Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/29/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht hier heute um Nachhaltigkeit, und zwar um Nachhaltigkeit als Richtschnur der deutschen Politik. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie legt dafür quasi den roten Faden fest. Sie ist die konkrete Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Das Gute an dieser Strategie ist: Sie macht Erfolge sichtbar. Aber sie zeigt auch sehr klar, wo die Herausforderungen am größten sind und wo wir besser werden müssen. Dass es so eine Strategie in dieser Art und Weise gibt, ist weltweit wirklich beispielgebend. Die soziale und ökologische Transformation ist ein ganz zentraler Baustein für nachhaltige Entwicklung. Aber auch sie steht vor großen Herausforderungen; wir haben es hier im Parlament diskutiert. Globale Krisen, der Klimawandel, die Coronapandemie, die Auswirkungen des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine, das alles verstärkt sich gegenseitig und bringt auch das, was wir an Fortschritt schon erreicht haben, inzwischen wieder ins Stocken. Es zeigt sich deutlicher denn je: Wir müssen gemeinschaftlich handeln. Solidarität ist der Schlüssel zur Umsetzung der Agenda 2030. Es geht darum, ein besseres Leben für alle Menschen auf der Welt zu organisieren, ohne dass wir dabei unseren Planeten ruinieren. ({0}) Die Bürgerinnen und Bürger können nicht mehr alleine mit nationalen Gesetzen vor den Folgen des globalen Klimawandels geschützt werden. Unsere Ernährungssicherheit, unsere Energieversorgung, unsere Arbeitsbedingungen, unsere Zukunft hängen davon ab, dass wir gemeinsam als internationale Gemeinschaft hier Lösungen schaffen. Das heißt im Umkehrschluss: Nachhaltige Entwicklung in Deutschland ist nur dann möglich, wenn wir uns global dafür einsetzen. Und das umfasst drei Ebenen: in Deutschland, durch Deutschland in multilateralen Bündnissen und mit Deutschland in bilateraler Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern. Genau das treibt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit voran. Durch internationale Allianzen und Kooperationen mit Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft trägt das Entwicklungsministerium weltweit zu strukturellen Veränderungen bei, und wir arbeiten gemeinsam mit den Partnerländern an Lösungen für die dringendsten Herausforderungen. Dazu gehört ohne Zweifel die Transformation hin zu Klimaneutralität. Wir brauchen eine globale Energiewende, bei der gerechte Übergänge und gute Arbeit sichergestellt werden. Dafür ist international der Begriff „Just Transition“ gefunden worden. Es ist keine Frage: Eine klimagerechte Wirtschaft bei steigendem Energiebedarf zu schaffen, ist ein immenser Kraftakt. Das gilt hier für uns in Deutschland, das gilt aber noch mehr für unsere Partnerländer. Mir ist wichtig, dass wir diesen Übergang zu Klimaneutralität sozial gerecht gestalten. Klimaschutz gelingt nur mit sozialer Sicherheit. ({1}) Ganz konkret bedeutet das, dass ich als Entwicklungsministerin unser Engagement für saubere und für sichere Energie ausbauen werde, um eine sichere Zukunft für alle Menschen zu ermöglichen. Wir unterstützen unsere Partnerländer dabei, gute, klimagerechte Beschäftigung zu schaffen und leistungsfähige soziale Sicherungssysteme zu stärken. Wir treiben eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft und eine nachhaltige Umgestaltung der Finanzwirtschaft voran, und wir helfen armen Ländern dabei, sich besser an den Klimawandel anzupassen, die Artenvielfalt, die natürlichen Lebensgrundlagen von uns allen zu schützen. Wir setzen uns auch dafür ein, Städte klimagerechter zu machen, mit lebenswertem Wohnraum für alle Menschen. Beispiele, wie das funktioniert, sind die Just Energy Transition Partnerships, wie wir sie im Rahmen der G 7 mit Südafrika auf den Weg gebracht haben, oder die bilateralen Partnerschaften. Ich war ja bereits in Ländern wie zum Beispiel Ruanda. Auch Indien oder die Côte d’Ivoire sind Partner, mit denen wir solche Partnerschaften anstoßen. Im Rahmen dieser Partnerschaften unterstützen wir die Länder beim Kohleausstieg und dem Aufbau von alternativer Energiegewinnung. Dabei gilt es, sozial gerechte Strukturen aufzubauen, die auch wirklich alle Beteiligten einbeziehen. So können dann wirklich lokale Wertschöpfungen, Ausbildungsmöglichkeiten und qualifizierte Arbeitsplätze in einer Zukunftsindustrie geschaffen werden. Das macht die Länder schrittweise unabhängiger von fossilen Energiequellen, von einseitigen Lieferbeziehungen. Es können darüber hinaus noch Exporterlöse erzielt werden. Das ist ein Gewinn für soziale Gerechtigkeit und für Klimaschutz. Instrumente wie diese Energiepartnerschaften tragen direkt zu den Prinzipien der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bei. Denn es gilt, jetzt die nötigen Investitionen zu tätigen. Es gilt, jetzt die Weichen zu stellen für widerstandsfähige und nachhaltige Gesellschaften weltweit. Sozial gerechte Gesellschaften, in denen eine gleichberechtigte Teilhabe am politischen, am wirtschaftlichen Leben für alle Menschen möglich ist. Und zwar nicht nur, weil das gerecht ist, sondern auch, weil die Ergebnisse dann deutlich besser sind. Kurz gesagt: Deutschland nimmt seine internationale Verantwortung wahr. Die Bundesregierung setzt sich für eine soziale, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung ein in Deutschland und weltweit – nicht trotz der vielen Herausforderungen, sondern weil diese gezeigt haben, dass globale Krisen nur global gelöst werden können. Klimawandel, Pandemie, Konflikte und Kriege dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern ihre Ursachen müssen gleichzeitig angegangen werden. Mehr denn je ist es notwendig, die Ziele der Agenda 2030 als internationale Gemeinschaft zu erreichen. Das Festsetzen von Zielen, das Beschließen von Maßnahmen ist dabei nicht genug. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, um grundlegende, strukturelle Veränderungen zu erwirken – und zwar jetzt. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie muss dazu wirksam und verbindlich beitragen, und das tut sie. Herzlichen Dank. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Felix Schreiner. ({0})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Schulze, auch unsere Fraktion gratuliert Ihnen sehr herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wenn wir heute zur Nachhaltigkeitsdebatte im Deutschen Bundestag zusammenkommen, dann lassen uns die furchtbaren Bilder von dem blutigen Krieg in der Ukraine natürlich nicht kalt. Wir sehen jeden Tag – und es wird uns jeden Tag aufs Neue bewusst –, dass sich unsere Tagesordnung geändert hat und wir im Deutschen Bundestag über Maßnahmen entscheiden müssen, die wir uns alle vor einem Jahr noch nicht hätten vorstellen können. Inflation, Ukrainekrieg, steigender Zins – das sind die Realitäten, mit denen wir uns zu beschäftigen haben. Deshalb sind die Debatten über Maßnahmen, mit denen wir die Menschen in unserem Land und die heimischen Betriebe entlasten, richtig. Trotz oder gerade wegen dieser Themen und dieser Herausforderungen ist es heute wichtig, dass wir langfristige Themen nicht aus dem Blick verlieren und sie ganz bewusst in den Mittelpunkt der Debatte hier im Deutschen Bundestag stellen. ({0}) Der Dreiklang aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem muss auch in Krisenzeiten nachhaltig miteinander in Einklang gebracht werden. Denn zur Wahrheit gehört: Wir erleben einen Klimawandel, die Zerstörung von Lebensräumen und einen fast unersättlichen Ressourcenhunger. Aber gleichzeitig stellen wir fest, dass fast alle Regierungen der Welt eine Abkehr von solider und generationengerechter Haushalts- und Finanzpolitik vornehmen. Lassen Sie uns also zu Beginn dieser Debatte uns selbst fragen, warum wir zu sehr an das Heute denken und für das Heute leben, warum unser Land so sehr von der Substanz zehrt und warum so wenig an das Morgen gedacht wird. Wir müssen unsere Verhaltensweisen selbst infrage stellen. Das muss am Anfang aller Bemühungen stehen, wenn wir es ernst meinen mit der Nachhaltigkeit in diesem Land. ({1}) Wir müssen lernen, wie wir gerade in Krisenzeiten Politik wieder stärker vom Ende her denken. Das beste Beispiel dafür ist die Einhaltung der Schuldenbremse. 2009 auf den Weg gebracht, hat sie 2014 den Weg für die erste schwarze Null seit 45 Jahren geebnet. ({2}) Es ist nicht akzeptabel, wenn wir auf Kosten künftiger Generationen leben und ihnen einen Schuldenberg hinterlassen, den diese Generationen nie mehr abtragen können. ({3}) Zur Wahrheit gehört auch, dass wir uns gewünscht hätten, dass wir – wie in den vergangenen Jahren – eine Nachhaltigkeitswoche im Deutschen Bundestag durchführen, wie es auf Antrag der Unionsfraktion im Jahr 2020 der Fall war. Die neue Mehrheit in diesem Haus hat die Auffassung vertreten, dass eine dreistündige Debatte reicht. Drei Stunden für dieses Thema, kann das Ihr Ernst sein? ({4}) – Gut, jeder blamiert sich selbst am besten. Sie haben gehört: Der AfD hätte eine Stunde gereicht. ({5}) Weil Sie dieses Thema nicht ernst nehmen, können wir Sie bei diesem Thema schon gar nicht ernst nehmen. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. ({6}) Ich finde es auch bedauerlich, dass Sie keinen Antrag vorgelegt haben, so wie das früher immer der Fall war. Wir als Unionsfraktion haben einen Antrag ausgearbeitet. Wir legen ihn heute vor. Sie können ihn gerne mit unterstützen. Aber Sie haben gar nicht zugelassen, dass wir über Anträge debattieren. Um die nachhaltige Entwicklung krisenfester zu machen, müssen wir auch über kurzfristige Maßnahmen in vielen Bereichen sprechen und sie anstoßen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, schnellstmöglich wieder zu einer soliden Finanzpolitik zurückzukehren und die Schuldenbremse einzuhalten. ({7}) Erteilen Sie eine klare Absage an alle in Ihrer Koalition, die in Wahrheit nur darauf warten, die Schuldenbremse endlich außer Kraft zu setzen! Das ist nicht unser Weg. Das ist mit der Union nicht zu machen. ({8}) Wir müssen unsere Infrastruktur stärken. Dabei geht es nicht nur um den Bereich Verkehr. Es geht auch um Energie, um Wasser. Es geht um Abwasser. Es geht um Breitband. Es geht um die Luftreinhaltung, und es geht um die Abfallwirtschaft. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Es hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun, wenn die Ampelregierung das erfolgreiche Programm „Investitionspakt Sportstätten“ nicht weiterführt. Es hört sich wie ein kleines Projekt an, ist aber der Garant für viele Städte und Kommunen, dass eine gut ausgebaute, öffentliche, nachhaltige Infrastruktur ermöglicht wird. Auch das gehört zur Wahrheit: Sie kürzen die Mittel solcher Programme, weil sie Ihnen nicht in den Kram passen. ({9}) Ein weiterer Punkt für uns ist die Sicherstellung der Ernährung. Wir müssen die regionalen Produkte und die Produktion stärken. Aber wir müssen auch die Vielfalt von Nutzpflanzen erhalten und die Züchtung von klimaresilienten Sorten fördern. Wir alle erleben, dass wir die Rahmenbedingungen verbessern müssen, um der Verschwendung von Lebensmitteln besser entgegenzuwirken. Auch da setzen wir auf die Nutzung von Möglichkeiten digitaler Technologien. Es kann nicht sein, dass in diesem Land, das so reich ist, immer noch so viele Lebensmittel Tag für Tag verschwendet und weggeschmissen werden. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn nicht im Deutschen Bundestag, wo ist denn dann eigentlich der richtige Ort, um Debatten über ein gutes Morgen und darüber zu führen, wie wir die langen Linien gemeinsam in die Tagespolitik umsetzen können? Wir Abgeordnete haben es doch selbst in der Hand. Wir können doch entscheiden, ob wir das Thema Nachhaltigkeit auf die Agenda setzen. Wir entscheiden darüber, ob es nur ein Randthema ist und wir der Regierung zuschauen, ob sie die 17 SDGs umsetzt oder nicht. Es kann doch nicht unser Anspruch als Parlamentarier im Deutschen Bundestag sein, dass wir dieses Thema nicht in den Mittelpunkt der Debatte setzen. ({11}) Nachhaltigkeit darf keine Floskel sein. Nachhaltigkeit ist eine Frage der politischen Überzeugung. Es ist aber auch eine Frage der politischen Haltung, meine Damen und Herren. Auch deshalb führen wir heute diese Debatte mit Ihnen aus ganzer Überzeugung. Herzlichen Dank. ({12})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Dr. Bettina Hoffmann. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004756

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut und wichtig, dass wir heute diese Debatte zur Nachhaltigkeit führen. Ein Anlass ist die Woche der Nachhaltigkeit. Wir alle wissen aber: Was wir eigentlich brauchen, sind 52 Wochen der Nachhaltigkeit im Jahr. ({0}) Wir stecken tief in einer globalen Nachhaltigkeitskrise. Artensterben, Klimakrise, Umweltvergiftung und Vermüllung – das sind Symptome. Folgen sind auch die Flucht vieler Menschen und am Ende Kriege um Rohstoffe und um Land. Es liegt in unser aller Verantwortung: Wir müssen und können die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen. Dafür müssen wir unsere Anstrengungen aber deutlich verstärken, und das ist das Ziel der Bundesregierung. ({1}) Doch die Wirklichkeit holt uns ein. Die roten Linien unserer planetaren Grenzen sind bereits überschritten. Unsere natürlichen Lebensgrundlagen sind mehr denn je in Gefahr. Das Pariser Abkommen 2015 war sicher ein historisches Ereignis, erst recht unter dem heutigen Blickwinkel. Aber der weltweite Treibhausgasausstoß ist seitdem nicht gesunken. Hitze, Dürre, Hochwasser und Extremwetter gibt es immer häufiger. Das Artenaussterben ist nicht gestoppt – ganz im Gegenteil. Die weltweite Verschmutzung von Umwelt und Ozeanen mit Plastik und Schadstoffen nimmt immer größere Ausmaße an. Die Covid‑19-Pandemie hat uns immer noch im Griff. Weitere Pandemien stehen vor der Tür. Und jetzt noch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Er ist auch ein Angriff auf die mit der Weltgemeinschaft vereinbarten Nachhaltigkeitsziele: von der Verletzung der Menschenrechte über den Einsatz von Lebensmittel- und Energielieferungen als erpresserische Waffe bis hin zum Abfackeln von Erdgas zulasten von Klima und Umwelt. Die großen Krisen unserer Zeit fordern uns wirklich heraus. Aber es muss spätestens jetzt allen klar sein: Wir müssen schneller, komplexer und international abgestimmter agieren, nicht ein Problem nach dem anderen lösen, sondern umfassend im Sinne aller 17 SDGs. ({2}) Leider zwingen uns heute noch die Fehler der Vergangenheit, Kohlekraftwerke aus der Reserve zu holen, LNG-Lieferungen zu organisieren und sogar die letzten Atomkraftwerke über den Winter in Bereitschaft zu halten – gegen alle Regeln der Nachhaltigkeit. Das ist bitter. Aber wir lassen uns nicht beirren: Mit Energieeffizienz, Energieeinsparen und einem beherzten Ausbau der Erneuerbaren gehen wir voran und holen unser Land aus der Abhängigkeit von fossilen Energien. ({3}) Wir sorgen dafür, dass niemand in Energiearmut fällt oder Strom- und Gassperren ausgesetzt ist. Wir schützen Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger vor explodierenden Preisen. Das stärkt den sozialen Zusammenhalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregierung ist angetreten als Zukunftsbündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Wir nehmen die internationale Verantwortung wahr und bringen die Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland voran – trotz oder gerade wegen der großen Herausforderungen. Wir konzentrieren uns auf sechs wichtige Transformationsfelder. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen, erstens am Transformationsfeld „Kreislaufwirtschaft“: Ungefähr die Hälfte aller globalen Treibhausgasemissionen, 90 Prozent des Artenaussterbens und auch die Wasserknappheit sind auf die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen zurückzuführen. Es geht deshalb darum, mit unseren Ressourcen möglichst schonend umzugehen, sie sparsam einzusetzen und so lange wie möglich im Kreislauf zu halten. Die Bundesregierung hat sich daher das Ziel gesetzt, den primären Rohstoffverbrauch zu senken und geschlossene Stoffkreisläufe zu schaffen. In einer nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie werden wir gemeinsam mit allen Akteuren die bestehenden rohstoffpolitischen Strategien bündeln. Auch die Flut von Einwegplastik, die noch viel zu oft in der Umwelt landet, soll so bewältigt werden. Das führt mich zum Transformationsfeld „schadstofffreie Umwelt“. Saubere Luft, gesunde Gewässer und intakte Böden sind überlebenswichtig für Mensch und Natur. Deshalb unterstützt die Bundesregierung das von der EU‑Kommission ausgerufene Null-Verschmutzung-Ziel und ergreift auf nationaler Ebene Maßnahmen für eine giftfreie Umwelt. ({4}) Deshalb bereiten wir einen Aktionsplan gegen hormonell schädliche Stoffe vor. Deshalb suchen wir nach Lösungen, um den Einsatz schädlicher und langlebiger Chemikalien wie PFAS zu reduzieren. Deshalb stimmen wir eine Nationale Wasserstrategie ab, die unter anderem dazu beitragen soll, dass unsere Seen, Flüsse und Meere wieder gesünder werden. Deshalb haben wir erstmals einen Meeresschutzbeauftragten der Bundesregierung benannt. Er wird auch die internationalen Bemühungen um ein Abkommen gegen die Vermüllung der Meere vorantreiben. Unser Handeln muss auch und gerade in Krisenzeiten dazu beitragen, dass wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen besser schützen. Das verlangt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, aber auch die schlichte Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln. Wir müssen und werden die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung insgesamt modernisieren. Wir wollen die Verbindlichkeit von Nachhaltigkeitszielen erhöhen, sei es im Klima- und Biodiversitätsschutz, bei den Bürgerrechten und in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie selbst. Wir werden außerdem auf Fortschritte beim SDG-Gipfel 2023 drängen. Nur mit einer ambitionierten Umsetzung der Agenda 2030 werden die Lebens- und Entwicklungschancen dieser und künftiger Generationen besser als bisher gewahrt und die Krisen unserer Zeit bewältigt. Es kann gelingen. Das globale Engagement, besonders junger Menschen, für eine lebenswerte Zukunft stimmt mich sehr zuversichtlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Nachhaltigkeit heißt, die aktuellen Krisen anzugehen und dabei die langfristigen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Woche der Nachhaltigkeit ruft das in Erinnerung. Daran will ich mit Ihnen arbeiten, nicht nur in dieser Woche, sondern in allen kommenden Wochen. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich könnte zu Protokoll geben, ab und zu. – Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kollegen! Wir debattieren heute über die sechs Prinzipien der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie behauptet, mit der Neufassung der Prinzipien eine bessere Übereinstimmung mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen gebracht zu haben. Aber ist das wirklich der Fall? Die Prinzipien fordern unter anderem den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, weiterhin den Schutz der Umwelt und die Nutzung erneuerbarer Naturgüter nur im Rahmen ihrer Regenerationsfähigkeit. So weit, so gut. Allerdings stellt sich dann natürlich die Frage, wie Sie zum Beispiel Ihre Energiepolitik begründen, bei der Sie die Absicht haben, Tausende Hektar Fläche in industrielle Brachlandschaften zu verwandeln. Sind Wälder denn keine natürliche Lebensgrundlage? ({0}) Doch, das sind sie! Sind Wiesen und Weiden etwa keine Umwelt? Doch, ja, das sind auch sie. Und wie sieht eigentlich die natürliche Regenerationsfähigkeit eines verdichteten Ex-Waldstückes aus, auf dem nun eine 160 Meter hohe und Tausende Tonnen schwere Stahlbetonsäule, genannt „Windrad“, prangt? ({1}) Da ist dann keinerlei Regenerationsfähigkeit mehr gegeben; ergo widerspricht Ihr totaler und radikaler Ausbau der fälschlich als „erneuerbar“ bezeichneten Energien dem Nachhaltigkeitsprinzip 3. ({2}) Des Weiteren fordert Prinzip 3, mit nicht nachwachsenden Naturgütern so sparsam wie möglich umzugehen. Warum aber setzt dann die Bundesregierung auf diejenigen Energieerzeugungsmethoden wie Windindustrie und PV‑Anlagen, die bei größtmöglichem Materialeinsatz die geringsten energetischen Ausbeuten erzielen? ({3}) Beides widerspricht natürlich dem Nachhaltigkeitsziel 7 der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für eine bezahlbare, zuverlässige, nachhaltige und moderne Energieversorgung. ({4}) Neu ist das nicht; ich habe Ihnen das von dieser Stelle aus schon vielfach gesagt. Die aber von Ihnen, der Regierung, und leider auch von den beiden anderen Oppositionsparteien favorisierte Energiepolitik mittels wetter-, tages- und jahreszeitenabhängiger Energien führt zu einer teureren, unzuverlässigen, archaischen und damit eben nicht nachhaltigen Energieversorgung. ({5}) Das führt dann natürlich dazu, dass Ihre Energiepolitik auch den Prinzipien 4 und 5 widerspricht, dass mit dieser teuren Energie kein nachhaltiges Wirtschaften mehr möglich ist bzw. diese Verteuerung den sozialen Zusammenhalt gefährdet, statt ihn zu verbessern. ({6}) Ja, die ersten Städte bereiten Wärmehallen vor; zahllose Familien verarmen oder frieren bereits. Und Sie nennen diese Politik ernsthaft „nachhaltig“? Wirklich? ({7}) – Die werden im Winter wieder funktionieren, Herr Lenkert; keine Sorge. ({8}) Kommen wir noch einmal zur Einhaltung der planetaren Grenzen. Es ist eine der erfolgreichsten Lügen, dass Rohstoffe durch die Nutzung verbraucht werden. Das ist nicht der Fall. Diese Güter werden gebraucht und sind auch nach Beendigung des Gebrauches als Materie grundsätzlich vorhanden. ({9}) Die uns bekannte Chemie und Physik ist technisch ziemlich problemlos in der Lage, alles, was nicht mehr benötigt wird, wieder in nutzbare Stoffe zu wandeln. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie fordert das in Ihrem Prinzip 3 explizit. Nur: Dafür benötigt man sehr, sehr große Mengen an sehr preiswerter Energie. Und hier schließt sich der Kreis: Durch die falsche Energiepolitik, die auf Einsparungen setzt, auf Energieerzeugungsmethoden, die nur sporadisch und dann auch nur sehr begrenzt Energie liefern und dafür ein Vielfaches an Flächen und Materialaufwand benötigen, sind die für die Nachhaltigkeit nötigen Mengen an Energie weder erzeugbar noch bezahlbar. ({10}) Damit verhindern Sie das Schließen der Stoffkreisläufe. Damit verhindern Sie, dass Stoffe und Materialien auf der Rohstoffseite wieder eingesetzt werden können, weil Sie die Wiedergewinnung der Stoffe und Materialien verteuern. Aber damit fördern Sie unsere Abhängigkeit von autokratischen Regimen wie China, Saudi-Arabien, Katar, Aserbaidschan oder auch Russland. Anstatt in der Energiepolitik Verzicht und Not als Leitmotiv zu wählen, wäre es angebracht, den Aufbruch in ein Energiezeitalter zu beginnen: Mengen über Mengen an sehr preiswerter Energie, um all die guten Vorsätze der Agenda 2030 in die Realität umzusetzen. ({11}) Eine Begrünung der Wüsten und eine wirtschaftliche Entwicklung in den schwächsten Regionen dieser Welt, das wäre möglich. Und ja, nur wenn es Deutschland wirtschaftlich gut geht, können wir auch anderen Nationen überhaupt noch beistehen, was Sie so gern tun. ({12}) Aber es geht Deutschland nicht mehr gut. Sie befinden sich also mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie im Konflikt mit sich selbst und mit der Agenda 2030, und das alles nur, um der Durchsetzung Ihrer ideologischen Klassenkampfziele zu genügen. Die Versorgungssicherheit grüner Ideologieberufe und grüner Vorfeldorganisationen steht bei Ihnen über der Versorgungssicherheit der Nation. ({13}) Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist bis zur Unkenntlichkeit pervertiert. Die Alternative für Deutschland versteht den Begriff der Nachhaltigkeit in seinem ureigenen konservativen Bewahrungsgedanken: ressourcenschonend, effizient und dem Wohl eines selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Individuums verpflichtet. Wir wehren uns sowohl gegen Ihre planwirtschaftliche Transformation als auch gegen Ihre staatliche Umerziehung. ({14})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Christoph Meyer. ({0})

Christoph Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004820, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In einer Zeit, in der die Politik auf Bundesebene, auf Landesebene, auf europäischer Ebene seit Monaten um milliardenschwere Entlastungspakete ringt, in einer Woche, in der wir sehen, dass in Großbritannien die Grenzen der eigenen Schuldenaufnahmefähigkeit getestet werden, an einem Tag, an dem der Haushaltsausschuss über den Haushalt 2023 diskutiert und – auch das gehört dazu – der eine oder andere Bundestagsabgeordnete immer noch darüber schwadroniert, dass der Staat ja bei der Bundesbank Kredite aufnehmen könne und man Kreditrückzahlungskonditionen politisch festlegen könne, sind wir als FDP der Auffassung, dass wir in einer Nachhaltigkeitsdebatte zunächst erst mal über fiskalische Resilienz und finanzpolitische Stabilität diskutieren müssen. ({0}) Wir werden in der jetzigen Debatte sicherlich noch einiges über die Grundprinzipien von Nachhaltigkeit hören. Es ist, glaube ich, klar, dass Disziplin und Priorisierung dazugehören: Priorisiere und nutze nur so viel, wie du tatsächlich brauchst, handle mit langfristiger Perspektive, und hinterlasse deinen Kindern keine schweren Hypotheken! Wir als FDP haben deshalb in diesem Koalitionsvertrag die Schuldenbremse reinverhandelt; dazu stehen wir auch nach wie vor. ({1}) – Da kann die Union klatschen. Aber es wäre schön, wenn die CDU ihren Kollegen aus Bayern dann auch klarmacht, dass auch sie dafür sein sollten. Der eine oder andere aus Bayern scheint das ja nicht ganz richtig verstanden zu haben. ({2}) Wir erleben – auch das ist in der Debatte, glaube ich, noch ein bisschen zu kurz gekommen – eine ökonomische Zeitenwende. Die Zeit des Nullzinses ist vorbei. Und wenn wir über Schuldentragfähigkeit sprechen, müssen wir uns auch vergegenwärtigen, dass wir im Jahr 2023 30 Milliarden Euro Zinskosten tragen müssen. Das ist dann im Vergleich zu 2021 ein Volumen, das die gesamten Etats des Umweltministeriums, des Außenministeriums und des Familienministeriums umfassen würde. Das macht die Dimension deutlich. Deswegen ist es wichtig, dass wir als Koalition – wir als FDP und das Finanzministerium vorneweg – die Schuldenbremse auch im Jahr 2023 verteidigen, und zwar nicht, damit irgendwelche allgemeinpolitischen Vorhaben finanziert werden können, sondern damit wir auf der einen Seite in der Krise das Nötige machen, auf der anderen Seite aber solide haushalten und die Zukunftsfähigkeit dieses Landes sichern. ({3}) Die Schuldenbremse ist von daher auch ein Nachhaltigkeitsförderer. Die Schuldenbremse wird in den nächsten Jahren die Politik zwingen, zu priorisieren. In allen Einzelplänen, in allen Bereichen werden wir den Gürtel ein Stück weit enger schnellen müssen, weil wir nur so die Regeln einhalten werden. Das wird nach zehn Jahren ungezügelten Wachstums, was Etatansätze angeht, was Stellenansätze angeht, auch sehr sinnvoll sein. ({4}) Wir werden deswegen Planungsprozesse beschleunigen, zum Beispiel bei LNG-Terminals. Wir finden es eine sehr gute Entwicklung, dass jetzt schnell LNG-Terminals gebaut werden; das wurde ja in den letzten Jahren versäumt. Wir werden Bürokratie abbauen und digitalisieren. Und wir werden wirkungsorientierte Haushaltspolitik einführen, damit das Geld effizienter eingesetzt werden kann. Auch das gehört zur Wahrheit dazu: Der Staat alleine wird nicht all die Ziele, die hier genannt wurden, aus eigener Leistung schaffen, sondern wir brauchen private Investitionen, private Problemlöser. Auch dafür steht die FDP, dass das in den nächsten Jahren nicht zu kurz kommt. ({5}) Wir sind – bei aller Kritik – in Deutschland, was die ökologische Nachhaltigkeit, was den Klimaschutz angeht, schon weltweit führend. ({6}) Was die finanzielle Nachhaltigkeit angeht, haben wir noch ein wenig Aufholbedarf. Wir werden dafür sorgen, dass die Ampel auch das nicht aus dem Blick verliert. Ich danke Ihnen. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Bernd Riexinger. ({0})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zukunft der Menschheit hängt nach einer aktuellen Studie des Club of Rome von fünf Kehrtwenden ab: Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen, Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems, Übergang zum Einsatz sauberer Energie. Das ist Nachhaltigkeit im umfassenden Sinne. ({0}) Damit umschreibt der Club of Rome prägnant, dass wir uns in einer geschichtlichen Phase multipler Krisen des Kapitalismus befinden, die sich gegenseitig verschränken und verschärfen. ({1}) Ohne eine radikale Änderung der Wirtschafts- und Lebensweise werden diese Krisen nicht gelöst werden. ({2}) Wir wissen, dass wir nur noch 15 Jahre Zeit haben, um die Weichen radikal umzustellen. Für den Club of Rome ist Gleichheit und Gerechtigkeit der Königsweg für eine lebenswerte Zukunft, also ungefähr das pure Gegenteil von dem, was die Ampelregierung macht und die größte Oppositionspartei gemacht hat. Von einer Beendigung der weltweiten Armut kann keine Rede sein; aber die bisherige Politik schafft es nicht einmal in einem der reichsten Länder der Welt, Armut und Kinderarmut erfolgreich zu bekämpfen. ({3}) Die Ungleichheit ist während der Pandemie noch größer geworden. Sie schaffen es nicht einmal, eine lächerliche Übergewinnsteuer auf den Weg zu bringen oder in irgendeiner Form Reiche und Vermögende an den Kosten der Krisen zu beteiligen. Von der Forderung des Club of Rome, dass die reichsten 10 Prozent die Investitionen für Klimaschutz aufbringen müssen, sind Sie weiter entfernt als die Erde vom Mond. Statt die Menschen zu entlasten, die es dringend benötigen, machen Sie ein Inflationsausgleichsgesetz, bei dem die am meisten entlastet werden, die ohnehin die höchsten Einkommen haben. ({4}) Wir sind eines der wirtschaftlich stärksten Länder, bei denen die Frauen immer noch durchschnittlich 20 Prozent weniger verdienen als die Männer. Wann wird endlich der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ eingelöst? ({5}) Beim Übergang zum Einsatz sauberer Energien hat Deutschland längst seine Vorreiterrolle verloren. Statt der Forderung von Fridays for Future nachzugehen, nämlich einen Klimaschutzfonds mit einem Umfang von 100 Milliarden Euro einzurichten, rüsten Sie lieber die Bundeswehr um 100 Milliarden Euro auf. Sie schaffen es nicht einmal, bei Energieknappheit ein Tempolimit zu verabschieden. Von einer nachhaltigen Mobilitätswende, die diesen Namen verdient, ganz zu schweigen. Für einen sozial-ökologischen Systemwechsel müssen Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit zusammen gedacht werden. Dazu sind wir bereit. Danke schön. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Rednerin: für die Bundesregierung die Staatsministerin beim Bundeskanzler, Sarah Ryglewski. ({0})

Sarah Ryglewski (Gast)

