Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben enorm hohe Energiepreise – die Steigerung ging über den Sommer und hält bis heute an – und eine in den letzten 70 Jahren nicht mehr gekannte Entwicklung der Inflation. Sie liegt zurzeit, auf Monatsbasis gesehen, bei 10 Prozent. Sie sind weit überwiegend Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und Folge der Strategie der russischen Führung, Europa, auch Deutschland, über steigende Energiepreise durch das Abschneiden von Gaslieferungen politisch und wirtschaftlich unter Druck zu setzen, unsere Gesellschaft zu destabilisieren, um selbst Erfolg zu haben, den sie mit ihrer Kriegsführung bisher nicht gehabt hat. Diese Strategie darf nicht aufgehen. Wir verfügen über die Mittel, um zu verhindern, dass diese Strategie aufgeht und dass in unserem Land aufgrund der russischen Energiepolitik und der russischen Kriegspolitik Existenzen gefährdet und vernichtet werden. Genau darum geht es bei diesem Abwehrschirm, über den wir heute debattieren.
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Herzstück der Vorschläge sind eine Gaspreis- und eine Strompreisbremse. An der Konzeption wird mit Hochdruck gearbeitet. Es wurde in dieser Woche hier im Haus schon darüber debattiert. Natürlich ist die beste Gaspreis- und die beste Strompreisbremse, Angebot zu schaffen und Verbrauch zu reduzieren. Beides müssen wir zusammendenken,
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Dennoch wird es nötig sein, dass der Staat zusätzliche Mittel mobilisiert, um die Folgen für unsere Gesellschaft abzufedern und um eine Brücke in eine wieder dauerhaft verlässliche, nachhaltige und bezahlbare Energieversorgung zu bauen. Wir schlagen daher vor, dass 200 Milliarden Euro über den bereits in der Pandemie eingeführten Wirtschaftsstabilisierungsfonds bereitgestellt werden sollen, der dafür modifiziert werden soll. Die Maßnahmen, die wir vorschlagen, sollen noch im Jahr 2022, überwiegend im Jahr 2023 und dann im Jahr 2024 finanziert werden. Es geht darum, eine Brücke über die nächsten beiden Winter zu bauen.
Die Regelung, über den WSF Mittel bereitzustellen, hat enorme Vorteile. Zum einen kann man auf diese Weise ein starkes Signal setzen: Wir stellen einen Betrag, der ausreicht, um das Notwendige abzudecken, bereit, und zwar auch überjährig. Mit diesem starken Signal, der Verlässlichkeit, dass die Mittel wirklich da sind, beeinflussen wir auch die Inflationserwartungen. So ist der Abwehrschirm, den wir hier aufspannen, auch eine Inflationsbremse, gerade weil er dieses starke Signal sendet.
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Zum Zweiten sind die Mittel, die der WSF verwenden soll, streng zweckgebunden. Es ist so, dass sie nur genau für die vier im Gesetz vorgeschlagenen Zwecke – Gaspreisbremse, Strompreisbremse, Unternehmenshilfen und Unterstützung der KfW – ausgegeben werden dürfen und für nichts anderes. So schaffen wir es, dass die Ressourcen, die wir jetzt mobilisieren müssen, wirklich gezielt für die Bewältigung der Energiekrise und der Preisspirale eingesetzt werden und für nichts anderes. Das ist richtig und wichtig und funktioniert über den WSF sehr gut.
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Wir haben – ich habe es schon gesagt – vier Instrumente. Wir haben die Gaspreisbremse. Dann haben wir die Strompreisbremse, wobei wir bei der Strompreisbremse – das ist sehr wichtig mit Blick auf die finanziellen Themen, über die wir hier sprechen – auch mit Einnahmen rechnen. Wir wollen die Zufallsgewinne abschöpfen und damit den Strompreis an anderer Stelle entlasten, aber es soll nicht allein nur ein Zuschuss sein. Wir haben Unterstützungsmaßnahmen für die Unternehmen. Dabei gehen wir natürlich auch Beteiligungen ein, sodass man neben Ausgaben auch mit Einnahmen rechnen kann. Insofern kann man aufgrund der Zusammensetzung der Instrumente noch nicht sagen, wie es am Ende finanziell ausgehen wird. Wir haben ganz klar Ausgaben vor allem im Bereich der Gaspreisbremse, wir haben aber auch einige Instrumente, bei denen es neben Ausgaben potenziell auch zu Einnahmen kommen wird. Ich kann Ihnen sagen: Das Bundesfinanzministerium wird die Möglichkeiten, auch Rückflüsse, auch Einnahmen, auch Refinanzierung zu nutzen, bei den jeweiligen Instrumenten genau im Blick behalten.
Wir werden – ganz klar – mit dem Beschluss dieses Gesetzes nochmals feststellen müssen, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Notsituation befinden, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt; Artikel 115 des Grundgesetzes. Das ist bereits geltende Beschlusslage des Bundestages für das Jahr 2022. Die Lage hat sich durch den vollständigen Wegfall russischer Gaslieferungen Ende August nochmals deutlich verschärft. Insofern ist der erforderliche Veranlassungszusammenhang zwischen Notlage und den Ausgaben, die wir hier tätigen, aus unserer Sicht evident gegeben und rechtfertigt dieses Engagement.
Es geht darum, Schaden von unserem Land abzuwenden. Es geht darum, Existenzen zu sichern, private wie unternehmerische Existenzen. Das ist erst einmal ein wichtiges Ziel als solches, aber indem wir insbesondere unternehmerische Existenzen sichern, Unternehmen helfen, durch diese Zeit zu kommen, sichern wir uns auch Steuersubstrat und Einnahmen für die nächsten Jahre. Insofern ist es auch unter dem Gesichtspunkt nachhaltiger staatlicher Finanzen geboten und verantwortbar, das zu tun, was wir hier vorschlagen.
Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Mathias Middelberg.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut – das sage ich vorweg –, dass die Gaspreisbremse jetzt kommt. Aber man muss auch dazusagen: Endlich kommt sie. Sie haben in diesem Sommer viel Zeit mit internen Streitereien verbraucht, bis Sie endlich zu dieser Lösung gekommen sind. Sie haben jetzt durch den Vorschlag der Kommission eine Variante gefunden, nämlich dass der Grundbedarf in Höhe von 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs preislich auf 12 Cent gedeckelt wird. Das ist eine Lösung, die wir durchaus sachgemäß und richtig finden. Sie entspricht auch dem Beschluss unseres CDU-Bundesparteitages
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vom 9. September, als wir beschlossen haben, dass wir 75 Prozent des Grundbedarfs zu 12 Cent preislich absichern oder deckeln wollen.
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Nun haben Sie allerdings so viel Zeit für Ihre Gaspreisbremse gebraucht, dass sie erst dann in Kraft treten wird, wenn der Winter weitgehend hinter uns liegt, nämlich im März.
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Das ist das Ergebnis Ihrer politischen Arbeitsleistung; das müssen Sie sich schon vorhalten lassen. Die richtigen Lösungsvorschläge lagen also lange auf dem Tisch, Sie haben nur viel zu lange gebraucht, um den richtigen Weg zu erkennen. Ich habe ausdrücklich Respekt gegenüber der Arbeit der Kommission, die sehr zügig gearbeitet hat. Das Gleiche kann man über Ihre Regierungsarbeit wirklich nicht sagen.
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Noch im Juli – das müssen wir alle uns in Erinnerung rufen – hat der Bundeskanzler sogar seinen Urlaub unterbrochen, ist extra hier nach Berlin gekommen und hat eine ganz große Neuigkeit verkündet, nämlich dass die Gasumlage eingeführt werden soll. Das hat er dann verbunden mit seinem bekannten Satz: You’ll never walk alone. Das ist eine tolle Aussage. Da konnten die Leute auf einmal verstehen, dass das meint: Ich habe nicht nur die höheren Gaspreise, sondern ich kriege auch noch die Umlage obendrauf. You’ll never walk alone: Du kriegst noch die Umlage obendrauf als fetten zusätzlichen Belastungsrucksack.
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Das war ursprünglich Ihr politischer Ansatz. Sie wollten den Leuten die Preise noch zusätzlich erhöhen. Dann haben Sie monatelang intern gestritten, und jetzt haben Sie endlich erkannt, was richtig ist, und setzen es um. Aber jetzt dauert die Umsetzung natürlich Monate. Wenn Sie im Juli klug reagiert und klug gehandelt hätten, dann hätten wir die Gaspreisbremse schon jetzt, und sie würde passend zum Winter in Kraft treten.
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Beim Thema Angebotsausweitung – das hat der Herr Staatssekretär Toncar völlig zu Recht angesprochen – passiert aber bei Ihnen so gut wie nichts. Sie haben auch da monatelang gebraucht, bis Sie unserem Antrag gefolgt sind, den Deckel bei der Biomasse wegzunehmen.
Sie haben gesagt, Sie wollen die Kohlekraftwerke hochfahren. Davon sind in Deutschland mittlerweile gerade einmal zwei am Start. Dann diskutieren Sie noch immer über die Weiternutzung von drei Kernkraftwerken, die jetzt noch laufen und die die Versorgung von 10 Millionen Bürgern in diesem Land sicherstellen. Ich sage auch vor den Risiken eines möglichen Blackouts: Ihr Verhalten dazu ist vollkommen verantwortungslos.
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Dass 80 Millionen Bundesbürger jetzt noch darauf warten müssen, was ein grüner Parteitag beschließt,
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ist – das sage ich Ihnen ganz ehrlich – völlig unverantwortlich für eine Regierungspartei.
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Ich habe eben die Arbeit der Kommission gelobt. Sie setzen jetzt bei der Gaspreisbremse die Arbeit dieser Kommission deckungsgleich um; das haben Sie jedenfalls gesagt. Maßgebliche Kraft in dieser Kommission ist Frau Professor Grimm, die diese Konzepte erarbeitet hat. Dieselbe Frau Professor Grimm, die dem Rat der Wirtschaftsweisen angehört, hat ausgerechnet: Wenn wir die drei Kernkraftwerke weiter nutzen, wird der Strompreis um 8 bis 12 Prozent gesenkt. Dass Sie den Bürgern diese Strompreissenkung verwehren wollen, ist ein Skandal.
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Nun zum letzten Punkt. Hier möchte ich gleich ein Bild benutzen, auch wenn man es dem Kollegen Toncar so natürlich nicht ansieht; das ist auch gut so. Es geht um die Art und Weise, wie Sie jetzt dieses Schuldenkonglomerat umsetzen – der eine nennt das „Doppel-Wumms“, der andere spricht jetzt vom „Abwehrschirm“; Sie müssen sich da mit der Titulatur noch einig werden, aber das ist das, worüber wir heute im Kern sprechen –, diese 200 Milliarden Euro Schulden aufnehmen, ohne dass wir genau wissen, wofür das Geld eigentlich ausgegeben werden soll. Aber Sie wollen schon mal unsere Zustimmung dazu haben. Was Sie jetzt tun – neue Kredite aufnehmen, ohne dass Sie wirklich wissen, was finanziert werden soll –, kann man bildlich so beschreiben: Sie laden sich die Hamsterbacken erst mal voll mit einem Schuldenvorrat. Da werden die Taschen vollgeladen in diesem Jahr. Es wird auch alles künstlich auf dieses Jahr, auf 2022, gerechnet, damit der Finanzminister dann im nächsten Jahr sagen kann: Ich halte die Schuldenbremse ein. – Das ist eigentlich der Hammer.
In diesem Jahr machen wir insgesamt 500 Milliarden Euro zusätzliche Schulden: Die 200 Milliarden Euro „Doppel-Wumms“, die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, dann die 140 Milliarden Euro, die Sie jetzt im regulären Haushalt machen, und dann haben Sie sich noch die 60 Milliarden Euro aus dem letzten Jahr geklaut. Das sind zusammen 500 Milliarden Euro. Den Schuldenstand des Bundes erhöhen wir damit um ein Drittel. Das ist die höchste Verschuldung, die wir überhaupt je in einem Jahr in Deutschland gemacht haben; das ist absoluter Superrekord.
Das alles wird jetzt auf dieses Jahr gerechnet. Ausgegeben werden die Gelder tatsächlich in den nächsten Jahren. Da sage ich Ihnen: Das ist ein Finanzierungsweg, den wir so nicht mitgehen werden. Was Sie in der Sache tun – Gaspreisbremse –, ist richtig. Der Finanzierungsweg ist nicht okay.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Frank Junge.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Middelberg, ich möchte zunächst voranstellen, dass wir uns in einer Krise befinden, die es in dieser Form – das hatten Sie in einem kleinen Satz in Ihrer Rede auch erwähnt – so noch nicht gegeben hat. Vor diesem Hintergrund gab es erstens keine Blaupausen, die wir aus der Schublade hätten ziehen können, um sozusagen reibungslos ein Krisenmanagement zu installieren, und zweitens haben wir als Ampelkoalition in dieser Zeit bereits Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht, und zwar über drei Entlastungspakete und über unterschiedliche Ebenen hinweg: Es gab Einmalzahlungen. Wir haben Steuerentlastungen beschlossen. Wir haben am Ende die EEG-Umlage abgeschafft. Wir haben Mehrwertsteuersätze gesenkt im Bereich der Gastronomie und der Gaspreise etc. pp. Mit alldem haben wir in erheblicher Weise dazu beigetragen, die Menschen an dieser Stelle schon zu entlasten.
Jetzt liegt etwas vor, womit wir einen nächsten, einen, wie ich finde, auch entscheidenden Schritt gehen können. Wir können mit der Umwandlung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds, mit der Erweiterung auf einen Abwehrschirm hin, mit 200 Milliarden Euro die Menschen entlasten, die es am dringendsten brauchen. Es geht um diejenigen, die jetzt in Unsicherheit und Angst schweben, um die Unternehmen, die an dieser Stelle von Unsicherheit geprägt sind und nicht wissen, wie sie die weiteren Monate wirtschaftlich planen sollen, die jetzt ihre Abschlagszahlungen für das nächste Jahr vorliegen haben.
Diesen helfen wir mit dieser Erweiterung über die 200 Milliarden Euro, weil wir ihnen in erheblicher Weise beim Bezahlen der Energie-, Gas- und Strompreise helfen können. Das ist etwas, wo diese Regierung keine Zeit vertrödelt hat und wo wir uns im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten eben auf diese Expertenkommission bezogen haben. Jetzt liegt der entsprechende Gesetzentwurf vor, um das umzusetzen. Deswegen kann ich Sie jetzt schon darum bitten, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
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Was ich hier noch hervorheben möchte, ist Folgendes – wir haben das in Ihrer Rede gerade wieder gehört –: Während in dieser – man muss schon sagen – einzigartigen Krise, in dieser Staats- und Wirtschaftskrise, in der wir gerade sind, alles zusammen getan werden muss, damit wir unserer staatspolitischen Verantwortung als Parlament insgesamt nachkommen können, gibt es einige in diesem Haus, die ganz andere Interessenlagen haben. Ich wünschte mir gerade von Ihrer Fraktion – weil Sie in der Vergangenheit, also bei der Bewältigung der Coronakrise, einige Instrumente auf den Weg gebracht haben, die uns damals gut geholfen haben –, dass Sie in dieser gleichen Konsequenz auch heute hinter den Maßnahmen der Regierung stehen,
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weil wir dann natürlich auch eine ganz andere Kraft nach draußen an die Bürgerinnen und Bürger vermelden könnten.
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Das Zweite – das will ich aber auch sagen – ist, dass wir auch Abgeordnete vor allem aus Ihrer Fraktion, der AfD, haben, die diese existenzielle Krise der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen dafür nutzen,
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durch Verschwörungsmythen, durch Lügen, durch Hetze die Bevölkerung in ihrer unsicheren Lage sogar noch dagegen aufzubringen. Sie spalten die Gesellschaft.
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Ihr Geschäftsmodell ist es, diese Krise zu nutzen und die Bürgerinnen und Bürger in ihren Sorgen zu benutzen, um Ihr politisches Kalkül daraus zu ziehen. Das ist einfach schäbig.
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Die Ampelkoalition hat sich an dieser Stelle auf ein großes Maßnahmenpaket verständigt. Ich denke, dass wir mit der Umwandlung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu einem Abwehrschirm einen weiteren wichtigen Schritt gehen. Wir werden – das sagte ich schon – die Bürgerinnen und Bürger, die dringend darauf warten, unterstützen. Sie alle warten darauf, zu wissen, was mit den Rechnungen ab September, ab Januar fürs nächste Jahr wird. Dieses Geld, das wir jetzt über diese Gesetzesänderung lockermachen können, wird ihnen helfen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Das ist der richtige Weg. Das ist der Kurs, den Olaf Scholz und diese Ampelkoalition einschlägt. Damit helfen wir den Menschen und überbrücken die nächste Zeit.
Wir alle in dieser Ampelkoalition stellen uns verantwortungsbewusst dieser Krise. Wir sind daher offen für die Notwendigkeiten, auch nächste und weitere Schritte zu gehen, wenn sie denn nötig sind. Die 200 Milliarden Euro mit dieser Modifizierung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds sind zumindest ein nächster, ein guter, ein wichtiger Schritt. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Peter Boehringer.
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Frau Präsidentin! Liebe Mitbürger! Die Regierung weiß gar nicht, was konkret sie heute hier vorlegt; jedenfalls sagt sie es uns im Gesetzestext nicht. Im Entwurf ergeht sich die Bundesregierung in vagen Andeutungen über staatliche Programme zur Abfederung von Preissteigerungen, beim Bezug von Gas und Strom. Aber es gibt darin nicht ein Wort, wie diese Programme ausgestaltet werden sollen: Wer bekommt Geld? Welche Preise werden wo gedeckelt? Wie soll die Sache operativ umgesetzt werden? All das wären Fragen, die dieser Bundestag natürlich beantwortet bekommen müsste, bevor über solch gewaltige Verschuldungen auch nur debattiert werden kann.
Das vorgelegte Gesetz wird – das ist bereits sicher – ein bürokratisches Monstrum hervorbringen. Der Eigentümerverband Haus & Grund bezeichnet das Vorhaben der Gaspreiskommission als nicht umsetzbar. Es sei von Leuten erarbeitet, die noch nie eine Heizkostenabrechnung gesehen haben.
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Dieser Bundestag soll zustimmen, dass 200 Milliarden Euro neue Schulden in einen zweckentfremdeten Nebenhaushalt – ich sage bewusst auch: Schattenhaushalt – gepackt werden. Es ist absurd, der Regierung mal eben über den Verordnungsweg einen halben Jahreshaushalt freizugeben. Und selbst diese Riesensumme wird nur für etwa 15 Monate ausreichen. Wir sagen Nein zu diesem Blankoscheck.
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Die AfD kann der Neuauflage des WSF nicht zustimmen, der doch 2020 ausschließlich gegen die angebliche Jahrhundertkatastrophe namens Corona ins Leben gerufen wurde, oder in Ihren Worten, Herr Toncar – Ihr Zitat von eben –: Die Mittel sind strikt zweckgebunden. – Ja, genauso klang das auch im März 2020 an dieser Stelle genau zum gleichen Wirtschaftsstabilisierungsfonds: Die Mittel sind strikt auf Corona zweckgebunden. – Was daraus wurde, sehen wir ja heute.
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Die nun geplante Reaktivierung, Umwidmung und Vergrößerung des WSF auf Pump und auf Vorrat ist reiner Missbrauch einer Notstandslage. Man will mit Exekutivmaßnahmen, also Verordnungen, ohne Rücksicht auf Zwänge knappen Steuergelds durchregieren. Das hat mit parlamentarischer Kontrolle nichts mehr zu tun.
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Dass Gasheizer auch noch gegenüber Ölheizern bevorzugt werden, macht das Projekt rechtlich sogar noch weiter angreifbar. Die planwirtschaftlichen Maßnahmen von Strom- und Gaspreisdeckeln sind vermeidbar. Die Energiepreisexplosion ist politikgemacht. Noch können Sie die kommende Massenverarmung verhindern, indem Sie endlich die Ursachen abstellen. Für eine nur symptomatische Linderung mit Steuergeld sind die Schadenssummen der aktuellen Falschpolitik viel zu hoch.
Nötig ist also das Abwenden des für Menschen und Unternehmen existenziell gefährlichen Energienotstandes im Winter. Sie müssen endlich den Irrweg der CO2-Modell-Theorie verlassen, also heimische Kohle nutzen, zudem sichere Kernkraft. Sie müssen in dieser Lage auch die für Deutschland so fatalen Sanktionen gegen russisches Öl und Gas aufgeben. Konkret muss – auch wenn Sie es alle nicht hören wollen – sofort der noch intakte Strang von Nord Stream genutzt werden.
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Über 30 Millionen Gasabnehmer in Deutschland könnten alleine nur dadurch sofort kostengünstig versorgt werden, so wie es die letzten Jahre auch immer war. Das liegt im Interesse Deutschlands und Europas, da nur dieses Pipelinegas wirklich Versorgungssicherheit ermöglicht.
Die Regierung hofft stattdessen auf einen warmen Winter, also auf die böse Erwärmung, die man doch eigentlich verhindern und bekämpfen will.
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Sie hofft auch auf Gas ausgerechnet aus Katar und Aserbaidschan, obwohl man doch angeblich wertebasierte Außenpolitik machen will. Sie hofft auf polnischen Kohlestrom, den man doch eigentlich ablehnt, und sie hofft auf französische Kernkraft, die man doch eigentlich hasst und bekämpft. – So absurd ist deutsche Regierungspolitik und auch Oppositionspolitik anno 2022.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sven-Christian Kindler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in der schwersten Krise seit Jahrzehnten. Die Coronapandemie ist noch lange nicht vorbei, und die Klimakatastrophe und das Artensterben eskalieren immer mehr. Wir haben diesen Sommer gesehen, was das heißt: Waldbrände in Brandenburg, Waldbrände im Harz, der Rhein ist ausgetrocknet, verdorrte Felder, die schlimmste Dürre seit 500 Jahren in Europa.
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Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, führt das russische Regime einen brutalen Angriffskrieg gegen die demokratische Ukraine.
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Das führt zu einer harten Krise auch fossiler Energie in Europa; denn der russische Diktator Wladimir Putin nutzt fossiles Gas, um die demokratischen Unterstützer der Ukraine zu spalten und unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Aber wir sagen sehr klar: Das werden wir als Koalition nicht zulassen. Wir unterstützen weiterhin die Ukraine. Wir lassen uns von Wladimir Putin nicht spalten.
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Wir haben als Ampelkoalition in den letzten Monaten zentrale Antworten auf Putins hybride Kriegsführung gegeben: Wir haben die Gasspeicher zu 95 Prozent gefüllt. Wir haben im Bundestag das größte Paket für erneuerbare Energien seit Jahrzehnten beschlossen. Wir haben drei Entlastungspakete – der Staatssekretär hat darauf hingewiesen – in Höhe von 95 Milliarden Euro beschlossen. Heute legen wir eine weitere zentrale Antwort vor, einen 200 Millionen Euro schweren Abwehrschirm. Wir machen aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds einen Fonds zur Stabilisierung unserer Gesellschaft.
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Das sind 200 Milliarden Euro, die direkt ankommen, die unsere Gasversorger stabilisieren, die Industrie stabilisieren, die kleinen und mittleren Unternehmen helfen, sozialen Einrichtungen und Kommunen und vor allem die Bürgerinnen und Bürger vor den schlimmsten Folgen der fossilen Preissteigerung schützen. Wir sagen sehr klar: Wir lassen in der Krise niemanden allein.
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Deswegen schlagen wir vor, dass 200 Milliarden Euro an neuen Krediten im Rahmen der Regeln des Grundgesetzes, Artikel 115, noch 2022 aufgenommen werden, um die Maßnahmen gegen die fossile Inflation bei Gas, Fernwärme und Strom zu finanzieren. Wir machen das noch in diesem Jahr in voller Höhe, um auch Verlässlichkeit und Überjährigkeit zu garantieren; denn diese Mittel sollen für mehrere Jahre bis Frühjahr 2024 oder Mitte 2024 zur Verfügung stehen. Wir gehen damit auch finanziell jetzt in Vorleistung, weil es notwendig ist, und zeigen damit, dass wir in der Krise mit einer aktiven Finanzpolitik jenseits ideologischer Borniertheit pragmatisch und entschlossen handeln.
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Ich bin den Mitgliedern der Expertenkommission für Gas und Wärme dankbar, dass sie jetzt unter wirklich extremem Zeitdruck einen Zwischenbericht vorgelegt und einen komplexen Vorschlag erarbeitet haben, der eine weitere gute Grundlage für unser parlamentarisches Verfahren ist. Natürlich ist es klar, dass wir uns im parlamentarischen Verfahren die Vorschläge auch noch mal angucken müssen; das ist unsere Aufgabe im Parlament. Es wird mit Sicherheit noch ein paar rechtliche Fragen geben; es geht um technische Details. Natürlich werden wir an manchen Stellen auch politisch eigene Akzente setzen müssen, zum Beispiel bei der Frage einer Obergrenze insbesondere im Bereich der Industrie.
Wir müssen auch noch einmal über das Thema Energieeffizienz und Sparanreize reden. Denn eines ist auch klar: Neben der Subventionierung der Preise brauchen wir auch eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung zum Sparen von Gas. Das Signal kann jetzt auch nicht sein, mit dem Preis sei schon alles gut. Wir müssen weiterhin zentral in dieser Krise Gas einsparen, um eine gefährliche Gasmangellage insbesondere für die Industrie zu verhindern. Darum geht es auch in diesem Winter.
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Herr Middelberg, Sie haben gesagt, die Union unterstützt im Kern die Vorschläge zur Strom- und Gaspreisbremse. Gleichzeitig haben Sie gesagt, aber die Finanzierung unterstützen Sie nicht. Was wollen Sie denn stattdessen? Sie müssen auch konkrete Vorschläge machen.
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Nur kritisieren geht da nicht. Wollen Sie Steuern erhöhen? Wollen Sie Sozialkürzungen? Was wollen Sie konkret? Sie müssen konkret hier im Parlament sagen, was Sie wollen. Das wäre seriöse Finanzpolitik.
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Herr Middelberg, Sie haben auch die Atomkraft angesprochen. – Herr Merz, Sie sind heute auch hier. Sie haben noch drei Tage vor der Landtagswahl in Niedersachsen gesagt – Herr Middelberg und ich kommen beide aus Niedersachsen und wissen also sehr gut, wie die Lage dort ist –: Die Wählerinnen und Wähler entscheiden in dieser Volksabstimmung auch über die Atomkraft. – Das Ergebnis ist bekannt: Die CDU hat das schlechteste Ergebnis seit 65 Jahren, die Grünen haben ihr historisch bestes Ergebnis, die stärkste Kraft ist die SPD geworden. Es wird jetzt eine rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen geben. Herr Merz, die Wählerinnen und Wähler haben bei dieser Volksabstimmung über Atomkraft sehr klar entschieden.
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Liebe Union, lasst uns mal ehrlich reden: Warum sind wir in dieser fossilen Energiekrise? Das liegt auch daran, dass wir 16 Jahre Energiepolitik der Union hatten.
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– Da müssen Sie gar nicht lachen.
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Ich komme zu den Fakten. Wir erinnern uns alle noch an den Altmaier-Knick bei der Solarenergie. Wir wissen auch, dass Sie, wo es ging, versucht haben, jedes Windrad zu blockieren.
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Unter der Führung von Angela Merkel wurden die Gasspeicher in Rehden an Gazprom verkauft.
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Unter der Führung von Angela Merkel wurde PCK Schwedt an Rosneft verkauft. Nord Stream 2 wurde dafür von Angela Merkel vorangetrieben.
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Es waren Ihre 16 Jahre Regierungszeit, die uns in diese Misere gebracht haben. Wir räumen jetzt mit Hochdruck auf, was Sie uns alles hinterlassen haben.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Gesine Lötzsch.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschen müssen vor Armut geschützt werden, und Armutsbetroffene dürfen nicht länger arm bleiben. Das ist die klare Forderung der Linken, und daran messen wir jedes Gesetz, meine Damen und Herren.
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Besserverdienende und Vermögende freuen sich jetzt schon über die Gaspreisbremse. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, legt den Finger in die Wunde: Menschen mit hohem Einkommen werden viermal mehr Geld als Menschen mit niedrigem Einkommen erhalten. – Sie wollen alles über den Preis regeln, doch das ist der falsche Weg; denn es trifft vor allem die Menschen mit unterem und mittlerem Einkommen. Wir brauchen andere Maßnahmen, meine Damen und Herren.
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Ein Großteil des privaten Energieverbrauchs lässt sich aber den Menschen zuordnen, die mehrere Häuser besitzen, Swimmingpools haben, schwere SUV oder Sportwagen fahren
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und die vor allem häufig mit dem Flugzeug, auch mit dem Privatflugzeug, verreisen. Warum also – ganz konkreter Vorschlag – nicht alle SUV, Sportwagen, Luxusjachten und Privatjets im Winter stilllegen? Das wäre doch mal eine wirksame, konkrete Maßnahme, meine Damen und Herren.
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Ich sage der Koalition ganz klar: Sie dürfen sich nicht weiter als Vermögensverwalter der oberen reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verstehen. Das werden wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
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Die SPD und ihre diversen Koalitionspartner haben schon viele Bremsen entworfen. Funktioniert haben sie für die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger alle nicht. Ich erinnere zum Beispiel an die gescheiterte Mietpreisbremse. Die Wohnungsnot war noch nie so groß wie heute. Sie haben ein neues Ministerium geschaffen, aber auf die Wohnungen warten wir immer noch. Das ist wahrlich eine schlechte Bilanz, meine Damen und Herren.
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Die Energie-, Benzin- und Lebensmittelpreise explodieren. Wir brauchen endlich wirksame Preisdeckel. Dazu gehören die Energiekonzerne endlich wieder in die öffentliche Hand, meine Damen und Herren.
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Ich fordere Sie auf: Kuschen Sie nicht vor den Wohnungskonzernen, den großen Lebensmittelkonzernen und den Energiemonopolen!
Die „Süddeutsche Zeitung“, wahrlich kein Kampfblatt der Linken, hat am vergangenen Wochenende vorgerechnet, wen Sie mit Ihrer Energiepolitik brutal in den Bankrott treiben und wer mit der Energiepolitik kein Problem hat. Bringen wir es auf den Punkt: Die reichsten 10 Prozent der deutschen Haushalte beanspruchen so viel Energie wie die ärmsten 40 Prozent. Das wohlhabendste Zehntel der Bevölkerung könnte auf einen Schlag etwa 26 Prozent des Energiebedarfs der deutschen Haushalte einsparen, wenn es sich so verhalten würde wie der durchschnittlich wohlhabende Bürger. Das wäre doch nicht zu viel verlangt, meine Damen und Herren.
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Also verbessern wir das Gesetz mit konkreten Maßnahmen. Hören Sie auf, ständig an die Allgemeinheit zu appellieren, sondern treffen Sie dort Entscheidungen, wo sie wirksam sind, nämlich bei den Reichsten in diesem Land.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Nina Scheer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurz einen Passus aus dem Gesetzentwurf vorlesen:
Die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen sollen darauf vertrauen können,
– Herr Middelberg, ich bitte Sie, kurz zuzuhören –
dass der Abwehrschirm mit ausreichenden finanziellen Ressourcen ausgestattet ist.
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Dieses Vertrauen wollen Sie den Bürgerinnen und Bürgern offenbar nicht geben, weil Sie gerade grundsätzlich abgelehnt haben, diesem Programm zuzustimmen. Offenbar sehen Sie nicht ein, dass dieses Volumen erforderlich ist, um genau dieses Vertrauen zu geben. Ich finde es in höchstem Maße irritierend, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern in diesen Zeiten ein solches Vertrauen nicht geben wollen. Das möchte ich hier mal festhalten. Die CDU/CSU ist dazu nicht bereit.
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Genau beim Vertrauen setzt dieses Gesetz an. Wir brauchen dieses Gesetz, um den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit 200 Milliarden Euro auszustatten und damit zu ermöglichen, dass Hilfen durch auszugestaltende Programme auch wirklich umgesetzt werden. Insofern ist es auch falsch, wie es vom rechten Rand im Parlament hier unterstellt wird, dass hier quasi eine Selbstentmachtung des Parlaments stattfindet. Nein, das ist nicht so. Die Zurverfügungstellung dieser 200 Milliarden Euro erfolgt auf grundgesetzlich fundierter Basis. Wir alle wissen nicht, wie schnell wir uns von den Abhängigkeiten von Russland befreien können, auch wenn wir da auf einem guten Weg sind. Wir wissen nicht, wie weit die Krise, die auf dem fossilen Energiemarkt entstanden ist, auch weiterhin finanzielle Unterstützung erfordert.
Genau da setzen wir verantwortungsbewusst an. Wir wollen Vertrauen in die Handlungsfähigkeit stabilisieren. Deswegen ist es erforderlich, dass wir den Wirtschaftsstabilisierungsfonds entsprechend ausstatten, und man kann nur an alle appellieren, das nicht infrage zu stellen.
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Damit sind Sie nur Nährbodenbereiter für Angst, und Angst ist genau das, was ausgenutzt wird, um unsere parlamentarische Demokratie auszuhöhlen. Wenn Sie diese Angst weiter schüren, statt sie einzugrenzen, begeben Sie sich in sehr schlechte Gesellschaft.
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Wir sind in einer ernsten Situation, die verlangt, dass wir auch einmal über den Teich blicken und schauen, was andere Staaten und Kontinente machen. In den USA gibt es zum Beispiel den Inflation Reduction Act. Mit diesem wird auf die Inflation reagiert.
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Es wird auf die Krise reagiert. Es wird darauf reagiert, dass wir eine Klimakrise haben, und es wird massiv investiert. Wenn wir nicht aufpassen, dann kann diese sinnvolle Maßnahme, die die USA ergreifen, dazu führen, dass wir in Europa – durch die steigende Inflation aufgrund der fossilen Energiepreiskrise – verstärkt Schwierigkeiten bekommen, auch im Hinblick auf Investitionen in erneuerbare Energien, im Hinblick auf den Transformationsprozess, in dem wir uns befinden. Deswegen ist es dringend nötig, dass wir weitere Stabilisierungsmaßnahmen – wir haben ja schon gehandelt – auf den Weg bringen, die kräftig genug sind, um die fortschreitende Inflation einzudämmen. Man muss bei den Energiepreisen in Form von Gas- und Strompreisbremse ansetzen, damit die Inflation gestoppt wird, damit wieder investiert werden kann, damit auch massiv in die Transformation investiert werden kann. Sonst droht uns tatsächlich Abwanderung in Länder, die jetzt Booster einsetzen, um den Transformationsprozess zu beschleunigen. Wir müssen mit den Bemühungen, die an anderer Stelle stattfinden, gleichauf bleiben, damit wir in Deutschland und Europa wirtschaftlich nicht benachteiligt sind.
Deutschland ist ein hochtechnologisiertes Land, eine Industrienation. Wir wollen das bleiben – mit Europa und in Europa. Das heißt: Wir brauchen im Transformationsprozess massive Investitionen in erneuerbare Energien. Wenn Sie vonseiten der Union immer wieder versuchen, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, indem Sie sagen, dass Atomenergie die Lösung sei, dann möchte ich erklärtermaßen dagegensetzen, dass die drei verbleibenden Atomkraftwerke – und nur die beiden im Süden Deutschlands hat der Stresstest identifiziert –
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einen minimalen Beitrag zur Verhinderung des allergrößten Worst Case leisten könnten.
Wir haben gerade erst vor zwei Wochen im Deutschen Bundestag einen Erneuerbare-Energien-Booster beschlossen,
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der übrigens noch nicht vom Stresstest berücksichtigt werden konnte.
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Wir haben eine verstärkte Auslastung von Bioenergie, die Ausweitung der Nutzung von Windenergie und Photovoltaik sowie Repowering und dergleichen beschlossen. Insofern: Versuchen Sie nicht, hier Nebelkerzen zu werfen.
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Die Energiewende ist der Weg, um diese Krise zu bewältigen.
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Und hierfür brauchen wir den Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Die Fragezeichen, die Sie hier setzen, führen zu Destabilisierung und sind nichts anderes als Angstmacherei. Das ist unverantwortlich.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU Fraktion Florian Oßner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Preise für Gas, Öl, Pellets und Strom schießen seit Monaten durch die Decke. Und was macht die Ampel während der gesamten Sommerzeit? Nichts! Anstatt für Entlastung bei den Bürgern zu sorgen, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck – den ich heute vermisse, wie übrigens viele der Bundesminister, ich sehe nur eine einzige Bundesministerin; also, ich hätte gedacht, der 200-Milliarden-Euro-Doppel-Wumms wäre seitens der Bundesregierung höher priorisiert –
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sogar noch mit einer von ihm erdachten Gasumlage eine zusätzliche Belastung beschlossen. Das ist wirklich für keinen in unserem Land mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar. Es war deshalb mehr als überfällig – auf Druck der CDU/CSU-Bundestagsfraktion –, zumindest diese Zusatzdrangsalierung Gasumlage für unsere Bürger ad acta zu legen.
Insofern ist es im Grundsatz richtig, dass nun überhaupt eine Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen in unserem Land kommt. Allerdings sollte man nicht von einem Doppel-Wumms sprechen, sondern eher von einem Schulden-Wumms. Denn dieser sogenannte Abwehrschirm ist nichts weiter als ein gigantischer Schattenhaushalt, der mit einer Schuldenaufnahme über 200 Milliarden Euro die Hamsterbacken der Ampel füllt.
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Diese Schulden müssen irgendwann abbezahlt werden: 60 Milliarden Euro aus dem letzten Jahr, 140 Milliarden Euro Coronaschulden, 100 Milliarden Schulden für das „Sondervermögen Bundeswehr“, nun nochmals 200 Milliarden Euro zur Krisenintervention – in Summe eine halbe Billion Euro in diesem Jahr, also mehr als ein kompletter Bundeshaushalt.
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Das gleicht schon einer Öffnung aller Schuldenschleusen. Für uns als CDU/CSU muss deshalb unbedingt eine komplette Neupriorisierung des Bundeshaushalts vorgenommen werden.
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Herr Oßner, gestatten Sie eine Frage vom Kollegen Schrodi aus der SPD-Fraktion?
Gern.
Sehr geehrter Herr Oßner, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wir haben von Rednern der CDU/CSU-Fraktion jetzt mehrmals gehört, dass sie es grundsätzlich richtig finden, dass es Entlastungen und Hilfsprogramme für die Unternehmen und die Menschen in unserem Land gibt, die unter den hohen Preisen leiden. Wir bringen das nun auf dem Weg. Aber gleichzeitig sagen Sie, Sie seien nicht einverstanden mit der Finanzierung dieser notwendigen Programme. Aber keiner der Redner hat eine einzige Alternative aufgezeigt, wie Sie diese Programme finanzieren. Sie wollen weder die Steuern erhöhen, noch wollen Sie mit neuen Kreditaufnahmen diese Hilfen auf den Weg bringen. Wenn Sie einerseits solche Dinge versprechen, andererseits seit Monaten eine Antwort schuldig sind, wie Sie es finanzieren wollen, dann ist das unseriöse Finanzpolitik, die Sie sich in der Opposition leisten können, wir aber nicht. Eine ganz konkrete Frage: Wie wollen Sie es finanzieren?
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Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank für die Frage. – Sie haben sich selbst schon fast die Antwort gegeben. Sie haben den Instrumentarienkasten der SPD benannt, wonach man entweder Steuern erhöht oder neue Schulden aufnimmt.
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Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, nämlich eine Neupriorisierung des Haushalts.
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Wir haben diese Woche über das Bürgergeld diskutiert. Ich denke, es ist in diesen Zeiten unangemessen, die Einführung eines Bürgergelds zu beschließen – Kosten in Milliardenhöhe –, statt eine Neupriorisierung des Bundeshaushalts vorzunehmen.
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Wir führen hier keine Zwiegespräche. – Ich glaube, er hat die Frage beantwortet.
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Herr Oßner, es gibt noch eine Frage vom Kollegen Fricke aus der FDP-Fraktion. Würden Sie die auch noch zulassen?
Die lasse ich auch noch zu, sehr gerne.
Herr Fricke, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Oßner, da ich die kluge Frage meines Kollegen Schrodi verstehe, mit der Antwort aber auch nicht zufrieden bin und bisher im Haushaltsausschuss, auch nicht in den Beratungen in dieser Woche, nicht erlebt habe, dass die CDU/CSU auch nur einen Antrag zur Neupriorisierung gestellt hat,
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versuche ich es mit einer ganz einfachen Frage. Ich habe dem Kollegen Middelberg zugehört; ich habe Ihnen zugehört. Sie sagen: Das muss alles anders werden. – Ich habe aber etwas nicht gehört, was man sonst in Ihren Reden – gerade von der stolzen CSU – immer so deutlich und klar vernimmt: Werden Sie diesen Gesetzentwurf ablehnen, oder bekomme ich von Ihnen ein weiches Jein, weil wir neu priorisieren?
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Sehr geehrter Herr Kollege Fricke, ein herzliches Dankeschön für Ihre Frage.
Erstens. Um die Frage beantworten zu können, ob wir zustimmen, müssten wir genau wissen, was am Ende wirklich umgesetzt wird.
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Hier hinterlassen Sie derart viele Fragezeichen; das haben selbst Vorredner Ihrer Ampelkoalition bestätigt.
Zweitens. Wir hatten in allen Haushaltsdebatten immer klare Vorschläge zur Gegenfinanzierung eingebracht, die teilweise sogar höher war.
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Im Gegensatz zur Ampel, die immer nur zusätzliche Beschlüsse on top auf den bestehenden Haushalt gesetzt hat, wissen wir sehr wohl, mit den öffentlichen Geldern sorgsam umzugehen.
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Ob die Schuldenausnahmesituation – da wären wir beim Artikel 115 – für den Wirtschaftsstabilisierungsfonds am Ende wirklich greift, bleibt noch zu klären. Exogene Notlagen wie der Energieengpass durch den Ukrainekrieg liegen vor. Jedoch muss der Bund nicht wehrlos zuschauen, Stichwort „Kernkraftwerke“. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf meinen Vorredner Sven-Christian Kindler von den Grünen reagieren: Also, als Grüner auf andere mit erhobenem Zeigefinger zu deuten, ist echt mehr als gewagt. Denn Baden-Württemberg hat von allen Flächenländern die wenigsten Windkraftanlagen,
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wird aber bekannterweise seit 2011 von dem grünen Ministerpräsident Kretschmann regiert. Bayern im Gegensatz, das seit 1957 durchgehend von der CSU regiert ist, hat die höchste Quote an regenerativen Energien. Da können Sie sich selbst beantworten, welche politischen Voraussetzungen am Ende zählen.
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Die Krise muss definitiv abgefedert werden. Das zwingt uns natürlich, verzichtbare Projekte im Kernhaushalt einzusparen – ich habe es vorher schon benannt –, beispielsweise das Bürgergeld. Denn anders als uns insbesondere die Grünen in den letzten Tagen immer wieder weismachen wollen, kommt das Geld nicht von einer politisch gelenkten Zentralbank. Und man kann auch sehr wohl in seiner eigenen Währung – man höre – pleitegehen. Wer die Grundsätze einer unabhängigen Zentralbank aufgibt, geht den Weg in die Hyperinflation, den wirtschaftlichen Niedergang, den Deutschland mehrmals in der Geschichte erlebt hat. Das ist mit uns als CDU/CSU nicht zu machen.
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Wir kämpfen als Union für eine Entlastung der Bürger und Unternehmen. Jedoch ist für uns nicht nachvollziehbar, nach welcher Kalkulation man auf die Summe von 200 Milliarden Euro kommt. Völlig offen bleibt, wie die Gas- und Strompreisebremse schlussendlich ausgestaltet werden sollen. Öl und Pellets fallen völlig heraus, was aus meiner Sicht gerade den ländlichen Raum betrifft.
Keine Frage, ich will die Herausforderung nicht kleinreden; sie ist gigantisch. Wir laufen in eine Deindustrialisierung unseres Landes mit unabsehbaren Folgen für Wohlstand und die deutsche Zukunftsfähigkeit. Wir werden uns einer konstruktiven Zusammenarbeit deshalb nicht verschließen. Unsere Zustimmung, lieber Otto Fricke, hängt am Ende aber von der konkreten Ausgestaltung ab.
Herzliches „Vergelts Gott!“ fürs Zuhören.
(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Houben [FDP]: „Vergelts Gott!“ ist wohl die richtige Bezeichnung!
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie jedes Jahr hat sich auch im Laufe dieses Jahres in verschiedenen Bereichen des Steuerrechts ein Bedarf für notwendige Ergänzungen und Verbesserungen ergeben. Diesem Bedarf begegnen wir mit dem Entwurf des Jahressteuergesetzes 2022, den wir heute in erster Lesung beraten.
Eigentlich hätte mein Kollege Markus Herbrand diese Rede gerne gehalten. Er musste sich aber überraschend in Selbstisolation begeben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ihm zunächst einmal einen milden Verlauf zu wünschen.
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Ich glaube, die Ampel setzt mit diesem Entwurf ein Zeichen, wie wir auch im Steuerrecht auf der einen Seite sozial ausgewogen, auf der anderen Seite aber auch ökonomisch und ökologisch klug handeln können. Ich möchte Ihnen zunächst einige Kleinigkeiten nennen, die mit diesem Gesetz neu geregelt werden.
Der Zuschlag zur Grundrente wird zukünftig steuerfrei gestellt. Das ist für die Betroffenen eine wirklich großartige Sache.
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Wir werden endlich die Abschreibungsmöglichkeit bei Wohngebäuden, die nach dem 31. Dezember 2023 fertiggestellt werden, von 2 auf 3 Prozent erhöhen und passen damit die pauschalierte Nutzungsdauer bei Wohnungen eher der Realität an.
Wir werden die Homeoffice-Pauschale in Höhe von 5 Euro pro Tag entfristen und den maximalen Abzugsbetrag auf 1 000 Euro pro Jahr anheben. Es wird höchste Zeit, die Homeoffice-Möglichkeiten an die moderne Arbeitswelt anzupassen.
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Wir werden die Absetzbarkeit von Arbeitszimmern endlich einfacher regeln, ebenfalls durch einen Jahrespauschbetrag von 1 250 Euro.
Wir werden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Renten den vollständigen Sonderausgabenabzug von Altersvorsorgeaufwendungen auf das Jahr 2023 vorziehen. – Auch da kann man klatschen.
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Da könnten eigentlich alle klatschen.
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– Sehr gut. – Wir werden den Sparerpauschbetrag zum 1. Januar 2023 um 200 Euro auf 1 000 Euro bzw. 2 000 Euro für Zusammenveranlagte erhöhen.
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Den steuerlichen Ausbildungsfreibetrag erhöhen wir.
Das heißt: Es ist ein ganzer Strauß von wichtigen Entlastungsmaßnahmen, der am Ende den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land zugutekommen wird.
