
Bereich der Pflege, die seit vielen Jahren hätten auf den Weg gebracht werden sollen.
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag eine Forderung von Gewerkschaften, von der Pflege selbst, von Fachgesellschaften, von der Deutschen
Krankenhausgesellschaft aufgegriffen, endlich eine Personalbemessung im Bereich der Pflege einzuführen, die Licht ins Dunkel von Defiziten im Bereich der
Krankenpflege bringt, was seit Jahren bekannt, aber nicht quantifizierbar ist. Die Koalition hält Wort, setzt um, was die Forderung aus der Gesellschaft ist,
und das ist Gegenstand des Gesetzes.
({1})
Wenn wir uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auseinandersetzen, ist aus dem Kreis der Union zu hören, dass wir eine Situation haben, in der den
Kliniken, in der den Menschen im Gesundheitswesen das Wasser bis zum Hals steht. Ja, das ist richtig. Wir erleben gerade eine neue Herbst/Winter-Welle, die in
erheblichem Maße die Menschen in den Krankenhäusern belastet, die durch Krankheitsausfälle dazu führt, dass die Versorgung an verschiedenen Stellen – wie es
Herr Monstadt richtig vorgetragen hat – wirklich ernstzunehmend gefährdet ist. Das heißt, das Allererste, was wir tun müssen, ist, die Infektionsdynamik
kurzfristig zu bekämpfen. Die Länder sind aufgefordert, den Handlungsrahmen, den der Bund ihnen mit dem Infektionsschutzgesetz gegeben hat, durch Maskenregeln
im Innenraum umsetzen, um hier kurzfristig Druck rauszunehmen.
({2})
Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir die langfristigen Reformen auf den Weg bringen, indem wir durch eine Personalbemessung feststellen, wo welcher
Bedarf konkret vorliegt – ein Vorschlag, der nicht nur aus dem Kreis der aktuellen Koalition kommt, sondern der im Übrigen von Ihnen aus der Union mit
entwickelt wurde. Sie hatten aber nie den Mut, in den acht Jahren, in denen Sie das Gesundheitsministerium verantwortet haben, Klarheit über das Defizit unseres
Gesundheitswesens zu schaffen, das de facto besteht.
({3})
Dieser Ansatz, sich hier ehrlich zu machen, bedeutet auch, dass wir sehen, wie sich über Jahre eine Welle der Demografie über unser Gesundheitswesen
aufgebaut hat, die uns jetzt gravierend bedroht, und zwar in doppeltem Sinne: einerseits durch Pflegepersonal, durch Gesundheitsfachkräfte, die aufgrund ihres
Alters ausscheiden, andererseits weil die Anzahl pflegebedürftiger Menschen jetzt noch mal rapide zunimmt, was uns alle hier in diesem Haus in den nächsten
Jahren noch vielfach beschäftigen wird. Insofern ist es richtig, an dieser Stelle mit Maßnahmen einzuschreiten.
Ich möchte mit noch einem Missverständnis aufräumen, das gerade vorgetragen wurde: Wir sollten nicht sagen: „Nachts kommt keiner zur Arbeit“, sondern
wir sollten uns in Zeiten knapper Ressourcen fragen: „Welche Fälle müssen denn wirklich im Krankenhaus behandelt werden, oder welche können sinnvollerweise aus
medizinischen Gründen ambulant viel besser versorgt werden?“
({4})
Inwieweit Behandlungen in den ambulanten Bereich verlagert werden und Maßnahmen in diesem Sinne zum Gegenstand dieses Gesetzes gemacht werden sollten,
das werden wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens intensiv gemeinsam beraten. Gegebenenfalls sind Ergänzungen vorzunehmen. Ich lade also die
Oppositionsfraktionen ein, in einen konstruktiven Dialog einzutreten, nicht über das Gesetz zu schimpfen, sondern echte Probleme zu lösen.
Vielen Dank.
({5})
Maximilian Funke-Kaiser hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit das nicht zu kurz kommt: Dieser Gesetzentwurf ist auch ein notwendiger
Aufschlag in Richtung Verbesserung, Entlastung und Fortschritt des Gesundheitswesens durch Digitalisierung und Technik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Das Ziel muss sein die Verbesserung der Pflege, der Vorsorge und der Versorgung der Patientinnen und Patienten und gleichzeitig eine Entlastung der
Pflegenden. „Fortschritt“ ist dabei das Stichwort, wenn wir über Digital Health sprechen. Die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen werden nun
in einem ersten Schritt endlich in die Tat umgesetzt. Ich möchte betonen: Es ist ein erster Schritt, und es werden im Rahmen der Digitalisierungsstrategie des
BMG, die von Ihnen, Herr Lauterbach, angestoßen worden ist, weitere folgen. Wir machen das nicht um der Digitalisierung willen, sondern wir machen das zum Wohle
der Patientinnen und Patienten – durch beste medizinische Versorgung und Vorsorge –, wir machen das zum Wohle der Pflegekräfte – durch einen erheblichen Abbau
der Dokumentationsaufwendungen –, und wir machen das zum Wohle der Leistungserbringer – durch einen lückenlosen Informationsaustausch.
Genau dafür enthält dieses Gesetz einige Stellschrauben:
Erstens. Zum ersten Mal gehen wir den Weg der verpflichtenden Interoperabilität, ganz im Sinne der Digitalstrategie der Bundesregierung. Das ist ein
Paradigmenwechsel in der Digitalpolitik hier in Deutschland. Dadurch beflügeln wir die Verbreitung von zentralen Anwendungen der Telematikinfrastruktur, und wir
stärken die Rechte der Leistungserbringer. Zweitens stärken wir die Nutzerfreundlichkeit digitaler Anwendungen. Drittens verbessern wir die Verfügbarkeit und
Nutzbarkeit von Daten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Telematikinfrastruktur mag mit ihren zahlreichen Anwendungen wie der elektronischen Patientenakte, dem E-Rezept
und dem digitalen Medikationsplan aktuell eine papierverschlingende Raupe Nimmersatt sein. Aber das hat nach dieser Legislaturperiode ein Ende.
({1})
Dieses Krankenhauspflegeentlastungsgesetz, das ist ein erster wichtiger Schritt in dieser Evolution. Es ist quasi der Kokon, ein wichtiges Stadium der
Reife. Bekanntlich folgt das Schöne daran anschließend.
({2})
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({3})
Emmi Zeulner redet als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der Dramatik der Situation in der Pflege begegnen wir mit Maßnahmen, die schnell und
spürbar die Arbeitsbedingungen verbessern. Kurzfristig führen wir zur verbindlichen Personalbemessung im Krankenhaus die Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0)
als Übergangsinstrument mit dem Ziel eines bedarfsgerechten Qualifikationsmixes ein.“
({0})
– Klatschen allein reicht nicht; das hat Ihnen die Pflege immer wieder gesagt.
({1})
Was ich hier zitiere, ist rund ein Jahr alt und steht im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung. Unter „kurzfristig“ verstehe ich, dass etwas in
den ersten 100 Tagen aktiv ins Parlament eingebracht wird. Und unter „verbindlich“ verstehe ich eben gerade nicht, dass man ein erprobtes System nochmals in
eine Erprobungsphase schickt, wie Sie es tun, und die Entscheidungshoheit aus dem Parlament über eine Verordnung in die Hände des Ministeriums und des Ministers
legt,
({2})
dass dann de facto ohne Beteiligung des Parlaments in eine ganz andere Richtung entwickelt werden kann. Verbindlich gegenüber der Pflege ist mit
Sicherheit nicht – das haben die Kollegen angesprochen –, dass das Ganze unter Finanzierungsvorbehalt steht, also praktisch in die Hände von Christian Lindner
gelegt wird.
({3})
Deshalb fordere ich Sie auf, die Dramatik, die Sie selbst im Koalitionsvertrag beschrieben haben, ernst zu nehmen und es nicht dem Ministerium zu
überlassen, was mit der Pflege passiert.
Und ja, es braucht eine Revolution in der Pflege. Wenn Sie es ernst meinen mit den Menschen in der Pflege, reichen wir Ihnen als Oppositionsfraktion
die Hand. Wir stehen bereit für eine gemeinsame, konzertierte parlamentarische – und das ist der Unterschied: parlamentarische – Aktion Pflege
({4})
mit einem Bündel an Maßnahmen. Das können wir nicht einem Fachausschuss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder überlassen. Die sind im
Moment federführend bei dem, was hier eigentlich getan werden müsste. Das wird dem Anspruch eines nationalen Parlaments bei Weitem nicht gerecht.
Dass Sie fachlich dringend Hilfe benötigen – das wurde vorhin auch schon angesprochen –, sieht man am Gesetzentwurf. Sie veranschlagen mit der neuen
PPR 2.0 bis 2025 – denn erst dann wird das ganze Instrument scharfgeschaltet – 5 000 zusätzliche Pflegekräfte im Klinikbereich. Gleichzeitig antwortet diese
Bundesregierung auf unsere Anfrage, dass bis zum Jahr 2030 63 000 zusätzliche Vollzeitkräfte im Klinikbereich gebraucht werden. Das passt nicht zusammen. Da
frage ich mich: Ja, was denn jetzt?
Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam gerne in einer übergreifenden, konzertierten parlamentarischen Aktion Verbindlichkeit, Schnelligkeit und Wirksamkeit
für die Pflege auf den Weg bringen. Die Pflegekräfte in unserem Land haben diese Unterstützung verdient.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 45 Tage sind vergangen, seit die Bundesregierung das dritte Entlastungspaket verkündet hat,
45 Tage, seit Sie, Frau Bundesbildungsministerin, über die offensichtlichen Probleme in der Auszahlung des Zuschusses einfach schweigen, 45 Tage, in denen die
Bundesregierung immer noch keine Lösung gefunden hat, wie die 200 Euro auf den Konten der Studis ankommen sollen. Stattdessen hören wir seit 45 Tagen immer nur
Ausreden: Man ist ja in Gesprächen mit den Ländern, man ist in Gesprächen mit den Hochschulen, man muss erst die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen schaffen
usw. usf. – Ich bin schon gespannt auf die Ausreden, die wir heute hier in dieser Debatte wieder hören werden. Wahrscheinlich sind es die gleichen.
Ich würde allerdings sagen: Machen wir uns doch an der Stelle einfach mal ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hören Sie auf, zu vertuschen, dass
die Bundesregierung überhaupt keinen Plan hat, wie sie die 200 Euro Zuschuss auszahlen will.
({0})
Das ist ja auch überhaupt nicht verwunderlich. Wenn man keinen Plan in der Tasche hat, wie es funktionieren soll, dann kann man natürlich auch nicht
sagen, wann die 200 Euro ausgezahlt werden. Trotzdem – das muss ich sagen – bin ich fast rückwärts vom Stuhl gefallen, als ich gehört habe, dass laut internen
Zeitplanungen der Bundesregierung mit einer Auszahlung erst im kommenden Jahr zu rechnen ist – im kommenden Jahr! Das kann unmöglich Ihr Ernst sein.
({1})
Der Kollege Kai Gehring hat in der letzten Wahlperiode an die Adresse der ehemaligen Bundesbildungsministerin gesagt – ich zitiere –, sie sei eine
„Trödelministerin“, als es um die pandemiebedingten Überbrückungshilfen gegangen ist. Später hat er ihr dann ein – ich zitiere wieder – „unverantwortliches
Krisenmanagement“ vorgeworfen. Der Parlamentarische Staatssekretär Jens Brandenburg hat in der Debatte zur sozialen Lage der Studierenden vor zwei Jahren
gesagt – auch da zitiere ich wieder –: „… Abwarten ist in der Krise gerade keine Lösung.“
Ich verrate Ihnen was: Bei der Überbrückungshilfe in der Coronapandemie sind zwischen Ankündigung der Überbrückungshilfe und den ersten Anträgen, die
gestellt wurden, 40 Tage vergangen – 40! Keine 41, keine 42, keine 43, auch keine 44, schon gar keine 45; es waren 40. Seit letztem Freitag also, seit dem
14. Oktober, geht jeder einzelne Tag, an dem kein einziger Cent bei den Studenten, bei den Studentinnen, bei den Fachschülern ankommt, auf Ihr politisches
Konto, Frau Ministerin.
({2})
Deswegen fordern wir als Union, dass das Geld allerspätestens bis zum 15. November 2022 bei denen, die es jetzt so dringend brauchen, ankommt.
({3})
Das ist das Mindeste, was wir tun können, um wenigstens ein kleines bisschen zu zeigen, dass die Bundesregierung die Nöte ernst nimmt.
({4})
Ersparen Sie es uns bitte heute, dass Sie sich wieder für die vielen tollen Maßnahmen abfeiern, die Sie für die Studentinnen, für die Studenten schon
auf den Weg gebracht haben. Wenn man sich das nämlich mal genauer anschaut, dann wird deutlich, dass nichts daran „Wumms“ hat – um mal im Sprachgebrauch der
Regierung zu bleiben. Beispiele:
Heizkostenzuschuss. Da haben noch nicht mal alle Antragsberechtigten den ersten bekommen, was dazu geführt hat, dass in der vorletzten
Ausschusssitzung sogar die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen gefragt haben, wie lange so eine Auszahlung überhaupt dauern kann. Die FDP
verweist auf die Zuständigkeit der Länder – spannend. Nach neuesten Informationen heute aus dem Ausschuss schaut es, mit Ausnahme von Thüringen, zum Glück ein
bisschen besser aus. Das Ergebnis ist trotzdem immer noch unzureichend.
({5})
Zweites Beispiel: die BAföG-Novelle. Wie kann man stolz sein auf eine BAföG-Novelle, die von der Inflation schon aufgefressen gewesen ist, bevor sie
überhaupt in Kraft tritt? Eigentlich ist es traurig, wie einfach Opposition bei Ihnen geht.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt überhaupt keinen Grund, wirklich gar keinen, diesem Antrag heute nicht zuzustimmen,
({7})
und zwar in Sofortabstimmung – keine Überweisung an den Ausschuss, keine langen Beratungen, keine Verzögerungstaktik mehr, sondern ein eindeutiges Ja
hier und jetzt. Die Studenten da draußen schauen heute auf uns. Sie schauen auf dieses Parlament, in der Hoffnung, dass wir ihnen ein starkes Signal senden.
Enttäuschen wir sie nicht!
Danke.
({8})
Lina Seitzl hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir befinden uns in einer Zeit großer
Herausforderungen. Wladimir Putin nutzt Energie als Waffe. Das Ergebnis sind hohe Energiepreise, die die Inflation nach oben treiben. Damit steigt auch das
Armutsrisiko, insbesondere für einkommensschwache Haushalte; darunter sind natürlich auch viele junge Menschen in Ausbildung.
In diesen Zeiten zeigt die Fortschrittskoalition, dass sie handlungsfähig ist.
({0})
Wir treffen schnelle Entscheidungen, damit sichergestellt ist, dass die Bürgerinnen und Bürger weiter heizen können,
({1})
dass die Unternehmen weiter produzieren können, dass die Arbeitsplätze sicher sind. Erst diese Woche haben wir die Entscheidung zur Atomkraft
getroffen.
({2})
Die Gasspeicher wurden in den letzten Monaten auf über 95 Prozent gefüllt. Wir haben wirksame Entlastungspakete für Menschen mit niedrigen und
mittleren Einkommen,
({3})
für Studierende, für Familien, für Rentnerinnen und Rentner auf den Weg gebracht, um die hohen Lebenshaltungskosten ein Stück weit auszugleichen. Mit
diesem Maßnahmenbündel machen wir klar: Wir lassen euch nicht im Regen stehen, wir unterstützen euch; niemand in Deutschland soll frieren oder seine Wohnung
verlieren.
({4})
Diese Koalition reagiert mit Augenmaß und Verstand. Kraftvoll navigiert sie dieses Land durch die Krise.
({5})
Jetzt komme ich zum Antrag der Union, weil die Union sich in ihrer Oppositionsrolle weniger kraftvoll wiederfindet. In diesem Antrag wird auf der
einen Seite kritisiert, dass einzelne Gruppen zu wenig bedacht und die Pakete insgesamt zu wenig bieten würden.
({6})
Gleichzeitig wird von „Sozialtourimus“ und von „Scheinstudierenden“ gesprochen – als ob der Sozialstaat massenweise von Betrügerinnen und Betrügern
ausgenommen würde.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier von Menschen, die sich in einer existenziellen Krise befinden, nicht von Betrügern.
({8})
Opposition ist wichtig in einer Demokratie, gerade in diesen Zeiten. Aber dieses Zündeln an den Grundpfeilern unserer solidarischen Gesellschaft,
({9})
dieses Erzählen von falschen Fakten gefährdet unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, der heute wichtiger ist denn je.
({10})
Sie behaupten, dass junge Menschen in Ausbildung von der Ampelkoalition übersehen werden.
({11})
Anders als Sie das in Ihrem Antrag schreiben, kommt die Energiepreispauschale sehr wohl auch jungen Menschen in Ausbildung zugute,
({12})
und zwar den 75 Prozent, die einen Nebenjob haben.
({13})
Das wissen Sie auch; das haben wir hier bereits mehrfach geklärt. Dieselbe Gruppe kann von der Inflationsausgleichsprämie profitieren, die von den
Arbeitgebern steuerfrei ausgezahlt werden kann.
({14})
Dazu kommt der Heizkostenzuschuss für BAföG-Bezieher. Es ist eine gute Nachricht, dass über 90 Prozent der Länder jetzt die Auszahlung des
Heizkostenzuschusses I in die Wege geleitet haben, und wir werden morgen den Heizkostenzuschuss II beschließen, der dann ebenfalls schnell an junge Menschen
ausgezahlt wird.
({15})
Dazu kommen die deutliche Erhöhung des BAföG, die Erhöhung des Mindestlohns, der Einmalbonus von 100 Euro, auch für Menschen in Ausbildung bis zum
26. Lebensjahr, das 9‑Euro-Ticket. Selbstverständlich profitieren junge Menschen in Ausbildung auch von den Vorschlägen der Gaspreiskommission und den Vorhaben
der Koalition zur Deckelung der Energiepreise.
Sie nehmen in Ihrem Antrag Bezug auf den Beschluss der Bundesregierung, Studierenden sowie Fachschülerinnen und Fachschülern eine Einmalzahlung in
Höhe von 200 Euro auszuzahlen. Ich würde sagen, es ist sehr begrüßenswert, dass Sie diesen Vorschlag ebenfalls unterstützen. Wir sind uns, glaube ich, auch alle
einig, dass die Einmalzahlung möglichst schnell und unbürokratisch ausgezahlt werden muss.