Politiker ID: 11004622

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der amerikanische Professor Jeffrey Sachs hat nachhaltige Entwicklung als Man-to-the-Moon-Projekt beschrieben. Der Mondflug unserer Generation – so Professor Sachs; ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – ist die nachhaltige Entwicklung auf der Erde. … Um … Erfolg zu haben, bedarf es eines nicht weniger mutigen Engagements als beim Mondflug. Aus dem Weltall wirkt unsere Erde wie ein großes Raumschiff. So hat es der deutsche ESA-Astronaut Matthias Maurer in diesem Jahr bei seiner Rede beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos beschrieben. Er war dabei von der Internationalen Raumstation zugeschaltet; das ändert die Perspektive. Und er hat hinzugefügt: Die Crew, die Menschheit sollte zusammenarbeiten, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Dieses gemeinsame Anpacken ist heute wichtiger denn je, gerade auch vor dem Hintergrund des brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Natürlich hat dieser Krieg – es wäre illusorisch, zu denken, dass es anders wäre – Auswirkungen auf die Frage, wie wir unsere SDG-Ziele erreichen können. Aber er macht auch noch mal sehr deutlich, dass eigentlich kein Weg daran vorbeiführt, diese Ziele zu verfolgen. Wir merken gerade, wie die Abhängigkeit von fossiler Energie uns in zweierlei Hinsicht nachhaltig beeinflusst: Wir werden uns zum einen der Endlichkeit bewusst, zum anderen müssen wir uns, wenn es um Kompensation geht, im Zweifelsfall immer wieder von Staaten abhängig machen, die unsere Werte nicht teilen. Die SDGs geben uns auch in der Langfristperspektive eine Möglichkeit, aus diesem Dilemma herauszukommen; denn mit den 17 Sustainable Development Goals der Agenda 2030 haben sich alle Staaten zur gemeinsamen Verantwortung bekannt, für gute Lebensperspektiven heutiger und künftiger Generationen zu sorgen. Internationale Zusammenarbeit ist der Schlüssel zur Lösung unserer globalen Probleme. ({0}) Schon seit 2002 hat Deutschland eine Nachhaltigkeitsstrategie; sie ist der Rahmen für die Umsetzung der Agenda 2030 in Deutschland und wurde zuletzt 2021 überarbeitet. Die Strategie enthält 75 konkrete Ziele sowie die sechs Nachhaltigkeitsprinzipien, über die wir heute sprechen. Die Ziele, aber auch die Prinzipien zeigen: Nachhaltigkeit ist für alle Politikbereiche von großer Bedeutung. Das erste Nachhaltigkeitsprinzip fordert, nachhaltige Entwicklung als Leitprinzip in allen Bereichen und bei allen Entscheidungen anzuwenden. Bundesministerin Svenja Schulze und die Parlamentarische Staatssekretärin Hoffmann haben das ja auch sehr eindrücklich für ihre Politikbereiche dargestellt. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Wir müssen bei diesem Thema richtig auf die Tube drücken. Wir haben nur noch sehr, sehr wenig Zeit, um die SDGs zu erreichen. Wir müssen hier eine Schippe drauflegen. Daher hat sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Wir wollen die 17 SDGs als Richtschnur unserer Politik umsetzen. Hierfür werden wir die Nachhaltigkeitsstrategie konsequent weiterentwickeln. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundeskabinett hat mich am 24. August mit der Zuständigkeit für nachhaltige Entwicklung betraut. Zusammen mit allen Bundesministerien arbeite ich im Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung. Wir wollen, dass Nachhaltigkeit tatsächlich zur Richtschnur der Politik der Bundesregierung wird. Dafür ist aus meiner Sicht zweierlei wichtig: Erstens. Alle Ministerien müssen im Ausschuss aktiv mitwirken und müssen ihn als ein Instrument nutzen, um ihre Politik an Nachhaltigkeit auszurichten. Das ist bis jetzt der Fall. Wir hatten eine erste sehr gute Sitzung, in der alle wirklich sehr committet waren; Helmut Kleebank nickt gerade, er war mit dabei. Denn das gehört dazu: Wir möchten Austausch haben, nicht nur in diesem Ausschuss, sondern zwischen Regierung und Parlament. Wir wollen Austausch nicht nur innerhalb der Regierung, sondern wir wollen aktiv auf Sie als Parlament zugehen. Deswegen richte ich gerne auch die Einladung an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich komme auch gerne zu Ihnen, um über das Thema zu diskutieren, weil wir eben aus der Blase herauskommen müssen. Wir wollen zweitens diesen Ausschuss auch als Strategieforum nehmen. Denn Nachhaltigkeit ist – das hat die Debatte hier gezeigt – ein gutes Thema, ein wichtiges Thema. Ich finde auch, es ist ein schönes Thema. Aber es darf kein Wohlfühlthema werden; auch das hat die Debatte gezeigt. Wir erleben doch am Ende, wenn es konkret wird, wenn es um die Frage geht, wie wir Politik genau ausrichten, dass wir Differenzen haben. Aber diese Differenzen müssen wir aushalten, diese müssen wir ausdiskutieren. Nur so schaffen wir wirklich Fortschritte im Bereich der Nachhaltigkeit. ({2}) Ich möchte insbesondere die sechs Transformationsbereiche hervorheben, die wir zum Schwerpunkt der Arbeit im Ausschuss in den kommenden Monaten machen wollen. Natürlich gehört dazu der Bereich „Klima und Energie“; das hat ja auch hier die Debatte geprägt. Es gilt aber auch für die Kreislaufwirtschaft, eine schadstofffreie Umwelt, nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, Bauen und Verkehr und natürlich immer wieder, wenn es um das Wohl der Menschen geht, die soziale Gerechtigkeit. Nach meiner Überzeugung ist die Transformation Deutschlands zu einer nachhaltigen Gesellschaft die beste Antwort auf die weltweite Klima-, Energie- und Rohstoffkrise, die wir derzeit erleben; und damit ist sie wichtiger denn je. ({3}) Aber Transformation – wir reden immer so viel darüber – muss auch konkret stattfinden. Hier müssen wir an einem Strang ziehen. Deshalb freue ich mich sehr, dass ich am Montag in Vertretung für den erkrankten Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, das vom Nachhaltigkeitsrat koordinierte Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit starten durfte. Das Gemeinschaftswerk soll bundesweit eine Plattform sein für alle Aktivitäten im Bereich der Nachhaltigkeit, von den lokalen Nachhaltigkeitsinitiativen über Sportvereine, den Mittelstand, Kommunen bis hin zu DAX-Konzernen, die sich für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen. Auch hier geht es wieder darum: Wir müssen konkret werden. Wir müssen in der Politik sicherstellen, dass die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, damit Nachhaltigkeit auch gelebt werden kann, damit sie umgesetzt werden kann. Aber wir müssen auch eine Plattform schaffen, damit sie am Ende konkret stattfinden kann. Nachhaltigkeit ist – ich habe das vorhin gesagt – ein gutes Thema. Es zeigt sich auch, dass dieses Thema von vielen Akteuren mitgetragen wird. Das sehen wir gerade jetzt in der Europäischen Nachhaltigkeitswoche. In diesem Jahr gab es wieder mehr als 6 000 Aktivitäten in 25 europäischen Ländern, alleine in Deutschland 3 800. Ich möchte ganz deutlich sagen: Ganz herzlichen Dank an alle, die mitgemacht haben! ({4}) Ein herzliches Dankeschön geht an dieser Stelle auch an den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung für seine wichtige Arbeit in den vergangenen Jahren. Nach allem, was ich gehört habe, möchte er sich auch neu aufstellen, etwa in der Frage, wie bei Gesetzgebungsvorhaben dafür gesorgt wird, dass das Prinzip Nachhaltigkeit umgesetzt wird. Ich freue mich da sehr auf den Dialog, den Diskurs und vielleicht auch auf einige Reibereien, wenn wir mal gesagt bekommen, hier sei etwas noch nicht umgesetzt worden. Aber genau darum muss es hier gehen: Wir müssen genauer hinschauen, wir müssen nachhalten und im Zweifelsfall dann auch nachbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss und möchte noch einmal bekräftigen: Die Bundesregierung wird sich weiter für eine nachhaltige Entwicklung einsetzen, ganz im Sinne des Koalitionsvertrags als Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Deswegen: Achten wir über Parteigrenzen hinweg darauf, dass wir mit unserem Wirken nicht nur den Bedürfnissen der heutigen Generation gerecht werden, sondern dass wir immer auch die Bedürfnisse der künftigen Generationen im Blick haben. Einen Satz möchte ich dann doch noch sagen, weil wir ja darüber gesprochen haben, dass es vielleicht auch einmal Differenzen gibt. Ich glaube, es gibt Schulden, die man vererben kann, es gibt aber auch Hypotheken, die man vererben kann, weil man an bestimmten Stellen nichts getan hat bzw. zu wenig investiert hat. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für CDU/CSU-Fraktion Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich heute damit beschäftigen, wie wir grundsätzlich mit langfristigen Themen hier im Deutschen Bundestag umgehen. Ich bezeichne das, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, folgendermaßen, und zwar als seriellen Alarmismus. ({0}) Was bedeutet serieller Alarmismus? Er bedeutet: Wir haben immer ein Thema; da herrscht Vollalarm – davon sind die Debatten hier voll, darum geht es in den Talkshows, an den medialen Lagerfeuern, in den Zeitungen –, ({1}) und alle anderen Themen fallen irgendwie hinten herunter. Gestern hat mich beim Besuch einer Schülergruppe eine Schülerin gefragt: Redet ihr eigentlich noch über Covid? Wir machen uns irgendwie Sorgen, was da im Winter passiert. Oder habt ihr nur noch ein Thema? – Meine Damen und Herren, es ist verständlich, dass wir uns momentan mit diesem großen Themenkomplex „Russland, Folgen des Krieges und Energiekrise“ beschäftigen; das ist auch sehr menschlich. Aber wenn Sie mal auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken: Gab es nicht immer irgendwie ein großes Thema, das viel, viel wichtiger war? Es hat irgendwann mal mit der Finanz- und Bankenkrise angefangen – die war dann ganz wichtig –, dann folgte die Eurokrise Teil eins, dann ist Fukushima hochgegangen, dann war die Eurokrise Teil zwei, dann haben wir nur über Migration geredet, dann hatten wir Trump, dann hatten wir noch den Brexit, und zum Schluss hatten wir Covid – immer ein großes Thema. Alle anderen Sachen sind dabei irgendwie hinten runtergefallen. ({2}) Jetzt will ich nicht sagen, dass da gar nichts gemacht worden ist; aber es ist nicht mit der genügenden Aufmerksamkeit gemacht worden. ({3}) Ich habe das gesehen, als ich mich 2018, als wir irgendwie sehenden Auges in die Situation hineingerannt sind, dass wir unsere Klimaziele nicht erreichen, gefragt habe: Wie konnte das eigentlich passieren? ({4}) Denn eigentlich gab es auch damals schon Strategien, eigentlich ist auch damals schon was gemacht worden, eigentlich hat man auch damals schon Sachen umgesetzt. Trotzdem war immer irgendetwas Wichtigeres zu tun, und immer war irgendein Thema entscheidender als das Thema „Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit“. ({5}) Wir brauchen das gar nicht auf das Thema Umwelt zu beschränken. Wir rennen momentan bei den Sozialversicherungssystemen gegen eine Wand. ({6}) Und ganz ehrlich: Wir wissen doch alle, dass die Abhängigkeit, die wir von Russland haben, ein Kindergeburtstag ist gegenüber der Abhängigkeit von China. Das heißt, meine Damen und Herren: Langfristige Themen, Themen der Nachhaltigkeit fallen irgendwie immer hinten runter. ({7}) Warum ist das so? Wir führen jetzt eine Debatte zum Thema Nachhaltigkeit – ein großes Dach für viele Themen. Meine Vorrednerinnen und ‑redner haben das schon beleuchtet, und das wird heute auch noch beleuchtet werden. Es geht eben nicht nur um Klimapolitik, nicht nur um Umweltpolitik, sondern es geht um Armut, es geht um Hunger, es geht um Gesundheit, es geht um Gleichstellung und viele, viele andere Themen. Aber jetzt fragen wir uns doch einmal: Wo fließt das in unseren politischen Alltag ein? Da gibt es erst einmal eine gute Nachricht. Die gute Nachricht ist: Die Vereinten Nationen haben sich auf 17 Ziele zur Nachhaltigkeit geeinigt. Wenn man weiß, wie schwierig es ist, auf dieser Ebene einen Konsens zu finden, dann erkennt man, dass es erst einmal wunderbar ist, dass das überhaupt möglich ist. Es gibt eine zweite gute Nachricht: Diese Ziele sind sogar mit Indikatoren, mit Kennzahlen untersetzt worden. Das heißt, Politik bleibt nicht im Ungefähren – „man müsste mal“, „man könnte mal“, „es muss besser werden“ –, sondern es gibt konkrete Indikatoren, wie man so etwas messen kann, beispielsweise, Herr Riexinger, beim Thema Armut die Zahl der Menschen, die weniger als 1,25 Dollar am Tag zur Verfügung haben. Es gibt Zahlen zu Frauen in Führungspositionen. Es gibt Zahlen zu Übergewicht, zu Rauchern und natürlich auch zur Erfüllung der Klimaziele. Diese Zahlen gibt es. ({8}) Die dritte gute Nachricht, meine Damen und Herren, ist: Diese Zahlen werden sogar gemessen, hier in Deutschland beispielsweise jedes Jahr vom Statistischen Bundesamt. Auch Eurostat misst die Zahlen. Die Vereinten Nationen geben jedes Jahr einen Bericht heraus, wie sich die ganze Sache weiterentwickelt. Aber hat das einen Einfluss auf unsere politische Tätigkeit hier? ({9}) Ist es so, dass wir morgens aufstehen und sagen: Hey, welches Nachhaltigkeitsziel nehmen wir uns heute mal vor? Woran arbeiten wir heute? Was machen wir dagegen, dass die Ampel – das wird mit einem Ampelsystem gemessen – bei der einen oder anderen Kennzahl auf Rot oder Gelb steht? – Nein, unser politisches Tagesgeschehen wird doch davon geprägt, dass wir versuchen, den Tag zu gewinnen, dass wir versuchen, abends unfallfrei ins Bett zu kommen, ({10}) und dass man vielleicht nebenher noch das eine oder andere erledigen kann. ({11}) Ich sage: Das ist kein Thema, meine Damen und Herren, nur von Opposition oder Regierung. Es geht uns alle an. Es ist übrigens auch kein Thema nur von Politik oder Medien. Es geht uns alle an, und da müssen wir alle uns in die Augen schauen und prüfen, was da passiert. Und ja, Frau Ryglewski, natürlich haben wir einen Staatssekretärsausschuss. Es stellt sich nur die Frage: Wieso ist das eigentlich nicht ein hochkarätiger Ministerausschuss, wenn das Thema so wichtig ist? Wieso ist dieser Staatssekretärsausschuss erst nach neun Monaten in Gang gesetzt worden und nicht früher? Ja, wir haben einen Rat für Nachhaltige Entwicklung. Da wird tolle Arbeit gemacht; die letzte Tagung war am Montag. Ja, wir haben auch einen Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung; die Kolleginnen und Kollegen sitzen hier und sind alle ganz, ganz engagiert. Aber hat das, was da besprochen wird, Auswirkungen auf das, was wir hier in Gesetze gießen? Ich sage ganz ehrlich: viel zu wenig. ({12}) Jetzt könnte ich sagen: In der Opposition ist Jammern genug, ich werfe ein paar Steine und mache alles schlecht. – Nein, das reicht nicht. Denn eines ist auch wichtig: Wir sind hier der Deutsche Bundestag, wir sind das Parlament. Wir haben es in der Hand, etwas zu ändern. Wir können dem Thema eine Bühne geben. Das machen wir heute in drei Stunden. Ich hätte mir an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr Leidenschaft in der Debatte gewünscht. ({13}) Wir machen das heute in drei Stunden, aber – da sitzt der Kollege Miersch; wir haben es vereinbart – wir wollten eigentlich eine Woche daraus machen. ({14}) Wir hätten hier die Gelegenheit gehabt, in einer Woche – genauso wie wir es bei den Haushaltsberatungen machen – jedes Nachhaltigkeitsziel zu besprechen, jeden Minister zu hören, die Oppositionsvorschläge zu hören. Wir hätten die Gelegenheit gehabt, das in die Öffentlichkeit zu bringen, worüber viele leider viel zu wenig wissen. Diese Gelegenheit haben wir verpasst. Das ist jetzt vergossene Milch; das wird nichts mehr. Ich werbe wirklich dafür, dass die Mehrheit es beim nächsten Mal anders macht und mit uns beschließt, dass wir eine Nachhaltigkeitswoche machen. Einen Satz gestatten Sie mir noch, Frau Präsidentin: Reden reicht nicht; es wird ja genug darüber geredet, dass es mal besser werden müsste. – Ich werbe sogar noch für ein weiteres Anliegen – das vielleicht ein bisschen als Gedankenfutter für die weitere Debatte –, nämlich dafür, dass wir genauso wie beim Haushaltsplan, bei dessen Aufstellung wir alle Haushaltskennzahlen in ein Dokument hineinschreiben, über das wir dann debattieren, alle Nachhaltigkeitskennzahlen in einem Nachhaltigkeitsplan zusammenfassen, dass wir uns dafür genauso wie für die Haushaltsberatungen zwei Wochen Zeit nehmen und dass wir dann die Regierung jährlich daran messen, ob die Ziele erfüllt worden sind oder nicht. Das wäre nachhaltig, und damit würden wir Nachhaltigkeit in den Deutschen Bundestag bringen. Herzlichen Dank. ({15})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Das war ein sehr langer letzter Satz, Herr Brinkhaus. ({0}) Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Tessa Ganserer. ({1})

Tessa Ganserer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005060, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freut es mich sehr, dass wir heute hier an diesem Platz zu prominenter Zeit über das Thema Nachhaltigkeit debattieren. Bei der Vorbereitung meiner Rede habe ich mir Gedanken gemacht, wie die Debatte wohl verlaufen wird. Ich habe mich ganz bewusst entschieden, nicht in ein parteipolitisches Klein-Klein zu verfallen, weil mir das Thema der nachhaltigen Entwicklung einfach viel zu wichtig ist. ({0}) Wie Bundesministerin Svenja Schulze und auch Staatssekretärin Bettina Hoffmann schon deutlich gemacht haben: Es geht hier um nichts Geringeres, als dafür zu sorgen, dass alle Menschen hier in Deutschland, aber auch auf dem kompletten Planeten ein gutes Leben in Würde führen können und dass wir das auch unseren Enkelkindern und Urenkelkindern ermöglichen müssen. ({1}) Dafür ist es notwendig, dass wir alle unsere Lebens- und Wirtschaftsweise so gestalten, dass dabei die ökologischen Belastungsgrenzen unseres Planeten nicht überschritten werden. Ich möchte an dieser Stelle positiv herausheben, dass wir hier eigentlich einen breiten parteipolitischen Konsens haben. Seit 2002 gibt es in Deutschland eine Nachhaltigkeitsstrategie, an der die jeweilige Bundesregierung, und zwar unabhängig von ihrer parteipolitischen Farbzusammensetzung, festgehalten hat und die von ihr jeweils auch fortgeschrieben wurde. Nichtsdestotrotz müssen wir ehrlich feststellen, dass wir vom Erreichen der Nachhaltigkeitsziele national wie global noch meilenweit entfernt sind. So aktuelle Krisen wie die Coronapandemie oder jetzt der fürchterliche Angriffskrieg stellen uns natürlich vor unerwartete Herausforderungen, auf die wir auch kurzfristig Antworten finden müssen. Aber wir dürfen dabei das langfristige Ziel der nachhaltigen Entwicklung natürlich nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen also unsere Kraftanstrengungen noch intensivieren, damit wir die Ziele der UN auch erreichen. ({2}) Der Staatssekretär/-innenausschuss für nachhaltige Entwicklung hat jetzt erstmals sogenannte Transformationsteams eingesetzt, in denen ressortübergreifend und vernetzt an den in der Nachhaltigkeitsstrategie festgelegten Transformationsbereichen gearbeitet werden soll. Ich erachte das für einen wahnsinnig wichtigen Schritt, weil nämlich bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie alle Ministerien mitarbeiten müssen. ({3}) Darüber hinaus ist es meiner Überzeugung nach dringend notwendig, dass wir der Nachhaltigkeitsüberprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung, so wie im Koalitionsvertrag vereinbart, noch mehr Gewicht verleihen. Dazu muss diese Nachhaltigkeitsüberprüfung von einer formalen Überprüfung zu einer qualitativen Prüfung weiterentwickelt werden und eben auch der Klimacheck mit eingebunden werden; denn beides ergänzt und bedingt sich. Ich möchte dafür werben, dass wir bei dieser Nachhaltigkeitsüberprüfung zu mehr Ehrlichkeit kommen, dass wir offen und transparent gewisse Zielkonflikte ansprechen. Es ist in der Vergangenheit bisher nicht passiert, dass wir in der Nachhaltigkeitsüberprüfung transparent offenlegten und damit deutlich machten: Wenn wir uns für ein Ziel entscheiden, das wichtig ist und wofür wir gute Gründe finden, und wenn wir sehen, dass wir in anderen Bereichen Zielkonflikte haben, dann müssen wir dort unsere Anstrengungen noch weiter intensivieren. ({4}) Auch im Deutschen Bundestag muss die Nachhaltigkeitspolitik deutlich gestärkt werden. Der PBnE ist ein Ort, wo frei und wirklich am Ziel orientiert diskutiert wird; es ist ein guter Ort. Ich lade Sie daher ein: Kommen Sie zu unseren Anhörungen. Bei konkreten Entscheidungen und bei den Umsetzungen ist der PBnE jedoch außen vor. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass dieser Ort für die Nachhaltigkeitsdebatte gestärkt werden muss und dass der PBnE mehr Kompetenzen benötigt. Wir werden hier, wie im Einsetzungsantrag beschlossen, entsprechende Vorschläge liefern; denn gebraucht wird der PBnE auf jeden Fall. Das Thema ist sehr wichtig, das haben die vorhergehenden Reden gezeigt, und das wird auch die noch folgende Debatte zeigen. Es braucht hier im Deutschen Bundestag ein Entscheidungsgremium, wo wir wirklich über die Nachhaltigkeitsstrategie debattieren können. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der französische Schriftsteller Paul Claudel hat einmal gesagt: Bevor man die Welt verändert, wäre es vielleicht doch wichtiger, sie nicht zugrunde zu richten. Mit Ihrer Nachhaltigkeitsstrategie, liebe Bundesregierung, machen Sie genau das: Sie richten die Welt, oder besser: zunächst Deutschland, zugrunde. ({0}) Ihre Nachhaltigkeitsstrategie mit ihren sogenannten sechs Prinzipien ist nichts anderes als ein kommunistisches Manifest. ({1}) Ebenso wie dieses Manifest im Jahr 1848 die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft propagierte, soll heute Ihre Nachhaltigkeitsstrategie die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft herbeiführen, von Staats wegen befohlen und vom Staat kontrolliert. ({2}) Wir sehen es ja jetzt schon: Diese Transformation führt dazu, dass die Industrie die Arbeit einstellt, dass Handwerk und Mittelstand kollabieren, dass Bauern immer weniger produzieren dürfen. Sie führt dazu, dass die Menschen im Winter frieren müssen und sich das Brot vom Bäcker nicht mehr leisten können. ({3}) Ihrer Nachhaltigkeitsstrategie mangelt es vor allem an Nachhaltigkeit. ({4}) Ronald Reagan hatte vollkommen recht, als er 1981 feststellte: Der Staat löst nicht die Probleme, er ist das Problem. ({5}) In Ihrem Papier spielt das Wort „Freiheit“ keinerlei Rolle; dabei sind Nachhaltigkeit und Freiheit zwei Seiten derselben Medaille. Nachhaltigkeit kann nur in Freiheit erwachsen. Nur Freiheit und Selbstverantwortung der Menschen schaffen sozialen Zusammenhalt. Die in Ihrem Papier angesprochene offene Gesellschaft kann aber nur bestehen aus Individuen, die sich freiwillig zusammenschließen, in Familien, in Betrieben und in Vereinen. Nur die Freiheit des Marktes schafft tatsächlich nachhaltiges Wirtschaften. Das Problem Ihrer sozialistischen Kreislaufwirtschaft liegt darin, dass Sie in einer Abwärtsspirale gefangen sind. Ihr Ökosozialismus bedeutet, dass es allen gemeinsam schlechter geht. Nur der Wettbewerb des freien Unternehmertums führt zu einem intelligenteren und nicht zu einem höheren Ressourceneinsatz. ({6}) Nur Freiheit vom Staat entfesselt die Kräfte, hebt die Bildung und die Wissenschaft auf ein höheres Niveau und bringt Innovationskraft und tatsächlich nachhaltigen, breiten Wohlstand hervor. Genau das unterscheidet die Marktwirtschaft von der Kreislaufwirtschaft der Kommunisten mit ihren marxistischen Umverteilungsstrategien, die im Grunde nur eines zur Folge haben: nämlich Armut. ({7}) Freiheit ist in Wahrheit das Grundprinzip einer jeden richtig verstandenen Nachhaltigkeitsstrategie. Meine Damen und Herren, was jetzt in der Welt passiert, passiert nicht – es wird gemacht. Es ist das Ergebnis von sozialistischer Ideologie, von Wokeness und Cancel Culture, von Ihrem absurden Verständnis von Nachhaltigkeit. Die negativen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind offensichtlich. Sie erkennen sie und nehmen sie dennoch billigend in Kauf. Als Jurist kann ich Ihnen sagen: Das ist Vorsatz. ({8}) Den Menschen da draußen in Deutschland, hier auf den Tribünen, hier drinnen, muss eines klar werden: Wenn diese Regierung von Nachhaltigkeit spricht, dann wird es ihnen allen schlechter gehen. Dann geht es ihnen an den Kragen. ({9}) Wir als AfD sind das genaue Gegenmodell: Wir stehen für die Freiheit. Vielen Dank. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Carina Konrad. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in einer schwierigen Zeit. Substanzielle Krisen sind gerade Thema an jedem einzelnen Küchentisch in Deutschland. Substanzielle Krisen bedrohen den Wirtschaftsstandort Deutschland. Nachhaltigkeit, um die es heute geht, gehört für mich zusammen mit Ressourceneffizienz und mit Klimaschutz. Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Klimaschutz voranzutreiben, das geht nur, indem man Innovationen nutzt. Ich möchte meine Redezeit heute dafür nutzen, ein paar Vorschläge dazu zu machen, wie wir Freie Demokraten uns vorstellen Nachhaltigkeit nach vorne zu treiben. Denn diese substanziellen Krisen zwingen uns aus der Komfortzone heraus; das spürt doch jeder gerade ganz eindeutig. Es geht um Priorisierung. Es geht darum, jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen, um den Wohlstand auch in der Zukunft zu bewahren. Hunger – das wurde heute schon an mancher Stelle erwähnt – ist so eine substanzielle Krise, die infolge des Krieges entstanden ist und wieder groß geworden ist auf der Welt. Das ist ganz schlimm; denn wenn Menschen hungern, dann ist mehr gefährdet als nur das einzelne Menschenleben: Dann ist sozialer Zusammenhalt gefährdet. Dann sind Ökonomie und Ökologie aus dem Gleichgewicht geraten, und das ist das Gegenteil von nachhaltiger Entwicklung! ({0}) Ich hatte gestern die Ehre, Frau Nüsslein-Volhard zu treffen. Frau Professor Nüsslein-Volhard ist Nobelpreisträgerin, und sie hat gesagt, es sei eine Illusion, zu glauben, man könnte die Welt allein mit ökologischem Landbau ernähren. ({1}) – Da mögen manche schon wieder jubeln, ({2}) das war meine Absicht. Aber die Antwort darauf lautet nicht, nicht nachhaltig zu wirtschaften. Die Antwort darauf ist, Technologien zu nutzen, Biotechnologien zu nutzen und nutzbar zu machen in Deutschland, ({3}) um Nachhaltigkeit voranzutreiben und den Hunger in der Welt zu bekämpfen. ({4}) Zur Sicherung nachhaltiger Ernährung gehört es auch, die konsequente Nutzung von Digitalisierung voranzutreiben, die Technisierung weiter voranzutreiben. In Deutschland sind wir sehr weit. Wir haben führende Landtechnikindustrie in Deutschland, die weltweit Vorbild und Treiber ist. Wir haben eine Ausbildung, die weltweit Vorbild und Treiber sein kann, um die Ernährung zu sichern bei uns, aber auch in der Welt. Das ist ein ganz wesentlicher Beitrag zur Nachhaltigkeit. Mein zweiter Punkt. Wasserstoff ist der Energieträger der Zukunft. Ich bin sehr froh, dass das Ministerium für Bildung und Forschung die Wasserstoffforschung konsequent vorantreibt. Das ist ein zentraler Baustein, um zukünftig unsere Energieversorgung zu sichern, aber auch für den Verkehrssektor, über den wir hier so oft und so leidenschaftlich diskutieren, um auch ihn so weiterzuentwickeln, dass wir klimaneutral werden und dass E‑Fuels in die Fläche gebracht und nutzbar gemacht werden. ({5}) Das ist jetzt ein zentraler Baustein, den wir schnell umsetzen müssen. Die Regulierungen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das ist unsere Aufgabe, um Nachhaltigkeit in diesem Land weiterzuentwickeln. ({6}) Noch kurz ein dritter Punkt. Wir sind uns auch einig, dass zum Verlassen der Komfortzone auch gehört, dass wir die Planungsbeschleunigung in diesem Land konsequent vorantreiben. ({7}) Das LNG-Beschleunigungsgesetz hat doch gezeigt, was möglich ist. Das muss für alle Infrastrukturprojekte in diesem Land möglich sein. Wir haben uns zu lange darauf ausgeruht, aus der Substanz heraus das zu nutzen, was da war. Jetzt gilt es, nach vorne zu schauen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, um Nachhaltigkeit umfassend in diesem Land weiter voranzutreiben. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist ja ein schöner Begriff. Er ist aber auch genauso schön beliebig. Mittlerweile kann man selbst Autos nachhaltig kaufen, oder man kann den Erwerb von Aktien- und Immobilienfonds nachhaltig gestalten. Eigentlich gibt es kaum noch ein Produkt, das man kaufen kann, oder eine Dienstleistung, die man erwerben kann, worauf nicht das Siegel „nachhaltig“ steht. Daher macht es durchaus Sinn, dass wir hier im Deutschen Bundestag dieses Thema nicht unter „ferner liefen“ aufrufen, sondern zur besten Sendezeit. Vielen Dank dafür! ({0}) Gerade im Verkehrssektor sind die Herausforderungen gigantisch. Es ist nach meiner Auffassung alles andere als nachhaltig, wenn wir heute die 60 Millionen zugelassenen Pkw mit Verbrennungsmotoren einfach nur durch Autos mit Strom aus Batterien austauschen; ({1}) denn der versiegelte Verkehrsraum, die Verkehrsfläche, die versiegelt wird, bleibt dieselbe. Verkehrslärm entsteht auch durch Rollgeräusche der Reifen. Und wie diese Batterien hergestellt werden, hat oft mit Nachhaltigkeit wenig zu tun. ({2}) – Nun warten Sie mit Ihrem „richtig“. – Nachhaltig wäre es also, über eine Mobilitätswende zu diskutieren, und zwar ernsthaft. ({3}) Verkehr zu vermeiden, der nicht unbedingt notwendig ist, das wäre nachhaltig. Nachhaltig wäre es auch, regionale Wirtschaftskreisläufe viel stärker zu fördern, anstatt Rohstoffe und Waren über den halben Kontinent heranzukarren. ({4}) Und damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin kein Freund davon, diese Herausforderungen über Verbote und Verteuerung zu regeln; denn das ist in der Regel unsozial. Es muss attraktiver und günstiger sein, wenn man Bus oder Bahn fährt anstatt mit dem Auto. Das wäre nachhaltig. ({5}) Jetzt haben wir ein Verkehrsministerium der FDP, wobei ich den Eindruck habe, dass dort die Gesamtproblematik durchaus erkannt wurde. Das konnte man bei den Vorgängern aus der CSU nicht ansatzweise sehen. ({6}) Doch bei meinem Thema, dem Tempolimit, sind die Liberalen leider im vergangenen Jahrhundert stehen geblieben. Ich zitiere das Bundesumweltamt aus dem Jahre 2020: Ein generelles Tempolimit auf Bundesautobahnen könnte die Treibhausgasemissionen jährlich je nach Ausgestaltung um 1,9 bis 5,4 Millionen Tonnen verringern. Das ist ein Ergebnis der Berechnung des Umweltbundesamtes. – Und weiter im Zitat: Ein Tempolimit auf Autobahnen hilft uns, die Treibhausgasemissionen des Verkehrs in Deutschland zu senken. Bei Tempo 120 km/h liegen die Einsparungen bei 2,6 Millionen Tonnen jährlich. Selbst ein Tempolimit von 130 km/h reduziert die Emissionen bereits um 1,9 Millionen Tonnen – und zwar sofort und praktisch ohne Mehrkosten. ({7}) Mittlerweile gibt es eine Mehrheit in Deutschland, die ein Tempolimit von 130 km/h befürwortet. Selbst der ADAC hat seinen Widerstand aufgegeben. Nur die FDP sagt leider Nein. Es müssten allerdings lediglich nur ein paar Hundert neue Verkehrsschilder an den Grenzen aufgestellt werden. Aber auch das wäre nachhaltig. Vielen Dank. Glück auf! ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Nina Scheer. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer kurzen Rückschau auf die letzten Jahre einsteigen. Herr Brinkhaus, Sie hatten ja gefordert, dass man irgendwie einen neuen Blick bräuchte, und dabei ein für mich doch sehr erschreckendes Selbstbild gezeichnet, wie wir uns über den Tag Ihrer Meinung nach zu Nachhaltigkeitsthemen verhalten oder auch nicht verhalten. Ich möchte an Folgendes erinnern: Sie haben das, was unsere Abhängigkeit von Russland betrifft, mit einem Spaziergang verglichen und gesagt, das eigentliche Problem sei unsere Abhängigkeit von China. Erinnert sei an die Legislaturperiode 2009 bis 2013. Da begann eine massive Marktverdrängung vonseiten Chinas, weltweit angelegt – umgerechnet 300 Milliarden Euro wurden damals taxiert –, die zum Ziel hatte, nicht wie in Deutschland und Europa die Markteinführung von erneuerbaren Energien zu fördern, sondern die Marktverdrängung aller Akteure zugunsten Chinas zu vollziehen. Diese massiv angelegte Marktverdrängung hat heute tatsächlich dazu geführt, dass wir auch in Deutschland alleine bei der Photovoltaik zu über 90 Prozent von China abhängig sind. Das war tatsächlich etwas, was auch von der deutschen Bundesregierung – damals unter Angela Merkel – hätte verhindert werden müssen, ({0}) mit aktiver Außenhandelspolitik in Europa und für Deutschland. Das wurde unterlassen, und das ist der Kardinalfehler, an dem wir heute massiv knapsen, weil wir natürlich aufgrund der Erkenntnis – und sie ist nicht neu –, dass Energieversorgung als Daseinsvorsorge eine elementare Frage für unser Wirtschaftssystem, für die Gesellschaft, für Sicherheit, für Gerechtigkeit, für den sozialen Zusammenhalt ist, daran arbeiten müssen, Wertschöpfung nach Europa zurückzuholen, Wertschöpfung in Deutschland aufzubauen, aber natürlich auch dafür sorgen müssen, dass es international gelingt, im gemeinsamen Werk gleichzuziehen – deswegen haben wir ja die SDGs, deswegen haben wir ja auch unter SDG 7 die sichere, saubere Energie – und dies natürlich gemeinsam zu denken, global zu denken, aber dabei immer auch lokal zu handeln. Wir dürfen uns nicht hinter den gemeinsamen Zielen verstecken; die brauchen wir als Orientierung. Wir brauchen auch immer die Orientierungsfragen, um zu schauen: Wo sind wir schon angelangt? Wie erfolgreich war die auf das Ziel gerichtete Politik? Aber wir dürfen uns nicht dahinter verstecken, zu sagen: Damit ist es getan. – Natürlich muss lokal gehandelt werden. ({1}) Deswegen sei noch mal kurz auf das zurückgegriffen, was wir gestern im Ausschuss beschlossen haben und morgen im Bundestag beschließen werden, nämlich zum Beispiel einen Erneuerbare-Energien-Booster anzusetzen, weil die Energiewende längst eine Frage der Energiesicherheit geworden ist und weil die Sicherheit ohne den beschleunigten Umstieg auf erneuerbare Energien nicht gewährleistet werden kann. ({2}) Insofern möchte ich den Blick auf ein paar Punkte werfen. Wenn es immer wieder heißt, die erneuerbaren Energien seien der Kostentreiber, so ist das einfach falsch. Das wird immer wieder behauptet. Bei Photovoltaik haben wir innerhalb der letzten 15 Jahre Kostensenkungen von 85 Prozent gehabt. ({3}) Wir haben bei der Windenergie innerhalb des gleichen Zeitraums Kostensenkungen von 55 Prozent gehabt. ({4}) Bei der Atomenergie sind die Preise übrigens im gleichen Zeitraum um ungefähr 30 Prozent gestiegen. Das wird immer wieder verleugnet. Das muss man immer mal wieder sagen, ({5}) weil nur darüber Bezahlbarkeit von Energie künftig auch wirklich garantiert werden kann. Die Bezahlbarkeit von Energie – da haben wir eine Garantenpflicht – hängt daran, dass wir den beschleunigten Umstieg auf erneuerbare Energien hinbekommen. ({6}) Mit dem Energie-Booster haben wir einen weiteren Baustein gesetzt, den wir hoffentlich morgen dann auch mit breiter Mehrheit beschließen werden. In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Ingeborg Gräßle. ({0})