Neben all diesen Punkten stehen für uns zweifelsohne der Abbau von steuerlichen Investitionshemmnissen und die Schaffung von gezielten Anreizen bei der Produktion von Sonnenenergie auf Wohngebäuden im Fokus. Wir wollen Bürokratie abbauen. Wir wollen, dass zumindest kleinere Betreiber von PV-Anlagen zukünftig möglichst gar nichts mehr mit dem Finanzamt zu tun haben und umgekehrt auch das Finanzamt möglichst nichts mit den Betreibern dieser kleinen Anlagen zu tun hat.
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Wir haben in der vorangegangenen Debatte über die Herausforderungen, die in den nächsten Jahren vor uns stehen, diskutiert. Genau der Punkt der dezentralen Energieversorgung ist ein Mosaikstein, den wir heben können. Damit können wir auf der einen Seite ein erhebliches Entlastungsvolumen für die Bürgerinnen und Bürger schaffen und auf der anderen Seite einen Beitrag zur Energiesicherheit in Deutschland leisten.
Die FDP ist der Auffassung, dass hier sicherlich noch Verbesserungen im Laufe der Ausschussberatungen möglich sind. Insgesamt wird im Jahressteuergesetz 2022 sehr viel Gutes auf den Weg gebracht. Wir modernisieren das Steuerrecht. Wir werden sicherlich umfangreiche Berichterstatterberatungen dazu haben. Insgesamt ist der Entwurf jetzt schon sehr gut. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen ein, diesen Entwurf in den Ausschussberatungen noch ein Stück weit besser zu machen.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Antje Tillmann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Herr Kollege Meyer, Ihrer Aufforderung, diesen Gesetzentwurf im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens besser zu machen, kommen wir gern nach.
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Ich will dazu gleich ein paar Vorschläge bringen.
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Tatsächlich haben Sie recht, dass dieser Entwurf schon eine ganze Reihe positiver Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger bringt. Sie haben die Erhöhung des Ausbildungsfreibetrags, die Erhöhung des Sparerpauschbetrags – sie kommt zur richtigen Zeit, wo die Zinsen hoffentlich wieder steigen –, die Erhöhung der Homeoffice-Pauschale und die Steuerfreistellung des Grundrentenzuschlags genannt. Das alles sind Maßnahmen, die wir mittragen können. Das ist eine gute Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in dieser Situation. Dem werden wir zustimmen.
Bei der Photovoltaik brauchten Sie ein bisschen Nachhilfe. Sie mussten erst unseren Antrag abschreiben, um dann in diesem Gesetzentwurf die Steuerfreiheit sowohl in der Ertragsteuer als auch in der Umsatzsteuer auf Photovoltaikanlagen mit 30 kW – peak – auszuweiten. Wir werden im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hinterfragen, ob wir das nicht auch für Solarthermie machen. Genau das können Sie dann gern wieder abschreiben. Wir werden diesen Gesetzentwurf in dem Punkt auch noch attraktiver machen.
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Sich für die Rentenbesteuerung zu loben, ist ein bisschen sehr weit hergeholt, Herr Meyer; denn die Rentenbesteuerung ist tatsächlich verfassungsrechtlich vorgeschrieben.
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Dass Sie den Sonderausgabenabzug vorziehen, ist gut und richtig. Aber Sie alle haben im Wahlkampf versprochen, dass auch die zweite Stufe, nämlich die nachgelagerte Besteuerung später anfangen zu lassen, erfolgt.
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Genau das steht im Gesetzentwurf nirgendwo.
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Sie halten Ihre Versprechen nicht. Sie betuppen die Bürger. Dazu kommt, dass Sie sich 5 Milliarden Euro aus der Rentenbesteuerung dann auch noch im Entlastungspaket gutschreiben lassen, obwohl das mit der Ukraine nun wirklich überhaupt gar nichts zu tun hat.
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Diese Entlastungspakete werden wir nach und nach hinterfragen.
Dass Sie, Herr Meyer von der FDP, die Steuer-ID nicht angesprochen haben, ist klar. Denn Sie verursachen mit dem Vorhaben einer Kombination aus Steuer-ID und Bankverbindung erhebliche Kosten und Bürokratie – 13 zusätzliche Stellen, erhebliche Kosten in der Verwaltung und in der Wirtschaft. Tatsächlich wird in diesem Gesetzentwurf behauptet, dass Sie damit demnächst Hochwasser-, Ukraine- oder Coronahilfen auszahlen könnten. Nein, Sie können nichts davon – gar nichts! Denn für keine dieser Maßnahmen hätten Sie nur die Steuer-ID und die Bankverbindung gebraucht. Sie verursachen Aktionismus, Kosten, Bürokratie, ohne zu wissen, was Sie hinterher mit den Kenntnissen tatsächlich machen wollen. Wir wollen ein Gesamtkonzept, bevor wir dem zustimmen. Wir wollen nicht, dass Banken zusätzliche Kosten haben, ohne dass wir hinterher einen Nutzen daraus ziehen. Ihnen scheint das egal zu sein. Bürokratieabbau ist bei der FDP offensichtlich nicht auf der Tagesordnung.
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Auch bei der Riester-Förderung machen Sie einen ersten minimalen Schritt.
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Es ist richtig, dass Sie kinderzulageberechtigten Riester-Sparern mehr Zeit geben, Kindererziehungszeiten geltend zu machen. Das ist gut und richtig. Aber noch besser wäre, die Eltern darauf hinzuweisen, dass sie einen Antrag stellen müssen, damit ihnen diese Kinderzulagen nicht verloren gehen. Wir werden das im Gesetzgebungsverfahren fordern, damit hier nachjustiert wird. Ich hoffe, dass Sie da mitmachen. Es ist auch richtig, die Zulagenberechtigung erst zu prüfen und dann die Zulage auszuzahlen. Auch das steht im Gesetzentwurf. Das ist aber längst Fakt. Das wird von den Zulagenstellen längst so gemacht.
Was Sie aber nicht tun – das ist gerade bei der dritten Säule der Altersvorsorge zwingend –, ist: Sie kümmern sich nach wie vor nicht um die Attraktivität der Riester-Verträge. 16 Millionen Sparer müssen seit Jahren mit einer niedrigen Rendite auskommen.
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Sie haben die Vorschläge von uns seit einer Legislaturperiode auf dem Tisch liegen, und nichts passiert. Wir könnten die Beitragsgarantie optional sehr wohl reduzieren. Wir könnten den Kreis der Förderberechtigten ausweiten. Wir könnten ein kostenarmes Standardprodukt erstellen. Nichts davon tun Sie. Das heißt, Riester-Verträge werden nicht attraktiver. Tatsächlich ziehen sich die meisten Anbieter daraus zurück.
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Sie lassen die Bezieher kleiner Einkommen bei der Altersvorsorge allein. Auch da werden wir nachsteuern.
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Gebäude-AfA. Herr Meyer, leider haben Sie uns da nur die eine Hälfte erzählt. Ja, Sie heben die AfA von 2 auf 3 Prozent. Aber jeder Steuerrechtler weiß, dass in § 7 Absatz 4 Satz 2 EStG steht, dass man eine kürzere Nutzungsdauer des Gebäudes auch nachweisen kann. Diese Passage, die von vielen Investoren genutzt wird, streichen Sie. Tatsächlich ist das keine Verbesserung, sondern eine Schlechterstellung von Investoren, die alte Gebäude sanieren wollen, und das zu einer Zeit, wo wir energetische Sanierung zwingend bräuchten. Auch da geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren die Grenze für anschaffungsnahe Herstellungskosten bei 15 Prozent hinterfragen. Dann haben Sie die Chance, dieses Gesetz besser zu machen.
Grunderwerbsteuer. Auch da gibt es kleine Veränderungen, die in die richtige Richtung gehen. Aber wir alle haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, dass es bei der Grunderwerbsteuer einen Freibetrag für Familien für das selbstgenutzte Einfamilienhaus geben wird. Nichts davon steht im Gesetzentwurf.
Sie fangen vieles an, nichts davon wird tatsächlich fortgeführt. Wir werden im weiteren Verfahren viele Änderungsanträge einbringen, zum Beispiel für Kindergeldzahlungen bei Menschen mit Behinderungen, bei Kinderbetreuungskosten, bei der gendergerechten Behandlung von Bürgerinnen und Bürgern.
Wir freuen uns auf die Diskussionen und fordern Sie gerne auf, unseren Anträgen zuzustimmen.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Schrodi.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Herbst sind immer die Festtage der Finanzpolitiker. Jedes Jahr wird über das Jahressteuergesetz mit kleineren, aber auch größeren Veränderungen im Steuerrecht beraten. In den letzten Jahren hatte dieses Jahressteuergesetz auch klangvolle Namen. Ich erinnere an das Jahr 2019: „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Mit der Änderung der Hausleitung heißt es wieder Jahressteuergesetz; es stehen aber weiterhin sehr gute Inhalte drin. Diesmal könnte das Gesetz auch heißen: „Gesetz zur Umsetzung wichtiger Punkte aus dem Koalitionsvertrag“. Denn viel, was wir dort versprochen haben, liefern wir jetzt schon für das Jahr 2023; insgesamt 3,1 Milliarden Euro Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger. In dieser Zeit, glaube ich, ist dies auch ein guter Beitrag zur Krisenbewältigung, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ja, wir liefern. Ich kann mich noch erinnern, dass wir in den Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen haben, wie wir das Thema „Doppelbesteuerung von Renten“, die es jetzt noch nicht gibt, aber die wir natürlich auch für die Zukunft ausschließen wollen, angehen können. Wir haben jetzt vereinbart, die volle steuerliche Abzugsfähigkeit der Rentenversicherungsbeiträge sogar auf 2023 vorzuziehen, was zusätzliche Milliardenentlastungen für die Menschen bedeutet. Übrigens: Die nachgelagerte Besteuerung werden wir genauso angehen. Hier sind wir noch auf dem Weg, das zu tun. Wir machen jetzt den ersten Schritt mit milliardenschweren Entlastungen. Der nächste wird kommen. Auch da liefert die Ampelkoalition.
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Als Nächstes: Erhöhung des Sparerpauschbetrages auf 1 000 bzw. 2 000 Euro bei gemeinsam Veranlagten und Erhöhung des Ausbildungsfreibetrages. Aus meiner Sicht ist das eine wirkliche Neuerung. Ein junger Mensch macht eine Berufsausbildung – was wir ja wollen –, er wohnt auswärts, er bzw. die Eltern sind noch kindergeldberechtigt. Die Kosten, die dadurch verursacht werden, können auch steuerlich geltend gemacht werden. Dieser Betrag wird von 924 Euro auf 1 200 Euro angehoben. Auch das ist ein Signal. Wir wollen auch diejenigen, die eine Berufsausbildung machen oder die ihren Kindern diesen Weg bieten wollen, ein Stück weit mehr entlasten. Auch das ist ein Signal der Ampelkoalition, das bei den Menschen ankommt.
Auch bei der Homeoffice-Pauschale haben wir, glaube ich, Frau Tillmann, in der Großen Koalition eine sehr zeitnahe und unbürokratische Lösung gefunden. Wir haben im Koalitionsvertrag versprochen, sie zu evaluieren, und wir werden sie nach Möglichkeit auch entfristen. Das tun wir jetzt, indem wir den maximalen Abzugsbetrag sogar auf 1 000 Euro anheben.
Gleichzeitig gehen wir die Frage an, die steuerliche Abzugsfähigkeit des häuslichen Arbeitszimmers zu vereinfachen. Auch hier liefert die Ampel. Wir geben den Menschen, die zu Hause arbeiten, Sicherheit und mehr Möglichkeiten, sich dafür zu entscheiden, zu Hause zu arbeiten, gerade in einer sich verändernden Arbeitswelt. Auch hier liefert die Ampel. Das haben wir versprochen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Als Letztes. Durch die Vorschläge der Kommission Gas und Wärme zur Gaspreisbremse haben wir noch mal eine Aktualisierung dieses Vorhabens bekommen. Mit der Gaspreisbremse werden wir es schaffen, Menschen zu entlasten. Aber teilweise haben wir gesehen, auch in der Pandemie: Wir schaffen es oftmals nicht so zielgenau, wie wir das wollen, weil wir das Instrument nicht haben. Jetzt werden wir eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, dass wir Direktzahlungen an die Menschen auf den Weg bringen können und dass wir dieses Instrument der Direktzahlung auch in Zukunft nutzen können.
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– Frau Tillmann, natürlich wird es dann möglich sein, und es ist dann auch der Wille der Ampel, dass wir das zielgenau machen können.
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Hubertus Heil hat gesagt: Es soll ein soziales Klimageld sein, damit diejenigen profitieren, die entsprechend mehr brauchen, und nicht diejenigen, die das nicht brauchen.
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Wir schaffen jetzt die Rechtsgrundlage, um den ersten Schritt zu machen und Direktzahlungen auf den Weg zu bringen, von denen wir gesehen haben: Sie sind wichtig, und es wäre in der Pandemie wichtig gewesen, sie zielgenau zu machen. Wir wollen das hinbekommen. Die Rechtsgrundlage wird jetzt geschaffen. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt für zukünftige Herausforderungen, was wir jetzt auf den Weg bringen.
Ich freue mich auf die weitere Beratung zu diesem Jahressteuergesetz.
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Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörn König.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Steuerzahler! Alle Jahre wieder ein Jahressteuergesetz, so auch dieses Jahr. Jedes Jahr wird an ein paar Stellschrauben gedreht, hier ein bisschen geändert, dort ein bisschen geflickt. Es ist und bleibt Flickschusterei. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Der Gesetzgeber hat eigentlich verlässliche und verbindliche Rahmenbedingungen zu schaffen und eben nicht ständig alle möglichen Gesetze zu verschlimmbessern.
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Das Ganze ist jedes Mal ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Bürokraten: vom Ministerium über das Parlament bis hin zum Steuerberater. Wann ging es Belgien wirtschaftlich am besten? Als mal 600 Tage keine Regierung gebildet wurde. Da hatten die Leute zwei Jahre lang unverändert stabile Gesetze und konnten einfach wirtschaften.
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Die Krönung unprofessioneller und übergriffiger Arbeitsweise erlebten wir 2019 im Prozess zum Jahressteuergesetz 2020. Das Gesetz erhielt damals aus Marketinggründen den Titel „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität“.
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Frau „Dr.“ Giffey mit ihrem Gute-KiTa-Gesetz ließ damals herzlich grüßen. An einem lauschigen Dienstagabend im November gegen 21 Uhr erhielten wir 32 Änderungsanträge der damaligen Regierungskoalition. Diese 32 Anträge sollten wir dann nach einer Nachtschicht morgens früh um 9 Uhr im Finanzausschuss abstimmen – eine Missachtung der Oppositionskollegen sondergleichen und ein Ausdruck der unprofessionellen Arbeitsweise hier in diesem Parlament.
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Wissen Sie, was das Schöne an einem solchen Blindflug von ungeplanten Arbeiten ist? Dass der Misserfolg völlig überraschend eintritt.
Kommen wir zu den Stellschrauben im Jahressteuergesetz 2022. Es sind insgesamt 16 Stück. Ich stelle mal ein paar exemplarisch heraus.
Erstens. Die Homeoffice-Pauschale wird entfristet und erhöht; das ist positiv.
Zweitens. Viele Frei- und Pauschbeträge werden manuell erhöht. Dies könnte man zum Beispiel mit einer Indexierung automatisch und dadurch viel besser lösen. Der Tarif auf Rädern lässt grüßen, den wir schon seit Ewigkeiten fordern.
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Drittens. Im Bewertungsgesetz wird die steuerliche Bewertung von Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern geändert. Der Eigentümerverband Haus & Grund Deutschland schätzt die Erhöhung zwischen 20 und 30 Prozent ein. Die Freibeträge beim Erben werden dadurch schneller erreicht, und dann wird schneller und höher Erbschaftsteuer fällig. Zusammen mit der gerade aktuellen Grundsteuererklärung und einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem bezeichnenden Titel „Kompetenz des Bundes zur Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe in Krisenlagen“ könnte man meinen: Hier wird eine gezielte Enteignung des Mittelstandes vorbereitet.
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Viertens. Es soll ein direkter Zahlungsweg vom Staat zum Bürger für öffentliche Leistungen unter Nutzung der Steuer-ID geschaffen werden. Das hört sich erst mal gut an, aber hier werden die Grundlagen gelegt, um große Gruppen des Volkes dauerhaft von direkten Staatszuwendungen abhängig zu machen. Bürgergeld, direkter Zahlungsweg für öffentliche Leistungen – es scheint immer weiter in Richtung Umverteilung zu gehen.
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Wie viele Rettungspakete werden da von Ihnen noch kommen, die alle von der fleißigen Mittelschicht bezahlt werden müssen? Gehen Sie doch endlich mal einfach an die Ursachen ran!
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Der arbeitende Nettosteuerzahler, egal ob er Schneider, Koslowski oder Öztürk heißt, wird nur noch als maximalbesteuerter, geduldeter und demütiger Finanzierungssherpa behandelt. Das ist ein Skandal. Auch der indigene Deutsche, für den Arbeiten eine Religion ist und den die Regierung so liebevoll „Ataman-Kartoffel“ nennt,
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ja diese Kartoffel fragt sich, warum sie überhaupt noch arbeiten soll, wenn es sich nicht mehr zu arbeiten lohnt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die AfD diesem Jahressteuergesetz zustimmen wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Sebastian Schäfer.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In der akuten Krise wird die Bundesregierung bis zu 200 Milliarden Euro bereitstellen, um für unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Unternehmen die Folgen der extremen Preisentwicklung bei den fossilen Energien abzufedern. Wir nehmen bis zu 200 Milliarden Euro neue Schulden auf, weil in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen wurden. Wir können diese nicht ungeschehen machen und müssen einen Umgang damit finden.
Diese Koalition betreibt aber nicht nur Vergangenheitsbewältigung, nicht nur Krisenpolitik, sondern diese Koalition gestaltet Zukunft,
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und das sehen wir im Jahressteuergesetz. So werden wir ab 2023 für kleinere Solaranlagen bis 30 Kilowatt-peak Leistung die Umsatzsteuer für Kauf, Installation und Reparatur auf null absenken. Wir haben in diesem Kreis schon gelegentlich über die Umsatzsteuer und die Komplexität bei den Ausnahmen gesprochen. Aber hier geht es darum, einen Investitionsanreiz für unsere Bürgerinnen und Bürger zu setzen, der auch volkswirtschaftlich echte Rendite bringt.
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Christian Lindner nennt erneuerbare Energien zu Recht „Freiheitsenergien“. Gleichzeitig bauen wir damit – und das ist wesentlich – bürokratische Hürden ab. Vorsteueranmeldungen werden genauso überflüssig wie die Nutzung der Kleinunternehmerregelungen. Auch die Ertragsteuer spielt bei den kleinen Anlagen keine Rolle mehr. Das entlastet Bürger/-innen, und das entlastet den Fiskus, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Finanzämtern. Die Erzeugung von Bürger/-innenstrom per Photovoltaikanlage wird einfacher denn je.
Ich möchte mich auch herzlich beim Bundesminister und seinem Haus bedanken, dass er Vorschläge der Länder Baden-Württemberg und Hessen ins Jahressteuergesetz aufgenommen hat. Haushalts- und Finanzpolitiker/-innen schimpfen ja gerne mal über die Länder; aber dort sitzt ganz viel Verwaltungsexpertise, die wir nutzen können, um Prozesse einfacher zu machen.
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Die Fortschrittskoalition nimmt konstruktive Vorschläge ernst, wenn es nicht nur stumpf heißt: „muss weg“.
Zuletzt hat die Gaspreiskommission die Idee einer sozial differenzierten Direktzahlung als grundsätzlich guten Mechanismus bezeichnet. Mit dem Aufbau eines direkten Auszahlungsweges für öffentliche Leistungen und der Nutzung der steuerlichen Identifikationsnummer wird die Fortschrittskoalition damit auch die Grundlagen für ein Klimageld auf den Weg bringen.
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Nicht nur für die Gaspreisbremse ist ein solches Instrument notwendig. Wir brauchen diesen Mechanismus auch, um Preisanstiege zu kompensieren, wenn das notwendig ist, um damit die Akzeptanz des Marktsystems zu erhöhen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Janine Wissler.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Jahressteuergesetz werden viele Details neu geregelt, von der Homeoffice-Pauschale über Abschreibungsregelungen und Freibeträge, und das ist in Teilen auch sinnvoll. Was aber bleibt, das sind die extremen Ungerechtigkeiten im Steuersystem, und die möchte ich an dieser Stelle genauer beleuchten.
Wenn man sich das Steueraufkommen anschaut, dann stellt man fest, dass ein großer Anteil aus Löhnen und Gehältern, also aus Erwerbsarbeit, stammt, während leistungsloses Einkommen und Vermögen in diesem Land kaum besteuert wird. Wer nämlich, statt zu arbeiten, von den Dividenden seiner geerbten Aktien lebt, der zahlt nach der sogenannten Abgeltungsteuer pauschal nur 25 Prozent Steuern, egal ob er drei Belegschaftsaktien oder die Unternehmensmehrheit im Milliardenwert besitzt – und das, meine Damen und Herren, ist zutiefst ungerecht.
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Die meisten wirklich reichen Menschen in Deutschland, die über Millionen- oder gar Milliardenvermögen verfügen, sind nämlich nicht durch Erwerbsarbeit reich geworden, sondern durch Kapitalerträge, und die müssen endlich angemessen besteuert werden.
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Der Anteil vermögensbezogener Steuern in Deutschland ist verschwindend gering; er liegt bei nicht mal 3 Prozent des Steueraufkommens. Während die unteren 40 Prozent der Bevölkerung gar keine Ersparnisse haben oder sogar Schulden, verfügen die oberen 10 Prozent über zwei Drittel des gesamten Vermögens. Höchste Zeit für die Wiedererhebung der Vermögensteuer!
Auch bei den Erbschaften gibt es ungerechte Steuerlöcher, die geschlossen werden müssen, zum Beispiel durch so ein Gesetz. Es kommt immer wieder vor, dass jemand ein Unternehmen im Wert von 500 Millionen Euro erbt, aber dann keinen Cent Erbschaftsteuer bezahlt. Die Steuergesetze werden ja nicht nur kreativ genutzt und fantasievoll gedehnt, sondern handfester Steuerbetrug wird systematisch organisiert. Wir haben diese Woche schon darüber geredet: Allein im Cum-ex-Skandal wurde die Gesellschaft um mindestens 32 Milliarden Euro betrogen – 32 Milliarden Euro, die Schulen und Krankenhäuser gut hätten gebrauchen können.
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Der tatsächlich festgestellte Steuerbetrug lag im Jahr 2020 bei 1,25 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der vieldiskutierte Sozialleistungsbetrug lag bei 57 Millionen Euro. Der Schaden durch Steuerbetrug ist also 22‑mal höher.
Während Menschen, die Grundsicherung beziehen, Probleme mit dem Jobcenter bekommen, weil sie Geschenke von Verwandten erhalten, bereichern sich andere weitgehend ungestört. Das hat auch damit zu tun, dass die Steuerfahndungen in Deutschland so schlecht ausgestattet sind, dass regelmäßige Betriebsprüfungen überhaupt nicht möglich sind. Es ist also nicht das Sozialsystem, das missbraucht wird, es ist das Steuersystem mit seinen Schlupflöchern und unentdeckten Steuerhinterziehern, und daran ändert dieses Gesetz leider überhaupt nichts.
Nicht nur Reichtum vererbt sich, auch Armut. Wer arm ist, kann sich so viel anstrengen, wie er will – der vielgepriesene Aufstieg durch Bildung und Arbeit funktioniert nicht. Deshalb: Wer Armut bekämpfen will, der muss Reichtum umverteilen durch eine höhere Besteuerung großer Vermögen und hoher Einkommen.
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Das fordern wir als Linke, und das fordert auch die Initiative #IchBinArmutsbetroffen, die morgen vor dem Kanzleramt demonstriert. Denn für Armut, meine Damen und Herren, müssen sich nicht die Betroffenen schämen – für Armut muss sich eine Politik schämen, die es zulässt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Parsa Marvi.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Jahressteuergesetz 2022 mag etwas technisch daherkommen, und es ist in der Tat ein komplexes Gesetz – das haben wir heute schon durch verschiedene liebevolle Detailbetrachtungen gehört – mit einer Vielzahl von Paragrafen und Bestimmungen, die wir hier im Steuerrecht als Ampel angehen und modernisieren. Aber es ist ein echtes Fortschrittsgesetz, ein weiterer Baustein, um einen Beitrag zur aktuellen Krisenlage zu leisten, aber auch, um den Ampelkoalitionsvertrag weiter erfolgreich umzusetzen.
Da haben wir in der Steuerpolitik schon einiges gemeinsam auf den Weg gebracht. Aber angesichts von – ich habe es mir mal genau angeschaut – 115 Einträgen unter dem Begriff „Steuer“ im Ampelkoalitionsvertrag haben wir noch einiges vor uns. Wenn der Redner der AfD augenscheinlich keine Lust hat auf eine handlungsfähige Regierung in dieser Krisenlage in Deutschland, sage ich Ihnen: Wir sind außerordentlich froh, dass wir regieren. Wir haben außerordentlich Lust, Steuer- und damit auch immer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in diesem Land zu gestalten, meine Damen und Herren.
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Wir vereinfachen mit diesem Gesetz. Wir entbürokratisieren; wir schaffen Rechtssicherheit; wir helfen mit steuerlichen Maßnahmen bei der Energiewende, weg von fossilen Energieträgern; wir fördern den Wohnungsbau, und wir entlasten in einer Zeit von eingetretenen Teuerungen und sicherlich im nächsten Jahr noch andauernden Teuerungen. So wie ich es letzte Woche hier gesagt habe: Diese Koalition bringt Woche für Woche Gesetze zur Entlastung und zur Stärkung des Standorts Deutschland auf den Weg. Diese Koalition kann Krisenpolitik. Das haben wir inzwischen mit mehreren Entlastungspaketen mit einem Volumen von über 300 Milliarden Euro bewiesen, mit denen wir das Land sicher durch diesen Herbst und Winter bringen wollen.
Wir machen mit diesem Jahressteuergesetz genau dort weiter, wo wir mit dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz aufgehört haben, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum Beispiel bei der Förderung von mobilem und digitalem Arbeiten. Das ist jetzt, in dieser erneuten Coronaherbstwelle, besonders wichtig, aber auch weit darüber hinaus ein Megatrend, der von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als Angebot gewollt und genutzt wird. Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet bereits im Homeoffice, doppelt so viele wie vor der Pandemie.
Ich bin mir ganz sicher: Diese Entwicklung wird sich auch in postpandemischen Zeiten verstärken und so weitergehen. Wir wollen als SPD-Fraktion das Thema Homeoffice gesamtgesetzlich weiter auf der Agenda halten, wie Sie wissen. Aber wir wollen es jetzt mit diesem Gesetz steuerlich konkret fördern, mit einer verbesserten Homeoffice-Pauschale und verbesserten Regelungen für das sogenannte häusliche Arbeitszimmer.
Das ist eine Ampelsteuerpolitik, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nützt. Wir als Ampel sind eine Arbeitnehmerkoalition. Wir helfen den kleinen Sparern durch die Erhöhung des Sparerpauschbetrags. Wir helfen Familien bei den Kosten für Studium und Ausbildung durch die Erhöhung des Ausbildungsfreibetrags. Wir ziehen den 100-prozentigen Sonderausgabenabzug für Altersvorsorgeaufwendungen auf 2023 vor.
Sie haben zwar recht, Frau Tillmann, dieses Gesetz wäre auch ohne Zeitenwende, ohne Krisenlage gekommen, aber es hilft doch – das müssen Sie doch auch sagen – mit den größeren und kleineren Schrauben, die wir hier drehen, um ganz konkret der Inflation entgegenzuwirken.
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Das ist jetzt mein zweites Gesetz, bei dem ich als Berichterstatter mitarbeiten darf. Beim ersten, beim Corona-Steuerhilfegesetz, ist es sehr erfolgreich gelungen. Ich bin mir sicher, dass wir das Struck’sche Gesetz hier anwenden, noch auf schlaue Ideen kommen und ein gutes Werk der Bundesregierung als Parlament noch besser machen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion Olav Gutting. Wir feiern alle gemeinsam mit ihm seinen heutigen Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch im Namen des ganzen Hauses!
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzerwärmend! Was gibt es Schöneres, als an seinem Geburtstag hier in diesem Hohen Haus zu einem wichtigen Gesetz zu sprechen?
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Aber das Jahressteuergesetz ist wie der Geburtstag: Es kommt regelmäßig. Ich habe mittlerweile schon viele Jahressteuergesetze gesehen und darf hier heute sagen: Der Entwurf für das Jahr 2022 ist tatsächlich nicht der schlechteste.
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Da ist einiges an Entlastungen für die Steuerzahler drin; wir haben es vorhin schon gehört: Erhöhung des Sparerfreibetrags, Erhöhung der Homeoffice-Pauschale, Erhöhung des Ausbildungsfreibetrags. Das entspricht ja auch Vorschlägen, die wir in der letzten Legislaturperiode immer wieder gemacht haben, aber leider mit einem Finanzminister Olaf Scholz nicht durchsetzen konnten. Deswegen an dieser Stelle erst mal ein ehrliches Lob an Christian Lindner; Florian, du kannst es ihm ausrichten. Das ist ehrlich gemeint. Da sind gute Sachen drin.
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Aber wir wären natürlich eine schlechte Opposition, hätten wir nicht auch Kritik und eigene Verbesserungsvorschläge. Ich muss sagen: Das Eigenlob, das hier einige der Koalitionsredner abgefeiert haben, ist schon stark übertrieben.
Es ist gut, dass sich der Abschreibungssatz für Gebäude im nächsten Jahr von 2 auf 3 Prozent erhöhen soll. Diese Forderung hatten wir von der Union auch schon lange gestellt, konnten sie in den letzten acht Jahren gegenüber dem Koalitionspartner aber nie durchsetzen. Aber es ist unverständlich, warum wir jetzt die Möglichkeit des Nachweises einer kürzeren Abschreibungsdauer hier streichen sollen; denn das – Antje Tillmann hat es vorhin schon gesagt – ist keine Erleichterung, das bedeutet keine Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger, sondern es bedeutet, dass Sie gerade dort, wo die Sanierung jetzt so wichtig wäre, im Altbestand, wo wir die CO2-Treiber haben, die energetische Sanierung erschweren, es für Investoren schwieriger machen, dort vernünftig die Sanierung anzugehen. Da sollten Sie wirklich noch mal nachdenken, ob diese Streichung in dieser Situation Sinn macht.
Zweiter Punkt: Riester. Es wurde vorhin schon angesprochen: Sie vertun auch hier eine Chance bei diesem Jahressteuergesetz. Die lange Niedrigzinsphase in der Kombination mit der Absenkung des Höchstrechnungszinssatzes zum 1. Januar dieses Jahres
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bedeutet im Prinzip das faktische Aus für viele geförderte Verträge mit 100-prozentiger Beitragsgarantie. Kein Anbieter hat in diesem Jahr entsprechende Produkte angeboten, und viele Altverträge werden nicht mehr bedient. Hier entsteht sehenden Auges tatsächlich eine Versorgungslücke bei der geförderten Altersversorgung bei Geringverdienern und bei Familien.
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Die Lösung wäre einfach. Wir könnten die Bruttobeitragsgarantie von 100 Prozent zum Beispiel auf 80 Prozent absenken. Mit dieser Absenkung gäbe es sowohl im Neu- wie auch im Bestandsgeschäft wieder mehr Möglichkeiten zur Investition. Es kann ein renditeträchtiges Produkt bei gleichzeitiger Risikoabsicherung entwickelt werden. Aber die 100-prozentige Beitragsgarantie ist tatsächlich von gestern.
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Der dritte Punkt, den wir von der Union an dieser Stelle anzumerken haben, ist, dass die Einführung eines neuen Umsatzsteuersatzes von null bei der Lieferung von Solarmodulen an private Photovoltaikbetreiber – wie soll ich es sagen? – ordnungspolitisch schon etwas bizarr ist. Aber es ist richtig, es ist eine gute Möglichkeit zur Entbürokratisierung für die Bürger. Aber auch hier muss die Ampel noch mal nachbessern. Sie haben die Klarstellung vergessen, dass es auch beim Mieten, bei Mietkauf, bei Ratenkauf von Solaranlagen hier zu einer Anwendung des Nullsteuersatzes kommen muss. Da müssen Sie noch mal nachbessern.
Wenn man das anpackt, dann sollte man tatsächlich auch die Solarthermieanlagen in diese Regelung miteinbeziehen; denn auch diese Anlagen produzieren ja mit Energie aus Sonnenstrom Wärme, und deswegen gehören die auch in den Anwendungsbereich des Nullsteuersatzes.
Wir sind die konstruktive Oppositionsfraktion. Ich glaube, das hat heute noch mal jeder erkennen können.
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Wir machen konkrete Verbesserungsvorschläge.
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– Auch deswegen natürlich; aber wir sind ja auch sonst immer konstruktiv. – Wir erwarten jetzt mit Spannung die Vorschläge des Bundesrates, über den auch noch einiges aus den Ländern kommen wird. Ich freue mich jedenfalls auf die weiteren Beratungen und auf die Verbesserungen – hoffentlich sind es Verbesserungen – zu diesem Gesetz. In diesem Sinne: Gehen wir’s an!
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sascha Müller.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstmals legt die Fortschrittskoalition ein Jahressteuergesetz vor und setzt damit im Steuerrecht eine ganze Reihe von Regelungen um, die im Koalitionsvertrag verankert worden sind. Dazu gehört beispielsweise die Vermeidung der Doppelbesteuerung der Renten. Durch das Vorziehen der vollständigen steuerlichen Absetzbarkeit von Aufwendungen für die Altersvorsorge sorgen wir auch für weitere Entlastungen. Oder denken wir auch an die Entfristung der Homeoffice-Pauschale, mit der wir Veränderungen in der Arbeitswelt Rechnung tragen. Entscheidende Verbesserungen und Erleichterungen nehmen wir bei der Photovoltaik vor. Damit sorgen wir für einen weiteren Push für die Energiewende. Und vieles andere mehr. Das zeigt: Entgegen anderslautenden, auch hier im Haus mitunter artikulierten Gerüchten funktioniert die Ampel gut. Sie funktioniert.
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Wir bringen nicht nur drei Entlastungspakete im Wert von 95 Milliarden Euro und einen Abwehrschirm von 200 Milliarden Euro auf den Weg. Wir sichern nicht nur unsere Energieversorgung trotz des Ausbleibens der Gaslieferungen aus Russland. Wir bekämpfen nicht nur die Inflation mit Gaspreisbremse und Strompreisdeckel. Wir arbeiten nicht nur an einer sicheren und sauberen Energieversorgung auf Basis von erneuerbaren Energien. Nein, wir modernisieren gleichzeitig auch das Steuerrecht und bringen mit dem Auszahlungsmechanismus für künftige Entlastungen eine kleine Revolution auf den Weg.
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Erstmals wird der Staat in die Lage versetzt, Geldzahlungen an alle Bürger/-innen vorzunehmen, und das eben ohne bürokratische Antragsverfahren. Mussten wir bei der Energiepreispauschale noch den Umweg über die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gehen, so kann künftig der Staat etwa ein Klimageld direkt auf das mit der Steuer-ID verknüpfte Bankkonto überweisen.
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Ja, dieses Vorhaben ist zunächst ein Kraftakt, aber ein lohnender Kraftakt, und wir sollten das so zügig wie möglich angehen. Auch die Länder unterstützen diesen Weg und haben sich gerade erst noch eine schnelle Umsetzung gewünscht, und das ist auch unser Wunsch.
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Eine weitere Neuerung ist, dass wir die lineare Abschreibung neuer Gebäude in diesem Gesetzentwurf von jährlich 2 Prozent auf 3 Prozent anheben. Es kommt dem Schaffen neuen Wohnraumes zugute. Für uns Grüne würde es noch besser, wenn wir das auch gezielt mit der Schaffung von energetisch effizientem Wohnraum verbinden könnten.
Sie sehen: Es gibt eine ganze Reihe von guten Punkten in diesem Gesetzentwurf. Ich will nicht ausschließen, dass wir noch den einen oder anderen guten Punkt im weiteren parlamentarischen Verfahren ergänzen werden. Insofern freue ich mich auf die weitere Erörterung in den Berichterstattergesprächen, in der anstehenden Anhörung und im Ausschuss und danke für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Tim Klüssendorf.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich über so viel Konstruktivität der CDU/CSU-Fraktion sehr gefreut, nachdem wir gestern in der Cum-ex-Debatte doch die eine oder andere Auseinandersetzung hatten. So stelle ich mir das vor. Daher freue ich mich, dass meine Rede von gestern so schnell Wirkung erzielt hat. Vielen Dank dafür!
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Ich möchte heute aber meine Redezeit nutzen, um noch einmal ausführlich über das Thema PV zu sprechen, weil das auf jeden Fall einen riesigen Schritt in Richtung weniger Bürokratie und für den Ausbau der erneuerbaren Energien bedeutet. Wir haben uns im Koalitionsvertrag und in der Ampelregierung darauf festgelegt, dass wir die PV von 60 Gigawatt auf 200 Gigawatt bis 2030 ausbauen wollen. Das Jahressteuergesetz heute ist tatsächlich ein wesentlicher Schritt dahin. Wir entbürokratisieren, wir erleichtern.
Um das deutlich zu machen, will ich einmal kurz darstellen, wie eigentlich der Weg ist und was ich alles zu beachten habe, wenn ich eine Familie habe und auf mein Einfamilienhaus eine PV-Anlage setzen will. Das fängt natürlich damit an, dass man sich nach den baurechtlichen Vorschriften erkundigen muss. Fördermittel beantragen, bewilligen lassen – das sind alles Themen, die uns im Steuerprozess gar nichts angehen –, Anlagenprotokoll vom Handwerksbetrieb ausstellen lassen, Daten dem Netzbetreiber melden, bei der Bundesnetzagentur ins Marktstammdatenregister eintragen lassen, die Anlage versichern, Zähler anschaffen – das ist übrigens gar nicht trivial, weil die Stadtwerke im Moment riesige Probleme haben, die ganzen Zähler zu beschaffen –, Netzbetreiber wegen der Einspeisevergütung ansprechen, und bei größeren Anlagen über 10 kWp muss ich auch noch ein Gewerbe anmelden. Das ist der erste Teil; da bin ich noch gar nicht beim steuerlichen Teil.
Jetzt kommt der steuerliche Teil. Die Verbraucherzentrale sagt: Bitte klären Sie vorher die steuerrechtlichen Fragen; denn Sie werden sonst am Ende auf gar keinen Fall zum Erfolg kommen. – Umsatzsteuer: einfacher Weg: Kleinunternehmerregelung. Das heißt, ich habe Umsätze von weniger als 22 000 Euro im ersten Jahr, 50 000 Euro im Folgejahr. Das ist ganz gut, weil man dann wenig Bürokratie hat. Der Nachteil ist: Ich kann die Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer erstatten lassen. Das heißt, die Anschaffungskosten sind sozusagen höher. Man hat also einen Anreiz, doch Umsatzsteuer anzumelden.
Was passiert aber, wenn ich Umsatzsteuer anmelde? Ich kann mir eigentlich ein Büro im Finanzamt einrichten, weil ich schon mit einer normalen Familie monatlich Vorsteueranmeldungen leisten muss. Bei Nachrüstungen mit Batteriespeichern kommt sogar dazu, dass ich meine Batterie noch mal einzeln anmelden muss. Die normale Solarenergieanlage und die Batterieanlage werden dann also noch mal einzeln dem Finanzamt gemeldet.
Man merkt also: Okay, das ist schon eine Menge an Bürokratie. Ich bin jetzt aber noch nicht bei der Einkommensteuer. Die Einkommensteuer kommt auch noch obendrauf. Maximal 10 kWp darf ich haben, dann zählt es als Liebhaberei. Die durchschnittliche Solarenergieanlage hat aber 7 bis 15 kWp. 7 bis 15 kWp sind natürlich bei einem Grenzwert von 10 kWp relativ ungünstig. Das heißt, auch da gibt es eine große Problematik, die wir mit diesem Gesetz angehen.
Ohne Vereinfachungsregelungen habe ich also auch mit der Einkommensteuer noch eine Menge Bürokratie zu erledigen. Und deswegen jetzt ganz wichtig – in den letzten 20 Sekunden meiner Redezeit –: Was macht dieses Jahressteuergesetz? Einkommensteuer: Wir setzen den Grenzwert hoch auf 30 kWp – extrem wichtig, um steuerfrei zu sein und die Liebhaberei auszudehnen. Umsatzsteuer: Wir führen den Nullsteuersatz ein, sodass die Kleinunternehmerregelung ohne finanzielle Nachteile anzuwenden ist und von allen genutzt werden kann. Und einen dritten Punkt noch: Die Lohnsteuerhilfevereine dürfen künftig auch beraten. Das dürfen sie im Moment noch nicht. Das ist ein wirklich ganz wesentlicher Schritt der Entbürokratisierung. Ich freue mich, dass wir heute mit diesem Gesetz einen ganzen Schritt vorangehen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fachkräftemangel droht zu einer massiven Wachstumsbremse für die deutsche Wirtschaft zu werden. Schätzungen gehen davon aus, dass unser Wachstumspotenzial – auch aufgrund des Fachkräftemangels – in den nächsten Jahren deutlich schrumpfen wird. Damit ist der Fachkräftemangel neben der Energieversorgung eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Tage.
Wenn das Produktionspotenzial nur noch auf 0,7 Prozent taxiert wird – das kann man so auch in der jüngsten Gemeinschaftsdiagnose nachlesen –, dann hört sich das vielleicht zunächst mal harmlos an. Das ist es aber nicht. Denn über einen Zeitraum von zehn Jahren beträgt der Verlust, den man gegenüber einer Welt mit 1,5 Prozent Wachstum hat, 320 Milliarden Euro. Ich habe das auch mal in eine Rechnungseinheit übersetzt, die Sie alle jetzt ja ganz gut kennen: Das sind etwa 1,5 Doppel-Wumms, also viel Geld.
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Versuche, das Fachkräfteproblem zu lindern, gibt es ja schon länger. Ich erinnere zum Beispiel an das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Obwohl in der Sache ordentlich gemacht, funktioniert das mit der Zuwanderung von Fachkräften immer noch nicht so richtig hier in Deutschland. Menschen, die zu uns kommen, sind oftmals irgendwann auch wieder weg. Tatsächlich ist es so, dass jeder Zweite, der nach Deutschland einwandert, dann auch wieder Deutschland verlässt – ein ernüchternder Befund, wie ich finde.
Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt, zumindest zu einem ganz wesentlichen Teil. Ich habe selbst mal fünf Jahre im Ausland gelebt und mit vielen Menschen mit guter Ausbildung und auch hoher internationaler Mobilität gesprochen. Was wollen diese Menschen, wenn sie migrieren? Na ja, ganz einfach: Sie wollen Geld verdienen, weil sie sich eine Existenz aufbauen wollen. Wenn sie aber in Deutschland ihre erste Gehaltsabrechnung bekommen, dann sind sie geschockt: 40 bis 50 Prozent gehen locker weg. Bei Ledigen der Steuerklasse I liegt der Selbstbehalt des Einkommens gerade noch bei 35 Prozent. Das können Sie jedes Jahr beim Bund der Steuerzahler nachlesen. Aber selbst trotz dieser hohen Belastung wollen Sie noch draufsatteln, obwohl in Deutschland doch schon Fachkräfte oftmals den Spitzensteuersatz zahlen. So etwas spricht sich schnell rum. Und weil es in nahezu allen anderen Ländern, mit denen wir um gute Leute konkurrieren, nicht so ist, sind viele dann auch schnell wieder weg.
Ein weiteres Problem, über das hier auch gestern schon intensiv debattiert wurde, ist Ihr Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik. Mit dem Spurwechsel machen Sie aus illegaler Einwanderung per Gesetzesbeschluss einfach mal so legale Einwanderung. Das allein finde ich aus rechtsstaatlicher Sicht schon bemerkenswert.
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Noch viel schlimmer aber ist – noch viel schlimmer aber ist –, dass Sie dabei gar nicht genau hinsehen, was die Menschen, die zu uns kommen, wirklich können. Ich glaube, viele von Ihnen haben überhaupt gar keine Vorstellung davon, was Zerspanungstechniker, Mechatroniker oder Heizungsbauer heute so können müssen. Haben Sie schon mal von computergesteuerten Dreh- und Fräsmaschinen gehört?
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Damit produktiv umzugehen, das lernt man nicht mal so nebenbei in einem Schnellkurs. Um das zu beherrschen, brauchen Sie eine gute Schulausbildung und eine drei- bis dreieinhalbjährige Berufsausbildung. Und selbst dann stehen Sie noch ganz am Anfang Ihres Könnens. Ich kann das so ein bisschen beurteilen, weil ich vor meinem Studium der Volkswirtschaft auch mal eine Ausbildung zum Energieanlagenelektroniker gemacht habe. – Nein, mit dem Spurwechsel werden Sie den Fachkräftemangel nicht bekämpfen. Das ist eine Illusion.
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In den kommenden 15 Jahren werden knapp 13 Millionen Babyboomer – diese Zahl muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – in Rente gehen. Das heißt, der Fachkräftemangel, der heute schon ein großes Problem ist, droht zu einem noch viel größeren zu werden. Deshalb müssen auch in dieser Frage wirklich alle Optionen auf den Tisch. Dazu gehört zuallererst natürlich auch, dass wir die im Inland vorhandenen Potenziale heben; denn da ist noch einiges zu heben.
In unserem Antrag haben wir formuliert, was zu tun ist. Ich nenne hier nur einige Punkte. Zum einen muss die Zahl der Schulabbrecher verringert werden. 2020 haben rund 45 000 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Das ist zu viel. Deshalb muss die Bundesregierung mit den Ländern sprechen und darauf hinwirken, dass die Berufsorientierung in den Schulen verbessert wird. Auch müssen Schulpläne so ausgestaltet werden, dass unsere Schülerinnen und Schüler fit für den Berufsalltag sind. Auch Fliesenleger müssen übrigens den Satz des Pythagoras kennen.
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Wir müssen auch mehr junge Menschen für die Handwerksberufe begeistern. Das gilt gerade auch für Mädchen. Ich habe vor ein paar Monaten die Rede bei einer Lossprechung von Elektronikern bei mir im Wahlkreis gemacht. Von den insgesamt 50 neuen Gesellen war gerade mal eine junge Dame dabei. Ich glaube, auch hier ist ein großer Hebel.
Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung ist es immer noch so, dass die berufliche Bildung deutlich weniger unterstützt wird als die akademische. Ich gebe nur ein Beispiel: Die Kosten der überbetrieblichen Ausbildung werden immer noch zu einem großen Teil von den Unternehmen selbst getragen. Das trifft dann gerade die kleinen und die mittleren Unternehmen, die hier zur Kasse gebeten werden. Ich glaube, niemand käme auf die Idee, die akademische Ausbildung den Großunternehmen in Rechnung zu stellen.