({16})
Aber – und das wissen Sie auch – das ist eine Herausforderung.
({17})
Wir haben nun einmal keine Datenbank, in der die Namen aller Schülerinnen und Schüler, aller Studierenden samt Kontodaten stehen, sodass man nur noch
auf irgendeinen Knopf drücken muss, und das ganze Geld ist ausbezahlt.
({18})
Das ist nicht so, und das wissen Sie auch.
Hilfreich wäre es, wenn Sie von Ihrer Seite gemeinsam mit den Ländern konkrete Lösungsvorschläge machten, um mit der Bundesregierung an einer
schnellen Auszahlung zu arbeiten.
({19})
Nicht hilfreich ist dagegen, wenn Sie irgendwelche vermeintlich einzuhaltenden Auszahlungs-Deadlines in den Antrag schreiben.
({20})
Das ist das Gegenteil von seriöser Oppositionsarbeit; das ist reine Stimmungsmache.
({21})
Ich möchte gerne noch etwas zu dem Antrag der Linksfraktion sagen, den wir hier auch noch beraten. Er hat nämlich deutlich mehr Substanz und nimmt
einige Initiativen unserer Koalition auf, zum Beispiel das Bund-Länder-Programm „Junges Wohnen“, das, wie von der Bundesbauministerin angekündigt, zum 1. Januar
2023 starten wird. Auch an der Reform der Struktur des BAföG arbeiten wir mit Hochdruck.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die Ampelkoalition lässt junge Menschen in Ausbildung in dieser herausfordernden Situation nicht, wie es
die Union in ihrem Antrag schreibt, im Regen stehen. Stattdessen spannen wir einen breiten Regenschirm für sie auf.
Vielen Dank.
({22})
Götz Frömming hat jetzt das Wort für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Schön, dass Sie da sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zur
besten Plenarzeit über 200 Euro Einmalzahlung für Studenten. Wir müssen gar nicht so weit zurückgehen, da haben wir hier über ganz andere Pakete diskutiert:
100 Milliarden Euro für die Rüstungsindustrie, 200 Milliarden Euro letztlich für Energiekonzerne. Und hier geht es heute um 200 Euro. Da darf man schon einmal
fragen: Was kann man sich von 200 Euro denn eigentlich leisten? Was kostet zum Beispiel die Fahrt nach Hause zu den Eltern,
({0})
wenn man das ICE-Ticket voll bezahlen muss? Was kostet denn inzwischen eine Tankfüllung? Ich hoffe, die meisten von Ihnen wissen das noch. Es gibt ja
einige Minister und sogar einen Kanzler, die nicht mehr wissen, was der Sprit an der Tankstelle derzeit kostet.
({1})
– Ich merke an Ihrer Unruhe, dass das genau der wunde Punkt ist. So etwas können sich viele Studenten heutzutage nämlich gar nicht mehr leisten, meine
Damen und Herren.
Entschuldigung, Frau Kollegin Seitzl, Sie sind zwar gerade mit Ihrem Handy beschäftigt, aber es geht hier ja auch um Ihre Politik. Sie müssen schon
zugeben, Sie haben es gerade so dargestellt, als hätte das, was Sie gemacht haben, alles Sinn und Verstand. Aber wenn wir uns die vielen Einzelgesetze
anschauen, dann erkennt man doch in der Gesamtschau kein irgendwie sinnvolles, planvolles Vorgehen, sondern das Einzige, was ich hier, was meine Fraktion hier
erkennen kann, ist eine heillose Flickschusterei.
({2})
Ein Fehler, den Sie gemacht haben, war ja, dass Sie einen Teil der Studenten vergessen haben. Sie haben an die gedacht, die BAföG beziehen, aber dann
feststellen müssen: Oh, es gibt ja noch andere, die kein BAföG beziehen. – Dann gibt es jetzt die Einmalzahlung für andere, auch wieder mit der Gießkanne. Sie
schaffen es natürlich in der Kürze der Zeit nicht, zu differenzieren.
({3})
Das heißt, wer bekommt denn diese 200 Euro? Bekommen das die wirklich Bedürftigen? Vielleicht auch. Aber diese 200 Euro bekommen auch die, die sie gar
nicht brauchen. Also auch hier ist kein System und kein Verstand dabei.
Vielleicht doch noch ein Wort zu den beiden vorliegenden Anträgen. Liebe Frau Staffler, es ist schon richtig, dass das alles schneller geschehen
müsste; Ihre Kritik geht in die richtige Richtung.
Andererseits drücken aber auch Sie sich darum herum, die eigentlichen Probleme anzusprechen. Warum haben denn viele Studenten – übrigens nicht nur die
Studenten, sondern auch viele Auszubildende, überhaupt alle Menschen – derzeit ein Problem? Diese Probleme sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern die
Probleme haben auch zu tun mit der Sanktionspolitik, die sich – das wird immer offenbarer, meine Damen und Herren – inzwischen gegen unsere eigenen Bürger
richtet.
({4})
Deshalb wäre der erste Vorschlag, der sich nicht auf die Symptombehandlung bezieht, sondern an die Ursachen herangeht: Hören Sie auf mit der
Sanktionspolitik! Sorgen Sie dafür, dass wieder ausreichend Energie auf der Angebotsseite zur Verfügung steht!
({5})
Dann kriegen wir auch die Inflation in den Griff. Und nur dann, wenn wir die Inflation in den Griff kriegen, können wir dieses Problem wirklich
dauerhaft lösen.
({6})
Denn was wollen Sie machen? Diese eine Einmalzahlung wird doch nicht reichen.
({7})
Kommen dann die nächsten Einmalzahlungen erst von vielleicht 250 Euro, dann von 235 Euro? Wie weit soll das denn noch gehen? Wir vermissen hier
Vorschläge, die wirklich das Problem an der Wurzel packen.
Dazu gehören auch noch ganz andere Bereiche, die zum Glück jetzt sichtbar werden. Zum Beispiel ist Ihre Energiewende – die haben nicht Sie allein hier
vorangetrieben, sondern auch schon die Vorgängerregierung – mit daran schuld, dass die Probleme, in denen wir jetzt gemeinsam stecken, überhaupt so groß sind,
wie sie sind.
Deshalb unser zweiter Tipp für Sie, um wirklich an die Ursachen heranzugehen: Nehmen Sie Abstand von Ihrer verkorksten Energiewende! Kommen Sie zurück
zu einem vernünftigen Energiemix! Dann geht es auch mit unserer Wirtschaft wieder voran.
({8})
Denn nur mit einer funktionierenden Wirtschaft kann letztlich Geld generiert und eingenommen werden, das Sie schließlich brauchen, um es dann zu
verteilen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Laura Kraft hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! So, jetzt kommen wir
mal zum Antrag der Union. Der lässt, ehrlich gesagt, einfach nur zu wünschen übrig.
Das fängt schon damit an, dass Sie behaupten, dass nur 4 Prozent aller Studierenden in Deutschland von dem Heizkostenzuschuss profitiert hätten. Dabei
verweisen Sie auf eine Bundestagsdrucksache. Da ist schon mal der erste Fehler; denn Sie haben in der Fragestunde am 28. September gefragt: „An wie viele
Studierende ist der Heizkostenzuschuss schon ausgezahlt worden?“, und da hat Ihnen der Parlamentarische Staatssekretär Mario Brandenburg erklärt – das war der
Stand von 23. September –, dass von ungefähr 300 000 Anspruchsberechtigten schon 122 271 Berechtigte den Zuschuss ausbezahlt bekommen haben. Es sind nämlich nur
die BAföG-Empfänger/-innen anspruchsberechtigt gewesen und nicht alle Studierenden. Also, Ihre Rumrechnerei ist da völlig faktenbefreit.
({0})
Damit sind wir nicht bei 4 Prozent. Da man muss einfach mal wissen, wovon man redet. Das ist ja nur ein Punkt in Ihrem Antrag.
Sie behaupten einfach, dass die Ampelkoalition die Studierenden völlig vergessen hätte.
({1})
– Nein, das ist nachweislich falsch. – Ich kann Ihnen mal auflisten, was wir alles bereits gemacht haben oder im Begriff sind, zu tun – das ist so
viel, dass ich das aufschreiben musste –: Erhöhung der BAföG-Sätze und Ausweitung der BAföG-Berechtigung, Nothilfemechanismus, Kindergelderhöhung, zwei
Heizkostenzuschüsse – den einen, den Sie eben schon falsch berechnet haben, plus der, der morgen kommt –, Anhebung der Minijob-Verdienstgrenze, Energiepauschale
für Erwerbstätige, Wohngeldreform, 9‑Euro-Ticket – wovon Studierende ja auch profitiert haben –
({2})
und dann die Einmalzahlung. Das ist aber nur ein Auszug aus dem Ganzen.
({3})
Sie haben heute im Ausschuss erfahren, was letzten Endes der Stand der Auszahlung ist. Der Parlamentarische Staatssekretär Jens Brandenburg hat Ihnen
erklärt, dass schon 15 von 16 Ländern im Auszahlungsprozess sind bzw. ihn teilweise schon abgeschlossen haben. Da sind Sie jetzt eigentlich auch völlig auf dem
Holzweg; das muss man ehrlich sagen.
({4})
In Ihrem gesamten Antrag stellen Sie vier Forderungen: Sie wollen einmal, dass der Zuschuss unbürokratisch bis allerspätestens 15. November ausgezahlt
wird. Dann wollen Sie ein unbürokratisches digitales Antrags- und Bewilligungsverfahren, eine niedrigschwellige Nachweispflicht, aber auch Kontrollen.
({5})
– Nee. Aber Sie merken, dass da Zielkonflikte sind.
({6})
Und das Ganze bis zum 15. November.
({7})
Sie wissen, dass die Bundesregierung mit den Ländern im Gespräch ist und versucht – das ist nämlich nicht banal –, das auf den Weg zu bringen. Sie
sehen, da gibt es schon mehrere Aspekte.
({8})
Nehmen Sie sich doch einfach mal ein Beispiel an dem Antrag der Linken. Darin werden nämlich wirklich konstruktive Vorschläge gemacht. Sie schlagen ja
überhaupt nichts vor.
({9})
Frau Kollegin.
Darf ich noch einen Satz sagen?
Das Lob der Linken muss leider wegfallen.
Entweder können Sie keine besseren Anträge stellen – aber ich weiß, dass das nicht stimmt –, oder Sie haben sich keine Mühe gegeben, und das ist
einfach unverschämt.
({0})
Nicole Gohlke hat jetzt das Wort für Die Linke.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, hier kommt sie, die Konstruktivopposition. – Nein, Schmarrn.
Die Inflation und die krasse Teuerungswelle machen auch vor den Studierenden und vor den Schülerinnen und Schülern nicht halt. Auch sie haben Angst
vor der Zukunft, haben Angst um die eigene Existenz und haben natürlich auch Sorge, wie sie unter diesen Bedingungen eigentlich ihr Studium oder die Ausbildung
schaffen sollen.
Jetzt hat sich die Bundesregierung richtigerweise dazu durchgerungen, auch die Studierenden bei den Entlastungen mitzudenken. Bislang war es ja so,
dass von den Zahlungen immer nur ein Teil der Studierenden profitiert hat. Den ersten und zweiten Heizkostenzuschuss konnten nur diejenigen bekommen, die BAföG
beziehen, also nur 11 Prozent der Studierenden. Die Energiepauschale wiederum haben nur die erwerbstätigen Studierenden bekommen können. Und jetzt sollen eben
alle Studierenden und die Fachschülerinnen und Fachschüler eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro erhalten. Das ist zwar noch nicht so viel, dass sie damit
über den Winter kommen und die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise wirklich decken können. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es
nicht einen Haken gäbe: Bislang ist nämlich wirklich völlig unklar, wie und wann das Geld bei ihnen ankommt.
Frau Kraft, heute im Ausschuss hat der Parlamentarische Staatssekretär natürlich über den Stand der Auszahlungen beim Heizkostenzuschuss I gesprochen
und nicht über die Auszahlung der 200 Euro. Auch ich muss mich der Forderung anschließen und sagen: Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, stellen Sie endlich
sicher, dass die Hilfen ankommen! Das Geld wird dringend gebraucht.
({0})
Und es ist höchste Zeit, noch weitere Ideen für Hilfsmaßnahmen für Menschen in Ausbildung auf den Weg zu bringen.
Zum Beispiel müsste der ÖPNV für Schülerinnen und Schüler, für Auszubildende und Studierende endlich kostenfrei sein.
({1})
Das wäre doch mal eine zielgerichtete Unterstützung.
Und es muss sich endlich was tun beim studentischen Wohnraum. Die Wohnheimplätze der Studentenwerke reichen hinten und vorne nicht aus. Starten Sie
jetzt endlich durch mit dem von Ihnen angekündigten Programm „Junges Wohnen“ für Studierende und Auszubildende.
({2})
Auch das kann nicht warten; die Menschen haben jetzt Nöte. Warum dauert das eigentlich immer alles so lange?
({3})
Und es ist höchste Zeit, die strukturellen Probleme anzugehen, die den Studierenden das Leben schwer machen, nämlich die Tatsache, dass jede und jeder
dritte Studierende – und zwar schon vor Inflation und Energiekrise – von Armut betroffen ist und dass eben nur 11 Prozent der Studierenden BAföG beziehen. Das
ist doch das Problem, was die jetzige Situation so verschärft und auch dazu führt, dass die Einmalzahlungen, wenn sie denn endlich mal ankommen, nur ein Tropfen
auf den heißen Stein sind: Weil sie die strukturelle Armut, in der ein Teil der Studierenden lebt, nicht auffangen können.
Deswegen noch mal: Es muss jetzt um eine BAföG-Reform gehen, die dafür sorgt, dass BAföG eine Existenz im Studium tatsächlich absichert. Ein BAföG,
von dem man die Miete und den Internetanschluss sicher bestreiten kann und das sich automatisch an die Inflation anpasst, statt dieser Entwicklung immer
hinterherzuhinken.
({4})
Und ein BAföG, das die Tür zu mehr Bezieherinnen und Beziehern nicht nur einen kleinen Spalt aufmacht, sondern die Tore weit aufmacht.
Dann, Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, könnte man wirklich mal von einem „Wumms“ reden, um in der Rhetorik der Ampel zu bleiben.
({5})
Denn bisher ist das, was Sie machen, finde ich, nicht so sehr Wumms, sondern ein bisschen mehr Puff.
({6})
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vielen Dank.
({7})
Ria Schröder hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bildungsministerin hat sich erfolgreich für die Unterstützung von Studierenden
sowie von Fachschülerinnen und Fachschülern eingesetzt: 200 Euro bekommt jede und jeder Einzelne. Angesichts der hohen Energiekosten ist das eine richtige und
notwendige Entlastung für junge Menschen.
({0})
Das BMBF hat letzte Woche im Ausschuss bereits berichtet, dass das Haus in enger Abstimmung mit den Ländern schnell eine Rechtsgrundlage und ein
unbürokratisches Verfahren zur Auszahlung schafft. Das ist gar nicht trivial. Ich habe mich deswegen wirklich auf die Anträge der Opposition gefreut. Sie als
Union haben ja auch viel Erfahrung im Haus. Ich war wirklich ganz gespannt auf Ihre Vorschläge für die Auszahlungsmodalitäten.
({1})
Leider wurde ich enttäuscht.
({2})
Und dann lese ich im Antrag der Union auch noch von Nachweispflichten, um Scheinstudierende auszusortieren. Was sind eigentlich
„Scheinstudierende“?
({3})
Damit zeigen Sie leider einmal mehr Ihren Argwohn und Ihr Misstrauen gegenüber jungen Menschen in diesem Land. Auch deshalb werden wir Ihren Antrag
ablehnen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung lässt junge Menschen eben gerade nicht im Regen stehen. Wir entlasten sie ganz konkret. Ich verstehe auch,
dass es manchmal schwierig ist, den Überblick zu behalten. Wenn euch das auch so geht, dann: Aufgepasst! Denn für euch kommt jetzt eine Zusammenfassung in zehn
Punkten.
Erstens. Wenn ihr im letzten Winter BAföG oder Aufstiegs-BAföG bekommen habt, dann bekommt ihr den Heizkostenzuschuss I: 230 Euro. In Hamburg etwa
wurde er Ende September ausbezahlt, ganz unbürokratisch. Für diesen Winter entlasten wir euch sogar noch mal mit einem Heizkostenzuschuss II in Höhe von
345 Euro. Checkt mal, ob der Zuschuss schon angekommen ist. Bei vielen ist das der Fall.
({5})
Zweitens. Dank der BAföG-Novelle zu diesem Wintersemester erhalten mehr Menschen mehr BAföG. Wenn ihr das im ersten Semester nicht bekommen habt, dann
ist jetzt eine gute Gelegenheit, den Anspruch noch mal beim Online-BAföG-Rechner zu prüfen; da kann man das unbürokratisch tun und bekommt eine erste
Einschätzung. Das BAföG ist eine gute Sache. Nutzt das!
({6})
Dritter Punkt. Wir haben zum 1. Oktober die Minijob-Grenze auf 520 Euro und den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Wenn ihr neben dem Studium also jobbt,
dann könnt ihr jetzt mehr dazuverdienen. Mein Tipp ist übrigens auch: Rechnet euren Stundenlohn mal aus! Sprecht mit eurem Arbeitgeber, ob ihr wirklich die
entsprechende Erhöhung bekommt, damit die 520 Euro auch wirklich ankommen.
Vierter Punkt. Im Gegensatz zur Behauptung der Union habt ihr über euren Nebenjob ebenfalls im September die Energiepreispauschale in Höhe von
300 Euro bekommen, ganz automatisch über die Lohnabrechnung.
({7})
Fünfter Punkt. Das 9‑Euro-Ticket haben viele junge Menschen gefeiert. Zu Recht: Mit dem digitalen, unbürokratischen Wissing-Ticket wird Mobilität
dauerhaft und einfach günstig.
({8})
Sechster Punkt: das Kindergeld. Das Kindergeld wird erhöht. Eure Eltern erhalten zum 1. Januar 2023 18 Euro mehr im Monat, also insgesamt
237 Euro.
Außerdem: Augen auf bei der Strom- und Gasrechnung! Denn die siebte Maßnahme kommt im nächsten Frühjahr mit der Gaspreisbremse.
({9})
Und die Dezemberrechnung für eure WG oder eure Wohnung geht auf Christian Lindners Nacken – eigentlich auf die des Bundeshaushalts, aber ihr wisst,
was gemeint ist.
Achter Punkt. Durch den Wegfall der EEG-Umlage spart ihr schon seit dem 1. Juli 3,72 Cent pro Kilowattstunde.