Dr. Ingeborg Gräßle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir unsicher, ob ich jetzt den Frieden im Hause stören sollte. Ich möchte mich bei der Bundesregierung für die Festvorträge an diesem Donnerstagmorgen bedanken: schöne Sonntagsreden. An folgender Stelle hat Kollege Brinkhaus recht: Wir haben nichts gehört über das Herunterbrechen dieser Nachhaltigkeitsstrategie, über Prioritäten: ({0}) Was kommt jetzt? Was kommt danach? – Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Frieden stören sollte, weil es so schön war. ({1}) Ich möchte mich wirklich bedanken bei der Bundesregierung: Es war schön. Endlich einmal wurde die Vorgängerregierung nicht für alles und jedes verantwortlich gemacht. Danke! Dass ich das erleben durfte in diesem Haus, macht mich glücklich und trägt mich durch diesen Tag. Wirklich danke! ({2}) Ich möchte eigentlich einige Dinge hier beisteuern, zum Beispiel hinsichtlich der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie über die Gesetzgebung. Ich möchte darauf verweisen, dass die Europäische Union gerade beim Thema Nachhaltigkeit sehr viel auf Gesetzgebung setzt. National draufsatteln wird immer wieder gern gemacht. Ich möchte aber vorschlagen, die Verwaltung mitzunehmen. Wir leiden doch an einem Umsetzungsproblem von Gesetzgebung. Wir leiden nicht an einem Mangel an Gesetzgebung. Das heißt: Laufen Sie nicht schneller, als Ihnen die Verwaltung folgen kann, weil die hehrsten Ziele sonst wertlos sind. ({3}) Ich möchte drei Punkte ansprechen. Erstens die Frage des Haushalts. Haushalt ist mein Thema. Wir sehen natürlich, dass die Staatsfinanzen völlig aus dem Ruder laufen und dass das wesentliche Element der Nachhaltigkeit bei den Staatsfinanzen, nämlich die Schuldenbremse, in der Ampel ein ganz geringes Ansehen hat. Das haben wir bei der Rede des Kollegen Meyer wieder gesehen. Die FDP hat geklatscht, immerhin. ({4}) – Wir auch, ja. Die FDP kann sich in dem Punkt auf die Union verlassen. ({5}) Aber es wäre wichtiger, die SPD und die Grünen an Bord zu haben. Ich bin immer wieder bestürzt, zu sehen, wie wenig Unterstützung es für dieses nachhaltige Instrument gibt. Wenn von Kaputtsparen die Rede ist, dann ist das doch eine Ausrede. Wir haben über 330 Milliarden Euro Steuereinnahmen. Es ist nicht so, dass kein Geld da ist. Die Frage ist aber, wo es eingesetzt wird. Die Schuldenbremse ist ein ganz nachhaltiges Instrument. Ganz viele Dinge wären in diesem Land nicht möglich gewesen ohne die Schuldenbremse und ohne die Einhaltung der schwarzen Null. Im Jahr 2014 – Kollege Schreiner hat es gesagt – hatten wir zum ersten Mal seit 1969 einen ausgeglichenen Haushalt. Das hat ganz viel ermöglicht. ({6}) Ich möchte Ihnen sagen: Ich bin auf diese Errungenschaft stolz, und ich möchte, dass auch die Schülerinnen und Schüler der Realschule aus Weissach, die gerade auf der Tribüne sitzen, stolz sind. Das wird ihnen helfen, künftig Handlungsspielräume zu haben. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt: Nachhaltigkeit und das permanente und stete größere Leistungsversprechen des Staates. Das passt nicht zusammen. Der Bundesrechnungshof sagt: Der Haushalt ist versteinert; er ist am Rande seiner Tragfähigkeit. – Und Sie satteln weitere Dinge drauf. Sie satteln das Bürgergeld drauf und nehmen das wichtige Incentive zur Aufnahme von Arbeit weg. Warum tun Sie das? ({7}) Die ganze Welt weiß, dass Wirtschaften so nicht funktioniert. Hilfe zur Selbsthilfe ja, ({8}) aber untergraben Sie doch nicht die Motivation derer, die jeden Tag aufstehen und zur Arbeit gehen. ({9}) Die Menschen werden sehr genau ausrechnen, ab wann es sich lohnt. Für eine Familie mit zwei Kindern lohnt es sich, nicht mehr zu arbeiten, wenn 3 500 Euro verdient werden. ({10}) – Es tut mir leid. Ich kann es Ihnen nicht ersparen. Wenn man über Nachhaltigkeit spricht, muss man über die Nachhaltigkeit der Maßnahmen sprechen, die Sie hier treffen. ({11}) Wir haben Krieg in Europa und eine schwere Wirtschaftskrise. Wir müssen mit Verlust an Märkten und an Arbeitsplätzen rechnen, und Sie satteln in dieser Situation noch höhere Sozialabgaben drauf. Sie ignorieren den Handlungsbedarf etwa bei der Rentenversicherung, die demografischen Handlungsbedarf hat. Das wissen wir seit Jahren. Bitte handeln Sie. Sie sind jetzt dran. Das Gleiche gilt für die Pflegeversicherung. Ich sehe mit großem Kummer, wie die häusliche Pflege im Verhältnis zur stationären Pflege vernachlässigt wird und schlechter gestellt wird. Auch da wäre es schön im Sinne der Nachhaltigkeit und für die künftigen Generationen, wenn an dem Punkt etwas passieren würde. Ihre Analysen sind schon ein bisschen unterkomplex und die Maßnahmen nicht auf der Höhe der Probleme. Wenn wir hier einen Festvortrag hören und festlich miteinander umgehen, dann kann man das so machen. Aber ich bin auch dafür, dass wir die wahren Probleme ansprechen. Sonst fragen sich die Menschen, ob wir wirklich von einem anderen Stern kommen. ({12}) Ich möchte meinen dritten Punkt anbringen, nämlich: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Erwin Teufel, der frühere baden-württembergische Ministerpräsident, hat das immer gesagt. Das heißt: Prioritäten setzen statt Schulden machen. Sie müssen den Koalitionsvertrag an die Zeit anpassen, in Teilen neu fassen, damit die Zeitenwende auch in diesem Papier und in den Köpfen aller in den Regierungsfraktionen ankommt. Nachhaltigkeit ist ohne Mut nicht zu machen.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Gräßle, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Ingeborg Gräßle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich bin gerade so schön in Fahrt, bitte nicht.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Gut.

Dr. Ingeborg Gräßle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachhaltigkeit darf nicht zu einem radikalen Geschäftsmodell verkommen, wie wir das in der Praxis auch mit der Taxonomie sehen. Ganze Wirtschaftsbereiche werden von frischem Kapital abgeschnitten und ausgetrocknet. Die Folgen werden wir alle zusammen ausbaden müssen. Nachhaltigkeit muss ein politisches Konzept sein, das den Wandel organisiert und möglich macht. Dazu fordern wir Sie auf. Die nächste Krise ist immer die schwierigste. Ohne Prioritäten bleibt mehr als die Nachhaltigkeit auf der Strecke, nämlich das Vertrauen der Menschen. Danke. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Johannes Wagner. ({0})

Johannes Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005248, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Brinkhaus, Ihre Rede war sehr laut und durchaus engagiert, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ihre Politik in den letzten Jahren nur heiße Luft war. ({0}) Ich möchte daran erinnern, dass wir das Bundesverfassungsgericht gebraucht haben, um Sie daran zu erinnern, dass Sie in Ihrer Politik auch die Bedürfnisse von jungen Menschen berücksichtigen müssen. ({1}) Ich will in die Debatte einsteigen mit einer Frage, die Eckart von Hirschhausen uns Abgeordneten vor drei Wochen gestellt hat, als wir den Parlamentskreis One Health gegründet haben. Er hat gefragt: Was werden uns unsere Enkelkinder eher verzeihen: temporär gestiegene Benzinpreise oder dauerhaft gestiegene Meeresspiegel? ({2}) Nachhaltigkeit ist ein Trendwort geworden, das Megathema. Alles soll mittlerweile nachhaltig sein. Nachhaltig investieren, nachhaltig reisen, selbst nachhaltige SUVs gibt es. Es scheint fast so, als müssten wir nichts ändern. Der technische Fortschritt wird das schon irgendwie richten. Schaut man aber auf die Fakten, müssen wir erkennen: Das stimmt leider nicht. ({3}) Effizienzgewinne werden aufgefressen vom Rebound-Effekt, und die weltweiten CO2-Emissionen steigen weiter. Schon heute hat die globale Erderwärmung über 1,1 Grad zugenommen. Die Folgen erleben wir bei uns direkt vor der Haustür. Vor ein paar Tagen gab es die Meldung: Bayern verliert einen von fünf Gletschern. Liebe CSU, wäre das nicht einmal ein Anlass, endlich die 10‑H-Regel abzuschaffen? ({4}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nicht die Gletscher retten. Wir müssen auch nicht die Eisbären retten, nicht einmal die Erde. Wir müssen uns retten; denn die Klimakrise ist die größte Bedrohung für die menschliche Gesundheit in diesem Jahrhundert. ({5}) Das sage nicht ich, das sagt die WHO, die Weltgesundheitsorganisation. Alleine in Deutschland sind dieses Jahr wieder über 1 000 Menschen an den Folgen von Hitze gestorben. Allergien nehmen zu und Tropenkrankheiten breiten sich auch bei uns aus. ({6}) Wenn wir hier an der Spree Fälle von West-Nil-Fieber haben, dann stimmt doch etwas nicht. ({7}) Die Klimakrise ist eine Gesundheitskrise. Deswegen werden wir SDG 3 -Gesundheit – ohne SDG 13 – Klimaschutz – auch niemals erreichen; denn Gesundheit und Klima sind untrennbar miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang ist aber nicht nur negativ, ganz im Gegenteil. Er bietet auch Chancen. Ich möchte kurz drei nennen. Erstens. Eine echte Mobilitätswende ist nicht nur gut für das Klima. Sie senkt auch die Zahl der derzeit 70 000 Menschen, die alleine in Deutschland jährlich vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung sterben. ({8}) Gleichzeitig ist Fahrradfahren und Laufen auch gut für unser Herz-Kreislauf-System. Wer vom Auto auf das Fahrrad wechselt, gewinnt statistisch bis zu 14 Monate Lebenszeit. Wir brauchen die Mobilitätswende also für das Klima und für die Gesundheit. ({9}) Zweitens. Eine echte Ernährungswende ist derzeit wichtiger denn je. Die Art, wie wir Tiere halten, und die Menge an Tieren, die wir essen, treibt die Klimakrise an. ({10}) Gleichzeitig erhöhen Antibiotika, die wir in der Massentierhaltung einsetzen, das Risiko für multiresistente Keime. Ein Umschwenken auf eine nachhaltige Ernährung schützt nicht nur das Klima und die Biodiversität, sie ist auch elementar für unsere Gesundheit. Und drittens. Der Sommer hat es erneut gezeigt, wie wichtig eine echte Bauwende ist. Klimabedingte Hitzetage, die sich mittlerweile häufen, heizen unsere Städte auf. Es bilden sich Hitzeinseln, die bis zu 10 Grad heißer sind als das Umland. Deswegen brauchen wir Grünflächen statt Versiegelung, Brunnen statt Parkplätze und Bäume statt Betonwüsten. ({11}) Und das ist nicht nur eine Frage von Lebensqualität, sondern auch des Überlebens; denn gerade in Städten ist Hitze besonders tödlich. Das zeigt: Wenn wir nachhaltig bauen, machen wir auch etwas Gutes für unsere Gesundheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei Klimaschutz und Gesundheit gibt es zum Glück kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. ({12}) Um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen: Wenn wir die volle Dimension von Nachhaltigkeit verstehen und danach handeln, dann lautet die Antwort auf gestiegene Meeresspiegel oder gestiegene Benzinpreise: trockene Küstenstädte mit gutem ÖPNV. ({13}) Herzlichen Dank. ({14})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Kay Gottschalk. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Ich muss auf einige Irrungen hier noch mal eingehen: Nachhaltigkeit gibt es schon immer. Sie kennen den Spruch: Unsere Kinder sollen es mal besser haben als wir. – Vielleicht liegt es daran, dass Sie mit Ihrer schlechten Politik einfach eine kinderlose Gesellschaft in die Welt gesetzt haben. ({0}) Lassen Sie mich auf meinen Punkt kommen. Finanzen sind sehr wichtig in der Nachhaltigkeit – bei einem Kollegen der FDP klang das ganz kurz an –; denn – ich sage es einfach mal –: Es steht und fällt alles mit dem Gelde oder dem europäischen Green Deal, um hier mal das Stichwort zu nennen, bei dem es ja angeblich um Ressourcenschonung und Energieschonung gehen soll – mein Kollege Kraft hat eben dargelegt, wie man das alles ideologisch schönfärben kann – und der uns nachhaltig eine schöne grüne Welt bescheren soll. Die Folgen sehen Sie heute – Sie haben es von Frau Scheer und anderen hier gehört –: Der Strom ist teurer geworden, seit Sie diese sogenannte ökologische Wende vollziehen. Wir haben den teuersten Strom in der Welt, und das liegt nicht an Ihrer grünen Energie, sondern das liegt an Ihrer schlechten Energiepolitik, die Sie insgesamt im Energiemix betrieben haben, meine Damen und Herren. ({1}) Kommen wir zum Finanzthema, zur hochgelobten EU-Taxonomie. Ich fasse es für Sie auf den Tribünen mal stichwortartig zusammen – Sie haben es mitbekommen –: Kernkraft und Gas sind nachhaltig, Öl und Kohle nicht. An dieser Taxonomie sehen auch Sie, liebe Regierung, wie ideologiegetrieben und falsch Ihre sogenannte Nachhaltigkeitsstrategie ist. ({2}) In Wirklichkeit geht es Ihnen mit diesen Regeln, auch mit der Eigenkapitalunterlegung von Banken, Kapitalsammelstellen und Versicherungen, doch nur darum, die Kontrolle über die Wirtschaft und die Finanzen zu bekommen, um zu bestimmen: Welche Investition ist gut und welche ist böse? Das kann am besten aber der Unternehmer, weil der auf Effizienz und auf Wettbewerbsfähigkeit getrimmt ist. Die brauchen wir für die deutsche Wirtschaft, aber keinen Sozialismus à la grüne Natur, meine Damen und Herren. ({3}) „Gelenkte und gesteuerte Wirtschaft“, das ist das Schlagwort unserer Zeit. Deswegen kommt das dritte Rettungspaket. Und ich prognostiziere: Weil es so unzulänglich ist, müssen Sie noch ein viertes machen, meine Damen und Herren. Wir vertrauen auf die Freiheit, auch auf die Freiheit der Märkte; schließlich trägt der Investor das Risiko. Das haben Sie mit der Finanzkrise 2009 außer Kraft gesetzt. Sie haben nämlich Gewinne sozusagen privatisiert und Verluste sozialisiert. Seitdem kommen Sie aus dieser sozialistischen Nummer nicht mehr raus, meine Damen und Herren. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Anja Schulz. ({0})

Anja Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005216, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen, müssen wir immer auch unsere Sozialversicherungssysteme im Blick haben. Aktuell werde ich oft gefragt, warum ich mich bei Energiekrise, Krieg in Europa und Inflation überhaupt mit dem Thema Rente beschäftige. So weit in die Zukunft zu schauen, ist aktuell nicht für jeden naheliegend, jetzt, wo es so viel wichtigere und drängendere Themen gibt. Die Energiekrise darf aus dem Dauerbrenner Rente allerdings keine Sparflamme machen. ({0}) Es wird immer Probleme geben, die akuter sind. Trotzdem müssen wir aufhören, uns vor der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen zu ducken. Das wäre mal nachhaltig. ({1}) Die Klima- und die Rentenpolitik teilen ein trauriges Schicksal. Jahrzehntelang waren sie geprägt von einer Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität. Das darf in dieser Legislaturperiode nicht wieder passieren. Die Grundidee des umlagefinanzierten Systems passt nicht zu unserer Demografie. Es ist nicht nachhaltig, und das weiß man seit Jahrzehnten. Der Altersquotient, also das Verhältnis von Menschen im Erwerbsalter zu Menschen im Rentenalter, wird von derzeit knapp 3 : 1 in den nächsten Jahren auf 2 : 1 sinken. Die blanken Zahlen sprechen eine eindeutige und dramatische Sprache: Weil die Umlage nicht mehr ausreicht, werden bereits heute 100 Milliarden Euro ({2}) aus Steuermitteln in die Rente gesteckt. Würden wir diesen Betrag, diese 100 Milliarden Euro in 100-Euro-Scheinen stapeln, hätten wir einen Berg, der höher wäre als der Mount Everest, über 10 000 Meter hoch. Der deutsche Rentenberg ist damit also der höchste Berg der Welt und damit alles, aber ganz sicher nicht nachhaltig. ({3}) Um uns endlich aus diesem Rentendilemma zu befreien, sind wir bereits den ersten Schritt gegangen und haben den Nachholfaktor wiedereingeführt. ({4}) Wir gehen mit der Ampel jetzt einen weiteren richtigen Schritt und sorgen für eine nachhaltige Finanzierung. Wir führen eine teilweise Kapitaldeckung ein; es wird ein Fonds gebildet, der dafür sorgt, dass die Beitragssätze und auch die Rentenhöhen in der Zukunft stabil bleiben. ({5}) Außerdem werden wir den Renteneintritt flexibilisieren. Wir werden einen Zuverdienst nicht mehr mit der Anrechnung auf die Rente abstrafen; denn gerade jetzt, im Hinblick auf den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel, sollten wir Teilzeitrentnern, die wollen und können, die Möglichkeit bieten, weiterhin zu arbeiten. ({6}) Es soll individuellen Spielraum geben, der freie Entscheidungen ermöglicht und bei dem der Taschenrechner nicht zu dem Ergebnis kommt, dass sich Arbeiten im Alter nicht mehr lohnt. Unsere rentenpolitischen Forderungen sind nicht nur ein wichtiger Schritt für eine nachhaltige Finanzierung, sondern vor allem das Signal an junge Menschen, an nachfolgende Generationen, dass sie dem Staat vertrauen können, dass Generationengerechtigkeit – so, wie es bisher war – keine Phrase bleibt, sondern wirklich gelebt wird. Alle Bürger, auch wenn sie noch nicht wählen können, haben ein Recht darauf, von der Politik geachtet zu werden. Das ist nachhaltig. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir von Nachhaltigkeit reden, müssen wir auch vom Zusammenhang zwischen Klimakrise und Digitalisierung reden, wo Digitalisierung Teil des Problems, aber auch der Lösung ist. Energie- und Verkehrswende gehen gar nicht ohne Digitalisierung. Wenn wir weg wollen vom Individualverkehr und hin zum bedarfsgerechten ÖPNV, heißt das auch, dass ich mir einen Minibus auf Abruf über eine App im ländlichen Raum in Niedersachsen oder Brandenburg bestellen kann. Aber Digitalisierung ist eben auch Teil des Problems. Der Ressourcenverbrauch ist enorm, vor allem auch bei der Herstellung elektronischer Geräte. Bei unseren Handys zum Beispiel sind drei Viertel der CO2-Emissionen laut Greenpeace-Daten allein auf die Herstellung zurückzuführen. Wenn wir alle unsere Smartphones statt durchschnittlich drei Jahre in Europa vier Jahre verwenden würden, könnten wir 2 Millionen Tonnen CO2 in Europa einsparen. ({0}) Der Neukauf wird aber leider oft erzwungen, weil man die Akkus nicht vernünftig wechseln kann und weil es keine Sicherheitsupdates mehr gibt. Deshalb hoffe ich, dass die Ampel das angekündigte Recht auf Reparatur und die Mindestupdatepflicht – langjährige Forderungen der Linksfraktion – auch zügig umsetzt. ({1}) Aber die Bundesregierung hat zweifach Verantwortung, nicht nur als Regulierer, sondern auch als Großverbraucher. Für über 1 Milliarde Euro kauft der Bund jedes Jahr IT ein. Der Energieverbrauch der Bundes-IT könnte mit seinen 335 Gigawattstunden 134 000 Zwei-Personen-Haushalte versorgen. Deshalb habe ich eine Kleine Anfrage zur Nachhaltigkeit der Bundes-IT gestellt und ganz frisch zurückbekommen. Die Antwort kam leider mit sehr vielen Leerstellen: Zwei Drittel der 184 Rechenzentren des Bundes konnten nicht mal sagen, ob sie erneuerbare Energie nutzen. Ob die IT nach der Einkaufsrichtlinie auch tatsächlich nachhaltig eingekauft wurde? Keine Ahnung, es gibt ja kein Monitoring. Die Datenqualität war außerdem wirklich mangelhaft. Es gab viele falsche Angaben und auch widersprüchliche. Das BMI hat bei einigen Rechenzentren klimaschädliche Kältemittel als umweltfreundlich bezeichnet. Das zeigt, das Reporting ist ziemlich kaputt und die Datenkompetenz mangelhaft. ({2}) Immerhin, meine Kleine Anfrage hat bei der Ampel auch etwas angestoßen: Eine Vereinheitlichung und Erweiterung des Berichtswesens zur Nachhaltigkeit in der IT wurden noch während der Beantwortung der Kleinen Anfrage beschlossen. Das zeigt, linke Opposition wirkt. ({3}) Da, wo es Daten gab, war die Nachhaltigkeit erschreckend schlecht. Nicht einmal jedes zehnte Rechenzentrum nutzt die Abwärme, und nicht einmal jedes dritte nutzt erneuerbare Energien. Nur ein einziges der 184 Rechenzentren erfüllt die Kriterien des Blauen Engels für Rechenzentren; aber zwei Drittel nutzen klimaschädliche Kältemittel. Es soll jetzt ein Energieeffizienzregister für Rechenzentren in Deutschland kommen; aber die Dateneintragung ist wohl nur freiwillig. Das, fürchte ich, wird nichts bringen. ({4}) Die Ampel will sich nach ihrer Digitalstrategie daran messen lassen, dass Methoden energieeffizienter Softwareentwicklung etabliert sind. Das finde ich super; denn ineffiziente Software verursacht viermal so viel Energieverbrauch wie effiziente. Aber der Bund, der selbst sehr viel Software entwickelt oder ihre Entwicklung beauftragt, hat nicht eine einzige Software, die mit dem Blauen Engel für energieeffiziente Software ausgezeichnet ist. Auch sonst weiß sie nichts darüber; denn es gibt keine Verbindlichkeit und keine einheitlichen Vorgaben. Sie hat keine Ahnung vom Status im eigenen Haus. Aber auch die IT-Konsolidierung bleibt ein Problemfall. Sie sollte durch eine Reduktion der Anzahl der Bundesrechenzentren zur Nachhaltigkeit beitragen. Aber das Milliardengrab wird jetzt auch zur Hürde für nachhaltige IT. Die Anzahl der Rechenzentren steigt immer weiter, auch in den nächsten Jahren. Wie immer gilt: Schöne Ziele nützen nichts, wenn es am Ende an Umsetzungskompetenz fehlt. Ich bin trotzdem gespannt auf die angekündigten Maßnahmenpläne zur klimaneutralen Bundesverwaltung und zur Green-IT-Initiative. Als linke Opposition sind wir gerne bereit, fachliche Expertise dazu einzubringen; denn die Klimakrise erfordert gemeinsames Handeln. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helmut Kleebank. ({0})