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Da ich schon die akademische Ausbildung angesprochen habe: Wir müssen natürlich auch Studierende zu Beginn des Studiums viel enger durch gezielte Programme begleiten. Nur so können wir Studienabbrecher und Studienabbrecherinnen schneller auffangen. Mit einer Abbruchquote von 27 Prozent im Jahr 2018 ist auch hier das Potenzial erheblich.
Wir müssen auch die Erfahrungen der älteren Generation länger nutzen. Dazu gehören flexible Arbeitszeitmodelle und ein flexibles Renteneintrittsalter.
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Klar: Nicht jeder kann jeden Job über das 67. Lebensjahr hinaus machen. Bei vielen Tätigkeiten geht das aber, und viele Menschen wollen das auch. Damit würden wir übrigens auch einen der größten sozialpolitischen Fehler der letzten Legislaturperiode heilen, nämlich die Rente mit 63.
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Es gibt viele Möglichkeiten, das Arbeitskräfteangebot und ‑potenzial in Deutschland zu verbessern. Von 83 Millionen Menschen in Deutschland sind aktuell nur 34 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme ist es unabdingbar, dass wir diese Zahl, die ja in den Jahren der CDU/CSU-Regierung schon deutlich gestiegen ist,
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weiter nach oben bringen. Dafür müssen Sie sich aber von linken Fantasien wie dem Bürgergeld verabschieden;
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denn damit torpedieren Sie jegliche Anreize zur Arbeitsaufnahme.
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Ich jedenfalls kriege aus meinem Wahlkreis viele Briefe von frustrierten Leuten, die sagen: Ich gehe für Geld arbeiten, das die Ampelregierung anderen Leuten so zur Verfügung stellen will.
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Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die in unserem Land hart arbeiten müssen und die dafür erforderlichen Steuern aufbringen.
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Handlungsmöglichkeiten haben wir in unserem Antrag etliche aufgezeigt. Sie wären gut beraten, diese Vorschläge aufzugreifen, statt ein drängendes gesellschaftliches und auch wirtschaftliches Problem mit sachfremden Themen wie dem Spurwechsel oder der – wie nennen Sie das? – Mehrfachstaatsangehörigkeit zu vermischen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Natalie Pawlik.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Es ist wirklich bemerkenswert, welche Themen die CDU/CSU-Fraktion nun in der Opposition für sich entdeckt hat – Themen, um die Sie sich in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich gekümmert haben.
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Die Förderung von Beschäftigung gehört zum Kern sozialdemokratischer Politik. Wir wollen jedem Menschen die bestmöglichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten. Das haben wir unter anderem mit dem Qualifizierungschancengesetz in der letzten Legislaturperiode getan, und das tun wir auch mit der Reform des Bürgergelds, mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz und der Fachkräftestrategie in diesem Jahr.
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Erst am Mittwoch hat das Bundeskabinett die Fachkräftestrategie beschlossen und dabei fünf wesentliche Stellschrauben zur Fachkräftegewinnung definiert:
Erstens. Wir wollen die berufliche und die duale Ausbildung stärken, um den Fachkräftenachwuchs in Deutschland zu sichern.
Zweitens. Wir wollen, dass Beschäftigte von heute eine Chance auf dem Arbeitsmarkt von morgen haben. Dafür fördern wir gezielte Weiterbildung und Qualifizierung.
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Drittens. Wir wollen das inländische Arbeitspotenzial und die Erwerbsbeteiligung erhöhen. Das beinhaltet unter anderem die Förderung von Vollzeitbeschäftigung bei Frauen oder mehr Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt.
Viertens. Wir wollen die Verbesserung der Arbeitsqualität und der Arbeitskultur, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lange gesund und erwerbsfähig bleiben.
Fünftens. Wir wollen mit einem modernen Einwanderungsrecht Fachkräften Zugang zu unserem Arbeitsmarkt eröffnen. Genau das hat die Union in den letzten Jahren blockiert.
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Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, braucht es also einen Mix aus unterschiedlichen Maßnahmen. Zwei möchte ich dabei besonders hervorheben. Wir modernisieren und stärken die duale Ausbildung; denn für unser Zusammenleben sind Handwerkerinnen und Handwerker, Bäckerinnen und Bäcker, Verkäuferinnen und Verkäufer, Erzieherinnen und Erzieher und das Pflegepersonal essenziell. Unser Land lebt von den vielen kleinen und mittelständischen Betrieben und ihren Fachkräften. Diese Fachkräfte müssen eben auch ausgebildet werden.
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Vor wenigen Tagen informierte die Bundesagentur für Arbeit darüber, dass in diesem Herbst 75 000 junge Menschen, die eine Ausbildung machen wollen, noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Deutschlandweit haben 2,16 Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss. Wir können es uns als Gesellschaft einfach nicht leisten, das Potenzial dieser jungen Menschen zu vergeuden.
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Wir wollen die Lehrstellensuchenden in die offenen Lehrstellen bringen. Dazu erhöhen wir die Ausbildungsmobilität. In Zusammenarbeit mit den Ländern bauen wir die Jugendberufsagenturen aus und stärken die Berufsberatung und Berufsorientierung. Gleichzeitig führen wir auch eine Ausbildungsgarantie ein, die allen Jugendlichen den Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht.
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Im hessischen Karben in meinem Wahlkreis gibt es das Berufsbildungswerk Südhessen. Dort werden Jugendliche mit besonderem Förderbedarf in Zusammenarbeit mit den örtlichen Betrieben bei hohem Praxisbezug in 31 verschiedenen Ausbildungsberufen ausgebildet. Die Vermittlungsquote beim BBW Südhessen liegt bei über 70 Prozent. Kolleginnen und Kollegen, ich kriege bis heute Gänsehaut, wenn ich an die Abschlussfeier beim BBW Südhessen zurückdenke. Dort standen junge Menschen, an die oft niemand in unserer Gesellschaft geglaubt hat, auf der Bühne mit ihren Zeugnissen in der Hand. Sie waren voll motiviert und voller Vorfreude auf das Berufsleben, weil ihnen eine Chance gegeben wurde. Und genau darum geht es, Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen nicht zulassen, dass junge Menschen in unserem Land auf der Strecke bleiben.
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Unsere Arbeitswelt verändert sich, neue Berufsbilder entstehen, andere werden ersetzt oder fallen perspektivisch weg. Als SPD-Bundestagsfraktion treten wir dafür ein, dass aus technologischer Innovation sozialer Fortschritt wird. Für langfristige Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind dabei die Weiterbildung und Qualifizierung essenziell.
Wir werden Deutschland zu einer Weiterbildungsrepublik weiterentwickeln. Das tun wir, indem wir zielgerichtete Qualifizierung fördern, indem wir die Zusammenarbeit der Bundesagentur für Arbeit mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort stärken und die individuelle Beratung für die Beschäftigten fördern. Das tun wir aber auch, indem wir eine Bildungszeit einführen, mit der Beschäftigte sich während des Erwerbslebens weiterbilden können, weil Bildung eben Zeit braucht und Weiterbildung nicht an finanziellen Ressourcen scheitern darf.
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Und das tun wir auch mit dem Qualifizierungsgeld, indem wir Unternehmen, die vom Strukturwandel betroffen sind, dabei unterstützen, ihre Fachkräfte weiterzuqualifizieren und sie trotz neuer Anforderungen im Unternehmen zu halten, aber auch dabei, ihnen neue Perspektiven auf dem regionalen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Kolleginnen und Kollegen, der Weg vom Produktionshelfer zum Maschinenführer, von der Kassiererin zur Erzieherin, vom Elektriker zum Solaranlageninstallateur, das soll keine Seltenheit in unserem Land sein, sondern gelebte Realität. Und genau dafür sorgt die Ampelkoalition.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Gerrit Huy.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein rohstoffarmes Land wie Deutschland braucht kluge Köpfe und geschickte Hände. Daher halten wir es für eine gute Sache, dass jetzt endlich einmal ein Antrag vorgelegt wird, der sich damit befasst, wie Arbeits- und Fachkräfte im Inland gewonnen werden sollen.
„Im Bereich der Schlüsseltechnologien gibt es einen erheblichen Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften.“ Welch späte Erkenntnis! Offenbar musste die Union dafür erst einmal in die Opposition wechseln. Dass sie jetzt die Regierung auffordert, gemeinsam mit den Ländern einen Pakt zur Reduzierung der hohen Schulabbrecherquote zu schließen, wirkt schon ein wenig grotesk. Sie stellen doch in sechs Bundesländern den Ministerpräsidenten;
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da hätten Sie doch längst mit gutem Beispiel vorangehen können.
Denn: Neu sind diese Probleme nicht. Neben der besonders in migrantischen Milieus viel zu hohen Schulabbrecherquote
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sind auch die Schulleistungen inzwischen unterirdisch. Bereits Drittklässler liegen anderthalb Jahre in ihren Leistungen zurück. Jeder fünfte Neuntklässler kann den Sinn von Texten nicht verstehen. In der Mathematik sind wir im Ländervergleich auf Platz 33 gelandet, einen Platz vor Albanien. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn dabei am Ende zu wenig Fachkräfte herauskommen.
Das Erste, was passieren muss, ist, mehr Lehrer einzustellen. Der Beruf macht aber den meisten Lehrern keinen Spaß mehr. Unsere Lehrer haben einfach genug von der ständigen, jahrelangen Überforderung mit Vielsprachigkeit, Inklusion, großen Klassen und respektlosen Schülern. Hier muss die Politik endlich ran.
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Es braucht auch mehr Geld in der Bildung, gerade in der Grundschulbildung. Wir hängen da vielen Ländern hinterher.
Im Unionsantrag gibt es eine lange Liste anderer Maßnahmen, die grundsätzlich richtig, aber sehr wenig konkret sind, sodass es wenig Sinn macht, sie jetzt zu kommentieren. Aber immerhin ahnt die Union inzwischen wohl, dass Einwanderung unsere Probleme nicht lösen wird; denn wir sind einfach zu unattraktiv, um wirkliche Fachkräfte anzuziehen.
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Unsere Nettolöhne für Hochqualifizierte liegen wegen unserer abenteuerlich hohen Steuer- und Abgabenlast nur im hinteren Drittel aller OECD-Länder.
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Das Medianvermögen junger Leute zwischen 16 und 34 Jahren liegt bei knapp 10 000 Euro. Fast überall in der EU haben junge Leute mehr: in Polen etwa 4‑mal so viel, in Belgien 6‑mal so viel und in Luxemburg fast 14‑mal so viel. Warum sollten qualifizierte junge Menschen nach Deutschland kommen?
Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den die Union leider vergessen hat: Die inzwischen extrem angewachsene Zahl von Auswanderungen hochqualifizierter Deutscher. Die merken nämlich inzwischen, dass sie in diesem Land nicht mehr vorankommen können. Das haben junge Auswanderer letzten Monat dem Magazin „Cicero“ gesagt, und sie haben noch weitere Gründe genannt. Erstens: ein rigides gesellschaftliches Klima.
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Zweitens: politische Übergriffigkeiten bis in die engste Privatsphäre. Und drittens: Beibehaltung der preistreibenden Energiewende trotz Inflation, trotz Strom- und Gasknappheit. Die frühere Gewissheit, in einem der freiesten Länder der Welt zu leben, haben diese jungen Menschen verloren.
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Oft wollen sie einfach nur noch weg.
Leer wird es deswegen bei uns nicht; denn für unqualifizierte Einwanderer taugen wir ja bekanntlich noch durchaus. Aber, meine Damen und Herren der Regierungsparteien, die Unqualifizierten kommen, die Qualifizierten gehen. Ist das wirklich das, was Sie wollen?
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Andreas Audretsch.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich war in der letzten Woche in meinem Wahlkreis mit der Post unterwegs und habe mir deren Arbeit angeschaut. Ich kann Ihnen sagen, dass die Postbotinnen und Postboten in meinem Wahlkreis in Neukölln mittlerweile Extrastraßen laufen müssen, weil es zu wenig Menschen gibt, die dort die Arbeit machen wollen.
Im Juli 2022 fehlten in fast der Hälfte aller vom ifo-Institut befragten Unternehmen Arbeitskräfte. Das ist ein zentrales Problem, mit dem wir umgehen müssen. Deswegen kommt die Fachkräftestrategie der Bundesregierung genau zur richtigen Zeit.
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Wir haben begonnen, Deutschland zur Weiterbildungsrepublik zu machen. Das ist auch etwas, was Sie in den letzten 16 Jahren gerne hätten angehen können. Ein zentraler Baustein dafür ist, dass wir mit dem Bürgergeld Hartz IV überwinden.
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Wir richten die Grundsicherung auf Weiterbildung aus. Wir richten sie darauf aus, dass Menschen Chancen kriegen und eine Zukunft entwickeln können. Der Vorrang der Vermittlung in den nächstschlechtesten Job wird abgeschafft. Stattdessen sorgen wir dafür, dass Menschen langfristig qualifiziert werden und Chancen – auch Aufstiegschancen – bekommen. Genau darum geht es in diesem Gesetz. Es sieht auch einen Anreiz vor; man kriegt 150 Euro, wenn man in einen neuen Beruf hineingeht. Das alles sind Möglichkeiten, Menschen auf den Weg zu schicken. Deswegen ist es richtig, dass wir das Bürgergeld genau so ausgestalten und jetzt gemeinsam auf den Weg bringen.
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Sie, liebe Union, hatten eine Chance. Sie reden immer davon, dass Ihnen die Menschen, die arbeiten, besonders wichtig seien. Sie hatten in den letzten Monaten eine Chance, das unter Beweis zu stellen. Das war der Moment, als es hier im Plenum um den Mindestlohn gegangen ist. Und was haben Sie gemacht? Sie haben sich der Zustimmung verweigert.
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Sie haben an der Stelle das getan, was nicht relevant ist, um Menschen zu helfen, die in diesen Niedriglohnsektoren arbeiten. Ihnen geht es nicht darum, Arbeit attraktiv zu machen. Ihnen geht es nicht darum, dass Menschen mehr verdienen, wenn sie im Niedriglohnsektor arbeiten. Ihnen geht es einzig und allein um Ihren falschen Populismus und darum, ihn hier in die Welt zu brüllen.
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Das ist das, was Sie wollen, und das haben Sie an dieser Stelle mehr als ausreichend bewiesen.
Der zweite Punkt betrifft die Frage der Einwanderung.
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Natürlich brauchen wir Zuwanderung in Deutschland. Ich bin froh, dass wir Menschen, die vor Putins Krieg geflohen sind, eine Arbeitserlaubnis gegeben haben
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und dass wir das schnell getan haben. Gleichzeitig haben wir sie mit den Jobcentern zusammengebracht. Das heißt nämlich, dass sie Unterstützung kriegen, dass sie Informationen kriegen, dass sie Weiterbildung kriegen. Sie hätten diesen Menschen die Arbeitserlaubnis verweigert. Sie hätten den historischen Fehler, den Sie diesem Land über Jahrzehnte aufgezwungen haben, wieder gemacht. Sie wären in die gleiche alte Falle getappt.
Es ist richtig, dass diese Menschen arbeiten können. Es ist richtig, dass sie es tun, weil sie etwas beizutragen haben. Ich weiß, dass es Ihnen an dieser Stelle schwerfällt, ins 21. Jahrhundert zu kommen.
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Sie haben den Bezug zur deutschen Wirtschaft, zu Familienunternehmen, zur Industrie völlig verloren. Gehen Sie da mal hin; die brauchen diese Arbeitskräfte.
Ich habe nur eine Bitte: Machen Sie Ihre ideologischen Spielchen nicht zulasten der Unternehmen, die genau diese Leute brauchen, die darauf warten, dass sie anfangen zu arbeiten.
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Sie halten die Leute weg; Sie grenzen Leute vom Arbeitsmarkt aus. Das ist Ihre Politik, und die ist nicht zukunftsfähig. Deswegen haben Sie an der Stelle auch keinen Kontakt zur Wirtschaft. Man kann diesen Punkten von Ihnen einfach keinerlei Glaubwürdigkeit schenken.
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Ein Punkt noch am Ende. Eine Gruppe taucht nämlich fast gar nicht auf – jetzt müssen Sie sehr stark sein;
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ich sage Ihnen etwas, was Sie noch nicht mal zu denken wagen –: Um den Fachkräftemangel zu bewältigen, brauchen wir eine feministische Wirtschaftspolitik.
({11})
Es muss endlich Schluss sein mit dem Gender Pay Gap.
({12})
Es muss endlich Schluss sein mit dem Care Gap. Es muss endlich Schluss sein mit einem Steuersystem, das Frauen dezidiert zu Hause hält,
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was Sie über Jahre proklamiert haben. All das muss weg!
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Deswegen ist es gut, dass wir als Koalition diese Fragen angehen und eine neue Politik machen. Die Fachkräftestrategie kommt zur rechten Zeit. Wir setzen das um und gehen die Frage an.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Pascal Meiser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
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– Es ist sehr aufregend hier.
Ich halte die Zeit noch kurz an, –
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
– damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Redner hier vorne Ihre volle Aufmerksamkeit bekommt. – Sie dürfen noch mal beginnen.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat höchste Zeit für eine langfristige und umfassende Fachkräftestrategie. Die Lage ist hier – das wissen wir – in den Branchen, in den Berufen durchaus differenziert: Während es in einigen Bereichen absehbar Menschen gibt, die Qualifikationen haben, wegen denen sie sich große Sorgen machen, ob sie auch morgen noch gebraucht werden, ob sie auch morgen noch einen Job haben, gibt es andere Bereiche, in denen schon heute händeringend Fachkräfte gesucht werden.
Sollen beispielsweise die Klima- und Energieeffizienzziele der Bundesregierung eingehalten werden, braucht es laut IG Metall und Handwerksverbänden über 150 000 zusätzliche Handwerkerinnen und Handwerker allein im Gebäudesektor.
Die eine Antwort auf diese Herausforderung gibt es sicherlich nicht. Aber mit dem Zögern und Zaudern der letzten Jahre muss hier endlich Schluss sein, meine Damen und Herren!
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Erstens. Wer sich um qualifizierte Fachkräfte für die Zukunft sorgt, der muss sich zunächst einmal um verbesserte Berufsorientierung, ausreichend Ausbildungsplätze und vor allen Dingen auch um gute Ausbildungsbedingungen in den Betrieben kümmern.
Als Fraktion Die Linke begrüßen wir ausdrücklich das Vorhaben der Bundesregierung, eine Ausbildungsgarantie zu schaffen. Aber die Wahrheit liegt bekanntlich auf dem Platz. Eine echte Ausbildungsgarantie gibt es nur mit mehr betrieblichen Ausbildungsplätzen und einer solidarischen Finanzierung der beruflichen Ausbildung über eine Ausbildungsplatzumlage, die diejenigen Betriebe unterstützt, die tatsächlich ausbilden, statt junge Menschen in zweitklassige außerbetriebliche Ausbildungen abzuschieben.
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Und ja, wir brauchen auch mehr öffentliche Investitionen in die Berufsschulen. Vielleicht sollten wir hier tatsächlich mal über einen Berufsschulpakt zwischen Bund und Ländern nachdenken, damit auch die Berufsschulen entsprechend gefördert werden, wie das in anderen Bereichen des Bildungssystems schon der Fall ist.
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Zweitens. Wer insbesondere die berufliche Ausbildung attraktiv machen will, der muss für attraktive Arbeitsbedingungen sorgen – nicht nur, damit mehr junge Menschen sich für die Ausbildung entscheiden, sondern auch, damit sie nach ihrer Ausbildung tatsächlich im Beruf bleiben. Das Versagen der Bundesregierung – der letzten, und auch bei der aktuellen ist da ja keine Besserung zu erkennen –, für anständige Arbeitsbedingungen in der Pflege zu sorgen, führt uns die Folgen nur zu deutlich vor Augen:
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Immer mehr gut qualifizierte Pflegekräfte verlassen den Beruf oder gehen in Teilzeit, weil sie bestehende Belastungen nicht mehr aushalten. Damit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Herren.
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Deshalb ist es auch absolut schädlich, wenn Sie von der Union jetzt in Ihrem Antrag längere tägliche Arbeitszeiten fordern. Damit würden sich die Arbeitsbedingungen vieler Menschen verschlechtern und das Fachkräfteproblem nicht verkleinert, sondern vergrößert.
Genauso unsäglich ist Ihr anhaltender Versuch, Erwerbslose gegen Beschäftigte auszuspielen, wie Sie es auch in dem vorliegenden Antrag wieder versuchen. Natürlich ist es richtig, dass sich Arbeit und die Aufnahme einer Arbeit lohnen müssen – aber doch nicht, indem man denjenigen, die eh kaum etwas haben, noch das Existenzminimum streitig macht. Was wir dringend brauchen, sind flächendeckend Tarifverträge, die dafür sorgen, dass Arbeit überall besser und anständig bezahlt wird.
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Drittens. Wir müssen dafür sorgen, dass auch diejenigen, die ohne Job sind oder die Angst haben, ihren Job aufgrund der großen Transformation, die wir durchmachen, zu verlieren, entsprechend Unterstützung bekommen und qualifiziert werden. Da braucht es entsprechende Anreize, damit Qualifizierung als besser angesehen wird als irgendein Billigjob, den man kurzfristig aufnimmt. Das muss sich ändern. Dafür brauchen wir passgenaue Angebote und ein echtes Weiterbildungsgeld, meine Damen und Herren.
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Viertens. Wir müssen dafür sorgen, dass auch diejenigen, die in den letzten Jahren oder in diesem Jahr vor Krieg, Elend, Verfolgung nach Deutschland geflohen sind, entsprechend unterstützt werden: durch umfassende Sprachkurse, aber ohne demütiges Betteln um Sprachkurse, sondern tatsächlich von Anfang an umfassend, durch eine schnellere Anerkennung von Berufsqualifikationen, die vorhanden sind, und vor allen Dingen durch mehr Angebote, um gegebenenfalls Anpassungsqualifizierungen auch schnell durchführen zu können.
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Ich komme zum Schluss. Klar ist: Auf eine vage „Dachstrategie“, wie Sie von der Bundesregierung das so schön nennen, kann man sich nicht verlassen. Wir brauchen einen verbindlichen Masterplan für die Fachkräftesicherung, der jetzt sofort umgesetzt wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Der Fachkräftemangel ist neben Corona und dem Energiekrieg Putins gegen Deutschland die größte Wohlstandsgefährdung unserer Zeit für unsere Volkswirtschaft. Mittlerweile hat dieser eine solche Dimension angenommen, dass Forscher uns sagen, dass der Fachkräftemangel jährlich 86 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kostet. Das ist ein Problem, das nicht vom Himmel gefallen ist, sondern das sich Jahr für Jahr aufgebaut hat. Das hat nämlich etwas mit dem demografischen Wandel zu tun. Nichts ist sicherer als die demografische Statistik: Ein Kind, das heute nicht geboren ist, ist morgen nicht auf der Welt.
Sie als Union haben dieses Thema nicht etwa verschlafen; Sie haben sich über Jahre verweigert, hier eine Lösung herbeizuführen. Das muss an dieser Stelle auch noch mal bemerkt werden.
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Sie wollen nicht zur Lösung beitragen, weil Sie sich einer eigenen Lebenslüge oder zumindest eines Lebensirrtums nicht entledigen können. Sie wissen ganz genau, was die Forscher uns sagen: dass wir mittlerweile jährlich eine Zuwanderung von 400 000 Menschen in unseren Arbeitsmarkt brauchen – qualifizierte Zuwanderung.
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Auch die ehemalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hatte Ihnen, also ihrer eigenen Fraktion, das schon vor zwölf Jahren ins Stammbuch geschrieben. Sie haben sie damals blockiert. Wir als FDP hätten damals schon die richtigen Weichen gestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Ihr Antrag heute zeigt, dass Sie noch keinen Schritt weiter sind. Das ist nicht in Ordnung.
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Sie müssen sich der Wahrheit stellen, dass der Fachkräftemangel nur durch gesteuerte qualifizierte Erwerbsmigration möglich sein kann.
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In Ihrem Antrag schlagen Sie jetzt ausschließlich Maßnahmen vor, die es ermöglichen, das innere Fachkräftepotenzial zu wecken – gar keine Frage. Aber wenn man sich mal die 22 Forderungen Ihres Antrages anschaut, dann stellt man doch erstaunt fest, mit welchen Maßnahmen Sie das angehen wollen: Schulabbrecherquote reduzieren, Berufsorientierung an Schulen verbessern und Schulpläne anpassen. Außerdem finden sich in Ihrem Antrag Forderungen wie: Bildungsabschlüsse miteinander vergleichbar machen und die Kinderbetreuung verbessern. Das sind alles tolle und richtige Vorschläge.
Allein: Die Umsetzung obliegt den Bundesländern und den Kommunen. Sie verschieben die Verantwortung auf andere. Das ist zu wenig für eine Bundestagsfraktion. Und im Übrigen sind das auch alles nur Appelle ohne Lösungswege; das ist erst recht zu wenig für eine Bundestagsfraktion.
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Es ist natürlich richtig, dass wir das Erwerbspersonenpotenzial des Inlandes besser nutzen und da vorankommen müssen. Das tut ja auch diese Regierung.
Jetzt komme ich zum letzten Vorschlag für eine gute Oppositionsarbeit:
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Lesen Sie auch die Anträge und die Gesetzentwürfe der Regierung! Dann würden Sie nämlich sehen, dass wir mit dem neuen Bürgergeld genau das in Angriff genommen haben: dass wir die Menschen besser qualifizieren, um sie nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, es war ein Versuch. Wir warten auf Besserung.
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Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort Katrin Staffler.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe der Kollegin Pawlik in einem Punkt recht: Für uns Bildungspolitiker gehört es zu den schönsten Aufgaben und Terminen, wenn wir zu Abschluss- und Freisprechungsfeiern gehen dürfen. Es ist unglaublich schön, die jungen Leute sitzen zu sehen, die begierig darauf warten, dass sie in ihrem Beruf durchstarten, dass sie endlich anfangen mit dem, worauf sie zwei, drei Jahre lang hingearbeitet haben. Ich finde, das ist ansteckend. Es ist ansteckend, mit was für einem Enthusiasmus, mit was für einem Tatendrang die jungen Leute bei diesen Feiern vor einem sitzen. Die vollen Säle bei den Feiern zeigen uns, dass es die Fachkräfte von morgen durchaus gibt; es sind halt leider zu wenige.
Ja, das System schwächelt, und das nicht erst seit Corona. Die berufliche Bildung war in der Vergangenheit immer ein unerschütterlicher Garant für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Genau so muss es in Zukunft auch bleiben, weil – und lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit formulieren –: ohne Fachkräfte keine florierende Wirtschaft, ohne Fachkräfte keine gesunden Unternehmen, ohne Fachkräfte keine Energie- und Klimawende usw. usf. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortführen.
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Jetzt sage ich Ihnen ganz ehrlich: Ich glaube noch nicht mal, dass wir bei der Feststellung im Dissens sind. Aber genau deswegen habe ich mich die letzten Monate so gewundert, dass von dieser Regierung zu diesem Thema so wenig kommt.
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Warum? Weil nämlich die Blaupause für all die dringend benötigten Maßnahmen, die jetzt auf den Weg gebracht werden müssen, schon lange auf dem Tisch liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere von Ihnen: Wir haben in der letzten Legislaturperiode gemeinsam eine Enquete-Kommission einberufen, die die Zukunftsfragen der beruflichen Bildung thematisiert hat. Wir haben drei Jahre lang parteiübergreifend mit Sachverständigen, mit Experten gearbeitet. Wir haben in dem recht umfangreichen Werk fast 600 detaillierte Empfehlungen aufgelistet, und zwar Empfehlungen, wie wir in Deutschland unser berufliches Bildungssystem zukunftsfest ausbauen und wie wir es attraktiver gestalten können. Wir haben damit alle gemeinsam dem aktuellen Gesetzgeber einen Maßnahmenplan an die Hand gegeben. Das Schöne ist: Er muss jetzt einfach nur noch umgesetzt werden.
Wenn ich mir Ihre Reden hier im Plenum zu dieser Debatte anhöre, dann beschleicht mich das Gefühl, dass die allermeisten von Ihnen nicht mal wirklich in den Bericht reingeschaut haben, geschweige denn, dass Sie den Willen haben, die Empfehlungen, die wir da reingeschrieben haben, umzusetzen.
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Es geht bei der Aus- und Weiterbildung unserer Fachkräfte um eine komplexe Aufgabe, ja; es geht um eine wichtige Aufgabe, ganz sicher. Es geht um eine Aufgabe, zu deren Bewältigung wir ein mindestens ebenso komplexes und ineinandergreifendes Maßnahmenpaket benötigen. Das ist also genau das, was wir hier in unserem Antrag aufgeschrieben haben, ganz genau das. Und dieser Aufgabe wird die Ampelkoalition bislang leider – sorry, wenn ich das sage – nicht im Ansatz gerecht.
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Zu den zentralen Forderungen, die wir aufgestellt haben, zählen zum Beispiel eine bessere Unterstützung junger Menschen bei der Berufsorientierung, die Umsetzung unterschiedlichster Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung beruflicher Ausbildung wie die Stärkung von überbetrieblicher Ausbildung, eine Exzellenzinitiative für die Berufsschule, verbesserte Angebote zur Steigerung der Mobilität, ein Deutscher Beruflicher Austauschdienst, Maßnahmen für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen, zum Beispiel dem DQR, eine Stärkung des lebensbegleitenden Lernens, insbesondere auch für die Quereinsteiger und Geringqualifizierten, usw. usf. Die Liste könnte ich noch lange fortsetzen.
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– Sie sagen alle: „Wunderbar“. Dann frage ich mich, wieso Sie unseren Antrag so schlecht finden.
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Das kommt Ihnen vielleicht bekannt vor. Das ist nämlich genau das, was in unserem Antrag steht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das sind auch die Dinge im Enquete-Bericht, die wir vor gerade einmal gut einem Jahr fraktionsübergreifend – und das will ich an der Stelle noch mal sagen – einstimmig, auch mit den Stimmen der Kollegen der SPD, den Stimmen der Kollegen von den Grünen, den Stimmen der FDP, beschlossen haben. Und man fragt sich jetzt ehrlicherweise schon, warum Sie sich alle hierhinstellen und erzählen, dass das alles Mist wäre, was wir in dem Antrag schreiben.
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Also, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Ampelfraktionen, natürlich weisen Sie jetzt in der Debatte auf die in dieser Woche beschlossene Fachkräftestrategie hin,
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dass Sie das eine oder andere ja ohnehin umsetzen wollen. Es gibt da aber ein Problem. Jetzt nehmen wir zum Beispiel mal das Thema „Exzellenzinitiative Berufliche Bildung“: Es ist im Koalitionsvertrag angekündigt, wird in dieser Strategie von Ihnen in einem Satz erwähnt.
Aber bitte nur noch einen Satz. Sie sind schon über der Zeit.
Jawohl. – Es gibt überhaupt keine konkreten Ausführungen zur Ausgestaltung. Wir brauchen keine Strategien ohne Plan dazu, wie sie umgesetzt werden. Davon hat der Bäcker nichts, der Friseur nichts, das Pflegeheim genauso wenig.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Jawohl, das tue ich. – Lassen uns nicht an unausgegorenen Strategien arbeiten! Packen wir es gemeinsam an!
Also, die Ankündigung, zum Schluss zu kommen – –
Ich bin am Schluss.
Sie sind fertig. Wunderbar. Danke.
Danke schön.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie gar nicht immer unterbrechen. Sie können dem entgehen, indem Sie bei null am Ende Ihrer Rede sind. Sie sehen ja die Zeit vor sich.
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Wir versuchen es wieder. Für die Sozialdemokraten kommt jetzt Rasha Nasr.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zunächst zu den Kollegen Herrn Dr. Wiener und Frau Huy etwas sagen; denn es ärgert mich schon, dass wir über Fachkräftegewinnung im Inland sprechen und Sie Ihre Zeit darauf verwenden, gegen Menschen aus dem Ausland zu hetzen. Ich verstehe nicht, warum das immer und immer wieder passiert.
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Gerade der Spurwechsel, Herr Dr. Wiener, ist richtig. Ich war anderthalb Jahre Integrationsbeauftrage in Freiberg. In dieser Zeit habe ich mehrere Auszubildende in den Betrieben gehabt, die aus dem Betrieb heraus abgeschoben wurden. Erklären Sie den Betrieben doch mal, was an dem Spurwechsel so doof ist.
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Dass gut qualifizierte Leute abgeschoben werden, das muss nicht sein.
Wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir über das Thema Fachkräftesicherung sprechen, und wir nehmen die Verantwortung an, Menschen Sicherheit im Wandel zu geben. Erst am Mittwoch hat Hubertus Heil in Abstimmung mit allen zuständigen Ressorts die Fachkräftestrategie der Bundesregierung vorgestellt. Dafür möchte ich mich bedanken; denn da stehen sehr viele wichtige und richtungweisende Punkte drin. Ich freue mich, diese mit Ihnen allen gemeinsam weiter mit Leben zu füllen.
Ich möchte als Erstes betonen, werte Union, dass ich Ihren Antrag ganz gerne gelesen habe.
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Denn an ihm ließ sich ja gut erkennen, dass wir zumindest an einigen Stellen gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
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Das gibt mir dann doch Hoffnung für die weiteren Beratungen der Fachkräftestrategie der Bundesregierung.
Zum Beispiel der Aspekt der Frauenerwerbstätigkeit. Es ist ein Unding, dass Frauen am Arbeitsmarkt immer noch ungleich behandelt werden und viel öfter in Teilzeit arbeiten. Weniger Arbeitsstunden bedeuten kleinere Löhne, und die bedeuten kleinere Renten. Und Altersarmut ist besonders bei Frauen ein großes Problem. Also müssen wir unter anderem Infrastruktur aus- und aufbauen, zum Beispiel durch bessere flächendeckende Kinderbetreuung oder Ganztagsschulen für alle Kinder in ganz Deutschland.
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Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Kinderbetreuung, Hausarbeit oder Pflege eben nicht nur auf den Schultern der Frauen lasten. Die Frauenerwerbstätigkeit wird nämlich auch dann weiter steigen, wenn diese Aufgaben endlich partnerschaftlich verteilt sind. Es braucht also nicht nur eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Mütter, sondern eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie für alle.
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Wenn man sich die Engpassberufe genauer anschaut, dann fällt auf, dass besonders da Fachkräftemangel herrscht, wo ein Geschlecht über- bzw. unterrepräsentiert ist. In den sozialen Berufen sehen wir überdurchschnittlich viele Frauen, während wir zum Beispiel im Handwerk sehr, sehr viele Männer haben. Dabei bin ich der festen Überzeugung: Alles, was ein Mann kann, kann eine Frau auch, und umgekehrt.
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– Da kann man mal klatschen.
Erst vorgestern haben Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion und ich gemeinsam mit Sozialpartnern und Arbeitgeberverbänden aus dem Handwerk zusammengesessen und uns beraten. Die Kolleginnen und Kollegen haben recht, wenn sie sagen, dass wir eine breite Allianz zur Stärkung des Handwerks benötigen; denn gerade dort brauchen wir die vielen klugen und gut ausgebildeten Menschen. Nur mit ihnen werden wir die Herausforderungen der Verkehrswende, der Bauwende oder auch der Digitalisierung schaffen. Das ist mir auch und besonders für Ostdeutschland wichtig; denn bei uns vor Ort wird weniger ausgebildet. Dabei ist Ostdeutschland so ein schöner Landstrich. Ich kann das bestätigen.
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Wir wollen Unternehmen dabei unterstützen, mit einem Qualifizierungsgeld ihre Fachkräfte weiterzubilden, zu halten und sich so besser und breiter aufzustellen. Und andererseits geben wir jungen Menschen mit der Ausbildungsgarantie das Recht auf einen guten Ausbildungsplatz.
In der Transformation der Arbeitswelt ist Weiterbildung ein wichtiger Faktor. Deshalb freue ich mich, dass Hubertus Heil das Ziel ausgegeben hat, die Bundesrepublik Deutschland zur Weiterbildungsrepublik für alle zu machen. Wir wollen zum Beispiel Menschen im SGB II mit dem Weiterbildungsbonus die Möglichkeit geben, sich nachhaltig aus der Arbeitslosigkeit herauszuarbeiten und dann wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.
Damit komme ich zu einem Punkt in Ihrem Antrag, werte Union, der mir so gar nicht gefällt. Wir haben gestern in erster Lesung das Bürgergeldgesetz beraten, und da haben Sie schon wieder, wie in Punkt 16 Ihres Antrags nachzulesen, gefordert – Zitat –,
... die ausgesetzten Sanktionen wegen Pflichtverletzungen für arbeitsfähige Bezieher von Grundsicherung umgehend wieder einzuführen und damit die Anreize für die Auf- und Annahme von angebotener Arbeit ... wieder zu erhöhen.
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Da haben wir ein ganz anderes Menschenbild:
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Wir vertrauen Menschen. Wir wollen sie ermutigen und echte Anreize schaffen.
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Ich bin sehr sicher, dass der Grundsatz „Anreiz durch Bestrafung“ ausgedient hat.
Wir stehen für Ausbildung vor Aushilfsjob und für nachhaltige Integration vor sinnloser Vermittlung. Wir werden deshalb natürlich keinem Antrag zustimmen, der unter anderem die Wiederaufnahme der ausgesetzten Sanktionen fordert.
Eine Bitte noch an Sie, liebe Union: Wir freuen uns sehr über Vorschläge von Ihnen, was Einwanderung von Fachkräften aus dem Ausland angeht.
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Aber auch das haben Sie heute wieder missen lassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank für die zeitliche Punktlandung. – Jetzt kommt Enrico Komning für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Nach 16 Jahren CDU-Merkel und einem Jahr Rot-Grün ist es wahrscheinlich, dass wir in Zukunft nicht mehr über Fachkräftemangel, sondern über Arbeitsstellenmangel diskutieren werden. Und dennoch werden wir in Deutschland auch in Zukunft jede Fachkraft, jeden Ingenieur, jede Krankenschwester und jeden Tischler brauchen, wenn wir aus dem Totalschaden Deutschland wieder einen Sportwagen machen wollen.
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In diesem Zusammenhang freut mich Ihr Antrag, verehrte Kollegen von der Union, ganz besonders. Es freut mich, dass Sie sich neuerdings auch für die Förderung inländischer Fachkräfte interessieren und nicht nur für ins Sozialsystem eingewanderte vermeintliche Architekten und Ärzte.
Fachkräftezuwanderung, so wie Sie sie auch in diesem Antrag hier verstehen, ist ein Irrweg. Er behebt den Fachkräftemangel nicht und kostet den Steuer- und Abgabenzahler Milliarden. Das, meine Damen und Herren, machen wir so nicht mit.
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Was Sie hier heute fordern, ist in vielen Punkten im Übrigen dasselbe, was meine AfD-Bundestagsfraktion schon vor gut zwei Jahren hier im Bundestag zur Abstimmung vorgelegt hat, was freilich von dem sozialistischen Einheitswirrwarr aus Rot, Grün, Gelb und auch Schwarz zurückgewiesen wurde. Aber was vor zwei Jahren richtig war, ist es auch heute noch, und so nehmen wir Ihre Einsicht mit Genugtuung zur Kenntnis,
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auch wenn sie reichlich spät kommt.
Und wenn wir schon bei Ihren Einsichten sind, liebe Kollegen von der Union, dann sorgen Sie doch gleich mit uns dafür, dass der Beschäftigung einheimischer Arbeitskräfte wieder der Vorrang einräumt wird. Streichen wir einfach die entsprechenden Vorschriften im Fachkräfteeinwanderungsgesetz! Dann, und erst dann, wird Ihr Antrag zustimmungsfähig.
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Wir können uns rot-grüne Weltbeglückungsfantasien schlicht nicht mehr leisten. Unser Land zuerst!
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Ihr Antrag, liebe Kollegen, bleibt beim Thema Bürokratie seltsam vage. Werden Sie doch konkret. Schaffen Sie zum Beispiel diese sinnlose einrichtungsbezogene Impfpflicht endlich ab! Ermöglichen wir es Tausenden von vollqualifizierten Pflegekräften, wieder ihren Job zu machen. Und stärken wir die berufliche Bildung. Unser duales Ausbildungssystem ist weltweit geachtet. Wir brauchen mehr fertige Meister und weniger gescheiterte Master.
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Meine Damen und Herren, den Fachkräftemangel zu bekämpfen, heißt, den Mittelstand zu stärken. Mit Ihrer Energiewende, mit Ihrer Schuldenpolitik, mit Ihrer Währungspolitik haben Sie die Existenz von Millionen von Menschen gefährdet. Widmen wir uns mehr denn je dem einzig wirklichen deutschen Rohstoff: der Bildung und der Ausbildung unserer inländischen Fachkräfte.
Vielen Dank.
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Es folgt für Bündnis 90/Die Grünen Tina Winklmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister Heil! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Union, Sie haben sich, wie ich Ihrem Antrag entnehmen kann, bei uns, bei der Ampel informiert. Sie haben sich in unsere konkreten Vorhaben zur Fach- und Arbeitskräftestrategie eingelesen.
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Aber: Aus unseren konkret kommenden Initiativen und Strategien einen Antrag mit Punkten zu formulieren, die wir schon angekündigt haben, die wir teilweise schon in Angriff nehmen, und aufzusetzen, ist überflüssige Bürokratie und widerspricht sich direkt mit Ihrer Forderung zum Thema Entbürokratisierung.
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Sie listen in Ihrem Antrag die Versäumnisse aus 16 Jahren Regierung auf. Diese Einsicht ist wichtig und gut.
Einfache Maßnahmen ohne großen bürokratischen Aufwand, Berufsorientierung und eine Aus- und Weiterbildung, die unter anderem zu Handwerksbetrieben, Industrie und zum Pflegebereich passt, werden gebraucht. Und das liefern wir.
Junge Menschen müssen Unterstützung bekommen, ihre erste Berufsentscheidung gezielt zu treffen, sodass sie zu ihnen passt. Aber die Berufsorientierung muss breiter aufgestellt sein, nicht so einseitig wie in Ihrem Antrag. Berufsorientierung heißt nicht nur, auf die jungen Menschen zuzugehen, nein, auf die ganze Gesellschaft. Unsere Vielfältigkeit bei den Möglichkeiten muss allen aufgezeigt werden.
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Menschen brauchen gezielte Aus- und Weiterbildungen. Die schaffen wir. Mit unseren Maßnahmen gewinnen wir Fach- und Arbeitskräfte gezielt, und zwar aus dem In- und Ausland.
Ich stelle mir die Frage, ob Sie Ihren Antrag mit Ihren Landesregierungen abgestimmt haben.
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Das glaube ich nicht. Meine Lieblingspassage in Ihrem Antrag lautet:
Fehlen Fachkräfte, werden Windräder nicht errichtet, Solaranlagen nicht installiert, Gebäude nicht energetisch saniert …
So, wie konnte denn das passieren? Sie haben wohl Ihre Pläne der letzten 16 Jahre, die Branche der Erneuerbaren auszubauen und somit für die Zukunftsbranche schlechthin qualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen, so geheim gehalten, dass Sie es selber nicht wussten.
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Hätten Sie die Erneuerbaren vorangebracht, den nachhaltigen und energiesparenden Wohnungsbau gefördert, statt ihn zu stoppen – ja, Sie haben ihn in manchen Bundesländern komplett zum Erliegen gebracht –, wäre unsere Energieabhängigkeit jetzt eine andere, und Deutschland hätte die Fachkräfte.
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Hier geht ein schöner Gruß insbesondere an mein Heimatbundesland Bayern. Die Staatsregierung dort blockiert ja aus bekannten Gründen den Ausbau zum Beispiel der Windenergie.
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Aber wir lesen jetzt mal aus Ihrem Antrag heraus, Sie wollen uns hier unterstützen. Da müssen Sie sich beeilen. Wir haben hier schon ein richtig hohes Tempo vorgelegt.
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Und warum? Weil es pressiert. Wir tun das, weil Eile geboten ist. Wir haben das im Koalitionsvertrag stehen, und wir werden das umsetzen. Wir machen Deutschland zur Aus- und Weiterbildungsrepublik. Die Fachkräfte von heute und morgen bringen wir auf einen zukunftsfähigen Weg, und zwar – jetzt aufgepasst – Fach- und Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland.
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Wir als Ampel haben schon einiges auf den Weg gebracht und werden in diesem Jahr noch einiges auf den Weg bringen. Liebe Union, Ihren Antrag brauchen wir dafür nicht.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion folgt Marc Biadacz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz am Anfang meiner Rede möchte ich sagen: Herr Audretsch, Sie haben etwas falsch gemacht. Die Parteitagsrede, die Sie auf dem Parteitag der Grünen halten wollten, die haben Sie heute hier schon im Parlament gehalten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzler Helmut Schmidt hat einmal richtig gesagt: „Demokratie besteht aus Debatte und anschließender Entscheidung aufgrund der Debatte.“ In Ihrer Ampelregierung allerdings sehen wir fast ausschließlich Debatten und leider nur zögerliche und viel zu späte Entscheidungen –
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und das in einer Zeit, in der Deutschland und Europa vor immensen Herausforderungen stehen. Doch anstatt entschlossen und schnell zu handeln, verliert sich die Ampel in Koalitionsstreitigkeiten und ideologischen Debatten.
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Die Folgen dieser zögerlichen Ampelpolitik spüren die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Geldbeutel; denn überall steigen die Preise, und Entlastungen lassen auf sich warten. Die Gründe für die Inflation sind vielfältig. Natürlich sind es vor allem die steigenden Energiekosten,
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aber auch die fehlenden Arbeitskräfte belasten Preise und Wirtschaft.
Die schlimmste Auswirkung des Mangels an Fach- und Arbeitskräften ist allerdings, wie sehr er unser Land lähmt. Im Baugewerbe fehlen Facharbeiter, um dringend benötigte Wohnungen zu bauen. In Behörden bleiben Anträge liegen, weil Personal fehlt. Heizungsbauer fehlen, um Wärmepumpen einzubauen.
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Fehlende Fach- und Arbeitskräfte schwächen nicht nur unseren Wirtschaftsstandort, sondern auch unsere Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren und diese zu lösen. 43 Prozent der Unternehmen müssen aufgrund der fehlenden Fach- und Arbeitskräfte ihre Angebotspalette einschränken oder gar Aufträge ablehnen. 59 Prozent der Unternehmen geben sogar an, dass der Fachkräftemangel für sie eins der größten Geschäftsrisiken ist.
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Als Union begrüßen wir, liebe Koalition, dass sich die Bundesregierung bei dem Thema auf den Weg macht und die Strategie zur Fachkräftesicherung auf die Agenda setzt. Das ist gut und richtig so.
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Doch leider sehe ich nicht, wie Sie mit Ihren bisherigen Vorschlägen in absehbarer Zeit Abhilfe für diese Belastung unseres Arbeitsmarkts schaffen wollen.
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Statt von Problemlösungen ist Ihre Arbeitsmarktpolitik gekennzeichnet von sozialdemokratischer Vergangenheitsbewältigung.
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Sie, liebe Ampel, schaffen Hartz IV ab, um mit dem Bürgergeld den Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuleiten.