({10})
Um sich das mal vorzustellen: Für eine Vierer-WG sind das ungefähr 300 Euro im Jahr. Das ist, glaube ich, eine ganz gute Sache. Der Stromanbieter kann
das auch nicht einbehalten, sondern muss diese Einsparung weitergeben.
Letzte zwei Punkte, die Punkte neun und zehn: die Senkung der Umsatzsteuer auf Gas auf 7 Prozent und die verschobene CO2-Preiserhöhung.
All diese Entlastungen, meine Damen und Herren, kommen automatisch bei den jungen Menschen an, und das macht Energie in dieser angespannten Lage
günstiger.
({11})
Ich glaube, das zeigt deutlich: Die Bundesregierung entlastet junge Menschen ganz massiv. Eine Sache – das weiß ich aus vielen Gesprächen und
Nachrichten von jungen Menschen – ist ihnen aber noch wichtiger als die finanzielle Unterstützung. Die wollen nämlich endlich zur Schule gehen, in die Unis
gehen, wie das eigentlich gedacht ist. Die wollen lernen. Die wollen in inhaltlichen Debatten in den Klassenzimmern, in den Vorlesungen, in den Tutorien
miteinander streiten. Die wollen gemeinsam in Bibliotheken lernen, neue fachliche und menschliche Erfahrungen sammeln. Das muss wieder möglich sein. Deswegen
müssen Schulen und Hochschulen offen bleiben.
({12})
Das ist ein Appell an die Universitäten, auch an die Länder. Das ist auch etwas, was wir gemeinsam schaffen müssen; denn in den Ländern sind manchmal
die, die hier Opposition sind, an der Regierung.
({13})
Ich freue mich deswegen, wenn wir im Bildungsbereich alle an einem Strang ziehen – für die jungen Menschen in unserem Land.
({14})
Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommen wir doch mal vom Youtube-Kanal, den die Kollegin Schröder gerade bedient hat, zurück zum
Plenum;
({0})
denn ehrlicherweise sollten wir miteinander sprechen und nicht übereinander. Ich glaube, dass eine ernsthaft geführte Debatte ohne Polemik den
Interessen der Betroffenen tatsächlich gerechter wird.
({1})
Ehrlicherweise ist es doch so: Am Ende des Geldes ist noch viel Monat übrig. Der Spruch ist nicht neu. Schon vor der Krise war das Thema Geld für
viele Studenten und Fachschüler tatsächlich existenziell; denn wir wissen: Sie fahren mit ihren monatlichen Budgets immer knapp auf Kante. Deshalb schlägt die
Inflation bei ihnen doch besonders gnadenlos zu. Das begann mit den Preisen für Lebensmittel und geht jetzt weiter mit der Energie für Wohnungen. Die gehen
wirklich auf dem Zahnfleisch, und zwar seit Monaten.
({2})
– Wer jetzt gerade „Oh“ sagt – und diese Einwürfe sind ja im Protokoll zu lesen –, der zeigt, dass er es nicht ernst nimmt.
({3})
Das ist diese Polemik, die die Menschen umtreibt und am Ende der Politik das Vertrauen entzieht.
Sagen wir doch, wo wir uns einig sind. Wir sind uns einig, dass Studenten und Fachschüler Hilfe brauchen, und zwar so schnell wie möglich.
({4})
Denn bislang wurden Studenten und Fachschüler vergessen: beim ersten Entlastungspaket,
({5})
beim zweiten Entlastungspaket. In dem Füllhorn war für sie nichts dabei.
({6})
– Sie brauchen jetzt nicht zu zetern.
({7})
Beruhigen Sie sich, und kommen Sie aus Ihrem Paralleluniversum zurück in diese Welt!
({8})
In dieser Welt ist es so, dass Studenten und Fachschüler bei der Energiepreispauschale vergessen wurden, sofern sie keinen Nebenjob hatten; sie sind
leer ausgegangen.
({9})
Ich würde empfehlen, bei Ausschusssitzungen entweder digital oder wie auch immer dabei zu sein. Dann hätten Sie in der letzten Woche gehört,
({10})
dass Ihr Staatssekretär Jens Brandenburg gesagt hat, der Heizkostenzuschuss I sei bislang erst bei 6 Prozent angekommen.
({11})
Sie haben die BAföG-Debatte ins Feld geführt. Aber seien Sie doch einmal ehrlich: Ihre sogenannte Jahrhundertreform hat eine Halbwertszeit von Radon:
schnell zerfallend. Das zeigt sich am sogenannten Notfallmechanismus. Er wurde mit Tamtam eingeführt, hilft jetzt aber keinem Betroffenen.
({12})
Das haben Sie selbst erkannt und deshalb jetzt beim Entlastungspaket III eine Einmalzahlung angekündigt. Das war am 4. September 2022. Kollegin
Staffler hat darauf hingewiesen: Seit 45 Tagen warten Studenten und Fachschüler/-innen.
({13})
Wenn man nicht weiß, wie man Essen bezahlen soll, zählen nämlich Tage.
Die Aussicht auf 200 Euro ist sicherlich nicht der große Wurf,
({14})
aber 200 Euro würden eine kleine Verschnaufpause geben. Deshalb haben sich Studenten und Fachschüler über das Versprechen der Regierung sehr gefreut.
Aber Versprechen muss man einlösen. Deshalb fragen wir Sie alle in der Ampel jetzt: Wann kommt das Geld auf dem Konto an? Nicht: Wann haben Sie es in der
Planung? Die Antwort bleibt die Regierung schuldig, seit Wochen.
({15})
Wir haben in unterschiedlichen Gremien gefragt: Wann wird das Geld ausgezahlt? Wie? Die Antwort des BMBF seit Wochen: Man sucht nach einer Lösung.
Dafür wurde ein Arbeitskreis eingesetzt.
({16})
Liebe Frau Ministerin Stark-Watzinger, Sie bzw. die Ampel hätten jetzt die Möglichkeit, sich hier zu erklären. Welches Gesetz wollen Sie ändern? Wer
soll die auszahlende Stelle sein?
({17})
Weshalb sollen alle Studenten 200 Euro bekommen? Warum machen Sie es nicht bedarfsgerecht? Wieso haben Sie Meisterschüler ausgespart? Und geht man so
mit den Fachkräften von morgen um?
({18})
Fragen über Fragen, und keine Antworten dieser Bundesregierung, von Taten ganz zu schweigen. Leidtragende sind Studierende und Fachschüler.
Ohne Frage – und das ist ein berechtigtes Anliegen –: Die Auszahlung ist eine organisatorische Herausforderung. Aber es geht. Wir standen in der
Großen Koalition – die SPD möge sich erinnern – 2020 bei der Überbrückungshilfe für Studierende ebenfalls unter enormem Druck.
({19})
Studierende in pandemiebedingten Notlagen konnten damals bis zu 500 Euro beantragen. Zuständig waren die regionalen Studentenwerke. Es wurde seitens
der damaligen Bundesministerin Anja Karliczek eine bundesweit einheitliche IT-Plattform eingerichtet, online gestellt, abgewickelt über die Studentenwerke. Die
Zusageankündigung erfolgte am 30. April 2020. 40 Tage später konnte man die Anträge stellen.
({20})
Der Kollege Gehring hat damals gesagt, das sei Trödeln. Wenn dies Ihr Maßstab ist, dann kann ich Ihnen nur sagen: –
Frau Kollegin.
– Wenn 45 Tage damals für Sie Trödeln war, dann befindet sich Ihre Ministerin seit Wochen im vorgezogenen Winterschlaf.
Frau Kollegin.
Vor diesem Hintergrund: Werden Sie bitte wach!
({0})
Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende, bitte. Jetzt!
Unser Antrag soll Sie aufwecken. Lösen Sie Ihr Versprechen ein!
Gleich! Sofort!
Bringen Sie das Geld zur Auszahlung!
Vielen Dank.
({0})
Jens Peick hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der Antrag der CDU/CSU ist überschrieben mit den Worten, wir sollen
Studierende sowie Fachschülerinnen und Fachschüler in der Krise unterstützen. Das ist völlig richtig und völlig unstrittig. Es gibt hier niemanden, der das
anders sieht.
({0})
Wir sind uns einig: In unserem Land darf es nicht sein, dass sich Studierende sowie Fachschülerinnen und Fachschüler zwischen warmer Wohnung und
warmem Mittagessen entscheiden müssen. Deshalb haben wir – das haben wir heute schon mehrfach gehört – zwei Heizkostenzuschüsse beschlossen: zum einen 230 Euro
und zum anderen 345 Euro. Deshalb haben wir mit der BAföG-Reform unter anderem einen Nothilfemechanismus geschaffen, der greift, wenn nichts anderes mehr hilft.
Und weil es nicht nur in der Krise Unterstützung braucht, hat die Koalition den BAföG-Höchstsatz auf 934 Euro angehoben. Wer neben dem Studium arbeitet – was
fast zwei Drittel der Studierenden tun –,
({1})
hat die Energiepreispauschale von 300 Euro erhalten. Ebenso profitieren die meisten Studentinnen und Studenten, die arbeiten, von der Erhöhung des
Mindestlohns auf 12 Euro. Ins dritte Entlastungspaket haben wir ausdrücklich Studierende sowie Fachschülerinnen und Fachschüler aufgenommen: Sie erhalten eine
Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro.
Wenn Sie hier behaupten, die Bundesregierung unterstütze Studenten sowie Fachschülerinnen und Fachschüler nicht, wir ließen sie „im Regen stehen“, wie
es in Ihrem Antrag heißt, dann geht es Ihnen – das Gefühl hat man – weder um die Studierenden noch um die Fachschülerinnen und Fachschüler. Vielmehr
verunsichern Sie die Menschen, um die es geht, und das, Frau Connemann, entzieht der Politik Vertrauen.
({2})
Sie unterstellen, hier würden einzelne Gruppen vergessen werden.
({3})
Und Sie versuchen, politischen Profit aus dieser Situation zu schlagen. Das wird Ihrer staatspolitischen Verantwortung in dieser Lage nicht
gerecht.
({4})
Die Bundesregierung unterstützt, entlastet und hilft an ganz vielen Stellen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in der Breite der Bevölkerung:
mit der Erhöhung des Kindergeldes, mit dem Wegfall der EEG-Umlage, mit einer Senkung der Umsatzsteuer auf Gas, mit der Ausweitung des Wohngeldes oder mit dem
9‑Euro-Ticket. Alles zusätzliche Maßnahmen, die in der Breite der Bevölkerung wirken, auch bei Studierenden sowie Fachschülerinnen und Fachschülern. Denn für
uns als Koalition ist eines ganz klar: Wir müssen und wir werden diese Gesellschaft zusammenhalten. Niemand in diesem Land muss Sorge haben, hinten
runterzufallen.
Sie kommen mit Ihrer Forderung zu spät.
({5})
Ihnen bleibt in Ihrem Antrag nicht mehr, als zu sagen: Das, was die Regierung macht, ist gut, aber sie müsste es ein bisschen schneller tun.
({6})
Ja, natürlich sind wir bemüht, alle Maßnahmen so schnell wie möglich umzusetzen. Sie fordern eine zügige Auszahlung der 200 Euro; je früher desto
besser, heißt es da. Sie unterstellen damit, das würden wir nicht tun.
({7})
Vielleicht ist es an dieser Stelle einmal notwendig – das wurde schon öfter in diesem Hause gesagt –, an andere Aussagen von Ihnen von vor sechs
Monaten zu erinnern.
({8})
Noch im März haben Sie ein Gasembargo gefordert, das uns unvorbereitet in eine Wirtschaftskrise katapultiert hätte.
({9})
Damals haben wir bereits das erste Entlastungspaket auf den Weg gebracht.
({10})
Im Sommer waren Sie damit beschäftigt, massive Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu fordern. Damals haben wir das zweite Entlastungspaket
beschlossen.
({11})
Und jetzt haben wir das dritte Entlastungspaket beschlossen und einen Abwehrschirm gegen steigende Preise. Mit dem Bürgergeld führen wir ein
Sozialsystem ein, in das die Menschen wieder Vertrauen fassen können.
Ich sage das so deutlich, denn das gehört auch zur Debatte: Was machen Sie? Sie spielen beim Bürgergeld Geringverdiener gegen Leistungsbezieher aus,
bei der Entlastung Rentner gegen Erwerbstätige und jetzt Fachschüler und Fachschülerinnen und Studierende gegen den Rest. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, ich habe das Gefühl, Sie versuchen immer weiter zu spalten, und das bereitet mir Sorge. Ich sage das ganz deutlich.
({12})
Deswegen sage ich hier: Wir als Ampelkoalition stehen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und eines eint uns in dieser Koalition, nämlich dass wir
das Land fortschrittlich und sozial gerechter machen wollen,
({13})
auch und gerade in dieser Krise. Uns eint, dass wir dafür Verantwortung übernehmen. Verantwortung, damit niemand frieren muss, indem es genug Gas
gibt, das auch für alle bezahlbar ist. Das verlangt uns natürlich einiges ab – und das ist nicht immer einfach – bei der Frage, wie wir russisches Gas als
Energieträger ersetzen, bei der Frage, wie wir mit Waffenlieferungen in Krisengebiete umgehen, oder auch bei der Frage, was das mit dem Haushalt macht. Aber
alle drei Parteien in Regierungsverantwortung tun eines, und zwar ohne Wenn und Aber: Sie übernehmen diese Verantwortung, und wir werden dieses Land
({14})
durch diese Krise tragen, und das natürlich so schnell wie es geht, mit allen Maßnahmen, die ich gerade genannt habe, auch wenn staatspolitische
Verantwortung bedeutet, es ordentlich durchzuführen, den Haushalt im Blick zu haben und die Maßnahmen geordnet auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank.
({15})
Marlene Schönberger hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!
({0})
Wer Abitur macht, wer Anwältin oder Anwalt, Ärztin oder Arzt oder Lehrer/-in wird, wer eine Promotion abschließt, das hängt in Deutschland noch immer
massiv von den finanziellen Möglichkeiten und dem Bildungsweg der Eltern ab. Etwa 30 Prozent der Kinder aus nichtakademischen Haushalten studieren, bei
Akademiker- und Akademikerinneneltern sind es fast dreimal so viele. Dass nicht jeder Mensch frei entscheiden kann, wie die Zukunft aussehen soll, weil diese
Menschen an finanzielle Grenzen stoßen, das ist ungerecht und undemokratisch; und dagegen kämpfen wir als Ampelkoalition mit allen Mitteln.
({1})
Die Ungerechtigkeiten im Bildungsbereich haben sich während der Pandemie noch verstärkt. In der Schule wurden gerade die Schüler/-innen, die es zuvor
schon schwer hatten, weiter abgehängt. An den Unis sieht es ähnlich aus. Ich brauche nicht auszuführen, zu welchen Krisen es in der Pandemie geführt hat, wenn
der Minijob weg und die Mensa geschlossen war.
Schon vor der Pandemie war ein Drittel der Studierenden in Deutschland von Armut betroffen; das ist doppelt so hoch wie der Anteil in der
Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig ist der Anteil der BAföG-Bezieher/-innen in den Jahren massiv gesunken, die Förderung hat längst nicht mehr alle erreicht, die
auf sie angewiesen waren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, es ist ein vielsagender Zeitpunkt, an dem Sie Ihr Herz für Studierende entdecken, jetzt, wo Sie
in der Opposition sind. Sie hatten im Bildungsministerium 16 Jahre Zeit. Danke, dass Sie vorhin das Stichwort „Trödelministerin“ noch mal genannt haben; denn
die prekäre Situation vieler Studierender geht zu großen Teilen auf Ihr Konto.
({2})
Die Einmalzahlung, über die wir heute sprechen, ist natürlich nur ein Pflaster in einer sozialen Notlage. Sie reicht nicht. Wir sind seit fast einem
Jahr dabei, die finanzielle Situation von jungen Menschen langfristig zu verbessern. Es wurde schon mehrfach genannt, aber weil ich nach der letzten Unionsrede
davon überzeugt bin, dass es immer noch nicht bei allen angekommen ist, wiederhole ich es: Wir sind gerade mitten in einer BAföG-Reform. Wir haben die
Fördersätze bereits deutlich erhöht. Menschen können länger und elternunabhängiger BAföG beantragen. Im Entlastungspaket III haben wir endlich eine wichtige
Lücke geschlossen. Wir haben das Kindergeld angehoben und Studierende, auch ausländische, mit einbezogen.
({3})
Nach den Entlastungen für betriebliche Auszubildende und Minijobber/-innen werden nun auch Schüler/-innen und Auszubildende an Fachhochschulen
profitieren. Auch das 9- bzw. 49‑Euro-Ticket und der erhöhte Mindestlohn werden ganz besonders jungen Menschen zugutekommen. Mit uns bleibt niemand allein.
({4})
Ich finde es gut, dass wir heute über die Situation junger Menschen sprechen;
({5})
auch wenn ich nach dieser Debatte bezweifle, dass es allen hier wirklich um junge Menschen geht.
({6})
Aber es stimmt: Es ist wichtig, dass wir die 200 Euro so schnell wie möglich auszahlen.
({7})
Wir werden niemanden vergessen. Wir werden bürokratische Hürden vermeiden. Aber das geht nicht von heute auf morgen, und alle, die schon mal regiert
haben, müssten das eigentlich auch wissen.
({8})
Wir sind immer offen für konstruktive Vorschläge, um dieses Verfahren zu beschleunigen. Aber dazu habe ich von Ihnen heute nichts gehört, und deswegen
lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich nicht weniger als einen Neustart in der Migrationspolitik
vorgenommen; denn Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland, und wir brauchen endlich eine Politik, die diesem Anspruch auch gerecht wird.
({0})
Viel zu lange, meine Damen und Herren, wurde Einwanderung nach Deutschland nicht aktiv gestaltet, sondern widerwillig verwaltet. Man hat immer neue
bürokratische Hürden geschaffen, die viele, gerade gut integrierte Menschen verunsichert und frustriert haben. Damit ist es jetzt Gott sei Dank vorbei.
({1})
Denn diese Koalition schafft ein modernes Einwanderungsrecht.
({2})
Das ist eine große und komplexe Aufgabe, die wir in mehreren Schritten angehen.
Den ersten Schritt machen wir heute mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht. Wir wollen, dass Menschen, die gut integriert sind, auch gute Chancen in
Deutschland haben. Deshalb geben wir Menschen, die seit mindestens fünf Jahren geduldet in Deutschland leben, für ein Jahr das Chancen-Aufenthaltsrecht. Diese
Zeit können sie nutzen, um die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. Dazu gehört vor allem, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten,
dass sie Deutsch sprechen und dass sie ihre Identität eindeutig nachweisen können. Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, erhalten diese Menschen ein
dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland.