Helmut Kleebank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005105, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Montag fand die Jahrestagung des Rates für Nachhaltige Entwicklung statt. In allen Debatten an diesem Tag gab es rund um die Nachhaltigkeit eine zentrale, generationenübergreifende, gemeinsame Botschaft. Es gab eine Forderung, die immer wieder deutlich erhoben wurde, sie lautete: Wir brauchen bei der Umsetzung der vorhandenen Konzepte für nachhaltiges Wirtschaften und nachhaltiges Leben deutlich mehr Tempo. ({0}) „Tempo“ war der meistgewählte Begriff an diesem Tag. Und damit war nicht die Tempogrenze auf der Autobahn gemeint. ({1}) Und es stimmt: Gemessen an dem jahrelangen Vorlauf, den wir hatten, ist zu wenig Wirksames passiert. Denn bereits vor sieben Jahren, im September 2015, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Agenda 2030 mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen. Vor drei Jahren, im September 2019, kamen ebenfalls die Staats- und Regierungschefs zu dem Ergebnis, dass diese 17 Sustainable Development Goals verfehlt werden, wenn sich die zu diesem Zeitpunkt aktuellen Trends fortsetzen. Daraufhin haben die Vereinten Nationen bei ihrem SDG-Gipfel das Jahrzehnt der 2020er-Jahre zur Aktionsdekade erklärt. Auch die Bundesregierung erkennt dieses Ziel an und arbeitet mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für das Erreichen dieser Ziele. Wir haben dazu einiges gehört. Hier im Parlament wurde in den vergangenen Monaten in allen Bereichen eine große Zahl von Gesetzen verabschiedet, die beim Erreichen der SDGs auf jeden Fall helfen werden. Ich persönlich bin stolz darauf, einem Parlament anzugehören, das Nachhaltigkeit nicht nur verbal ernst nimmt, sondern mit großem Einsatz und inzwischen auch mit deutlich mehr Tempo in die Tat umsetzt. ({2}) Allerdings – und jetzt kommt der Wermutstropfen – stelle ich fest, dass wir uns als Parlament immer noch einige Defizite leisten; blinde Flecken sozusagen, die wir uns meines Erachtens nicht leisten sollten. Ich will das kurz begründen und benennen. Die Beschäftigung mit den 17 Nachhaltigkeitszielen zeigt ganz unschwer, dass sie eng miteinander verknüpft sind, sich in zum Teil sehr unterschiedlicher Weise bedingen oder sich gegenseitig beeinflussen. Die Bundesregierung hat dieser Tatsache mit der Formulierung von und der Konzentration auf sechs sogenannte Transformationsbereiche Rechnung getragen; auch das ist vorgetragen worden. Jeder Transformationsbereich adressiert eine Gruppe von SDGs, die untereinander in besonders engem Zusammenhang stehen. Im Deutschen Bundestag wird diese Tatsache, dieser sinnvolle vernetzte Ansatz bislang unzureichend abgebildet. Ein zweiter blinder Fleck. Die schnelle und wirksame Bekämpfung der globalen Krisen wie zum Beispiel der Erderwärmung, des Artensterbens oder der Überschwemmung des Planeten mit Plastikmüll gelingt nur mit einem internationalen Kraftakt. Und auf dieser internationalen Bühne – auch das wurde von den internationalen Gästen, unter anderem von UN-Generalsekretär António Guterres und von Ellen Johnson Sirleaf, der Friedensnobelpreisträgerin und ehemaligen Präsidentin Liberias, am Montag sehr deutlich gemacht – wird sehr genau auf die Transformation in Deutschland und auf Deutschlands Rolle bei der globalen Transformation geachtet. In diesen Aspekten, der Arbeit an den Transformationsbereichen und der Wechselwirkung zwischen nationalem und internationalem Handeln, muss sich der Deutsche Bundestag meines Erachtens selbst ertüchtigen. Wie komme ich zu dieser Einschätzung? Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, der für all diese Fragen das prädestinierte Gremium darstellt, hat bislang weder den Status noch die faktischen Möglichkeiten, in diesen übergreifenden Fragen gegenüber der Regierung in besonderer Weise für das Parlament wirksam zu werden. Wenn wir uns im September nächsten Jahres mit dem Zwischenbericht des PBnE beschäftigen, wird dieser Bericht auch Vorschläge für die Weiterentwicklung des Beirats enthalten. Lassen Sie uns als Parlament gemeinsam daran arbeiten und dafür sorgen, dass er auch Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen enthält und dass wir die daraus folgenden Aufgaben dann auch gemeinsam in die Tat umsetzen. Vielen Dank. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Wolfgang Stefinger. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die einen wollen Armut und Hunger überwinden, wollen Arbeit und Wohlstand, jedoch ohne ihre Lebensgrundlagen zu zerstören. Die anderen wollen den Wohlstand erhalten und ausbauen und müssen dies nachhaltiger tun als bisher. Wenn wir heute über Nachhaltigkeit sprechen, so müssen wir einen Blick auf Entwicklungs- und Schwellenländer richten. Denn zur Wahrheit gehört: Unser Wohlstand ist eng mit den Entwicklungsländern verknüpft. Es gibt immer wieder Stimmen, die meinen, Entwicklungsländer gingen uns nichts an. Das ist ein fataler Irrtum. Wir haben nämlich alle täglich mit Entwicklungsländern zu tun. Haben Sie heute Morgen einen Kaffee getrunken? Woher kommen die Bohnen? Haben Sie vielleicht eine Jeans angezogen? Wo wird die Baumwolle angebaut, und wo wird diese Kleidung genäht? Können die Näher davon leben? ({0}) Woher kommen die Bestandteile der Batterien für die Handys, für die E‑Autos, für die Laptops, woher kommt das Kobalt, das Lithium? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. 2014 wurden die 17 Nachhaltigkeitsziele beschlossen mit dem Ziel, diese bis 2030 auch zu erreichen. Doch wo stehen wir? Stichwort „Armutsbekämpfung“, „Kampf gegen den Hunger“ – wir haben es heute schon gehört: Die Zahlen steigen wieder, auch durch Corona. Beim Thema „Umweltschutz und Erhalt der Biodiversität“ haben wir Nachholbedarf. Zum Thema „bezahlbare und saubere Energie“: Weltweit sind Tausende Kohlekraftwerke geplant. Gehen sie ans Netz, ist das Erreichen des 2‑Grad-Ziels unmöglich. Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Beispiele sollen verdeutlichen, warum wir das Thema Nachhaltigkeit nicht isoliert betrachten können, nicht nur auf Deutschland bezogen, nicht nur auf Europa bezogen, sondern weltweit betrachten müssen. Wir müssen begreifen, dass wir eine Welt sind und wir alle für sie gemeinsam Verantwortung tragen. ({1}) Deshalb möchte ich drei Gedanken nennen, wie wir gemeinsam als eine Welt nachhaltiger werden können. Erster Gedanke: Entwicklungssprünge ermöglichen und nutzen. Was heißt das? Für Entwicklungsländer geht es nicht darum, unsere Entwicklungen nachzuholen, sondern es geht darum, Entwicklungsschritte auch zu überspringen und direkt auf neue, auf umwelt- und klimafreundliche Technologien, auf nachhaltige Technologien zu setzen. Und wer, wenn nicht wir, wer, wenn nicht unsere Wissenschaft, unsere Wirtschaft, könnte hier unterstützen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Afrika wächst die Bevölkerung am schnellsten und wird sich bis 2050 sogar verdoppeln. Bereits heute haben auf dem afrikanischen Kontinent 600 Millionen Menschen keinen Zugang zu Strom. In Afrika wird in den kommenden zehn Jahren so viel gebaut werden, wie in Europa in den vergangenen 100 Jahren gebaut wurde. Die Fragen sind also, ob der Strom aus fossilen oder erneuerbaren Quellen erzeugt wird, ob mit Stahl und Beton oder mit nachwachsenden Rohstoffen gebaut wird. Auch daran wird sich entscheiden, ob sich der Klimawandel bremsen lässt oder nicht. ({2}) Deshalb sage ich ganz deutlich: Nachhaltigkeit ist Entwicklungspolitik. Oder anders gesagt: Entwicklungspolitik ist weltweite Nachhaltigkeitspolitik. Dass hier, in diesem Etat, gespart wird, ({3}) ist ein falsches Signal der Bundesregierung. ({4}) Die Union, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat in den vergangenen 16 Jahren hier einiges auf den Weg gebracht. ({5}) – Frau Künast, vielleicht nehmen Sie mal ein paar Baldriantropfen, damit Sie ein bisschen ruhiger werden. ({6}) Ich nenne das Stichwort „Energiepartnerschaften.“ ({7}) Diese gilt es auszubauen und zu stärken. Afrika könnte rechnerisch ganz Europa mit Solarenergie versorgen. Wieso nutzen Sie, liebe Bundesregierung, die aktuelle Krise nicht, um diese Partnerschaften zu stärken? Das größte Solarkraftwerk der Welt in Marokko ist ein gutes Beispiel, ein Beispiel für gemeinsame Investitionen, ein Beispiel für internationale Zusammenarbeit, ein Beispiel, wie Technik – unter anderem aus Deutschland – einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann. Ich sage Ihnen eines: Wir brauchen mehr davon. ({8}) Zweiter Gedanke. Es braucht – wir sehen ja, wie eng wir verbunden sind; die Welt ist ein globales Dorf, allein was die Lieferketten betrifft – auch faire Lieferketten. Es braucht fairen Handel und faire Produktion; aber „fair“ darf kein Nachteil, sondern es muss ein Vorteil für die Unternehmen sein. Deswegen müssen wir dieses Thema auch in internationalen Abkommen, die man im Übrigen auch wollen muss, liebe Grüne, angehen. Diese Abkommen müssen entsprechende Regeln enthalten. Auch die europäische Handelspolitik muss einen Beitrag zu diesen Nachhaltigkeitszielen leisten. Wir als Union haben in der letzten Wahlperiode einen ersten wichtigen Schritt mit unserem Lieferkettengesetz gemacht. ({9}) Dritter Gedanke. Es braucht weltweite Standards. Nachhaltigkeit bedeutet auch, globale Güter zu schützen und Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Die Politik kann Regeln festsetzen – das ist klar –; aber es kommt auch auf uns alle an. Meine sehr geehrten Damen und Herren, beim Thema Nachhaltigkeit geht es um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen – ökologisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell. Es geht um Gerechtigkeit gegenüber Menschen in anderen Teilen der Welt und gegenüber kommenden Generationen. Es geht um Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt, und es geht um Frieden. Vielen Dank. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Jan-Niclas Gesenhues. ({0})

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man konnte sich heute bei den Reden der Union live angucken, was es bedeutet, sich einen schlanken Fuß zu machen. Ich will Ihnen mal eins sagen: ({0}) Was ich noch nie leiden konnte, ist, sich über Jahre mal so richtig auszutoben, einen Riesensaustall zu hinterlassen und dann den anderen zu sagen: So, jetzt macht ihr das mal bitte schön weg! ({1}) Übernehmen Sie endlich mal Verantwortung für das, was Sie in Ihrer Regierungszeit gemacht haben! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine ambitionierte Nachhaltigkeitspolitik, ({3}) um noch lange frei und sicher auf diesem Planeten leben zu können. Es geht um unsere Freiheit, und es geht um unsere Sicherheit – um nichts weniger. Richtig ist: Dafür braucht es alle drei Säulen der Nachhaltigkeit: Umwelt, Wirtschaft und Soziales. Aber wahr ist auch: Diese drei Säulen der Nachhaltigkeit sind nicht einfach unbegrenzt miteinander austauschbar. Ich will es einmal sehr deutlich sagen: Sie können die Leistungen der Ökosysteme, die Leistungen der Natur – Wasserhaushalt, Luftreinhaltung, Artenvielfalt – nicht einfach technisch ersetzen. Das ist unmöglich. Dieses Bewusstsein fehlt ganz oft, und das ist Teil des Problems. Genau dieser Teil des Problems findet sich auch in Ihrem Antrag, liebe Unionsfraktion. In Ihren Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, lese ich nichts zum Naturschutz, ({4}) nichts zur Biodiversität und nicht einmal etwas zur Wasserkrise, und das nach diesem Dürresommer. Das ist einfach schwach, liebe Union. ({5}) Weil dieses Bewusstsein so fehlt, überschreiten wir unsere planetaren Grenzen massiv; Staatssekretärin Hoffmann hat vorhin darauf hingewiesen. Durch dieses Überschreiten der planetaren Belastungsgrenzen schränken wir unsere Freiheit und unsere Sicherheit ein, ({6}) und zwar nicht, wie es manche suggerieren, durch neue Gesetze und neue Regeln, sondern durch eine dramatische Übernutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das sehen wir beim Flächenverbrauch, das sehen wir bei der Rohstoffausbeutung, ({7}) das sehen wir auch am dramatischen Zustand der Meere und Wälder. Damit müssen wir Schluss machen, meine Damen und Herren. Mehr Nachhaltigkeit, um unsere Freiheit und unsere Sicherheit auch für kommende Generationen zu sichern! ({8}) Ich will auch ganz deutlich sagen: Das gilt auch gerade jetzt in der Krise. Angriffe auf Umwelt- und Naturschutz, sozusagen die Krise dafür zu instrumentalisieren, sind völlig fehl am Platz. Lassen Sie das bitte! Wir kriegen die Krise nicht bekämpft durch Abstriche am Umwelt- und Naturschutz, sondern das, was in der Krise hilft, sind ernsthafte Vorschläge und wirksame Konzepte statt Ablenkungsdebatten. ({9}) Lassen Sie uns zur Ernsthaftigkeit zurückkehren, meine Damen und Herren! Dann geben wir die richtigen Antworten auf die Krise. ({10}) Deswegen: Erhalten wir gerade jetzt das, was uns erhält! Das, was uns erhält, ist ein global umspannendes Netz der Arten und Ökosysteme. Weil wir global in dieser massiven Biodiversitätskrise sind, brauchen wir auch globale Antworten. Deswegen ist es gut, dass die Bundesregierung sich einsetzt für ein ambitioniertes Schutzabkommen für die Biodiversität, für ein Abkommen gegen die Plastikvermüllung, für ein Abkommen für den Schutz der Hohen See, dass die Bundesregierung 1,5 Milliarden Euro für die globale Biodiversitätsfinanzierung zur Verfügung stellt ({11}) und dass wir national vorangehen mit 4 Milliarden Euro für den natürlichen Klimaschutz. Ich kann nur sagen: Weiter so! ({12}) Ich freue mich, wenn alle, wirklich alle Ressorts daran mitwirken. Vielen Dank. ({13})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Markus Frohnmaier. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Scholz, Habeck und Baerbock wollen – ich zitiere aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – „den sozialen Zusammenhalt stärken“, „Armut überwinden“ und „inklusiven Wohlstand fördern“. Zitat Ende. Wo hat das links-gelbe Bündnis Armut überwunden? Wo haben Sie inklusiven Wohlstand geschaffen? Machen wir doch mal einen Realitätscheck: Lindner lässt auf Sylt die Korken knallen, ({0}) Frau Lambrecht kehrt mit dem Sohnemann in Berliner Luxusklubs ein, Habeck gibt uns Tipps zum Duschen, und Frau Baerbock stellt fremde Interessen über deutsche. ({1}) Schaumwein und Hummer für die unfähigen Minister. Waschlappen, Wärmehallen und Wollpullover für frierende Bürger. ({2}) Meine Damen und Herren, inklusiven Wohlstand fördert diese Regierung nur für sich selber. Die Bürger in Deutschland sind Ihnen doch völlig egal. ({3}) Anstatt Nord Stream 2 zu öffnen, lässt diese Regierung zu, ({4}) dass kritische Infrastruktur in die Luft gesprengt wird. Anstatt Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen, führt diese Regierung einen peinlichen Eiertanz auf, um grüne Fantasiewelten vor der Realität zu schützen. Anstatt mit höchster Priorität ein Inflationsschutzgesetz auszuarbeiten, schreibt diese Regierung lieber die hundertste Neuauflage des Infektionsschutzgesetzes, damit wir im Winter beim Frieren auch noch Maske tragen können. ({5}) Anstatt sofort alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Bürger und Unternehmen ihre Strom- und Gasrechnungen bezahlen können, verschenken Sie auch dieses Mal wieder 11 Milliarden Euro Entwicklungsleistungen ins Ausland. Auf inklusiven Wohlstand für die Damen und Herren der Regierung verzichten wir gerne, wenn es dafür wieder Politik mit exklusivem Bezug zur Realität gibt. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Jens Teutrine. ({0})

Jens Teutrine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005238, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt in allen Reden gehört: Es gibt mehrere Dimensionen der Nachhaltigkeit. Es gibt nicht nur die ökologische Nachhaltigkeit, sondern selbstverständlich auch die Fragen der ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit. Sie sind auch in den 17 Zielen der Vereinten Nationen festgeschrieben. Eines dieser Ziele ist die Bekämpfung von Ungleichheit. Da geht es auch um die Frage: Wie ist die nachhaltige Sozialpolitik gestaltet in unserem Land? Es wurde bereits angesprochen, und ich erlebe es auch immer wieder in Diskussionen, dass Sozialpolitiker glauben, dann als besonders sozial zu gelten, wenn sie viel Geld ausgeben. Gucken wir aber auf die Verteilung des Geldes, sehen wir: In Deutschland geben wir bereits 1 Billion Euro für die sozialen Systeme aus. Ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes fließt in die verschiedenen Systeme von Rente bis Gesundheit und damit in den Sozialstaat. Deswegen, glaube ich, sollte eine nachhaltige Sozialpolitik nicht daran gemessen werden, wer mehr Geld ausgibt, sondern die Frage ist: Wirkt das Geld, das ich ausgebe, auch entsprechend? ({0}) Bekämpft es Ungleichheitsdimensionen? Schafft es Aufstiegschancen für junge Menschen, oder zementiert es, obwohl ich so viel Geld ausgebe, eigentlich weiterhin Ungleichheiten? Ist es wirklich Hilfe zur Selbsthilfe, oder mache ich einiges vielleicht nur für das gute Gewissen? Deswegen ist der Blick auf die Nachhaltigkeitsdimension wichtig. Der Fortschritt von sozialer Politik misst sich nicht am Umverteilungsgrad, sondern an der Wirksamkeit der Maßnahmen und an den Aufstiegschancen. ({1}) Es ist sehr prominent, wenn es um Ungleichheiten geht, neue Steuern zu fordern. In dem Glauben, wenige Superreiche besteuern zu können, wird dann sehr gerne die Vermögensteuer wieder ins Spiel gebracht. In der jetzigen Situation ist es eine Gefahr für die Substanz des Mittelstandes in Deutschland, jetzt hier am Rednerpult des Deutschen Bundestages mehr Steuern und eine höhere Steuerbelastung für Unternehmen zu fordern. Die haben nämlich das Vermögen in den Betrieben. Es ist quasi gefährlich, zu glauben, man könnte so Vermögensungleichheit bekämpfen. Man muss die Debatte vielleicht einmal andersherum führen, indem man die Frage stellt: Wieso haben eigentlich so wenige Menschen mit einem mittleren Einkommen Rücklagen für diese Krise? Wieso haben sie in den letzten Jahren kein Vermögen gebildet? Wieso war es in Deutschland in den letzten Jahren so schwer möglich, sich den Traum von den eigenen vier Wänden zu ermöglichen? Wir sollten also weniger darüber diskutieren, vermeintlich große Vermögen kleiner zu machen, sondern mittlere Einkommen zur Vermögensbildung aufrufen. Es ist auch eine Frage von Nachhaltigkeit und von der Bekämpfung von Vermögensungleichheiten, die Debatte andersherum zu führen. Viele junge Menschen machen das. Die wissen, dass das Rentensystem marode ist. ({2}) Wir bezuschussen es schon. 100 Milliarden Euro an Steuergeldern fließen jedes Jahr ins Rentensystem, und wir wissen, dass die demografische Entwicklung die Lage noch weiter verschärfen wird. Deswegen sparen junge Menschen, indem sie ihr Geld in ETFs und Aktien anlegen. Wir sollten ihnen Anreize schaffen, beispielsweise durch eine Änderung der Spekulationsfrist, durch die die Erträge nicht erst ab einer Haltedauer von 10 bzw. 20 Jahren steuerfrei bleiben, oder durch größere Sparfreibeträge. ({3}) Die Frage von Nachhaltigkeit erschöpft sich nicht nur in einer ökologischen Dimension oder in linker Träumerei, wo man sein Wahlprogramm immer wieder vorliest, ({4}) sondern es ist notwendig, eine vertiefte Debatte zu führen. Als FDP stehen wir für Vermögensaufbau, wir stehen für Aufstiegschancen, und dafür werden wir uns in dieser Koalition auch starkmachen. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Jakob Blankenburg. ({0})

Jakob Blankenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005025, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimakrise, Artenkrise, Hungerkrise, Energiekrise, soziale Ungleichheit: Wir haben von diesem Redepult aus schon viel über die vielschichtigen Krisen gehört, vor denen wir in Deutschland, aber vor denen wir auch als gesamte Weltgemeinschaft stehen. ({0}) Manche dieser Krisen haben ihre Wurzeln im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, andere waren schon lange da, und ihre Effekte wurden durch den Krieg noch einmal verstärkt. Das gilt in besonderem Maße aber für die Klimakrise und die nur schleppende Umstellung der Energieversorgung von fossilen auf erneuerbare Energien. Diese Klimakrise trifft uns alle, aber ganz im Speziellen die junge Generation. Sie ist gleich doppelt betroffen von dieser Klimakrise. Sie muss zum einen besonders lange mit den negativen Auswirkungen des Klimawandels zurechtkommen, und sie ist zum anderen aus Sicht der Wissenschaft die letzte Generation, die noch in der Lage ist, das Ruder herumzureißen. Sie ist gleichsam dazu verdammt, will sie ihre zukünftigen Lebensgrundlagen schützen. ({1}) Wo immer man hinschaut, drängen junge Menschen auf Veränderung. Sei es beim globalen Klimastreik am vergangenen Freitag, seien es die Eingaben der Jungdelegierten beim High-Level Political Forum on Sustainable Development im vergangenen Sommer in New York oder die Beiträge der Jugendverbände – wir haben es heute schon gehört – bei der Jahrestagung des Rates für Nachhaltige Entwicklung am Montag: Überall sind sich die jungen Menschen einig, dass zu wenig passiert und dass wir als Politikerinnen und Politiker zu langsam sind. Auch der Indikatorenbericht 2021, der über den Sachstand der Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung Auskunft gibt, zeigt für Deutschland ein eher ausbaufähiges Bild. Bei zentralen Entwicklungszielen – kurz: SDGs – wie Armut, Hunger oder Ungleichheit treten wir auf der Stelle oder haben uns sogar verschlechtert. Dabei läuft uns die Zeit davon. Wir haben nur noch acht Jahre zur Erreichung der Ziele der Agenda 2030, und wir müssen uns jetzt bewegen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema erneuerbare Energien zeigen wir aktuell, dass das geht, dass wir Tempo machen können. Wir stellen die Weichen für einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren und damit hin zu einer klimaneutralen, nachhaltigen Energieerzeugung. ({3}) Wir müssen das in mehr Bereichen schaffen. Deutschland und die anderen westlichen Industriestaaten stehen in der Verantwortung, beim Thema nachhaltige Entwicklung voranzugehen. Wir haben unseren Wohlstand zum Teil zulasten anderer Länder aufgebaut, ({4}) ganz zu schweigen davon, welche negativen Umweltauswirkungen unser Wirtschaften und Handeln bis heute hat. Blickt man auf die Auswirkungen der eingangs genannten Krisen, dann sieht man, dass die westlichen Industriestaaten im Vergleich zu vielen Schwellenländern und Entwicklungsländern vergleichsweise gut dastehen. Deshalb dürfen wir bei der Umsetzung von Klima- und Entwicklungszielen nicht nachlassen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen weiter vorangehen und Vorbild sein, auch um andere Länder zu ambitionierterer Politik zu bewegen. ({5}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, dass sich die aktuelle Regierungskoalition als Fortschrittskoalition zum Thema Nachhaltigkeit bekennt. Sie bekennt sich auch zu internationaler Zusammenarbeit und zur Bewältigung globaler Krisen; das haben wir heute Morgen auch schon von Entwicklungsministerin Schulze gehört. ({6}) Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz nochmals bei der UN-Generalversammlung unterstrichen. Im Rahmen der deutschen G‑7-Präsidentschaft haben wir es auch ganz konkret unter Beweis gestellt und das Bündnis für globale Ernährungssicherheit und den Klimaclub initiiert. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir als Bundestag bekennen uns zum Thema Nachhaltigkeit, und deshalb müssen wir als Parlament den Anspruch haben, bei Weichenstellungen in der Nachhaltigkeit mit am Tisch zu sitzen. Wir haben bislang den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung als unser Gremium dafür. Aber wie der Name schon sagt, hat das Gremium einen eher begleitenden und beratenden Charakter. Hier müssen wir uns als Parlament stärker einbringen und auf ein wesentliches Entscheidungsgremium hinwirken. Wie das konkret aussehen kann, wird uns als Deutscher Bundestag in den nächsten Monaten beschäftigen. Der Kollege Kleebank hat uns heute schon Vorschläge unterbreitet.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Jakob Blankenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005025, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Debatte dazu. Dass wir als Parlament wirklich ein Wachhund mit Zähnen im Bereich der Nachhaltigkeit werden, daran arbeiten wir in den nächsten Monaten. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Wir führen die Debatte fort, und die nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin Astrid Damerow. ({0})

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist gut, dass wir die Nachhaltigkeit bei politischen Entscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich mehr berücksichtigt haben. Aber gerade in der Umwelt-, Landwirtschafts- und Ernährungspolitik wird dabei auch deutlich, wie sehr diese Ziele teilweise in einem Konflikt zueinander stehen. Beispielsweise fordern das Ziel 6, Wasser für alle verfügbar zu machen, und das Ziel 15 den Schutz der Landökosysteme. Der Schutz des Wassers und der Schutz der Landökosysteme sind Nachhaltigkeitsziele, denen wir uns verpflichtet haben. Seit Jahren unternehmen wir sehr viel, um unsere Gewässer zu schützen und unsere ökologische Vielfalt zu erhalten und zu verbessern. Alle Programme dazu fordern aber auch beispielsweise unserer Landwirtschaft eine Menge ab. Damit sind wir beim Nachhaltigkeitsziel 2, der Ernährungssicherheit. Deutschland ist ein Gunststandort für die Nahrungsmittelproduktion. Soll heißen: Wir haben auch die Pflicht, Nahrungsmittel für Menschen in weniger begünstigten Regionen der Erde zu produzieren. Heißt also: Zwischen den Nachhaltigkeitszielen „Schutz des Wassers“ und „Schutz der Landökosysteme“ sowie dem Ziel 2, der Ernährungssicherheit, bestehen nicht unerhebliche Konflikte, die wir erstens, finde ich, in den Debatten um unsere Schutzprogramme deutlich klarer benennen müssen, ({0}) bei denen wir aber zweitens auch alles an Innovationen nutzen müssen, um diese Ziele zu erreichen. Ich spreche hier beispielsweise die Debatte an, die wir vor einiger Zeit zur Nutzung neuer genomischer Techniken zur Züchtung von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen hatten. Ein anderes Beispiel sind das SDG 9 – hier bekennen wir uns zu einer widerstandsfähigen Infrastruktur – und das Ziel 11 bezüglich sicherer und widerstandsfähiger Städte und Siedlungen. ({1}) Verschiedene Hochwasserkatastrophen in den vergangenen Jahren führten uns aber vor Augen, dass wir massive staatliche Investitionen in den Hochwasserschutz vornehmen müssen. Ein widerstandsfähiger Hochwasserschutz wird aber auch Flächen in Anspruch nehmen. Dies sind dann Flächen, die wir nur noch eingeschränkt für Siedlungen, für Landwirtschaft, aber auch für den Ausbau der erneuerbaren Energien nutzen können. Haben wir auf diese Konflikte wirklich schon Antworten? Im Nachhaltigkeitsziel 14 fordern wir die nachhaltige Nutzung und Bewahrung unserer Ozeane und Meere. Natürlich: Sie sind Lebensraum für Fische, Vögel, Pflanzen, und sie sind unverzichtbar für das Überleben der Menschheit. Auch deshalb hat Deutschland 45 Prozent seiner Meeresgewässer unter Schutz gestellt. Unsere Meere sind aber auch Wirtschaftsräume: für Fischerei, für Tourismus. Sie sind Handelswege, und die Häfen sind notwendig für den Transport von Waren und Gütern. Zusätzlich werden wir nun mit der Offshorewindenergie auch noch mehr erneuerbare Energien in unseren Meeren produzieren müssen. Denn die Produktion von erneuerbaren Energien ist ein Beitrag zum Nachhaltigkeitsziel 7, nachhaltige und moderne Energie für alle zur Verfügung zu stellen. Zugleich ist der Bau von Offshorewindanlagen aber ein massiver Eingriff in das Ökosystem unserer Meere. Auch auf diese Konfliktsituationen brauchen wir Antworten, die wir ehrlicherweise noch nicht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele belegen, dass alle Nachhaltigkeitsziele sich aufeinander beziehen; es ist heute schon angesprochen worden. Soll heißen, dass das vollständige Erreichen eines Nachhaltigkeitszieles sofort massive Konflikte mit dem Erreichen anderer Ziele nach sich zieht. Um das in Einklang zu bringen, wird uns viel abverlangt werden. Wir werden uns wesentlich offener – das hat die Kollegin der FDP vorhin angesprochen – mit Innovationen in allen Bereichen beschäftigen müssen. Es darf dann auch keine Denkverbote geben, die wir alle zugegebenermaßen, mitunter auch reflexhaft, haben; ich hatte vorhin schon das Thema der genomischen Techniken angesprochen. ({2}) Ich denke, die Debatte um die Nachhaltigkeit wird immer wieder auch zu politischen Auseinandersetzungen führen, und zwar hier in unserem Parlament. Das ist richtig, und das ist auch wichtig. Ich will mich hier meinem Kollegen Ralph Brinkhaus anschließen: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Ampelkoalition sich wie in der Vergangenheit dafür wirklich einen ganzen Tag Zeit genommen hätte ({3}) und jeder Fachbereich das Thema Nachhaltigkeit hätte ausgiebig diskutieren können. ({4}) Denn an den wenigen Beispielen, die ich gerade aufgezählt habe, wird ja deutlich, dass es ein wirklich sehr, sehr komplexes Thema in allen Fachbereichen ist. Wir werden mit einer Debatte von drei Stunden der Komplexität dieses Themas eigentlich in keiner Weise gerecht. Möglicherweise ist die Ampelkoalition in der Lage, sich vielleicht für nächstes Jahr ein anderes Vorgehen zu überlegen. Das würde meine Fraktion und mich sehr freuen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist für Bündnis 90/Die Grünen Stefan Gelbhaar. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Damerow, vielen Dank für den Beitrag und auch für Ihre Worte zum Abschluss der Rede. Wir werden das für das nächste Jahr sicherlich berücksichtigen. ({0}) Aber ich möchte eins sagen: 2020 war es eben auch keine Nachhaltigkeitswoche, wie es der Kollege Ralph Brinkhaus gesagt hat; so war es nicht. ({1}) Es ist, ehrlich gesagt, auch nicht so, dass wir ein Erkenntnis- oder ein Wissensproblem haben; wir haben ein Umsetzungsproblem. ({2}) Ich will noch etwas sagen in Richtung des Kollegen Brinkhaus. Sie haben es so wunderbar formuliert: Immer war was anderes wichtiger. – Ja, das ist aber nicht vom Himmel gefallen, sondern es sind ja menschengemachte Entscheidungen, dass immer etwas anderes wichtiger ist. ({3}) Für diese Entscheidungen gab es Verantwortlichkeiten. Gerade die größte Fraktion in der letzten Legislatur hat doch da irgendeine Verantwortung gehabt, und, ehrlich gesagt, auch der Fraktionsvorsitzende der größten Fraktion hat doch da eine Verantwortung gehabt. ({4}) Deswegen finde ich es, ehrlich gesagt, ein bisschen irritierend, wenn Sie sich hier vorne hinstellen und sagen: Alles andere war irgendwie ein bisschen wichtiger – sorry for this! –, deswegen sind wir nicht so richtig weitergekommen. – Aber jetzt sollen wir mal richtig loslegen. Das passt nicht, und, ehrlich gesagt, sollte man Ross und Reiter auch benennen. ({5}) Aber gut; das ist alles Vergangenheit. Trotzdem: Man muss es doch immer mal wieder andeuten, wenn das hier so vorgetragen wird. Aber machen wir es mal konkret: Nachhaltigkeit und Verkehr. Das erste Stichwort dazu ist „Klimaschutz“. Hier haben wir Nachholbedarf nach vielen Jahren und Jahrzehnten der Untätigkeit. Wir hoffen, dass der Verkehrsminister im Rahmen des Klimaschutz-Sofortprogramms jetzt ein Maßnahmenpaket vorlegen wird. Das ist mit der Erwartung verbunden, zumindest von uns, dass das dann den Klimaschutzzielen von Paris genügt. Nach einem Jahr Ampelkoalition ist der Koalitionsvertrag logischerweise noch nicht abgearbeitet. Damit aber unsere künftige Verkehrspolitik klimagerecht ist, brauchen wir den vereinbarten Klimacheck. Das ist eine Aufgabe, die jetzt erledigt werden muss. ({6}) Aber Nachhaltigkeit – das ist in den ganzen Redebeiträgen schon durchgeklungen – ist eben nicht nur Klimaschutz, sondern zum Beispiel auch Umweltschutz. Auch hier gibt es im Verkehrssektor erheblichen Nachholbedarf. Der Straßenbau verbraucht Fläche. Wälder werden abgeholzt, Moore werden trockengelegt, Lebensräume von Wildtieren werden zerschnitten. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, den Flächenverbrauch stark einzudämmen. Das gilt es nun in die Arbeit der Ministerien, in die Arbeit des Verkehrsministeriums, zu implementieren. Das betrifft dann zum Beispiel den Straßenneu- und ‑ausbau. Da werden wir reduzieren müssen. ({7}) Ganz ehrlich: Da gibt es jetzt auch gar keinen so großen Widerspruch; das ist auch logisch. Denn vier der hier versammelten Fraktionen haben 2010 dem schon mal zugestimmt im Rahmen der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. ({8}) Da ist gesagt worden: Wir müssen bei der Erfüllung der Reduktionsziele immer wieder nachschauen und sie auch umsetzen. – Wir müssen weg von diesen Sonntagsreden. Schließlich: Nachhaltige Verkehrspolitik berücksichtigt den Gesundheitsschutz. Da geht es um Lärm; da geht es um Feinstaub, um Stickoxide, um Ruß. Da haben wir nicht nur eine globale Verantwortung, sondern auch eine soziale und, ehrlich gesagt, auch eine Geschlechterverantwortung.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum Schluss will ich sagen: Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auch einen Gleichstellungscheck verankert. Damit wird sich auch das genau angeschaut; das ist wichtig. – Und last, but not least –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Letzter Satz, Herr Gelbhaar, bitte; sonst ziehe ich anderen Redezeit ab.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– das wird der letzte Satz –: Wir müssen wegkommen von den drastischen Fehlanreizen; da haben die Kollegen von der FDP recht. Deswegen müssen wir klimaschädliche Subventionen abbauen, und auch das ist ein Ziel unserer Koalition. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat Stephan Brandner das Wort. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie gibt es seit 2017. Die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie seit 2002 – erst Schröder, dann Merkel, jetzt Scholz mit seiner hellbraunen Truppe. Und was ist bisher daraus geworden? Nichts! Ich bin jetzt der 26. Redner in dieser Debatte. 22‑mal haben wir bisher heiße klimaschädliche Altparteienluft gehört. „Warum?“, frage ich mich. Ich sage Ihnen, warum: weil Sie seit 20 Jahren in der Nachhaltigkeit herumstochern, sich im Nachhaltigkeitssumpf herumsuhlen, und es hat zu nichts geführt. ({0}) Der bisherige Erfolg Ihrer Nachhaltigkeit ist: Sie haben Deutschland nachhaltig geschadet. Sie haben Deutschland nachhaltig ruiniert. Unser Deutschland steht nachhaltig am Abgrund, ({1}) und zwar von diesem Abgrund nicht mehr weit entfernt. Und wenn Sie nachhaltig so weitermachen, dann sind wir demnächst einen Schritt weiter, nämlich im Abgrund – nachhaltig. Die Armut, meine Damen und Herren, nimmt rasant zu. Die Inflation galoppiert. Die Verbraucher- und Energiepreise explodieren. Wir sind verteidigungsunfähig. Wir sind bei Energie, Pharmazie, IT und Lebensmitteln abhängig vom Ausland. Das ist der Erfolg Ihrer Nachhaltigkeitsstrategie seit 20 Jahren. ({2}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, was wir brauchen: Wir brauchen eine nachhaltige Umsetzung des AfD-Programms. Die brauchen wir und nichts anderes. ({3}) Wir stehen für die Existenz unseres Deutschlands, für geschlossene Grenzen und die Beendigung der illegalen Einwanderung. Wir stehen für ein Leben, das man sich leisten kann, für Energiesicherheit und Versorgungssicherheit, für Wohlstand und die Stärkung der Wirtschaft. Wir stehen für Grundrechte, für Freiheit, die demokratischen Prinzipien, für Gewaltenteilung, die Freiheit der Meinung, die Demonstrationsfreiheit, für eine freie Presse und für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Wir stehen schlicht und ergreifend dafür: Unser Deutschland, unser Land zuerst. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort Ria Schröder. ({0})