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Das ist nicht nur teuer, sondern auch der absolut falsche Weg für unseren Arbeitsmarkt. Überall werden Arbeitskräfte gesucht, und Sie machen Arbeit weiter unattraktiver.
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Sie verabschieden sich vom Prinzip „Fordern und Fördern“ und damit von einer zentralen Stärke unseres Arbeitsmarktes.
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Ihnen geht es ausschließlich um Schaufensterpolitik statt um konkrete Hilfen für den Arbeitsmarkt.
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Sie sprechen von dringend benötigten Fachkräften, aber senden völlig gegensätzliche Signale.
In unserem heutigen Antrag machen wir Ihnen konkrete Vorschläge, um Fach- und Arbeitskräfte mit zielgerichteten Maßnahmen im Inland zu sichern und zu gewinnen. Wir hoffen, dass diese auch im Arbeitsministerium gelesen werden. Dazu gehört unter anderem, die Aktivitäten zur Vermittlung von Ausbildungsplätzen auszubauen, duale Ausbildung stärker zu fördern, inländisches Arbeitspotenzial zu mobilisieren
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und Weiterbildungsangebote konsequent auszubauen.
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Mit der digitalen Lernplattform MILLA haben wir Ihnen übrigens einen guten Vorschlag gemacht. Ich kann Ihnen den gerne in nächster Zeit weiter erklären.
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Meine Damen und Herren, in keinem dieser Bereiche gibt die Bundesregierung eine zufriedenstellende Antwort. Was wir jetzt brauchen, ist ein Arbeitsmarkt, der es den Menschen ermöglicht, ihre eigene Zukunft zu gestalten, anstatt die Menschen zu verwalten. Uns als Union ist wichtig: Wir wollen niemanden zurücklassen.
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Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, Sie kommen uns immer wieder mit den 16 Jahren unserer Regierungszeit.
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Doch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik müssen wir feststellen: Nie war unser Arbeitsmarkt so stark und stabil wie unter der Führung der CDU/CSU-Bundesregierung.
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Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zurück zu diesem vernünftigen Weg, und die Erfolge der Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre werden vielleicht auch Ihre Erfolge sein.
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Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion folgt Manfred Todtenhausen.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es ja gut, dass wir uns in einigen Punkten tatsächlich einig sind. Heute müssen wir uns um die Aus- und Weiterbildung unserer Fachkräfte kümmern, damit wir sie morgen haben. Wir brauchen sie in allen Bereichen, ob als Klimawerker, Baufachleute oder als Mitarbeiter im Gesundheitssystem oder in der Pflege.
Allein im Handwerk fehlen 250 000 ausgebildete Fachkräfte, in den Klimagewerken sind es 60 000. Diese enormen Lücken müssen geschlossen werden. Neben einer generellen geregelten Zuwanderung gehört mehr Aus- und Weiterbildung im Inland dazu.
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Aber das Thema ist ja nicht neu. Der Bundestag hat dazu in der letzten Wahlperiode eine Enquete-Kommission einberufen, an der auch ich mitarbeiten durfte. Sie hat viele gute Ideen und Empfehlungen auf den Weg gebracht, die auch heute eine Bedeutung haben. In Ihrem Antrag finde ich dazu sogar einige Ansätze. Ich erwähne nur digitale Lernplattformen oder den Aufbau eines deutschen beruflichen Austauschdienstes.
Beim Lesen Ihrer Wünsche frage ich mich dennoch – ich weiß, Sie können es schon lange nicht mehr hören –: Wer stellte eigentlich 16 Jahre lang die Bundesbildungsministerin, und wer hat auf den Trend gesetzt, dass wir immer mehr Akademiker brauchen, während gleichzeitig die berufliche Bildung ins Hintertreffen geraten ist?
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Es waren Ihre drei Ministerinnen, liebe Union. Erst Frau Karliczek hat am Ende versucht, hier umzusteuern.
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Lieber Herr Wiener, Sie haben den Elektroberuf gelernt. Ich übe ihn bis heute aus. Und Sie wären besser Elektriker geblieben, kann ich Ihnen nur sagen.
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Meine Damen und Herren, Vorhaben wie die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung und der Ausbau der Berufsorientierung werden bereits von der Ampel umgesetzt. Andere Projekte finden Sie in einer umfassenden Fachkräftestrategie, die die Bundesregierung gerade erst auf den Weg gebracht hat.
Wenn es nach mir ginge, gibt es neben dem Freiwilligen Sozialen und Ökologischen Jahr bald auch das freiwillige Jahr in den Klimagewerken. Da gibt es sicher eine hohe Nachfrage.
Bei dieser Koalition ist die Fachkräfteentwicklung in guten Händen. Ein gutes Beispiel: Wir waren es, die den Haushaltstitel für die überbetrieblichen Lehrwerkstätten von 49 Millionen auf 70 Millionen Euro erhöht haben. Uns ist wichtig, sowohl die Ausbildung attraktiver zu machen als auch die Ausbildungsbetriebe zu entlasten.
Die Betriebe finden dabei nicht nur die Unterstützung in den Fraktionen, sondern auch in unserer Regierung. Unsere Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger steht absolut hinter der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. Nach bald einem Jahr Ampelkoalition sind wir auf einem guten Weg, den wir weiter gehen werden.
Vielen Dank.
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Als Nächstes folgt für die SPD-Fraktion Manuel Gava.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn einem ein Antrag aus der Opposition die Möglichkeit gibt, über die ein oder andere Errungenschaft der Regierungskoalition zu sprechen, ist das ein gutes Zeichen, gerade an einem Freitag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ich bin sehr froh, dass Sie die Fachkräftestrategie der Bundesregierung aufmerksam gelesen haben. An der Stelle herzlichen Dank an Minister Heil! Da ist sogar noch viel mehr drin als in Ihrem Antrag, zum Beispiel das neue Bürgergeld und eben kein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es eben schon das eine oder andere Mal bezeichnet wurde.
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Im Januar 2023 tritt es in Kraft. Das neue Bürgergeld ist eine Maßnahme, die es Menschen ermöglicht, wieder in Würde und mit neuen Perspektiven am Arbeitsmarkt bereitzustehen. Eigentlich müssten Sie dem ja zustimmen. Zumindest wenn man das Thema Sanktionen ausklammern würde, gäbe es sicher Möglichkeiten, dass Sie dem auch zustimmen könnten.
Mit dem Bürgergeld werden bessere Anreize zur Aufnahme von berufsbezogenen Weiterbildungen durch den erleichterten Zugang zu Aus- und Weiterbildungsangeboten sowie durch ein Weiterbildungsgeld geschaffen.
({1})
Ich finde, das ist ein richtig guter Schritt in die richtige Richtung.
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Darüber hinaus ermöglichen wir es den Menschen, einen neuen beruflichen Weg zu gehen und den Faden wieder aufzunehmen. Wir wollen mit und nicht gegen die Menschen arbeiten, ihnen keine Steine in den Weg legen oder sie in kurzfristige und unsichere Anstellungen hineindrängen, in denen sie wenig Perspektive und keine Möglichkeiten haben, sich weiterzuentwickeln. Dass wir das verändern, ist richtig gut.
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Es ist ja schon lange nicht mehr so, dass man nach der Schule einen Beruf ergreift und diesen sein ganzes Leben lang ausübt. Eine lebenslange berufliche Weiterentwicklung wird einem in der aktuellen und zukünftigen Arbeitswelt abverlangt. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen gut auf diesen Weg vorzubereiten, eine neue Ausbildung und somit auch neue Lebensabschnitte einzugehen. Das beginnt in der Schule mit einer fundierten und zielführenden Berufsorientierung und geht bis an das Ende des Arbeitslebens.
Aber auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben hier eine Verantwortung, für ihre Beschäftigten durch Prävention und Weiterbildungsangebote Bedingungen für eine altersgerechte Arbeit zu schaffen. Die Attraktivität einer Arbeitsstelle hört schließlich nicht beim Gehalt auf. Auch in den Unternehmen müssen sich Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung noch stärker etablieren.
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Der zunehmende Druck, der auf den Schultern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lastet, ist enorm. Man muss flexibler werden, verfügbarer, intensiver arbeiten. Arbeitszeiten und Privatleben vermischen sich immer mehr miteinander. Das macht den Gesundheitsschutz, aber auch die Gesundheitsprävention zu einem immer größeren und wichtigeren Thema.
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Wenn Ihnen, liebe CDU/CSU, die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Herzen liegt, dann würde ich mich sehr freuen – ich glaube, auch viele Menschen draußen, die hart arbeiten –, wenn Sie aufhören würden, ständig von Flexibilisierung und Untergrabung des Arbeitsschutzes zu sprechen, indem Sie an der Schraube der Höchstarbeitszeiten drehen wollen.
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Das ist sicher kein richtiger Schritt, um Fachkräfte zu gewinnen. Das ist nicht nachhaltig, und damit tun Sie auch den Arbeitnehmern keinen Gefallen.
Mit der Fachkräftestrategie der Bundesregierung werden wir den Fachkräftemangel gezielt angehen. Darin stehen sehr gute Punkte, beispielsweise die bessere Koordination der Weiterbildungsangebote zwischen Bund und Ländern – das steht ja auch in Ihrem Antrag –, Entwicklungschancen im gesamten Lebensverlauf fördern, bessere Ausstattung der Bundesagentur für Arbeit für die Errichtung einer Weiterbildungsplattform und ein Qualifizierungsgeld für – Achtung! – Unternehmen; das müsste Sie an dieser Stelle ja auch freuen. Ihre Forderungen sehe ich damit weitestgehend als erfüllt, im Grunde genommen als übererfüllt an.
Ein Thema ist mir noch ganz besonders wichtig – meine Kollegin Rasha Nasr hat das auch schon angesprochen –: Den Fachkräftemangel können wir nicht nur mit Inlandspotenzialen bewältigen. Wir brauchen auch Einwanderung. Mit der Einwanderungsstrategie der Bundesregierung werden wir zur Abmilderung des Fachkräftemangels erheblich beitragen.
Menschen, die hier leben und arbeiten wollen, brauchen eine Perspektive. Diese muss transparent und zügig eröffnet werden, und diese Menschen müssen dauerhaft in Deutschland bleiben können.
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Dafür müssen wir das Einwanderungs-, das Aufenthalts-, aber auch das Staatsangehörigkeitsrecht aus meiner Sicht dringend modernisieren und bürokratieärmer gestalten. Dringend benötigte Fachkräfte fallen schließlich nicht vom Himmel. Wir freuen uns über jeden, der zu uns nach Deutschland kommt.
Ich finde Ihren Antrag zugegebenermaßen nicht ganz so schlecht. Ich glaube, das ist auch durchgeklungen. Da sind ein paar gute Punkte drin,
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die ja sozusagen in der Fachkräftestrategie aufgehen. Dementsprechend freue ich mich auf gute Arbeit in den Ausschüssen und wünsche Ihnen später ein schönes Wochenende.
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Es folgt für Bündnis 90/Die Grünen Canan Bayram.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den vorliegenden Antrag der Union gelesen und habe zunächst wirklich die Frage: Ist das ein Antrag, oder kann das weg?
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Denn Sie haben dort Forderungen von uns abgeschrieben. Braucht es das? Nein, wir haben es auch aufgeschrieben. Jeder kann es transparent nachlesen.
Steht da dann etwas Neues drin? Nach 16 Jahren könnte man ja meinen, Sie sind mal in sich gegangen und haben festgestellt, was Sie falsch oder nicht gemacht haben, und das schreiben Sie jetzt in diesen Antrag, weil Sie sich denken: Wir geben unsere Erfahrungen weiter an eine Regierung, damit die daraus etwas macht. – Nö. Keine Einsicht hinsichtlich Ihrer Versäumnisse. Auch das steht in dem Antrag leider nicht drin. Auch insoweit kann der weg.
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Und drittens: Was fehlt darin eigentlich? Es fehlt das Potenzial der Menschen im Inland, die schon da sind und ihren Status ändern wollen, die aus einer Not heraus durch Flucht hierhergekommen sind und nun Teil unserer Gesellschaft werden und sich hier einbringen wollen. Dies kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor.
Deswegen ist mein Resümee: Dieser Antrag kann weg, und wir werden ihn auch sofort wegstimmen, meine Damen und Herren.
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Die Beiträge aus der Union werfen hier eine Frage auf, die wirklich gefährlich ist.
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Ich frage mich auch, warum eigentlich Frau Lindholz heute in dieser Debatte nicht da ist, die sonst in einer Art und Weise über Geflüchtete und Migranten redet, bei der es mir schlecht wird.
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Da stellt sich halt wirklich die Frage, meine Damen und Herren von der Union: Wollen Sie wirklich, dass Deutschland so unattraktiv und schlecht wird, dass dadurch eigentlich nur die AfD gestärkt wird?
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Bitte gehen Sie in sich! Erliegen Sie nicht der Gefahr, dieses Land auf eine Art und Weise zu gestalten, dass wir unattraktiv für Menschen aus dem Ausland werden, die wir hierhinholen wollen,
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und für Menschen, die schon da sind, denen wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht geben wollen, meine Damen und Herren!
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Ich hoffe – und das werden weitere Debatten hier zeigen –, dass Sie der Gefahr nicht erliegen und dass die Entschuldigung Ihres Fraktionsvorsitzenden ernst gemeint war, dass Sie nicht die Gruppen gegeneinander ausspielen. Denn ansonsten kann man nicht verstehen, warum in Ihrem Antrag einerseits steht, die Menschen sollen mehr arbeiten, insbesondere die Frauen sollen mehr arbeiten, andererseits aber die Migrantinnen und Migranten gar nicht vorkommen.
Ihr Antrag ist nicht zu Ende gedacht. Aber wir reden natürlich gerne mit Ihnen über unsere Lösungsangebote.
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Es folgt für die FDP-Fraktion Friedhelm Boginski.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich möchte Ihnen ja eigentlich diese 16 Jahre nicht ständig vorwerfen, aber es irritiert mich immer ein bisschen: Wenn jemand 16 Jahre Verantwortung gehabt hat und dann solche Anträge stellt, muss er sich nicht wundern, dass wir darauf immer wieder zurückkommen. Denn das ist gefühlt ja ein bisschen so wie bei jemandem, der nicht Auto fahren kann und ständig Unfälle baut und sich dann hinterher hinstellt und sagt, ich mache jetzt eine Fahrschule auf oder Ähnliches. Also, damit habe ich schon ein bisschen ein Problem.
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Wir haben natürlich riesengroße Probleme in Deutschland, und dazu gehört ohne Zweifel der Arbeitskräftemangel. Es wurde heute schon darauf hingewiesen: 80 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung gehen uns dadurch verloren. Wir sind als Ampel auf dem Weg und versuchen, Deutschland für die Zukunft fitzumachen. Dazu gehören für uns drei Säulen – das wissen Sie auch –: Das ist einmal die Weiterentwicklung der dualen Ausbildung, der massive Ausbau der berufsorientierten Weiterbildung und die Fachkräftezuwanderung. Wir haben das klar erkannt. Deshalb hat unsere Ministerin Bettina Stark-Watzinger mit den Kollegen Heil und Habeck auch eine Pressekonferenz durchgeführt und die Weiterbildungsstrategie noch mal eindeutig dargestellt.
In Ihrem Antrag fehlen mir zwei Sachen. Auf die eine Sache ist schon sehr intensiv hingewiesen worden. In der Überschrift steht ja: Fach- und Arbeitskräfte im Inland gewinnen. Das heißt also, Sie blenden die Möglichkeiten, die wir durch Zuwanderung von Fachkräften haben könnten, vollkommen aus. Wir brauchen pro Jahr 400 000 bis 750 000 Fachkräfte. Sie werden wir allein in Deutschland nicht gewinnen.
Aber ich will auf eine zweite Gruppe hinweisen, die mir besonders wichtig ist und wo ich mich einfach wundere, dass Sie darauf nicht zu sprechen kommen: Wir haben in Deutschland 6,2 Millionen Menschen, die gering literalisiert sind; das heißt, sie können weder lesen noch schreiben. Sie fallen ja nicht vom Himmel. Das sind Menschen, die heute im erwerbsfähigen Alter sind. Das heißt, sie sind durch ein Bildungssystem gegangen, das ihnen nicht Lesen und Schreiben beigebracht hat. Das noch mal zur Erinnerung. Ich finde, diese Menschen sind es wert, dass wir uns um sie kümmern, dass wir ihnen Möglichkeiten bieten, in die Gruppe der Fachkräfte hineinzukommen, sich hier mit einzubringen.
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Diese Menschen kommen ja bei Ihnen überhaupt nicht vor. In der AlphaDekade sind wir noch mal auf dem Weg, das de facto besser in den Griff zu bekommen.
Wir als Ampel werden uns sehr intensiv um die Fachkräftesicherung kümmern. Wir haben das auf den Weg gebracht. Das ist eines unserer ganz prioritären Ziele, und ich denke, da brauchen wir Ihre Anträge hier nicht.
Danke schön.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Kaweh Mansoori für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Zuschauerbänken und zu Hause! Ich fühle mich ja geehrt, dass jetzt zum Schluss der Debatte meinetwegen auch der Oppositionsführer gekommen ist. Leider haben Sie verpasst, Herr Merz, dass der Erkenntnisgewinn ausgerechnet Ihrer Fraktion in dieser Debatte gleich null gewesen ist.
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Sie haben eine Vielzahl von Punkten aufgelistet, die Sie umsetzen wollen, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Aber wenn ich mir das mal in der Substanz anschaue, dann muss ich feststellen, dass ich, wann immer es um das Thema Bildungsgerechtigkeit geht, aus Ihren Reihen den Vorwurf sozialistischer Bevormundung höre. Bei der Ausbildungsgarantie sagen Sie, das brauche keiner. Das Bürgergeld, das Qualifizierung und Fortbildung für Menschen in der Erwerbslosigkeit stärken soll, um dauerhaft in Beschäftigung zu kommen, verunglimpfen Sie als bedingungsloses Grundeinkommen. Bei Zuwanderung sagen Sie immer: Pull-Effekt. Wenn es darum geht, gut integrierten Menschen aus der Duldung ins Aufenthaltsrecht Brücken zu bauen, fällt Ihnen immer illegale Einwanderung ein. Die Arbeitszeit wollen Sie deregulieren, und den Arbeitsschutz beschimpfen Sie immer als Bürokratie.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Fachkräfte fallen nicht vom Himmel. Dafür muss man etwas tun. Das können wir Ihrem Antrag nun wirklich nicht entnehmen.
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Es wurmt mich wirklich, wenn ausgerechnet aus Ihren Reihen das Thema Bildungschancen und Schulabbrecherquote thematisiert wird. Ich habe mal mit 16 angefangen, mich politisch in der Schülervertretung zu engagieren, weil es mir um gerechte Bildungschancen gegangen ist.
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Wenn wir uns mal die Situation in den Schulen anschauen, so ist es so, dass der Bildungserfolg von Kindern immer noch stärker vom Portemonnaie als von ihren Talenten abhängt. Individuelle Förderung zu stärken, das wäre mal ein wirkliches Instrument gegen Schulabbrecher.
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Wie ungerecht es in unserem Bildungssystem zugeht, das haben wir, glaube ich, unter Coronabedingungen alle eindrucksvoll gespürt. Da gäbe es viel zu tun: mit mehr Personal, mit besseren Lehr- und Lernbedingungen. Es geht darum, in einem so starken Land wie unserem mehr in Bildung zu investieren. Ehrlich gesagt, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Sagen Sie das doch mal Ihren Ministerpräsidenten! Ein paar stellen Sie ja noch.
Wenn es um das Thema Zuwanderung geht, dann geht es darum, Sprache und Integration vom ersten Tag an zu stärken. Es geht darum, einen gesunden Pragmatismus für Menschen walten zu lassen, die jahrelang hier leben, die gut integriert sind und für die wir jetzt das Chancen-Aufenthaltsrecht auflegen wollen. Da geht es um bis zu 100 000 Geduldete, die in unserem Arbeitsmarkt auch eine große Rolle spielen könnten. Dafür muss dann anschließend vieles passieren, bei Anerkennung von Abschlüssen etc. Und auch da sehen wir keine Unterstützung auf Ihrer Seite.
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Nicht zuletzt geht es darum, dass wir nicht nur dafür sorgen, dass Menschen in Arbeit kommen, sondern dass sie auch gesund, zufrieden und motiviert bis zur Rente in Arbeit bleiben können. Das hat viel zu tun mit anständigen Arbeitsbedingungen. Das hat viel zu tun mit Prävention und Gesundheitsförderung. Das hat viel zu tun damit, dass Arbeitszeiten eingehalten werden, dass Ruhezeiten eingehalten werden, dass es Fortbildungen zum Arbeitsschutz gibt und dass vor allem auch das Thema der mentalen Gesundheit endlich enttabuisiert wird. Alles Punkte, die auch Teil unserer Fachkräftestrategie sind, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vor allem geht es darum, gerade in den Berufssparten, die heute auch angesprochen worden sind, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr Druck die Menschen krankmacht. Da müssen wir uns auch die Personalschlüssel anschauen, nicht nur im Bereich der Pflege, der heute angesprochen worden ist, sondern in vielen anderen sozialen Berufen auch.
Ich will mal ein konkretes Beispiel bringen, das heute nicht angesprochen wurde: Im Bereich der Kitas, wo meine Mutter und viele Erzieherinnen und Erzieher in dieser Republik arbeiten, was ein echter Knochenjob ist, wo Menschen gefordert werden, wo man eine hohe Qualifikation braucht und keine Reichtümer verdient, macht es einen Unterschied, ob man 8 Kinder betreut oder 15. Lassen Sie uns da für bessere Arbeitsbedingungen sorgen, meine Damen und Herren.
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Das macht deutlich: Das Thema der Bekämpfung des Fachkräftemangels ist deutlich komplizierter, als dass man es in 20 Spiegelstrichen aufschreiben könnte. Ich persönlich glaube nicht an den Weihnachtsmann. Ich glaube auch nicht daran, dass es Ihnen ernst ist mit dem Thema der Fachkräftesicherung. Wenn doch, dann fühlen Sie sich herzlich dazu eingeladen, sich hier konstruktiv in die Diskussion einzubringen.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für das Aufsetzen dieses Jahresberichtes zur heutigen Debatte hier im Bundestag. Wir hatten am 3. Oktober die Feierlichkeiten in Erfurt. Ich danke auch sehr der Bundestagspräsidentin für ihre Rede dort.
Ich habe eine Veränderung vorgenommen: Es wird nicht der übliche Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit vorgelegt, sondern ich wollte einen Bericht zum Auftakt der Legislatur erstellen, der den Blick ein wenig weitet und auch die Zivilgesellschaft einbindet. Im nächsten Jahr wird es den üblichen Jahresbericht wieder geben, um ihn hier zu diskutieren.
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Für meinen Bericht habe ich 16 Gastautorinnen und ‑autoren eingeladen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen, aus unterschiedlichen Regionen, die kritisch über den derzeitigen Stand, insbesondere aber über die großen Chancen und Potenziale Ostdeutschlands schreiben. Die Beiträge zeigen die Umsetzungsschwierigkeiten, die Herausforderungen, aber auch die Freiheit, die sich in Ostdeutschland Bahn gebrochen hat, die dieses Land geprägt hat und Deutschland insgesamt stärker gemacht hat. Es sind in den vergangenen Jahren eine neue eigene Energie und Dynamik entstanden und vor allen Dingen auch ein neues Selbstbewusstsein. Ich lege den Schwerpunkt in dem Bericht insbesondere auf die Gestaltungschancen und auf die vielen aktiven Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die sich für die Gesellschaft und für die Demokratie einsetzen.
Der Titel lautet „Ein neuer Blick“; denn zu lange standen die Defizite Ostdeutschlands im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Der Vergleichsmaßstab war stets der Westen, zu dem der Osten aufschließen sollte. Ein neuer Blick, das bedeutet auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass ostdeutsche Besonderheiten nicht einfach irgendwann verschwinden werden. Sie fordern und bereichern unser Land. Das heutige Deutschland ist kein Westdeutschland plus, sondern ein neues, vielfältiges Land inmitten Europas.
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Wahr ist übrigens auch – das hat man bei vielen Debatten über den Soli, der natürlich auch im Osten gezahlt wurde, in den vergangenen 30 Jahren erlebt –: Westdeutschland allein wäre heute auch ein ärmeres Land,
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und das nicht nur ökonomisch oder kulturell, sondern, wie ich glaube, auch menschlich.
Die gute Entwicklung Ostdeutschlands belegen ja auch die vielen Unternehmensansiedlungen der jüngsten Zeit. Ich war erst am Montag in Magdeburg, habe mit Vertretern des Chipherstellers Intel gesprochen, der dort investiert – begleitet und unterstützt durch die Bundesregierung und auch die Landesregierung. Tausende Arbeitsplätze im Bereich der Halbleiterindustrie werden dort entstehen.
Ein neuer Blick, das heißt jedoch nicht, die Probleme zu verschweigen. Im Gegenteil: Die Herausforderungen des Ostens und auch Unzufriedenheiten werden offen benannt, und sie stehen auf der Agenda dieser Bundesregierung oben.
Da sind zum Beispiel die niedrigen Einkommen. Zum Glück hat der Bundestag beschlossen, den Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 – vielen Dank für die Mehrheit, die das mitgetragen hat – auf 12 Euro zu erhöhen.
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Das bedeutet für über 1 Million Menschen höhere Einkommen. Allein im Landkreis Sonneberg im schönen Thüringen verdienten 44 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten weniger als 12 Euro. Das heißt, 44 Prozent dieser Menschen haben von dieser Mindestlohnerhöhung profitiert. Das ist das Mindeste, was wir tun können; den Rest müssen die Tarifparteien bewerkstelligen. Dafür – für mehr Tarifbindung, für gewerkschaftliche Organisierung und die Organisierung der Unternehmen in Verbänden – haben sie die volle Unterstützung durch die Bundesregierung und den Bundeskanzler.
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Oder nehmen wir – bezogen auf die Defizite – die Tatsache, dass die Ostdeutschen zwar 17 Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber nur 3,5 Prozent der Führungspositionen bekleiden. Da läuft etwas schief in Deutschland, und zwar in allen Bereichen. Deshalb arbeiten wir als Bundesregierung und mit meinem Stab an einem Konzept für den Bund, um die Vielfalt unserer Gesellschaft – nicht nur bezogen auf Ostdeutsche, sondern auch auf Menschen mit Migrationshintergrund – zu erhöhen und diese Repräsentanzlücke, die auch die Akzeptanz von demokratischen Entscheidungen beeinflusst, zu verkleinern und mehr Ostdeutsche, insbesondere Frauen, in Führungspositionen zu bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen Dank für die Unterstützung in den vergangenen neun Monaten. Vielen Dank insbesondere auch für die Unterstützung des Zukunftszentrums und für die Entscheidungen, die wir insbesondere zur Unterstützung der Chemie- und der Raffineriestandorte treffen konnten.
Herzlichen Dank.
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Es folgt für die CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine interessante Abweichung von der bisherigen Übung, nicht nur den Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit einmal im Jahr zu diskutieren, sondern heute auch einen Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, und dies mit einem anderen Blick, wie Sie, Herr Schneider, sagen, zu versehen. Entscheidend wird sein, dass wir auch in Zukunft regelmäßig Gelegenheit haben, uns mit den besonderen Herausforderungen des Ostens unseres Landes zu beschäftigen. Das darf nicht zur pflichtgemäßen Routine werden, sondern muss ein wichtiger Gegenstand unserer Beratungen hier im Deutschen Bundestag bleiben.
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Jenseits der berechtigten wirtschaftlichen Anliegen der Bevölkerung in diesem Teil unseres Landes müssen wir vor allem über die deutlich abnehmende Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft sprechen. Diese Entwicklung ist für ganz Deutschland besorgniserregend und für den Osten ganz besonders. Ich möchte aus meiner Sicht drei Vorschläge unterbreiten, wie wir dem begegnen können.
Zum einen: Wir dürfen nicht nur reden. Wir müssen zuhören. Das haben Sie mit Ihrem Bericht und auch den Autoren, die Sie dort haben zu Wort kommen lassen, getan, Herr Staatsminister. Das ist eine gute Idee.
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Aber wir werden auch für eine längere Zeit zu akzeptieren haben, dass die Menschen in Ostdeutschland andere Lebenserfahrungen mitbringen, andere Biografien mitbringen und dass sie sich seit über 30 Jahren in einem geradezu permanenten Transformations- und Anpassungsprozess befinden. Das haben wir im Westen so nie erlebt. Dazu gehört, dass wir dafür werben, dass Diskussionen und auch der parlamentarische Streit hier im Haus und anderswo zur Demokratie konstitutiv dazugehören. Streit ist nichts Überflüssiges. Streit in der Demokratie ist nichts Unanständiges, sondern Streit in der Sache gehört dazu.
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Aber: Nach dem Streit muss es Entscheidungen geben. Und diese Entscheidungen müssen plausibel und nachvollziehbar sein.
Erlauben Sie mir, dass ich an dieser Stelle sage: Mit dem Streit innerhalb der Bundesregierung während des äußerst kritischen Sommers 2022 über die Lösung der Energieprobleme, der Einkommensprobleme, der wirtschaftlichen Probleme unseres Landes, mit diesem langanhaltenden und bis heute nicht endgültig geklärten Streit haben Sie der Demokratie und der marktwirtschaftlichen Ordnung – gerade im Osten unseres Landes – keinen Dienst erwiesen, meine Damen und Herren. Das hätten Sie anders und besser machen müssen.
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Ludwig Erhard hat in seinem wichtigen und einzigen Buch, das er geschrieben hat, „Wohlstand für alle“, das gleichlautende Versprechen abgegeben, das die soziale Marktwirtschaft, wie ich finde, im Westen unseres Landes in geradezu beeindruckender Weise für fast alle Menschen erreicht hat. Aber wir haben es nicht im Osten erreicht.
Deswegen möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, dass wir in den nächsten Wochen einmal darüber sprechen, wie wir das große Defizit an Vermögen, an Wohlstand durch Vermögen im Osten ausgleichen können. Mit der bisherigen Methodik wird es zu lange dauern, wenn wir es denn überhaupt jemals erreichen. Wir haben im alten Westen der Bundesrepublik Deutschland erprobte Modelle für die Vermögensbildung gehabt. Und die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, meine Damen und Herren, ist das letzte große, nicht eingelöste Versprechen der christlichen Soziallehre, der evangelischen Sozialethik und damit auch der sozialen Marktwirtschaft. Wir werden da etwas nachholen müssen, gerade für den Osten.
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Erlauben Sie mir, dass ich abschließend sage: Die Qualität eines Landes, die Streitkultur und das Miteinander in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft entscheiden sich jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Qualität von Kultur und Sport sagt etwas Fundamentales aus über unser Land, über unsere Gesellschaft und gerade über Ostdeutschland. Deswegen will ich mich ausdrücklich dazu bekennen, dass wir den Sport und die Kultur im Osten besonders fördern. Im Sport ist es ein großartiges Ergebnis, dass in der Fußball-Bundesliga endlich zwei Vereine aus dem Osten ganz oben in der Spitze mitspielen. Das ist ein sehr erfreuliches Ergebnis, meine Damen und Herren!
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In Kunst und Kultur sind es nicht nur das Gewandhaus in Leipzig, das Kindertheater in Dresden, es sind auch Kulturstätten wie das „Theater am Rand“ in dem kleinen Ort Zollbrücke, ganz in der Nähe der polnischen Grenze, die zum Gelingen der deutschen Einheit durch Kultur beitragen.
Deswegen lassen Sie mich am Schluss zitieren, was unser früherer Bundespräsident, der einzige, der bisher aus dem Osten kam, gesagt hat, als er seinen Blick auf den Osten und auf unser ganzes Land gerichtet hat:
Mir ist am wichtigsten, dass die Menschen in diesem Land wieder lernen, dass sie in einem guten Land leben, das sie lieben können. Weil es ihnen die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit zu etwas und für etwas zu leben.
Meine Damen und Herren, das ist ein wahres Wort unseres früheren Bundespräsidenten zur Deutschen Einheit.
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Es folgt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Michael Kellner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute wird der Osten auf der Landkarte internationaler Investoren als Hotspot wahrgenommen. Das zeigen Tesla oder Intel; übrigens auch, weil wir dort so viele erneuerbare Energien haben. Wir dürfen jetzt auf diesem Weg nicht nachlassen und auch in Ostdeutschland nicht auf der Kohle hocken bleiben. Es braucht auch in Ostdeutschland – wie in NRW – einen Kohleausstieg 2030. Die Zukunft des Ostens liegt in einer Wasserstoffwirtschaft und nicht in der Kohle.
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Mit Blick auf Schwedt, Leuna und Rostock bauen wir eine grüne Chemie und grüne Raffinerien aus. Diese Zukunft unterstützen wir mit 750 Millionen Euro in einem GRW-Sonderprogramm über die kommenden 15 Jahre.
Kurzfristig blicken wir auf die Energiepreise. Hier ist das Gebot der Stunde: Entlastung von Haushalten und Firmen, gerade dem Mittelstand. Die Bundesregierung hilft hier mit inzwischen drei Entlastungspaketen und noch in diesem Jahr mit einer Gas- und Strompreisbremse. So sichern wir Existenzen und Jobs in vielen von den hohen Energiepreisen betroffenen Branchen. Auch bei der Lohngerechtigkeit profitieren gerade in Ostdeutschland die unteren Einkommensgruppen von der deutlichen Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro pro Stunde.
Sehr geehrter Herr Merz, ich habe mir Ihre Aussage zur Vermögensbildung sehr genau angehört. Ich finde es sehr gut, dass Sie das angesprochen haben. Ich will ausdrücklich sagen: Daran sollten wir, die demokratische Opposition und die Regierung, gemeinsam arbeiten.
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Wenn ich im Osten unterwegs bin, treffe ich Menschen, die sich für ihren Ort, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Demokratie engagieren. Es gibt ihn, den anderen Osten: viel mehr, als manche denken. Hier stellen sich Menschen Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern aller Couleur mutig entgegen.
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Sie treten für ihre Gemeinde, für ihre Region ein, arbeiten an zukunftsfähigen Jobs und einer gesunden Umwelt.
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An der Seite dieser Menschen müssen demokratische Kräfte stehen. Demokratien scheitern, wenn Demokraten die Türen nach rechts außen aufmachen.
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Demokratien scheitern, wenn schwierige Entscheidungen nicht erklärt werden, sondern wenn nach dem Munde geredet wird. Da sind alle demokratischen Parteien gefordert, meine zum Beispiel, indem sie die Waffenlieferungen an die Ukraine begründet.
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Doch das gilt auch für die Union. Lieber Herr Merz, ich würde Ihren Gedanken gerne aufnehmen. Sie haben auch über die Demokratie gesprochen. Wenn Ihre Mittelstandsvereinigung in Brandenburg gegen Waffenlieferungen wirbt, keine Verurteilung von Russland zustande bringt und wenn bei Veranstaltungen der Mittelstandsunion Rufe laut werden, die Regierung vor Gericht zu stellen, dann ist es Aufgabe einer Partei, sich solchen Irrlichtern entgegenzustellen.
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Ich glaube Ihren Aussagen, nur, dann müssen wir uns gemeinsam dem entgegenstellen.
Oder aber, wenn die Brandenburger Finanz- und Europaministerin wie die Vertretung des Kremls im Landtag spricht. Deswegen „Danke!“ an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, die da klar widersprochen haben.
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Und wenn Linke Montagsdemonstrationen kapern wollen, dann ist das eine Geschichtsvergessenheit.
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Vor über 30 Jahren sind mutige Menschen auf die Straße gegangen, die nicht wussten, ob sie abends zurück nach Hause zu ihren Kindern kommen oder ob sie im Knast landen. Deswegen ist der Missbrauch der Montagsdemonstration so schäbig, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– und alle Linken sollten sich von diesem Missbrauch abgrenzen, wie es so treffend an der Gethsemanekirche in Berlin steht. Da hängt ein Banner: „22 ist nicht 89. Wir leben in keiner Diktatur!“
Herzlichen Dank.
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Für die AfD-Fraktion erhält das Wort Leif-Erik Holm.
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Frau Präsidentin! Liebe Bürger! Meine Damen und Herren! Ich will am Anfang feststellen – Kollege Merz hat es schon angesprochen –: Wo der Osten ist, ist vorne. Das gilt auch in der Fußballbundesliga. Der 1. FC Union Berlin, ein kleiner, bodenständiger Verein aus Köpenick, steht ganz oben in der Tabelle:
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mit wenig Mitteln unterwegs, aber mit dem eisernen Willen, die Bundesliga aufzurollen. Das ist doch ein gutes Ergebnis. Gestern 1:0 gegen Malmö. Wer freut sich denn nicht? Wunderbar!
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Und das Gute ist, dazu braucht dieser Ost-Club gar keinen Ostbeauftragten, sondern einfach viel Enthusiasmus, viele Zehntausende Fans und eine clevere Clubführung. So geht das übrigens im ganzen Osten, wenn man uns denn machen lässt. Nur, das ist das Problem.
Bei der Vermögensbildung – Kollege Merz hat es angesprochen – hängen wir natürlich meilenweit hinterher. Wir hätten uns am Anfang, direkt nach der Wende, vielleicht ein Niedrigsteuergebiet im Osten gewünscht. Vielleicht hätten wir schneller aufholen können. Aber das ist natürlich vergossene Milch. Wir müssen daran arbeiten.
Wir haben nach der Friedlichen Revolution im Osten wirklich losgelegt; das kann man sagen. Das war eine schwere Zeit für viele, gerade für die Generation unserer Eltern. Sie mussten neu anfangen, sich umorientieren. Sie haben sich mit viel Fleiß und Durchhaltevermögen über die Jahre dann ein bisschen Wohlstand erarbeitet. Aber sie sehen nun, wie mit einer völlig irrsinnigen Politik alles kaputtzugehen droht. Die Energieknappheit lässt die Preise explodieren, und die Politik sagt einfach: Weiter so.
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Noch mehr Windräder, noch mehr von der Medizin, die uns 20 Jahre lang kaputtgemacht hat, mehr von dem Unsinn, der unsere Industrienation ruinieren könnte – und das regt viele Bürger völlig zu Recht auf.
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Ich finde, wir können den Ostdeutschen sehr dankbar sein, die diese Gefahr genau spüren und deswegen jetzt auf die Straße gehen. Sie wollen die Politiker endlich wachrütteln, erleben aber, wie sich die Ampelregierung darüber streitet, ob zwei oder drei Kernkraftwerke ein paar Monate länger weiterlaufen dürfen. Was für eine Bankrotterklärung in dieser Lage, meine Damen und Herren.
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Aber der Kanzler hat ja die Lösung: Wir haken uns alle unter. – Da sage ich: Ja, wir müssen uns unterhaken; alle Bürger müssen sich unterhaken, in Ost wie in West, und diese irrsinnige Politik zulasten der eigenen Bürger endlich stoppen.
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Und wir müssen die Demokratie wiederbeleben. Es verstört ostdeutsche Demokraten zum Beispiel zutiefst, wenn in Thüringen Wahlen rückgängig gemacht werden und dann auch noch die versprochenen Neuwahlen einfach nicht stattfinden.
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Deswegen ist es doch verständlich, dass viele Bürger im Osten diese Demokratie einfach in einem schlechten Zustand sehen.
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Das liegt nicht daran, dass sie etwas gegen die Demokratie haben, sondern dass sie echte Demokratie für alle haben wollen.
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Über die Hälfte der Ostdeutschen glaubt, dass die Meinungsfreiheit unter Druck geraten ist. Auch hier bin ich froh, dass wir Ossis eine wertvolle Erfahrung in unser Land einbringen können. Wir wissen nämlich, wie sich Unfreiheit anfühlt, und wir sind froh, dass wir uns 1989 die Freiheit erkämpft haben.
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Deshalb werden wir auch nicht zulassen, dass uns diese Freiheit schleichend wieder genommen wird.
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Wir brauchen kein betreutes Denken durch Politik und Medien. Wir wissen selbst, was gut für uns ist. Wir brauchen niemanden, der uns vorschreibt, wie wir zu leben und zu sprechen haben. Den ganzen Genderquatsch wollen wir nicht, weil er einfach Blödsinn ist.
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Wir brauchen keine Warnhinweise im TV über angebliche Stereotype bei „Winnetou“ oder einem Märchenfilm wie „Der kleine Muck“, und wir lassen unsere Kinder auch gerne weiter als Indianer zum Fasching gehen, weil es einfach normal ist.
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Wir halten es sogar für bewiesen, dass exakt zwei biologische Geschlechter existieren. Und noch drastischer: Wir lieben unser Land und finden überhaupt nichts dabei, weil es eben so normal ist. Es ist unser Land, und wir wollen dafür sorgen, dass wir eine vernünftige, rationale, unideologische Politik bekommen, die uns leben lässt.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – „Energie statt Ideologie“ muss es jetzt heißen. Sorgen Sie endlich für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung und für eine geringe Abgabenlast!
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Dann können wir auch weiter ranklotzen.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Hören Sie bitte auf mit der ständigen Bevormundung! Wir sind, wie wir sind.
Herr Abgeordneter!
Und wir wollen bleiben, wie wir sind.
Vielen Dank.
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Das Wort erhält für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“, so hat der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland den Bericht überschrieben. Und ich finde, wir sollten auch einen neuen Blick wagen.
Um es bei der beschränkten Redezeit, die wir heute für dieses wichtige Thema haben, kurz abzuhandeln: Der Antrag der Linken wird diesem Anspruch, mal einen neuen Blick zu wagen, nun wirklich nicht gerecht. Die Themen sind sehr wichtig: Inflation und Armut, Löhne und Renten, wirtschaftliche und finanzielle Fragen; wahrlich. Allerdings beschäftigen wir uns auch in vielen anderen Tagesordnungspunkten hier im Hause genau mit diesen wichtigen Themen wie Inflation bekämpfen, wirtschaftliche Substanz sichern und vielem mehr. Die Fragen der deutschen Einheit erschöpfen sich allerdings nicht in Statistiken und Fragen von Geld und Finanzen; da gehört noch sehr viel mehr dazu.
Allerdings will ich sehr wohl zu den wirtschaftlichen Fragen, weil sie mit Blick auf Ostdeutschland wichtig sind, etwas sagen – wenn auch mit ganz anderem Akzent. Denn gerade die Menschen im Osten unseres Landes, die erst vor 32 Jahren die Chance bekommen haben, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen sich auch selbstständig zu machen, die Früchte ihrer Arbeit unter Wettbewerbsbedingungen zu ernten, gerade die haben ein Gespür dafür – vielleicht mehr als manche andere –, dass unser Land kein Abo auf Wohlstand hat, sondern dass das Voraussetzungen hat, die wir sichern müssen.
({0})
Gerade die Menschen im Osten unserer Republik wissen: Strom kommt nicht aus der Steckdose und Wohlstand nicht aus der Geldpresse. Genau deshalb haben sie ein Gespür dafür, was wir jetzt tun müssen.
Dazu gehört vieles,
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Inflationsbekämpfung als große Priorität. Genau daran arbeiten wir. Deshalb müssen wir bei der kalten Progression zum Beispiel genauso konsequent sein. Wir müssen übrigens Eigentums- und Vermögensbildung erleichtern. Ich glaube allerdings, dass Ludwig Erhard vor allem geschaut hätte, was wir hier eigentlich für Regulierungen machen. Fragen wir uns bei jedem Gesetz, das wir hier beschließen, ob es Eigentums- und Vermögensbildung in breiten Schichten unserer Bevölkerung erleichtert oder erschwert? Das wäre eine wichtige Prüffrage, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Gerade weniger Bürokratie, ein Planungsrecht, das mehr ermöglicht als verhindert, und Regulierungen, die nicht nur große Unternehmen mit Rechtsabteilungen, sondern auch Existenzgründer und Mittelstand bewältigen können, das ist gerade für Ostdeutschland wichtig.
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Damit die vielen, die nach der Wiedervereinigung so motiviert waren und sich selbstständig gemacht haben, jetzt auch andere finden, die motiviert und bereit sind, ihre Unternehmen zu übernehmen, brauchen wir bessere Rahmenbedingungen in unserem Land. Um all das geht es.
Zugleich möchte ich ansprechen, dass es nicht nur um Wirtschaft und Finanzen geht, sondern noch um einiges mehr, was in den letzten 30 Jahren zu kurz gekommen ist, wie etwa die Frage: Wie reden wir miteinander und übereinander? Wenn zusammenwachsen soll, was zusammengehört, dann müssen wir uns bewusst machen, dass 40 Jahre der Teilung auch eine längere Zeit der Heilung benötigen. Wie wir miteinander und übereinander reden, ist ganz entscheidend dafür, ob diese Heilung gelingt.
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Ich möchte ein Beispiel aus den letzten Tagen nennen. Mit Wolfgang Kohlhaase ist ein großer Drehbuchautor unseres Landes verstorben. Ist uns eigentlich immer bewusst, dass viele Künstler aus dem Osten unseres Landes – ganz unabhängig von dem politischen System, in dem sie gelebt haben – unser kulturelles Erbe bereichert haben und mit Wolfgang Kohlhaase jemand verstorben ist, der den gesamtdeutschen Film bereichert hat? Ich finde, das ist auch ein wichtiges Thema: Was ist unser gemeinsames kulturelles Gedächtnis? Ich denke hier auch etwa an Günter de Bruyn, einen berühmten Schriftsteller aus meiner Heimat Brandenburg. Er hat schon zu DDR-Zeiten betont, er ist kein DDR-Schriftsteller, er ist ein deutscher Autor, der in der DDR lebt. Ich finde, nach diesem Motto sollten wir uns mehr mit unserem gemeinsamen kulturellen Gedächtnis beschäftigen.
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Schließlich muss uns mit Blick auf die aktuelle Situation und die Zahlen der aktuellen Erhebungen, die in diesem Bericht referiert werden, natürlich Sorge machen, wie gering das Vertrauen in Institutionen ist und dass die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft abnimmt. Wenngleich das ein gesamtdeutsches Problem ist, das in Ostdeutschland noch stärker zum Tragen kommt, aber uns überall beschäftigen muss. Auch dafür ist es wichtig, wie wir miteinander und übereinander reden.
Wenn wir die Streitkultur in unserer Demokratie stärken wollen, dann sollten wir uns vielleicht öfter fragen: Packen wir zu oft Menschen in Schubladen und beurteilen die Frage, was jemand politisch vorbringt, danach, ob er oder sie aus einer bestimmten Region unseres Landes kommt?
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Muss er oder sie so denken, weil er oder sie aus dem Osten kommt, oder streiten wir leidenschaftlich um die Argumente in der Sache? Auch das könnte zu mehr Begeisterung für Demokratie beitragen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben auch noch viel an diesem gemeinsamen kulturellen und historischen Gedächtnis aufzuarbeiten. Deshalb will ich hier einmal kurz sagen: Es ist auch wichtig, dass wir die Forschungsverbünde zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die „Landschaften der Verfolgung“, an unseren Universitäten weiterführen –
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
– und das geplante Zukunftszentrum gut ausgestalten. Damit wir mit Demut und Selbstbewusstsein gleichermaßen sagen können: Wir gemeinsam sind Deutschland.