({3})
Wir geben ihnen damit die Chance, auch die Zuversicht, dauerhaft dazuzugehören.
({4})
Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist das Ende der Kettenduldungen und damit auch das Ende der Bürokratie und vor allen Dingen der Unsicherheit, die für
die Menschen damit verbunden war. Für die betroffenen Menschen war das eine große Belastung. Aber auch für die Behörden waren Kettenduldungen schwierig,
übrigens auch für viele mittelständische Unternehmen, die gut integrierten Menschen gerne eine Perspektive in unserem Land geben wollen. Es ist allerhöchste
Zeit, das zu ändern.
({5})
Ergänzend zum Chancen-Aufenthaltsrecht bringen wir heute weitere Veränderungen auf den Weg. Wir ermöglichen gut integrierten jungen Menschen unter
27 Jahren schon nach drei Jahren ein Bleiberecht. Wir erleichtern es den Fachkräften, die wir so dringend brauchen, ihre Familien mit nach Deutschland zu
bringen. Familienangehörige müssen künftig nicht mehr nachweisen, dass sie Deutsch sprechen. Das war übrigens in allen anderen europäischen Ländern schon länger
der Fall. Und – das ist mir sehr wichtig –: Wir sorgen für Integration von Anfang an.
({6})
Asylbewerberinnen und Asylbewerber können künftig schon während des laufenden Asylverfahrens Sprach- und Integrationskurse machen, unabhängig von
einer Bleiberechtsperspektive. Und das ist auch gut so, meine Damen und Herren.
({7})
Unsere Grundhaltung ist klar: Wer gut integriert ist, soll in Deutschland gute Chancen haben. Umgekehrt gilt aber auch: Wer sich nicht an die Regeln
hält, bekommt diese Chancen nicht. Das Chancen-Aufenthaltsrecht gilt nicht für Straftäter, und es gilt nicht für Personen, die falsche Angaben über ihre
Identität machen. Im Gegenteil: Straftätern kann künftig leichter das Aufenthaltsrecht entzogen werden. Wir erleichtern auch die Anordnung von Abschiebehaft,
damit sie vor ihrer Abschiebung nicht untertauchen können. Das ist gut so.
({8})
Meine Damen und Herren, die Grundlage für ein modernes Einwanderungsland ist Klarheit: klare Chancen und genauso klare Regeln. Auf dem Weg dahin
machen wir mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht einen großen ersten Schritt in die richtige Richtung. Ich darf mich bei allen bedanken, die an diesem Gesetz
mitgearbeitet haben.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute das erste Migrationspaket der Ampel. Zwei
weitere sollen folgen. Die Ampel bezeichnet das Gesetz selbst als Paradigmenwechsel.
Meine Damen und Herren, in der Tat handelt es sich um einen Bruch mit einer Rechtstradition, nämlich der Unterscheidung einerseits zwischen dem
Asylrecht und andererseits der allgemeinen Migration. In christlicher Verantwortung und humanitär ist es wichtig, dass wir verfolgten Menschen helfen.
Deutschland hat sein großes Herz in den letzten Jahren unter Beweis gestellt und tut das auch aktuell mit der Hilfe und Unterbringung von rund 1 Million
Menschen aus der Ukraine.
({0})
Es muss aber unser Anspruch sein – das ist wichtig –, dass das Asylsystem nicht missbraucht wird. Wenn nicht unsere Gesellschaft und letztlich damit
unser Staat entscheidet, wer zu uns kommt, sondern das der beliebigen Entscheidung eines Einzelnen anheimgestellt wird, dann geben wir letztlich unsere
Staatlichkeit auf und damit auch die Ordnung und Steuerung. Die Aufnahmefähigkeit unseres Landes müssen wir für die Menschen bereithalten, die tatsächlich
verfolgt sind.
({1})
Die Gesamtschutzquote lag in den vergangenen Jahren bei durchschnittlich 40 Prozent.
({2})
Der SPD-Kollege Hakan Demir hat in einer Debatte zutreffend gesagt, dass formale Entscheidungen noch dazukommen, und auch Entscheidungen durch
Gerichtsklageverfahren sind hinzuzurechnen.
({3})
– Sie kommen auf 70 Prozent. – Nehmen wir mal diese 70 Prozent an. Kommen wir zu den Zahlen: Zwischen 2015 und heute sind rund 2 Millionen Menschen zu
uns gekommen und haben erstmalig einen Asylantrag gestellt. Wir können rechnen: 30 Prozent von 2 Millionen Menschen, das heißt 600 000 Menschen, haben unser
System genutzt, haben die Leistungen voll beansprucht. Das können wir uns wirklich nicht mehr länger leisten, meine Damen und Herren.
({4})
Das A und O ist ein funktionsfähiges europäisches Asylsystem. Ich rufe Ihnen von der SPD und den Grünen das heute noch mal zu: Setzen Sie sich in
Brüssel dafür ein, dass das Grenzverfahren, welches die Kommission vorsieht, mit einer Vorprüfung kommt! Das ist das einzige und wirksamste Mittel gegen einen
Missbrauch, ganz wichtig.
({5})
Noch viel wichtiger ist natürlich, dass wir in Deutschland keine Fehlanreize setzen. Und genau dies tut der aktuelle Gesetzentwurf, der die
Bezeichnung „Ampelamnestiegesetz“ verdient hat. Belohnt werden gerade diejenigen Ausländer, die bislang nicht abgeschoben werden konnten, weil sie entweder bei
der Klärung der Identität nicht mitgewirkt haben
({6})
oder sogar aktiv getäuscht haben.
Und jetzt ist auch noch das erklärte Ziel der Ampel, den Asylbewerbern aus Herkunftsstaaten, die regelmäßig gar keinen Anspruch haben, frühzeitig
Integrationsleistungen, frühzeitig Sprachkenntnisse zukommen zu lassen. Sie haben es nicht verstanden.
({7})
Spätestens hierdurch wird das deutliche Signal gesetzt: Jeder kann kommen; wer es geschafft hat, nach Deutschland zu kommen, wird auch bleiben. Genau
deshalb lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion das vorliegende Gesetz ab.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun die Kollegin Kaddor das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe eine gute
Nachricht: Wir sind im Hier und Jetzt angekommen. Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht gehen wir die erste in einer Reihe von modernen Einwanderungsregelungen an
und machen Schluss mit einer Politik der Angst.
Die zurückliegenden Legislaturperioden waren vor allem geprägt von Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts. Wir wenden uns dem Thema dagegen
mit einer positiven Grundhaltung zu und vollziehen somit nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.
({0})
Wir schauen auf die Chancen von Migration, nicht mehr nur auf die Probleme. Wir stellen die Weichen für eine Integrationspolitik der Zukunft – eine,
die um die Herausforderungen weiß, die ein Einwanderungsland mit sich bringt. Wir machen das gut und gerne, auch wenn es nicht leicht ist.
Sobald das Wort „Migration“ fällt, gibt es Fragen, Ängste, Sorgen. Dabei ist Migration eine historische Normalität seit Menschengedenken. Sie ist
nichts Außergewöhnliches, das wie eine Katastrophe über uns kommt. Nicht die Migration ist folglich das Problem, sondern der Umgang damit, meine Damen und
Herren.
({1})
Schauen wir aber ins Land, wissen wir: Die Gesellschaft, die Menschen sind schon oft weiter, viel weiter. Jede vierte Person in diesem Land hat eine
internationale Familienbiografie.
Das Thema wird stets benutzt für Populismus. Es steckt voller Angstmacherei, Mythen, Halbwahrheiten und Lügen – fragen Sie Herrn Merz! Wenn Sie von
der Union nun statt von „Sozialtourismus“ über sogenannte Pull-Faktoren sprechen, dann sollten wir noch einmal klarstellen
({2})
– ich spreche Sie gar nicht an; ist aber auch egal –: Das Chancen- Aufenthaltsrecht lockt sicherlich niemanden mehr hinterm Ofen hervor; denn das
würde bedeuten, erst mal fünf Jahre in der Duldung zu leben, möglicherweise die Familie nicht hierzuhaben und danach ein Jahr lang auf Probe Teil dieser
Gesellschaft zu sein.
({3})
Es geht also darum, Menschen, die bereits hier sind, eine Chance zu geben.
Die Süssmuth-Kommission hat im Übrigen in ihrem Bericht im Jahre 2001 die Abschaffung der Kettenduldung gefordert. Das ist jetzt 21 Jahre her, und nun
machen wir endlich einen großen Schritt in die richtige Richtung.
({4})
Ich komme aus Duisburg, und wir sind Industriestadt. Spreche ich vor Ort mit Vertreterinnen und Vertretern der Stahlbranche oder der IHK, kommen
zahlreiche Beispiele von gutausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die plötzlich in der Abschiebung landen, nachdem sie und ihre Unternehmen sich um
Arbeitsplatz, Wohnung oder Kinderbetreuung gekümmert haben. Das hier, das können wir uns nicht mehr leisten – weder moralisch noch wirtschaftlich.
({5})
Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten geduldete Personen, die seit fünf Jahren straffrei in Deutschland leben,
({6})
endlich eine menschenrechtskonforme Perspektive. Das betrifft über 240 000 Menschen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, die aber auch nicht in ihre
Heimat zurückkehren können, weil dort beispielsweise Krieg herrscht, die Taliban oder Diktatoren herrschen und regieren. Das bedeutet, sie sind in der Regel für
wenige Monate vor einer Abschiebung geschützt; danach wird erneut geprüft. Diese entwürdigende Praxis werden wir gemeinsam in der Ampel endlich beenden.
({7})
Mit diesem Aufenthaltsrecht auf Probe haben die Betroffenen die Chance, die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis auf Dauer zu erbringen. Das
ist ein langersehnter Meilenstein in der Asylpolitik; denn damit ermöglichen wir einen Spurwechsel: Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, aber bisher
kein Asyl erhalten haben,
({8})
bekommen eine Chance.
Ganz nebenbei gewinnen wir somit auch zehntausend motivierte Arbeitskräfte, die unser Land so dringend benötigt.
({9})
– Sie können so lange reinschreien, wie Sie wollen; es nützt Ihnen nur nichts. – Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht leisten wir also einen Beitrag gegen
den Arbeitskräftemangel.
({10})
Gerade Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen werden von der Neuregelung profitieren.
({11})
Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen sich nicht mehr fragen, ob ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Duldung womöglich von heute auf
morgen abgeschoben werden müssen. Rund 130 000 Menschen, die länger als fünf Jahre hier leben und geduldet sind, können direkt von dieser Regelung profitieren.
Viele Geduldete, die jahrelang in Angst vor einer Abschiebung leben mussten, erhalten endlich die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht.
({12})
Zu einem pragmatischen Verfahren im Aufenthaltsrecht gehört dann eben auch das Prinzip „Ausbildung statt Abschiebung“ – eine Win-win-Situation für
alle Beteiligten.
({13})
Am Ende noch ein Wort zu all jenen
({14})
– jetzt bin ich mal dran –, die Migration für rechten Populismus missbrauchen; also fühlen Sie sich ruhig angesprochen. Als weiteren großen Schritt
braucht es ein gutfunktionierendes Einwanderungsgesetz, wie es die Ampelkoalition ebenso anstoßen wird. Deshalb werden wir unter anderem sowohl das
Staatsangehörigkeits- als auch das Familien- und auch das Einwanderungsrecht reformieren. Wir wollen auch das Asylprozessrecht reformieren und damit eine
unabhängige Asylverfahrensberatung einführen. Wir verstehen Vielfalt als Chance und gleichzeitig als Ressource auf dem Arbeitsmarkt.
({15})
Und ja, wir wissen um die krisenhafte Zeit, in der wir uns gerade befinden. Aber eine Bewältigung dieser Zeit auf Kosten von Humanität ist für uns
inakzeptabel und menschenverachtend.
({16})
Ich freue mich also, dass wir in der Gegenwart angekommen sind und uns endlich zu unserem Einwanderungsland bekennen – einfach, weil wir eines
sind.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gottfried Curio für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das neue Gesetz, das die Bedingungen für eine Aufenthaltserlaubnis aufweicht, hat den Zweck,
abgelehnte Asylbewerber, die trotzdem – unter einer Reihe bekannter Vorwände – nicht abgeschoben/geduldet werden, nun nach fünf Jahren endgültig Deutschland
aufzubürden. Dieser sogenannte Chancen-Aufenthalt soll Deutschland endgültig die Chance nehmen, Asylbetrüger irgendwann auch mal wieder loszuwerden.
Was sind die Bausteine dieser Ruchlosigkeit? Bei der Aufrechnung dieser Mindestaufenthaltsdauer waren bislang Zeiten nicht enthalten, in denen der nur
geduldete Migrant – der also keinen Asylgrund nachweist – seine Identität gegebenenfalls verschleiert, womit er das eigentlich angezeigte Abschiebezielland
verheimlicht. Diese Zeiten der bewussten Verschleierung der eigenen Identität werden künftig als Warteleistung auf der Uhr bis zur dauerhaften
Aufenthaltserlaubnis angerechnet. Überhaupt soll künftig ungeklärte Identität kein absolutes Hindernis mehr sein. Wahrlich ein Fortschritt – nur nicht für
Deutschland, nur nicht für Freunde der Rechtsstaatlichkeit, meine Damen und Herren.
({0})
Im gleichen Sinne werden noch weitere Hürden für die Aufenthaltserlaubnis geschleift. Hat man sich etwa einer geplanten Abschiebung durch zeitweises
Untertauchen entzogen, so war das früher ein No-Go; ab sofort ist das aber kein Problem mehr. Rechtsbrecher werden von dieser Regierung belohnt. Das ist nur
konsequent, wo es darum geht, abgelehnte Asylbewerber – also Leute ohne Asylgrund – hierzulande trotz allem zu verstetigen. Da ist Fluchtpunkt aller Regelungen
natürlich der Erfolg der Täuschung, der Lohn der Lüge.
({1})
Meine Damen und Herren, warum etwa sollen Asylbewerber bis 27 schon nach drei Jahren hier in den permanenten Aufenthalt übergehen? Ganz einfach: Asyl-
und Klageverfahren dauern typischerweise gerade etwas länger. So wird hier, just bevor ein Gericht über das tatsächliche Bestehen oder Nichtbestehen des
Schutzanspruchs geurteilt hat, noch eilig ein Aufenthaltsrecht gezimmert – das Urteil des Rechtsstaats könnte da womöglich stören.
Integrationskurse sollen bislang natürlich nicht finanziert werden für Fälle absehbarer Nichtanerkennung, etwa für Bewerber aus sicheren
Herkunftsländern. Auch hier sollen nun Integrationstatbestände auf dem Papier ermöglicht werden. Offensichtlich einziger Zweck: nachfolgend dann die eigentlich
kontraindizierte Anerkennung doch noch irgendwie durchzudrücken. Wenn die Deutschen sich das Heizen nicht mehr leisten können, wird ihr Steuergeld für Illegale
verheizt.
({2})
Der von der Regierung zur Legitimierung von Unrecht immer gerne beigebrachte Argumentationspassepartout eines Fachkräftemangels ist bei
millionenfacher europäischer Jugendarbeitslosigkeit und einer Viertelmillion arbeitslosen anerkannten Asylbewerbern – plus 400 000 erwerbsfähigen Ukrainern –
natürlich ein Witz, allerdings ein schlechter, ja eigentlich eine Verhöhnung aller dieser „normalen“ Arbeitslosen, denen hier ausgerechnet importierte
Asylbetrüger gegebenenfalls vorgezogen würden.
({3})
Chancen-Aufenthalt? Die Regierung nimmt hier allein die Sicht abgelehnter Ausländer ein, die eine Chance haben, es sich in Deutschland gutgehen zu
lassen. Die Prioritäten sind klar: Deutsche Interessen sind es nicht.
({4})
Übrigens: Wollen Sie denn Menschen in ein Land locken, wo Energie und Wohnraum knapp ist, nicht vorhanden ist, wo nicht mehr geheizt und nur noch kalt
geduscht werden darf, wenn es nach den Grünen geht? Ähnelt das nicht den menschenunwürdigen Bedingungen, deretwegen Gerichte Abschiebungen etwa nach
Griechenland verbieten? Die Stellungnahme des Landkreistags bestätigt, dass der betroffene Personenkreis kein Interesse an der Erfüllung der gesetzlichen
Mitwirkungspflicht habe oder sich jemals ernsthaft integrieren wolle; Verweilgrund in Deutschland sei ausschließlich wirtschaftliche Vorteilsnahme.
Aber statt auf feministische Außenpolitik setzt Frau Faeser eher auf antifeministische Innenpolitik und will Zuwanderergruppen unbedingt im Land
belassen, die überproportional oft Gewalt- und Sexualdelikte verüben. Man fragt sich langsam: Produziert die Ampel in der Energiefrage womöglich absichtlich so
viel Murks, um davon abzulenken, was für verheerende Pläne Sie in der Migrationspolitik haben?
({5})
Diese Chancen gehen alle nur zulasten Deutschlands, meine Damen und Herren, und deshalb muss es dabei bleiben: Keine Laufzeitverlängerung für
Illegale!
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Thomae das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach so vielen schrillen Tönen will ich doch noch mal versuchen, herauszustellen
bzw. herauszuarbeiten, worin die Chancen bestehen und worin der Paradigmenwechsel eigentlich liegt, den die Koalition plant.
Wir wollen in Zukunft mehr reguläre Immigration und weniger irreguläre Migration bei uns haben. In der Zukunft wollen wir eine klarere Trennung haben.
Wer Schutz und Hilfe von uns benötigt, der soll sie auch bei uns finden.
({0})
Wer Arbeit oder Ausbildung bei uns sucht, dem wollen wir ein besseres Angebot unterbreiten; denn der Bedarf an Arbeitskräften bei uns ist groß.
Aber wenn auf jemanden weder das eine noch das andere zutrifft, dann müssen wir auch konsequent auf der Ausreise bestehen und sie nötigenfalls auch
konsequenter als bislang durchsetzen.
({1})
Das ist der Paradigmenwechsel.
Das Problem ist, dass in der Vergangenheit diese klare Trennung und diese konsequente Umsetzung eben nicht stattgefunden haben. Deswegen leben zurzeit
136 000 Menschen seit mehr als fünf Jahren in einem Duldungsstatus bei uns; sie hängen im Sozialsystem fest, verlieren vor sich selbst und auch vor ihren
Kindern an Achtung und gewinnen nie die Akzeptanz und die Anerkennung der Menschen in diesem Land. Sie sind, kurz gesagt, nie so richtig angekommen.