Ria Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005215, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn es noch eines Beweises für die Wichtigkeit von Bildung bedarft hätte, dann haben Sie den eben erbracht. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Bildung ist das Thema meiner Rede. Das vierte Nachhaltigkeitsziel ist ({1}) nicht zufällig, inklusive, gerechte und hochwertige Bildung zu gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle zu fördern. Bildung schafft Chancen für ein selbstbestimmtes Leben, und sie ist die Voraussetzung für zukunftsweisende Wissenschaft und Forschung. Dank wissenschaftlicher Erkenntnisse kennen wir etwa den Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von CO2 und dem Klimawandel. ({2}) Dank Forschung und Innovation können wir nachhaltige Alternativen zur fossilen Lebensweise entwickeln. ({3}) Das Bundesministerium für Bildung und Forschung treibt als zentraler Nachhaltigkeitsakteur diese Entwicklung voran, sei es im Hinblick auf Grünen Wasserstoff im Rahmen der Nationalen Wasserstoffstrategie oder bei Zukunftstechnologien für übermorgen, beispielsweise bei der Grundlagenforschung im Bereich der Kernfusion. Hier liegt das Fundament für unsere nachhaltige, klimaneutrale und souveräne Zukunft. ({4}) Bildung und Forschung sind die Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben. Inflation ist eine der größten Bedrohungen für den Wohlstand in unserem Land. Wenn das Ersparte auf dem Konto oder im Sparstrumpf immer weniger wert ist, dann trifft das ganz besonders Menschen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, bei denen es auf jeden Euro ankommt. ({5}) Gleichzeitig ist es so, dass viele Menschen gar nicht richtig wissen, wie ihnen geschieht: Inflation, Finanzmarkt, Bankenwesen sind böhmische Dörfer für so viele in unserem Land. Daher ist ökonomische Bildung, finanzielle Alphabetisierung entscheidend. ({6}) Meine Damen und Herren, es geht um nicht weniger als um die Demokratisierung von Elitenwissen. Machen wir unser Wirtschaftssystem für alle Menschen zugänglich, indem das Wissen darüber bereits in der Schule unterrichtet wird! ({7}) Junge Menschen sollten Ahnung haben von Aktien und ETFs, sie sollten verstehen, wie man Unternehmen gründet und wie man für das Alter vorsorgt – Jungen und Mädchen in allen Schulformen. ({8}) Ganz besonders für Mädchen ist die finanzielle Bildung wichtig; denn gerade beim Thema Altersvorsorge sehen wir immer wieder: Besonders Frauen sind von Altersarmut betroffen. ({9}) – Das ist eine Realität, da brauchen Sie nicht die ganze Zeit von der Seite herumzublöken. ({10}) Im Koalitionsvertrag haben wir bewusst festgehalten, dass wir Schülerfirmen als Bestandteil von Bildung für nachhaltige Entwicklung fördern wollen; denn ökonomische Bildung und Nachhaltigkeit gehören zusammen. ({11}) Meine Damen und Herren, Bildung und Forschung machen unsere Gesellschaft zukunftsfähig, die Menschen frei und unsere Demokratie stark. Was könnte nachhaltiger sein? ({12})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brandner, was Sie hier in Ihrer Rede gesagt haben, das ist wirklich Unsinn und Schwachsinn. ({0}) Humboldt hat schon gesagt: Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben. – Sie sind betriebsblind. Sie werden dank einer großen Mehrheit in diesem Volk nie in der Lage sein, dieses Land zu regieren oder zu führen. Sie leisten überhaupt keinen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft. ({1}) – Ja, man merkt schon, dass Sie das im Kern trifft, weil Sie hier nur Unsinn verbreiten. ({2}) Zurück zum Thema. Nachhaltigkeit ist sehr wichtig. Deshalb ist es gut, dass wir diese Debatte heute hier im Deutschen Bundestag führen. Schon im April 1961 hat Willy Brandt in einer Rede in Bonn gesagt, dass der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau werden muss. ({3}) Schon damals ist erkannt worden, dass sich wirtschaftlicher Erfolg nur einstellen kann, wenn man auch Umweltaspekte berücksichtigt. Damals ist schon erkannt worden – – ({4}) Frau Präsidentin, darf ich meine Rede fortführen? – Danke schön. Das ist bei dem Tumult nur schwer möglich. ({5}) Damals ist im Rahmen einer Umweltbewegung schon erkannt worden, dass wirtschaftlicher Erfolg sich nur dann einstellt, wenn man auch die sozialen und ökologischen Aspekte mit berücksichtigt. Deshalb sage ich: Unsere Volkswirtschaft ist nicht trotz, sondern wegen hoher Umweltschutzstandards, wegen hoher Sozialstandards ({6}) wirtschaftlich erfolgreich. Das ist die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. ({7}) Es ist schon viel passiert. Das sieht man, wenn man sich die Berichte der Unternehmen anguckt, und zwar nicht nur die Finanzkennzahlen, sondern die Nachhaltigkeitsberichte. Diese sind in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden. Sie beschreiben, wo Unternehmen sich auf den Weg gemacht haben, innovative Produkte zu entwickeln, Rohstoffwirtschaft und Lieferketten so zu organisieren, dass die Unternehmen den hohen Ansprüchen gerecht werden, damit wir in eine Kreislaufwirtschaft kommen, in der wir Produkte aus der Industrie für neue Technologien wiederverwenden. Daran werden wir unsere Politik weiterhin orientieren. Im Koalitionsvertrag mit unserem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ sehen wir vor, dass wir auch mehr Innovationen wagen, damit wir das 1,5‑Grad-Ziel erreichen. Dieser Koalitionsvertrag ist wie ein roter Faden und orientiert sich daran, wie man diese Ziele erreichen kann. Deshalb sage ich: Wir haben mit unserer Wirtschaft, mit unserem Mittelstand und unserer Industrie nicht das Problem, sondern die Lösung für globale Herausforderungen, ({8}) gerade aus der Industrie, gerade aus den Laboren, aus den Werkstätten, verbunden mit Universitäten. Dieses innovative Umfeld wird dazu führen, dass wir neue Exportmöglichkeiten entwickeln, globale Märkte für Produkte aus deutscher Produktion erschließen. Das wird uns auch dabei helfen, diese Klimaziele zu erreichen. Wenn man sich die Investitionen anguckt, sieht man, dass es sicherlich notwendig ist, hier auch staatlich zu unterstützen. Viele Programme – ZIM und andere aus dem Wirtschaftsministerium – ermuntern ja gerade den Mittelstand, diese Innovationen nach vorne zu bringen. Aber ich sage auch: Die Rahmenbedingungen für private Investitionen müssen wir verbessern, auch für solche in die Infrastruktur unseres Landes. Wir müssen moderner werden im Gesundheitswesen, in der Infrastruktur, im Bereich der erneuerbaren Energien, zum Beispiel der Wasserstofftechnologie, aber auch im Bereich der Glasfasernetze. Das wird die Zukunft sein, auf der sich wirtschaftliche Entwicklung gut entfalten kann. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Willy Brandt hat auch gesagt, dass wir als reiche Länder eine Verantwortung gegenüber den ärmeren Ländern und Schwellenländern auf der südlichen Halbkugel haben. Das, was Willy Brandt mit Olof Palme auf den Weg gebracht hat – den Nord-Süd-Dialog –, das ist auch getragen von der Verantwortung eines reichen Landes. Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir die sozialen Aspekte global verankern. Es kann nicht sein, dass wir es zulassen, wie andere Menschen in anderen Regionen leben müssen: mit Hunger, mit Armut, mit Kindersterblichkeit. Letzter Satz, Frau Präsidentin. Ich finde, auch die sozialen Aspekte müssen wir uns hier in Deutschland in den Betrieben noch mal angucken: wie wir die Mitbestimmung, die Beteiligung der Belegschaft erweitern können, –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte jetzt zum Schluss.

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– auch bei den Themen Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist gerade jetzt wichtig. Schaut man auf die Welt, dann bestätigt sich diese Einschätzung. Insofern können die 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, die auf Ebene der Vereinten Nationen beschlossen wurden, gerade jetzt und auch im internationalen Kontext nicht stark genug betont werden. Zu diesen Zielen gehören beispielsweise keine Armut – Ziel 1 –, kein Hunger – Ziel 2 –, gute Bildung – Ziel 4 –, Gleichberechtigung der Geschlechter – Ziel 5 – bis hin zu Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen. Gerade jetzt ist eine nachhaltige Entwicklung wichtig, meine Damen und Herren. Jetzt wissen wir alle: Gerade in Krisenzeiten spricht man nicht so gerne über Themen wie Nachhaltigkeit; denn ein mancher glaubt, das wäre jetzt nicht so wichtig. Es ist übrigens schade, dass die zuständige Staatsministerin Ryglewski der Debatte nicht mehr beiwohnt. Aber ich möchte ganz klar sagen: Das Gegenteil ist doch der Fall. Es geht bei Fragen einer nachhaltigen Entwicklung auch darum, Krisen in der Zukunft zu verhindern. Viele schwerwiegende Krisen der heutigen Zeit sind sogenannte systemische Krisen: Pandemien, Klimakrise, Finanzkrisen, Krisen der Energieversorgung – Stichwort „Gefahren eines Blackouts“ –, Lieferkettenprobleme, internationale Abhängigkeiten usw. Das heißt, es sind immer anfällige Gesamtsysteme, die oft sehr verwundbar sind und im globalen Kontext stehen. Deshalb bedeutet nachhaltige Entwicklung immer auch ein Mehr an Resilienz, ein Mehr an Widerstandsfähigkeit im System, damit auch ein Mehr an Souveränität, und zwar in jedem Bereich: bei der Nahrungsmittelversorgung, bei medizinischen Erzeugnissen, bei der Frage von gewissen Einsatzprodukten für unsere Wirtschaft, bei Mikrochips, bei Lieferketten. Mehr Widerstandsfähigkeit kann auch durch stabile Staatsfinanzen erreicht werden und bedeutet damit mehr Stabilität für die sozialen Sicherungssysteme und natürlich auch mehr Generationengerechtigkeit. Für diese Stabilität, für diese Widerstandsfähigkeit stehen wir als Union. Das haben wir in unserem Antrag auch sehr deutlich gemacht, um das klar zu sagen. ({0}) Wir stehen zu einer nachhaltigen heimischen Landwirtschaft, die wiederum für Ernährungssicherheit steht und dazu beiträgt. Wir wollen im Kontext der Ernährungssicherheit übrigens explizit Rechtsunsicherheiten bei der kostenlosen Weitergabe von Lebensmitteln abbauen. Es ist nach wie vor ein Skandal, dass 11 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall landen, dass pro Person 78 Kilogramm Nahrungsmittel im Abfall landen. Es muss weiter dagegen gearbeitet werden. Wir stehen außerdem für Regionalität, für Lokalität. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Internationalität – der internationalen Arbeitsteilung, die in keiner Weise infrage zu stellen ist – und Regionalität. Produkte aus der Region sind ein Megatrend mit vielen Chancen, mit vielen Wertschöpfungsmöglichkeiten. Wir als Unionsfraktion haben in einer Aktion am Dienstag diese Vielfalt aus den Regionen sehr gut dargestellt. Diese regionalen Produkte tragen außerdem dazu bei, Transportwege zu sparen zum Nutzen aller. Wir werden Regionalität, regionale Produkte weiter stärken, meine Damen und Herren. ({1}) Gerade im Moment zeigt sich an vielen Stellen: Wir können nur helfen – auch international –, wenn wir wirtschaftlich stark sind, wenn wir leistungsfähig bleiben. Wir können auch nur dann technologischen Transfer leisten, wenn wir unsere Technologien auch im eigenen Land anwenden und sie dann entsprechend international erfolgreich sind. ({2}) Wie wichtig die ökonomische Dimension ist, erleben wir gerade jetzt im Bereich der Energieversorgung. Wir brauchen hier alle Dimensionen: Wir brauchen natürlich die ökologische Dimension: Wir brauchen mehr Erneuerbare. Wir müssen systemisch denken. Wir brauchen Versorgungssicherheit. Wir brauchen bei der Energieversorgung aber auch die wirtschaftliche, die ökonomische Dimension: Wir brauchen wettbewerbsfähige Preise für unsere Wirtschaft. Und wir müssen auch die soziale Dimension berücksichtigen, nämlich dass sich jeder die Energieversorgung leisten kann. Wir brauchen diese Voraussetzungen, sonst droht eine Dimension – die ökonomische –, im Gesamten in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Verschwindet die Industrie, verschwindet das produzierende Gewerbe in Deutschland, dann gibt es auch nichts mehr zu transformieren hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Das müssen wir immer auch im Hinterkopf haben. ({3}) Verschwindet die Industrie aus Deutschland, sind aber die Emissionen nicht weg. Die Emissionen finden dann an anderen Orten der Welt statt, und das ist gerade nicht nachhaltig. Manchmal kann man sich dem Begriff der Nachhaltigkeit nämlich auch nähern, wenn man davon ausgeht, was nicht nachhaltig ist. Das zeigt, Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn alle Dimensionen berücksichtigt werden, und sie hat immer auch eine globale Perspektive. Der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung ist lang; wir sind schon ein gutes Stück gegangen. Es ist aus unserer Sicht aller Mühe wert, diesen Weg weiter zu gehen. Dabei müssen wir wissen, dass der Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung immer auch ein Weg hin zu einem Mehr an Nachhaltigkeit ist. Er findet nicht in einem Ziel Erfüllung, sondern er findet sich in diesem Prozess wieder. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Karoline Otte. ({0})

Karoline Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005172, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung; es geht um nicht weniger als um eine Welt, die Zukunft hat. Die Klimakrise – das tatsächliche An-die-Wand-Fahren unserer Lebensgrundlage – kann einem in Plenardebatten reichlich abstrakt vorkommen. Aber ein Jahr nach der Katastrophe im Ahrtal, nach einem Hitzesommer mit krasser Dürre vom Schwarzwald bis nach Brandenburg ({0}) – wenn Sie das so sehen; ich fand es ganz schön warm –, mit den aktuellen Bildern aus Pakistan: Es muss doch jetzt überall klar geworden sein, was die Abhängigkeit von fossilen Energien für unsere Gesellschaft bedeutet, eine Abhängigkeit, die just in diesem Moment als Waffe gegen uns gerichtet wird. Die Antwort auf die Vielzahl dieser Krisen, mit denen wir gerade umgehen müssen, darf nicht der fossile Rollback sein. ({1}) Der Kampf für eine Welt, die Zukunft hat, beginnt vor Ort, und er ist entschlossener denn je zu führen. Wir müssen jetzt vor Ort investieren. In der aktuellen Situation auf die Schuldenbremse zu pochen, ist gefährlich. Der nächste wichtige Schritt, die Wärmewende, findet vor Ort statt und braucht die Bereitschaft des Bundes, dafür substanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. ({2}) Den Wärmeenergieverbrauch schnell zu senken, ist das Gebot der Stunde. Städte und Gemeinden arbeiten mit niedrigschwelligen Maßnahmen schon jetzt daran und heben ein Effizienzpotenzial von 20 Prozent. Damit wir mittel- und langfristig den Wärmeenergieverbrauch senken, ist es entscheidend, dass wir die energetische Gebäudesanierung verstärkt fördern. Mit dem Gebäudeenergiegesetz wird außerdem dafür gesorgt, dass Wärme zu 65 Prozent aus erneuerbaren Energien stammt und das KfW-Effizienzhaus 40 für den Neubau zum Standard wird. ({3}) Damit wir sicherstellen, dass alle Haushalte eine Alternative zu fossil betriebenen Heizsystemen haben, brauchen wir die kommunale Wärmeplanung. ({4}) Hier füllen wir die Wärmewende vor Ort mit Leben. Mit der kommunalen Wärmeplanung bringen wir ein Projekt des Koalitionsvertrages auf den Weg, das für die Bewältigung der Wärmewende zentral ist. ({5}) Wir brauchen vor Ort die Mittel und das Personal, um gute Antworten gemeinsam mit den Menschen entwickeln zu können. Bis in das Dorf hinein, aus dem ich komme, brauchen wir gute Lösungen – ({6}) flächendeckend und verschränkt mit dem Systementwicklungsplan des Wirtschaftsministeriums. Wir brauchen die Städte und Gemeinden. Für eine Welt, die Zukunft hat, brauchen wir starke Kommunen. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Meine Uhr läuft nicht. ({0}) – Ja, ist gut so. Also fange ich schon mal an. – Meine Damen und Herren, wir haben hier die Nachhaltigkeitsdebatte. Diese Nachhaltigkeitsdebatte, die wir stundenlang hören, zeigt uns vor allen Dingen, dass Sie nicht an echten Lösungen interessiert sind, sondern vor allen Dingen daran interessiert sind, hier Phrasenreden zu halten und Menschen mit leeren Versprechungen zu beeindrucken. ({1}) Jetzt werde ich konkret. Was haben Sie für Gesetze gemacht? Sie haben in den letzten Jahren ja die Gesetze gemacht, nicht wir. Zum Beispiel haben Sie im Verkehrssektor – es geht immer um die Reduktion von CO2-Emissionen; das ist Ihr größtes Ziel – ein Gesetz gemacht, nach dem Elektroautos erlaubt sind, die mit Kohlestrom geladen werden und einen CO2-Ausstoß erzeugen, der doppelt so groß ist wie der von heutigen dieselbetriebenen Kraftfahrzeugen – doppelt so groß! Das können wir hier machen. Das ist Ihr Gesetz, das Sie auf europäischer Ebene gemacht haben. Dagegen wollen Sie verhindern, dass verbrennungsmotorische Autos, die mit CO2-neutralem Sprit betrieben werden und gar keine Emissionen erzeugen, als nachhaltig eingestuft werden. Das ist Ihre konkrete Gesetzgebung. Das ist nicht nachhaltig; das ist einfach nur Unsinn. ({2}) Das führt auch dazu, dass die Arbeitsplätze in unserem Land verloren gehen und dass die Gleichheit in unserem Land, die wir ja immer anstreben – eben nicht, dass manche Menschen sich Mobilität mit Autos leisten können und andere nicht –, verloren geht. Es wird in unserem Land dazu führen, dass sich nur noch sehr wenige Menschen Mobilität leisten können, weil viele nämlich auch gar keinen Arbeitsplatz mehr haben, weil die Elektroautos, die Sie so gerne wollen, gar nicht aus Deutschland kommen. ({3}) Das ist ganz anders als die Nachhaltigkeit, die wir uns als Partei vorstellen. Wir wollen auch Nachhaltigkeit. Wir wollen genau die 17 Development Goals, die Sie auch haben, aber mit anderen Methoden. Wir wollen nicht Ihre Phrasen nachziehen. Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land alle die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen, mit der sie ordentlich Geld verdienen, und dass sie alle die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, was für ein Auto sie fahren. Das ist unser Verständnis von Nachhaltigkeit. Davon habe ich hier heute nur von den Rednern unserer Fraktion etwas gehört, –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– von Ihnen habe ich dazu nichts gehört. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort Nils Gründer. ({0})

Nils Gründer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005299, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen sind wohl den meisten hier ein Begriff. Sie sind Grundlage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie mit ihren sechs Prinzipien, Kompass für ein nachhaltiges Leben und die wohl größte Peacekeeping-Mission des 21. Jahrhunderts. Wie spürbar die Konsequenzen von globalen Konflikten in Deutschland sind, erleben die Bürgerinnen und Bürger jeden Tag, ob an der Kasse im Supermarkt oder beim Tanken an der Zapfsäule. ({0}) Um diese Auswirkungen zu mindern, spielt Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle. Nehmen wir unsere Verantwortung, die wir als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt haben, wahr und lassen Nachhaltigkeit als elementaren Bestandteil der globalen Sicherheitsarchitektur mit in unser Handeln einfließen. ({1}) Konkret denke ich dabei an folgende Punkte: Genau wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte unumstrittene Aspekte der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind, sollte auch Nachhaltigkeit Teil dieses Selbstverständnisses sein; denn neben der dringend notwendigen materiellen Ausstattung trägt beispielsweise auch die Prävention von Fluchtursachen wie Dürren und Überflutungen zur Konfliktvermeidung bei. Dem Stellenwert, den Nachhaltigkeit in der internationalen Gemeinschaft bereits auf dem Papier genießt, müssen endlich auch die praktischen Umsetzungen gerecht werden; denn Nachhaltigkeit ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die wir nur in Kooperation mit allen Staaten umsetzen können. Dass es keine Gedankensprünge braucht, um Nachhaltigkeit und Sicherheitspolitik zusammenzudenken, zeigen vielerlei Beispiele – seien es die Auswirkungen unter anderem von Ernteausfällen auf das politische Klima in Syrien im Vorfeld des Bürgerkriegs, sei es die Notwendigkeit, Länder unabhängiger von endlichen Ressourcen zu machen, die die Gefahr von Konflikten bergen, wie wir sie derzeit unter anderen im Südsudan beobachten. Das Bundeswehrmandat für die UN-Mission in Kooperation mit Juba im Südsudan zeigt, wie greifbar und unmittelbar die Konsequenzen auch für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind. Wie meine Kolleginnen und Kollegen heute bereits ausgeführt haben, spielt die Finanzierung der benannten Projekte eine entscheidende Rolle. Ich möchte eindringlich darauf hinweisen, dass Entwicklungshilfe für mehr Nachhaltigkeit eben keine Spenden sind. Sie sind Investitionen in eine friedliche Zukunft. ({2}) Außerdem sind sie Teil der Verantwortung eines Landes, das einen globalen Führungsanspruch äußert. ({3}) Entwicklungsgelder, die in UN-Nachhaltigkeitsziele fließen, sind Investitionen in eine nachhaltige Zukunft und in eine globale und stabile Sicherheitsarchitektur. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Kollegin Dorothee Martin. ({0})

Dorothee Martin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004959, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Nur ein Satz zur Rede von der AfD: Sie hat einfach noch mal dieses völlig düstere und menschenverachtende Bild gezeigt, das ihre Politik prägt und das von einer Fachfremdheit nur so gekennzeichnet ist. Nur ein Beispiel: In der Lausitz entstehen gerade 1 000 neue Jobs durch neue Batteriezellenproduktion. Das verleugnen Sie; das missachten Sie. Das ist reine Angstmache für die Menschen in diesem Land. Das ist unseriös. Das ist abschreckend. ({0}) – Wenn Sie weiter pöbeln wollen, gehen Sie einfach raus! Hier ist kein Raum dafür. ({1}) Jetzt aber zu meiner Rede, liebe Kolleginnen und Kollegen. Mobilität und Nachhaltigkeit, das gehört für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten untrennbar zusammen. Unser Koalitionsvertrag ist da ganz klar: Wir wollen die 2020er-Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente und bezahlbare Mobilität für alle möglich machen. Dafür setzen wir auf den Ausbau von Elektromobilität, auf Stärkung von Schiene und Wasserstraße, den Ausbau von Radwegen, auf vernetzte Angebote im ÖPNV und vieles mehr, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Prinzip in der Nachhaltigkeitsstrategie ist „nachhaltiges Bauen und Verkehrswende“. Diese Verknüpfung finde ich gerade auch bei Verkehrsprojekten unglaublich wichtig; denn auch da müssen wir bereits in der Bau- und Planungsphase Nachhaltigkeit und Klimaschutz deutlich priorisieren. Dazu ein Beispiel aus meiner Heimatstadt: In Hamburg wird derzeit eine neue U‑Bahn quer durch die ganze Stadt gebaut. Die neue U5 wird die klimaschonende U‑Bahn in Deutschland; denn schon beim Bau sollen Emissionen so weit wie möglich verringert werden. Nach konventioneller Bauweise – das wurde errechnet – entstünde ein CO2-Ausstoß von fast 3 Millionen Tonnen; aber dank einer unter CO2-Aspekten völlig neuen, optimierten Planung können diese Emissionen im Bau schon um 70 Prozent verringert werden. Mit der neuen U‑Bahn werden nach Fertigstellung täglich rund 290 000 gefahrene Pkw-Kilometer eingespart – täglich! Das spart Emissionen; das entlastet unsere Straßen, und das reduziert auch Lärm für die Bürgerinnen und Bürger. Dieses Vorhaben, das zeigt ganz beispielhaft: ({2}) Mit einem modernen, mit einem nachhaltigen Angebot schaffen wir den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV, meine Damen und Herren. ({3}) Für uns als SPD ist wichtig: Nachhaltige Mobilität bedeutet Teilhabe und ist damit auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Damit diese Teilhabe auf dem Land eben genauso möglich ist wie in der Stadt, brauchen wir allerorts Ausbau von Bus und Bahn. Dabei werden auch ganz neue Konzepte und Innovationen sowie die Reaktivierung von stillgelegter Infrastruktur helfen. Um ein Beispiel zu nennen: Ich habe mir im Frühjahr zusammen mit unserem Kollegen Jürgen Berghahn ein ganz tolles Projekt in Ostwestfalen angesehen – das Monocab –, ({4}) wo Forscher ein autonom fahrendes Mobilitätsangebot entwickeln, das auch auf stillgelegten Bahnstrecken eingesetzt werden kann. Gerade solche Innovationen müssen wir weiter unterstützen und fördern. ({5}) Aber Nachhaltigkeit und Mobilität haben auch mit Stadtentwicklung und mit Aufteilung des Straßenraums zu tun. Wenn wir uns die aktuellen Regelungen in der Straßenverkehrsordnung und im Straßenverkehrsgesetz ansehen, stellen wir fest: Die sind immer noch auf die autogerechte Stadt ausgelegt. – Das werden wir ändern, ({6}) indem wir die Regelungen mit den Zielen des Klimaschutzes, der Gesundheit und auch der städtebaulichen Entwicklung vereinbaren, sie verankern, darauf deutlich mehr Fokus setzen und dort den Kommunen auch deutlich mehr Handlungsspielraum geben. Wir alle wissen: Die Herausforderungen gerade zur Erreichung der Klimaziele im Verkehrsbereich sind riesig.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dorothee Martin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004959, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber wir können sie bewältigen, gemeinsam anpacken, jetzt umsetzen. Mit voller Kraft voraus! Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Volker Mayer-Lay. ({0})

Volker Mayer-Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Das Wort „Nachhaltigkeit“ ist erfreulicherweise in dieser Woche im politischen Berlin in aller Munde. Ich glaube, wir erleben es als erfrischend – zumindest die meisten von uns –, wie wir uns heute in dieser Debatte mit den verschiedensten Ausprägungen und Spielarten dieses uns alle betreffenden Themas auseinandersetzen. Es wurde in diesem Zusammenhang bereits mehrfach angesprochen: Vielleicht wäre ein etwas stärker ausgeprägter Rahmen für dieses doch so zukunftsträchtige Thema auch ein starkes Signal gewesen – ein Signal, wie wichtig dieses Thema der Ampelkoalition ist. Früher gab es nämlich – wir haben das schon gehört –, unter Beteiligung der Union eingeführt, mehrere Nachhaltigkeitstage im Parlament. ({0}) Aber lassen Sie mich gerne auf einen konkreten Bereich zu sprechen kommen, der in Bezug zur Nachhaltigkeit, insbesondere aus meiner Sicht als zuständiger Berichterstatter, eine ganz bedeutende Rolle spielt, nämlich der Verbraucherschutz. Nachhaltigkeit und Verbraucherschutz gehen in der Tat oftmals Hand in Hand, beispielsweise bei der Lebensdauer von Produkten. Ich glaube, wir haben das alle schon mal erlebt, dass Technikgeräte wie Handys oder Laptops manchmal auf geradezu magische, aber eben auch auf frappierend auffällige Weise nach einer bestimmten Zeit – am besten ungefähr nach Ablauf von Gewährleistung und Garantie – beginnen, nicht mehr richtig zu funktionieren. Nachhaltig ist das nur für die Bilanz der Produzenten, da teure Reparaturen oder in der Regel sogar ein Neukauf anfallen. Dazu passt natürlich besonders das auf vielen Ebenen geforderte und auch im Koalitionsvertrag zu findende Recht auf Reparatur. Dies ist gerade auch mit Blick auf die umfangreichen Herausforderungen, denen wir uns aktuell gegenübersehen, ein wichtiger Fingerzeig. Wir müssen weg von der Wegwerfmentalität. Denn in der Regel ist Schrott eben nicht das, was wir umgangssprachlich damit bezeichnen, sondern Schrott, insbesondere der Elektroschrott, ist ein richtig wertvolles Gut, ({1}) oft voller Rohstoffe, die wiederverwertet gehören. Hier ergeben sich riesige Chancen für den Schutz, den Erhalt und die Wiederverwendung von Rohstoffen und Materialien. Das ist Nachhaltigkeit in ihrer reinsten Form. ({2}) Aber bei allen ambitionierten Zielen, die wir uns in Deutschland setzen: Wir müssen uns auch klar sein, dass wir auf globaler Ebene viel zu klein und zu unbedeutend sind, als dass wir das Ruder alleine herumreißen könnten. Selbstverständlich kann und muss Deutschland Vorreiter sein, aber wenn die USA, China oder inzwischen auch Indien nicht mitziehen, dann bewegt sich global betrachtet eben fast nichts. Wir müssen leider feststellen, dass die weltweiten UN‑Nachhaltigkeitsziele noch viel schwieriger und zäher zu erreichen sind, als das im eigenen Land schon der Fall ist. Dabei gibt es eigentlich den allergrößten Nachholbedarf. Ein griffiges Beispiel: Wir verbieten bei uns Plastikstrohhalme, während in anderen Teilen der Welt mehr Plastiktüten als Fische in den Flüssen schwimmen. Oder nehmen wir den Abbau Seltener Erden und anderer Rohstoffe unter menschenunwürdigen Verhältnissen in anderen Teilen dieser Erde, Chemieanlagen, die giftige Stoffe in Gewässer einleiten, oder die gewaltigen Eingriffe in die Regenwälder unserer Erde – oftmals für Produkte, die hier bei uns auch aus Unwissenheit ganz selbstverständlich und ohne mit der Wimper zu zucken konsumiert werden. Nachhaltigkeit fängt eben auch schon beim Verbraucherverhalten und damit bei der Verbraucherinformation an. ({3}) Auch deshalb dürfen wir unseren Produktionsstandort, der weltweit die höchsten Standards der drei Säulen der Nachhaltigkeit aufweist – ökonomisch, ökologisch und sozial –, nicht aus dem Land treiben. Nicht nachhaltig ist es nämlich, die Produktion von Industriegütern aus einem Land mit hohen Standards und moderner Technik in andere Teile der Welt zu verlagern, in denen oftmals keine solchen Vorgaben eingehalten werden müssen. Ist es denn nicht absurd, wenn bei der Produktion, beispielsweise in Südostasien, das Vielfache an CO2 entsteht, als wenn wir das entsprechende Produkt selbst herstellen würden? Vom ökologischen Fußabdruck der Lieferwege einmal ganz abgesehen. Wem ist hier geholfen? Dem Weltklima mit Sicherheit nicht und auch nicht den Menschen, die oft unter schlechtesten Arbeitsbedingungen und mit miserabler Bezahlung die Luxusgüter des Westens herstellen. Mir persönlich sind die Nachhaltigkeitsdiskussionen – auch hier im Hause – oftmals viel zu akademisch und zu theoretisch. Ich würde mir mehr politisches und gesellschaftliches Handeln anhand der Nachhaltigkeitsgrundsätze wünschen, so wie wir das auch im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestages fördern. Mit Blick auf die kommenden Generationen, denen wir verpflichtet sind, wurde Nachhaltigkeit bereits treffend mit nur einem Satz beschrieben: Was immer du tust, das tue klug und bedenke das Ende. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Dr. Sandra Detzer. ({0})