Vielen Dank.
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Als Nächstes folgt für Die Linke Dr. Dietmar Bartsch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin schon erstaunt, wer jetzt auf einmal Fan des 1. FC Union Berlin geworden ist. Also, ich war schon da, als die noch in der 3. Liga gespielt haben; da lohnt es sich zu kämpfen. Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist ein Waisenkind.
Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich, dass Carsten Schneider Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland geworden ist; denn er kennt die Probleme des Ostens und bemüht sich auch um Lösungen. Ich finde auch, dass die Neuausrichtung des Berichts ein wirklicher Fortschritt ist. Er hebt sich wohltuend von den Vorgängerberichten ab.
Aber man muss auch klar feststellen: Die Bilanz der Ampel nach einem Jahr ist, was den Osten betrifft, ausgesprochen dürftig. Ja, die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro war wirklich sehr wichtig. Deshalb haben wir auch zugestimmt. Aber: Bei 10 Prozent Inflation sind es real eben nur 10,80 Euro.
Frau Teuteberg, eines muss man ja einmal sagen: Die Energiekrise trifft die Menschen im Osten natürlich umso härter, viel stärker als viele im Westen. Wir haben geringere Löhne. Wir haben weniger private Vermögen, weniger Rücklagen bei Unternehmen. Das ist die Wahrheit. Laut einer Umfrage sieht sich jede zweite Firma im Osten von Insolvenz bedroht. Es brennt lichterloh in der Wirtschaft – im Osten wie im Westen. Da müssen wir doch handeln. Die Bundesregierung handelt zu langsam, und sie handelt nicht entschlossen.
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Damit stehen die Fortschritte der Einheit auf dem Spiel, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.
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Ich bin sehr für ostdeutsches Selbstbewusstsein, und ich stehe auch für das ostdeutsche Selbstbewusstsein. Aber wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass 74 Prozent der Menschen mit der Ampel unzufrieden sind. Das ist die Wahrheit. Mit der Demokratie sind im Osten nur noch 39 Prozent zufrieden, 10 Prozent weniger als im Coronajahr. Das sind erschreckende Zahlen. Die sind nicht vom Himmel gefallen, meine Damen und Herren. Da zählen natürlich die ökonomischen Fakten. Das ist weiterhin so.
12 000 Euro weniger verdienen ostdeutsche Vollzeitarbeitnehmerinnen und ‑arbeitnehmer. Kein ostdeutsches Bundesland ist auch nur in der Nähe des am schlechtesten platzierten westdeutschen Bundeslandes Schleswig-Holstein. Mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern ist leider auf dem letzten Platz.
Oder nehmen wir die Wirtschaft: 77 Prozent beträgt das Niveau im Vergleich zum Westen. Das sagt erst einmal noch gar nichts, aber vor 20 Jahren, im Jahr 2002, waren es 68 Prozent. Wenn das so weitergeht, dauert es noch ein halbes Jahrhundert; aber ich möchte die Angleichung der Lebensverhältnisse noch erleben. Da muss mehr geschehen, meine Damen und Herren.
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Carsten Schneider hat zu Recht erwähnt, dass die Führungspositionen des Landes zu wenig mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt sind. Aber jetzt sage ich einmal: Von Ihren 111 Abteilungsleitern in der Bundesregierung sind sage und schreibe 4 aus den neuen Ländern. Das ist doch völlig inakzeptabel. Sie sind eine westdeutsche Ampel. Eine Studie der Uni Kassel sagt: Selbst unter Helmut Kohl war das besser.
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Das muss Ihnen doch zu denken geben, meine Damen und Herren.
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Lieber Carsten Schneider – ich komme gleich zum Ende –, Sie haben inzwischen ein Büro im Bundeskanzleramt. Das ist gut, das haben wir immer gefordert. Nehmen Sie die Interessen energisch wahr. Wir brauchen einen Schutzschirm gegen Inflation und Armut. Retten Sie vor allem Schwedt, die Jobs, die Stadt und die Region. Und vor allen Dingen: Sorgen Sie für Lohneinheit in unserem Land. 32 Jahre sind wirklich zu lange. Ostdeutsches Selbstbewusstsein ja, aber bitte, bitte mehr tun. Nehmen Sie das Angebot von Herrn Merz ausdrücklich an. Wir sind auch bereit, da mitzutun.
Herzlichen Dank.
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Also, Sie haben sich jetzt alle ausgeglichen im Überziehen der Redezeit. Ab jetzt ist bei null wieder Schluss.
Als nächster Redner: Detlef Müller für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Staatsminister Schneider, zunächst möchte ich mich für den vorgelegten Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland bedanken. Die neue Berichtsform ist, wie bereits dargestellt wurde, ein Novum. Sie bietet die Möglichkeit, dass der Osten durch Gastbeiträge selbst zu Wort kommt, und das ist wichtig, weil es nicht nur einen Blick von außen auf aktuelle Entwicklungen zulässt, sondern auch eine Binnensicht ermöglicht. Diese Binnensicht wahrnehmbar zu machen, ist ein Zeichen des Respekts.
({0})
Diese Binnensicht sowohl auf Problemlagen als auch auf Entwicklungschancen ist deutlich differenzierter und vielschichtiger als oftmals wahrgenommen.
Danke auch an Sie, Herr Merz, für Ihren nachdenklichen Beitrag und die konstruktiven Vorschläge. Vielen Dank, wir kommen darauf zurück.
Meine Damen und Herren, es gibt ihn nicht, den einen Osten, der oftmals von den politischen Rändern vereinnahmt wird. Deshalb lassen Sie mich noch ein paar Worte, anschließend an Herrn Kellner, zu den aktuellen Demonstrationen von links wie rechts sagen. Krisen, Frust und auch Angst vor den aktuellen Situationen treiben Menschen auf die Straße. Das ist alles völlig verständlich und auch nachvollziehbar. Man muss halt nur schauen, mit wem oder hinter wem man sich versammelt.
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Deswegen an dieser Stelle ein klares Wort an alle, die mit politisch Extremen marschieren und sich selbst in der Tradition von 1989 sehen: 2022 ist nicht 1989.
Im Oktober 1989 musste ich mich mit meiner Frau immer genau abstimmen, wer wann zu welcher Demonstration ging. Unsere Tochter war ein Jahr alt. Beide Eltern gemeinsam zur Demonstration: Das ging einfach nicht – aus Verantwortung gegenüber dem Kind. Kommen wir nach Hause zurück?
Als ich mit dem Zug vom damaligen Karl-Marx-Städter-Hauptbahnhof zur Montagsdemo nach Leipzig gefahren bin, rettete mich mein Dienstausweis als Lokomotivführer. Wovor? Vor Zuführung. Damals gab es nicht nur Verhaftungen im Vorfeld von Demos, sondern, einfach gesagt, auch Zuführungen. Einfaches Raus- und Aufgreifen von potenziellen Demonstranten im Stadtgebiet durch die Volkspolizei, im Bahnhof oder im Zug durch die Transportpolizei und stundenlang grundloses Festhalten in Polizeiobjekten. Links und rechts von mir wurden Leute zugeführt, einfach so, ohne Grund; Zuführung, Festsetzung, Klärung eines Sachverhalts, gern auch 48 Stunden lang.
Und heute? Hinter Russland-Fahnen, Reichskriegsflaggen und Querdenker-T‑Shirts, initiiert auch von AfD-Landes- und -Kreisverbänden, wird gerufen – Zitat –: „Das System ist am Ende, wir sind die Wende.“ Meine Damen und Herren, dieses System ermöglicht es, dass sie jeden Montag durch alle möglichen Städte laufen können.
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Herr Holm, dieses System garantiert Ihnen, dass Sie alles Mögliche und eigentlich auch Unmögliche sagen, rufen und skandieren können.
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Dieses System, seine unabhängigen Gerichte und die Polizei schützen Sie und Ihre Demonstrationen. Dieses System schützt Ihre Rechte auf Meinungsfreiheit und Protest.
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Und deshalb – und das ist sehr persönlich –: Hören Sie endlich auf, die jetzigen Demonstrationen in den Kontext und in die Historie der Demos von 1989 zu stellen. Das ist unredlich, geschichtsvergessen und ein Verrat an der Friedlichen Revolution von 1989.
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Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion folgt Jana Schimke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Wenn ich Ihnen meinen persönlichen Eindruck schildern darf, dann ist dies der, dass unser Land nach 32 Jahren Deutsche Einheit so gespalten ist wie noch nie zuvor; politisch, gesellschaftlich und, wenn es so weitergeht, bald auch wirtschaftlich.
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Wir haben seit dem 1. Oktober allein in den neuen Bundesländern 263 Insolvenzen, Tendenz steigend. Wir kennen alle die Namen: Die Bodeta GmbH – das sind die grünen Eukalyptusbonbons – musste dichtmachen wegen steigender Energiepreise und Rohstoffpreise. Die KAPPUS GmbH aus Riesa, ein Seifenhersteller, unterlag den Preissteigerungen, Energiekosten und Personalkosten. Die Ludwig Leuchten GmbH aus Elsterheide, Sachsen, ein 70‑jähriges Unternehmen, musste dichtmachen wegen unterbrochener Lieferketten. Und auch KAHLA Porzellan – wer hat es nicht zu Hause in der Vitrine stehen? –, ein alter Betrieb, seit 1844 am Markt, musste dichtmachen, weil der Gasversorger geschlossen hat und es keinen neuen Gasversorger gibt.
({1})
Meine Damen und Herren, was wir gerade erleben, ist gefühlt eine zweite Deindustrialisierung der neuen Bundesländer.
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Und das, liebe Bundesregierung, liegt auch an Ihrer Politik.
Die Umfragen geben berechtigterweise Anlass zur Sorge.
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56 Prozent der Ostdeutschen halten heute die Deutsche Einheit nicht als geglückt. 77 Prozent finden, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. 63 Prozent sagen, sie sind Menschen zweiter Klasse.
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Und ebenso viele sagen, dass die Demokratie sich verschlechtert hat.
Zur Wahrheit gehört aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die westdeutschen Bundesbürger ein ähnliches Stimmverhalten haben, etwas weniger, aber trotzdem ähnlich. Wissen Sie, was das große Problem der Debatte ist, auch am heutigen Tag? Dass Sie immer wieder die falschen Schlussfolgerungen treffen. Und das zeigt sich schon allein am Blick in den Bericht zur Deutschen Einheit.
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Da werden nämlich die Menschen unterschieden in offen und liberal. Meine Damen und Herren, wer ist denn offen und liberal in Deutschland? Wenn ich Ihren Bericht lese, dann sind es diejenigen, die vor allen Dingen den Umweltschutz und den Klimawandel an erster Stelle ihrer wichtigsten Themen stellen. Dann kommt erst mal eine ganze Weile nichts, bis dann irgendwann die soziale Gerechtigkeit kommt. Und es sind auch jene, die die höchste Coronaimpfquote haben. Was hat denn bitte eine Coronaimpfquote im Bericht zur Deutschen Einheit verloren?
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Aber es geht ja noch weiter. Die nächsten Kategorien: kleinbürgerlich, konservativ. Ich weiß gar nicht, ob wir uns als Union dazu zählen dürfen. 24 Prozent der Ostdeutschen sind das. Die haben einen Mut zum starken Nationalgefühl. Dann kommen aber auch schon die angepassten Skeptiker mit 26 Prozent und last, but not least verdrossene Populisten mit 35 Prozent. Liebe Bundesregierung, 85 Prozent der Ostdeutschen werden durch Sie in eine verschwurbelte Ecke geschoben, wo ich mich frage: Wie wollen wir eigentlich noch zueinander finden?
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Meine Damen und Herren, der Osten ist nicht abgehangen. Die Dörfer sind durchsaniert. Wir hatten Rekordbeschäftigung bis zuletzt. Wir hatten volle Auftragsbücher.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Menschen kehren zurück in ihre alte Heimat, um dort zu leben. Die Leute wollen nicht von oben herab behandelt werden, sie wollen keine Belehrungen, sie wollen keine Besserwisserei, sie kennen ihre Lebensleistung, sie möchten nicht in die linke und rechte Ecke gestellt werden.
({0})
Frau Kollegin.
Wir brauchen Lösungen, keine Beschimpfungen und keine Missionierungen.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt kommen wir alle wieder runter. – Der nächste Redner ist Kassem Taher Saleh für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bernhard, alles gut. Frau Schimke, ich glaube, es ist aufgefallen, wie beschämend Ihr Redebeitrag gerade war,
({0})
dass Sie diese wichtige Debatte über Ostdeutschland verwenden, um hier Ihre Ideologien zu verbreiten. Machen Sie sich eines klar: In der Mehrheit dieser Landesregierungen ist auch die CDU beteiligt.
({1})
Herr Holm, noch ein Satz zu Ihnen. Ich glaube, Sie haben wirklich überhaupt keine Ahnung, was da vor sich geht in Ostdeutschland. Wissen Sie das?
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Sie werden niemals bei einem Spiel von Union Berlin willkommen sein: Diese Fanszene ist viel zu links und viel zu radikal für Ihre Ideologien!
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Besucherinnen und Besucher! Ich bin Plauener, ich bin Dresdener, ich bin Sachse, ich bin Ostdeutscher. – Am Tag der Deutschen Einheit habe ich das in einem Tweet geschrieben. Dies hat man mir in unzähligen Kommentaren direkt abgesprochen. Ich möchte hier aber nicht darüber sprechen, ob ich zu Ostdeutschland gehöre oder nicht, sondern darüber, ob Ostdeutschland eigentlich dazugehört. Natürlich gehören Ost- und Westdeutschland schon lange zusammen. Wir waren noch nie so wiedervereint wie heute.
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Aber, meine Damen und Herren, die Deutsche Einheit ist noch nicht vollkommen. Wir haben immer noch nicht die gleichen Chancen auf Führungspositionen und gesellschaftlichen Aufstieg.
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Wir haben Ungleichheiten bei Löhnen, bei Renten, bei Vermögen und der Tarifbindung. Diese Ungleichheiten sind strukturell bedingt, und es ist unsere Verantwortung, unsere Aufgabe, auch hier im Parlament, diese Ungleichheiten zu beseitigen.
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Der Strukturwandel in Ostdeutschland hat das Zeug, vieles schlagartig zu verändern und voranzubringen, und zwar für ganz Deutschland. Die Energiewende, die Bauwende, das Handwerk, grüne innovative Technologien, die Wissenschaft – das Potenzial ist riesig. Das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ in Leipzig und Plauen ist ein gutes Beispiel dafür.
({7})
Wir brauchen solche Projekte, die den Fokus auf die immer noch nachwirkenden gesellschaftlichen Umbrüche lenken. Wir müssen dies im kulturellen und historischen Gedächtnis auch von Westdeutschen fest verankern, wie es im Bericht von Staatsminister Schneider so treffend beschrieben ist.
Wenn die AfD und Konsorten steigende Migrationszahlen, steigende Geflüchtetenzahlen und soziale Ungleichheiten dafür nutzen, zu Aufmärschen zu mobilisieren,
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dann sollte dies die Menschen in Stuttgart oder in Hamburg genauso interessieren wie in Görlitz oder Leipzig. Das, meine Damen und Herren, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ist ein gesamtdeutsches Problem. Einen letzten Satz, Frau Präsidentin.
Muss aber sehr kurz sein.
Den mache ich auch sehr kurz. – Wir Nachwendekinder sind die neuen, vielfältigen Stimmen des Ostens. Wir spiegeln seinen stetigen Wandel wider. Es braucht diese Stimmen, damit alle die Herausforderungen der Einheit auch nach über 30 Jahren erkennen. Meine Stimme gehört dazu.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Matthias Helferich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Gründung der Bundesrepublik erlösten sich die Westdeutschen, angetrieben durch ihre Eliten, von Deutschland und dem Fluch, Deutsche zu sein. Sie sehnten sich nach dem Aufgehen Westdeutschlands im Westen und seinen materiellen Werten. Nach der Wiedervereinigung erhofften sich jene westdeutschen Eliten, dass Ostdeutschland im Westen verschwinden würde. Die Ostdeutschen wollten aber keine Westdeutschen sein, sondern, wie es der Publizist Eberhard Straub schrieb, „endlich Deutsche sein“.
Über Jahrzehnte war unser Volk in seiner Geisteswelt in Ost und West getrennt. Doch der Bericht des Beauftragten für Ostdeutschland zeigt auf, dass diese Trennung zunehmend verschwindet. Bürger in Ost und West eint, dass sie das Vertrauen in den Parteienstaat verloren haben, das freie Wort gefährdet sehen. Sie eint, dass sie sich nach Mut zum Nationalstolz und einer nationalen Erzählung, einem nationalen Mythos sehnen.
Vereint sind sie auch darin, als „verdrossene Populisten“ oder angepasste Skeptiker durch Ihren Bericht diffamiert zu werden, wenn sie sich Ihren Dogmen entziehen. Doch schon Ernst Jünger warnte, dass es ein Fehler sei, nach dem Erdbeben auf den Seismografen einzuschlagen. Sie machen in Ihrem Bericht genau diesen Fehler. Sie suchen nicht die Ursachen für die wachsende Ablehnung Ihrer Politik in Ost und West, sondern versuchen, den Protest dagegen zu diskreditieren. Das Erdbeben, die Erhebung weiter Teile unseres Volkes in Ost und West gegen Ihre Politik, sollte jedoch Anlass zur Überprüfung Ihrer Politik sein.
Uwe Tellkamp gibt uns allen einen entscheidenden Rat – ich zitiere –:
Was ist denn ein Volk überhaupt? Es ist eine gemeinsame, prägende Kultur.
Und wenn diese sich nicht mehr langsam und organisch, sondern plötzlich und disruptiv verändert, dann ist das traumatisch! Zum Beispiel wenn sich Menschen in ihren eigenen Städten nicht mehr zu Hause, sondern fremd vorkommen, dann muss man das ernst nehmen. Das heißt, wir müssen damit anfangen, darüber, natürlich in aller Gesittetheit, aber endlich offen zu diskutieren.
Beginnen wir endlich, darüber zu diskutieren in Ost und West!
Vielen Dank.
({0})
Es folgt für die CDU/CSU-Fraktion Dieter Stier.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im ganz neuen Gewand präsentiert sich der Einheitsbericht in seiner aktuellen Ausgabe. Die bunte Aufmachung soll mit der überlieferten Routine brechen. Zumindest das, Herr Staatsminister Schneider, ist Ihnen gelungen. Doch wir alle wissen: Ein neues Outfit löst noch lange nicht die alten Probleme.
Eines dieser Probleme, das in Ihrem Bericht nicht einmal vorkommt, aber auf das Engste mit der Deutschen Einheit verbunden ist, ist immer noch ungelöst. Ich spreche von der aktuellen Flächenvergabe durch die bundeseigene BVVG, die Bodenverwertungs- und ‑verwaltungs GmbH, einst errichtet auf der Grundlage des Treuhandgesetzes mit eindeutigem Auftrag. Im Einheitsbericht habe ich auf 152 Seiten dazu kein einziges Wort gefunden, und das, obwohl das Thema „Landwirtschaft in Ostdeutschland“ unter den Nägeln brennt.
({0})
Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist die Privatisierung der volkseigenen Flächen zugunsten unserer Landwirte immer noch nicht abgeschlossen. Wer blockiert? Die Bundesregierung. Warum? Weil die Grünen die ökologische Landwirtschaft einseitig bevorzugen und die konventionellen Landwirte benachteiligen wollen.
({1})
Der gegenwärtige Verkaufs- und Verpachtungsstopp für landwirtschaftliche Flächen wirkt dabei wie ein riesiger Bremsklotz auf einer Zielgeraden, die wir schon lange eingeschlagen hatten. Dieser Bremsklotz wird uns durch das ideologiegetriebene Agieren jetzt wieder um Jahre zurückwerfen.
Mit dieser gezielten Bevorzugung verstoßen Sie meines Erachtens klar gegen geltendes Recht, vor allem gegen die Privatisierungsgrundsätze, die zwischen dem Bund und den ostdeutschen Ländern vereinbart sind. Weil der Bundesfinanzminister richtigerweise gegen diese Ideologisierung Widerstand leistet, streiten Sie sich, und es passiert ein Jahr nichts. Die Ampel steht hier seit einem Jahr auf Rot,
({2})
es herrscht Stillstand. Eine Lösung ist trotz Ankündigung nicht in Sicht. Das ist aus meiner Sicht für den ländlichen Raum unverantwortlich.
({3})
Ich fordere Sie auf: Sperren Sie sich nicht weiter gegen eine ausgewogene Lösung. Geben Sie die Flächen frei. Tragen Sie dazu bei, dass die BVVG ihren gesetzlichen Auftrag ungehindert erfüllen kann.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das mache ich, Frau Präsidentin. – Es liegt jetzt alleine an Ihnen, dass wir dieses Kapitel im Buch der Deutschen Einheit erfolgreich abschließen können. Dass die Redezeit für dieses wichtige Thema heute so knapp ist, ist dem Parteitag der Grünen geschuldet. Ich hoffe daher, dass Sie dort zumindest kluge Beschlüsse zur Energiepolitik treffen.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Zumindest muss ich feststellen, dass Sie insgesamt die Debatte verlängert haben, was dem Thema ja auch angemessen ist. Deswegen waren wir jetzt durchaus großzügig.
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Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Katrin Budde für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mein Gott, Herr Merz, dass ich das noch mal sage: Hätten Sie nur die gesamte Redezeit für die CDU/CSU zu dieser Debatte genutzt.
({0})
Der Bericht ist super; bitte lassen Sie ihn so, Herr Staatsminister. Er enthält nicht wieder nur Daten und Fakten. Ich empfehle wirklich allen, insbesondere den Teil A zu lesen. Ich würde ihn geradezu zur Pflichtliteratur für jeden Bundestagsabgeordneten machen. Danach werden Sie den Osten besser verstehen. Denn es ist natürlich noch so: 32 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir ein nur bruchstückhaftes gegenseitiges Verstehen der Gefühlswelten in Ost und West. Wir haben ja auch andere Biografien hinter uns. Das ist kein einseitiger Vorwurf, sondern ich meine das durchaus, wie wir früher sagten: ’nüber und rüber.
Ich war erst kürzlich wieder in einer Situation, die das ganz gut beschreibt. Ich habe nämlich versucht, die Besonderheiten der Brüche und der Verluste im Osten, die Infragestellungen im Leben nach 1990, die Größe und das Ausmaß der in jeden Winkel des Lebens der Familien und des Alltags kriechenden Veränderungen zu erklären und zu beschreiben. Und dann bekomme ich fast trotzig die Antwort: Aber es ist schon eine Erfolgsgeschichte. – Wenn ich dann antworte: „Ja“, komme ich aber gar nicht weiter, um zu erklären, was ich weiter meine. Wenn ich ansetze, weiterzureden, dann kommt: Aber das ist doch schon das Wichtigste. Und im Übrigen: Im Westen hat sich auch ganz viel verändert. – Wenn es doch eine Erfolgsgeschichte ist, dann brauche ich mich ja nicht auf die Gefühlswelt des Volkes dahinter einzulassen.
Aber genau das ist der Fehler. Denn die Antwort lautet: Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte; und nein, wir haben nicht alles richtig gemacht. – Neben Daten, Fakten und Situationen gibt es auch noch die Gesellschaft, und die Gesellschaft hat so was wie eine kollektive Seele. Als ich das erste Mal von kollektiven gesellschaftlichen Traumata gelesen habe, habe ich an Kriegserfahrungen von Völkern gedacht, an Holocaust. Als ich es zum ersten Mal in Verbindung mit der Wiedervereinigung gehört habe, habe ich das ganz weit von mir gewiesen.
Heute denke ich anders darüber: Auch eine gute und richtige Entwicklung und gute und richtige Ergebnisse wie die Wiedervereinigung können durch die Strukturbrüche, die diesen Prozess begleiten, zu gesellschaftlichen und nicht nur zu individuellen Verletzungen führen. Das ist verdammt gefährlich, und das sehen wir überall. Natürlich können die Ostdeutschen Demokratie – wir haben sie uns sogar im Gegensatz zu den Westdeutschen selber erkämpft –; aber Ostdeutsche erwarten mehr und anderes davon. Auch das ist ein Teil der Wahrheit.
Es ist nun aber unsere Aufgabe, nicht nur zurückzublicken und Gegenwart zu beschreiben, sondern auch eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen. Was also tun? Ich will das mal holzschnittartig in drei Punkten beschreiben:
Erstens. Die Leistung der Ostdeutschen der letzten 32 Jahre wirklich anerkennen.
Zweitens. Uns darüber verständigen, dass wir Gemeinsames, Neues auf Augenhöhe wollen.
Drittens. Vereinbaren, was das Neue, Gemeinsame ist.
Dafür braucht man Orte. Dafür braucht man Prozesse. Dafür braucht man Forschung, Entwicklung, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Bürgerdialoge. Ein solcher Ort wird das „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ sein.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind es unseren Bürgern schuldig, alle Maßnahmen staatlicher Stellen im Zusammenhang mit Corona kritisch aufzuarbeiten, um das herzustellen, was die Regierung seit 2020 verweigert: Transparenz und Nachvollziehbarkeit.
Über 70 Kleine Anfragen unserer Fraktion zu Corona blieben meist ohne echte Antworten, weil alte wie neue Regierung darin versagt haben, in ausreichendem Umfang valide Daten hinsichtlich Effektivität, Effizienz und Risiken ihrer Maßnahmen zu erheben. Gesundheitsminister Lauterbach nutzt wissenschaftliche Evidenz nur, wenn es ihm beliebt und ihn bestätigt; wenn nicht, ignoriert er sie. Oder weshalb sonst hält der Minister an Maßnahmen fest, deren Bilanz laut Expertenkommission vernichtend ist?
Und wo Zahlen, Daten, Fakten vorliegen, sind diese oft politisch kontaminiert. Ich nenne als Beispiel die Fallzahlen, die mit der Anzahl anlassloser Tests ohne medizinische Aussagekraft politisch gesteuert wurden. Oder denken wir an die Zahl der verfügbaren Krankenhausbetten, die nicht wegen der Belegung mit Kranken gesunken ist, sondern mittels Krankenhausrefinanzierung und Personalschlüssel gewollt verknappt wurde. Nicht genug: Mit der Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht haben Sie den Personalnotstand im Gesundheitsbereich noch verschärft und Tausende von Menschen aus ihrem Beruf gedrängt.
({0})
Oder denken wir an die Manipulation bei der Bewertung der Impfwirkung, wenn bei Geimpften nur symptomatische Fälle gezählt wurden, bei den Ungeimpften jedoch jeder positive Zwangstest.
Jeder Tote ist ein Toter zu viel. Wie oft wurde das hier im Haus ausgesprochen? Es war das Totschlagargument schlechthin. Seit einiger Zeit sterben trotz nachlassender Impfwirkung nur noch wenige Menschen an Corona. In den Altersgruppen 65 bis 74 und – das ist besonders fatal – in der Altersgruppe 15 bis 44 haben wir seit Impfbeginn aber eine stetig wachsende, unerklärliche Übersterblichkeit – aber eben nicht aufgrund Corona. Wo ist der Wille, dies aufzuklären?
({1})
Neben den massiven wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Maßnahmen sind vor allem die gravierenden Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit bis heute unausgewertet. Bei Erwachsenen geht es um die Frage und die Folgen verschleppter Behandlungen und Operationen, um Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen und Suchterkrankungen. Kinder und Jugendliche brauchen für eine gesunde Entwicklung in ganz besonderem Maße Sozialkontakte, weshalb sie die größten Opfer der Maßnahmenpolitik waren. Die Zunahme von Essstörungen, Depressionen und Angstattacken ist erschreckend. Die Zahl der Suizidversuche im zweiten Corona-Lockdown hat sich bei Kindern verdreifacht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({2})
Was schreibt Herr Lauterbach in seinem aktuellen Quengelbrief an die über 60‑Jährigen? Zitat:
Mir ist bewusst, dass viele das Thema Corona nicht mehr hören mögen. Doch leider ist die Corona-Pandemie noch nicht vorbei.
Doch, Herr Lauterbach, sie ist vorbei. Fast alle Länder haben die Pandemie für beendet erklärt, und es wird akzeptiert, dass das Virus längst endemisch ist.
({3})
Die Menschen haben Ihre Willkür satt, Herr Lauterbach, Ihre ewigen Untergangspredigten, Drohungen, Ermahnungen und Bevormundung. Es kann keiner mehr hören. Wer eine Maske tragen will, soll dies tun. Aber die meisten Menschen tragen den Maulkorb nicht, um einer todbringenden Seuche zu entgehen, sondern rein aus Angst vor Strafe. Die Mehrzahl der Menschen hat sich auch nicht aus medizinischer Überzeugung impfen lassen, sondern um sozialem Druck zu entgehen, für Arbeit oder Studium, für Sport oder Urlaub – eine Schande. Fehlende Kenntnisse der mittel- und langfristigen Nebenfolgen der Impfungen kommen obendrauf.
({4})
Das Volk hat ein Recht auf Antwort darauf, was genau gelaufen ist, und das Parlament hat die verdammte Pflicht, Auskunft zu geben. Es geht aber um mehr als um Aufklärung von Versäumnissen und Verantwortlichkeiten, um mehr als um Aufarbeitung der Fehlentscheidungen und ihrer gravierenden Auswirkungen. Wir brauchen die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses als Grundlage für eine umfassende rechtspolitische Diskussion, um zukünftig das Grundgesetz um eine zivile Notstandsverfassung zu ergänzen. Freihändige, völlig unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe dürfen sich nicht wiederholen – nie wieder!
({5})
Der Gesetzgeber ist hier dringend gefordert, um eine weitere Erosion des Rechtsstaats zu verhindern und für die Lauterbachs dieser Welt rote Linien zu ziehen.
Meine Damen und Herren, natürlich ist mir bewusst, dass Sie den Antrag ablehnen werden, nicht nur, weil Sie Aufklärung scheuen, sondern einfach deshalb, weil er von der AfD kommt. Ich sage Ihnen: „Nur zu“; denn irgendwann wird dem Bürger die Begründung „die böse AfD“ nicht mehr ausreichen. Sie werden dann noch mehr Rückhalt und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verlieren. Oder Sie trauen sich und stimmen für die Transparenz Ihrer Politik durch einen Untersuchungsausschuss.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion erhält das Wort Heike Baehrens.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem chaotischen Antrag, der uns vorliegt,
({0})
und vor allem auch der eben gehörten Rede der AfD wird noch einmal unterstrichen, wie verantwortungslos Sie in den letzten zwei Jahren hier an diesem Pult geredet und gehandelt haben.
({1})
Ich erinnere mich an die vielen haltlosen Beiträge Ihrer Scheinexperten in den Anhörungen. Was Sie sich seit Beginn der Pandemie geleistet haben, ist nichts anderes als Desinformation durch Fakedaten, Einschüchterung und Destruktion
({2})
statt konstruktiver Kritik, die systematische Beschädigung von Expertinnen und Experten und maßgeblichen Institutionen dieses Staates. Sie meinen es nicht gut mit unserem Land.
({3})
Nein, wer es ernst meint mit der Sorge um die Menschen in diesem Land, der kümmert sich um ihr Wohlergehen, und das tun wir als SPD.
({4})
Seit Beginn der Pandemie haben wir verlässlich dafür gearbeitet, Schaden von den Menschen abzuwenden und Leid zu verringern.
({5})
Es gab keine Blaupause für ein solches Pandemieszenario. Deshalb gibt es Licht und Schatten. Darum gab es in der Pandemiebekämpfung auch Fehlentscheidungen, ja.
({6})
Aber es zeichnet unsere Demokratie aus, dass wir selbstkritisch mit unserem Handeln umgehen.
({7})
Die Coronamaßnahmen werden seit zwei Jahren intensiv und kritisch debattiert wie kein anderes Thema,
({8})
und, wo immer möglich, wurden und werden notwendige Korrekturen vorgenommen. Dieses Vorgehen haben wir mit unserem Gesundheitsminister Karl Lauterbach
({9})
explizit verstärkt. Unsere Regierung steht für konsequente Anbindung an Fachwissen,
({10})
lässt sich beraten durch einen ExpertInnenrat.
Aber gerade Wissenschaft lebt vom Widerstreit verschiedener Meinungen. Forschung strebt immer nach Erkenntnisgewinn. Es gibt nicht die einfache Lösung. Bei allen, die die einzig richtige Lösung verkaufen wollen, sage ich: Vorsicht! Gerade als Parlament haben wir unsere Verantwortung sehr ernst genommen.
({11})
– Warum können Sie eigentlich nicht mal den Mund halten?
({12})
– Nein, weil Sie das, was ich hier Richtiges sage, nicht ertragen können. Das ist Ihre Dummheit.
({13})
Gerade als Parlament haben wir unsere Verantwortung sehr ernst genommen, die breite wissenschaftliche Expertise und auch internationale Erfahrungen einzubeziehen, verschiedene Perspektiven auszubalancieren,
({14})
damit die Belastungen niemanden überfordern und das korrigiert wird, was gravierende Nebenwirkungen hat. Und da nenne ich besonders auch die Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen.
({15})
Das tun wir ernsthaft und fortlaufend: unsere Entscheidungen korrigieren.
({16})
Hier in diesem Haus sitzen fünf Fraktionen,
({17})
denen es genauso ernst ist mit einer verantwortungsvollen Pandemiepolitik.
({18})
Grüne und FDP haben auch als Opposition in der vergangenen Legislaturperiode in weiten Teilen die Regierungspolitik kritisch und konstruktiv begleitet,
({19})
so wie die Linken dies auch heute noch tun.
({20})
Ich will nur mal an den Antrag zum Coronaschutzgesetz erinnern.
({21})
Dadurch sind wir hier in Deutschland insgesamt durchaus erfolgreich durch diese schwierigen Zeiten gekommen. Was Sie aber wollen, ist: Zweifel säen, spalten. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Menschen, um sie gegen den Staat aufzubringen. Und wenn es den Menschen schlecht geht, dann ist das gut für die AfD. Das ist doch Ihre Maxime, oder?
({22})
Was Sie mit Ihrem Antrag auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses machen, ist, davon abzulenken, dass Sie der eigentliche Untersuchungsgegenstand sind, wenn es um politisches Versagen in der Pandemie geht.
({23})
Sie haben wider besseres Wissen alle Schutzmaßnahmen abgelehnt.
({24})
Sie haben die Gefährlichkeit des Virus zu keiner Phase der Pandemie ernst genommen,
({25})
sondern heruntergespielt und geleugnet. Und Sie haben durch Ihre Falschinformationen dazu beigetragen, dass viele Menschen die Schutzangebote nicht nutzen. Mit Ihrem Kampf gegen das Impfen,
({26})
gegen das Tragen von Masken tragen Sie die Verantwortung für das Leben sehr vieler Menschen, deren vorzeitiges Sterben hätte verhindert werden können.
({27})
Frau Kollegin! – Natürlich muss es eine lebhafte Debatte geben können. Aber eine Debatte besteht nicht nur aus Senden. Ihrem Redner haben vorhin alle zugehört. Vielleicht können Sie sich ein bisschen mäßigen, sodass auch die Rednerin jetzt ihre Rede ungestört vortragen kann. – Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Dann wiederhole ich gerne meinen letzten Satz. Mit Ihrem Kampf gegen das Impfen,
({0})
gegen das Tragen von Masken tragen Sie die Verantwortung für das Leben sehr vieler Menschen, deren vorzeitiger Tod hätte verhindert werden können.
({1})
Dafür können wir hier keinen Untersuchungsausschuss einsetzen; aber ich bin froh, dass sich um die Machenschaften Ihrer Partei, die unseren sozialen und demokratischen Rechtsstaat beschädigen, jetzt der Verfassungsschutz kümmert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner in dieser Debatte ist Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der AfD-Antrag ist – für mich zumindest – eine Sammlung an politischen Ideen und Forderungen, die die AfD in den letzten beiden Jahren zusammengetragen hat. Ich möchte hier als Erstes in aller Deutlichkeit feststellen, dass so eine Debatte durchaus möglich sein muss und dass die Demokratie von solchen Debatten natürlich auch lebt, dass hier etwas gefordert wird und dass man auch jederzeit das parlamentarische Recht hat, so etwas abzulehnen.
({0})
Ich glaube auch, dass es notwendig ist, dass man in der Wortwahl und im Umgang unter Parlamentariern auch bei diesem Thema eine gewisse Vorbildfunktion hat und sich fragt: Ja, wie gehen wir denn miteinander um? Ich glaube, wir sollten hier von einer hohen Fachlichkeit, aber auch von einer Analyse, die es für die Menschen möglich macht, das komplett im Detail zu verstehen, getrieben sein.
Man merkt natürlich, wenn man die Reaktionen von Ihrer Seite hört, dass hier viel Emotion dabei ist. Das ist generell ja nicht verkehrt, weil das auch ein Ausdruck von Leidenschaft ist, dass man hinter den Punkten, die man hier fordert, auch steht. Aber: Ihre Aussagen – und ich möchte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie im Volk Missgunst, Spaltung und dergleichen streuen wollen – erwecken den Anschein, dass sie natürlich schon bewusst so platziert und formuliert werden, dass man das annehmen könnte. Und das ist in meinen Augen eher schwierig.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, diese Forderung nach einem Untersuchungsausschuss
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hat einen gewissen Unterton, der etwas Negatives über dieses ganze Thema legt. Ich sagte es schon: Verbale Abrüstung ist ein Instrument, das man nicht unterschätzen sollte.
Sie haben ja gerade reingerufen: Ja, schon wieder so ein Maskenträger. – Ich möchte sagen, dass es dafür Gründe gibt. Ich kann Ihnen das aus persönlicher Betroffenheit sagen: Wenn man diese Erkrankung hatte – und das hatten Millionen von Menschen – und man heute noch Spätfolgen hat, darunter leidet, dadurch natürlich auch Emotionen entwickelt hat, weil man in seinem familiären Umfeld den Tod zu betrauern hatte, dann sieht man das vielleicht anders, als wenn man mit einer leichten Grippe oder was auch immer davongekommen ist. Hier wünsche ich mir von Ihnen eine gewisse Sensibilität.
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Es ist klar, dass Sie Ihren politischen Stil haben und dass Sie den auch zum Ausdruck bringen wollen. Aber ich bitte hier einfach um den nötigen Respekt.
Ich möchte noch mal betonen, dass wir im Gesundheitsausschuss während der Zeit der Großen Koalition – und wir tun es auch jetzt, unter der Ampelregierung – die Fachlichkeit und das Miteinander immer an erste Stelle gestellt haben
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und dass wir hier auch abgewogen haben, wenn es darum ging, Maßnahmen zu ergreifen, die politisch nicht schön sind. Ich kann wie so viele andere auch von meiner persönlichen Erfahrung im Wahlkampf berichten. Es gab Gastronomen, die mich nicht mal mehr in ihre Räume gelassen haben, die gesagt haben: Ihr wart daran beteiligt, dass unsere gastronomischen Einrichtungen zugesperrt wurden.
All diese Dinge sind Realität geworden, aber wir waren in der vorherigen Regierung davon geleitet – und wir sind es auch jetzt –, dass wir Leid von den Menschen nehmen wollen, dass wir Tod verhindern wollen und dass wir unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse die Menschen schützen wollen. Um den Spagat hin zum Erhalt der Wirtschaft zu schaffen, war es uns natürlich wichtig, Unternehmen nicht zu gängeln oder zu vernichten. Das war niemals das Ziel, und das möchte ich hier auch einmal in aller Deutlichkeit sagen.
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Minister Spahn und Minister Lauterbach haben hier auf gewisse Art und Weise immer auch gewarnt; jeder hat natürlich seinen eigenen Stil. Natürlich kann man jetzt, wo wir zwei Jahre weiter sind, sagen: Das war vollkommen falsch. – Die Propheten, die mir das nachher erklären, sind mir immer die allerliebsten.
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Man braucht natürlich eine Richtung, wenn man Entscheidungen treffen muss; das ist doch das Entscheidende. Wenn Minister Lauterbach hier sagt – das hat er ja heute wieder getan –, dass die Pandemie nicht zu Ende ist, dann kann ich nur sagen: Da hat er recht.
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Ich kann Ihnen nur immer wieder sagen: Das Ziel muss sein, die Menschen in einer Krise mitzunehmen, den Menschen gegenüber verständlich zu kommunizieren, was Sache ist, natürlich auf der Grundlage von Wissenschaft und Forschung.
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Es muss auch klar sein, dass man, wenn man ins Gelingen verliebt ist – ich sage das immer wieder –, zusammenarbeiten muss. Da ist es egal, ob man in der Regierung oder in der Opposition ist. Das ist auch die Bitte an Sie: Kommen Sie in das Boot der Demokraten zurück,
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die sich bemühen, für die Menschen da zu sein, und zwar nicht nur mit Worten und Sätzen. Setzen Sie auf Zusammenarbeit, setzen Sie auf Lösungen! Wir müssen diese Situation meistern. Das ist das Ziel, das erwarten die Menschen, und das ist auch der Auftrag an die Politik.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Seit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag haben wir leider immer wieder das gleiche Bild: Immer wieder werden parlamentarische Initiativen eingebracht, die selbst kleinsten Standards nicht genügen
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und dazu noch auf stumpfe Weise Ihre hasserfüllten Ideen und Ihr reaktionäres Weltbild reproduzieren. Es geht Ihnen entweder darum, marginalisierte Gruppen zu diffamieren, oder um Stimmungsmache – meistens um beides.
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Nun hat die AfD einen Antrag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Thema Coronapandemie vorgelegt. Sie geben vor, das Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung aufarbeiten zu wollen, aber dabei geht es Ihnen eigentlich vor allem um Stimmungsmache in Ihren Blasen.
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Denn seien Sie doch mal ehrlich: Welche Ziele verfolgen Sie seit Beginn der Pandemie? Die Kollegin Baehrens und der Kollege Irlstorfer haben es eben, wie ich finde, eindrucksvoll geschildert:
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Ihrer Fraktion ist nichts am Wohle des von Ihnen vermeintlich so geliebten Volkes gelegen. Ihnen geht es um Hass und Spaltung.
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Damit ist nicht zu sagen, dass jede Maßnahme der Vorgängerregierung zielführend und sinnvoll war. Wir haben uns auch immer wieder mit Kritik in diese Debatten eingebracht, haben aber am Ende in einem großen demokratischen Konsens im Sinne des Gelingens die Maßnahmen mitgetragen. Wir haben natürlich auch stärkere Anstrengungen angemahnt. Sehen Sie es mir nach, Kolleginnen und Kollegen von der Union: Auch Maskendeals im Dunstkreis Ihrer Partei bieten natürlich Anlass zur Aufarbeitung.
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Aber insgesamt war es eine Kraftanstrengung der verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürger und der demokratischen Fraktionen hier im Haus, die Pandemie und diese vorher nie dagewesene Situation bestmöglich zu meistern, meine Damen und Herren.
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Vom Aufklärungswillen der AfD konnten wir uns in der letzten Wahlperiode eindrücklich ein Bild machen. Ich kann mich noch sehr gut an den Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz erinnern, in dem es um den bisher schwersten islamistischen Anschlag in der Bundesrepublik Deutschland ging. Hier im Plenum waren Sie, wenn es um das Thema Islamismus ging, mit reißerischen Reden immer voll dabei, aber das Arbeiten im Untersuchungsausschuss haben Sie nicht gerade erfunden. Sie sind in den Sitzungen zwar immer dann aufgewacht, wenn Sie Ihre Hetze vom Stapel lassen konnten;
({7})
aber wenn es um die kleinteilige und anstrengende Aufklärungsarbeit ging, sind Sie vollständig abgetaucht.
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Frau von Storch hatte ja irgendwann schon gar keine Lust mehr, zu kommen. Herr Seitz stellt sich jetzt hierhin und gibt den Chefaufklärer, hatte aber am Ende auch irgendwie keine Lust mehr, sich so richtig an den Sitzungen zu beteiligen.
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Dann haben Sie jede Woche einen anderen Abgeordneten geschickt, bis irgendwann mal einer sitzen blieb. Am Ende waren Sie eben nicht bereit, sich durch die Aktenberge zu wühlen, die Zusammenhänge zu verstehen und wirkliche Aufklärungsarbeit zu leisten. Glaubt hier eigentlich irgendjemand, dass das bei einem Untersuchungsausschuss „Corona“ irgendwie anders wäre bei der AfD?
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Ich glaube das nicht.
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Ihnen geht es einzig darum, eine neue Bühne für Ihre Meinungsmache und Ihre Spaltung zu generieren. Ansonsten sind Sie einfach extrem faul – das muss man so sagen –, und Ihre Politik ist es auch.
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Mitglieder und Anhänger der AfD waren schnell mit auf der Straße gegen eine vermeintliche „Maskendiktatur“. Die AfD hat die Gemengelage aus Impfgegnern, Esoterikern und Rechtsextremen ganz gezielt genutzt, um zu mobilisieren – sogar bis in die öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses in dieser Woche hinein. Das ist schäbig, meine Damen und Herren.
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Schon im August letzten Jahres haben wir alle erleben müssen, dass nicht nur in den USA Leute dazu aufgestachelt werden können, Parlamentsgebäude zu stürmen,
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sondern auch in Deutschland rechtsextreme und gewaltbereite Personen Angriffe auf demokratische Institutionen geplant und auch versucht haben.
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Und die AfD war immer vorne mit dabei.
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Die rechtsextreme Ausrichtung Ihrer Partei verstecken Sie ja schon gar nicht mehr.
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Sie profilieren sich als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus.
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Jede große Querdenken-Demo, bei denen Personen aus dem bürgerlichen Lager neben Ihren Parteiangehörigen und anderen Rechtsextremen mitgelaufen sind, haben Sie als Erfolg gefeiert. Und jetzt, in dieser schweren Zeit, ist es ganz genauso.
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Krisen, Probleme, Ängste – das sind die Koalitionspartner der AfD, wenn sie sonst schon keine hat.
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Sie hoffen auf eine weitere Verschärfung der Gaskrise, damit Sie Ihren heißen Herbst bekommen. Das Gleiche haben Sie in der Coronakrise gemacht.
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Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn Sie von der AfD in der Coronakrise Verantwortung getragen hätten.
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Wenn es bei der Pandemiebekämpfung nach Ihren Vorstellungen gegangen wäre, wären mehr Menschen gestorben,
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wären die Krankenhäuser und Pflegeheime noch überlasteter gewesen,
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hätten vulnerable Gruppen deutlich weniger Schutz erfahren.
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Ihre Forderungen sind unverantwortlich, meine Damen und Herren.
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Und jetzt stellen Sie sich hierhin und sagen, Sie wollten das Regierungshandeln während der Pandemie aufarbeiten?
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Ich kann das nur für einen schlechten Witz halten.
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Fangen Sie vielleicht mal bei sich selber an, wenn es um Aufarbeitung geht!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen,
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lassen Sie mich das zum Schluss noch sagen: Lassen Sie uns bei allen inhaltlichen Differenzen weiterhin klar zusammenstehen gegen diesen rechtsextremen Hass, für den die AfD steht – auch und vor allem in diesen schwierigen Zeiten!