({2})
Gleichwohl reisen sie seit Jahren auch nicht aus, und auch Ihnen ist es nie gelungen, die Ausreise durchzusetzen.
({3})
Das sind Menschen, deren Kinder Deutsch besser sprechen als die Sprache ihrer Eltern und Großeltern, Kinder, in denen eigentlich viel
Integrationspotenzial steckt. Diese Potenziale zu heben, das muss doch unsere Aufgabe sein.
({4})
Wir wollen, dass diese Menschen dann eben auf eigenen Beinen stehen, dass sie ihr Leben auch bei uns selber in die Hand nehmen. Mit einem Wort, meine
Damen und Herren: Wir wollen in diesem Land aus Hilfeempfängern Steuerzahler machen.
({5})
In der Vergangenheit kosteten sie uns Geld. Wir wollen, dass sie einen Beitrag zum Gelingen unserer Gesellschaft leisten können und auch wieder Würde
finden können.
({6})
Aber natürlich bekommt man nichts auf der Welt einfach so geschenkt; das hat Voraussetzungen: Man muss sich straffrei bei uns im Land verhalten. Die
Identität muss geklärt sein. Man muss wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können. Und wem das eben nicht gelingt, der fällt nach einem Jahr wieder in den
Duldungsstatus zurück und muss dann gegebenenfalls ausreisen.
In Zukunft wollen wir eben nicht mehr – und das ist der andere Teil, der für uns notwendig ist und dazugehört –, dass Hunderttausende von Menschen
jahrelang geduldet sind. Deswegen gehört zum Chancen-Aufenthalt auch noch eine zweite Komponente dazu, die auch noch kommen wird und die beim Innenministerium
in Vorbereitung ist, nämlich die Verfahrensbeschleunigung. Das ist ein integraler Teil unseres Pakets.
Wir wollen, dass künftig Menschen eben nicht mehr jahrelang in diesem Duldungsstatus verharren, und deswegen müssen auch Ausreise und nötigenfalls
Abschiebung konsequent umgesetzt werden. Daher ist im Paket auch enthalten, dass die Abschiebehaft verlängert wird, um die Abschiebungen besser möglich zu
machen. Das ist unsere Kombination aus Humanität, die wir ernst nehmen und wollen, aber auch Kontrolle, die ebenfalls dazugehört, meine Damen und Herren.
({7})
Ich finde es deswegen, Herr Kollege Seif, auch unzutreffend, wenn Sie sagen, wir setzten Fehlanreize, weil wir auch einen klaren Stichtag setzen.
({8})
Der Chancen-Aufenthalt, der heute eingebracht wird, wirkt nämlich nur in die Vergangenheit.
({9})
Er ist mit einem Stichtag versehen, nämlich mit dem 1. Januar 2022, zu dem jemand rückwirkend fünf Jahre im Land sein muss. Er wirkt also nicht in die
Zukunft, und Anreize können doch nur in die Zukunft wirken.
({10})
Deswegen finde ich Ihre Diagnose unzutreffend, Herr Kollege Seif.
({11})
Und weil auch das gerade noch gesagt worden ist: Es kommen dadurch auch nicht mehr Menschen ins Land. Wir sprechen von Menschen, die schon da sind,
die seit Jahren hier bei uns im System hängen. Das sind deswegen auch nicht die Menschen, die die Turnhallen füllen. Vielmehr meinen wir die Menschen, die hier
sind und die wir doch eigentlich brauchen,
({12})
Menschen, die hier einen Beitrag leisten.
Davon profitieren die Verbraucher. Wir erleben doch Tag für Tag, dass Menschen in Dienstleistungsberufen fehlen: im Verkauf, an den Flughäfen, im
Handwerk. Davon profitieren die Arbeitgeber; denn im Moment gelingt es ihnen nicht mehr, Arbeitskräfte zu finden, Ausbildungsplätze zu besetzen. Davon
profitieren natürlich die Geduldeten selber und vor allem auch der Staat.
({13})
Denn jetzt kosten diese Menschen, und künftig sollen sie etwas beitragen.
Deswegen gibt es viele, viele Gründe, das, was wir heute einbringen, auch zu beschließen, es voranzubringen. Daher ist es ein gutes Gesetz, für das
ich mich beim BMI auch herzlich bedanke.
({14})
Für die Fraktion Die Linke hat nun Clara Bünger das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin! Liebe Ampelkoalition! Als ich das Kapitel zu Flucht und Migration in Ihrem Koalitionsvertrag
gelesen habe, war ich erst mal positiv überrascht. Nach einem Jahr muss ich aber feststellen: Von dem groß angekündigten Neustart in der Migrationspolitik, so
wie Sie es auch gesagt haben, Frau Ministerin, kann keine Rede sein.
Diese Kritik kommt nicht nur von mir; auch viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind enttäuscht. Der viel zu unambitionierte Gesetzentwurf für
ein Chancen-Aufenthaltsrecht zeigt deutlich, wo die Probleme liegen. Laut Koalitionsvertrag wollen Sie eigentlich Menschen aus der Kettenduldung rausholen. Mit
dem jetzigen Vorschlag bekommen aber, wie die Bundesregierung selber schätzt, nur etwa 34 000 Menschen ein dauerhaftes Bleiberecht. Das sind nicht besonders
viele gegenüber den mehr als 240 000 Personen, die nur eine Duldung haben und die eigentlich einen Aufenthaltstitel bräuchten.
({0})
Sollen diese Menschen etwa keine Chance erhalten?
Die Anforderungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht sind außerdem viel zu hoch. Zum Beispiel wird erwartet, dass Betroffene nach einem Jahr ihren
Lebensunterhalt sichern, und das, nachdem sie über Jahre hinweg systematisch ausgegrenzt und vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden. Hier bräuchte es
Verlängerungsmöglichkeiten. Das Gleiche gilt auch beim Spracherwerb.
({1})
Enttäuschend ist außerdem, dass Sie den Gesetzentwurf nicht nutzen, um die Identitätsklärung per eidesstattlicher Versicherung einzuführen. Das
verstehe ich wirklich nicht, weil es in Ihrem Koalitionsvertrag so drinsteht. Wenn Sie es wirklich ernst meinen würden, müsste das Gesetz stichtagsunabhängig
gelten. Nur so würde wirklich allen langjährig geduldeten Menschen der Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht eröffnet.
({2})
Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie sich von Friedrich Merz und Co treiben lassen. Kurz nachdem er von „Sozialtourismus“ gesprochen hatte, legte
Innenministerin Faeser nach und sprach sich für eine weitere Abschottung der Grenzen aus. Illegale Migration müsse gestoppt werden. So sieht doch kein
Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik aus!
({3})
Die Worte der Innenministerin klingen für mich eher wie eine Fortsetzung der Politik von Seehofer. Dabei ist vieles, was im Koalitionsvertrag steht,
richtig, zum Beispiel die Erleichterungen beim Familiennachzug. Aber Sie müssen sie auch endlich umsetzen.
Zig Verschärfungen – ich glaube, es waren 15 –, die in den letzten Jahren durchgezogen wurden, sind nach wie vor in Kraft. Das darf so nicht
bleiben.
({4})
Deshalb fordern wir auch in unserem Antrag, dass in einem ersten Schritt die seit 2015 vorgenommenen Verschärfungen im Abschiebungsverfahren
zurückgenommen werden müssen. Das betrifft insbesondere Überraschungsabschiebungen ohne Vorankündigung und den Umgang mit psychisch und physisch kranken
Menschen.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun Dirk Wiese das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem heute eingebrachten Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts
handelt es sich nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern es handelt sich um die Anerkennung von Lebensrealitäten bei uns im Land, die leider von unserem
letzten Koalitionspartner viel zu lange verleugnet worden sind.
({0})
Darum ist es ein guter Tag für viele Menschen bei uns im Land, die bereits lange hier sind, die Teil unserer Mitte sind, die in Dörfern, in
Stadtteilen gut integriert sind.
({1})
Diese Menschen wollen wir aus der Unsicherheit der Kettenduldungen herausholen, ihnen die klare Perspektive geben, dass sie in diesem Land zu uns
dazugehören. Es ist gut, dass wir das heute gemeinsam auf den Weg bringen.
({2})
Ich will das ausdrücklich sagen: Ich bin dem Bundesinnenministerium, der Bundesministerin Nancy Faeser, aber auch den Koalitionsfraktionen der Grünen,
der FDP, aber natürlich auch der Sozialdemokratie dankbar, dass wir das gemeinsam auf den Weg gebracht haben, weil es wirklich gut integrierten Menschen bei uns
im Land eine klare Perspektive gibt. Wir alle kennen doch die Beispiele aus unseren Wahlkreisen, die Meldungen, die wir plötzlich in der Tagespresse lesen, dass
jemand abgeschoben werden soll, der lange im Handwerksunternehmen nebenan gearbeitet hat, der im Wirtschaftsbetrieb gearbeitet hat und plötzlich aus der Mitte
seiner Belegschaftskollegen herausgerissen wird.
({3})
Es betrifft die Kinder, die plötzlich morgens aus der Schule herausgenommen werden. Sie alle leben in der Unsicherheit der Kettenduldungen. Diesen
Menschen, die hier sind, diese Perspektive zu geben, ist richtig.
Ich will das mal deutlich sagen: Genau diese Fälle sind es doch, bei denen auch Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion Briefe schreiben,
({4})
sich beschweren, dass das doch nicht sein kann. Und heute verleugnen Sie diese Lebensrealitäten. Darüber kann ich, ganz ehrlich gesagt, nur den Kopf
schütteln.
({5})
Ich will das noch mal unterstreichen: Es geht um diejenigen, die länger als fünf Jahre hier sind, die nicht straffällig geworden sind, denen wir jetzt
die Chance und Perspektive geben, indem sie zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beitragen und ihre Identität klären, wenn es noch Unklarheiten gibt, weiterhin
Teil unserer Mitte zu sein. Das werden wir jetzt im parlamentarischen Verfahren gemeinsam voranbringen.
Aber es ist völlig richtig: Dies ist nur ein Teil der Vorhaben, die wir in der Ampelkoalition voranbringen wollen. Es geht auch um die Beschleunigung
der Asylverfahren. Es geht auch um die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Und es geht um ein modernes Einwanderungsrecht für dieses Land, das wir
dringend brauchen und das wir eigentlich schon längst hätten haben müssen. Das wollen wir als Ampelkoalition gemeinsam voranbringen.
({6})
Ich sage zum Abschluss ganz deutlich: Genauso richtig ist es, den Zugang zu Integrationskursen bereits von Beginn an zu öffnen, um Grundwerte unserer
Verfassung zu vermitteln, Grundwerte unseres Rechts und unserer Kultur. Und ich kann Ihnen nur eins sagen, Herr Curio: Nutzen Sie so einen Integrationskurs auch
mal für sich als Chance!
({7})
Er kann Ihnen noch mal Grundlagen unserer Verfassung vermitteln, und er kann dazu beitragen, Ihr engstirniges zwölfjähriges Geschichtsverständnis
vielleicht noch mal zu überholen. In diesem Sinne: ein gutes Gesetz, das wir voranbringen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Ampel schafft ein Amnestiegesetz für Menschen, die ausreisepflichtig sind, die
hier keinen Schutzanspruch haben, keines Schutzes bedürfen, sondern deren Ausreisepflicht rechtskräftig bestätigt ist.
({0})
Das hat auch nichts mit Humanität zu tun; denn denen, die Schutz brauchen, geben wir diesen Schutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, Sie führen die Menschen schlichtweg in die Irre.
({1})
Ihr sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht nützt nur einer Personengruppe unter den Geduldeten, nämlich denen ohne geklärte Identität. Alle anderen
Geduldeten haben heute schon die Möglichkeit, zu arbeiten und spätestens nach sechs bis acht Jahren ihr Daueraufenthaltsrecht zu bekommen.
({2})
Nur denjenigen ohne geklärte Identität, die ihren Pass nicht vorlegen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen und wie sie heißen, ermöglichen
Sie das Bleiberecht.
({3})
Im zweiten Migrationspaket kommt dann, Frau Ministerin, mit Sicherheit die eidesstattliche Erklärung, die ausreicht, sodass dann genau diese
Personengruppe sagen kann: Ich heiße so und so, ich komme da und da her. – Und dann müssen wir das glauben. Das ist ein großes Sicherheitsrisiko. Sie führen die
Menschen hier in die Irre, Herr Kollege Thomae.
({4})
Und natürlich wirkt das Gesetz rückwirkend. Für die Zukunft brauchen Sie das auch gar nicht mehr; denn Sie schaffen ja weitere Bleiberechte für
Erwachsene, aber insbesondere für sogenannte Jugendliche. Und jugendlich ist man laut der Ampel im aufenthaltsrechtlichen Sinn zukünftig bis zum zarten Alter
von 27 Jahren.
({5})
Bis zum Alter von 27 Jahren kann das Privileg genutzt werden, als sogenannter Jugendlicher hier ein Bleiberecht zu erhalten.
({6})
Das ist wirklich keine geordnete Migrationspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn man weiß, dass 2021 73 Prozent aller Asylanträge von Menschen
bis 29 Jahren – so ist die Statistik halt – gestellt wurden, dann wissen Sie, was dies in Zukunft für eine Öffnung hier in Deutschland bedeutet. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen, dass es zukünftig heißt: Jeder, der irgendwie nach Deutschland kommt, kann auch hier bleiben, egal ob er Schutzanspruch
hat oder nicht.
({7})
Kollege Throm, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Aber immer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Schön, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Wir ermöglichen mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht
130 000 Menschen in diesem Land, die hier eine Perspektive suchen, eine echte Perspektive. Wir beide kommen aus dem gleichen wirtschaftsstarken Bundesland
Baden-Württemberg und stellen da an allen Orten fest, dass wir einen heftigen Personalmangel haben,
({0})
egal ob es beim Handwerker ist, beim Friseur, in der Gießerei oder in der Härterei. Überall gibt es Fachkräftemangel, Arbeitskräftemangel.
Zu meiner Frage. Wenn ich bei mir mit Betrieben spreche, dann höre ich immer wieder, dass sie das Chancen-Aufenthaltsrecht gut finden. Auch die IHK
hat ausdrücklich gesagt, dass das eine gute Sache ist.
({1})
In meinem Wahlkreis gibt es viele Betriebe, die es gut finden, dass Menschen, die an der Werkbank stehen, aber nur geduldet sind, dadurch bleiben
können und ihren Arbeitsplatz dauerhaft behalten und damit auch den Wirtschaftsstandort Deutschland bzw. bei uns Baden-Württemberg unterstützen. Meine Frage an
Sie: Haben Sie in Ihrem Wahlkreis auch solche Betriebe?
({2})
Herr Kollege, ich kenne die Diskussionen auch; aber bei mir im Wahlkreis werden Fachkräfte gesucht.
({0})
Das ist nicht die Personengruppe, um die es heute in Ihrem Gesetz geht.
({1})
Sie schaffen damit Anreize für Un- und Minderqualifizierte,
({2})
und das ist nicht die Personenklientel, die zukünftig unsere Volkswirtschaft und unsere Betriebe rettet. Deswegen ist es das völlig falsche Signal,
das Sie hier aussenden.
Herr Kollege, auch dazu, was Herr Thomae gesagt hat – man möge jetzt legale Wege schaffen, damit man nicht mehr illegal nach Deutschland kommen
müsse –:
({3})
Glauben Sie denn wirklich, dass dann, wenn Sie mit einem Gesetz zusätzliche legale Wege schaffen,
({4})
zukünftig die anderen irgendwo auf der Welt sagen: „Oh, die Ampel hat hier jetzt legale Wege geschaffen; ich falle aber nicht darunter, dann bleibe
ich mal zu Hause sitzen“?
({5})
Die kommen zusätzlich. Sie schaffen weitere Anreize.
({6})
Insbesondere die FDP ist hier bei ihrer Wählerklientel irreführend unterwegs.
({7})
Herr Kollege Thomae, aus meiner Heimatstadt Heilbronn kam Theodor Heuss. Wir haben eine lange liberale Tradition. Wenn ich aber mit Menschen in meinem
Wahlkreis, die der FDP zuneigen, über dieses Gesetz spreche und sie darüber aufkläre, was da wirklich drinsteht, dann haben sie kein Verständnis. Sie machen das
Projekt „5 Prozent“, aber von oben nach unten. Sie arbeiten an Ihren Wählerinnen und Wählern vorbei.
({8})
Letzte Bemerkung: Rückführungsoffensive. Das ist eine Farce. Denn wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, dann bleiben zum Schluss nur noch Straftäter
übrig, die abgeschoben werden müssen. Allen anderen gewähren Sie dauerhafte Bleiberechte.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Robert Farle.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist nichts anderes als die schrittweise Legalisierung
illegaler Migration.
({0})
Anstatt die geltende Rechtslage mit Abschiebungen nach abgelehntem Asylantrag durchzusetzen, kommt ein Gesetz, das über die Zeitschiene den gültigen
Rechtsrahmen endgültig aushebelt. Ein beispielloser Fall dafür, dass der Bundestag mit einer neuen Gesetzgebung bestehendes Recht aushebelt – selbst
aushebelt!
({1})
Das ist so, als ob sich jemand ohne Ticket in einen Zug setzt, und wenn der Schaffner kommt, heißt es: Der Schwarzfahrer ist schon so lange im Zug
gefahren, dass er sich das Recht auf eine legale Weiterfahrt erworben hat.
({2})
Die Kette lautet: Auf die illegale Einreise folgt ein abgelehnter Asylbescheid. Dann folgt die Duldung mit Arbeitserlaubnis, dann der Einstieg in
Hartz IV, dann ein Bleiberecht, und schließlich folgen die Einbürgerung und das Wahlrecht.
Eine Kurzbeschreibung von Deutschland im Jahr 2022 lautet: Wer Geld hat, der wandert aus. Wer kein Geld hat, der wandert ein, und zwar in unser
Sozialsystem.
({3})
Warum kommen die hochqualifizierten Fachkräfte nicht zu uns?
({4})
Zu der Sprachbarriere kommen die niedrigen Verdienstmöglichkeiten. Die vergleichsweise niedrigen Bruttolöhne treffen auf die höchsten Steuern und
Sozialabgaben in der Welt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Und jetzt kommt auch noch die Deindustrialisierungspolitik der Ampel.