Dr. Sandra Detzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005039, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Mayer-Lay, ich kann Ihnen zusichern: Diese Koalition hat die Absicht, nicht nur Nachhaltigkeitstage zu veranstalten, sondern insgesamt vier Nachhaltigkeitsjahre. ({0}) Ich glaube, das ist der Stern, unter dem unsere Arbeit hier steht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage des Ob der Nachhaltigkeit ist zum Glück längst geklärt. Es geht längst um die Frage des Wie. Je schneller wir konkret werden können, desto besser. Als Abgeordnete des wunderbaren Wahlkreises Ludwigsburg in der schönen Region Stuttgart sage ich aus voller Überzeugung: Geschwindigkeit erreichen wir dann, wenn wir Nachhaltigkeit noch mehr zum Geschäftsmodell machen. Wenn wir Unternehmen und Beschäftigten die Planungssicherheit und die richtigen Rahmenbedingungen geben, damit sie ihre Innovationskraft für Nachhaltigkeit einsetzen können, dann werden jeden Tag zig Millionen Einzelentscheidungen in den Betrieben zugunsten der Nachhaltigkeit getroffen, und dann sind wir auch so schnell, wie wir sein müssen, um Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. ({1}) Die gute Nachricht ist: Unternehmen und die Beschäftigten haben sich längst auf den Weg gemacht, Mittelstand und Handwerk sehen Nachhaltigkeit und regionale Wirtschaftskreisläufe längst als Chance. In meiner Region beispielsweise gibt es einen großen Recyclingbetonhersteller, die Firma Feeß. Sie verdient jetzt schon mehr Geld mit Recyclingbaustoffen als mit Primärrohstoffen. Sie schont damit schon jetzt die natürlichen Ressourcen und ist gleichzeitig ein wichtiger Akteur auf dem Markt. Jetzt sagt der Geschäftsführer, er werde diese Sparte Abriss auch weiter ausbauen, weil natürlich in diesem Bereich unheimlich viel Musik drin ist. Er hofft auf die Ampel, er wartet auf die richtigen Rahmenbedingungen; genau die wollen wir ihm geben. ({2}) Wie geht das konkret? Das wurde oft angesprochen; das ist genau richtig. Ich glaube, wir müssen jetzt am Konkreten, an der Umsetzung arbeiten. Wie wollen wir das machen? Wir definieren Abfälle selbstverständlich als Rohstoffe und werden so Stoffkreisläufe schließen. Wir unterstützen Unternehmen dabei, ihre Lieferketten zu stabilisieren – das ist momentan ein sehr wichtiges Thema –, Sekundärmaterialien mehr einzusetzen und diese Kreisläufe gerade auch regional zu schließen. Wir machen zirkuläres Wirtschaften attraktiver, um wegzukommen von der linearen Wegwerfgesellschaft. ({3}) Nachhaltigkeit – das ist ganz klar; es ist schon oft angesprochen worden – schont unseren Planeten und sichert die Handlungsfreiheit künftiger Generationen; aber sie macht eben auch unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger und resilienter. Wir wollen globaler Vorreiter auf dem Weg zu nachhaltigem Wohlstand sein. Wenn wir weltweit viele Nachahmer/-innen finden wollen, ist das der Schlüssel für Geschwindigkeit, gerade in diesen schwierigen Zeiten. Herzlichen Dank. ({4})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! ({0}) Die Nachhaltigkeitspolitik ist, wie so vieles, was Bundesregierungen fabrizierten, linkstotalitär. Die Grundlage aller Nachhaltigkeit, nämlich der Erhalt des Staatsvolkes, findet in ihr keinen Platz. In den letzten 50 Jahren starben in Deutschland 6,1 Millionen Menschen mehr, als geboren wurden, davon 230 000 allein 2021 – über 6 Millionen Menschen, ohne Kriege, nur durch familienfeindliche Politik, meine Damen und Herren, ({1}) 6 Millionen Menschen, die heute als Fachkräfte zur Erhaltung unseres Renten-, Gesundheits- und Sozialsystems fehlen; eine Entwicklung, die sich in den kommenden Jahrzehnten noch verstärkt und sich in jährlichen Sterbeüberschüssen von 300 000 und mehr fortsetzt, was zum endgültigen Kollaps der Sozialsysteme führt und in letzter Konsequenz das Aussterben des deutschen Volkes zur Folge hat. ({2}) Kein Wort zur Abwendung dieser demografischen Katastrophe in den Nachhaltigkeitsprinzipien! Keine Informationskampagnen zu den verheerenden Folgen dieser Entwicklung! Kein Konzept, um diese Katastrophe explizit abzuwenden! Nichts! Die Kosten für die Energiewende bis 2050 werden auf 1 Billion bis 3 Billionen Euro geschätzt. Investieren Sie dieses Geld in eine geburtenfördernde Politik, die die Lücke zwischen dem Kinderwunsch junger Menschen und der tatsächlichen Geburtenzahl schließt und dabei auch noch die Kinder- und Familienarmut bekämpft! So wird eine Bevölkerungsbilanz ohne Sterbeüberschüsse ermöglicht. ({3}) Sie lassen das deutsche Volk tatenlos verenden. Sie reden von Nachhaltigkeit und Artenschutz und lassen eines der größten Kulturvölker der Weltgeschichte, nämlich das deutsche Volk, untergehen. ({4}) Das ist ehrlos und verachtenswert. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Muhanad Al-Halak das Wort. ({0})

Muhanad Al-Halak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005008, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie, was mich beschäftigt? Extremwetter und Wasserkreisläufe, Nachhaltigkeit in der Politik und der Geisteszustand der Union, und zwar in dieser Reihenfolge. Zu den ersten beiden Punkten möchte ich Folgendes sagen. Bei Fluten und Sturzregen wird Wasser zur tödlichen Gefahr. Herrscht Dürre und bleibt der Regen aus, brechen Existenzen und Kreisläufe zusammen. Starkregen und Dürre werden häufiger. Sie zwingen uns, unseren Umgang mit dem Wasser anzupassen. Überflutungen wie im Ahrtal – grausame Bilder – stehen bis heute für die Notwendigkeit eines Umdenkens. Und genau das tun wir: Sturzfluten sollen nicht nur kurzfristig aufgefangen werden; das Wasser soll langfristig gespeichert werden. Auf der anderen Seite haben wir ausgetrocknete Flüsse, sinkende Grundwasserpegel und Ernteausfälle. Das heißt für uns: Wir müssen Wasser nachhaltig entnehmen und auch wiederverwenden. ({0}) So führen wir dem Wasserkreislauf insgesamt wieder mehr Wasser zu und können obendrein Rohstoffe gewinnen. Wir brauchen ein Frühwarnsystem, ein Echtzeitdatenmanagement. So können wir auf Probleme reagieren, bevor sie zu Krisen werden. ({1}) Um diese brillanten Ideen umzusetzen, braucht es vor allem eines: brillante Fachkräfte. ({2}) Schauen wir dann voller Motivation auf den Arbeitsmarkt, sehen wir gähnende Leere, einen leergefegten Fachkräftemarkt, einen Ausbildungsmarkt, der mit unbesetzten Stellen glänzt. Spätestens jetzt wird klar: Nachhaltigkeit muss eine Grundhaltung der Politik sein, und zwar in allen Bereichen: in der Ausbildung, in der Fachkräftegewinnung und in der Einwanderung. ({3}) Wir brauchen die gut ausgebildeten, hochmotivierten, ja auch brillanten Menschen, die vor unserer Haustür warten. ({4}) Dann kommen wir zum Geisteszustand der Union. Da höre ich aus der Union von Herrn Merz das Gerede von Sozialtourismus. ({5}) Das ekelt mich, das widert mich an. Und das sage ich Ihnen als Abwassermeister; ich kenne mich aus mit dem, was Leute von sich lassen. ({6}) Meine Damen und Herren, Nachhaltigkeit ist eine rationale Grundhaltung. Vielleicht sollten wir in der Politik uns mal daran erinnern: Panta rhei, alles ist im Fluss. Wenn wir erst denken und dann reden, wird der Durchfluss minimiert. Vielen Dank. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die Kollegin Leni Breymaier von der SPD-Fraktion ist die nächste Rednerin. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, was gibt es Schöneres, als an seinem Geburtstag – herzlichen Glückwunsch! – in der Primetime des Deutschen Bundestages über Nachhaltigkeit zu sprechen? Von den 17 Nachhaltigkeitszielen habe ich mir Ziel 5 herausgesucht, und zwar die Geschlechtergerechtigkeit. Es ist wichtig, dass wir kapieren, dass Geschlechtergerechtigkeit die Voraussetzung und der Motor für nachhaltige Entwicklung und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ist. Dazu gehört die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung und der Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie schädlicher Praktiken wie Kinderheirat oder weiblicher Genitalverstümmelung. Ziele sind zudem die Anerkennung unbezahlter Sorgearbeit, die volle und wirksame Teilhabe von Frauen und ihre Chancengleichheit bei der Übernahme von Führungsrollen sowie der allgemeine Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und reproduktiven Rechten. Mittel zur Umsetzung sind Reformen hinsichtlich gleicher Rechte in Bezug auf wirtschaftliche Ressourcen, Grundeigentum und weitere Vermögensformen, die verbesserte Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologie und durchsetzbare Rechtsvorschriften zur Förderung der Selbstbestimmung aller Frauen und Mädchen. Kurz: Wir müssen bei allem, was wir tun, Fraueninteressen berücksichtigen. Das ist im Interesse aller Menschen und im Interesse des Planeten. ({0}) Studien zeigen: Nur wenn Frauen und Mädchen in all ihrer Verschiedenheit ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt ermöglicht wird, können sie aktiv am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Das weltweite Wirtschaftswachstum könnte um 20 Billionen US‑Dollar zunehmen, wenn Frauen auf dem gleichen Niveau ausgebildet würden und die gleiche Anzahl von Arbeitsplätzen innehätten wie Männer. Hätten Frauen in der Landwirtschaft weltweit den gleichen Zugang zu Produktionsmitteln wie Männer, lägen die Erträge um 20 bis 30 Prozent höher. ({1}) Sind Frauen aktiv an Friedensverhandlungen beteiligt, steigen die Chancen nachweislich um 20 Prozent, dass ein Friedensabkommen mindestens zwei Jahre hält. ({2}) Eine Erhöhung des Frauenanteils um 10 Prozent in den nationalen Parlamenten führt durch den häufig größeren Fokus der Frauen auf Nachhaltigkeit und Klimapolitik zu einem Rückgang von 0,24 Tonnen CO2 pro Kopf jedes Jahr. Über eine Erhöhung des Frauenanteils um 10 Prozent in den Parlamenten und noch mehr werden wir heute Abend bei uns in der Wahlrechtskommission sprechen. Da diskutieren wir nämlich zum dritten Mal das Thema Parität. Ich freue mich auf die Debatte. ({3}) Und Sie blöken hier rum, während ich rede. Seit Stunden sitzt bei Ihnen nicht eine einzige Frau, nicht eine einzige weibliche Abgeordnete. Sie lassen ausschließlich Männer reden. ({4}) Sechs Männer! Bei dem Thema sind Sie raus. Sie haben nichts zu sagen und blicken es auch überhaupt nicht. ({5}) Wir haben uns in New York bei der UN-Frauenrechtskommission im März dieses Jahres explizit mit dem Thema „Frauen und Klimawandel“ befasst. Klar ist: Wir müssen erstens die Fraueninteressen berücksichtigen. Wir müssen zweitens die Frauen beteiligen. Und wir müssen drittens schauen, dass die Ressourcen so verteilt werden, dass für die Frauen genauso viel abfällt wie für die Männer. Damit bin ich fertig. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Alexander Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegen Ende unserer Debatte können wir feststellen, wie vielschichtig und breit man über Nachhaltigkeit diskutieren kann. Im Kern ist entscheidend, dass nachhaltiges Handeln auf drei gleichberechtigten Säulen ruht: Ökonomie, Ökologie und Soziales. Gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen ist es wichtig, mit einer nachhaltigen Politik alle drei Dimensionen zusammenzuführen. Diese große Aufgabe erfüllt die Bundesregierung aktuell nicht. In den letzten Wochen und Monaten haben wir die Konsequenzen gespürt, wenn dieser Dreiklang aus dem Gleichgewicht gerät. Wir können es in den verschiedenen Transformationsbereichen sehen, die zutreffend in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie umrissen werden, wie ein zu eindimensionales Handeln eine nachhaltige Entwicklung behindert. ({0}) Zum Beispiel beim nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystem. Es soll uns mit einer Vielfalt an erschwinglichen Lebensmitteln versorgen und gleichzeitig den Schutz der Umwelt gewährleisten. In Deutschland können wir dank unserer Landwirte sagen, dass wir einen hohen Grad an Selbstversorgung, beispielsweise beim Getreide, haben. Wenn wir uns die aktuellen Konsequenzen unserer strategischen Abhängigkeiten in anderen Bereichen anschauen, dann sehen wir, dass das auch so bleiben muss. Die EU‑Kommission plant im Rahmen des Green Deals Maßnahmen, die zu Ertragseinbußen und zusätzlich zu einer Entnahme von für die landwirtschaftliche Produktion genutzten Flächen führen werden. Laut einer Berechnung des Deutschen Bauernverbandes könnte das EU‑Naturschutzpaket zu einer deutlichen oder vollständigen Beschränkung der Nutzung von 5 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche führen. ({1}) Dies entspricht einem Drittel der aktuell genutzten Fläche. Das wird erhebliche Konsequenzen für die Lebensmittelpreise und die Ernährungssicherung haben. Die Dimension der sozialen Gerechtigkeit ist hier, dass Lebensmittel erschwinglich bleiben. Da hat Deutschland auch eine globale Verantwortung. Nur durch wochenlangen Druck der Union haben wir in der Diskussion um die Stilllegung von Flächen erreicht, dass wertvolle Ackerflächen am Gunststandort Deutschland nicht aus der Nahrungsmittelproduktion herausgenommen werden. ({2}) Ernsthafte Sorgen mache ich mir um kleine, regionale Strukturen, die nicht zuletzt für die Vielfalt unserer Lebensmittel stehen. So sind beispielsweise die 3 200 eingetragenen Brotsorten der Innungsbäcker in Deutschland immaterielles Kulturerbe der UNESCO. ({3}) Gerade bei den Grünen ist das romantische Bild von Landwirtschaft mit Kühen auf der grünen Wiese und der Dinkelbackstube um die Ecke hoch im Kurs. ({4}) Doch insbesondere sie beschleunigen durch unzureichendes Krisenmanagement im Hinblick auf niedrigere Energiekosten den Strukturwandel hin zu großen Betriebsstrukturen. Die vorhandenen Möglichkeiten, um die Strommenge zu steigern, lagen lange genug auf dem Tisch. Im ländlichen Raum sind viele kleine Betriebe wie Bäckereien und Metzgereien tragischerweise schon dabei, zu schließen. Dabei werden sie nicht nur als vielfältige Lebensmittelversorger und Arbeitgeber dringend gebraucht, sondern auch als lebendiger Treffpunkt in unseren Dörfern und Gemeinden. Das ist ein wichtiger Faktor für Lebensqualität, den wir gerade verlieren. ({5}) Aufgrund der hohen Inflation können sich die Menschen hochwertige, ökologisch und regional produzierte Lebensmittel immer weniger leisten. Wir sehen das aktuell zum Beispiel daran, dass Bioprodukte zunehmend in großen Discounterketten gekauft werden, während kleine, regionale Bioläden zweistellige Umsatzeinbrüche hinnehmen müssen. Auch das befeuert den Strukturwandel. In einem weiteren Transformationsbereich gibt die Nachhaltigkeitsstrategie das Ziel einer schadstofffreien Umwelt aus. Das soll im Zusammenspiel von chemikalienrechtlichen Anforderungen, Wasser- und Immissionsschutz erreicht werden. In Deutschland und Europa sind wir allerdings gerade im Begriff, für dieses Ziel unsere Industrie zu opfern und die ökonomische sowie die soziale Säule wegzureißen. Die wachsenden bürokratischen Anforderungen in diesem Bereich erdrücken unsere Betriebe. So bergen die Vorschläge für neue Regelungen in der Industrieemissionsrichtlinie die Gefahr, dass sich Genehmigungsverfahren für Industrieanlagen weiter verkomplizieren. Im Chemikalienrecht sehen wir mit einer Verschärfung der REACH- und CLP-Verordnung erhebliche Mehrbelastungen auf Unternehmen zukommen. Auch wenn manche Ziele aus Brüssel gut gemeint sind, befürchte ich massive Effekte der Verlagerung aus Europa weg. Das wäre nicht nur ökonomisch und sozial eine Katastrophe, sondern würde unsere Umweltschutzbemühungen zur Farce machen. So wie die Bundesregierung permanent betont, man dürfe Krisen nicht gegeneinander ausspielen, möchte ich betonen, dass alle drei Säulen der Nachhaltigkeit das Grundgerüst unserer sozialen Marktwirtschaft sein müssen. Ich sehe am eigenen Betrieb, was die mangelnde Krisenbewältigung der Ampel gerade für kleine, regionale Handwerksbetriebe bedeutet: ({6}) Die Umsätze brechen ein, die Kosten steigen. Gestern noch zukunftsfähige Betriebe sind heute in Gefahr. – Daher mein Appell an die Bundesregierung: Bringen Sie Ökonomie, Ökologie und Soziales ins Gleichgewicht! ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Franziska Mascheck das Wort. ({0})

Franziska Mascheck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005144, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beuten unsere Erde massiv aus. Wenn alle so leben würden wie wir hier in Deutschland, bräuchten wir drei Erden. Als Mitglied des Bauausschusses muss ich feststellen: Der Bausektor trägt einen großen Teil dazu bei. Bei einem Anteil von 5,5 Prozent an der deutschen Bruttowertschöpfung verursacht allein der Bausektor 25 Prozent des CO2-Ausstoßes und verbraucht 40 Prozent der erzeugten Energien. Nachhaltigkeit, meine Damen und Herren, geht anders. ({0}) Man sollte meinen, diese Zahlen hätten in der Vergangenheit dazu geführt, mit innovativen Ideen oder Forschungsbudgets etwas zu bewegen; denn Bildung, Wissenschaft und Forschung sind immerhin seit 2016 Teil der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Doch die Bauforschung ist seit jeher deutlich unterfinanziert. Meine Damen und Herren, hier besteht akuter Handlungsbedarf. ({1}) Wir brauchen immer mehr Wohnraum für eine wachsende Weltbevölkerung. Aber: Mehr bauen und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch minimieren – wie soll das gehen? Darauf gibt es aktuell nur wenige Antworten. Hier können wir mal ganz kurz in die Praxis gucken: An der TU in Dresden gibt es das schöne Forschungsprojekt C ({2}) Was wir damit schaffen können, ist, 50 Prozent Materialdicke und bis zu 30 Prozent CO2-Emissionen einzusparen, und das ganze Bauwerk kann bis zu 50 Prozent leichter werden. Ringsherum gibt es weitere Forschungszweige, die sich mit Carbongewinnung zum Beispiel aus Algen beschäftigen, und diese wiederum speichern CO2. Das sind doch großartige Ansätze. Das ist die Praxis, dort gibt es die Forschung. Es gibt auch die Forschung an Grünem Zement. Wir haben Beispiele in der Praxis. ({3}) Was wir bei all den Diskussionen um Nachhaltigkeit aber nicht vergessen dürfen, ist die Akzeptanz bei den Menschen vor Ort. Hier sind wir bei meinem Lieblingsthema, der Stärkung der Kommunen. Sie gestalten gemeinsam mit den Menschen einen wesentlichen Teil des Alltags und des Gemeinwesens. Daher müssen sie konzeptionell und finanziell in die Lage versetzt werden, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, aber auch der Wirtschaft an Lösungen zu arbeiten und – vor allem – sie vor Ort umzusetzen. Ich bin Sozialarbeiterin. Wir Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sprechen dann von Beteiligungsprojekten, Selbstwirksamkeit und Erfahrungswissen. Die Menschen möchten nicht belehrt werden, sie möchten sich selbst an der Problemlösung beteiligen. Nehmen wir die Menschen ernst! Nehmen wir sie in der Transformation mit! ({4}) Es fehlt nicht an theoretischem Wissen; es fehlt an Bewusstsein und einer praktischen Umsetzung im Alltag. Oder wie es einst meine Professorin für modernen Tanz an der Palucca Hochschule in Dresden sagte: Gewusst wie, spart Energie. Herzlichen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner ist Robert Farle.

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Angesichts explodierender Energiepreise, ausfallender Stromnetze, einer kaputten Währung mit galoppierender Inflation, Massenzuwanderung, Deindustrialisierung, eingeschränkter Meinungsfreiheit, drohender Massenarbeitslosigkeit und Zerstörung des Mittelstandes mit wachsender Armut fragen sich jeden Tag immer mehr Menschen: Was steckt hinter all diesen Entwicklungen? Meine Antwort ist: Die globale Agenda hierfür wurde 1992 auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro aufgestellt, Stichwort „Club of Rome“. Unter dem Deckmantel des Klimaschutzes und wohlklingender Phrasen von Nachhaltigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit verbergen sich ein totalitärer Staatsdirigismus, Mangelwirtschaft und die Kontrolle über alle Lebensbereiche der Menschen – kurz: die ganze links-grüne Agenda von Habeck und Co. Dahinter steht eine Kumpanei von Politik und Großkonzernen, gesteuert aus den USA, die das gesamte staatliche Handeln in immer mehr Ländern in der Welt bestimmt. ({0}) Wir haben in der Coronakrise sehr gut feststellen können, welchen Einfluss zum Beispiel Bill Gates auf die WHO genommen hat. ({1}) Hinter dem Prinzip der Übernahme von globaler Verantwortung verbirgt sich der Wohlstandstransfer ins Ausland, zum Beispiel die 10 Milliarden Euro an Indien für angeblichen Klimaschutz, die Erhaltung von natürlichen Lebensgrundlagen, meint: Smart Cities, und die Vernachlässigung des ländlichen Raums bis hin zu Sachen wie Krankenhausschließungen usw. usf. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet: Planwirtschaft statt Marktwirtschaft, staatliche Kontrolle über die Produktionsmittel, ({2}) Absenkung des privaten Konsums auf allen Ebenen, Insekten statt Fleisch, Fahrräder statt Autos, Waschlappen statt Dusche. Da weiß doch jeder Deutsche, was Sie wirklich wollen: Verbote statt Freiheit, ({3}) ganz nach dem Motto von Klaus Schwab: „Du wirst nichts besitzen, aber du wirst glücklich sein.“ Das wollen wir nicht, und das will auch ich persönlich nicht. Wenn ich nach Nachhaltigkeit gefragt werde, dann sage ich Ihnen, was die wichtigste Frage der Nachhaltigkeit ist: ({4}) Wir müssen alles tun, um eine Eskalation des Ukrainekonflikts zu verhindern, Frieden mit Russland zu schließen und eine europäische Sicherheitsarchitektur in Gang zu bringen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053

Das setzt voraus, dass man die berechtigten Sicherheitsinteressen eines Gegners anerkennt – und das tun Sie bis heute nicht – anstatt einer solchen Offensive. ({0}) Vielen Dank. ({1}) Frau Präsidentin, ich habe mich diesmal wirklich bemüht, die drei Minuten einzuhalten. Da kann man auch mal applaudieren. Drei Minuten, das ist nicht leicht.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Rasha Nasr. ({0})

Rasha Nasr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Farle, Sie beklagen die eingeschränkte Meinungsfreiheit, lassen aber im gleichen Zug hier so einen – Entschuldigung – Müll vom Stapel, was übrigens auch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. ({0}) Uns hat das ein bisschen wehgetan. Jetzt hören Sie aber auf, so einen Blödsinn zu erzählen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar, dass wir diese Debatte heute führen und möchte als stellvertretende Sprecherin für Arbeit und Soziales der SPD-Bundestagsfraktion den Fokus genau auf diesen Bereich legen. Eine nachhaltige Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist essenziell; denn wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, in- und ausländische Potenziale einfach liegen zu lassen. Wir müssen da viel besser werden, und deshalb bin ich Bundesinnenministerin Nancy Faeser dankbar, dass sie erst vor Kurzem in einem Interview mit der „FAZ“ ganz klar und deutlich gesagt hat, dass wir Bürokratie abbauen, ausländische Abschlüsse schneller anerkennen und vor allem dafür sorgen müssen, dass die Hürden, auf den deutschen Arbeitsmarkt zu kommen, aus dem Weg geräumt werden. Denn unsere Gesellschaft wird immer älter, und wir müssen den Arbeitsmarkt nachhaltig stabilisieren. Dafür brauchen wir unter anderem 400 000 Menschen im Jahr, die aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt einsteigen. Dafür stellen wir in diesem Herbst die Weichen mit einem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das diesen Namen wirklich verdient hat. ({1}) Zu einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik gehört aber auch, das riesige inländische Potenzial zu heben. Wir leben in einer Zeit, in der sich der Arbeitsmarkt rasant und radikal verändert. Auf einmal gibt es neue Jobs, ganze Branchen stellen sich um, bestimmte Jobs gibt es schon nicht mehr oder werden zukünftig nicht mehr existieren. Die Transformation der Arbeit macht den Menschen Angst. Deshalb ist es unsere Aufgabe, werte Kolleginnen und Kollegen, die Menschen auf diesem Weg mitzunehmen. Unser Ziel muss sein: Vollbeschäftigung, gute Arbeitsplätze und gute Löhne. Das klingt ambitioniert, und das ist es auch. Aber je mehr Menschen in sozialversicherungspflichtiger Arbeit sind, desto besser können unsere sozialen Sicherungssysteme nachhaltig stabilisiert werden. Wenn Menschen Hilfe vom Sozialstaat brauchen, dann sollen sie die auch bekommen. Deshalb bin ich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dankbar, dass er gemeinsam mit uns nicht nur den Mindestlohn zum 1. Oktober auf 12 Euro anhebt, sondern auch mit dem Bürgergeld eine der größten sozialpolitischen Reformen der letzten 20 Jahre in die Wege leitet. ({2}) Wir schaffen mehr Sicherheit, Vertrauen und Respekt im Umgang mit Menschen im SGB II. Unter anderem mit der Vertrauenszeit, dem Weiterbildungsbonus und individuellem Coaching werden wir dafür sorgen, dass Menschen endlich nicht mehr sinnlos in irgendwelche Jobs vermittelt werden und dann nur wenige Monate später wieder beim Jobcenter sitzen. Das hat nämlich mit nachhaltiger Sozialpolitik rein gar nichts zu tun. ({3}) Das neue Bürgergeld kommt zum 1. Januar 2023, und ich freue mich sehr, dass wir die alte Praxis endlich hinter uns lassen. Ansonsten wünsche ich uns noch viel Erfolg bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Sie sind ambitioniert, aber weisen uns den richtigen Weg. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Tina Rudolph für die SPD. ({0})

Tina Rudolph (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005195, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! In vielen Reden ist bereits darauf eingegangen worden, welche Auswirkungen global, aber auch hier in Deutschland für die Menschen spürbar geworden sind, weil wir nicht nachhaltig genug gelebt haben. Da sind die schockierenden Bilder des Ahrtalhochwassers, Hochwasser an vielen anderen Orten – auch in meinem Wahlkreis, in Mosbach –, die jährlichen Waldbrände, Wasser, das in vielen Gegenden knapp wird, und ausfallende Ernten. Längst leiden nicht mehr nur vulnerable Gruppen, sondern große Teile der Bevölkerung im Sommer unter der enormen Hitze, für die der menschliche Körper nicht gemacht ist, die das Herz-Kreislauf-System belastet und zum Beispiel das Risiko von Frühgeburten erhöht. Die globale Verringerung von Biodiversität und die Verschiebung klimatischer Grenzen führen zu Pandemien und bringen Krankheiten an neue Orte. So breitet sich zum Beispiel die Asiatische Tigermücke inzwischen auch in Deutschland aus, die Gelbfieber, das Dengue- und das Zika-Virus überträgt. Auch dieses Beispiel zeigt: Klimawandel ist nichts, was sich nur weit entfernt in anderen Ländern abspielt, sondern etwas, das auch hier mit voller Wucht spürbar ist. ({0}) Um reagieren zu können, müssen wir noch viel stärker in sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Gesellschaften investieren. Wir müssen in allen Bereichen neu und mutig denken und zum Beispiel nach dem Ansatz der Health in all Policies genau prüfen, wie jegliches Handeln und politische Entscheidungen auf das Klima und die Gesundheit wirken. Wir müssen viel stärker und interdisziplinärer nach dem Konzept von One Health schauen, wie sich die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Klima, zwischen Tiergesundheit und menschlicher Gesundheit gestalten, und diese Bereiche zusammendenken. Auch hier noch mal ein kurzer Werbeblock für den Parlamentskreis One Health. Erst jüngst haben die G 7 unter deutscher Präsidentschaft die Verpflichtung ausgerufen, in den nächsten 20 Jahren zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem zu kommen. Das ist von großer Bedeutung; denn gerade dieser Bereich, der für den Schutz menschlicher Gesundheit zuständig ist, ist durch einen hohen Ressourcenverbrauch und hohe Immissionen gekennzeichnet und damit gleichzeitig paradoxerweise Gefährder unser aller Gesundheit. Es gibt also dringenden Reformbedarf in Richtung Nachhaltigkeit bei der Produktion, beim Transport und bei der Entsorgung, beim Essen in den Krankenhauskantinen, beim Energieverbrauch und bei der Gebäudesubstanz des Gesundheitssektors. Es ist frustrierend für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, wenn sie aus ökonomischen Gründen keine Mehrwegprodukte verwenden können oder Medikamente, die weniger CO2 verursachen, weil die Folgekosten in Richtung Nachhaltigkeit nicht berücksichtigt wurden. Die Akteure im Gesundheitssystem wollen hier handeln. Dass der Deutsche Ärztetag 2020 den Klimawandel zur zentralen Frage des 21. Jahrhunderts erklärt hat, ist nur ein Beispiel hierfür. Wir müssen also prüfen – das BMG ist hier dankenswerterweise bereits tätig geworden –, wie das Gesundheitssystem effizienter gestaltet werden kann, aber auch, ob die Menschen im Gesundheitssystem ausreichend in der Lage sind, Mittel im Sinne der Nachhaltigkeit einzusetzen. Ich bin deswegen überzeugt, dass wir auch darüber diskutieren sollten, ob es sinnvoll sein kann, das Wirtschaftlichkeitsgebot in § 12 des SGB V um ein Nachhaltigkeitsgebot zu erweitern. ({1}) Jetzt habe ich noch zehn Sekunden für die globale Perspektive, über die ich eigentlich viel länger reden müsste, weil wir uns natürlich auch international viel stärker engagieren müssen, damit das SDG 3, das zentrale Gesundheitsziel, erreicht wird. ({2}) Wir sehen in vielen Ländern des Globalen Südens einen Backlash Richtung Prävention, Richtung Bekämpfung von Krankheiten. Frauen und Mädchen leiden hier besonders. Wie Deutschland ebenfalls –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und Sie kommen jetzt bitte zum Schluss.