Ganz herzlichen Dank.
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Herr Abgeordneter Brandner, bevor Sie den Saal verlassen: Ich rüge Ihren Zwischenruf bezogen auf die Abgeordnete Mihalic, welcher immerhin das Zeug zu einer Beleidigung hat. Bei Wiederholung behalte ich mir Ordnungsmaßnahmen vor.
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Wir fahren in der Debatte fort.
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Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordnete der AfD-Fraktion! Wieder einmal versucht diese Fraktion von rechts außen, aus der Verunsicherung der Menschen in der Pandemie politischen Profit zu schlagen; denn nichts anderes ist dieser Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
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Es gibt nichts zu beschönigen. Die Pandemiepolitik der Bundesregierung war oft fehlerhaft, unzulänglich und intransparent. Denken wir nur an die aktuelle Vernichtung von 800 Millionen abgelaufener FFP2-Masken! Die hätte man doch besser schon vor Wochen verschenken können. Oder denken wir an Millionen abgelaufener Impfstoffdosen und Medikamente! Deutschland hat gemeinsam mit den anderen reichen Staaten den Weltmarkt zu Höchstpreisen leergekauft, sodass die Entwicklungsländer ihre Bevölkerung nicht mehr schützen konnten.
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Das ist eine moralische Katastrophe ersten Ranges; aber das will die AfD natürlich nicht untersuchen lassen. Schon deshalb ist dieser Antrag abzulehnen.
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Auch hierzulande kamen viele Entscheidungen leider zu spät oder waren nicht zielgenau, und das hat unnötiges Leid und unnötige Todesfälle verursacht. Covid-19 ist eben noch nicht vorbei, auch wenn Teile der Bundesregierung das immer wieder suggerieren, genau wie die AfD. Letzte Woche sind über 600 Menschen an und mit Covid-19 gestorben,
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seit Januar schon mehr als im gesamten Jahr 2020.
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Deswegen müssen wir uns auch weiterhin die Frage stellen, welche Einschränkungen für alle Menschen verhältnismäßig sind und welche Kosten wir der Gesellschaft zumuten müssen, um Menschenleben und Gesundheit zu schützen.
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An dieser ernsthaften Debatte sind Sie von der AfD überhaupt nicht interessiert. Sie haben sich entschlossen, der parlamentarische Arm von Schwurblern und Verharmlosern zu sein.
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Wenn man sich einfach vorlügt, dass Covid-19 gar keine tödliche Krankheit ist, dann erscheinen natürlich auch alle staatlichen Maßnahmen als willkürliche Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, was sie nicht per se sind.
In Ihrer Rolle als parlamentarischer Arm der Verschwörungsszene sind Sie allerdings unglaubwürdig.
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Erinnern Sie sich noch, dass Sie am 24. März 2020 auf Drucksache 19/18106 einen Gesetzentwurf eingebracht haben, in dem Sie allen Ernstes gefordert haben, das RKI solle weitreichende Kompetenzen für die Absage von Veranstaltungen oder sogar für Schulschließungen bekommen?
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Die Bundesregierung sollte den Ländern und Kommunen sogar Weisungen erteilen können, um „nachlässiges Verhalten“ zu bekämpfen.
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Meine Damen und Herren, erinnern Sie sich nicht? Vielleicht sollten Sie erst mal in Ihrem eigenen Laden einen Untersuchungsausschuss einrichten.
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Untersuchungsausschüsse sind das schärfste Schwert des Parlaments gegenüber der Regierung. Ich finde es nicht angemessen, einen ganzen Ausschuss mit 74 Fragen zu beschäftigen, von denen die allermeisten problemlos von fleißigen Abgeordneten im Rahmen des parlamentarischen Fragerechts geklärt werden könnten.
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Diesen absurden Schaufensterantrag lehnen wir ab.
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Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Titel von Jens Spahns kürzlich vorgestelltem Buch „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ kommt nicht von ungefähr. Der ehemalige Gesundheitsminister der Union gibt darin grobe Fehler in der Coronapolitik der letzten Bundesregierung zu.
Nun hat sich die FDP weiß Gott immer gegen unverhältnismäßige und massive Grundrechtseinschränkungen in der Coronapolitik eingesetzt und die Bürgerrechte verteidigt. Jetzt, in Regierungsverantwortung, hat die FDP darauf hingewirkt, dass sich in der Coronapolitik ein Paradigmenwechsel vollzogen hat:
({0})
weg von flächendeckenden, pauschalen Freiheitseinschränkungen hin zu verhältnismäßigen und zielgenaueren Maßnahmen, meine Damen und Herren.
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Nun fordert die AfD eine Aufarbeitung der Coronapolitik in einem Untersuchungsausschuss. Das ist doch nichts anderes als der Versuch, so lange wie möglich parteipolitisch von der Coronakrise zu profitieren.
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Das Ziel ist auch nicht, einen konstruktiven Beitrag in der parlamentarischen Debatte zu liefern. Das Ziel ist vielmehr, sich den Applaus der Coronaleugner und der Verschwörungstheoretiker so lange wie möglich zu sichern.
Ein Untersuchungsausschuss macht doch nur dann wirklich Sinn, wenn ein Vorgang abgeschlossen ist und abschließend beurteilt werden kann. Aber die aktuellen Coronazahlen – das leugnet doch niemand – zeigen, dass es für eine abschließende Beurteilung noch zu früh ist. Ein Untersuchungsausschuss dient auch dazu, Probleme zu identifizieren, um daraus konkrete Handlungsoptionen für die Regierung abzuleiten, die dann gegebenenfalls einen Kurswechsel vollziehen kann. Das ist aber jetzt unnötig geworden, weil der Regierungswechsel schon einen Paradigmenwechsel in der Coronapolitik hervorgebracht hat. Deswegen wäre das Ziel eines solchen Untersuchungsausschusses schon jetzt überholt.
Ich will nur ein paar Beispiele dafür nennen: Erstes Beispiel. In Bezug auf die Maskenaffäre hat sich die Ampelkoalition darauf geeinigt, das Verbot unerlaubter Nebeneinkünfte in Zusammenhang mit der Mandatsausübung neu zu regeln. Zweites Beispiel. Anstatt die Coronapolitik an der Volksvertretung vorbei zu machen, wurden die Debatten und die Entscheidungen gezielt in dieses Parlament gebracht. Drittes Beispiel. Die Impfpflicht ist in diesem Parlament intensiv und ausgiebig debattiert und entschieden worden. Viertes Beispiel. Corona hat an vielen Stellen Defizite bei der Digitalisierung in Deutschland offengelegt. Der Digitalisierungsminister Volker Wissing hat eine Aufholjagd angekündigt, die schon im Gange ist.
Letztlich hat also der Regierungswechsel zu mehr Eigenverantwortung, zu zielgenaueren Maßnahmen und zu mehr Freiheit geführt. Wir setzen die notwendigen Schutzmaßnahmen um. Wir treiben die Diskussion über einen Impfschutz voran, ohne den Menschen tiefgreifende Freiheitseinschränkungen zuzumuten.
Auch die FDP hat vieles in der Coronapolitik der letzten Jahre für falsch gehalten. Aber ein Untersuchungsausschuss ist nicht das Mittel, um politische Entscheidungen zu untersuchen, die man selber für falsch hält. In einem Untersuchungsausschuss werden mit den Instrumenten der Strafprozessordnung politische Skandale ausgeleuchtet. Nun ist die Coronapolitik etwas anderes. Das ist tastende Politik gewesen zwischen Seuchenbekämpfung einerseits und Grundrechtsgeltung andererseits. Da sind auch nach unserer Auffassung vielfach falsche Schwerpunktsetzungen erfolgt, aber nicht von der Art, dass wir sie mit den Mitteln der Strafprozessordnung aufklären müssten. Deshalb werden wir den Antrag der AfD auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Robert Farle.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Corona-Untersuchungsausschuss ist dringend notwendig, das Anliegen berechtigt. Aber ein wichtiges Thema ist in der Begründung überhaupt noch nicht angesprochen; das will ich kurz ergänzen. Es geht um die Tatsache, dass seit Beginn der Impfkampagne in vielen Ländern mit einer hohen Impfquote eine ungewöhnlich hohe Übersterblichkeit zu verzeichnen ist,
({0})
die mit den offiziell nachgewiesenen Covid-19-Sterbefallzahlen nicht erklärt werden kann.
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Seit Beginn der Impfkampagnen herrschen Übersterblichkeitsraten
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von mehr als 10 Prozent in Deutschland, der EU, den USA, in Großbritannien, der Schweiz und weiteren Staaten. Es gibt Zeitungsmeldungen von über 1 000 kollabierten gut trainierten jungen Sportlern, von denen 800 seit Beginn der Impfkampagne gestorben sind. Im Pandemiejahr 2020 gab es in Deutschland keine Übersterblichkeit. 2021 hatten wir laut einer Studie von Professor Dr. Kuhbandner und Professor Dr. Reitzner 25 000 bis 50 000 Tote mehr als erwartet. Mittlerweile wird das Thema auch von Mainstream-Medien aufgegriffen, zum Beispiel am 7. September 2022 von „Welt Online“ mit der Überschrift: „Rätselhafte Todesfälle in Europa“. Die Schweizer Tageszeitung „Blick“ titelte einen Tag später: „Epidemiologen rätseln wegen Übersterblichkeit“. Korrelationsanalysen zeigen den klaren Zusammenhang zwischen Impfaktivität und Sterbedynamik. Covid‑19-Impfstoffe lösen Herzerkrankungen und Thrombosen aus. Das ist hinlänglich bekannt, wurde von Wissenschaftlern theoretisch begründet und durch Pathologen aus Heidelberg durch Obduktionen im Detail nachgewiesen.
Warum wissen wir bis heute nicht, wer mit und wer an Covid 19 gestorben ist? Ganz einfach: weil Herr Lauterbach als Pharmalobbyist nichts zur Aufklärung dieser Todesfälle unternommen hat.
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Ich fordere Herrn Lauterbach auf: Schaffen Sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht ab! Stellen Sie sich dem Untersuchungsausschuss, und treten Sie endlich zurück!
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Herbert Wollmann für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es fällt natürlich schwer, sich nach dem Unsinn, den wir eben gehört haben, an das Manuskript zu halten.
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Ich staune immer wieder, was für ein Unsinn hier ungestraft von sich gegeben werden darf.
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Es ist unglaublich, welcher medizinische Unsinn hier ungestraft in die Öffentlichkeit transportiert werden darf.
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Es muss wirklich mal hinterfragt werden: Wo sind denn die Quellen für den ganzen Unsinn, den Sie hier zum Teil verbreiten?
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Sie reden hier über Sport und Tote und was nicht alles. Sie hätten mal zur gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse Gesundheit und Sport kommen können,
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wo Professor Wolfarth von der Charité ganz klar dargelegt hat, wie sich die Situation mit Covid bei Sport bzw. Leistungssport darstellt. Aber das wollen Sie ja nicht hören.
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So, meine lieben Damen und Herren, jetzt komme ich mal zurück auf das, was wir heute zu besprechen haben. Der Ausschuss, der hier beantragt wird, soll 75 verschiedene Punkte untersuchen. Vergleichen Sie das mal mit dem Antrag für den Untersuchungsausschuss zu Afghanistan! Er enthält genau die Hälfte dessen. Und das ist eine Aufzählung von nichts anderem als pandemischen Verschwörungstheorien von Querdenkern.
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Ja, Sie sind der Grund dafür, dass die Querdenker hier Zulauf bekommen haben. Sie sind mit Ihrer vermeintlichen Gesundheitspolitik verantwortlich dafür, dass viele Menschen die falschen Schritte gegangen sind.
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Sehen wir uns den Antrag mal genauer an! Unter Punkt 10 soll geklärt werden, ob die Bundesregierung vor dem Ausrufen des Lockdowns im März 2020 eine Folgenabschätzung im Hinblick auf die sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen vorgenommen hat. Unter Punkt 20 fragen Sie das Gleiche noch mal. Das ist auch handwerklich miserabel. Und entschuldigen Sie, ich muss mal Folgendes sagen: Deutschland und Mitteleuropa kennen so was doch gar nicht mehr. Wir haben 60, 70 Jahre gar nicht mit Infektionskrankheiten zu tun gehabt. Wie sollte man denn am Anfang einer Pandemie abschätzen können, welche Folgen das hat? Da war man doch von Minute zu Minute, von Tag zu Tag mit neuen Erkenntnissen konfrontiert und musste darauf eingehen. Was soll also diese Frage?
Sie widersprechen sich ständig selbst. Sie bemängeln, dass anfangs angeblich nicht genug Schutzmasken und andere Materialien bereitgestellt wurden. Ich kenne das Problem in den Arztpraxen selber; das brauchen Sie mir nicht zu erzählen. Aber gerade Sie, Teile Ihrer Partei haben anfangs eine Maskenpflicht gefordert, und Wochen oder Monate später forderten Sie genau das Gegenteil. Das ist das Hin und Her Ihrer Politik. Sie hängen das Fähnchen nach dem Wind.
({8})
Das ist doch typisch für Sie. Sie interessiert Gesundheitspolitik nur, wenn es in Ihren Kram passt. Sie wollen Desinformationen streuen – und das tun Sie –, Sie wollen Unruhe stiften und mit der Angst der Menschen Wählerstimmen gewinnen. Das gelingt Ihnen leider auf vielen Gebieten. Das ist das einzige Potenzial, das Sie haben. Das ist leider so.
({9})
Am Anfang der Pandemie konnte es Ihnen gar nicht schnell genug gehen, irgendwelche Maßnahmen umzusetzen.
({10})
Am 4. März 2020 stand Frau Alice Weidel hier an diesem Pult, forderte von der Bundesregierung, schärfere Maßnahmen zu ergreifen, und zitierte Professor Drosten. Auch Herr Gauland stand hier am Pult und hat am 25. März sogar die Regierung gelobt.
({11})
– Ja, ja, ja. – Wenige Monate später wollen Sie von all dem nichts mehr wissen.
({12})
Dieselbe Taktik gab es bei den Impfstoffen. Erst wurde die Bundesregierung von Ihnen kritisiert, die Impfstoffbeschaffung sei zu schleppend und nicht ausreichend. Bald danach zettelten Sie eine Kampagne an, in der die Impfstoffe verteufelt wurden. Das ist doch ein Widerspruch nach dem anderen.
({13})
Niemand wird abstreiten, dass man rückblickend manches hätte anders machen können. Aber wie sagen wir als Mediziner zu den Pathologen? Das sind die postmortalen Klugscheißer.
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Auf Deutsch gesagt: Hinterher bin ich immer schlauer.
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Es steht Ihnen ja frei, sich konstruktiv zu beteiligen, statt hier immer wieder ungeprüft Studien aus obskuren Quellen vorzubringen. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass es Ihrer Fraktion an medizinischem Sachverstand mangelt; das muss man ganz ehrlich sagen. Ihre einzige, glaube ich, medizinisch etwas vorgebildete Zahnärztin ist heute nicht da. Das ist auch besser so, muss ich sagen.
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– Ja? Wie gehen Sie denn mit uns oder anderen Gruppen um? Das muss man hier auch mal deutlich sagen.
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Ich mache es kurz – ich habe ja nur noch zwei Sekunden –: Ob in der Gesundheitspolitik oder wo auch immer, Sie haben nur ein Ziel: die Demokratie zu unterwandern. Da machen wir nicht mit, heute nicht und auch nicht in Zukunft.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Patrick Schnieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts dieser Debatte muss man sich, wenn man den Antrag intensiv gelesen hat, zunächst einmal fragen: Kann man überhaupt ernst nehmen, was da alles geschrieben steht?
({0})
Ich will Ihnen darlegen, dass und warum man das ernst nehmen sollte; denn es führt zu interessanten Schlussfolgerungen.
Nun hat sich der Kollege Brandner ja schon vom Acker gemacht. Er hat zwischendurch mal gerufen, das sei der beste Antrag, der hier je vorgelegt worden ist. Wenn man das mal juristisch betrachtet – und der Kollege Brandner nennt sich ja Jurist –, muss man sagen: Der Antrag hätte in keinem Seminar, in keiner Vorlesung Staatsorganisationsrecht im ersten Semester auch nur Bestand.
({1})
Da würde man sagen: Setzen, sechs, wiederholen, noch mal versuchen! Warum? Weil er grundlegende verfassungsrechtliche Fragen vollkommen ignoriert.
Erstens: Bundesstaatsprinzip. Wir haben eine föderale Ordnung in Deutschland.
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Die meisten Maßnahmen sind auf Länderebene getroffen worden.
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Hier ist zwar eine Ministerpräsidentenkonferenz von einer Bundeskanzlerin bzw. einem Bundeskanzler koordiniert worden, aber die Maßnahmen haben die Länderparlamente, die Länder getroffen.
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So weit reicht die Kompetenz des Bundes und damit auch des Bundestages eben nicht, das durch Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu überprüfen.
Zweitens: ein grundlegendes Prinzip des deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrechts, das Bestimmtheitsgebot. Sie geben hier einen Zeitraum vor, stellen aber Fragen, die sich aus dem Zeitraum gar nicht beantworten lassen, sondern weit über diesen Zeitraum hinausgreifen. Das ist vollkommen widersprüchlich.
Drittens. Es gibt einen Grundsatz bei der Einsetzung von Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, der da heißt: Wir können nur abgeschlossene Sachverhalte nachträglich begutachten.
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Was machen Sie? Sie wollen einen Sachverhalt begutachten, der heute noch nicht abgeschlossen ist, und geben das in Ihren Fragen sogar zu. Auch das ist widersprüchlich und gegen das geltende Recht verstoßend.
Nur ein letztes Beispiel von vielen – ich könnte das fortsetzen –, ein Klassiker übrigens; es ist ja nicht der erste Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, den Sie stellen. Sie nehmen das Ergebnis der Fragestellung vorweg. Sie nehmen wertend vorweg, was Sie eigentlich erst aufklären wollen. Auch das ist vollkommener Nonsens und macht das verfassungsrechtlich hinfällig.
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Aber ich will das auch politisch bewerten. Es ist ja schon dargelegt worden, wie schlampig hier gearbeitet worden ist, nicht nur juristisch schlampig. Es sind Fragen dabei, die einfach wiederholend reinkopiert worden sind; sie sind wortwörtlich gleich. Es sind auch Fragen dabei, die inhaltlich schon mal gestellt worden sind. Auch das bläht den Antrag auf und zeigt: Es besteht gar nicht das Interesse daran, diese Fragen beantwortet zu bekommen.
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Und da sind wir beim Kern der Dinge, bei den Schlussfolgerungen, die wir daraus zu ziehen haben: Sie setzen auf Verschwörungstheorien. Sie interessiert gar nicht, was hieraus wissenschaftlich an Erkenntnissen zu ziehen ist, was hieraus für folgende Pandemien für unser Verhalten zu folgern ist. Was ich besonders beschämend finde: Sie erwähnen in Ihrem Antrag nicht mit einem Wort die vielen Tausenden Toten,
({8})
die, die krank geworden sind, die heute noch unter Spätfolgen leiden.
({9})
Das ist nicht nur empathielos. Damit, dass Sie sie nicht mal erwähnen, sondern hier am Rednerpult, Herr Seitz, zum Teil auch noch in die Richtung Verschwörungstheorien gesprochen haben, instrumentalisieren Sie diese Menschen für Ihre schäbigen politischen Zwecke. Das kann man nur verurteilen.
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Deshalb, meine Damen und Herren, sind die Schlussfolgerungen klar: Der Antrag ist inhaltlich vollkommen schlampig und schlecht gemacht. Er ist juristisch unterirdisch. Er ist politisch durchschaubar, und er ist menschlich wirklich vollkommen daneben. Ich kann nur sagen: So miserabel, wie der Antrag ist, eine solch miserable Alternative sind Sie für dieses Land.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beraten wir den Bundeswehreinsatz zum Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ und zur Stabilisierung des Irak – ein Thema, das aktuell nicht die Schlagzeilen der Nachrichten bestimmt.
Wenn wir in diesen Tagen und Wochen die Zeitungen aufschlagen, dann ist der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das bestimmende Thema. Wenn wir heute an das Jahr 2014 denken, denken wir zuallererst an die Annexion der Krim und fragen uns, ob und wie wir Putins Großmachtswahn schon früher hätten stoppen können.
Aber lassen Sie uns darüber nicht vergessen, was damals noch geschehen ist. 2014 war nämlich nicht allein das Jahr der Krim-Annexion; es war auch das Jahr, in dem der IS unfassbare, unmenschliche Gräueltaten begangen hat, denken Sie etwa an die Eroberung und Zerstörung von Mosul oder an die grausamen Morde an den Jesidinnen und Jesiden.
Dank des internationalen Engagements und auch dank des Einsatzes vieler Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist der IS inzwischen nicht mehr in der Lage, Angst und Schrecken solchen Ausmaßes zu verbreiten. Militärisch können wir sagen: Der IS ist zerschlagen. Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte halten einen hohen Verfolgungsdruck aufrecht, und sie werden dabei von der internationalen Anti-IS-Koalition unterstützt.
Allerdings: Die Gefahr durch den IS ist keineswegs gebannt. Seine bewaffneten Angriffe dauern an, und er begeht im Irak weiterhin Anschläge gegen die irakischen Kräfte, die lokalen Verwaltungsstrukturen und die kritische Infrastruktur.
Neben dieser permanenten und konkreten Bedrohung steht der Irak vor weiteren großen innenpolitischen Herausforderungen. Rund ein Jahr nach den Parlamentswahlen im Irak wird immer noch um die Regierungsbildung gerungen. Gewaltsame Proteste in Bagdad und weiteren irakischen Städten im Sommer dieses Jahres zeigen: Die Lage im Land ist und bleibt angespannt.
Eines jedoch wurde bei allen innenpolitischen Konflikten immer wieder deutlich: Die Proteste richten sich nicht – und ich betone nochmals: nicht – gegen die internationale Gemeinschaft oder die internationale militärische Präsenz. Auch der Kampf gegen den IS wurde niemals infrage gestellt. Im Gegenteil: Unser Einsatz wird von unseren Partnern vor Ort sehr geschätzt, und die Fortsetzung der internationalen Unterstützung ist ein expliziter Wunsch der irakischen Regierung sowie der kurdischen Regionalregierung.
Deutschland ist wiederholt um die Weiterführung unseres Einsatzes gebeten worden; denn das, was unsere Bundeswehr dort vor Ort leistet, macht einen großen Unterschied. Zu diesem Ergebnis kommt auch die umfassende ressortübergreifende Überprüfung unseres Einsatzes, und ich zitiere ganz kurz daraus:
Der Einsatz der Bundeswehr zum Kampf gegen IS und zur Stabilisierung Iraks konnte wichtige Erfolge verzeichnen ... Die Unterstützung ... ist weiter notwendig, damit die irakischen Sicherheitskräfte die Sicherheitsverantwortung im Land vollumfänglich wahrnehmen können.
Genau darum bitte ich Sie heute. Lassen Sie uns zusammen zwei wichtige Ziele verfolgen, damit diese gute Arbeit weitergehen kann: den IS in dieser Region weiter bekämpfen und die Streit- und Sicherheitskräfte Iraks nachhaltig befähigen, die Sicherheit eigenständig gewährleisten zu können! Damit leisten wir einen konkreten Beitrag zur weiteren Stabilisierung des Iraks in der Region.
Die Personalobergrenze mit 500 Soldatinnen und Soldaten soll im neuen Mandat unverändert bleiben; gleichzeitig wollen wir die Beiträge der Bundeswehr in den kommenden zwölf Monaten geringfügig anpassen. So können wir mit unserem Engagement zukünftig noch gezielter unterstützen.
Ganz konkret heißt das: Erstens. Wir bleiben ein wichtiger Anlehnungspartner für unsere Freunde und Verbündeten vor Ort. Wir setzen die Luftbetankung fort. Dabei wollen wir flexibler werden als bisher, und zu diesem Zweck werden wir auch ein anderes Tankflugzeug testen. Wir verlängern den Einsatz unseres Luftraumüberwachungsradars bis Ende 2023. Unsere internationalen Partner können sich weiter auf unser Camp in Erbil abstützen, genauso wie auf unsere Notfallversorgung.
Zweitens. Wir bauen unsere Hilfe zur Selbsthilfe aus. In Bagdad, wo wir die irakischen Sicherheitskräfte beraten, verdoppeln wir unser Beratungspersonal. Im Rahmen der NATO Mission Iraq erarbeiten wir in Erbil Lösungen, mit denen die kurdischen Sicherheitskräfte noch stärker von unserer Anwesenheit profitieren können.
Diese Beiträge ergänzen wir – drittens – durch Stabspersonal in den internationalen Hauptquartieren. Außerdem können wir uns an AWACS-Flügen zur Luftraumüberwachung beteiligen.
Meine Damen und Herren, ich sage es noch mal deutlich: Es geht um eine Beratung durch unsere Soldaten. Das ist das, was wir vorhaben, um diese Hilfe zur Selbsthilfe dann auch zu organisieren; denn die taktische Grundlagenausbildung der irakischen Streit- und Sicherheitskräfte wurde bereits Mitte 2020 beendet. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden insgesamt über 18 000 irakische Streit- und Sicherheitskräfte mit Beteiligung der Bundeswehr ausgebildet.
Insgesamt ist das, wie ich finde, ein gutes, ein wirksames Paket, das vor Ort hilft und unsere Solidarität mit Taten untermauert.
Vor acht Jahren war der Terror des sogenannten IS allgegenwärtig; ich habe diese Gräueltaten benannt. Auch hier bei uns im Herzen Europas haben wir das gespürt. Wir alle erinnern uns an die Berichte von vor diesen Gräueltaten geflohenen Menschen, wenn sie uns diese Situation beschrieben haben. Durch einen koordinierten und engagierten internationalen Einsatz konnte das Terrorregime zurückgeschlagen werden. Die Frauen und Männer in der Bundeswehr haben mit ihrem Einsatz einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, und ihnen gilt dafür unser aller Dank.
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Lassen Sie uns langfristig absichern! Bitte stimmen Sie für dieses Mandat.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben den Irakeinsatz der Bundeswehr mit auf den Weg gebracht, wir haben ihn immer unterstützt. Ich sehe auch für die Zukunft die Notwendigkeit für einen solchen Einsatz. Es hat in der Phase, als wir entschieden hatten, dorthin zu gehen, einer wichtigen, für viele auch schweren Entscheidung bedurft: Wir haben uns entschieden, in ein Krisengebiet, an die kurdischen Peschmerga, Handwaffen und Panzerabwehrraketen zu liefern. Die Lieferung von Waffen in Krisengebiete war in Deutschland zuvor eher ein Tabu gewesen. Aber es war richtig; denn – Sie haben es dargestellt – der IS ist erfolgreich bekämpft worden, vor allem durch die Soldatinnen und Soldaten der kurdischen Peschmerga. Damit konnte dort das systematische Morden des IS an Jesidinnen und Jesiden, aber auch an Christen und Christinnen und anderen Bevölkerungsgruppen gestoppt werden. Das war ein großes Verdienst dieses Einsatzes in der Anfangsphase.
Wir werden dem Mandat voraussichtlich zustimmen. Wir hatten uns allerdings bei der Debatte um das Mandat vor neun Monaten von der Bundesregierung deutlich mehr versprochen, was die Überprüfung der Einsatzgrundlagen und die Perspektiven dieses Einsatzes angeht. Wir machen im Grunde so weiter wie bisher. Wenn ich den 15-seitigen Überprüfungsbericht lese, so finde ich keine Zahlen dazu – auch die Zahl, die Sie hier genannt haben, habe ich in dem Bericht nicht gefunden –, was wir eigentlich konkret mit unserem Einsatz erreicht haben. Da steht zwar genau drin, wie viele Soldaten der Bundeswehr für welchen Zweck dort eingesetzt sind. Aber Angaben dazu, was das konkret bedeutet, wie viele Kräfte wir ausgebildet haben, was diejenigen, die wir ausgebildet haben, denn jetzt machen, ob man möglicherweise gucken muss, wie man die Ausbildung verbessert und ihre Effizienz steigert, vermisse ich in diesem Bericht.
Was wir noch viel mehr in diesem Bericht vermissen, ist die politische Perspektive für die Region; denn es kann nicht sein, dass wir diesen, wie ich finde, richtigen Einsatz immer wieder fortsetzen, ohne uns darum zu kümmern, dass eines Tages dieser Einsatz vielleicht überflüssig wird.
Ich stelle ganz konkret die Frage an die Bundesregierung: Was ist eigentlich Ihre Haltung zur Situation in Bagdad, wo es jetzt seit einem Jahr keine Regierungsbildung gibt, wo es allerdings starke politische Kräfte gibt? Wir haben es vor wenigen Wochen gesehen: Da gibt es offensichtlich einen Oppositionsführer, der in der Lage ist, innerhalb von wenigen Stunden Hunderttausende von Menschen auf die Straße zu bringen. Wenn er dann den Schalter umlegt und „Stopp!“ sagt, dann wird dieser Protest plötzlich eingestellt. Damit wurde demonstriert, wer tatsächlich die Macht auf der Straße in dem Land hat. Gibt es nicht die Notwendigkeit, auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Kräften, die in dem Land wirklich mächtig sind, hinzuwirken?
Welche Möglichkeiten haben wir, den Einfluss des Iran im Irak weiter deutlich zurückzudrängen? Er ist allgegenwärtig, und die Rolle des Iran im Irak ist ein zentrales Problem für den Irak. Welche Rolle messen wir den Kurden im Norden des Irak, die sich uns als verlässliche Partner erwiesen haben, im Hinblick auf die zukünftige politische Entwicklung zu?
Antworten auf all diese Fragen fehlen uns. Deswegen haben wir leider einen ein wenig faden Beigeschmack, wenn wir diesem Mandat vermutlich wieder zustimmen werden. Es ist in der Entwicklung kein wirklicher Fortschritt erkennbar, und das hat auch ein wenig damit zu tun, dass wir vielleicht selbst noch nicht die genaue Perspektive kennen.
Ich denke dabei nicht nur an die Menschen im Lande, sondern auch an unsere Soldatinnen und Soldaten – ich freue mich, dass die Wehrbeauftragte da ist –, die immer wieder Raketenangriffen ausgesetzt sind, die also keineswegs in einem gemütlichen, ungefährdeten Einsatz sind, sondern immer wieder auch Bunker und Shelter aufsuchen müssen, Opfer von feindlichen Aktivitäten werden können und natürlich die Frage stellen: Was macht dieser Einsatz für einen Sinn, wo können wir tatsächlich wirksam helfen, und wo ist der Fortschritt, den wir mit unserem Einsatz erreichen wollen?
In diesem Sinne wäre mein dringender Rat, dass wir bis zur Beratung des Mandats nächste Woche von der Regierung doch noch etwas Konkreteres zu den politischen Schlussfolgerungen hören, sodass ich nicht im Prinzip die Worte wiederholen muss, die mein Kollege Norbert Röttgen vor knapp neun Monaten hier gesprochen hat: Was ist das politische Konzept, in das dieser Einsatz sinnvoll eingebettet ist? Die Antwort darauf vermissen wir nach wie vor.
Danke schön.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Lamya Kaddor das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin Lambrecht! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte Högl! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Man könnte leicht auf die Idee kommen, die Terrororganisation IS sei Geschichte. Schließlich liest man auch noch kaum etwas von ihr in den großen Medien – aus den Augen, aus dem Sinn. Die Realität ist freilich eine andere: Der IS stellt nach wie vor eine erhebliche Bedrohung dar, vor allem für die Sicherheit der Menschen im Irak. Das angebliche Kalifat ist zwar zerschlagen, größere Gebiete beherrscht der IS im Irak und in Syrien nicht mehr – das stimmt –; aber an bestimmten Orten und in einzelnen Zellen sind diese Dschihadisten sehr wohl noch aktiv. Nachhaltig eingedämmt oder gar endgültig besiegt ist der IS keinesfalls. Das Morden geht weiter. Es werden Terroranschläge im Irak, in der autonomen kurdischen Region, in Syrien und darüber hinaus verrichtet.
Das deutsche Engagement bleibt daher von großer Bedeutung. Es erfolgt im Einklang mit unseren NATO-Bündnispartnern, Verbündeten und im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition. Diese Unterstützung ist sowohl von der irakischen Regierung als auch von der kurdischen Regionalregierung explizit erbeten. Am Dienstag empfing ich hier eine irakische Delegation des nationalen Komitees für Extremismusprävention. Darunter befanden sich Vertreter des nationalen Sicherheitsrats, der Justiz sowie der Strafverfolgung. Sie dankten ausdrücklich für unser Engagement vor Ort und erbaten die Verlängerung dieses Mandats.
Das Engagement der Bundeswehr im Irak steht auf zwei Säulen: erstens der Ertüchtigung der irakischen Streit- und Sicherheitskräfte, zweitens dem Kampf gegen den IS. Wie die Evaluation des deutschen Engagements im Irak zeigt, ist eine Fortsetzung zentral, um das bisher Erreichte zu konsolidieren. Der Einsatz hat somit ein klares Ziel. Er entspricht dem vernetzten Ansatz der Bundesregierung und steht im Einklang mit ihren entwicklungspolitischen und humanitären Maßnahmen. Das Ziel lautet, den Irak zu stabilisieren. Für die Unterstützung der Streitkräfte stellt die Bundeswehr unter anderem Spezialfähigkeit zur Verfügung, wie das Betanken von Flugzeugen in der Luft. Bis zum heutigen Tag hat sie dies mehr als 9 000‑mal im Rahmen des Anti-IS-Mandats getan.
Meine Damen und Herren, leider ist das Bundeswehrengagement eingebettet in ein innen- und regionalpolitisch herausforderndes Umfeld im Irak. Aber gerade deswegen zählt jeder Beitrag. Jede einzelne Unterstützung hilft, die irakischen Institutionen zu stärken und die Resilienz der irakischen Gesellschaft gegen den IS und andere Terrorgruppen zu verbessern. Wir alle wissen um die innenpolitischen Strömungen und Spannungen. Der stockende und extrem konflikthafte Regierungsbildungsprozess – Kollege Hardt hat es gerade angesprochen – seit den Wahlen vor einem Jahr lähmte bis gestern übrigens noch das ganze Land. Nun ist – nach einem monatelangen Machtkampf mit blutigen Auseinandersetzungen Ende August – der kurdische Politiker Abdul Latif Rashid zum neuen Präsidenten des Iraks gewählt worden. Hinzu kommen die Attacken des Nachbarlands Iran. Wir sprachen hier übrigens am Mittwoch darüber.
Angesichts dieses schwierigen Umfelds muss die Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort besonders gelobt werden.
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Der Bundeswehreinsatz leistet außen- und sicherheitspolitisch einen wichtigen Beitrag, auch für uns hier in Deutschland. Ich muss wohl kaum daran erinnern, welch blutigen Terror ein erstarkter IS ab 2014 nach Deutschland und nach Europa gebracht hat. Außerdem stärken wir im Sinne des vernetzten Ansatzes natürlich auch die zivilen Missionen der Vereinten Nationen und der EU im Irak. Auch das bleibt für die Bundesregierung weiterhin zentral. Daher begrüßen und unterstützen wir die Verlängerung des Bundeswehrmandats im Irak.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Joachim Wundrak das Wort.
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Frau Präsidentin! Frau Wehrbeauftragte! Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Als wir in diesem Hause Anfang des Jahres über das derzeitig gültige Mandat debattierten, habe ich bereits ausgeführt, dass die Verknüpfung der Einsätze im Rahmen von OIR, also der Operation Inherent Resolve zum Kampf gegen den IS, und NMI – das ist die NATO Mission Iraq zum Fähigkeitsaufbau der irakischen Streitkräfte – zu einem Mandat nicht zustimmungsfähig ist.
Die Regierungsfraktion der Grünen hat zu Beginn des Jahres dem derzeitigen Mandat nur zustimmen können, weil Syrien als Einsatzgebiet aus dem Mandatstext entfernt wurde. Doch finden die Verletzungen syrischen Luftraums weiter statt, durch US-amerikanische und französische Flugzeuge, eben auch mit Unterstützung durch deutsche Kräfte, nämlich in Form von Luftbetankung und Radarüberwachung.
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Eine kritische Überprüfung der Einsätze – neben der weiterhin fehlenden Exit-Strategie – hätte ergeben müssen, dass die Rechtsgrundlagen für dieses Mandat, so wie es sich inzwischen darstellt, mehr als fraglich sind.
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Zur Erinnerung, meine Damen und Herren: Der Einsatz der Bundeswehr im Irak und in Syrien wurde nach einem Terroranschlag des IS in Paris auf Ersuchen Frankreichs nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages und Artikel 51 der UN-Charta mandatiert. Deutschland trat 2015 damit der US-geführten Anti-IS-Koalition, einer sogenannten Koalition der Willigen, bei.
Der IS ist seit März 2019 militärisch besiegt, wie auch die Bundesregierung bestätigt. Sie berufen sich aber weiterhin auf Artikel 51 der UN-Charta, das heißt auf die Unterstützung des Selbstverteidigungsrechtes Frankreichs und auf die mehr als acht Jahre alte UN-Resolution 2170, die explizit keine Autorisierung nach Kapitel VII der UN-Charta enthält. Damit begründen Sie eine bewaffnete militärische Präsenz in der Region mit der Autorisierung – ich zitiere den Antragstext –:
Die eingesetzten Kräfte haben zur Durchsetzung ihrer Aufträge das Recht zur Anwendung militärischer Gewalt.
Dies ist mehr als fragwürdig.
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Ebenso fragwürdig ist, dass im Falle Syriens zwei NATO-Partner völkerrechtswidrig erhebliche Teile des Landes besetzt halten. Der eine – die Türkei – betreibt im Norden Syriens Vertreibungen und Umsiedlungen der Bevölkerung, um angeblich seine Südgrenze zu verteidigen; der andere – die USA – hält im Süden und im Osten Ölquellen zum angeblichen Schutz vor dem IS besetzt und entzieht so dem syrischen Staat erhebliche lebenswichtige Einnahmen. Das Ziel scheint nach wie vor, wie seit dem misslungenen Arabischen Frühling, ein Regime Change in Syrien zu sein. Auch das ist mehr als fragwürdig.
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Ich nutze diese Gelegenheit, um im Hinblick auf Syrien mit Nachdruck auf die katastrophale und sich weiter verschlechternde humanitäre Lage dieses Landes hinzuweisen. Millionen Binnenvertriebene werden zunehmend von humanitärer Hilfe abgeschnitten und jeglicher Hoffnung beraubt. Daher ist es kein Wunder, dass der Migrationsdruck nach Europa und nach Deutschland wieder deutlich ansteigt.
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Mitverantwortlich für die katastrophale wirtschaftliche und humanitäre Lage in Syrien sind die seit 2011 bestehenden und weiter verschärften Sanktionen der USA und der EU gegen die syrische Regierung,
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die in Wirklichkeit das syrische Volk hart und unbarmherzig treffen. Es wäre nun sehr wichtig, die Fluchtursachen zu bekämpfen, indem sich die Bundesregierung dafür einsetzt, diese inhumane Sanktionspolitik gegen das syrische Volk umgehend zu beenden.
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Zurück zum Antrag der Bundesregierung. Wir lehnen ihn aus den genannten Gründen, aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen ab, da wir NATO-Einsätze nur im NATO-Vertragsgebiet unterstützen.
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Das im Antrag mehrfach bemühte Argument, die deutsche Präsenz im Irak sei hochwillkommen, hat mit Sicherheit mehr mit den Milliarden Euro zu tun, die mit dem Einsatz ins Land kommen. Das war auch in Afghanistan bis zum letzten Tag so.
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluss kommen.
Frau Ministerin, holen wir also unsere Soldaten zurück aus dem Irak, aber auch aus Mali. Wir haben in Deutschland und Europa mit der dringend notwendigen Stärkung der Landes- und Bündnisverteidigung mehr als genügend Aufgaben für unsere Bundeswehr.
Ich bedanke mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Alexander Müller das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen gilt unsere Aufmerksamkeit dem Schicksal des ukrainischen Volkes. Täglich sehen wir die furchtbaren Bilder; oft sind Zivilisten die Opfer dieses Krieges. Solidarisch unterstützen wir daher die Ukraine bei ihrem mutigen Verteidigungskampf: mit Geld, Ausrüstung und Ausbildung.
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Denn eines muss klar sein: Wir stehen an der Seite von Demokratie, Völkerrecht und Freiheit. Kein Aggressor darf mit gewaltsamen Aktionen Erfolg haben. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass unsere internationale Verantwortung für Stabilität und Frieden über Europa hinausgeht, auch in den Irak.
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Wenn wir unsere Bundeswehr in die Welt schicken, dann müssen wir uns vorher immer folgende Fragen stellen: Erstens. Was ist unser strategisches Interesse? Zweitens. Welche Ziele wollen wir erreichen? Drittens. Welche Fähigkeiten und Ressourcen brauchen wir dafür? Viertens. Wie messen wir den Erfolg oder Misserfolg, und wie gehen wir mit diesen Erkenntnissen um?
Darauf will ich kurz eingehen. Erstens: unser strategisches Interesse. Wir müssen uns ehrlich machen, dass Deutschland Interessen in der Welt hat. Die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten, ein gewaltfreies und friedliches Miteinander und auch freie Handelswege gehören dazu. In diesem Jahr gewinnt die Diskussion über eine Führungsrolle Deutschlands an Momentum, eine Rolle, die wir allein aufgrund unserer wirtschaftlichen Bedeutung und unserer Geografie ohnehin innehaben. Ich stimme dieser Idee zu und warne schon mal: Wir müssen unsere Strategie klar definieren, auch um der an uns herangetragenen Bitte, eine solche Rolle einzunehmen, gerecht zu werden.
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Zweitens: unsere Ziele. Unsere Strategie muss die Grundlage für die Ziele bei all unserem internationalen Handeln sein. Die Verteidigung der Werte in der Ukraine ist ein Beispiel dafür, aber auch die Unterstützung der kurdischen Peschmerga zum Schutz vor dem IS‑Terror. Nur wenn Bundeswehrmandate ein klares Ziel haben, motivieren wir unsere Soldatinnen und Soldaten, und auch unser Grundgesetz verlangt von uns klare Zielvorgaben. Für mich steht am Anfang jedes Bundeswehrmandats die Frage: Können wir es verantworten, die Gesundheit und das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten für diese Ziele zu riskieren?
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Drittens die Frage: Welche Fähigkeiten und Ressourcen benötigen wir zur Erreichung? Für jeden Bundeswehreinsatz, aber auch bei Waffenabgaben brauchen wir eine realistische Einschätzung, welche Auswirkungen auf unsere vorhandenen Ressourcen dadurch zu erwarten sind. Welche Fähigkeiten verbleiben bei der Bundeswehr noch für die Landes- und Bündnisverteidigung hier bei uns? Wie schnell können wir die Lücken wieder auffüllen? Welches Risiko gehen wir ein? Wir prüfen zum Beispiel intensiv, ob und wie wir ein gigantisches Flächenland wie Mali mit unserem Ressourcenansatz stabilisieren können.
Viertens müssen wir uns natürlich fragen: Wie messen wir das Erreichte, und wie gehen wir mit den Erkenntnissen um? In Afghanistan haben wir uns diese Frage nicht ausreichend gestellt – ein Fehler, der nun durch einen Untersuchungsausschuss aufgeklärt wird. Mein Eindruck ist, dass Dauereinsätze in der Vergangenheit bisweilen immer weiter verlängert wurden, ohne dass man kritisch geprüft hatte, ob unser Ansatz noch passend ist und Erfolg verspricht.
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Genau zu dem Irakmandat liegt uns jetzt der erste Überprüfungsbericht vor. Unser Einsatz leistet wichtige Beiträge zur Stabilisierung, aber: Die Ziele sind noch nicht erreicht. Fazit des Berichts ist eine klare Empfehlung zur Fortführung unseres Engagements. Weil sich der IS in der Tiefe des Landes noch immer organisieren kann und vereinzelt weiter zuschlägt, sollte die internationale Präsenz zur Ausbildung und Stabilisierung fortgesetzt werden. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen besonderen Beitrag zum Nation Building im Irak, zum Aufbau von gegenseitigem Vertrauen. Ich bin zuversichtlich, dass der Irak eine echte Chance auf eine gute Zukunft hat, allein aufgrund seines Reichtums an Rohstoffen. Der große Nachbar Iran versucht, überall in der Region zu destabilisieren und zu zündeln, aber im Irak fruchten diese Bemühungen nicht so gut, auch aufgrund der internationalen Unterstützung.
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Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat jahrelang auf die Evaluierung unserer Einsätze gedrängt, welche wir jetzt in der Ampelkoalition zur Regel gemacht haben. Auch unsere neue nationale Sicherheitsstrategie, welche bereits in Arbeit ist, wird uns helfen, Interessen, Ziele und Fähigkeiten genauer zu definieren. Bundesfinanzminister Lindner hat mit dem 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr die Grundlage geschaffen, unsere verloren gegangenen Fähigkeiten schnell wieder zurückzugewinnen.
Ich danke unseren mutigen Soldatinnen und Soldaten in unseren weltweiten Einsätzen. Ich bitte Sie um die Zustimmung zu diesem Mandat.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schauen wir kurz zurück. Das Desaster, das heute eine NATO-Mission unter Einschluss der Bundeswehr im Irak mit aufräumen soll, hat seine Ursachen im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und der Koalition der Willigen im Jahr 2003. Aus diesem Massenmord, der weiterhin ungesühnt ist, unter Einschluss zahlreicher Kriegsverbrechen durch NATO-Staaten im Irak, erwuchs die Bedrohung durch den „Islamischen Staat“, der anfänglich von der US-Regierung sogar noch als Verbündeter gegen den syrischen Machthaber Assad gesehen worden war.
Ich hoffe, wir sind uns hier alle einig: Der Irakkrieg war ein großes Verbrechen. In einer einzigen Nacht hat die US-Armee mehr als 300 Marschflugkörper gleich zu Kriegsbeginn von ihren Schiffen im Persischen Golf auf die Region Bagdad mit 5 Millionen Einwohnern abgefeuert. Die Ölstädte Mosul und Kirkuk im Norden wurden wie auch Basra im Süden bombardiert. 2 000 Tonnen panzerbrechende Uranmunition hat die US-Armee verschossen, die bis heute zu schwersten Missbildungen bei irakischen Kindern führt. „Shock and Awe“, „Erschrecken und Einschüchtern“, lautete die Maxime Washingtons für diesen rücksichtslosen Bombenterror. Eine halbe Million Menschen im Irak sind an den Folgen dieses verbrecherischen Krieges gestorben, so die noch eher konservative Zählung einer US-amerikanischen Studie. Die dafür verantwortlichen Staatschefs müssen endlich belangt werden. Das würde auch ein Minimum an Glaubwürdigkeit westlicher Außenpolitik wiederherstellen.