Meine Damen und Herren, lehnen Sie diesen Gesetzentwurf ab, weil er Deutschland endgültig vor die Wand fährt.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Helge Lindh das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welchen Sinn macht es, eine sechsstellige Zahl von Personen – rechtschaffen, gut
integriert –
({0})
jahrelang, manchmal sogar jahrzehntelang, in einem Zustand der Unsicherheit zu lassen, teilweise abhängig von sozialen Sicherungsleistungen, teilweise
mit Arbeitgebern – wenn sie denn arbeiten können –, die in demselben Unsicherheitszustand sind – ohne sicherheitspolitischen Mehrwert, ohne Mehrwert für die
Identitätsklärung und ohne realistische Perspektive der Rückkehr? Welchen Sinn macht das?
({1})
Ich glaube, es macht keinen Sinn.
({2})
Welchen Sinn macht die Fortschreibung einer Blockade und eines Selbstbetruges? Keinen Sinn. Deshalb ist dieser Moment durchaus ein historischer.
({3})
Deshalb bin ich ausgesprochen dankbar für den Gesetzentwurf der Ministerin. Wir als Koalition werden diesen Gesetzentwurf durchbringen und damit
endlich ein Gesetz des gesunden Menschenverstandes durchsetzen; denn darum geht es hier.
({4})
Die Menschen, um die es geht, haben keine großen migrationspolitischen Fragen oder Open Borders oder sonst etwas auf der Agenda. Ihre Agenda ist ihr
eigenes Leben. Sie wollen hier einfach vernünftig leben können; denn sie sind Mitglieder dieser Gesellschaft. Aber bisher dürfen sie es nicht sein. Das ist der
Skandal, an dem wir arbeiten und den wir ändern werden.
({5})
Wir zeigen mit diesem Chancen-Aufenthaltsrecht, das eine Brücke zu einem verbesserten Bleiberecht ist, dass Pragmatismus oft auch der bessere
Idealismus ist. Gleichzeitig zeigen wir, dass Ihre Pull-Faktor-Ideologie absoluter Blödsinn ist. Ihr dauerhaftes Gerede vom Pull-Faktor – ich spreche von der
CDU und allen anderen, die das tun – führt zu Wählerstimmen für die AfD. Das ist der einzige funktionierende Pull-Faktor in diesem Zusammenhang.
({6})
Wir aber tun etwas, das sowohl volkswirtschaftlich als auch migrationspolitisch als auch integrationspolitisch als auch humanitär und – hören Sie
genau zu – sicherheitspolitisch sinnvoll ist
({7})
und fundamentale Fortschritte bringt.
({8})
Dann kommen wir doch – ich bin ja immer allergisch, was Doppelzüngigkeit und Bigotterie betrifft –
({9})
zur CDU. Sie sprachen ja wiederholt – Herr Seif, Herr Throm – vom „Ampel-Amnestiegesetz“.
({10})
Ich würde es eher das „CDU-Amnesiegesetz“ nennen.
({11})
Warum? Ihr eigener Ministerpräsident – des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, in dem die meisten Geduldeten leben, zugleich auch Landesvorsitzender
des größten Landesverbandes der CDU – fordert im Koalitionsvertrag der von ihm geführten Regierung explizit – ich zitiere –,
({12})
„alle humanitären und aufenthaltssichernden Bleiberechtsregelungen so auszuschöpfen, dass gut integrierte geduldete Geflüchtete eine Bleibeperspektive
erhalten.“
({13})
Er fordert uns explizit auf, entsprechende gesetzliche Regelungen zügig zu vollziehen, und er hat eine Vorgriffsregelung getroffen. Ihr eigener
Ministerpräsident tut das.
Deshalb stelle ich abschließend die Frage: Entweder ist das, was Sie hier vorführen, ein riesiges Schauspiel,
({14})
oder Sie haben, wenn Sie es so ernst meinen, einen fundamentalen Dissens, einen Bruch in der Migrationspolitik innerhalb der CDU. Klären Sie das
bitte, und belästigen nicht uns damit!
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Matthias Helferich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Laut der Teso-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist es die Aufgabe aller
Verfassungsorgane, die Identität des deutschen Staatsvolkes als Träger des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts zukunftsgerichtet auf Dauer zu bewahren.
Hierzu dient das Aufenthaltsgesetz, dessen Telos in der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung im Sinne Deutschlands liegt. Ihr Chancen-Aufenthaltsrecht
richtet sich aber nicht nach deutschen Interessen, sondern trägt dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten Ausländer nach einer
Aufenthaltsperspektive Rechnung.
({0})
– Frau Kaddor, anstatt dazwischenzuquatschen, sollten Sie sich mal lieber bei den Opfern von Ludwigshafen entschuldigen.
({1})
Das sind die Opfer Ihrer mörderischen Migrationspolitik.
({2})
Wer es in fünf Jahren nicht geschafft hat, Arbeit, Sprachkenntnisse oder Identität nachzuweisen, hat nicht den Aufenthalt, sondern die sofortige
Abschiebung verdient.
Bereits in Ihrem Gesetzentwurf vernebeln Sie die Realitäten in unserem Land. Sie behaupten einfach, Geduldete seien mehrheitlich gut integriert.
„Chancen für den Arbeitsmarkt“, „Transformation“, „Perspektive“ – die linke Seite dieses Hauses will die gescheiterte Zuwanderungspolitik Deutschlands mittels
Sprechverboten und Orwell’scher Wortneuschöpfung verschleiern. Doch was wir brauchen, sind nicht immer neue Verschleierungstaktiken. Was wir brauchen, ist ein
migrationspolitischer Neuanfang in diesem Land: den Willen, das Recht endlich durchzusetzen, den Willen, abzuschieben, den Willen, den Großangriff auf die
Identität unseres Staatsvolkes zu stoppen.
Vielen Dank.
({3})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Kolleginnen und Kollegen! Zuallererst, Herr Kollege Lindh, darf ich Ihre Aussage korrigieren und zur Wirklichkeit
zurückkommen. Ministerpräsident Wüst hat sich zu keinem Zeitpunkt für dieses Gesetz ausgesprochen. Der Herr Ministerpräsident Wüst hat in seinem
Koalitionsvertrag vereinbart, dass man sich gemeinsam für eine humanitäre Migration ausspricht.
({0})
– Lesen bildet, Herr Lindh, so ist es. Humanitäre Migration ist es nicht, ein Gesetz zu schaffen, das illegale Migration über das Mittelmeer
anzieht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Lindh, noch etwas: Sie sprachen von einem historischen Vorgehen.
({2})
Das ist in der Tat so: Es ist ein historischer Fehler, der heute hier passiert. Es ist ein Spurwechsel, wie wir ihn immer korrekterweise vermieden
haben, weil wir gerade keine illegale Zuwanderung möchten.
({3})
Es ist eine verkappte Stichtagsregelung – Sie hatten schon das Wort –,
({4})
ein Einstieg in den Aufenthalt von illegal vor 2017 Eingereiste, unabhängig davon, ob sie die Chance genutzt haben, hier zu ihrem Lebensunterhalt
selbst beizutragen, und unabhängig davon, ob sie sich an der Klärung ihrer Identität beteiligt haben.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist eine absichtliche Vermischung von kurzfristigen Arbeitsmarktinteressen – und im Übrigen einer offenkundig völlig
missglückten Vermittlungspolitik der Agentur für Arbeit – und illegaler Zuwanderung. Nur damit wir mal wissen, von welchen Personen wir sprechen – ich habe mir
die aktuellen Daten noch mal geholt –:
({6})
Diese Personen, die arbeiten dürfen, sind zu exakt 47,8 Prozent arbeitslos gemeldet. Nichts mit Personen, „die den Handwerkern fehlen“. Ja, sie fehlen
ihnen schon, weil sie nicht arbeiten möchten oder es nicht können mangels Ausbildung.
({7})
Und meine Damen und Herren, es ist auch vollkommen überflüssig: Sie reden von Chancen. Diese Chancen bietet das so genannte
Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Dieses sehr gut gelungene Gesetz
({8})
hat einen Flaschenhals, und dieser Flaschenhals sind die Termine im Auswärtigen Amt. Die fehlen. Und dieses Auswärtige Amt – weil Sie immer so gerne
die Jahreszahlen zitieren –
({9})
wird seit 1. Dezember 1966 – für die, die nicht rechnen, sondern nur schreien können: das sind 56 Jahre – ausschließlich von Politikern der Ampel
geführt.
({10})
Deswegen, meine Damen und Herren, wollen wir dieses Gesetz nicht. Wir möchten diesen Zuzug nicht haben.
({11})
Denn diejenigen, die Sie meinen, haben mit der eklatanten Missachtung ihrer Ausreiseverpflichtung und der Nichtklärung ihrer Identität genau bewiesen,
was sie nicht tun, nämlich sich in unsere Rechtsordnung zu integrieren.
Ich danke Ihnen.
({12})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe sechs Gäste! Seit Juni erhalten erwerbsfähige Geflüchtete aus der Ukraine und ihre
Familien nicht mehr Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die höheren Hartz‑IV-Leistungen vom örtlichen Jobcenter. Dieser sogenannte
Rechtskreiswechsel war gut gemeint, aber im Ergebnis unfair und wirkt im übertragenen Sinne wie ein Zuwanderungsmagnet. Den wollen wir abstellen, und genau
darum geht es in diesem Antrag.
Der Durchschnittslohn in der Ukraine betrug vor Kriegsbeginn 328 Euro. In Deutschland beträgt der Hartz‑IV-Regelbedarf für Alleinstehende aktuell
449 Euro; das ist also schon wesentlich mehr.
({0})
Dazu kommen noch Leistungen für Wohnung und Heizung, Kita, GEZ, Bildungs- und Teilhabeleistungen und natürlich das Inklusivpaket der gesetzlichen
Krankenversicherung. Das kommt alles noch obendrauf.
({1})
Weil das alles technische Begriffe sind: Von welcher Größenordnung reden wir da? Für eine Familie mit drei Kindern macht das im Monat bis zu
2 600 Euro netto; bei einer Familie mit fünf Kindern sind wir schon bei 4 000 Euro netto im Monat. Alles Steuergelder, für die sich Millionen deutsche
Arbeitnehmer jeden Morgen aus dem Bett quälen und im Job abrackern, um anschließend vom Staat wie Zitronen ausgepresst zu werden.
({2})
Der durchschnittliche Ukrainer, der im Gegensatz zu unserer Bundesregierung rechnen kann, wird von derartigen Sozialleistungen geradezu magnetisch
angezogen,
({3})
und so rechnet die Bundesregierung bis Ende des Jahres auch mit rund 750 000 neuen ukrainischen Hartz-IV-Empfängern.
({4})
Das ist mehr als die Bevölkerung von Magdeburg, Mainz und Kiel zusammengenommen; damit man auch da mal eine Größenordnung vor Augen hat.
({5})
Im Übrigen ist das kein Vorwurf an die Ukrainer, die vor Krieg fliehen.
({6})
Wer würde diese Chance auf Rundumversorgung nicht ergreifen?
({7})
Es ist aber ein Vorwurf an die Ampelregierung und ‑koalition, die solche Sozialstaatsmagneten überhaupt erst in Gang setzen.
({8})
Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages und, soweit ich weiß, kein Mitglied der AfD, sagte erst kürzlich dazu:
Dadurch, dass ukrainische Flüchtlinge direkt die besseren Leistungen von den Jobcentern bekommen, werden falsche Anreize gesetzt. Im Ergebnis führt
das zu mehr Zuwanderung nach Deutschland, auch von Menschen, die bereits in anderen Staaten Zuflucht gefunden haben.
Na, siehe da! Und so sehen wir neben Ukrainern, die direkt aus der Ukraine zu uns kommen, auch Ukrainer, die aus Spanien, aus Tschechien, aus Italien
zu uns kommen. Obwohl sie dort registriert, untergebracht und in Sicherheit waren, haben sie sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Was ist das eigentlich
anderes als Asyltourismus? Und genau diesen Asyltourismus wollen wir nicht.
({9})
Ein System wie das, das hier etabliert wurde, das zu Missbrauch einlädt, ist ein schlechtes System – ganz offensichtlich. Und da reden wir noch nicht
mal von den Sozialtouristen, also denen, die herkommen, wieder wegfahren und wieder herkommen, die Herr Merz neulich entdeckt hat, aber nach einem links-grünen
Mini-Shitstorm gleich wieder vergessen hat.
({10})
Herr Merz ist übrigens das Paradebeispiel dafür, dass man beim Kriechen auch noch stolpern kann.
({11})
Die FlixBusse von und nach Kiew sind voll und fahren fast rund um die Uhr. Und wer ein Abonnent des Newsletters von FlixBus ist, der hat heute das
bekommen:
({12})
„Tickets nach Kiew gehen weg wie warme Semmeln!“, steht da oben drüber, „Verpasse nicht Deine Chance!“ Und ganz unten ein schönes Bildchen mit dem
Satz: „Dein nächstes Abenteuer wartet auf Dich …“ – So viel zum Sozialtourismus.
({13})
Wer von den Fahrgästen seine Großmutter besucht oder wer nur zum Beantragen von Sozialleistungen kommt, wissen wir leider nicht; es gibt ja keine
Grenzkontrollen mehr. Es gibt auch keinen Abgleich der Daten bei den Sozialämtern und Jobcentern.
({14})
Als AfD sagen wir hier ganz klar: Echte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine brauchen Schutz – keine Frage. Wir sagen aber Nein zu Fluchttourismus durch
halb Europa, und wir sagen Nein zu bevorzugter Behandlung auf Kosten der deutschen Steuerzahler.
({15})
Wir fordern daher die sofortige Abschaltung dieses Sozialstaatsmagneten, der Menschen geradezu dazu animiert, in den FlixBus zu steigen. Wir fordern
außerdem die Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen für Asylbewerber, damit Migrationsanreize gesenkt werden und der Missbrauch effektiv unterbunden
wird. Aufgabe der Regierung ist es nämlich nicht, Fremde großzügig zu alimentieren, sondern die Bewahrung des deutschen Sozialstaates auch für zukünftige
Generationen.
({16})
Vor allem aber ist es Aufgabe der Bundesregierung, sparsam mit dem Steuergeld der deutschen Steuerzahler umzugehen.
({17})
Und wer sich wie Frau Baerbock in erster Linie der ukrainischen Bevölkerung verpflichtet fühlt, der soll sich in der Ukraine um ein Amt bewerben, aber
nicht in Deutschland.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Rasha Nasr für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede mit nicht weniger als
Artikel 1 unseres Grundgesetzes beginnen, einfach weil die antragstellende Fraktion es offenbar immer noch nicht verstanden hat. Da steht: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar“, und nicht: Die Würde der Deutschen ist unantastbar.
({0})
Wir alle, die wir hier sitzen, haben unfassbares Glück, deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu sein. Das gibt uns aber nicht das Recht,
Menschen in „unterstützenswert“ oder „nicht wertvoll“ zu kategorisieren. Doch genau das wollen Sie mit Ihrem Antrag im Kern. Nur weil man deutsche
Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger ist, werte Kolleginnen und Kollegen der AfD, heißt das nicht, dass man ein besserer Mensch ist.
({1})
Sie haben ein riesiges Glück, in diesem Land zu leben. Sie werden nämlich nicht dazu gezwungen, Ihre Heimat zu verlassen, weil bei Ihnen zu Hause die
Bomben fallen. Sie werden auch nicht aufgrund Ihrer politischen Überzeugungen, Ihrer sexuellen Orientierung oder Ihres Glaubens verfolgt. Ein bisschen Demut
würde Ihnen ganz guttun. Sie leben in einem freien Land, in dem Sie sich frei bewegen und Ihre Meinung frei äußern können. Das hat dann eben auch zur Folge,
dass wir Anträge wie diesen heute debattieren müssen –
({2})
immer wieder, wie mir scheint; denn immer wieder halten Sie uns mit diesen sinnfreien Anträgen auf.
Deswegen will ich eigentlich gar nicht weiter auf den Inhalt dieses Antrags eingehen; denn es nützt ja nichts. Wir können es kurz machen: Sie fordern,
den Ukrainerinnen und Ukrainern die Leistungen nach dem SGB II zu streichen und ihnen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu geben, aber auch da
wollen Sie gleich noch kürzen – am besten nur noch Sachleistungen für alle –, alles noch ein bisschen garniert mit Vorurteilen und Hetze – fertig ist der
AfD-Antrag.
Auch wenn Sie das immer anders darstellen wollen, bin ich der festen Überzeugung: Sie hassen Deutschland und die Menschen, die in diesem Land
leben.
({3})
Sie wollen, dass es den Menschen in diesem Land schlecht geht und dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Sie wollen die Stimmung doch
nur noch weiter aufheizen und spielen dafür ein gefährliches Spiel mit den Ängsten der Menschen. Sie sollten sich schämen; denn Sie wollen, dass es allen
schlecht geht.
({4})
Das verrät nicht nur Ihre rechtspopulistische Hetze. Das verraten Sie auch gerne mal selbst in Ihren Chatgruppen oder wenn Mikros bei irgendwelchen
Livestreams nicht rechtzeitig wieder ausgemacht werden.
({5})
Sie haben weder Lösungsvorschläge, noch haben Sie Interesse an Lösungen. Sie wollen, wie der treue Putin-Fanklub das nun eben will, weiter munter
Stimmung gegen unsere Demokratie machen. Sie versuchen nicht mal mehr, Ihre Kreml-Abhängigkeit zu vertuschen. Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?
({6})
Heute zeigen Sie mal wieder, dass Sie Ihre Verantwortung als Abgeordnete dieses Hauses meilenweit verfehlt haben. Was Sie hier heute machen, ist mal
wieder arm, billig und dieses Hohen Hauses einfach unwürdig.
({7})
Nachdem ich Ihrem Kollegen Springer gerade zugehört habe – und glauben Sie mir, es fiel mir schwer –, mache ich mir wirklich Sorgen um ihn, um Sie
alle. Mein Kollege Martin Diedenhofen hat Sie letztens zu Recht gefragt, ob Sie sich eigentlich noch spüren. In der Ukraine herrscht Krieg. Die Menschen fliehen
vor einer russischen Armee, die systematisch Kriegsverbrechen in Form von Folter, Vergewaltigung oder Deportation einsetzt. Sie würden die Ukraine doch sofort
opfern und Putin zum Fraß vorwerfen. Dass diejenigen, die alles verloren haben, jetzt auch noch für Ihre Hetze herhalten müssen, ist unterirdisch.
({8})
Wie, bitte schön, kann man auf jemanden neidisch sein, der alles verloren hat?
({9})
Wie kann man so eine Denke hier auch noch vortragen und Menschen gegeneinander ausspielen? Darauf muss man erst mal kommen.
Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Dresdnerin. Ich bin eine stolze ostdeutsche Frau. Aber ich weiß sehr wohl, dass es immer noch Unterschiede gibt,
vor allem, wenn wir uns das Lohngefüge anschauen. Viele ostdeutsche Arbeitnehmer/-innen profitieren zum Beispiel vom Mindestlohn – allein bei mir in Dresden
über 51 000 Menschen.
Viele Ostdeutsche haben nach der Wiedervereinigung schlechte Erfahrungen gemacht, haben gebrochene Erwerbsbiografien, sind skeptisch bei
Veränderungen. Diese Unsicherheit und dieses Skeptischsein haben Sie schamlos ausgenutzt. Sie haben den Menschen vor Ort schon 2015 Angst eingejagt und ihnen
eingeredet, Geflüchtete würden ihnen alles wegnehmen. Das machen Sie jetzt schon wieder. Das ist so unanständig. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist
auch unser Land. Und wir sind mehr als Sie.
({10})
Sie haben nichts vorzuweisen außer den immer gleichen einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Und meistens sind es in Ihrer verdrehten, kleinen Welt
die Geflüchteten, die an allem schuld sind.
({11})
Es ist unfassbar, dass man das hier immer noch sagen muss: Wenn Menschen ihre Heimat verlieren, dann ist es unsere oberste Pflicht, ihnen Schutz und
Zuflucht zu gewähren. Dieser Tage, dieser Monate werden die Ukrainerinnen und Ukrainer im wahrsten Sinne des Wortes aus ihrem Land herausgedrückt. Und Sie
schwafeln hier irgendwas von Pull-Faktoren. Vielleicht muss Ihnen noch mal jemand den Unterschied zwischen „Push“ und „Pull“ erklären. Ich bin dazu gerne
bereit.
({12})
Am Ende bleibt festzuhalten, dass es die einzig richtige Entscheidung war, die Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren und Menschen aus der Ukraine
einen schnellen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und zu unserem Gesundheits- und Bildungssystem zu gewähren. Auch der Rechtskreiswechsel war richtig. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Verwaltungen und Jobcentern ein großes Danke sagen, die uns dabei geholfen haben,
diesen Kraftakt zu meistern.
({13})
Mittlerweile sind über 150 000 Ukrainer/-innen in Sprach- und Integrationskursen; über 100 000 befinden sich in sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung. Das System funktioniert. Das sollte die Botschaft sein, die vom heutigen Abend ausgeht. Uns liegt an einer Integration zum Wohle aller. Deshalb
freue ich mich auf die weiteren Beratungen, zum Beispiel zum Chancen-Aufenthaltsrecht
({14})
oder zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Anträge wie Ihrer jedenfalls helfen wirklich niemandem. Wir lehnen ihn selbstverständlich ab.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Maximilian Mörseburg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser ganzes Land stand und steht seit Februar dieses Jahres vor einer immensen
Herausforderung. Wir müssen die energiepolitischen, die innenpolitischen, die verteidigungspolitischen und eben auch die sozialpolitischen Folgen des russischen
Angriffskrieges auffangen. Russland greift ja nicht nur die Ukraine an, sondern es bringt die gesamte bestehende europäische Sicherheitsarchitektur ins Wanken.
Das spüren auch wir hier in Deutschland. Das ruft natürlich die Opportunisten auf den Plan – Frau Nasr, da gebe ich Ihnen recht –, die sich nichts sehnlicher
wünschen als eine unzufriedene Gesellschaft, deren Gerechtigkeitsempfinden gestört ist.
Aber manche Maßnahmen der Regierung in den letzten Wochen und Monaten waren leider in der Sache nicht hilfreich. Mein Wahlkreis liegt in Stuttgart.
Die Stadt hat den viertgrößten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in ganz Deutschland. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Stuttgart die Integration
in die Gesellschaft besser hinbekommen haben als anderswo in der Republik.
({0})
Das ging vor allem auch durch Arbeit, meine sehr geehrten Damen und Herren. Menschen wurden bei uns auch aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage
immer frühzeitig in Betriebe integriert. Dort wurden die Menschen von Tag eins an gebraucht und haben dort auch Wertschätzung erfahren.
Der Grundgedanke, den wir in Stuttgart haben, ist: Egal wo du herkommst, jeder kann Stuttgarter sein. Jeder kann hier eine neue Heimat finden und
bekommt eine faire Chance. Aber er muss sich auch daran beteiligen. Er muss seinen Beitrag dazu leisten.
Gutes Zusammenleben – das können sich manche in der Regierung, glaube ich, nicht so gut vorstellen – heißt eben nicht, die ganze Zeit zu
unterstreichen, was uns unterscheidet. Vielmehr geht es darum, das, was uns verbindet, hervorzuheben, nicht nebeneinander in verschiedenen Communitys zu leben,
wie teilweise hier in Berlin, sondern miteinander zu leben. Ich will nicht sagen, dass wir in Stuttgart keine Probleme hätten. Aber obwohl in meiner Heimatstadt
deutlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben, hatten wir über Jahrzehnte immer sozialen Frieden im Vergleich zu anderen Städten, die anders regiert
waren in diesem Land.
({1})
Sie haben, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diesen sozialen Frieden, sicherlich nicht mit Absicht, aber jedenfalls mit gestört, indem Sie
entschieden haben, dass ukrainische Flüchtlinge mehr bekommen als andere Kriegsflüchtlinge. In jeder Schule, die ich seither besucht habe – das ist mein
Ernst –, wurde ich mit dieser Ungleichbehandlung konfrontiert. Junge Menschen, die selbst, deren Eltern oder Großeltern von anderswo hierhergekommen sind, haben
plötzlich das Gefühl, nicht mehr so viel wert zu sein in dieser Gesellschaft.
Ich konnte mit diesen Menschen immer sachlich über diese Themen diskutieren, zum Beispiel, dass ich nicht vertreten kann, dass wir alle
Kriegsflüchtlinge, die herkommen, in Deutschland aufnehmen, auch nicht in Stuttgart. Dafür gab es immer Verständnis. Aber wofür es kein Verständnis gab, war
Ihre Regelung in diesem Bereich, der Rechtskreiswechsel.
({2})
Es war nicht zu erklären, warum ein Kriegsflüchtling, der entweder aus der Ukraine oder aus Syrien kommt, unterschiedlich viele Leistungen erhält. Das
war einfach nicht zu vermitteln. Egal welchem Wertekatalog – wir haben ja verschiedene – Sie in der Ampelregierung folgen: Ich frage mich, wie Sie das für sich
selbst begründen. Jedenfalls ist es mit einem christlichen Menschenbild – das kann ich für mich sagen – schwierig, diesen Zustand zu rechtfertigen.
Wir haben aber trotzdem nicht die finanziellen Möglichkeiten für alle Sozialleistungen,
({3})
insbesondere nicht, um für einzelne Gruppen Zusatzleistungen im Sozialbereich auszugeben. Und wir haben auch nicht die Mittel, um höhere Leistungen
jetzt auf alle auszuweiten. Sie wissen ja selbst am besten, wie Ihre Haushaltslage derzeit ist. Sie haben uns durch diese undurchdachte Aktion mit dem
Rechtskreiswechsel in eine Sackgasse manövriert.
({4})
Ich weiß im Übrigen, dass viele Ihrer jungen Abgeordneten – Frau Nasr hat es ja gerade angedeutet – leugnen, dass das Ausweiten von Sozialleistungen
in diesem Bereich auch Pull-Effekte auslöst.
({5})
Es ist Fakt, dass das passiert. Es motiviert Menschen, nach Deutschland zu ziehen, zum Beispiel Ukrainer, die bereits in anderen Ländern Schutz
gefunden haben. Das ist einfach die Realität; das muss ich Ihnen leider sagen.
({6})
Und wer diese Möglichkeit in der Debatte völlig ausklammert, meine sehr geehrten Damen und Herren, macht sich unglaubwürdig, weil er einfach einen
Teil der Realität weglässt. Wir sollten diese Debatte führen – wir mit Ihnen: offen und ehrlich –, statt sie denjenigen zu überlassen, die Worte wie
„Sozialstaatsmagnet“ benutzen.
({7})
Sie sollten einen Masterplan für das gesamte Thema Migration vorlegen. Sie schaffen aber das Prinzip „Fordern und Fördern“ ab. Mit dem Bürgergeld, das
ja auch die Ukrainer bekommen,
({8})
gehen Sie den ersten Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen.
({9})
Sie schaffen das Prinzip „Fordern und Fördern“ ab, Sie erhöhen Sozialleistungen, und Sie motivieren vor allem, nicht zu arbeiten.
({10})
Aber Arbeit ist das Zentrale, was die Menschen brauchen, egal ob sie schon hier sind oder ob sie herkommen.
Vielen Dank.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Stephanie Aeffner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Beginn des brutalen Angriffskriegs Putins auf die Ukraine stehen alle
solidarisch zusammen: die Europäische Union und die internationalen Partner bei der Verurteilung dieses Bruchs des Völkerrechts und bei der Bewältigung der
Folgen.
„Wir schaffen das!“: Es gab mal Stimmen aus den Reihen der CDU, die diesen Satz geprägt haben. Staat und Zivilgesellschaft in Deutschland, alle –
Bund, Länder, Kommunen, die Zivilgesellschaft und unzählige Bürger/-innen in diesem Land – handeln geschlossen und solidarisch – wenn man von Ausnahmen absieht;
denn sonst müssten wir uns heute nicht mit diesem Tagesordnungspunkt befassen.
Sie wollen ein „Ende des Rechtskreiswechsels“ und die „Einführung eines strengen Sachleistungsprinzips“.
({0})
Ich frage Sie: Wie hilft das den Geflüchteten? Was bringt es Bund, Ländern und Kommunen bei der Bewältigung der Aufnahme? Und was bringt es uns als
Gesellschaft? Um die Antwort vorwegzunehmen: Nichts!
({1})
Schauen wir auf die Fakten: Der UNHCR hat vor einigen Wochen eine sehr aufschlussreiche Studie veröffentlicht. Demnach sind von den 4 Millionen
Ukrainerinnen und Ukrainern, die in 34 Länder geflüchtet sind, die allermeisten Frauen und Kinder. Fast alle der Frauen waren vorher berufstätig. 51 Prozent
haben einen Masterabschluss. Von den befragten Ukrainerinnen und Ukrainern leben bereits 35 Prozent von neuen Anstellungen. Für Deutschland geht das IAB von
einer Beschäftigungsquote von bis zu 15 Prozent aus – in der Kürze der Zeit ein großartiger Erfolg.
({2})
Kollegin Aeffner, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Kleinwächter?
Nein.
({0})
Und genau hier zeigt sich, was durch den Rechtskreiswechsel an positiver Entwicklung möglich ist: Menschen im SGB II erhalten nämlich Unterstützung
durch die Jobcenter für die Arbeitsmarktintegration. Menschen im Asylbewerberleistungsgesetz dürfen gar nicht arbeiten. Dabei ist Arbeit so viel mehr, als
Einkommen zu erzielen. Sprache wird schneller gelernt. Menschen kommen in unserer Gesellschaft viel schneller an, weil sie täglich in Kontakt mit Kolleginnen
und Kollegen stehen. Und die betroffenen Menschen bringen sich aktiv ein. Jobcenter berichten genau das: Die Menschen fordern geradezu ein, schnellstmöglich in
Arbeit zu kommen, um auf eigenen Füßen zu stehen.
Über den zweiten Teil des Antrags will ich gar nicht viele Worte verlieren. Vom „strengen Sachleistungsprinzip“ ist beim Blick in die allermeisten
Bundesländer überhaupt nicht mehr viel übrig, und das aus gutem Grund: weil es nämlich unnötig viel Bürokratie verursacht – mal ganz abgesehen von der Frage der
Achtung der Würde der Menschen. Sie fordern, dieses Sachleistungsprinzip „unabhängig vom Verwaltungsaufwand“ für die Kommunen durchzusetzen. Wir sehen genau,
wie wichtig es Ihnen als AfD ist, die Kommunen bei der Bewältigung der multiplen Krisen aktuell zu unterstützen.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Kleinwächter das Wort.
Werte Frau Kollegin Aeffner! Werte Frau Präsidentin! Vielen Dank, dass Sie in Ihren Ausführungen so deutlich gewesen sind. Sie haben die Frage
gestellt: Was bringt es den Flüchtlingen, was bringt es unserer Gesellschaft, wenn wir diesen Rechtskreiswechsel rückgängig machen und wieder die Regelung
einführen würden, dass Flüchtlinge, die zu uns kommen, dem Asylbewerberleistungsgesetz, wo sie übrigens dauerhaft aufgehoben wären – das hat auch Herr Minister
Heil früher festgestellt –, unterliegen und Sachleistungen erhalten würden? Ich möchte Ihnen das gerne ausführen. Es bringt Rechtsstaatlichkeit. Es bringt
Ordnung. Es bringt Rechtssicherheit.
Wir sind uns einig, dass die ukrainischen Flüchtlinge vor Krieg und Bomben fliehen. Aber wenn sie das tun, dann ist es völlig unerheblich, ob sie wie
in Polen gerade einmal 60 Tage lang 40 Zloty am Tag kriegen und danach nichts mehr oder ob sie bei uns zum Beispiel nur Sachleistungen bekommen oder ob sie im
Endeffekt umfangreich in das SGB II integriert werden.
Die Einzigen, für die es einen Unterschied macht, das sind diejenigen, die nicht aus Fluchtgründen zu uns kommen, diejenigen, über die wir im
vorangegangenen Tagesordnungspunkt eindringlich gesprochen haben: die vielen illegalen Migranten, die vielen, die aufgrund der Attraktivität, der Magnetwirkung
dieser doch umfangreichen Leistungen zu uns ins Land kommen.
({0})
Und deswegen frage ich Sie: Sind Sie wirklich bereit, unsere Rechtsordnung, die Stabilität unserer Sozialsysteme nicht für diejenigen zu opfern,
({1})
nicht für diejenigen zu gefährden,
({2})
die echte Flüchtlinge sind, sondern für diejenigen, die ausschließlich hierherkommen und behaupten, Flüchtlinge zu sein, um am Sozialsystem zu
partizipieren?
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Da haben Sie sich sehr schön entlarvt, als Sie sagten: für diejenigen, die zu uns kommen und echte Flüchtlinge sind. – Welche Worte im Angesicht des
Krieges in der Ukraine!
({0})
Wenn wir schon von Rechtssicherheit reden, dann schauen wir uns bitte auch die rechtliche Situation an. Wenn Menschen einen Aufenthaltstitel haben,
dann wechseln sie in das SGB II. Im Übrigen, weil auch das in der Debatte hier zum Tragen kam: Dann werden sie von diesem Staat nicht großzügig alimentiert. Im
SGB II gibt es nämlich tatsächlich auch Mitwirkungspflichten. Die Menschen möchten sich in diese Gesellschaft einbringen und hier ihren Teil dazu beitragen.
Also: Der Rechtskreiswechsel setzt nur um, dass diese Menschen ein Aufenthaltsrecht hier haben und wir ihnen damit die Chance geben, hier anzukommen, sich in
diese Gesellschaft einzubringen und damit auch zu unser aller Wohlstand beizutragen.
Sie selber haben bereits versucht, das über die Krankenkassenbeiträge zu skandalisieren, wo selbst der GKV-Spitzenverband sagt, dass es gut ist, wenn
geflüchtete Menschen im SGB II sind und ins Krankenversicherungssystem aufgenommen werden, weil es in aller Regel junge Menschen sind, die schnell in Arbeit
kommen und im Krankenversicherungssystem geringe Kosten verursachen, und wir durch diese Menschen damit einen doppelt positiven Effekt haben.
({1})
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Clara Bünger für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Die AfD betreibt hier wieder rechte Hetze auf Kosten der
Menschen, die meist gar nichts mehr haben, deren Häuser weggebombt wurden oder deren Familienmitglieder zu Tode gekommen sind. Es ist wirklich unsäglich, was
Sie hier betreiben!
({0})
Schauen wir uns doch einmal Ihren Antrag an. Er enthält eine Reihe von Ressentiments und Falschbehauptungen. Zum Beispiel ist von einem „meist
vorübergehenden Aufenthalt“ von Asylsuchenden die Rede. Das ist empirisch betrachtet so falsch wie nur irgendetwas.
({1})
Die bereinigte Schutzquote des BAMF liegt derzeit rekordverdächtig hoch, nämlich bei 70 Prozent. Hinzu kommen noch die vielen Anerkennungen durch die
Gerichte. Selbst die abgelehnten Asylsuchenden können oftmals aus guten Gründen nicht abgeschoben werden – das wissen wir doch alle –, seien es humanitäre
Gründe, die Verhältnisse im Herkunftsland oder familiäre Bindungen.
Auch die Behauptung, die Anhebung der Leistungen für Geflüchtete aus der Ukraine habe „erwartungsgemäß zu verstärktem Zuzug ukrainischer Flüchtlinge
nach Deutschland geführt“, ist grundfalsch. Das Gegenteil ist richtig. Die Anhebung der Leistungen war mit einem Rückgang der Zugangszahlen aus der Ukraine nach
Deutschland verbunden. Ihre bescheuerte Pull-Faktor-Theorie in Bezug auf die Höhe der Sozialleistungen für Geflüchtete wurde in der Praxis vielfach widerlegt.
Da sollten Sie einmal nachschauen.
({2})
Es ist doch offenkundig: Menschen fliehen vor Krieg, Zerstörung, Vertreibung, Folter und Not. Niemand kommt nach Deutschland, um hier Sozialleistungen
zu beziehen.
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Das sollten Sie sich mal hinter die Ohren schreiben! Die Menschen wollen arbeiten und sich einbringen.
({4})
Das, was Sie machen, ist erwartbar: unmenschlich und rechte Hetze.
({5})
Aber das eigentliche Problem ist die Union, die alles daransetzt, mit den gleichen ekelhaften Parolen Wähler/-innen der AfD abzugreifen.
({6})
Die Union tut jetzt so, als hätte sie schon immer vor der Anhebung der Leistungen für Ukrainegeflüchtete gewarnt. Das ist nicht nur politisch falsch;
es ist auch schlicht die Unwahrheit. Die Union hat den Rechtskreiswechsel im Bundestag mitbeschlossen und ausdrücklich begrüßt.
({7})
Die Union hat sogar – zu Recht – gefordert, dass die Ukraineflüchtlinge nicht den Umweg über das Asylbewerberleistungsgesetz gehen, sondern gleich den
Zugang zu den Jobcentern erhalten sollen. Das können Sie alles in Plenarprotokollen und Bundestagsdrucksachen nachlesen. Diese richtige Position von damals
jetzt zu ignorieren, um am rechten Rand zu fischen, ist wirklich abstoßend.