Tina Rudolph (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005195, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– in der G‑7-Präsidentschaft adressiert hat, müssen wir die Gesundheitssysteme im Globalen Süden stärken. Bitte gestatten Sie zum Schluss noch die rhetorische Frage: Wird das alles Geld kosten? – Ja. Wenn wir nicht investieren, bürden wir all diese Kosten den künftigen Generationen auf.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und das ist der letzte Satz, Frau Kollegin.

Tina Rudolph (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005195, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deswegen: Lassen Sie uns handeln! Danke schön. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz von Kindern vor Gewalt und Missbrauch ist eine unserer wichtigsten Aufgaben. Kinder können sich nicht zur Wehr setzen und leiden meist ein Leben lang unter den Folgen sexuellen Missbrauchs. Dieses Zitat der ehemaligen Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch, Frau Dr. Christine Bergmann, macht klar, worum es in der Debatte heute geht. Wir debattieren heute darüber, wie wir die fast 14 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland mit einem ganz konkreten Vorschlag besser vor sexuellem Missbrauch schützen können. Der Europäische Gerichtshof hat in der letzten Woche ein seit Langem erwartetes Urteil verkündet. In diesem Urteil hat er klargestellt, dass zur Bekämpfung schwerer Kriminalität eine befristete anlasslose Speicherung von IP‑Adressen zulässig ist, und genau das fordern wir auch in unserem heute vorliegenden Antrag. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen wie auch in diesem aktuellen Urteil klargestellt – und da sind wir uns hier sicherlich alle einig –, dass es sich bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen um ein abscheuliches Verbrechen handelt und vor allen Dingen um schwere Kriminalität, und auch die Herstellung und Verbreitung von Fotos und Videos von diesen widerlichen Taten zählen zweifellos zur schweren Kriminalität. ({0}) Warum ist aber gerade hier die IP‑Adressen-Speicherung so dringend notwendig? Das Internet hat dazu geführt, dass Kinderschänder diese Fotos und Videos viel einfacher verbreiten können. Mit mehr als 39 000 Fällen im Jahr 2021 haben sich die Fallzahlen im Vergleich zu davor quasi verdoppelt. Es sind sage und schreibe 15 000 Fälle sexuellen Kindesmissbrauches im vergangenen Jahr beim Bundeskriminalamt verzeichnet worden, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur die bekannten Fälle. Es zeigt sich also: Es gibt dringenden Handlungsbedarf. Die Aussagen der Ermittler, also der Praktiker, zu diesem Thema sind eindeutig. Erstens sagen sie: Die IP‑Adresse des Computers oder des Endgerätes, mit dem eine entsprechende Datei erworben, verbreitet, weitergegeben oder bereitgestellt wird, ist meistens der einzige Ermittlungsansatz für die Ermittler. Das sieht im Übrigen auch der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil so – und ich darf daraus auszugsweise zitieren –: Zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch, Kinderpornografie und Ausbeutung von Kindern … Die IP‑Adresse kann der einzige Anhaltspunkt sein, der es ermöglicht, die Identität der Person zu ermitteln, der diese Adresse zugewiesen war, als die Tat begangen wurde. Das sagt und schreibt der Europäische Gerichtshof. Zweitens. Immer wieder kann die IP‑Adresse einem konkreten Endgerät nicht mehr zugeordnet werden, weil die Daten bereits gelöscht sind. In den vergangenen fünf Jahren konnten so 19 550 Hinweise auf sexuellen Missbrauch in Deutschland nicht aufgeklärt werden. Drittens. Wir brauchen daher eine mehrere Monate dauernde Speicherpflicht. Wir schlagen sechs Monate vor. Wir brauchen das, um Kinderschänder und ihre Netzwerke aufzudecken und auch um laufenden sexuellen Missbrauch zu verhindern. ({1}) Und schließlich viertens. Der sogenannte Quick-Freeze-Vorschlag der FDP, der besagt, dass man erst bei einem konkreten Verdacht eine IP‑Adressen-Speicherung zulassen soll, ist und bleibt ein Placebo. Auch die Ermittler teilen uns ganz klar mit: Mit diesem Vorgehen würden viele Ermittlungen ins Leere laufen. Denn Daten, liebe Kolleginnen und Kollegen, die schon gelöscht wurden, können auch nicht mehr eingefroren werden. ({2}) Es war mit der SPD in der vergangenen Legislaturperiode nicht möglich, eine Neuregelung zu fassen. In der Zwischenzeit hat aber Frau Bundesinnenministerin Faeser – offensichtlich nach Rücksprache mit den Praktikern – die Notwendigkeit der IP‑Adressen-Speicherung erkannt. Umso beschämender für die Opfer und für diejenigen, die wir vor sexuellem Missbrauch schützen wollen, ist es aber, dass die FDP, allen voran der von ihr gestellte Justizminister, sich nach wie vor gegen die von uns geforderte IP‑Adressen-Speicherung ausspricht, ({3}) gerade auch erst wieder in dieser Woche, obwohl Herr Buschmann selbst hier in diesem Haus noch im Mai bei der Regierungsbefragung gesagt hat, er wolle den Ermittlungsbehörden Instrumente an die Hand geben, die sie wirklich nutzen können. – Das wollen Sie offensichtlich nicht. ({4}) Er hat ausdrücklich mitgeteilt, dass man die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes akzeptieren sollte. Ja, dann akzeptieren Sie die Entscheidung und machen Sie Gebrauch von der Möglichkeit der IP‑Adressen-Speicherung. Sie haben gerade geklatscht. Ich will Ihnen zum Abschluss nur eines sagen: Dieses Klatschen ist beschämend für alle Opfer und für alle diejenigen, die wir schützen wollen. ({5}) Und am Ende muss der Bundeskanzler ein Machtwort sprechen, wenn bei Ihnen Datenschutz vor Täterschutz gehen soll. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Kollege Höferlin, möchten Sie das Wort zu einer Kurzintervention? Ich frage, weil die Redezeit schon vorbei war. – Okay. Dann ist die nächste Rednerin in der Debatte die Kollegin Sonja Eichwede aus der SPD-Fraktion. ({0})

Sonja Eichwede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005049, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr wurde der 20. Deutsche Bundestag gewählt. Erstmalig gewählte Abgeordnete wie ich haben in diesem Jahr sehr viel gelernt, auch viele Routinen, darunter die Routine, dass die Union durch ihre Anträge immer wieder versucht, komplexe gesellschaftliche Probleme mit einfachen Lösungen zu beantworten. ({0}) Aber diese einfachen Lösungen gibt es bei komplexen Problemen nicht. ({1}) Komplexe gesellschaftliche Probleme brauchen differenzierte Antworten gerade in einem Rechtsstaat, damit sie auch rechtssicher sind. Das hat doch zuletzt die Entscheidung des EuGH gezeigt. Wir reden hier in der Tat über eines der sensibelsten gesellschaftlichen Probleme: Wir reden über den Schutz unserer Kinder, wir reden über den Schutz von Grundrechten, und wir reden über die Befugnisse unserer Ermittlungsbehörden, um ebendiese Grundrechte zu schützen, die Grundrechte der gesamten Bevölkerung ebenso wie die Grundrechte unserer Kinder, die es auch gibt, sehr geehrte Unionsfraktion. ({2}) Ich versuche jetzt, mit etwas Ruhe und Differenziertheit in die Debatte einzusteigen. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder müssen wir bekämpfen. Wir brauchen dafür natürlich auch technische Lösungen; wir brauchen dafür aber auch eine Stärkung der Prävention gegen diesen sexuellen Missbrauch. ({3}) Der wichtigste Punkt ist dabei die Rechtssicherheit und die Effektivität der entsprechenden Instrumente, eine Rechtssicherheit, die es in den letzten Jahren eben nicht gab. Deren Notwendigkeit wurde aber durch die höchstrichterliche Rechtsprechung immer wieder betont. Deshalb müssen wir eine Antwort finden. Die nun als rechtswidrig festgestellte anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist eben kein effektives Mittel zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Auch letzte Woche hat der EuGH in seinem Urteil festgestellt, dass die anlasslose Speicherung technischer Daten durch Anbieter nicht rechtssicher ist. Wir wollen sehr schnell und sehr klar eine anlassbezogene Speicherung schaffen, um die Aufklärung von schweren Straftaten zu gewährleisten. ({4}) Wir brauchen einen Ausgleich zwischen den betroffenen Freiheitsrechten und der Sicherheit. Wir brauchen eine solide Verhältnismäßigkeitsprüfung und eine effektive Bekämpfung von Straftaten bei Kindesmissbrauch. ({5}) Sowohl das Bundesinnenministerium als auch das Justizministerium arbeiten daran, die seit Jahren andauernde Rechtsunsicherheit durch effektive Konzepte endlich zu beheben. ({6}) Deshalb ist es sehr, sehr gut, dass die Bundesregierung bereits jetzt an einem Konzept für Quick Freeze arbeitet und einen Gesetzesvorschlag schnell vorlegen wird. Wir arbeiten daran, das Urteil entsprechend umzusetzen. Wir werden dabei zugleich alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen und weitere prüfen, um schwerste Straftaten und Kriminalität rechtssicher zu bekämpfen. ({7}) Zudem wollen wir mit der Log-in-Falle ein ergänzendes Instrument schaffen, um Täterinnen und Täter zu identifizieren. ({8}) Dies sind erste wichtige Schritte bei der Bekämpfung von schwerster Kriminalität. Hier stehen wir selbstverständlich auch im Austausch mit unseren Ermittlungsbehörden, um in der Praxis technisch umsetzbare und gute Instrumente zu finden und zu schaffen, ({9}) die es bisher so nicht gab. Aber auch die Ermittlungsbehörden und Strafverfolgungsbehörden müssen wir insbesondere technisch und personell besser ausstatten, um sexuellen Missbrauch, Hetze im Netz, Cyberstraftaten und Terrorismus besser bekämpfen zu können. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, dabei haben wir keine Scheuklappen auf. Wir suchen aber nach rechtssicheren Wegen, was mit Ihnen in der Großen Koalition nicht möglich war. ({10}) Aber um in dieser Debatte auch wirklich sachlich zu bleiben, lohnt sich ein Blick auf die Zahlen. Betonen möchte ich dabei, ({11}) dass natürlich jede Straftat und jede nicht aufgeklärte Straftat eine zu viel ist. Waren es 2017 noch 39,8 Prozent der strafrechtlich relevanten Meldungen des NCMEC von IP‑Adressen, die keinem Anschluss zuzuordnen waren, so waren es 2021 nur noch 3,4 Prozent. ({12}) Von daher ist es doch gerade so, dass die Instrumente, die wir haben, die wir noch ausbauen werden, und der Ansatz, den wir verfolgen, bei der Kriminalitätsbekämpfung wirken, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({13}) Das entspricht nicht dem Bild, das Sie hier zeichnen wollen. ({14}) 96 Prozent sind zwar immer noch 4 Prozent zu wenig. Aber diese Zahl kann sich sehen lassen. Wir arbeiten mit den entsprechenden Instrumenten weiter an einer Verbesserung. Das wissen Sie auch; denn Sie, Herr de Vries, haben vor Kurzem eine entsprechende parlamentarische Anfrage an den Staatssekretär Saathoff gestellt. Lassen Sie mich aber noch darauf hinweisen, dass es bei der Bekämpfung dieser Kriminalität auch sehr wichtig ist, präventiv vorzugehen, ({15}) um den sexuellen Missbrauch von Kindern zu bekämpfen. Dafür brauchen wir eine bessere gesellschaftliche Sensibilisierung, eine Stärkung der Beauftragten für Kindesmissbrauch, bessere Schutzkonzepte in Kitas und Schulen. Insgesamt müssen wir hervorheben, dass Kinder Träger von Rechten und Träger von Grundrechten sind und sie am besten geschützt werden, wenn die Kinderrechte auch im Grundgesetz verankert werden. ({16}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, Sie sind herzlich eingeladen, unserem Vorhaben, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, zuzustimmen. Vielen Dank. ({17})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Fabian Jacobi das Wort. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Strafgesetzbuch sieht vor, dass ein Straftäter, der zu einer erheblichen Haftstrafe verurteilt wurde, nach seiner Freilassung der Führungsaufsicht unterliegt. Im Rahmen der Führungsaufsicht kann das Gericht die Anwendung einer sogenannten elektronischen Fußfessel anordnen. Der Entlassene wird mit einem Peilsender ausgestattet, den er nicht ablegen darf und über den sein Aufenthaltsort ständig feststellbar ist. Dass diese Maßnahme, konsequent angewandt, weitere Straftaten erschweren oder verhindern kann, liegt nahe. Jemand, der genau weiß, dass alle seine Bewegungen überwacht werden, wird sich sehr genau überlegen, ob er Regeln übertritt. Tut er es aber dennoch, dann ist die Aufklärung und Bestrafung seiner Taten um vieles leichter, als sie es sonst wären. Läge es da nicht ebenso nahe, diese unzweifelhaft effektive Methode zur Reduzierung von Straftaten einfach zu verallgemeinern und jedem Bürger, beispielsweise mit der Einschulung, einen solchen Sender zu verpassen? Wenn allgemein die Bewegungen und der jeweilige Aufenthaltsort aller Menschen aufgezeichnet würden und entsprechend nachvollzogen werden könnten, wenn es sich als nötig erweisen sollte? Natürlich würden die so gespeicherten Daten streng geschützt, der Zugriff darauf nur ausgesuchten staatlichen Stellen unter klar definierten Voraussetzungen erlaubt. Abwegig? Na, klar. Aber effektiv wäre es schon, nicht wahr? Wie viele Straftaten könnten auf diese Weise aufgeklärt oder von vornherein verhindert werden? ({0}) Wollen Sie sich mitschuldig an diesen Taten machen, indem Sie sich dieser kleinen Lästigkeit verweigern? Ihre Freiheit würde dadurch gar nicht eingeschränkt. Sie könnten ja weiterhin gehen, wohin Sie wollen. Es würde halt nur aufgezeichnet, wo Sie hingehen. Tut niemandem weh, nur den Tätern unter uns. Und Sie sind ja kein Täter. Oder doch? Genug der Grotesken, ist man versucht zu sagen. Nur, so grotesk ist diese Vorstellung doch nicht. Es ist so, dass die Frage, wo wir uns körperlich aufhalten und bewegen, mittlerweile weniger über uns aussagt als die Frage, wo und wie wir uns in der Parallelwelt des Internets bewegen. Bezogen auf das Internet, haben die beiden ehemaligen Volksparteien Vorstellungen entwickelt, die leider in die Richtung gehen, dort alle Menschen vorsorglich unter staatliche Führungsaufsicht zu stellen wie verurteilte Straftäter. ({1}) Speziell die christlich-sozialdemokratische Union, über deren Antrag wir hier beraten, hat zu dem Vorhaben einer allgemeinen und anlasslosen Überwachung im Internet ein fast schon fetischistisches Verhältnis entwickelt. Sie versuchen unablässig, wieder und wieder, entsprechende Ideen zur Realität zu machen. Sie laufen dabei immer wieder vor die Wand, lernen aber nichts daraus, sondern stehen auf und nehmen Anlauf für den nächsten Versuch. Schon 2010 hat das Bundesverfassungsgericht den damaligen Versuch gestoppt, und nun hat vor wenigen Tagen der EuGH befunden, dass auch die letzte Version Ihres Überwachungsgesetzes rechtswidrig gewesen ist. Prompt kommt der nächste Antrag, der uns auffordert, nun müssten wir aber wenigstens die Lücken nutzen, die der EuGH, nach Ihrer Lesart, dafür gelassen hat. Nein, müssen wir nicht. Dass der EuGH der Meinung ist, eine anlasslose Speicherung von IP‑Adressen sei unter bestimmten Bedingungen mit den Vorschriften der EU vereinbar, bedeutet doch nicht, dass wir jetzt automatisch das Maximum dessen ausreizen müssten, was danach vielleicht gerade noch geht. Nein, wir müssen vielmehr in eigener Verantwortung entscheiden, welcher grundsätzlichen Vorstellung von unserer Gesellschaft wir folgen wollen. Eine freiheitliche Gesellschaft behandelt nicht ihre Bürger vorsorglich wie Straftäter. Deshalb darf die allgemeine und anlasslose Überwachung keine Option sein, und zwar weder im realen Leben noch im Internet. ({2}) Wenn das Justizministerium, wie angekündigt, einen konkreten Vorschlag für eine anlassbezogene Datensicherung im Internet vorlegt, werden wir uns das genau ansehen, und dann werden wir dem möglicherweise auch zustimmen. So, wie die CDU/CSU das fordert, allerdings sicher nicht. Vielen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Denise Loop. ({0})

Denise Loop (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005133, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe CDU/CSU-Fraktion! Uns eint das Ziel, Kinder vor sexualisierter Gewalt effektiv schützen zu wollen. Dann hört es aber leider auch schon auf. Schade, dass Herr Merz bei dieser wichtigen Debatte zu diesem wichtigen Thema lieber in der letzten Reihe sitzt und sich unterhält. ({0}) Dass Sie in Ihrem Antrag immer noch von „kinderpornografischem Material“ sprechen, zeigt: ({1}) Sie haben sich ganz offensichtlich trotz einer 15‑jährigen Debatte nicht eingehend mit der Thematik beschäftigt. ({2}) Diese Begrifflichkeit wird aus guten Gründen seit Jahren nicht mehr verwendet. In der Fachwelt spricht man schon lange von „Darstellung sexualisierter Gewalt“. ({3}) Auch sonst hinken Sie der Zeit meilenweit hinterher; denn anstatt die Ideen voranzubringen, wie wir gesamtgesellschaftlich Kinder online wie offline vor sexualisierter Gewalt schützen können, verfolgen Sie immer noch die längst überholte Vorratsdatenspeicherung, jetzt in Form der IP‑Adressen, die mit geltendem Grundrecht schlicht unvereinbar ist. ({4}) Sie rennen immer gegen die gleiche verfassungsrechtliche Wand. Ich habe dafür keinerlei Verständnis; denn das ist eine Scheindebatte, die auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird und in dieser Form niemandem hilft. ({5}) Sie lenkt davon ab, dass wir endlich zielgerichtete Maßnahmen zur Abwehr von konkreten Gefahren brauchen. ({6}) Dabei geht es mit der CDU durchaus auch anders. Das zeigen Ihre Kolleginnen und Kollegen aus Schleswig-Holstein. Dort wird auf eineinhalb Seiten des Koalitionsvertrages dezidiert beschrieben, mit welchen Maßnahmen Kinder vor sexualisierter Gewalt geschützt werden können. ({7}) Das schwarz-grüne Bündnis hat keine Sekunde auf die unnütze Vorratsdatenspeicherung und die Speicherung der IP‑Adressen verschwendet. Stattdessen haben wir uns gemeinsam sehr klar und gerade mit Blick auf die Darstellung sexualisierter Gewalt an Kindern für tatsächlich effektive Instrumente zur Strafverfolgung ausgesprochen, ({8}) zum Beispiel durch das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren. Für dieses Verfahren spricht sich übrigens auch der Deutsche Kinderschutzbund aus. ({9}) Ich habe es in meiner letzten Rede zu diesem Thema schon erklärt, aber ich wiederhole es gerne noch mal: Wir müssen den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern umfassend betrachten. ({10}) Das tun wir als Ampelkoalition. Unser gemeinsames Ziel müsste es doch sein, dass möglichst keine Taten passieren. Aber zu Prävention und Aufarbeitung steht kein Wort in Ihrem Antrag. Dabei geht es darum, wie wir die Kooperation von allen für den Kinderschutz wichtigen Institutionen voranbringen können, wie wir funktionierende Schutzkonzepte in allen Bereichen, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, etablieren, wie wir alle Menschen für das Thema und die Gewalt, die Kindern und Jugendlichen angetan wird, sensibilisieren und wie wir die Arbeit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der unabhängigen Aufarbeitungskommissionen stärken können. Arbeiten Sie dabei endlich mit uns zusammen. ({11}) Wenn ich noch eine Anmerkung zum aktuellen Haushaltsentwurf loswerden darf: Wenn Sie ganz konkret etwas tun möchten, reden Sie mit Ihren Haushältern. Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs hat eine wegweisende Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne erarbeitet. Die Mittel dafür sind im kommenden Haushalt noch nicht abgesichert. ({12}) Hier können wir als Parlamentarier/-innen Akzente setzen, die im Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern wirklich wirksam sind. Vielen Dank. ({13})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Die Linke hat das Wort Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Täglich grüßt das Murmeltier“, so kommentierte der „Logbuch:Netzpolitik“-Podcast das drölfzigste Gerichtsurteil zur Rechtswidrigkeit irgendeiner Vorratsdatenspeicherung. Es war das fünfte Urteil dazu vom Europäischen Gerichtshof. Die CDU/CSU hat aber auch diesmal nix daraus gelernt. Die Tinte auf dem Urteil war noch gar nicht trocken, da kamen Sie schon mit einem neuen Vorschlag um die Ecke, nämlich einer anlasslosen Speicherung von IP‑Adressen. Ja, es stimmt, der EuGH hat kleine Spielräume gelassen; aber drei Voraussetzungen gelten auch dann. Eine Überwachungsmaßnahme muss nämlich dreierlei sein: erstens geeignet, zweitens angemessen und drittens verhältnismäßig. Ich mache da gerne mal die Erklärbärin für die CDU/CSU. ({0}) Erstens. Ist sie geeignet? Zweck dieser Maßnahme soll sein, Bilder von sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Internet zu verfolgen. Wie die Union aber kürzlich auf ihre eigene schriftliche Frage von der Bundesregierung erfuhr, gab es 2021 bei 96 Prozent dieser Straftaten kein einziges Problem mit den IP‑Adressen. ({1}) Nur in 3,4 Prozent der Fälle war eine fehlende IP‑Adresse überhaupt ein Ermittlungshindernis. ({2}) Nehmen wir mal an, alle IP‑Adressen wären gespeichert. Wie wahrscheinlich ist es, dass derartige Straftäter zu Hause ihren privaten Laptop benutzen und ihren eigenen Telekom-Internetanschluss? Straftäter haben keinen Bock auf Knast und sind clever genug, ({3}) entweder einen öffentlichen Internetanschluss zu benutzen oder aber einen Tor Browser; der verschleiert nämlich ihre IP‑Adresse. Die IP‑Adressen, die Sie da erfahren würden, führten ins Leere, aber nicht zum Straftäter. Die Maßnahme ist mithin nicht geeignet. ({4}) Zweitens. Wäre sie denn angemessen? Angemessen ist eine Überwachungsmaßnahme dann, wenn es keine Alternative gibt, die weniger Grundrechte verletzt. Wenn es in 96 Prozent aller Fälle schon ohne geht und es zusätzlich mit Quick Freeze in Einzelfällen eine weniger grundrechtsverletzende Variante gäbe, ist die Speicherung aller IP‑Adressen eben auch nicht angemessen. ({5}) Drittens. Für die Verhältnismäßigkeit vergleicht man den Nutzen mit dem Ausmaß der Grundrechtsverletzung. Wir haben also auf der einen Seite einen Nutzen von ungefähr null, ({6}) auf der anderen Seite die Grundrechtsverletzung – permanent – von 84 Millionen Menschen in Deutschland. Das ist ganz klar – auch für Dummies – nicht verhältnismäßig. ({7}) Laut EuGH dürfen Regierungen im Übrigen einen Nutzen auch nicht herbeifantasieren, sie müssen ihn belegen. Und einen Beleg für den Nutzen einer Vorratsdatenspeicherung gibt es nicht, auch nicht in der Version einer anlasslosen IP-Adressspeicherung. Außerdem hat die CDU offenbar die Einschränkung des EuGH nicht verstanden, wonach die Speicherfrist auf das äußerst Notwendige beschränkt sein muss. Bei Ermittlungen schwerster Straftaten sollten Behörden aber so mit Personal und Ressourcen ausgestattet sein, dass sie IP‑Adressen auch in ein paar Tagen abfragen können, ({8}) wie es, voraussichtlich, das Quick-Freeze-Verfahren bei konkreten Verdachtsfällen ja auch vorsieht, ({9}) aber nicht ein halbes Jahr, meine Damen und Herren. ({10}) Es ist schon, ehrlich gesagt, eine absolute Zumutung, ein EuGH-Urteil so auszureizen, dass es eine maximale Massenüberwachung ermöglicht. Dabei aber auch noch derart dilettantische Fehler zu machen, ist einfach nur noch peinlich. Wer greift denn freiwillig mehrfach immer wieder in das gleiche Klo? Das ist die CDU/CSU, meine Damen und Herren. ({11}) Wenn es der CDU/CSU tatsächlich um den Schutz von Kindern vor Gewalt ginge, dann hätte sie in 16 Jahren Regierungszeit mehr dafür getan, dass durch Prävention derartige Gewalttaten verhindert werden. Stattdessen mussten wir in der Linksfraktion 16 Jahre lang gegen die ständige Ausweitung anlassloser Überwachung und für Prävention und den Schutz von Kindern kämpfen. Ich bin froh über die klare Absage an jede Form anlassloser Überwachung im Koalitionsvertrag der Ampel. Ich hoffe, sie bleibt auch dabei. Ich bin auch froh, dass die Union der Bundesregierung nicht mehr angehört. 15 Jahre rechtswidrige Versuche und fünf EuGH-Gerichtsurteile sollten reichen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das tote Pferd Vorratsdatenspeicherung gehört nicht weiter geritten, sondern endgültig begraben. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und für die FDP-Fraktion hat das Wort Konstantin Kuhle. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Bekämpfung von Straftaten nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der vergangenen Woche zur deutschen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Lassen Sie mich eine Bemerkung vorweg machen. Wir reden über eine bestimmte Form von Straftaten, nämlich den sexuellen Missbrauch an Kindern. Diese Form von Straftaten gehört zu dem Abscheulichsten und Widerlichsten, was man sich überhaupt vorstellen kann. ({0}) Wenn hier versucht wird, denjenigen, die sich gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung einsetzen, zu unterstellen, sie würden an der Seite von Kinderschändern stehen oder sie würden das, was da passiert, sogar gutheißen, ({1}) dann bewegt sich das im Bereich von ehrabschneidenden Diffamierungen. Das will ich ganz deutlich sagen. ({2}) Wir alle gemeinsam haben das Interesse und haben das Ziel, sexuellen Missbrauch an Kindern zu verhindern und zu bekämpfen. Das glaube ich Ihnen, und das sollten Sie uns auch glauben. Den Opfern ist überhaupt nicht geholfen, wenn wir uns da auseinanderdividieren lassen. Ich bin überzeugt davon, auch in vollem Respekt vor der praktischen Expertise unserer Sicherheitsbehörden, dass wir eine gute Lösung in dieser Diskussion finden werden. ({3}) In der vergangenen Woche hat der Europäische Gerichtshof eine ganz wichtige Entscheidung veröffentlicht und damit einen Meilenstein für die Bürgerrechte markiert: Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist mit europäischen Grundrechten unvereinbar. ({4}) Das zeigt noch einmal: Eine Massenüberwachung, bei der alle Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf ihre Verkehrsdaten, mit Blick auf ihre Standortdaten überwacht werden, passt nicht zu unserer Werteordnung. Und weil das so ist, müssen die Bundesregierung und der Bundestag jetzt das einzig Richtige machen, was aus diesem Urteil folgen kann, und das ist, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung aus deutschen Gesetzen zu streichen, meine Damen und Herren. ({5}) In dieser Woche hat ein Treffen der Innen- und Justizminister in München stattgefunden. ({6}) Bei der Reaktion der Innenminister habe ich teilweise gedacht: Ich bin im falschen Film. – Seit 15 Jahren sprechen wir in Deutschland darüber, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung rechtswidrig ist. Seit 15 Jahren wissen wir, bestätigt durch mehrere Gerichtsurteile, dass dieses Instrument von den Behörden eben nicht eingesetzt werden kann. Und wir wissen – anhand der Zahlen, die hier dankenswerterweise gerade von der Kollegin Eichwede vorgetragen worden sind –, dass die Aufklärungsquote gerade beim sexuellen Missbrauch bei Kindern trotzdem relativ hoch ist. ({7}) Und jetzt kommt Marco Buschmann und macht Ihnen ein Angebot, wie man diese Aufklärungsquote auch noch steigern könnte. Statt sich darauf einzulassen, lehnen Sie das ab. Da habe ich wirklich überhaupt nicht mehr verstanden, was mit den Innenministern in diesem Land eigentlich los ist. ({8}) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eines ganz klar sagen: Wer sich einer Diskussion über den Quick-Freeze-Ansatz verweigert, der ist doch in Wahrheit das Sicherheitsrisiko, das er anderen vorwirft zu sein. Deswegen sollten wir schnellstmöglich in eine Diskussion darüber einsteigen, diesen Quick-Freeze-Ansatz auf den Weg zu bringen. Und dann höre ich immer: IP‑Adressen zu speichern, sei ja nicht so schlimm. Natürlich ist eine IP‑Adresse ein sensibles Datum; denn eine IP‑Adresse ermöglicht in der Zusammenschau mit anderen gespeicherten Daten eine sehr genaue Auskunft über das Surfverhalten einer Person im Internet. ({9}) Und dieses permanente Gefühl des Überwachtseins passt nicht zu einer liberalen Demokratie. Diese Situation passt nicht zu einer freiheitlichen Gesellschaft. ({10}) Natürlich leben wir in Deutschland in einem freien Land. Natürlich haben wir einen funktionierenden Rechtsstaat. Aber wir müssen doch auch den Systemkonflikt sehen, der gerade auf der Welt existiert: Es geht darum, dass Autokratien und Demokratien gegeneinanderstehen. ({11}) Demokratien werden diesen Systemkonflikt nur bewältigen, wenn sie auch bei der Verbrechensbekämpfung zu dem stehen, was ihre eigenen Grundwerte sind, und das gilt auch bei der Verteidigung der informationellen Selbstbestimmung und auch bei der Verteidigung der Privatsphäre. ({12}) Diese Debatte sagt so viel aus. Sie sagt doch so viel aus über das Verständnis unterschiedlicher Fraktionen hier im Haus, wenn es um das Verhältnis von Staat und Bürgern geht. ({13}) Es gibt Menschen, die wissen, dass bei zusätzlichen Freiheitseinschränkungen – und ja, es braucht Freiheitseinschränkungen, um Straftaten zu bekämpfen und zu ahnden – der Souverän von diesen Freiheitseinschränkungen überzeugt werden muss. ({14}) Und es gibt andere in diesem Haus, die glauben, dass man den Souverän mit Freiheitseinschränkungen überrumpeln kann, indem man eine Debatte über sexuellen Kindesmissbrauch aufsetzt. Aber eigentlich will man die Vorratsdatenspeicherung einfach generell im deutschen Recht wiederhaben. ({15}) Man will sie auch für andere Straftaten. ({16}) Man will sie auch wieder für Straftaten, für die Sie sie schon eingeführt haben. ({17}) Deswegen ist das auch eine Masche, die Sie hier aufführen, und dieser Masche werden wir nicht folgen. ({18}) Wir als Ampelkoalition werden eine gute Lösung finden, einen guten Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit. Wir werden die Aufklärungsquote bei der Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch weiter steigern. Das sind wir den Opfern schuldig, und wir sind es auch unserer Werteordnung schuldig, ({19}) dass wir das in vollem Respekt vor der Freiheit, vor der informationellen Selbstbestimmung und auch vor dem Schutz der Privatsphäre tun. Herzlichen Dank. ({20})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich grüße Sie an diesem Mittag und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte ist nicht die erste im Deutschen Bundestag zu Fragen der IP- und Verkehrsdatenspeicherung. Aber auch diese Debatte ist offenbar bitter nötig. Denn bis zum heutigen Tag werden Stunde für Stunde kinderpornografische Bilder und ekelerregende Videos hochgeladen, und zu viele Missbrauchstäter können wir nicht zur Strecke bringen. Daher will ich meine Redezeit nutzen, die Ampelbeiträge in dieser Debatte gern mit vier Hinweisen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Erstens. Der einzige Ermittlungsansatz gegen Kindesmissbrauch ist in den meisten Fällen die IP‑Adresse der Tätercomputer. ({0}) Diese wirkt wie ein Autokennzeichen im Netz, nur dass dieses Kennzeichen jeden Tag gewechselt wird. Deshalb werden wir den Missbrauch nur dann wirksam und vollständig bekämpfen können, wenn wir es schaffen, diese Adressen zu speichern. ({1}) Zweitens. Lesen Sie Gerichtsurteile bitte ganz. ({2}) Sie jubeln mit Blick auf das EuGH-Urteil über die Unzulässigkeit eines wirksamen digitalen Fahndungsinstruments zum Schutz unserer Kinder. ({3}) Sie mögen das feiern, wir tun das nicht. ({4}) Für uns ist die gute Nachricht: Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes aus der letzten Woche lässt genau die beschriebene Möglichkeit zur Speicherung von IP‑Adressen zu, um damit schwere Straftaten bekämpfen zu können. ({5}) Ich hoffe doch, dass wir uns in diesem Hause zumindest darauf einigen können, dass es sich bei Kinderpornografie und Kindesmissbrauch genau um solche schwerste Kriminalität handelt. ({6}) Da könnten Sie eigentlich klatschen – Sie tun es nicht. Daher wollen wir genau diese Möglichkeit des Urteils auch konsequent nutzen. Es ist aufschlussreich, dass weite Teile dieses Hauses gerade diesen zentralen Teil des Urteils einfach ausblenden. Wer ein Gerichtsurteil so selektiv liest, wie Sie das tun, ({7}) der missbraucht einen Richterspruch für seine politische Agenda. ({8}) Das ist nicht in Ordnung. ({9}) Drittens. Seien Sie nicht länger Teil des Problems, sondern werden Sie Teil der Lösung. ({10}) Seit weit über einem Jahrzehnt höre ich in diesem Hause von den Grünen, von der FDP, von weiten Teilen der SPD immer die gleiche Kampfrhetorik gegen die Verkehrsdatenspeicherung. Wir nehmen die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs ernst und arbeiten auf ihrer Grundlage an neuen Strategien zur Kriminalitätsbekämpfung. Ihnen fällt seit Jahren nichts anderes ein, als zu sagen: „Die Vorratsdatenspeicherung muss weg!“. ({11}) Das ist „Muss-weg-Politik“ ohne eine Antwort, was stattdessen kommen soll.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Krings, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. von Notz zulassen?