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Eine andauernde Kultur der Straflosigkeit dagegen ist völlig inakzeptabel, und erst recht ist es inakzeptabel, dass diejenigen wie der Journalist Julian Assange, der Kriegsverbrechen genau im Irak aufgedeckt hat, jetzt dafür im Gefängnis büßen, während diejenigen, die Kriegsverbrechen planen und begehen, weiter frei herumlaufen. Julian Assange muss freigelassen werden; auf die Anklagebank gehören die Kriegsverbrecher und nicht die Journalisten.
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Der Irakeinsatz der Bundeswehr zeigt aber auch, wie zynisch die deutsche Außenpolitik mittlerweile geworden ist. Ihnen geht es allein um einen geopolitischen Fußabdruck im Land, in dem mittlerweile bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Erst gestern wurde die Grüne Zone in Bagdad wieder beschossen. In dieser Situation ist es wirklich purer Hohn, irakische Sicherheitskräfte auszubilden, deren womöglich einziger Einsatz dann in einem Bürgerkrieg selbst stattfinden wird, auf unterschiedlichen Seiten.
Und kommen Sie uns auch nicht mit der Bekämpfung von islamistischem Terror als Grund dieser Militärmission, wenn Sie gleichzeitig gar keine Probleme damit haben, Kriegswaffen an terrorunterstützende Staaten wie Saudi-Arabien oder andere Golfdiktaturen zu liefern. Das glaubt Ihnen einfach keiner mehr, wenn Sie gleichzeitig Waffen an Terrorunterstützerstaaten liefern.
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Sie gefährden hier ganz eindeutig das Leben deutscher Soldaten im Irak, nur um die Militärpräsenz dort aufrechterhalten zu können. Das hat weder mit internationaler Verantwortung noch mit der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland zu tun.
Wenn Sie schon von Erfolgsbilanz sprechen, obwohl der Bürgerkrieg vor der Haustür steht, möchte ich nicht wissen, wann Sie erst von einem Scheitern sprechen werden. Deshalb: Ziehen Sie die Bundeswehr ab! Es gibt Sinnvolleres, was man mit den veranschlagten 86 Millionen Euro machen kann.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Michael Müller das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum zweiten Mal in diesem Jahr diskutieren wir im Parlament über die Verlängerung des Einsatzes deutscher Streitkräfte im Irak, und wie im Januar werbe ich dafür, dass wir den Antrag der Bundesregierung unterstützen und ihm zustimmen.
Vor vier Wochen hatte ich die Chance, mir mit einer kleinen Delegation der SPD-Fraktion vor Ort im Irak ein Bild zu machen; nach langer Zeit war das mal wieder möglich. Ich fand mehrere Dinge sehr beeindruckend, die auch zu meinem klaren Votum beitragen.
Erstens. Es ist mehrfach betont worden: Ja, im Kampf gegen den IS gibt es sichtbare Erfolge. Er kontrolliert nicht mehr große Gebiete, er hat nicht mehr diese Kraft, er konnte zurückgedrängt werden; aber er ist eben keinesfalls besiegt. Man muss es sich immer wieder vor Augen halten, wie insbesondere die Situation für Minderheiten ist, wie sie sich in großen Teilen des Iraks, im Norden des Landes darstellt, dass nach wie vor insbesondere Frauen und Kinder entführt, misshandelt, vergewaltigt werden und zurückgekauft werden müssen, dass der IS schlimmste Anschläge verübt, gerade auf diese Bevölkerungsgruppen wie auch an anderen Stellen des Landes. Aber es sind viele Menschen im Land, die nach wie vor sehr unter dem Einfluss des IS, seinen Anschlägen und seinem terroristischen Agieren leiden. Wir dürfen nicht auf halber Strecke haltmachen, sondern müssen weiter gegen diese terroristische Bedrohung kämpfen.
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Zweitens. Meine Damen und Herren, unser ziviles Engagement muss weitergehen. Sie haben Recht, Herr Hardt: Es ist eine fragile Situation, wenn man allein an die Regierungsbildung im Irak denkt. Es gibt offensichtlich in den letzten Tagen eine Weiterentwicklung bei der Regierungsbildung. Ja, das ist fragil – die Auseinandersetzung der beiden großen politischen Lager vor wenigen Wochen hat das auch gezeigt –, aber wir müssen eben weiter auch die Zivilbevölkerung unterstützen, gerade in dieser fragilen Situation im Irak. Unser ziviles, humanitäres Engagement, unterlegt mit inzwischen über 3 Milliarden Euro, ist wichtig für die Bevölkerung. Wir dürfen auch an dieser Stelle nicht nachlassen, jenseits unseres militärischen Engagements.
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Drittens. Das Folgende halte ich für von ganz besonderer Bedeutung: Wir sind gewollt mit unserem Engagement. Das muss man bewusst wahrnehmen. Egal mit wem wir uns unterhalten haben, in Bagdad oder in Erbil, mit der Zivilbevölkerung, mit den Streitkräften, mit politischen Vertretern, mit den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr, alle bestätigen uns: Es ist richtig und wichtig, dass wir da sind. Macht weiter, unterstützt uns weiter. Befähigt uns, die irakischen Streitkräfte, weiter, damit wir in Zukunft erfolgreich sein können, um die Konflikte, die es im Irak möglicherweise weiter geben wird, auch aus eigener Kraft bewältigen zu können. Wir sind mit unserem Engagement gewollt und werden unterstützt. Auch unsere internationalen Partner im militärischen Bereich, insbesondere die Italiener, haben das in den Gesprächen deutlich gemacht, und die Amerikaner erwarten, dass wir sie bei Luftraumüberwachung und Luftbetankung weiter in ihren Fähigkeiten unterstützen.
Man muss es sich weiter vor Augen halten: Wenn wir an diesen Stellen nicht weiter aktiv sind, werden andere versuchen, diese Lücke zu füllen, zum Beispiel Russland, der Iran, die Türkei. Das dürfen wir nicht zulassen, sondern wir müssen mit unserem Engagement weitermachen, meine Damen und Herren. Auch deswegen mein klares Votum, diesem Antrag zuzustimmen.
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Ich habe abschließend eine Bitte an alle Ministerinnen und Minister, die mit ihren Ressorts dieses Mandat unterstützen, nämlich dass wir unsere Soldatinnen und Soldaten auch dahin gehend unterstützen, dass sie sich darauf verlassen können, wie lange ihr Einsatz vor Ort eigentlich vonstattengeht. Es kann nicht sein, dass Kontingentwechsel nicht möglich sind oder sich wegen mangelnder Visaerteilung über Monate verzögern, sodass aus einem sechsmonatigen belastenden Einsatz zum Schluss ein acht- oder neunmonatiger Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten wird. Ich bitte dringend darum, dass es gemeinsam Unterstützung gibt, um diese Situation für unsere engagierten Soldatinnen und Soldaten vor Ort zu verbessern.
Vor diesem Hintergrund und angesichts meiner Schilderung unseres erfolgreichen Einsatzes bitte ich Sie noch einmal abschließend um Zustimmung zur Verlängerung unseres Engagements im Irak.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verlängerung eines Bundeswehreinsatzes darf niemals eine Selbstverständlichkeit sein oder zur Routine werden, sondern vor dem Hintergrund unserer Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten müssen wir jeden Einsatz klug hinterfragen, ihn in die geopolitische Sicherheitsstrategie unseres Landes einbetten und mit Sorgfalt über die Ergebnisse beraten.
Der Irakeinsatz hat zwei Komponenten. Das sind zum einen die Teilnahme an der sogenannten Anti-IS-Koalition und zum anderen die Ertüchtigung der Sicherheitsarchitektur im Irak selbst. Ich will heute noch mal daran erinnern, dass der Einsatz gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ durchaus von Erfolg gekrönt war. Ich darf daran erinnern, dass in den Jahren 2014 und 2015 die kurdischen Peschmerga, syrisch-orthodoxe Christen und Jesidinnen und Jesiden Opfer eines terroristischen Regimes wurden
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und dass durch diese territoriale Herrschaft im Nordirak und in Syrien auch eine Grundlage geistig-moralischer Art geschaffen wurde, um in den Hauptstädten Europas Terroranschläge zu begehen. Durch den Bruch der territorialen Herrschaft im Nordirak und in Syrien und damit auch durch den Einsatz gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ konnte hier die Sicherheit vor Ort wieder gestärkt werden.
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Aber klar ist auch, dass die Gefahr nicht gebannt ist, dass der Herrschaftsanspruch dieses sogenannten „Islamischen Staates“ auf diese Gebiete niemals aufgegeben wurde und dass in anderen Teilen der Welt diese Bedrohung nach wie vor existiert. Deswegen brauchen wir auch aus Gründen der Prävention eine Fortführung dieses Einsatzes.
Wer sich den Evaluierungsbericht ansieht, der stellt fest, dass die Debatte, die Sie auch in der Koalition geführt haben – ob man Syrien herausnehmen soll oder nicht –, letztlich nicht rechtliche, sondern offenkundig politische Gründe hatte. Denn der Evaluierungsbericht sagt ganz klar, dass der bisherige Bezug auf Artikel 51 der VN-Charta in Verbindung mit Artikel 24 unseres Grundgesetzes zulässig war. Hierzu gibt es auch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Wir respektieren den politischen Kompromiss der Ampelregierung, hätten uns aber vorstellen können, dass vor dem Hintergrund der Mandatsklarheit Syrien nach wie vor im Mandatstext erwähnt wird.
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Zum Thema Irak will ich nur ausführen, dass die gestrige Wahl eines neuen Staatspräsidenten ungeachtet der innenpolitischen Konflikte ein erster Hoffnungsschimmer ist, dass sich dieses Land weiter stabilisiert. Wir dürfen die Herausforderungen, denen der Irak sich ausgesetzt sieht, nicht vergessen. Er hat einen sehr hohen schiitischen Bevölkerungsanteil, ähnlich wie der Iran, der – gerade destabilisiert – seine eigene Bevölkerung unterdrückt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland und der Iran in Syrien starke Bataillone und Sicherheitsinteressen haben.
Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass auch im Mittleren Osten die zarte Pflanze einer pluralen Gesellschaft, dass Meinungsfreiheit und Demokratie eine Chance haben, zu entstehen. Das wird nur funktionieren, wenn der Irak stabil bleibt. Dazu braucht es unsere Mithilfe, und das ist die Arbeit, die unsere Soldatinnen und Soldaten leisten. Lassen Sie uns diesen Antrag noch mal klug debattieren. Aber für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir ihm wohl zustimmen werden, auch im Interesse unserer Sicherheitsarchitektur.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Max Lucks das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den demokratischen Fraktionen!
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– Ja, hören Sie mir mal zu,
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dann können Sie nämlich etwas von der Bundeswehrsoldatin lernen, von der ich Ihnen jetzt erzähle.
Im Juni dieses Jahres war ich in der Region Kurdistan/Irak mit meinem Kollegen Kassem Taher Saleh. Wir waren auch zu Besuch im „Camp Stephan“. Dort kam ich ins Gespräch mit einer Soldatin, die, wie ich, aus dem Ruhrgebiet kommt. Ihre Eltern sind Kurden, und sie erzählte mir ihre Geschichte. Sie erzählte mir, wie sie Stabilität nicht in irgendeine Region bringen will, sondern wie sie Stabilität in die Heimat ihrer Eltern bringen will, und das unter der Flagge ihrer Heimat. Wie diese Soldatin, wie unsere Soldatinnen und Soldaten in der Region Kurdistan/Irak für Demokratie einstehen, davon können sich andere, glaube ich, eine Scheibe abschneiden. Die Region Kurdistan/Irak ist eine besondere Region für viele Menschen in unserem Land. Deshalb tragen wir eine besondere Verantwortung für diese Region.
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Natürlich heißt Verantwortung auch, dass wir die Peschmerga auf dem Weg in eine effiziente demokratie- und menschenrechtsorientierte Einheit unterstützen. Das ist eine enorme Mammutaufgabe, bei der die deutsche Bundeswehr zielorientiert und auf Augenhöhe das Ministry of Peshmerga beraten hat.
In der Region Kurdistan/Irak schätzen alle Gesprächspartner/-innen das Engagement der deutschen Bundeswehr. Unsere Präsenz wird von der gesamten Bevölkerung begrüßt, und sie bittet stetig darum, dass die Bundeswehr vor Ort bleibt. Dieses Mandat leistet einen relevanten Beitrag zur Sicherheit, zur Stabilität in der Region. Es ist eingebettet in Diplomatie, in humanitäre Hilfe. Dieses Mandat ist ein gutes, und wir sollten es verlängern.
Danke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gebäudesektor schlummert ein enormes Potenzial für den Klimaschutz. Aufgrund effizienter Neubauten und Sanierungen im Bestand ist es gelungen, seit 1990 die dort anfallenden Emissionen um etwa 45 Prozent zu senken. Das ist eine ordentliche Entwicklung. Aber die 115 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, die wir in diesem Bereich emittieren, sind immer noch eine Riesenhausnummer. Deshalb bedarf es großer Anstrengungen, hier im Interesse des Klimaschutzes weiter voranzukommen.
Unser Interesse muss es sein, zu einer verlässlichen und attraktiven Bundesförderung für effiziente Gebäude zu kommen. Hier haben die Ampelkoalition und die Bundesregierung in den vergangenen Monaten leider für ein unfassbar großes Wirrwarr gesorgt, unter anderem mit dem plötzlichen Förderstopp der KfW im Januar und einer halbherzigen Neuauflage im April. Ende Juli wurde ohne Vorankündigung eine komplette Umstellung der bisherigen Gebäudeförderung bekannt gegeben – mit schlechteren Förderbedingungen für Effizienzhäuser und Einzelmaßnahmen als vorher.
Dieses Förderchaos der Ampelkoalition geht munter weiter. Am 21. September wurde – wieder ohne Vorankündigung – bei größeren Wohngebäuden ein deutlicher Einschnitt vorgenommen. Die Höchstgrenze für die Förderung von Gebäuden wurde auf 600 000 Euro pro Gebäude begrenzt; bisher lag sie bei 60 000 Euro pro Wohneinheit. Das ist eine massive Verschlechterung der Konditionen. Wenn man ständig für Unsicherheit sorgt, wenn man ständig die Bedingungen verschlechtert, dann kann ich mir nicht vorstellen, wie man glauben kann, auf der einen Seite die wohnungsbaupolitischen Ziele, auf der anderen Seite die klimapolitischen Ziele zu erreichen. Wir brauchen dringend mehr Berechenbarkeit und sichere Planungsgrundlagen.
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An der Stelle möchte ich daran erinnern, dass vor einem Jahr das Thema Wohnungsbau eines der Topthemen – Schlagwort „Respekt“ – war. Der Bundeskanzler hat verkündet, in diesem Land jedes Jahr 400 000 Wohnungen bauen zu lassen. Er hat es in dieser Woche noch mal bekräftigt. Das finde ich toll. Wenn ich aber die Politik anschaue, die von dieser Koalition seither gemacht worden ist, dann gehe ich fest davon aus, dass wir in diesem Jahr nicht mal die knapp 300 000 Wohnungen des vergangenen Jahres erreichen werden. Wir werden uns nicht verbessern bei dieser Aufgabe, sondern wir werden dieses Land in eine deutlich schlechtere Situation führen.
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Wir machen Vorschläge, wie die Energiewende in der Gebäudewirtschaft beschleunigt werden kann, nämlich durch verlässliche steuerliche Rahmenbedingungen sowohl für den Neubau als auch für die Sanierung. Wir fordern die Neuauflage einer Sonderabschreibung für den Mietwohnungsneubau in Höhe von jährlich 5 Prozent für die ersten vier Jahre, zusätzlich zu den bestehenden 2 Prozent lineare AfA. Das würde insgesamt 28 Prozent ergeben. Wenn die lineare Abschreibung auf 3 Prozent erhöht wird, wie Sie angekündigt haben, dann wären wir sogar bei 32 Prozent. Das finde ich toll. Ich glaube, damit würden wir einen wirklichen Schub geben, um den Mietwohnungsbau in Deutschland auf einem guten energetischen Stand voranzubringen.
Und zum Zweiten brauchen wir dringend einen Investitionsanreiz für Vermieter. Ich glaube, mit der von uns vorgeschlagenen Sonder-AfA würden wir in die richtige Richtung gehen und da weitermachen, wo wir in der vergangenen Wahlperiode erfolgreich endeten. Das wurde durch Sie mittlerweile leider zerstört. Wir würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir würden zum einen mehr Neubau von bezahlbaren Mietwohnungen auf den Weg bringen und in diesem Bereich einen richtigen Schub auslösen und zum anderen einen Anreiz setzen, über die gesetzlichen energetischen Standards hinauszugehen. Genau das müssen wir an dieser Stelle erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir benötigen in Deutschland dringend eine echte Dynamisierung des Marktes, ein Zusammenspiel von Förderprogrammen, steuerlichen Rahmenbedingungen und ordnungspolitischen Maßnahmen, um Klimaschutz und Wohnungsbau voranzubringen. Dazu gehört auch, dass die Vermieter, wenn sie innerhalb von drei Jahren nach Erwerb eines Gebäudes im Bestand sanieren, die anschaffungsnahen Herstellungskosten, wenn diese15 Prozent übersteigen, sofort und nicht erst über einen langen Zeitraum abschreiben können. Damit würden wir auch im Bestand einen Schub auslösen. Fangen Sie endlich an, umzudenken. Tun Sie das, was Sie in Ihren Beschlüssen ankündigen, auch in der Arbeit dieser Koalition
Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Antrages, den Sie gewählt haben, ist schon einmal gut, weil er endlich Konsens nicht nur hinsichtlich der Notwendigkeit der Wärmewende, sondern auch hinsichtlich eines entsprechend hohen Tempos signalisiert. Das ist ja nicht immer so gewesen.
Der erste Absatz Ihres Antrages ist aber nicht nur eine richtige Beschreibung, sondern, Herr Dr. Meister, auch ein Eingeständnis von Versäumnissen, nicht nur Ihrer Versäumnisse, aber eben auch Ihrer Versäumnisse, und das über einen längeren Zeitraum.
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Um das zu verdeutlichen: Wir haben von 1990 bis 2020 – in 30 Jahren – die Emissionen im Gebäudesektor von 210 Millionen Tonnen CO2 auf 120 Millionen Tonnen CO2 reduziert. Jetzt nehmen wir uns vor, in acht Jahren, bis zum Jahre 2030, diese 120 Millionen Tonnen auf 67 Millionen Tonnen CO2 zu reduzieren. Das heißt mit anderen Worten, dass dieses Tempo vielleicht gar nicht nötig wäre, wenn die Zeichen der Zeit früher erkannt worden wären. Sie waren ja beteiligt.
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Auf diesem Wege muss man dann alle möglichen Instrumente einsetzen:
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Investitionen, Förderprogramme, Ordnungsrecht, natürlich auch das Steuerrecht; das ist ja keine Frage. Der Steuerspartrieb – das wissen wir ja alle – kommt in Deutschland offensichtlich unmittelbar nach dem Fortpflanzungstrieb.
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Das scheint also eine besonders hohe Bedeutung zu haben; das hat mal ein Finanzminister gesagt; das kommt nicht von mir.
Länder und Kommunen spielen auch eine große Rolle. Deswegen will ich an dieser Stelle sagen, dass die kommunale Wärmeplanung von besonderer Wichtigkeit ist. Damit muss jetzt schnell begonnen werden. Die gesetzlichen Grundlagen sind in Vorbereitung; denn in den Kommunen muss die Wärmewende erfolgreich umgesetzt werden. Lange Zeit war die Wärmeversorgung des privaten und öffentlichen Wohnungsbaus vor allen Dingen kostenorientiert und überhaupt nicht klimaorientiert. Das ist auch eine Erkenntnis Ihres Antrages; dies kann ich nur begrüßen. Das „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ hat auch festgestellt:
Der Wohnungsbau kann nicht mehr geplant und durchgeführt werden, ohne dessen Auswirkung für das Klima und die Umwelt mitzudenken.
Marktkräfte alleine haben es eben nicht geschafft; das muss man deutlich sagen.
Der Antrag Ihrer Fraktion, Herr Dr. Meister, enthält nicht nur bereits Erledigtes – darauf komme ich gleich noch einmal zurück –, sondern auch Vorschläge, über die man im Rahmen der Beratungen des Jahressteuergesetzes noch weiter reden sollte – das ist auch in Ordnung –, und Überraschendes, zum Beispiel die Forderung, die Sonder-AfA für den Mietwohnungsbau mit klimapolitischen Zielen zu verknüpfen. Das war ja in der Vergangenheit für Sie überhaupt gar kein Thema. Ich finde es aber gut, dass Ihnen neuerdings Klima- und Energiefragen besonders wichtig sind. Das im Rahmen einer zeitlich befristeten Sonder-AfA anzupacken, ist in der Tat eine Neuerung, die man so ohne Weiteres nicht erwartet hätte; darüber kann man weiter diskutieren.
Allerdings ist das klimapolitisch ziemlich ohne Ambitionen. Sie bleiben beim EH55-Level, ohne sozialpolitische Steuerung.
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Denn Anschaffungs- und Herstellungskosten von bis zu 5 000 Euro pro Quadratmeter sind nichts anderes als nur der Nachvollzug der Preisentwicklung ohne jedweden Gestaltungsanspruch für bezahlbares Wohnen und bezahlbares Bauen. Dieser Verzicht auf Gestaltung – das ist wichtig für Sie, Herr Dr. Meister, und für die anderen Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU – war übrigens einer der Ursachen für das von Ihnen angesprochene Wirrwarr, das Peter Altmaier hinterlassen hat.
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Deswegen ist es aus dem Ruder gelaufen. Viel Geld wurde einsetzt, ohne die entsprechende Wirkung zu entfalten.
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Die befristete Sonder-AfA haben wir in der letzten Wahlperiode auf 3 000 Euro pro Quadratmeter begrenzt, weil wir eben keine Luxuswohnungen wollten. Das aber ist für Sie offensichtlich kein Kriterium. Ihre Forderungen zu Steuermäßigungen für energetische Sanierungsmaßnahmen beim selbstgenutzten Wohnraum erstaunen mich, ehrlich gesagt, ebenfalls. Denn wir haben vor nicht einmal drei Jahren gemeinsam und durchaus selbstbewusst vertreten, dass für Investitionen in Höhe bis zu 200 000 Euro gilt, dass bis zu 20 Prozent, also 40 000 Euro, in drei Jahren von der Steuerschuld abgezogen werden können. Eine großzügigere Förderung hat es in dieser Form jedenfalls steuerrechtlich noch nicht gegeben. Das wollen Sie jetzt verdoppeln. Warum eigentlich? Warum nicht verdreifachen? Und für welche Gruppe von Einkommensbeziehern machen Sie das eigentlich? Mit anderen Worten: Sie haben Menschen im Blick, die eigentlich aus anderen Gründen diese Aufgaben wahrnehmen müssten. Das tun sie aber nicht.
Ihre Forderungen im Bereich der Photovoltaik sind größtenteils überholt. Sie stellen Forderungen in Ihrem Antrag, die im Grunde genommen schon erledigt sind; das ist ganz interessant.
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Sowohl die Ertragsteuerbefreiung bei Photovoltaikanlagen mit einer installierten Bruttoleistung von bis zu 30 kWp als auch der Nullsteuersatz für die Lieferung und Installation von Photovoltaikanlagen sind bereits Teil des Jahressteuergesetzes.
Ich vermute – am Rande ist es eben erwähnt worden; auch der Kollege Gutting hat es heute Morgen angesprochen –, Sie hätten auch noch die Anhebung der linearen Abschreibung bei Neubauten als eine Ihrer Maßnahmen vorgeschlagen. In der Vergangenheit hat das aber nicht funktioniert.
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Jetzt sag noch einer: Es lag an der SPD! – Das ist wie mit dem schlechten Wetter. Aber Ihr habt es einfach nicht hingekriegt. Das ist, ehrlich gesagt, eine ziemlich bedauerliche Angelegenheit; das will ich ausdrücklich betonen.
Wir haben nun zwei Maßnahmen zur Förderung von Neubauten vorgesehen, die einerseits auf das Bauen abzielen, beispielsweise durch zinsverbilligte Kredite, andererseits die Eigentumsbildung bei Familien fördern. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Das ist sehr viel besser als das, was bei Ihnen an neuen Erkenntnissen gewonnen worden ist. Dass es bei Ihnen neue Erkenntnisse gibt, begrüße ich aber durchaus.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jörn König für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Bürger! Die CDU hatte kürzlich bei uns in Hannover ihren Bundesparteitag. Hauptthema war nicht etwa die Wärmewende wie im vorliegenden Antrag, nicht Russlands Krieg, nicht der Energiemangel, nicht die Pleitewelle vieler Unternehmen, nein, Hauptthema war die Frauenquote. Das ist gelungen, Sie haben die Einführung der Frauenquote verabschiedet. Herzlichen Glückwunsch dazu; denn so hat die quotenlose und diskriminierungsfreie Alternative für Deutschland wieder einmal ein Alleinstellungsmerkmal mehr.
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Sie fordern in Ihrem Antrag neue steuerliche Entlastungen für den Bau und die Sanierung von Gebäuden sowie bei der Errichtung von Photovoltaikanlagen. Was Sie erstaunlicherweise nicht fordern, ist eine Frauenquote auf Baustellen. Generell sind Bauen und Sanieren in den letzten Jahren deutlich teurer geworden. Die Hauptgründe dafür sind immer rigidere Bauvorschriften, vor allem im energetischen Bereich. Dazu kommen weitere Probleme wie die hausgemachte Inflation, die hausgemachte Energiekrise durch Kraftwerksabschaltungen und Lieferkettenprobleme.
In Ihrem Antrag wollen Sie jetzt die Symptome bekämpfen, deren Ursachen Sie durch die Duldung der EZB-Schuldenpolitik und den Atomausstieg zu einem großen Teil selbst geliefert haben. Bei dieser Symptombekämpfung greifen Sie auf Steuervorteile zurück; das ist aus unserer Sicht falsch.
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Die Steuervorteile sind im Vergleich zu direkten Fördermitteln unbeliebt; denn die Vorteile lohnen sich erst ab einem weit überdurchschnittlichen Einkommen. Es ist ja schön, dass in den ersten drei Jahren doppelt so hohe Steuerermäßigungen von 40 Prozent statt bisher 20 Prozent gelten sollen. Aber wer hat schon eine Einkommensteuerlast von 80 000 Euro in drei Jahren?
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Die Auszahlung der steuerlichen Förderung erfolgt auch deutlich später, als es bei direkten Zuschüssen der Fall wäre, und erst lange nachdem die Kosten anfallen. Die Entlastungen werden weiterhin erst mit dem Steuerbescheid und bei den allermeisten Bürgern eben nur teilweise realisiert. Diese steuerrechtlichen Ausgestaltungen sind sogar für Fachleute kompliziert, was soll da erst Otto Normalverbraucher sagen?
Was wir brauchen, sind einfache Lösungen, und das heißt direkte Förderung des fleißigen Bürgers, der sein Haus mit harter Arbeit selbst gebaut oder gekauft hat und jetzt mal energetisch aufrüsten müsste. Es war genau das falsche Signal, die Förderprogramme zurückzufahren. Dafür muss man die neue Regierung total kritisieren. Eine der ersten Maßnahmen von Herrn Habeck war, Förderprogramme zu stoppen.
Die Forderungen im Antrag der CDU/CSU-Fraktion sind allerdings auch unsozial; denn Privatpersonen mit geringen oder mittleren Einkommen haben aufgrund ihrer geringeren Steuerlast keine Möglichkeiten, an diesen Steuervorteilen teilzuhaben. Noch mal: Wir brauchen die direkte Förderung des fleißigen Bürgers, der sein Haus selbst baut oder energetisch saniert.
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Das ist das bessere Mittel, um möglichst viele Immobilien energetisch zu sanieren und mit Photovoltaik auszustatten.
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Eines wurde im Antrag völlig vergessen. Es wird zunehmend schwieriger, geeignete und kompetente Fachkräfte aus dem Handwerk für die energetische Sanierung zu bekommen. Schon die geplante Wärmepumpenoffensive wird daran scheitern. Wir werden einen Antrag vorlegen, der dafür sorgt, dass sich fachgerechtes Handwerken in diesem Land endlich wieder lohnt.
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Die Forderung Nummer 5 ist sinnvoll; dass auch Wohnungseigentümergemeinschaften eine Photovoltaikanlage ohne viel Bürokratie errichten und betreiben können – es ist zurzeit ein Horror; ich sage das aus persönlicher Erfahrung –, diese Forderung unterstützen wir ausdrücklich.
Wir freuen uns auf die Beratung dieses Antrags im Ausschuss, müssen aber realistisch sagen, dass es ein sehr langer Weg zur Zustimmung durch unsere Fraktion ist. Aber auch ein sehr langer Weg beginnt mit dem ersten Schritt.
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In diesem Sinne ist noch ein wenig Hoffnung da.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat Dr. Sebastian Schäfer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon heute Morgen bei der Debatte zum Jahressteuergesetz haben wir sehr konstruktive Beiträge von der Union gehört. Auch dieser Unionsantrag, der die energetische Sanierung vorantreiben soll und Maßnahmen vorschlägt, die man im Rahmen einer ökologischen Steuerreform diskutieren könnte, ist begrüßenswert. Offensichtlich sind wir uns einig, dass im Gebäudesektor endlich Emissionen reduziert werden müssen und dass wir die Sektorenziele aus dem Klimaschutzgesetz erreichen müssen. Leider stagniert die Entwicklung im Gebäudesektor seit 2011. Im Sommer haben wir ein Sofortprogramm vorgelegt, das klimapolitisch endlich für Fortschritt sorgen soll. Es ist offensichtlich, dass wir dieses Thema dringend angehen müssen.
Eine sozial-ökologische Steuerreform ist mir eine absolute Herzensangelegenheit. Dabei müssen wir uns die Ausgestaltung jedes Bausteins genau angucken. Sowohl die Lenkungswirkungen als auch die Verteilungswirkungen müssen stimmen. Wir müssen damit relevant zur Transformation beitragen.
Was die Lenkungswirkung angeht, glaube ich, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen manche Wirtschaftlichkeitslücken bei der Sanierung schließen könnten. Leider stehen aber Neubauten sehr im Fokus. Das finde ich als Ökonom bedauerlich, weil pro eingesetztem Förder-Euro in der Sanierungsförderung zehnmal mehr Treibhausgase eingespart werden als in der Neubauförderung. Gerade in einer Situation, in der Materialien und Fachkräfte knapp sind, sollten wir dort anfangen, wo viel zu holen ist. Das wäre auch ein reflektierter Umgang mit der Situation bei der Preisentwicklung.
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Was die Verteilungswirkung angeht, müssen wir ebenfalls aufpassen. Die Union schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, die Möglichkeiten des steuerlichen Abzugs zu verbessern. Das begünstigt in unserem progressiven Steuersystem die wohlhabenden Haushalte, die gutverdienenden Haushalte, die mehr Steuern zahlen. Wir haben als Grüne in den letzten Monaten vielfach für Direktzahlungen statt etwaiger Steuersenkungen plädiert. Davon profitieren eben alle und nicht die am meisten, die es am wenigsten brauchen. Im Gebäudebereich ist das sehr kompliziert, weil in jedem Fall nur Immobilieneigentümerinnen und Immobilieneigentümer sanieren können. Dennoch müssen wir gucken, was wir hier mit Zuschüssen machen können.
Ich finde es auch sehr gut, dass die Union eine ganze Reihe von Maßnahmen im Bereich der Photovoltaikanlagen in dem Antrag einbringt. Die Ampel hat mit dem Jahressteuergesetz sehr viel davon schon vorgelegt. Ich freue mich auf die Beratungen Ihres Antrags und das gemeinsame Ringen um Verbesserungen für die Modernisierung unseres Gebäudebestands.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Janine Wissler für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! CDU und CSU beklagen in ihrem Antrag, dass die energetische Sanierung von Wohngebäuden zu langsam vorankomme. Da haben Sie recht. Aber natürlich müssen Sie sich fragen lassen, warum ausgerechnet in den Jahren von Ihnen geführter Regierungen die sogenannte Wärmewende faktisch zum Erliegen gekommen ist. Der Verbrauch von Heizenergie ist von 2010 bis 2019 kaum zurückgegangen. Von daher müssen Sie sich auch selbstkritisch fragen, was Sie eigentlich die letzten 16 Jahre gemacht haben,
({0})
um die Wärmewende voranzubringen.
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Sie haben auf EU-Ebene verabredete Energieverbrauchsrichtwerte für Neubauten nur mit langer Verzögerung umgesetzt. Sie haben von „Dämmwahn“ gefaselt und es versäumt, gerade für weniger vermögende Einfamilienhausbesitzer eine gezielte Förderung und fachliche Unterstützung in die Wege zu leiten. Nun, offensichtlich kommt mit der Opposition jetzt auch die Einsicht. Es ist schon mal gut, dass Sie das Problem sehen. Die Lösungen beschreiben Sie in Ihrem Antrag allerdings nicht, meine Damen und Herren.
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Sie fordern jetzt umfangreiche steuerliche Entlastungen für Hausbesitzer, groteskerweise aber nur – Zitat – „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ – so der Antragstext –, also ohne jegliche finanzielle Grundlage. Entlastungen versprechen, wenn man aber gar keine Mittel zur Verfügung stellen will, das, meine Damen und Herren, ist dann doch etwas albern.
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Vor allem aber kommen die von Ihnen vorgeschlagenen steuerlichen Maßnahmen nur Privatleuten und Wohnungsunternehmen zugute, die auch Steuern in einem Umfang zahlen, in dem Abschreibungen sich lohnen. Ältere Hausbesitzer zum Beispiel – Durchschnittsrentnerinnen und ‑rentner, die im Eigenheim leben und kleine Renten haben und deswegen kaum oder gar keine Steuern zahlen – haben davon nichts. Um die Zahl der Sanierungen zu erhöhen, sollte ein Klimacheck für alle noch nicht sanierten Wohngebäude durch qualifizierte Berater angeboten werden. Ja, das ist aufwendig, aber ungleich zielführender, als allgemein die Abschreibungsmöglichkeiten zu erhöhen.
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Wir sind der Meinung: Wir brauchen direkte Zuschüsse und Förderung, um eine höhere Sanierungsrate zu erreichen und auch den verstärkten Einbau von Wärmepumpen an der Stelle voranzubringen. Mittel sollten gezielt und direkt dort hingelenkt werden, wo schnell durchgreifende Erfolge erzielt werden können. Eine gezielte Sanierung der in den 50er- bis 70er-Jahren entstandenen Großwohnsiedlungen würde vor allem auch Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen helfen.
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Und: Eine solche Sanierung darf nur warmmietenneutral sein. Das heißt: Die Sanierungskosten dürfen natürlich nicht auf die Mieterinnen und Mieter umgelegt werden bzw. nur in dem Umfang, in dem dann auch die Energiekosten sinken. Sonst sind es am Ende wieder die Mieterinnen und Mieter, die die Kosten dafür tragen.
Wir brauchen einen gezielten Ausbau der kommunalen Wärmenetze. Ein entscheidender Flaschenhals bei der Energiewende ist der Mangel an Installateuren und Technikerinnen. Den kann man natürlich auch durch höhere Abschreibungen nicht beheben.
Deshalb – ich komme zum Schluss –: Dieser Antrag ist weder zielgerichtet noch sozial ausgewogen, noch werden damit die wesentlichen Probleme der Wärmewende gelöst. Diese Dreiviertelstunde hätten Sie uns heute tatsächlich sparen können, wenn man 16 Jahre lang einfach nichts auf die Reihe bekommt.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Volker Redder für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, mit Ihnen gemeinsam an diesem schönen Freitagnachmittag einen Antrag der geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Union mit dem Titel „Mit steuerlichen Maßnahmen Wärmewende beschleunigen“ diskutieren zu dürfen. Wir haben schon einiges gehört.
Ich finde es schön, dass die Wärmewende jetzt als eine der größten Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität auch von der Union erkannt worden ist. Es muss aber auch darum gehen, effiziente und nachhaltige Lösungen zu schaffen, die gleichzeitig auch fair ausgestaltet sind. Irritierend ist allerdings, liebe Union, dass ihr in den vergangenen vier Jahren das Bauministerium innehattet. Ihr wisst es. Also, es ist schon merkwürdig, dass in den letzten vier Jahren nicht so viel passiert ist. Vorschläge wie die jetzt vorliegenden haben wir in den letzten vier Jahren wirklich vermisst. Schön, dass die jetzt nachgeliefert werden.
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Zum vorliegenden Antrag. Beim Ziel scheinen wir uns einig zu sein. Die Wege, die uns zum Ziel führen, trennen uns – jedenfalls zum Teil. Unsere Vorschläge werden zurzeit innerhalb des Jahressteuergesetzes 2022 debattiert, das wir heute Morgen in die parlamentarische Beratung eingebracht haben. Schon seit Bekanntwerden des diesbezüglichen Entwurfs diskutieren wir intern, wie wir gerade in dem hier angesprochenen Bereich dieses ohnehin sehr gute Gesetz noch besser machen können.
Der Regierungsentwurf zum Jahressteuergesetz 2022 sieht schon erhebliche Verbesserungen vor, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. Das müssten Sie zur Kenntnis genommen haben. Dabei stehen der Abbau steuerlicher Investitionshemmnisse und der gezielte steuerliche Anreiz neuer Investitionen bei der Produktion von Sonnenenergie im Fokus – mit weitreichenden Steuerfreiheiten bei der Einkommensteuer.
Besonders hervorzuheben an unseren Vorschlägen ist, dass wir endlich bei PV-Anlagen auf privaten Wohngebäuden die überbordende Bürokratie abbauen wollen. Da sind wir ganz bei Ihnen. Da sind wir auch bei allen anderen, weil es nervt. Ich habe es auch versucht: Es nervt. Wir sorgen dafür, dass Betreiber kleiner PV-Anlagen nichts mehr mit dem Finanzamt zu tun haben werden und das Finanzamt übrigens auch nichts mehr mit den Betreibern dieser Anlagen.
Wir werden, wie gesagt, das Jahressteuergesetz noch ergänzen. Uns Freien Demokraten schwebt vor, dass auch institutionelle Anbieter in der Wohnungswirtschaft die Möglichkeiten der PV besser nutzen können, ohne dadurch Nachteile beispielsweise bei der Gewerbesteuer zu haben. Nur so wird es möglich sein, das riesige Potenzial der Photovoltaik bei der dezentralen Versorgung mit Strom zu nutzen.
Das Bemerkenswerte ist, liebe Union, dass Sie hier weiter Dinge vorschlagen, die für uns wahrlich keine Neuigkeiten sind: eine Verlängerung der Sonder-AfA für Mietwohnungsneubau – die haben wir auch schon –, eine Verdopplung der Abzugsmöglichkeiten bei der energetischen Sanierung von selbstgenutztem Wohneigentum und die Modifikation von KfW-Programmen, damit etwa die Finanzierung von Eigenheimen und Investitionen der Wohnungswirtschaft, die der Alterssicherung dienen, berücksichtigt werden. An vielen Vorschlägen, die Sie im Antrag zusammengetragen haben, arbeiten wir schon.
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Wir haben uns das ambitionierte Ziel vorgenommen, 400 000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen. Und ohne entsprechende, vor allen Dingen auch steuerliche Investitionsanreize an Privatinvestoren halten wir Freien Demokraten dieses Ziel auch für unerreichbar. Von daher zeigt Ihre lange Liste natürlich – ich wiederhole mich da sehr gerne –, wie wenig in den letzten vier Jahren in diesem Bereich geschehen ist.
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Das holen wir jetzt auf.
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Ich schließe mit zwei Gedanken. Erstens. Unsere gemeinsamen CO2-Ziele werden wir nur dann erreichen, wenn wir auch die vielen Bestandsbauten in unsere Überlegungen mit aufnehmen. Auch hier müssen Investitionsbremsen gelöst werden. Regelungen, die Investitionen in Klimaschutz verhindern oder auch nur zeitlich verzögern, gehören auch auf den Prüfstand.
Zweitens. Wir müssen auch dringend unsere Standards überprüfen. Es ist ein Problem, wenn Standards so gesetzt werden, dass deren Einhaltung nicht rentabel darstellbar ist, gerade für die Investoren.
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Wir sollten unsere Regelwerke daraufhin überprüfen, ob Standards überhaupt unter diesen Bedingungen standhalten, und müssen gegebenenfalls nachbessern und nachsteuern.
Zusammenfassend: Einige gute, längst überfällige Gedanken,
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die aber bei uns bereits in der Debatte sind, und insofern ist Ihr Antrag nicht notwendig. Es ist aber eine wunderschöne Fleißarbeit, die nun in vielen Ausschüssen beraten wird.
Vielen lieben Dank dafür.
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Das Wort hat die Kollegin Susanne Hierl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die politische Debatte der letzten Monate wird beherrscht vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, von den steigenden Preisen in allen Lebensbereichen und nicht zuletzt vom Thema Energie. Wir diskutieren über eine mögliche Gasmangellage oder auch darüber, ob ein Stromdefizit besteht; über die steigenden Preise sowieso. Auch haben wir das Ziel der Klimaneutralität 2045 fest im Blick.
Fakt ist: Je weniger Energie wir verbrauchen, desto leichter werden wir es haben, alle diese Herausforderungen zu meistern. Um schnelle und messbare Erfolge zu erzielen, sollten wir bei den Dingen ansetzen, die eine große Entlastung bringen. Der Gebäudesektor eignet sich hervorragend hierfür. Und genau darauf zielt unser Antrag heute ab.
Sehen Sie sich einmal die privaten Haushalte an! Knapp ein Viertel des Gesamtenergieverbrauchs 2018 in Deutschland wurde für das Heizen in privaten Haushalten verwendet. Wir sollten die Menschen also dazu motivieren, in energieeffiziente Neubauten bzw. eine entsprechende Sanierung zu investieren. Damit sie das trotz gestiegener Preise tun, braucht es planbare und verlässliche Rahmenbedingungen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die letzte Woche im Januar dieses Jahres. Ich erinnere mich sehr gut daran und vielleicht auch viele meiner Kollegen aus ländlichen Gebieten. In jener Januarwoche und den Wochen darauf haben mich viele Anrufe und Schreiben von verzweifelten, ja wütenden Bauherren erreicht, denen über Nacht die Möglichkeit der Förderung ihres Hauses über die KfW gestrichen wurde.
({0})
Was ist das Ergebnis dieses Förderchaos? Ich habe in vielen Fällen aus meinem Wahlkreis gehört, dass Häuser mit einem schlechteren Energieeffizienzstandard oder gar nicht gebaut wurden. Im Ergebnis entstehen neue Wohngebäude, die mehr Energie verbrauchen als mit der plötzlich gestrichenen Förderung. Das kann nicht unser Anspruch sein.
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Bis heute hat die Regierung außerdem keine Aussagen darüber getroffen, wie die Förderung ab 2023 ausgestaltet werden soll. Da sind wir schon beim nächsten Problem. Viele Ankündigungen, lange Zeit hört man nichts von der Regierung, und schließlich wird man bei der Umsetzung enttäuscht. Dabei wäre im Hinblick auf die geplante Klimaneutralität schnelles Handeln geboten.
Genau das schlagen wir mit unserem Antrag heute vor. Wir wollen steuerliche Anreize für Eigentümer und Vermieter setzen, wenn sie energieeffiziente Neubauten errichten oder ihre bestehenden Gebäude energetisch nachrüsten. Es geht also nicht nur um die Neubauten – Sie hätten vielleicht genauer lesen sollen –, sondern es geht auch um die Sanierungen.
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Die steuerlichen Anreize sollen die bestehenden Förderungen flankieren. Auch das haben wir festgehalten, damit insgesamt weniger Energie im Gebäudebereich verbraucht wird. Wir wollen attraktive Anreize setzen, und deswegen haben wir auch die Verdoppelung der Steuerermäßigung bei der energetischen Sanierung im selbstgenutzten Eigenheim vorgeschlagen. Wir können damit auch nicht warten, bis Sie 2026 evaluiert haben, wie denn die Auswirkungen sind, sondern wir müssen jetzt anfangen, die Leute zu motivieren, Energie zu sparen. Wir vergeuden sonst wertvolle Zeit, so wie Sie es die ganze Zeit schon machen, seit Sie regieren.
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Über unsere Forderungen zum Bereich Photovoltaik – auch die sind angesprochen worden – werde ich nichts weiter ausführen. Wir haben nämlich unsere Vorschläge schon im Juni dieses Jahres unterbreitet mit unserem Antrag zum beschleunigten Ausbau von erneuerbaren Energien. Wir haben das erläutert, und anscheinend ist es auf fruchtbaren Boden gefallen. Es ist schon erwähnt worden: Heute Morgen wurde es im Rahmen des Jahressteuergesetzes mit aufgenommen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Sie haben ja noch weitere Vorschläge angekündigt. Auf jeden Fall haben wir schon mal erreicht, dass es jetzt in Ihren Vorschlag aufgenommen worden ist.
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Außerdem fordern wir, dass die Bundesförderung für energieeffiziente Gebäude attraktiv und vor allem verlässlich ausgestaltet wird. Dazu zählen wir auch kluge KfW-Programme. Nur herzugehen und zu sagen: „Wir kürzen die Programme; wir erhöhen die Standards, wir haben aber noch steigende Preise“, das wird nicht dazu führen, dass Sie mit den KfW-Programmen Erfolg haben. Für uns gehört dazu auch das Modell „Jung kauft Alt“, das heißt Sanierung von Bestandsbauten im Innenbereich, das Leerstände beseitigen soll. Das Bündnis bezahlbarer Wohnraum hat in dieser Woche dieses Programm mit aufgenommen. Wir unterstützen das ausdrücklich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie unseren Antrag! Zeigen Sie damit, dass es Ihnen ernst ist, die Eigentümer und Vermieter dabei zu unterstützen, Energie zu sparen – nicht erst irgendwann, sondern jetzt!
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Parsa Marvi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir an vielen Orten wie jetzt im Deutschen Bundestag über die Wärmewende sprechen. Schlecht isolierte Gebäude und alte Heizsysteme verbrauchen schließlich große Mengen an Energie. Sie sind verantwortlich für ein Viertel der deutschen CO2-Emissionen und für 30 Prozent des Endenergieverbrauchs. Ohne Wärmewende bei den Gebäuden – das ist ganz sicher – gibt es keine Klimaneutralität und keine Unabhängigkeit von fossilen Energien.
Ja, wir müssen die Wärmeversorgung umgestalten, indem wir Wärmeenergie einsparen und den Wärmeverbrauch dekarbonisieren. Ja, wir müssen die energetische Sanierung sowie den energetischen Mietwohnungsneubau nach vorne bringen. Ja, wir müssen dafür ordnungspolitisch sinnvolle – ich betone: sinnvolle – Anreize setzen, auch über die Steuerpolitik. Aber was sollen wir bei all diesen Herausforderungen mit Ihrem Antrag, mit dem Antrag von CDU/CSU, anfangen? Wir sind doch als Ampelkoalition längst dabei, durch Gesetzgebung und Exekutive alles daranzusetzen, große Schritte in Richtung Ausbau erneuerbarer Energien, in Richtung Wärmewende zu machen.