({8})
Etwas ganz anderes ist erforderlich: Alle Schutzsuchenden müssen soziale Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten – alle
Schutzsuchenden!
Das Bundesverfassungsgericht wird vermutlich in Kürze erneut feststellen, dass die Regelsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegen die
Menschenwürde verstoßen. Darüber sollten wir reden.
({9})
Die Ampelkoalition könnte hier sofort handeln. Schaffen Sie das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz bitte ab!
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jens Teutrine für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, dass wir aktuell eine Situation haben, in der viele Kommunen aufgrund
der steigenden Flüchtlingszahlen überlastet sind, dass Handlungsbedarf besteht und dass diese Bundesregierung dies weiter im Blick hat. Das ist unbenommen, und
das ist auch richtig. Aber nicht richtig sind die Unwahrheiten, die hier verbreitet werden.
({0})
In der Summe sind es drei. Ich möchte kurz präsentieren, wieso diese drei Thesen unwahr waren.
Die erste These bezieht sich auf die Überschrift im Antrag der AfD. Die Überschrift – auch für die Zuschauer – lautet: „Sozialstaatsmagnet sofort
abstellen“. So wissen wir, worüber wir sprechen. Die erste Unwahrheit ist: Die ukrainischen Geflüchteten kommen wegen des Sozialstaatsmagnets zu uns. Ich muss
Sie leider enttäuschen. Die Wahrheit ist: Die ukrainischen Geflüchteten kommen zu uns, weil es einen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gab, den Sie nicht
erwähnt haben und den Sie nie erwähnen. Das ist kein Pull-Faktor. Das ist der Grund, wieso die ukrainischen Geflüchteten zu uns kommen. Erste Unwahrheit!
({1})
Die zweite Unwahrheit, die hier verbreitet wird, ist: Ukrainische Geflüchtete plündern unseren Sozialstaat, weil sie jetzt Hartz IV bzw. Leistungen
aus dem SGB II bekommen. Wenn Sie denken, dass diese Geschichte wahr ist, dann muss ich Sie ebenfalls enttäuschen. Sie ist leider falsch. Wieso ist sie falsch?
Wenn jemand nach Deutschland flüchtet, dann bekommt er Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, weil er beispielsweise einen Asylantrag stellt, weil er
geduldet wird oder Ähnliches. Wenn er aber dann die Bestätigung bekommt, dass er einen anerkannten Fluchtgrund hat oder subsidiär schutzbedürftig ist, weil es
in seinem Land zum Beispiel einen Krieg gibt, beispielsweise wenn er aus Syrien kommt, dann wechselt er den Rechtskreis vom Asylbewerberleistungsgesetz in
Hartz IV bzw. ins SGB II.
Das hat verschiedene Vorteile. Die Betreuung findet durch die Jobcenter statt. Man versucht, die Menschen zu integrieren, in Arbeit zu bringen. Sie
können an Sprachkursen teilnehmen. Das ist also gut. Danke an die Mitarbeiter der Jobcenter, dass sie diese wichtige Aufgabe übernehmen.
({2})
Durch einen Beschluss der Europäischen Union sind die ukrainischen Geflüchteten unter anderem nach Deutschland gekommen, weil sich alle Länder in der
Europäischen Union erstmalig einig waren, dass wir die ukrainischen Geflüchteten aufgrund des Krieges aufnehmen. Sie durchlaufen nicht ein individuelles
Asylverfahren. Sie hätten also nie ein Verfahren durchlaufen, an dessen Ende die Bestätigung steht. Somit würden sie nie aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in
Hartz IV wechseln können und würden immer im Asylbewerberleistungsgesetz bleiben.
Daraufhin hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass wir einen Rechtskreiswechsel vornehmen und diese ukrainischen Geflüchteten vom
Asylbewerberleistungsgesetz ins SGB II wechseln, so wie es bei jeder Person ist, die subsidiären Schutz bekommt oder einen anerkannten Fluchtgrund hat. Das ist
die Wahrheit.
({3})
Das ist die Geschichte. Das sollten Sie den Schulklassen erzählen. Sie sollten den Schulklassen, den Menschen aus Syrien, die fragen, wieso es eine
Ungleichbehandlung gibt, antworten, dass die Bundesregierung damals auf europäischer Ebene nicht die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert hat, nicht weil sie
nicht wollte, sondern weil es keine Einigung in der Europäischen Union gab. Das ist ein grundsätzliches Problem in der Migrationspolitik. Das wäre die richtige
Antwort gewesen für die Kinder und die Schulklasse.
({4})
Ich habe noch eine Minute Redezeit und möchte zum dritten Punkt kommen, den Sie immer wieder behaupten: Auch wenn sich Geflüchtete nicht hier
aufhalten, dann erhalten Sie trotzdem Sozialleistungen und plündern unsere Sozialkassen. Das ist die dritte These, die Sie aufstellen. Ich muss Sie wieder
enttäuschen. Auch diese Geschichte ist leider nicht wahr. Es ist traurig, wenn Sie die geglaubt haben.
({5})
Wieso ist diese Geschichte unwahr? Entschuldigung: Sie ist unwahr. Schauen wir ins Sozialgesetzbuch! § 7 im SGB II regelt, wer überhaupt
leistungsberechtigt ist. Leistungsberechtigt sind nur die Personen, die sich hier in der Bundesrepublik aufhalten. Wenn sie sich hier nicht aufhalten wollen,
dann müssen sie einen Antrag stellen. Dieser Antrag muss genehmigt werden.
({6})
Ich finde es wirklich schlimm, dass Sie jungen Frauen, Kindern, die in die Ukraine fahren, um vielleicht noch einmal ihren Ehemann, ihren Vater zu
sehen, einen Vorwurf machen, wenn sie diesen Kontakt erneut suchen.
({7})
Damit verbunden ist die Lüge – 45 Sekunden Redezeit; Herr Whittaker hat das, glaube ich, gerade schon wieder reingerufen –: Diese Regelung wird beim
Bürgergeld abgeschafft, und dann können sich die Leute in der Ukraine aufhalten und trotzdem hier Sozialleistungen bekommen. Auch diese These ist leider falsch.
Das Gesetz bleibt an dieser Stelle genau gleich: Menschen müssen einen Antrag stellen, wenn sie das Umfeld ihres Jobcenters verlassen. Die Ukraine befindet sich
weit weg von den Jobcentern in Deutschland. Deswegen wäre das ein Grund, die Leistung zu verweigern, wenn es dafür Verdachtsfälle gibt. Die Jobcentermitarbeiter
können dann die Leistungen komplett streichen. Das ist keine Sanktion, sondern das ist eine Frage der Leistungsgewährung.
({8})
Also: erste These falsch, zweite These falsch, dritte These falsch. Ich hoffe, ich konnte einigen Unterricht in Rechtsstaatskunde geben und zeigen,
wie das bei uns funktioniert. Vielen Dank, deswegen lehnen wir auch den Antrag ab.
Vielen Dank; danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Bernd Rützel für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In Deutschland sind über 1 Million geflüchtete Menschen aus der Ukraine
angekommen. Sie mussten ihre Heimat, ihr Land verlassen, weil es brutal und völkerrechtswidrig von Russland, von Putin angegriffen worden ist und in einen Krieg
genötigt wurde. Dieser Krieg bedeutet großes Leid für das ganze Land, für die Menschen dort. Deswegen ist es richtig, dass wir diejenigen, die fliehen konnten
und die zu uns gekommen sind, aufnehmen, dass wir sie versorgen, bis sie es selber wieder können.
Wolfgang Strengmann-Kuhn und auch Rasha Nasr haben vorhin Artikel 1 des Grundgesetzes zitiert. Da heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“.
Ich glaube, diesen Satz kennt jeder. Es gibt aber im zweiten Satz einen Handlungsauftrag an uns. Der heißt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt“, und das machen wir.
({0})
Jens Teutrine hat sehr gut und genau beschrieben, wie die Innenminister am 4. März dieses Jahres erstmalig die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie
beschlossen haben. Automatisch sind die Geflüchteten aus der Ukraine damit anerkannt. Es war auch richtig so, sonst hätten sie ein langjähriges Asylverfahren
durchlaufen müssen, was am Ende wahnsinnigen Verwaltungsaufwand bedeutet hätte und die Menschen auch schlechter gestellt hätte, wozu es nicht gekommen ist.
Im Gegenteil: Bei allen anderen ist es ja so, dass nach einem Asylverfahren die Menschen auch ins SGB II kommen. Deswegen haben wir diesen
Rechtskreiswechsel vollzogen. Das ist richtig. Wir finden es richtig, dass die Menschen im SGB II sind. Ich hätte mir vorstellen können – wie unser
Bundeskanzler oder wie auch unser Bundesarbeitsminister –, dass man noch drei Monate oder sechs Monate wartet.
Aber sind wir doch einmal ehrlich und erinnern uns: Es waren doch die Bundesländer, die gesagt haben: Geht doch ins SGB II und aus dem
Asylbewerberleistungsgesetz raus. – Es geht um Geld, es geht um Kosten, es geht um viel. Da sind sich auch alle einig gewesen, egal wer irgendwo regiert.
({1})
Sie haben gedrängt, das schnell zu machen, und das war auch richtig so.
({2})
Die Gesundheitsversorgung ist für die Menschen besser – ich wünsche jedem und jeder, die hier ist, eine bessere Gesundheitsversorgung als nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz –, und der Arbeitsmarkt ist offen. Rasha Nasr hat es gesagt: 100 000 Menschen aus der Ukraine sind in sozialversicherungspflichtigen
Jobs. Vielleicht debattieren wir wieder mal über Fachkräftemangel oder über andere Themen. Dann wissen wir, dass es auch hilft, die Menschen im Arbeitsmarkt gut
unterzubringen.
Im Moment helfen ganz viele Freiwillige bei Behördengängen, bei medizinischer Versorgung, bei Unterbringungen in Sprachkursen. Was Bund, Länder und
Kommunen leisten – gerade auch die Kommunen und die vielen Freiwilligen in den Kommunen –, das verdient unser aller Respekt, und dafür möchte ich ganz herzlich
Danke sagen.
({3})
Kein Magnet, wie es im Antrag steht, bewirkt, dass die Menschen jetzt zu uns kommen, damit sie zum Beispiel in einer Messehalle untergebracht werden.
Die Menschen hatten ein intaktes Leben. Die Ukraine hat floriert, beispielsweise in der Landwirtschaft mit ihren guten schwarzen Böden. Im Hightechbereich sehen
wir jetzt, was alles aus der Ukraine kam und uns fehlt. Als sie dann hier waren, sagte manch einer: Wir sind ganz überrascht von euren digitalen Künsten; da
waren wir eigentlich weiter. – Von daher ist das nicht der Grund, weshalb die Menschen zu uns kommen.
Die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer würde lieber heute als morgen in ihre Heimat zurückgehen. Ich kann verstehen, dass sie nach Monaten ihre
Väter, ihre Männer, die dortgeblieben sind, sehen wollen. Und wenn die eine oder der andere bei uns auf dem Arbeitsmarkt, bei uns in Deutschland Fuß fasst, dann
können wir dafür nur dankbar sein, dann können wir uns nur bedanken, dass das so ist; denn wir brauchen Zuwanderung, wir brauchen Einwanderung. Und weil vorhin
die Frage nach dem Masterplan Migration aufkam, sage ich: Wir werden das Einwanderungsgesetz noch einmal deutlich verbessern; denn wir sind darauf
angewiesen.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter Aumer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte ist der Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen. Gerade
einige Redner der Ampelkoalition sollten sich, glaube ich, im Ton ein klein bissel mäßigen.
({0})
Ich habe vor Kurzem eine Äußerung des Präsidenten des Deutschen Landkreistages gelesen. Er sprach mit Blick auf die Flüchtlingssituation in unserem
Land von der Überforderung des Systems. Er sieht darin angesichts der Energie- und Strompreisentwicklung, aber auch des Wohnungsmarkts in unserem Land
gewaltigen sozialen Sprengstoff. Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass dieses Thema Nährboden für rechts außen ist, zeigt der Antrag der AfD, den wir jetzt
diskutieren. Er ist undifferenziert, alle werden in einen Topf geworfen, und schnell hat man den angeblichen „Sozialstaatsmagneten“, der sofort abgestellt
werden muss, wie Ihr Antrag überschrieben ist. Wenn es denn so einfach wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD!
Ein Beispiel aus meinem Wahlkreis Regensburg zeigt, dass man nicht alle in einen Topf werfen kann: Eine Mutter ist mit ihrem 16-jährigen Sohn über
Polen nach Regensburg gekommen, um dort in dieser schweren Zeit bei ihren Verwandten zu leben. Diese Familie hat dank des großen Engagements einer
Unternehmerfamilie sehr schnell eine Unterkunft gefunden. Die Mutter arbeitet als Putzfrau, und der Sohn konnte relativ schnell nach einem Praktikum eine
Ausbildung zum Maler und Lackierer beginnen. Wenn man gehört hat, wie der 16-jährige Sohn berichtet, dass sein Elternhaus nicht mehr existiert, weil es zweimal
bombardiert worden ist – beim zweiten Mal wurde es komplett zerstört –, dann liest man den Antrag der AfD mit anderen Augen. Und die Äußerungen, die Sie hier
getätigt haben, hört man dann mit anderen Ohren. Hier geht es um den Schutz des Lebens von Menschen, die in Deutschland Hilfe suchen, nicht um Menschen, die
wegen irgendwelcher Pull-Faktoren, wie Sie es in Ihrem Antrag schreiben, nach Deutschland kommen.
({1})
Aber von den rund 1 Million Ukrainern in unserem Land haben bis Ende September rund 530 000 Grundsicherung bezogen. 38 000 davon sind in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen vermittelt worden. Das zeigt, dass die Vermittlung in Arbeit, so wie die Ampel sich das vorgestellt hat, nicht
funktioniert. Wie auch, wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren der Ampel, bzw. Bundesminister Heil bei der Aufstellung des Bundeshaushaltes den
Haushaltstitel „Berufliche Integration und Beratung von Zuwanderern“ kürzen und auch den Ansatz für berufsbezogene Deutschsprachförderung. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, so kann das nichts werden. Das ist so.
({2})
Wenn Sie sich den Haushaltsentwurf anschauen, dann merkt man die Planlosigkeit und Inkonsequenz der Ampelregierung.
Der 16-Jährige hat mit Unterstützung der Unternehmerfamilie einen Ausbildungsvertrag bekommen. Er ist, glaube ich, auch stolz darauf. Aber der
Sprachkurs wird nicht finanziert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, so funktioniert Integration auf jeden Fall nicht.
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Ich würde Sie bitten, meine sehr geehrten Damen und Herren der Ampel: Nehmen Sie die Signale aus den Kommunen, die an Sie gerichtet werden, ernst! Der
Krisengipfel von Innenministerin Faeser hat genau das Gegenteil gezeigt. „Eine vertane Chance, angemessen auf die aktuellen Flüchtlingszahlen zu reagieren“,
schreibt Nikolaus Doll in der „Welt“. Die Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt – Änderung des Aufenthaltsrechts – hat gezeigt, mit welcher Ideologie Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, Migrationspolitik machen. Da arbeiten Sie an der Realität in Europa, aber auch an der Lebenswirklichkeit unseres
Landes vorbei.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Marcel Emmerich das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sie von der AfD verbreiten mit Ihrem Antrag Unwahrheiten
({0})
über angebliche Pull-Effekte, für die es keine belastbaren Belege gibt. Darauf hat das Bundesinnenministerium gerade noch mal in einem Bericht
hingewiesen. Das sind Fakten, die Sie ignorieren und gezielt verfälschen; denn sie passen nicht in Ihr faules Weltbild. Warum nicht? Weil Sie Steigbügelhalter
für die teuflischen Narrative Wladimir Putins sind und dazu stehen.
({1})
Das sind Narrative, die unsere Solidarität mit der Ukraine zerstören sollen. Das zeigt: Sie sind die Fraktion unter der Fuchtel von Russland, von
Putins Narrativen, und Sie handeln nicht im Interesse der Menschen in diesem Land.
({2})
Verehrte Damen und Herren der Union, ich muss es noch mal sagen, weil hier gerade mal wieder das Buzzword „Ideologie“ gefallen ist: Ihr Fraktions- und
Parteivorsitzender hat mit Blick auf die Geflüchteten aus der Ukraine in den letzten Wochen immer wieder in die gleiche Kerbe geschlagen. Er hat Narrative
bedient. Dieses Vorgehen ist unverantwortlich. Damit hat er sich im Grunde mit den Geflüchteten aus der Ukraine entsolidarisiert.
({3})
Wenn man mit den Menschen redet, die aus der Ukraine hergekommen sind, erfährt man, was diese Menschen dachten. Die Ukrainerin Aliona Rybak erzählte
zum Beispiel bei „t-online“: 99 Prozent der Geflüchteten sind davon ausgegangen, dass dieser furchtbare Angriffskrieg gegen die Ukraine schnell wieder vorbei
sein wird und sie nach Hause zurückkönnen. – Jetzt bleiben sie länger und fahren auch mal zurück, weil sie Dokumente für ihre Statusfeststellung in Deutschland
benötigen, weil sie schauen wollen, ob ihr Haus noch steht, ob es beschädigt ist, weil sie ihre Liebsten zumindest einmal noch in den Arm nehmen wollen und weil
sie zur Beerdigung von Angehörigen gehen. Das ist die Realität der Menschen, die aus der Ukraine flüchten. Das heißt für uns, dass es auf Mitgefühl und
Humanität ankommt und nicht auf irgendwelche platten Parolen.
({4})
Die Kommunen stehen in der jetzigen Situation in der Tat vor einer sehr, sehr großen Herausforderung. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir sie
unterstützen und dass wir sie entlasten. Das hat die Innenministerin sehr wohl letzte Woche mit ihrem Gipfel getan.
({5})
Der Rechtskreiswechsel, der, wie vom Kollegen Teutrine schon erklärt, auf die Aktivierung der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie zurückzuführen ist,
ist der richtige Weg. Damit wird der Löwenanteil der Kosten der Kommunen übernommen; sie werden unterstützt. Sozialleistungen, Kosten für Wohnung und
Krankenkasse, Jobcenter – all das greift Hand in Hand und funktioniert so viel besser. Damit erleichtern wir die Integration. Das ist ein wichtiges Zeichen in
dieser Zeit, und das ist ein wichtiger Beitrag für die Geflüchteten aus der Ukraine, damit sie hier in Sicherheit und mit Perspektive leben können.
Vielen Dank.
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