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Sie fordern in Ihrem Antrag dazu auf, die Steuerpflichtigen beim Ausbau von Solarenergie zu entlasten. Ich habe gewartet und gewartet, ob an diesem schon vor Wochen eingereichten Antrag noch eine Änderung vorgenommen wird oder eine Kommentierung. Sie haben ihn stehen lassen, obwohl Sie natürlich wissen – was heute schon mehrfach betont wurde –, dass im Jahressteuergesetz 2022 die Ertragsteuerbefreiung für Einnahmen aus dem Betrieb von Photovoltaikanlagen auf Einfamilienhäusern kommt.
Es scheint Ihnen – das ist meine Schlussfolgerung – extrem wichtig zu sein, das Copyright für irgendwas zu haben. Aber ich glaube, das interessiert die Öffentlichkeit gar nicht so sehr. Die interessiert, was wir in diesem Parlament beraten und am Ende auch beschließen. Und Sie sind herzlich eingeladen, unserem Jahressteuergesetz zuzustimmen.
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Sie fordern einen Push für den Mietwohnungsneubau. Sie fordern uns ständig auf, endlich zu handeln. Sie wissen aber auch ganz genau – was Sie heute auch gesagt haben –, dass wir im Jahressteuergesetz die jährliche lineare Abschreibung für neue Wohngebäude von 2 Prozent auf 3 Prozent anheben werden und somit als Ampelkoalition einen seriösen Beitrag zur Unterstützung einer klimagerechten Neubauoffensive leisten.
Ja, Herr Meister, es ist richtig: Die Fördersätze für Sanierung sinken etwas. Aber gleichzeitig ist es so, dass wir mit der Bundesförderung für effiziente Gebäude einen Rekordbetrag von 14 Milliarden Euro für die energetische Gebäudeförderung bereitstellen werden – Mittel, von denen deutlich mehr Menschen profitieren werden; Mittel, die aus dem Klima- und Transformationsfonds kommen, zu dem Sie als Union ja ein besonderes Verhältnis haben.
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Sie wissen, dass wir die sogenannte Klimamilliarde für den Klimaschutz im sozialen Wohnungsbau als Ampel etabliert haben, mit der neben dem energetisch hochwertigen Neubau auch die energetische Sanierung von Sozialwohnungen in den Ländern angegangen wird. Sie wissen, dass wir längst das Tempo für den Ausbau der erneuerbaren Energien deutlich beschleunigt haben und dafür auch endlich die erforderliche systematische Planung und Konzeption seit Beginn dieser Ampelkoalition vornehmen konnten, ohne Bremsen und Blockaden aus einem unionsgeführten Bundeswirtschaftsministerium.
Sie wissen das alles, aber anstatt sich für einen echten strategischen Mehrwert in dieser Debatte zu entscheiden, stellen Sie diesen Antrag, der ein Sammelsurium darstellt aus Längst-auf-dem-Weg-Maßnahmen, ordnungs- und steuerpolitisch fragwürdigem Wünsch-dir-was und lobbypolitischen Gefälligkeitsforderungen, um vor allen Dingen das Copyright für irgendwas zu haben – ohne Fokus, ohne Stringenz.
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Wir werden Ihren Antrag daher ablehnen und in extrem herausfordernden Zeiten als Fortschrittskoalition weiterhin beide Bälle in der Luft halten: mehr für Wohnungsbau zu tun und mehr für Klimaschutz.
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Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie herzlich. Ich bin jetzt hier für die Schlusskurve. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Bernhard Herrmann für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zehn Jahren die Ambitionen beim Neubau nicht erhöhen, aber der Ampel jetzt Nichthandeln vorwerfen – das ist schon ein starkes Stück von der CSU, Frau Hierl. Das hat mich doch sehr überrascht. Aber zumindest haben wir anscheinend doch Einigkeit darüber, dass es im Wesentlichen um den Gebäudebestand gehen muss; denn dort steckt das größte Potenzial für Einsparungen von Energie. Als Antragstellende haben Sie das gerade noch mal betont.
Aber trotzdem: Der Teufel steckt, wie so oft, im Detail; denn dazu passt es nicht, dass Sie gleich unter Punkt eins eine Sonderabschreibung für Neubau fordern. Dieser Vorschlag löst doch die soziale Aufgabe bei Bestandsgebäuden nicht im Geringsten. Ich möchte es mal etwas plakativ machen: 12,5 Millionen Gebäude stammen aus der Zeit vor 1977, also vor der ersten Wärmeschutzverordnung. Sie verbrauchen zum Teil fünfmal so viel Energie wie Neubauten, und das bei mehrfach gestiegenen Energiekosten. Das ist mörderisch und hat in der jetzigen Situation einen ganz, ganz schalen Beigeschmack. Da müssen wir ran.
({0})
Auch wir als Koalition nutzen steuerliche Maßnahmen für wichtige Weichenstellungen bei der Energiewende im Wärmebereich. Auch möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass sich Punkt sechs Ihres Antrags, wie mehrfach erwähnt wurde, inzwischen erledigt hat. Ich möchte das noch mal aufzählen, weil das im Jahressteuergesetz wirklich sehr gut ist: Solarstromanlagen bei Einfamilienhäusern bis 30 Kilowatt kann man komplett ohne jeden Steueraufwand betreiben, bei Mehrfamilienhäusern gilt das sogar bis 100 Kilowatt
({1})
– „Peak“ ist ein Fachbegriff, den nicht alle unbedingt brauchen, 100 Kilowatt ist dasselbe; die Spitzenleistung ist gemeint –, also in beiden Fällen für quasi alle denkbaren Größen von diesen Gebäuden.
Für die Lieferung und Installation von PV-Anlagen wird im Umsatzsteuerrecht ein Nullsteuersatz eingeführt – welche Anerkennung für die preiswerteste von allen nutzbaren Energieformen! Wie toll!
({2})
Und: Wer eine Solaranlage im eigenen Haus betreibt, darf sich künftig weiter bei Lohnsteuervereinen beraten lassen. Das sind nur einige Highlights massiver Entbürokratisierung.
Steuerpolitik hat, wenn sinnvoll eingesetzt, durchaus eine positive Lenkungswirkung. Aber auch im Gebäudebereich müssen wir genau hinsehen, dass Steuererleichterungen an den richtigen Stellen, Standorten und für die richtige Zeitdauer fokussiert werden. Ich muss an eines erinnern: Nach der Wiedervereinigung gab es im Osten eine Sonderabschreibung Ost. Die war wichtig zum Anfang, um Anreize zu setzen; aber die wurde so lange fortgesetzt, weil man eben die Lobby bediente und nicht nur Anreize setzen wollte. Wir hatten schon Leerstand in ziemlichen Größenordnungen, da wurde die immer noch fortgesetzt. Steuerpolitik darf nicht Lobbypolitik sein.
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Mehr noch: Der Mechanismus hinter den hier vorgelegten Vorschlägen für den Neubau ist sozial ungerecht. Menschen mit dem wenigsten Geld für Investitionen wird damit nicht geholfen; das wurde mehrfach ausgeführt. Eine aktuelle Studie des Öko-Instituts belegt den Zusammenhang von Einkommen und Gebäudezustand: Je geringer das Einkommen, desto häufiger wohnen Menschen in älteren Gebäuden. Gleichzeitig fehlt es gerade diesen Haushalten an finanziellen Mitteln für Investitionen. Was es aber braucht, ist eine starke Bundesförderung, die es auch einkommensschwächeren Haushalten ermöglicht, überhaupt erst Investitionen an Gebäuden zu tätigen. Das ist meiner Überzeugung nach das richtige Instrument. Damit können wir bei der energetischen Modernisierung zielführend entlasten, Verbräuche reduzieren, Ökologie und Soziales zusammenbringen, auch Mieten begrenzen.
Vielen Dank.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! An diesem Wochenende ist Deutschland und speziell Berlin das Zentrum der globalen Gesundheit. Der World Health Summit zieht wieder alle wichtigen Akteure in die Stadt.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, könnten kaum größer sein: Nicht nur, dass die Covid-Pandemie noch nicht vorüber ist; im Juli hat die Weltgesundheitsorganisation wegen der Affenpocken einen weiteren weltweiten Gesundheitsnotstand ausgerufen. Die globale Erwärmung, Krieg, dadurch ausgelöste Hungersnöte und Migrationsbewegungen gefährden die Gesundheit von Mensch und Natur. Wir haben uns als Staatengemeinschaft mit den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen vorgenommen, bis 2030 Gesundheit und Wohlergehen für alle Menschen auf der Welt zu sichern. Als Parlament und Regierung sind wir uns dieser Verantwortung bewusst und werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dieses Ziel zu erreichen.
({0})
Der Virchow Prize for Global Health, der an diesem Wochenende erstmals vergeben wird, richtet seinen Fokus auf diese drängende Herausforderung. Von nun an regelmäßig sollen mit diesem Preis Persönlichkeiten, Wissenschaftler oder zivilgesellschaftliche Initiativen ausgezeichnet werden, die mit ihrem Engagement und ihrer Leistung dazu beitragen, die Gesundheit der Menschen und des Planeten zu sichern.
Ich freue mich sehr, den Spiritus Rector hinter diesem Preis heute auf der Tribüne begrüßen zu dürfen. Lieber Herr Professor Detlev Ganten, schön, dass Sie uns in dieser Debatte die Ehre geben!
({1})
Auch ein herzliches Willkommen an Sie, lieber Herr Roland Göhde, als weiteres Gründungs- und Kuratoriumsmitglied der Stiftung!
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Sie haben mit dem Virchow Prize for Global Health die erste Auszeichnung mit international höchstem Prestige für dieses Thema geschaffen. Sie unterstreichen damit gleichzeitig: Deutschland und insbesondere Berlin ist immer mehr ein wichtiger Ort, „the place to be“, wenn es um das Thema „globale Gesundheit“ geht. Damit wird auch das herausragende deutsche Engagement unterstrichen.
Rudolf Virchow hatte einen weiten Blick. Er hat damals gesagt:
Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.
Zu Zeiten Rudolf Virchows, also Ende des 19. Jahrhunderts, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 35 Jahre. Heute gibt es noch immer Länder, in denen die Lebenserwartung deutlich zu niedrig ist, nicht ganz so wie damals, aber immer noch viel geringer als hier bei uns, beispielsweise 54 Jahre in der Zentralafrikanischen Republik. Es sind heute die gleichen Gründe wie damals im Preußen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Menschen ihre Lebensperspektive nehmen: Armut, Elend, zu wenig Bildung und schlechte Gesundheitsversorgung. Dem wirken wir entgegen mit unserem Engagement für globale Gesundheit.
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Mit Dr. John N. Nkengasong fällt die Wahl auf einen würdigen ersten Preisträger. Ich möchte nicht der Laudatio am Samstag vorgreifen; aber lassen Sie mich einige wenige Etappen seines Wirkens kurz nennen. Er hat alle genetischen Subtypen von HIV in Afrika sequenziert und klassifiziert. Er ist Gründungsdirektor der Africa Centres for Disease Control and Prevention. Im Juni 2022 wurde er zum US-Koordinator der Global AIDS-Response und auch zum Special Representative der globalen Gesundheitsdiplomatie im US-Außenministerium als erste Person in diesem Amt von afrikanischer Herkunft benannt. Er hat systemische und holistische Strukturen geschaffen, die die globale Gesundheitslandschaft wesentlich geprägt und grundlegend verbessert haben. Ich denke, ich darf im Namen des gesamten Hauses ihm ganz herzlich zu dieser Preisverleihung gratulieren. Ich danke den Stiftern dieses Preises und den Initiatoren dieses Virchow Prize for Global Health ganz herzlich. Ich glaube, Rudolf Virchow fühlte sich geehrt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine Vereinbarte Debatte am Vortag der erstmaligen Verleihung des Rudolf-Virchow-Preises für Globale Gesundheit ist ein starkes gemeinsames Zeichen, ebenso wie die Tatsache, dass unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Schirmherrschaft über diese erstmalige Verleihung übernommen hat.
Wir würdigen damit gemeinsam nicht nur diese Preisverleihung, die schon jetzt auch international Aufmerksamkeit erhalten hat, wir ehren nicht nur die Erinnerung an einen herausragenden Arzt, Wissenschaftler und Politiker, Rudolf Virchow, den Namensgeber dieses Preises, der gestern vor 201 Jahren geboren wurde; uns eint – Frau Kollegin Baehrens hat es angesprochen – weitgehend in diesem Haus und sicher mit der Stiftung, die diesen Preis verleiht, und vielen auf der Welt die Verpflichtung auf die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele, die sich die Völkergemeinschaft 2015 gegeben hat, wobei wir mit Schrecken feststellen müssen, wie sehr uns Pandemie und Krieg in der Ukraine und globale Folgen auf dem Weg zur Erreichung dieser Ziele zurückwerfen und auffordern, mit ganzer Kraft weiter für sie zu arbeiten.
Ziel Nummer 3 ist „health for all“, „Gesundheit für alle“. Das ist keine Reihenfolge. Wenn man die Ziele sich insgesamt ansieht, erkennt man: Es geht darum, wechselseitig die Bedingungen für die Erreichung dieser Ziele zu beschreiben. Wenn es um Gesundheit für alle geht, dann gehört dazu natürlich der Sieg über den Hunger – fehlernährungsbedingte Krankheiten sind zu nennen –, der Zugang zu sauberem Trinkwasser, endlich Geschlechtergerechtigkeit, wenn es beispielsweise um den Zugang zu Bildung geht. Natürlich müssen auch die dramatischen gesundheitlichen Folgen der globalen Klimakrise hier genannt werden.
Dieses ganzheitliche Denken der nachhaltigen Entwicklungsziele passt so gut zu Rudolf Virchow, ja macht seine prophetische Kraft geradezu deutlich; denn Rudolf Virchow wollte eben Krankheiten nicht allein deswegen besser verstehen, um sie besser bekämpfen zu können, sondern um für gesundheitsfördernde Lebensbedingungen einzutreten.
Meine Damen, meine Herren, in den letzten Jahren ist globale Gesundheitspolitik zu einem Markenzeichen deutscher internationaler Verantwortung geworden. Das gilt für die Entwicklungspolitik, das gilt für die Gesundheitspolitik und für weitere Politikfelder. Ich nenne Stichworte wie „Einsatz gegen die Gefahr durch Antibiotikaresistenzen“, „Folgen aus dem Ebolaausbruch 2014/2015 in Westafrika“ oder „Erfahrung der noch laufenden Pandemiebekämpfung“. Anknüpfen kann Deutschland dabei an eine große Tradition, etwa in der Tropenmedizin. Ich will aber ausdrücklich auch den Beitrag der vielen aus allen Gesundheitsberufen nennen, die beispielsweise mit „Ärztinnen und Ärzten ohne Grenzen“ in arme Länder des Südens gehen, um dort zu helfen. Herzlichen Dank für diesen großartigen Einsatz!
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Das Bekenntnis Deutschlands zur globalen Gesundheit ist in vielerlei Hinsicht auch in der Zivilgesellschaft deutlicher geworden. Denken wir an den Global Health Hub, die deutsche Forschungsallianz oder die globale Gesundheitsallianz der deutschen Wirtschaft. Die Antwort der Völkergemeinschaft, in Berlin eine WHO-Einrichtung zu schaffen, die sich der besseren Datenerhebung, der besseren Analyse globaler Gesundheitsrisiken widmet, zeigt, dass das auch international wahrgenommen wird.
Und ich nenne auch bewusst, liebe Frau Kollegin Baehrens, lieber Georg Kippels, vor allen Dingen lieber Herr Vorsitzender Ullmann, die Schaffung des Unterausschusses Globale Gesundheit in diesem Parlament. Denn damit wird deutlich: Wir wollen, dass das Thema „globale Gesundheit“ beständig auf der Tagesordnung deutscher Politik bleibt und nicht nur, wenn Krisen uns dazu zwingen. Insofern ist das eine wichtige Einrichtung.
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Ich glaube, dass die Virchow-Stiftung mit dem Virchow-Preis für Globale Gesundheit eine wichtige Unterstützung dabei sein kann. Und ich freue mich mit Ihnen, liebe Frau Baehrens, über John Nkengasong als ersten Preisträger. Sie haben seine Tätigkeit als Gründungsdirektor der Africa Centres for Disease Control and Prevention erwähnt. Es war in den letzten Jahren im Rahmen der globalen Antwort auf Covid so wichtig, zu erfahren, dass in Afrika damit eine selbstbewusste, eine starke Beteiligung an Fragen der globalen Gesundheitsvorsorge entstanden ist. Er ist wahrlich ein herausragender erster Preisträger.
Meine Damen, meine Herren, es ist eine Initiative aus der deutschen Zivilgesellschaft entstanden. Wegen der starken Verwurzelung in der Wissenschaft nenne ich den Präsidenten der Leopoldina, Gerald Haug, und den Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Christoph Markschies. Aber wenn Sie sich die Gremien ansehen, nicht zuletzt die Jury, dann finden Sie dort Männer und Frauen aus vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Globalen Süden. Zusammengerufen hat sie – erlauben Sie mir, dass ich das als Mitglied des Kuratoriums auch sage: uns – der eben schon begrüßte Detlev Ganten, ein starker Visionär, ein beharrlicher Antreiber – wenn ich an ihn als Gründungspräsidenten des World Health Summit denke. Herzlichen Dank, lieber Detlev Ganten.
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Meine Damen, meine Herren, freuen wir uns nicht nur auf die morgige Preisverleihung, sondern auf möglichst viele Preisträgerinnen und Preisträger, die uns Ermutigung sein mögen und, wo notwendig, auch Ermahnung, in unserem beharrlichen Wirken nicht nachzulassen, unseren Beitrag zu leisten, damit Gesundheit für alle Wirklichkeit wird.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner in dieser Debatte ist für Bündnis 90/Die Grünen Johannes Wagner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Lieber Professor Ganten! Die kommenden Tage werden wichtige Tage für die globale Gesundheit. Morgen wird hier in Berlin der Virchow-Preis für Globale Gesundheit verliehen. Mehr als 6 000 Teilnehmende aus über 100 Ländern kommen für den am Sonntag beginnenden Weltgesundheitsgipfel hier in Berlin zusammen. Deswegen ist es gut, dass auch wir im Bundestag uns mit globaler Gesundheit befassen.
Globale Gesundheit – woran denken Sie, wenn Sie das hören? Viele denken wahrscheinlich vor allem an Infektionskrankheiten im Globalen Süden: Tuberkulose, HIV, Malaria – und seit März 2020 vermutlich auch an Pandemien. Das ist alles richtig. Aber wenn wir über globale Gesundheit sprechen, müssen wir noch weiter ausholen. Im Jahr 1848 brach in Preußen eine Typhusepidemie aus. Der genannte Rudolf Virchow, nach dem der Name dieses Preises benannt ist, machte damals die Politik verantwortlich und forderte eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln.
Virchow hat früh verstanden, wie sehr unsere Lebensumstände unsere Gesundheit beeinflussen.
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Man könnte ihn quasi als Begründer von Public Health bezeichnen. Ausreichend Nahrung, saubere Städte und nicht zuletzt auch der Elektroherd haben vermutlich mehr Leben gerettet, als alle medizinischen Eingriffe es jemals könnten.
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Das soll mitnichten die großartige Leistung von Gesundheitsberufen schmälern, sondern einordnen, wo Politik aktiv werden muss:
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bei den Lebensumständen, bei Prävention, damit Menschen gar nicht erst krank werden.
Als ich noch als Kinderarzt in Weiterbildung gearbeitet habe, habe ich mich oft gefragt: Wie kann das sein? Wir geben im Krankenhaus alles dafür, damit Kinder gesund werden, und gleichzeitig zerstören wir als Gesellschaft die Lebensgrundlagen ebendieser Kinder. Durch unseren enormen Ressourcenverbrauch überschreiten wir planetare Grenzen, zerstören Lebensräume und erhöhen dadurch auch das Risiko für neue Pandemien. Diese Zusammenhänge sind in den letzten Jahren besonders deutlich geworden. Denn die Coronapandemie hat nicht nur gezeigt, was passiert, wenn sich ein Virus ausbreitet, sie hat auch gezeigt, dass globale Gesundheit auch eine Frage der internationalen Zusammenarbeit, der sozialen Gerechtigkeit und des Klimaschutzes ist.
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Auf diese drei Punkte möchte ich kurz eingehen.
Erstens. Corona hat gezeigt, was passiert, wenn Länder nationale Alleingänge betreiben, statt zusammenzuarbeiten. In manchen Ländern des Globalen Südens haben wir noch immer eine Impfquote von unter 10 Prozent. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch extrem kurzsichtig. Wir müssen endlich begreifen, dass Impfstoffgerechtigkeit kein Nice-to-have ist, sondern elementare Voraussetzung dafür, Pandemien effektiv zu bekämpfen.
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Dafür brauchen wir eine starke Weltgesundheitsorganisation, die finanziell gut aufgestellt ist. Wir stärken die WHO und werden auch weitere Reformprozesse anstoßen.
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Zweitens. Es geht bei globaler Gesundheit auch elementar um soziale Gerechtigkeit. In einem aktuellen Oxfam-Bericht heißt es: Die Wahrscheinlichkeit im Globalen Süden, an Corona zu versterben, ist um 30 Prozent höher als im Globalen Norden. – Und auch in Deutschland leiden arme Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einem schweren Verlauf. Damit wird klar: Gesundheit ist elementar mit Armut verbunden, und Armut bleibt ein Gesundheitsrisiko. Deshalb müssen wir jetzt in Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung und Bildung für alle investieren,
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und zwar global und national.
Drittens. Die Coronapandemie hat verdeutlicht, wie sehr Klima- und Biodiversitätskrisen mit der Gesundheit zusammenhängen. Dass 75 Prozent der neu auftretenden Infektionskrankheiten Zoonosen sind, ist kein Zufall. Es ist das direkte Resultat der Zerstörung von tierischen Lebensräumen und des Artensterbens. Gleichzeitig führt die Erderhitzung zu immer häufigeren Extremwetterereignissen wie Dürren und Überflutungen. Die daraus resultierenden Ernteausfälle bedrohen direkt Millionen von Menschenleben. Das macht der gestern erschienene Welthunger-Index noch einmal erschreckend deutlich. Und das wirklich Ungerechte dabei ist: Diejenigen, die dazu am wenigsten beigetragen haben, sind am meisten davon betroffen.
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Deswegen wird die Weltklimakonferenz, die in wenigen Wochen in Ägypten stattfindet, so wichtig. Wir müssen endlich über Klimagerechtigkeit sprechen und unseren CO2-Fußabdruck reduzieren.
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Denn ohne Klimaschutz kann es keine globale Gesundheit geben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Virchow sagte: Politik gestaltet Lebensumstände und damit Gesundheit. – Wir im Parlament beeinflussen mit unseren Gesetzen direkt die Qualität der Luft, die wir atmen, und des Wassers und unserer Ernährung. Deswegen sind wir alle, egal ob im Landwirtschaftsausschuss, im Verkehrsausschuss oder im Entwicklungsausschuss, immer auch Gesundheitspolitiker/-innen.
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Ich wünsche mir, dass wir bei jeder Entscheidung hier im Parlament Gesundheit mitdenken; denn nur so erreichen wir auch globale Gesundheit.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Dr. Marc Jongen für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rudolf Virchow war ein beeindruckender Mann: Arzt, Begründer der modernen Sozialhygiene, aber auch Ethnologe und Anthropologe und zudem noch Abgeordneter, zunächst im Preußischen Abgeordnetenhaus, dann im Reichstag. Jeder kennt das Virchow-Klinikum. Was für eine Zeit, als verdiente Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, aus der Wissenschaft die Abgeordneten stellten und nicht „Parteifunktionär/-innen“ ohne richtigen Studien- und Berufsabschluss, meine Damen und Herren!
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Der Virchow-Preis für Globale Gesundheit hat also einen würdigen Namensgeber. Ob er dessen Erbe auch würdig fortführt, das ist fraglich. Erster Preisträger ist John Nkengasong aus Kamerun, Virologe und langjähriger WHO-Funktionär, seit Kurzem US-Gesundheitsdiplomat. Die 500 000 Euro Preisgeld erhält er für seine Verdienste um die Aidsbekämpfung in Afrika, die er zweifellos hat, aber eben auch für sein Management der Coronamaßnahmen dort als Sondergesandter der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Studiert man die Presseberichte, dann sieht man Herrn Nkengasong sich zunächst freuen, dass 400 Millionen Impfdosen von Johnson & Johnson in Afrika eingetroffen sind. Im Mai dieses Jahres beklagt er, dass der südafrikanische Lizenzhersteller von Johnson & Johnson – er erwähnt jedes Mal den Herstellernamen – die Produktion mangels Nachfrage einzustellen droht. Meine Damen und Herren, wem es wirklich um die Gesundheit geht, der müsste sich doch freuen, wenn Afrika trotz niedrigster Impfquote auch die niedrigste Sterberate weltweit hat und dass sich dort logischerweise niemand mehr impfen lassen will, mit ungewissen Folgen für die eigene Gesundheit.
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Auch die Vorhersage von Herrn Nkengasong und seinen Auftraggebern, ohne flächendeckende Testung und Impfung würde der afrikanische Kontinent – so wörtlich – „ausgelöscht“ werden, ist gottlob glänzend widerlegt worden.
Es besteht doch der dringende Verdacht, dass hier ein afrikanischer Karl Lauterbach geehrt wird, der aus dem Panikmodus nicht herauskommt, der sämtliche Impfnebenwirkungen, die immer eindeutiger und gravierender ans Licht treten,
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zynisch vom Tisch wischt und der es nicht erwarten kann, die Daumenschrauben der Maßnahmen wieder anzuziehen – ohne erwiesene Wirkung für die Gesundheit der Bevölkerung.
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Darum muss uns, wenn wir „globale Gesundheit“ hören, leider angst und bange werden.
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Denn globale Gesundheit, das bedeutet globale Biopolitik. Und damit erscheint ein globales Hygieneregime am Horizont, das nichts mehr mit der alten Sozialhygiene à la Virchow zu tun hat, das nämlich nicht mehr ansatzweise demokratisch kontrolliert ist, meine Damen und Herren.
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Zurzeit arbeitet die WHO an SMART Health Cards, digitalen Impfpässen, die de facto auch als Reisepässe dienen sollen und an die – wer kann es ausschließen? – ein Sozialpunktesystem nach chinesischem Vorbild technisch leicht geknüpft werden kann,
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mit dem die Bürger nicht nur für Impfungen, sondern auch für Wohlverhalten belohnt sowie für Fehlverhalten bestraft werden, mit dem Zugänge verwehrt werden usw.
Das Ganze ist umso besorgniserregender, als private Geldgeber in der WHO mittlerweile das Sagen haben, allen voran die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Lesen Sie nicht auf irgendwelchen Verschwörungsseiten,
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sondern in der „Welt am Sonntag“ vom 18. September nach, wie die Gates-Stiftung in der Coronapandemie alle Strippen gezogen hat, wie sie vor allem auf dem Patentschutz für die Impfstoffe für einige wenige Pharmariesen beharrt und diesen damit exorbitante Gewinne beschert hat – auf Kosten der Steuerzahler.
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Bei rund 50 Milliarden Dollar Stiftungsvermögen kann man auch schon mal eine halbe Million als Preisgeld stiften für jemanden, der sich für die Verbreitung der Impfstoffe so wunderbar eingesetzt hat.
Ich komme zum Schluss.
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Nein, werte Lobredner von der Ampel und auch von der CDU, loben Sie einen Preis aus für die Konzentration der WHO auf ihre sinnvollen Kernaufgaben. Kümmern Sie sich auch um deren auskömmliche Finanzierung aus staatlichen Mitteln, um den Einfluss privater Geldgeber zurückzudrängen. Damit wäre der Weltgesundheit am meisten geholfen. Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
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Es erhält das Wort Dr. Andrew Ullmann für die FDP-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Professor Ganten oben auf der Tribüne! Ich freue mich, dass Sie hier sind, und ich freue mich als Vorsitzender des Unterausschusses Globale Gesundheit, dass wir heute, kurz vor der Verleihung des Virchow-Preises und dem World Health Summit, diese Debatte aufgesetzt haben. Dafür haben wir uns ja auch gemeinsam starkgemacht. Das ist ein sehr schönes Signal in die Bundesrepublik Deutschland dafür, dass globale Gesundheit uns so wichtig ist.
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Doch bevor ich fortfahre, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Barbara Stamm zu gedenken. Heute, in diesen Stunden, findet die Trauerfeier für Barbara Stamm in meiner Heimatstadt Würzburg statt. Viele von Ihnen kennen Barbara Stamm. Sie galt als das soziale Gewissen Bayerns. Ihr Tod hat mich tief getroffen, und sie wird uns allen als Mensch und Politikerin fehlen. Denn Barbara Stamm hat sich für ein gerechtes Gesundheitssystem eingesetzt. Sie hat das als Bayerin vor allem in Bayern getan; aber das Streben nach einem gerechten – oder: gerechteren – Gesundheitssystem ist nicht regional begrenzt. Dieses Streben vereint uns auch in der globalen Gesundheit; denn wir haben uns dem Ziel verpflichtet, dafür zu sorgen, dass alle Menschen weltweit Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Das ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung und humanitäre Verpflichtung. Ich denke und hoffe, dass Barbara Stamm dem heute zustimmen würde.
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Globale Gesundheit ist eine regionale, nationale und globale Aufgabe. Besonders stolz bin ich auf meine Heimatstadt Würzburg, nicht nur, weil Rudolf Virchow, der Namensgeber des Preises, der morgen zum ersten Mal verliehen wird, auch in Würzburg tätig war, sondern auch und vor allem, weil globale Gesundheitsthemen sich dort in verschiedenen Bereichen wiederfinden: zum einen in der Tropenmedizin der Missioklinik, einer Institution mit weltweiten Verbindungen und Aktivitäten in der globalen Gesundheit, zum anderen in der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe, die 130 Projekte in 123 Ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa unterstützt.
Aber nicht nur in Würzburg, sondern deutschlandweit finden sich entscheidende Akteure, die die globale Gesundheitsversorgung vorantreiben. Wir finden bei uns ein besonderes Ökosystem für globale Gesundheit, bestehend aus akademischen und wissenschaftlichen Einrichtungen, medizinischen Institutionen sowie privaten, zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren, aufgrund dessen, dass die Bundesregierung dies unterstützt und stärkt. Wir werden dies auch weiterhin gemeinsam tun.
Der Virchow-Preis wird für besondere Leistungen in der globalen Gesundheit vergeben. Der Namensgeber dieses Projektes könnte nicht besser gewählt sein. Rudolf Virchow hat maßgeblich unser Verständnis von Medizin und Gesundheit geprägt. Er gilt als einer der Gründer der modernen Medizin, der modernen Pathologie und der Sozialmedizin. Und auch als Politiker machte er sich verdient. Mit seinem Schaffen hat er die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen zu seiner Zeit und bis heute nachhaltig beeinflusst.
Die Auszeichnung geht dieses Jahr, und zwar morgen, an Dr. John Nkengasong für seine herausragenden Leistungen in der globalen Gesundheit. Er war Mitbegründer der Africa CDC, und im Rahmen seiner Dissertation im Bereich Virologie wurden erstmals alle genetischen Subtypen von HIV in Afrika sequenziert und klassifiziert. Das ist, meine Damen und Herren, eine medizinische Leistung, die Tausenden von Menschen zugutekam und die gesundheitliche Versorgung nicht nur in Afrika, sondern weltweit revolutionierte, ganz im Sinne der globalen Gesundheit.
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Ich möchte auch denjenigen Danke schön sagen, die einen Beitrag zur Verbesserung der weltweiten Gesundheitsversorgung leisten. Dazu gehören Forschungseinrichtungen, die Zivilgesellschaft und Unternehmen; denn ohne sie ginge es nicht. Die Herausforderungen, die sich uns heute stellen, könnten nicht komplexer sein: die schwelende Pandemie und deren langfristige Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme, die globale Klimakrise sowie die geopolitischen und ökonomischen Folgen des Ukrainekrieges. Umso mehr braucht es eine partnerschaftliche und nachhaltige Zusammenarbeit aller Akteure, um das Ziel „Gesundheit für alle“ zu erreichen.
Wir als Ampel werden – ich denke, zusammen mit der CDU/CSU – alles daransetzen, gemeinsam mit unseren Partnern das Recht auf Gesundheit weltweit zu verwirklichen und die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 zu erreichen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist Kathrin Vogler für Die Linke.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen wird zum ersten Mal der Virchow-Preis für Globale Gesundheit verliehen. Für sein wissenschaftliches und gesundheitspolitisches Wirken vor allem in der Erforschung und Bekämpfung von HIV/Aids und Covid‑19 erhält der kamerunische Virologe John Nkengasong diesen Preis. Das ist sicherlich hoch verdient und auch im Sinne des Namensgebers. Ich habe allerdings Zweifel, dass Rudolf Virchow, der große Pathologe, Anthropologe und Menschenfreund, so begeistert davon wäre, wenn er wüsste, welche Kreise sich nun mit seinem Namen schmücken; nur, leider kann er sich nicht mehr wehren.
Der Preis wird verliehen von der Virchow Foundation, einer privaten Stiftung, die über die German Health Alliance eng verbunden ist mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Die Mitgliederliste dieser Allianz liest sich nicht zufällig wie das Who’s who der deutschen Gesundheitswirtschaft: von der Pharmaindustrie bis zum Versicherungskonzern. Sie leisten sich hier ein bisschen Weißwaschen, während sie ansonsten mit ihren Geschäftspraktiken gerade dafür sorgen,
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dass Menschen im Globalen Süden ihr Menschenrecht auf Gesundheit nicht verwirklichen können, indem sie Technologietransfer verhindern, wissenschaftlichen Nachwuchs abwerben und die Gesundheitssysteme überall auf der Welt nach den Prinzipien von Markt und Profit gestalten wollen.
Es wird noch doller: Eine der Stifterinnen ist obendrein Friede Springer, deren Medienkonzern wie kein zweiter in Deutschland in den 80er- und 90er-Jahren für die Brandmarkung von HIV und Aids als „Schwulenseuche“ gesorgt, die Hetze gegen die Betroffenen zum Geschäftsmodell gemacht und die Aufklärung und Prävention konterkariert hat.
Rudolf Virchow, meine Damen und Herren, hat das nicht verdient. Er war ein aufrechter Humanist, der erkannt hatte, dass es darum geht, die Verhältnisse so zu verändern, dass Menschen eben nicht erkranken und dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung auf dem Stand der aktuellen Wissenschaft hat. Er sagte:
Eine vernünftige Staatsverfassung muss das Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsmäßige Existenz unzweifelhaft feststellen.
Recht hat er. Und ich ergänze: Gesundheitsversorgung darf nicht abhängig sein von der Herkunft, vom sozialen Status, vom Geschlecht oder vom Geldbeutel.
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Es ist die Pflicht aller Staaten, sie zu gewährleisteten und sich dabei nicht vom Mäzenatentum einiger Superreicher abhängig zu machen.
Wir brauchen kein Weißwaschen und keine neuen Märkte für deutsche Unternehmen, sondern endlich globale Gerechtigkeit bei der Gesundheitsversorgung. Oder lassen Sie mich das noch mal mit Virchow sagen:
Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Sozialismus nirgends mehr Anhänger fand als unter den Ärzten? Dass überall auf der äußersten Linken, zum Teil an der Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin in dieser Debatte ist Tina Rudolph für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Professor Ganten! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie sich auch an einem Freitagnachmittag noch hier auf die Tribünen des Plenarsaals begeben haben, um unseren Debatten zu lauschen! Der Namenspatron des neu ins Leben gerufenen Virchow-Preises für Globale Gesundheit, Rudolf Virchow, hat stets versucht, einem wichtigen Aspekt Aufmerksamkeit zu verschaffen, und zwar dem, dass Gesundheit und Krankheit mit den Lebensbedingungen der Menschen eng in Zusammenhang stehen.
Nun, 120 Jahre nach seinem Tod, hat sich die Welt sehr verändert; aber diese Kernaussage stimmt nach wie vor. Wir haben sie mittlerweile um das Konzept von „One Health“ erweitert, also um die Erkenntnis, dass Umweltgesundheit, Tiergesundheit und menschliche Gesundheit eng zusammengedacht werden müssen.
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Mit dem Fortschreiten des Klimawandels, mit Umweltveränderungen und dem Biodiversitätsverlust – Entwicklungen, die wir in Kauf genommen haben – haben wir selbst zu einer Welt beigetragen, die die Lebensgrundlagen von Menschen existenziell bedroht und zerstört. Dürren, Überschwemmungen, Zoonosen, Hunger und Armut sind die Folge und vor allem im Globalen Süden spürbar. Heute sind das die größten Bedrohungen für die menschliche Gesundheit und damit die größten Bedrohungen für unser aller Wohlergehen und Leben. Es ist höchste Zeit, dieser Dramatik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in all diesen Feldern entschiedener handeln.
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Die Covid‑19-Pandemie hat auf vielfältige Art und Weise die Lage in den Ländern des Globalen Südens noch verschärft. Man spricht auch von einer Polypandemie, weil eine Vielzahl von unterschiedlichen Bereichen betroffen ist und sich die Lebensbedingungen in vielen Bereichen enorm verschlechtert haben. Die Covid‑19-Pandemie hat die Armutsspirale neu entfacht.
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Die Prävention und die Behandlung von zahlreichen Krankheiten wie HIV und Aids, Tuberkulose und Malaria mussten massive Rückschritte verzeichnen. Bisher schon strukturell schwache Gesundheitssysteme wurden weiter geschwächt.
Besonders betrifft das die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen und Mädchen, insbesondere im Bereich ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte. In 18 Ländern ist ein enormer Anstieg der Mütter- und Kindersterblichkeit zu beobachten. Es sind verheerende Rückschritte in der Bekämpfung genderbasierter und sexualisierter Gewalt zu sehen.
Um das an einigen Beispielen konkret zu machen und mit Zahlen zu unterlegen: Durch weniger Präventionsprogramme im Zuge der Pandemie werden bis 2030 vermutlich 2 Millionen zusätzlicher Fälle weiblicher Genitalverstümmelung und 10 Millionen zusätzlicher Kinderheiraten erwartet. Das sind wahnsinnig schockierende Zahlen. Wir müssen alles dafür tun, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Dingen rasch entgegenzuwirken und für die Zukunft vorzusorgen.
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Es muss deshalb Priorität haben, Gesundheitssysteme im Globalen Süden mit noch mehr Engagement zu unterstützen, sie zu stärken und widerstandsfähig für zukünftige Herausforderungen zu machen, auch die klimabedingten. Ich bin sehr froh, dass unser Gesundheitsministerium hier vorangeht und dass das Thema „Gesundheitssysteme international stärken“ auch ein Schwerpunkt der deutschen G‑7-Präsidentschaft ist.
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Gerade unsere Ministerien, das BMG, das BMZ, leisten hier hervorragende Arbeit. Lassen Sie uns sicherstellen, dass wir das in den Haushaltsverhandlungen adäquat unterstützen.
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Ich sage im Hinblick auf zukünftige Pandemien aber auch ganz deutlich: Wir dürfen es nie wieder zulassen, dass in reichen Ländern in einer Pandemie junge, gesunde und damit weniger gefährdete Menschen schon geimpft werden, während das Gesundheitspersonal in armen Ländern für lange Zeit völlig ungeschützt ist und das eigene Leben riskiert. Das war eine der wichtigsten Fragen der internationalen Solidarität dieses Jahrzehnts, und wir hätten sie besser beantworten müssen.
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Das hat Vertrauen gekostet, und dieses Vertrauen müssen wir zurückgewinnen. Das ist nun ebenfalls eine Frage internationaler Verantwortung.
Wir müssen uns dafür einsetzen, dass globale Lieferketten gerade in einer globalen Krise funktionsfähig bleiben. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass gerade im Pandemiefall wichtige Arzneimittel auf allen Kontinenten produziert werden können und in ausreichenden Mengen sowie zu bezahlbaren Preisen zugänglich sind. Der WHO-Hub für mRNA-Technologietransfer und der Medicines Patent Pool können hier eine wichtige Rolle spielen. Das unterstützt auch noch mal das deutsche Engagement in diesen Fragen.
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Eine Nebenbemerkung mache ich hier, obwohl ich weiß, dass diese Debatten nicht so richtig von Erfolg gekrönt sind: An dieser Stelle gegen die WHO als eine der wichtigsten Gesundheitsorganisationen, die wir haben, zu bashen
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und eben nicht anzuerkennen, was für eine große Rolle sie im Rahmen der Pandemiebekämpfung spielt, und stattdessen Verschwörungstheorien zu verbreiten, ist genau das, was uns als internationale Gemeinschaft nicht stärkt. Wir hier vor Ort können froh sein, wenn uns diese Organisation mal wieder den Hintern rettet, meine Damen und Herren. Wir haben alles richtig gemacht, indem wir sie gestärkt haben. Auch dafür bin ich mehr als dankbar.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, vielen Dank. Die Rede haben wir ja gehört. – Ich finde – ich weiß, der Satz ist viel zitiert –: Gesundheit darf kein Luxus sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen sollten Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln auch dann in ausreichendem Maße betrieben werden, wenn sie keinen großen Gewinn versprechen. Für viele Krankheiten im sozialen Süden
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gibt es schon seit Jahrzehnten einen Mangel an adäquaten Impfstoffen, Diagnostika und Medikamenten. Der eklatante Mangel an neuen, effektiven Antibiotika stellt auf der ganzen Welt, selbst hier in Deutschland, derzeit eine Gefahr für die moderne Medizin dar, die dringend angegangen werden muss.
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Und ja, ich glaube, es ist besser, sich an den Inhalten zu orientieren, als meine Versprecher zu thematisieren. Das ist übrigens hier vorne störend.
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Ich bin aber auch der Ansicht – das möchte ich ebenfalls sagen –, dass die öffentliche Hand – das hat uns die Pandemie gezeigt – in der Folgezeit ein bisschen mehr mitreden können muss, wie viel ein Medikament am Ende kosten darf und welche Gewinne adäquat sind, vor allem wenn die Gesellschaft die Entwicklung maßgeblich mitfinanziert und wenn Menschen im Globalen Süden diese Medikamente unbedingt brauchen.
Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die SDGs, sind ein weltumspannendes Abkommen mit der Maxime, 2030 die Lebensbedingungen aller Menschen weltweit zu verbessern und damit ein Fundament für ein gesundes und würdevolles Leben zu bieten. Das war Virchows Ansinnen.
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Der neu ins Leben gerufene Virchow-Preis für Globale Gesundheit will zu diesen großen Ideen anspornen und herausragende Beiträge auszeichnen, die dem Wohle der Menschen dienen. Das brauchen wir heute mehr denn je. Wir wünschen diesem hehren Vorhaben alles Gute und viel Erfolg.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Aussprache ist Dr. Georg Kippels für die Unionsfraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich leite jetzt zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen nahtlos zum Wochenende der Feierlichkeiten und zum Wochenende des wissenschaftlichen Austausches über. Aber eingangs muss ich mir doch noch die Bemerkung erlauben, dass es die Kunst der politischen Rede ist, zur rechten Zeit das rechte Wort und den rechten Ton zu finden. Das ist am heutigen Nachmittag offenbar nicht allen – den meisten ja, aber nicht allen – gelungen.
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Zum 14. Mal wird der World Health Summit am kommenden Wochenende hier in Berlin durchgeführt. Professor Ganten ist schon begrüßt worden. Er ist die Triebfeder, der Mentor und auch der unermüdliche Streiter für dieses Format. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass an diesem Wochenende 100 Nationen in 60 Sessions mit 300 Speakern und 6 000 Teilnehmern einen regen wissenschaftlichen Austausch hier in Berlin vornehmen werden.
Es ist mittlerweile eine Marke für Berlin; es ist eine Marke für die globale Gesundheit. Was aber noch wesentlich wichtiger ist: Es ist eine Austauschplattform, bei der sich Wissenschaft, Forschung, Politik, Zivilgesellschaft und, ja, auch die Wirtschaft zu diesem Thema austauschen, weil alle Akteure in diesem Bereich unverzichtbar sind und alle Akteure sich sehr wohl selbstbewusst miteinander mit den Herausforderungen dieser Zeit auseinandersetzen.
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Die Würdigung von Rudolf Virchow mit dieser Preisvergabe ist eine gute Tradition der Gesundheitsforschung in Deutschland. Ich glaube, es steht uns sehr gut zu Gesicht, an diese Tradition anzuknüpfen und uns auch in den nächsten Jahren und wahrscheinlich Jahrzehnten mit diesem Thema zu befassen.
Es ist in den letzten Jahren gelungen, hierzu ein gutes Fundament zu legen. Aufbauend auf den WHS hat es im politischen Betrieb seit der letzten Legislaturperiode den Tageordnungspunkt „Globale Gesundheit“ mit ständig wachsender Frequenz hier im Plenum, aber auch in vielen politischen Gremien gegeben. Der Unterausschuss ist bereits genannt worden. Aber wir haben hier auch 2019, noch unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, den Global Health Hub Germany als digitale Austauschplattform ins Leben gerufen.
Ein besonders freudiges Ereignis war die Entscheidung der WHO, den Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence in Berlin zu gründen und mit Dr. Chikwe Ihekweazu einen profunden Datenspezialisten ins Amt zu heben, der mit modernster Technik die notwendigen Informationen sammelt, um in Forschung und Lehre den Kampf gegen alle Krankheiten dieser Welt aufzunehmen.
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Natürlich genießen im Augenblick die Infektionskrankheiten durch die Coronapandemie besondere Aufmerksamkeit. Aber ich will an dieser Stelle auch nicht unerwähnt lassen, dass die vernachlässigten Tropenkrankheiten genauso wie die nichtübertragbaren Krankheiten eine Herausforderung für die Menschheit darstellen. Gerade die internationale Zusammenarbeit, der Austausch von Wissen, Daten, Forschungsergebnissen, aber vor allen Dingen auch von innovativen Gedanken, wie wir es ja auch im Zusammenhang mit der Coronapandemie und BioNTech erlebt haben, sind ein wesentlicher Baustein für die Erfüllung der Herausforderungen und der Aufgabenstellung des Ziels 3 der Sustainable Development Goals.
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Wir müssen uns dieser Aufgabenstellung auch weiter versichern und verschreiben. Ich glaube, dass hier im Hause – jedenfalls ganz überwiegend – eine gute Stimmung für diese Aufgabenstellung existent ist.
Lassen Sie uns an diese Diskussion anschließen und morgen in dieser schweren Zeit gerade mit dem Signal der Hoffnung, der Kompetenz und der Einsatzbereitschaft von vielen Streitern den Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten, gegen Infektionskrankheiten und gegen vieles mehr aufnehmen und fortführen, indem wir hier zusammenwirken.
Den Initiatoren und vor allen Dingen dem Preisträger einen Dank und einen herzlichen Glückwunsch für die geleisteten Arbeiten. Wir sehen uns auf der Tagung wieder. Ich freue mich auf den Austausch und die Gespräche. Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Vielen herzlichen Dank.
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