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber doch, sehr gerne.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Geschätzter Kollege Krings, vielen Dank für das Zulassen der Zwischenfrage. – 16 lange Jahre – 16 lange Jahre! – hat die Union das BMI innegehabt, und Sie waren ja mit in Verantwortung. Wer soll Ihnen eigentlich nach all den Beteuerungen, dass Ihre Gesetzesvorschläge im Bereich der Vorratsdatenspeicherung verfassungskonform sind, noch abnehmen, dass sie es diesmal wirklich sind? ({0}) Wenn das hier Ihr Vorschlag ist – nachdem Sie zum fünften Mal vor höchsten Gerichten gescheitert sind –, jetzt einfach redundant denselben Kram zu erzählen, den Sie hier die letzten Jahrzehnte erzählt haben, dann weiß ich auch nicht. ({1}) Es geht tatsächlich um ein sehr ernstes Thema. Erklären Sie mir mal die Diskrepanz zwischen dem ernsten Thema, das wir hier verhandeln, und Ihrem dünnen zweiseitigen, lieblosen Copy-and-paste-Antrag, den Sie hier vorlegen, in dem Sie überhaupt nicht auf das Gerichtsurteil eingehen. ({2}) Sie beantworten all die relevanten Fragen nicht. ({3}) Die Speicherung von IP‑Adressen ist ja mega voraussetzungsvoll. Deswegen: Legen Sie anhand des Urteils genau dar, wie Sie das umsetzen wollen. Dann können wir vielleicht in eine ernsthafte Diskussion kommen. Sonst hat man den Eindruck, dass Sie einfach redundant das fordern, was Sie immer fordern und mit dem Sie mega unerfolgreich waren. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist ja ein beliebtes rhetorisches Mittel, wenn man in der Sache keine Argumente hat, ad personam zu argumentieren. ({0}) Das kann man machen. Auch ich bin nicht mit allem glücklich, was wir im Innenministerium in den letzten Jahren machen konnten; denn wir hatten die ganze Zeit Koalitionspartner, die manche Dinge nicht ermöglicht haben. ({1}) Sie greifen mit Ihrer Einlassung zugleich zwölf Jahre SPD- und vier Jahre FDP-Mitregierung an. Das können Sie in der Ampel diskutieren. Aber ich habe mehr Spaß daran, in der Sache zu diskutieren, und Sie hoffentlich auch. Die Anzahl von Gerichtsurteilen zu zählen – es gibt einen schönen Satz: judex non calculat –, ist noch nie ein starkes juristisches oder politisches Argument gewesen. Entscheidend ist vielmehr, dass man aus einem Urteil die richtigen Konsequenzen zieht. Das setzt allerdings voraus, dass man es liest, und zwar vollständig. ({2}) Ich könnte jetzt eine Reihe von Randziffern des Urteils zitieren; ({3}) aber vielleicht reicht der fettgedruckte Teil. Das ist vielleicht auch einfacher aufzunehmen, wenn Teile der Ampel schon mit einem zweiseitigen Antrag von uns überfordert sind. ({4}) Der dritte Spiegelstrich bei den Schlussfeststellungen besagt eindeutig, dass zur Bekämpfung schwerer Kriminalität natürlich eine IP‑Adressen-Speicherung möglich ist. Wir bewegen uns hundertprozentig auf der Grundlage des Urteils. Auch wir haben in der Fraktion mit Richtern gesprochen, mit Europarechtsexperten. Die Sache ist glasklar: Diese Möglichkeit besteht. ({5}) Sie wollen sie nicht nutzen. Dann sagen Sie offen: Wir wollen sie nicht nutzen. – Das kann man politisch wollen. Die rechtliche Möglichkeit ist da. Wir wollen sie nutzen. Das ist keine Frage des rechtlichen Könnens, sondern des politischen Wollens. Und diese Entscheidung muss hier in diesem Parlament getroffen werden, meine Damen und Herren. ({6}) Wenn ich fortfahren darf, Frau Präsidentin. – Kommen Sie mir bitte auch nicht immer wieder mit dem Ablenkungsmanöver Quick Freeze. Dadurch würde eben nichts verbessert. Es nützt halt nichts, sozusagen den Gefrierschrank erst heute zu befüllen, wenn Sie für die Tataufklärung die IP‑Adresse von letzter Woche brauchen. Sie halten mit diesem Thema der Öffentlichkeit hier seit Jahren bloß einen Pappkameraden hin. Einfrieren, meine Damen und Herren, können Sie damit allenfalls Ihr eigenes schlechtes Gewissen. ({7}) Viertens. Reden Sie bitte mit Praktikern! Dass es gar nicht so schwer ist, auf einen konstruktiven Kurs umzuschwenken, zeigt Ihnen doch Ihre eigene Bundesinnenministerin. ({8}) Das zeigen übrigens auch – das ist eben dankenswerterweise gesagt worden – Ihre eigenen Landesinnenminister. Die Hälfte aller Landesinnenminister sind SPD-Innenminister, und auch die sind der Auffassung IP‑Adressdatenspeicherung ist nicht nur möglich, sondern auch richtig. Das Gleiche sagt in einem bemerkenswerten Interview Ihr SPD-Fraktionskollege Herr Fiedler; er gehört dem Rechtsausschuss an. Eigentlich komisch, dass er heute in der Debatte nicht sprechen darf. ({9}) Er ist zumindest da. Schön, dass Sie da sind – tolles Interview –, und Sie sind unserer Auffassung; dafür ganz herzlichen Dank. ({10}) Die Innenministerin fordert inzwischen die IP‑Adressen-Speicherung, weil sie nämlich einfach mal mit Praktikern im Bundeskriminalamt gesprochen hat. ({11}) Deshalb wäre es schön, wenn etwa auch der Bundesjustizminister einmal sozusagen aus dem Elfenbeinturm seines Ministerbüros herabsteigen und mit Praktikern sprechen würde. ({12}) Die Strafverfolger werden ihm dann schon erzählen, um welche grausamen Realitäten es sich hier handelt und welche Instrumente – das ist der entscheidende Punkt – sie brauchen, um diese Taten wirksam bekämpfen zu können. Ich glaube, das muss man einfach akzeptieren, auf sich wirken lassen, um dann entsprechend seine Meinung zu ändern. Meine Damen und Herren, hier im Deutschen Bundestag muss die Ampel jetzt Farbe bekennen. Wollen Sie die immer noch Hunderte und Tausende von Fällen – auch wenn es weniger geworden sind – des unaufgeklärten fortgesetzten Kindesmissbrauchs einfach mit einem Achselzucken hinnehmen, oder sind Sie bereit, gemeinsam mit uns die IP‑Adressen als wirksame Waffe ({13}) zum Schutz und zur Rettung gepeinigter Kinder einzusetzen? Das ist eine ganz einfache Frage. Mein Appell: Entscheiden Sie sich gegen Ignoranz und für Kinderschutz! Vielen herzlichen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Jens Zimmermann. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute – Klammer auf: mal wieder; Klammer zu – über die Vorratsdatenspeicherung. Man könnte sagen: Das ist ein guter Anlass; wir haben das diese Woche in verschiedenen Ausschüssen auch getan, weil das Urteil des Europäischen Gerichtshofs dazu jetzt vorliegt. – Aber: Der Anlass für diese Debatte ist ja nicht, dass wir dazu hier eine muntere Selbstbefassung machen wollen – das wird jetzt vielleicht gerade aus dieser Debatte –, sondern dass die Union ganz fix einen Antrag gestrickt hat. Es ist eben schon deutlich geworden – Kollege von Notz hat darauf hingewiesen –: Der Antrag ist nicht sehr dick geraten – er hat zwei Seiten – und ist auch nicht sonderlich ausgegoren. ({0}) Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ob dieser Antrag die Ernsthaftigkeit, die Sie bei der Debatte einfordern, auch nur ansatzweise widerspiegelt. ({1}) Wir sprechen deswegen heute auch über die Sicherheit und über den Schutz von Kindern und über Maßnahmen, die der Staat ergreifen kann, um diese zu schützen. Ich glaube, alle Rednerinnen und Redner aus allen Fraktionen haben deutlich gemacht, dass das ein gemeinsames Anliegen ist. Aber – das will ich auch sagen – man muss sich auch einmal den „Track Record“ – schönes neudeutsches Wort – der Union anschauen. Das, was Sie in den letzten 16 Jahren in diesem Bereich erreicht haben, ist wirklich verheerend. Sie sagten: Hätten Sie nicht mit der FDP oder mit der SPD regieren müssen, dann hätten Sie noch viel mehr hinbekommen. – Aber das Wenige, was Sie in dem Bereich machen wollten – schon darüber haben viele die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen –, ({2}) ist doch alles vor Gerichten gescheitert. ({3}) Also, es ist doch ziemlich unlogisch, was Sie hier präsentieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Immer wenn wir diese Abwägung haben von Sicherheit und von Freiheit, vom Eingriff in Bürger/-innenrechte und vom Schutz anderer ({4}) – das ist doch ein ganz wichtiger Punkt; da brauchen Sie doch nicht so zu brüllen –, dann setzt das immer auch Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diesen Staat voraus. ({5}) Wenn Sie – Stichwort „Ihre Bilanz“ – Leute wie einen Hans-Georg Maaßen in wichtige Funktionen setzen, die damit an einer ganz sensiblen Stelle von Sicherheit und Bürgerrechten sind, ({6}) dann müssen Sie sich doch nicht wundern, dass niemand mehr Vertrauen in Sie hat bei diesem Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Das ist ein Fakt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Aber mir ist vor allem eins wichtig: Wenn man sich die Fakten anschaut, muss man an die vorderste Stelle – das war ja auch Inhalt Ihrer Anfrage an das Bundesinnenministerium, das für Transparenz gesorgt hat – einen großen Dank an alle Ermittlerinnen und Ermittler setzen. ({9}) Denn das Bundeskriminalamt und die Ermittlerinnen und Ermittler haben in den letzten Jahren die Feststellung von IP‑Adressen von Nutzerinnen und Nutzern Jahr für Jahr nach oben getrieben; 96,5 Prozent waren es im letzten Jahr. Deswegen sage ich ganz klar: Herzlichen Dank für die harte Arbeit, die dort geleistet wurde! ({10}) Das ist die Situation, die wir aktuell haben. Da können Sie noch so viel brüllen. Das sind die Zahlen, die Sie angefordert haben. Die müsste man natürlich auch mal verstehen; das würde bei der ganzen Geschichte helfen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs – wir hadern ja alle immer mal mit höchstrichterlicher Rechtsprechung – müssen wir zur Kenntnis nehmen. ({11}) Es hilft nicht, darüber Krokodilstränen zu vergießen. Wir haben jetzt vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof einen ganz klaren Rahmen, in dem wir arbeiten müssen. ({12}) Erster Punkt ist: Die Vorratsdatenspeicherung, wie Sie sie immer haben wollten, ist weder mit deutschem noch mit europäischem Recht vereinbar. ({13}) Die Alternativen, die der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil aufzeigt, ({14}) haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bereits in ihrem Koalitionsvertrag aufgeführt ({15}) – Natürlich. ({16}) Das Thema „Quick Freeze“, Herr Kollege, hat ja sogar der EuGH aufgegriffen, auch wenn er es so nicht genannt hat. ({17}) Aber es ist ganz klar: Das ist dadrin. Das werden wir umsetzen. ({18}) Das ist ein wirksames Instrument, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({19}) Ich lese Ihnen auch gern noch mal vor, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben: … werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen ({20}) – nicht anlasslos – und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können. ({21}) Zu dieser von Ihnen so aufgeregt geführten Diskussion kann ich nur sagen: Ich hätte mir einen Quick Freeze für Ihren Antrag gewünscht. Das hätte vielleicht geholfen. ({22}) – Nein, Herr Kollege. ({23}) Arrogant ist es, zwei, drei Tage nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mir nichts, dir nichts einen kleinen Quick-and-Dirty-Antrag hier einzubringen, ({24}) um genau diese Debatte, die jetzt hier läuft, zu provozieren. ({25}) Sie haben kein Interesse an einer pragmatischen Lösung. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin ich sehr dankbar dafür, dass Minister Buschmann und Ministerin Faeser einen Vorschlag vorlegen werden, der europarechtskonform ist ({26}) und deswegen den Kampf gegen Kindesmissbrauch endlich voranbringen ({27}) und uns nicht weitere 16 Jahre behindern wird wie Ihre Arbeit. Herzlichen Dank. ({28})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gereon Bollmann spricht jetzt für die AfD-Fraktion. ({0})

Gereon Bollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005029, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, der bisherige Verlauf der Debatte erweist, dass wir uns alle zumindest in einem Punkt sehr einig sein dürften: dass die sexualisierte Gewalt an Kindern eines der abscheulichsten Verbrechen ist. Das ist eigentlich ziemlich klar. Auch dass deren Bekämpfung ein äußerst wichtiges Ziel von Politik ist, steht wohl nicht infrage. Der Datenschutz ist es aber auch. Und weil er es ist, haben in der letzten Woche wieder einmal zwei Regierungen vor dem Europäischen Gerichtshof Schiffbruch erlitten: die französische und die deutsche. Beide Regierungen hatten die Freiheitsrechte der Bürger einmal mehr nicht hinreichend in den Blick genommen. Deshalb brauchen wir jetzt eine sorgfältige Abwägung von Rechtsgütern und keinen Schnellschuss der Anhänger eines Überwachungsstaates. ({0}) Schon jetzt lassen sich drei von vier Fällen von sexualisierter Gewalt an Kindern aufklären. Die amerikanische Kinderschutzorganisation NCMEC überwacht nahezu sämtliche Netzaktivitäten in dieser Richtung. Von dieser Organisation erhält das BKA die erforderlichen Daten, und zwar ganz ohne Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Niemand kann doch seriös vorrechnen, wie hoch die Aufklärungsquote wäre, wenn sämtliche IP‑Adressen gespeichert werden. Es gibt also keinen Anlass zu übertriebener Hektik. Vielleicht an dieser Stelle: Frau Lindholz, Sie haben ja die Debatte mit Ihrem Vortrag eröffnet. Sie sind Fachanwältin für Familienrecht. Ich war Richter im Familiensenat eines Oberlandesgerichts. Wir sollten beide also wissen, wovon wir reden. Sie haben die Passage natürlich zutreffend zitiert. Aber die Bedingungen, die zugleich in dem Urteil des EuGH stehen, haben Sie nicht angesprochen. ({1}) Wir haben es hier von der Kollegin von den Linken referiert bekommen, und auch Herr Jacobi hat im Grunde darauf Bezug genommen: Es ist zulässig, aber eben nur bedingt. ({2}) Was nämlich, Frau Lindholz, steht auf dem Spiel? Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich eine andere Stelle. Also gut zuhören! Danach ist Folgendes möglich: … Verkehrs- und Standortdaten, die zehn bzw. vier Wochen lang gespeichert werden, kann aber sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, ({3}) deren Daten gespeichert wurden – etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte ({4}) – das ist doch die Folge, Herr Dr. Krings –, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ({5}) ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren –, und insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen ermöglichen. ({6}) Liebe Kollegen, man kann nicht häufig genug betonen, dass dies fast ausschließlich Personen betreffen würde, die doch mit Kriminalität überhaupt nichts am Hut haben. Weiter heißt es in dem Urteil, dass die Bekämpfung schwerer Kriminalität zwar von größter Bedeutung sei, aber für sich genommen die Erforderlichkeit einer Maßnahme der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsdatenspeicherung nicht rechtfertigen könnte. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Aus genau diesen Gründen lehnen wir eine anlasslose Datenspeicherung ab. Nur bei hinreichendem Tatverdacht und – ich betone – nur mit richterlichem Beschluss sind Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung akzeptabel, nicht aber durch einen gesetzlichen Freifahrtschein. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Unser Kollege Helge Limburg hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Helge Limburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Union wiederholt heute ein altbekanntes Ritual. Unter der Überschrift „Kinderschutz“ folgen rechtshistorische Ausführungen zur Vorratsdatenspeicherung; aber es kommt keine einzige konkrete Forderung zum Kinderschutz in diesem Land. Als einzige Forderung findet man im Antrag die Einführung der anlasslosen Massenspeicherung im Internet. Das ist erbärmlich wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen, und es ist auch falsch. Die Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig. Sie hat tief in die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Land eingegriffen. Sie gehört in der Tat ins rechtshistorische Seminar, aber nicht ins Bundesgesetzblatt. ({0}) Im Bereich des Kinderschutzes – meine Kollegin Loop ist darauf schon eingegangen – hat sich diese Koalition viel vorgenommen. Es gibt in der Tat in diesem Land viel zu tun – für uns alle. Niemand von uns kann doch in Wahrheit für sich in Anspruch nehmen, genug getan zu haben. Wir könnten diskutieren über die flächendeckende Einrichtung von Childhood-Häusern, wo Kinder in geschützter Umgebung aussagen können, über Konzepte zur Stärkung von Kindern, Nein zu sagen, oder auch darüber, wie wir Strukturen in Verbänden und Institutionen erkennen können, die Kindesmissbrauch begünstigen. Aber wenn Sie, liebe Union, ausgerechnet in der Woche, in der eine Studie zum Thema „Missbrauch im Breitensport“ veröffentlicht worden ist, das Thema Kinderschutz hier auf die Tagesordnung setzen, ohne auch nur eine einzige Forderung oder einen einzigen Gedanken aus dieser Studie irgendwie aufzugreifen, weder in Ihren Reden noch in Ihrem Beitrag, ({1}) und sich stattdessen einzig und allein auf die anlasslose Vorratsdatenspeicherung im Internet fokussieren, dann darf uns das zumindest, vorsichtig ausgedrückt, verwundern. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ist denn eigentlich der derzeitige Stand bei der Vorratsdatenspeicherung nach 16 Jahren Unionsinnenministern? Mein Kollege von Notz hat es gesagt: Es gibt sie schlicht nicht. 16 Jahre haben in diesem Bereich exakt nichts hinterlassen, quasi eine schwarze Null. ({3}) Sie haben tief in die Grundrechte der Menschen in diesem Land eingegriffen. Sie haben dafür zu Recht Urteile aus Karlsruhe und aus Luxemburg kassiert, die Ihnen diese Eingriffe attestiert haben. Aber Sie haben eben nichts vorgelegt, was tatsächlich die Rechte von Kindern schützen würde oder den Ermittlerinnen und Ermittlern Instrumente an die Hand geben würde. Herr Krings, Sie haben uns unterstellt, wir würden hier sagen, die Vorratsdatenspeicherung muss weg. Nein, das ist nicht wahr. Die Vorratsdatenspeicherung ist weg. Sie war, auch wenn es Ihnen nicht passt, in den letzten Jahren nie da. Insofern muss es doch hier darum gehen, wie es der Kollege Kuhle und andere zu Recht getan haben, mal zu diskutieren, wie wir nach vorne kommen können, wie wir Ermittlungsinstrumente an die Hand geben können. ({4}) Quick Freeze, liebe Kolleginnen Kollegen, das schnelle Einfrieren von Daten im Internet, ist natürlich auch ein Eingriff in Grundrechte; keine Frage. Aber dieser Eingriff ist anlassbezogen und erfolgt im Einzelfall und nicht anlasslos und massenhaft. ({5}) Deswegen ist das Ganze ausgewogen und verhältnismäßig. ({6}) Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren doch gerade auf verschiedenen Ebenen, wie wir die Resilienz gegen Cyberangriffe stärken können. ({7}) Cyberangriffe, zum Beispiel aus Russland, können natürlich nicht nur den Deutschen Bundestag treffen, sondern auch sämtliche Telekommunikationsunternehmen in Deutschland. ({8}) Sie von der Union wollen, dass sämtliche Telekommunikationsunternehmen eine riesige Datenvorratskammer anlegen, wo die Kommunikation jeder Bürgerin und jedes Bürgers in diesem Land lückenlos für sechs Monate rückverfolgbar ist. Das ist ihr Ziel. ({9}) Was machen Sie eigentlich, wenn diese Daten in falsche Hände gelangen, in die Hände ausländischer Geheimdienste? Liebe Kolleginnen und Kollegen, der beste Datenschutz ist Datensparsamkeit, ({10}) weil das auch vor Missbrauch von Daten schützt. ({11}) Auch deshalb ist es richtig, dass wir es nicht so machen, wie Sie das vorschlagen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist in der Tat schon längst über Ausnahmen diskutiert worden. Herr Krings, der Vorwurf, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs selektiv zu lesen, fällt auf die Union zurück. Als Ausnahme ist in der Tat erwähnt, ({13}) dass für einen absolut notwendig begrenzten Zeitraum eine Speicherung denkbar wäre – absolut notwendig begrenzter Zeitraum. ({14}) Sie fordern allen Ernstes, die Daten sechs Monate lang zu speichern. ({15}) Herr Krings, wenn Sie ernsthaft glauben, dass das mit „absolut begrenzter Zeit“ gemeint gewesen ist, dann bewegen Sie sich am Rande der Lächerlichkeit. Ein solches Gesetz würde zu Recht wieder von höchsten Gerichten diskutiert werden. ({16}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gut.

Helge Limburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt keine Strafverfolgung um jeden Preis. Es darf keinen anlasslosen Generalverdacht geben. Wir werden für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den legitimen Strafverfolgungsinteressen und den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger sorgen. Die Fortschrittskoalition macht sich auf den Weg, und ich wäre froh, wenn die Union sich endlich konstruktiv an der Debatte beteiligen würde. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Alexander Throm ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bemerkenswert und es ist eher erschreckend, wie oberflächlich und teilweise auch kaltschnäuzig manche Rednerinnen und manche Redner der Ampel, insbesondere von FDP und Grünen, ({0}) hier über das Leid von Kindern bei Kindesmissbrauch einfach hinwegreden ({1}) und ihr ideologisches Steckenpferd reiten. Es ist wirklich erschreckend. ({2}) Herr Kollege Kuhle, ich komme zu Ihnen. Mir ist diese Woche eine Kleine Anfrage der FDP von Dezember 2020 in die Hände gefallen, unter anderem von den Herren Kuhle, Thomae, Buschmann und Höferlin gestellt. ({3}) Ich will einmal versuchen, Sie mit ihren eigenen Worten davon zu überzeugen, dass wir bei den IP‑Adressen weiterkommen und der anlasslosen Speicherung weiterkommen müssen. Sie sagen, sexualisierte Gewalt, die sich gegen Kinder richtet, ist eine der schwersten Straftaten, die in unserer Gesellschaft vorkommt. Richtig! Deshalb unterfallen diese auch dem Urteil des EuGH, was die Ausnahmen zur IP‑Adressen-Speicherung anbelangt; das schreiben Sie selber in der Vorbemerkung der Fragesteller. ({4}) Weiter geht es in der Vorbemerkung der Fragesteller: Ziel einer effektiven Bekämpfungsstrategie muss es nach Ansicht der Fragesteller daher sein, das Entdeckungsrisiko für die Täterinnen und Täter spürbar zu erhöhen, ({5}) die Ermittlungen zu erleichtern und wirksam Prävention zu leisten. ({6}) Alle drei Punkte sind am besten zu erreichen, wenn wir den Ermittlerinnen und Ermittlern das geben, was sie fordern, nämlich auch eine rückwirkende Speicherung der IP‑Adressen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Die beste Prävention ist, die Täter aus dem Verkehr zu ziehen und dann schnellstmöglich dingfest zu machen, damit zukünftige Taten verhindert werden. ({8}) Jetzt hat der EuGH Ihnen und uns allen einen Weg hierzu aufgezeigt. Eigentlich hätte ich gedacht: Sie feiern heute das Urteil des EuGH. – So richtig amüsiert sehen Sie aber gar nicht aus, weil der EuGH nämlich mehr entschieden hat als das, was Sie nach Ihrer Ideologie wollen. Jetzt können wir diskutieren und uns gegenseitig vorwerfen, Herr Kollege Buschmann, Herr Kuhle, was wir 16 Jahre lang gemacht haben oder nicht gemacht haben, vier Jahre davon waren Sie aber dabei. Umgekehrt können wir sagen, dass Sie seit vielen Jahren auf Ihrer Position beharren. ({9}) Der EuGH hat sich bewegt. Er ist nicht mehr der reine Schutzpatron der Datenschützer und der FDP. ({10}) Er hat gesehen, dass die zunehmende Zahl von sexualisierter Gewalt, insbesondere im Internet, gegenüber Kindern hier eine Öffnung erfordert. Diese Möglichkeit gibt er uns. Wir dürfen schlichtweg, wenn wir es ernst meinen mit dem Schutz von Kindern, nicht hinter diesen Möglichkeiten, die der EuGH uns allen gewährt, zurückbleiben. ({11}) Das machen Sie aber mit Ihrem Vorschlag „Quick Freeze“. Ich habe gar nichts dagegen, dass wir Quick Freeze machen. Denn da sind nämlich auch die Verkehrs- und Standortdaten dabei, nicht nur die IP‑Adressen; aber eben nur für die Zukunft. Gar keine Frage! Aber alle Ermittlerinnen und Ermittler sagen uns, dass wir auch für einen gewissen Zeitraum in die Vergangenheit diese anlasslose Speicherung von Daten brauchen, die dann mit Richterbeschluss ausgelesen werden können. Die Frau Innenministerin – sie wäre heute sicherlich da gewesen, aber aus bekannten Gründen kann sie heute nicht da sein; wir senden ihr Genesungswünsche – hat dies erkannt, nachdem sie ins Amt gekommen ist, und – Respekt! – sie hat ihre Meinung geändert. ({12}) Herr Minister Buschmann, machen Sie dies auch! Sie werden Ihrer Aufgabe sonst nicht gerecht. Deswegen wird der Umgang mit dieser Frage zum Lackmustest für die Ampel: ({13}) ob sie es mit dem Schutz der Kinder ernst meint und Sicherheit und Schutz für unsere Bevölkerung, insbesondere die Schwächsten, gewährleistet oder ob sie tatsächlich auf ihren alten Ideologien herumreitet und Klientelpolitik betreibt. Nichts anderes machen nämlich Grüne und FDP. ({14}) Letzte Bemerkung, zum Nachdenken. Der Täter von Wermelskirchen – das ist der Täter, bei dem auch ein wenige Monate altes Baby Opfer wurde – hatte Kontakt mit dem Haupttäter aus Münster, allerdings über einen Aliasnamen. Das hat man später herausbekommen, nachdem der Fall Wermelskirchen bekannt wurde und dahin gehend ermittelt wurde. Man hat schon damals versucht, unter dem Aliasnamen eine IP‑Adressen-Abfrage zu machen; allerdings ging die aus bekannten Gründen ins Leere. Wenn es diese Regelung, die wir heute beantragen, damals schon gegeben hätte ({15}) – ja, darüber können wir diskutieren; Sie wissen genau, dass die SPD nicht mitgemacht hat –, dann hätten wir damals diesen Täter aus Wermelskirchen früher aus dem Verkehr ziehen können. Aber jetzt ist es Ihre Verantwortung. Sie haben die Verantwortung dafür, dass solche Fälle, in denen die Täter nicht frühzeitig ermittelt werden können, in Zukunft nicht mehr passieren – für alle Fälle, die in Zukunft stattfinden. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es gibt den Wunsch des Kollegen Höferlin, mit einer Kurzintervention zu reagieren, weil er in der Rede eben angesprochen wurde. Bitte schön.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön, Frau Präsidentin. – „Die Vorratsdatenspeicherung ist tot, lang lebe die Vorratsdatenspeicherung!“ – das ist der Tenor Ihres zweiseitigen Antrags. ({0}) Am Ende ist es so, dass Sie für die Vorratsdatenspeicherung schlichtweg immer neue Namen erfinden. ({1}) – Jetzt müssen auch Sie mal zuhören, wenn Sie die ganze Zeit aus zwei Seiten vortragen. – Aus der „Vorratsdatenspeicherung“ haben Sie in der Vergangenheit einmal die „Mindestspeicherfrist“ gemacht; heute nennen Sie es „IP‑Adressen-Speicherung“. ({2}) Am Ende muss ich Sie wirklich fragen: Warum betreiben Sie immer noch Politik mit diesem Tunnelblick? ({3}) Herr Throm, Sie haben mich angesprochen. Das, was Sie zitiert haben, ist letztlich die Problembeschreibung, die wir der Fragestellung vorangestellt haben. Wenn Sie sagen, wir würden auf alten Ideologien herumreiten – so haben Sie es gerade eben genannt –, frage ich Sie: Was machen Sie, nachdem Sie in 16 Jahren fünfmal krachend auf die Nase gefallen sind mit Ihren Vorschlägen zur Vorratsdatenspeicherung? Ihr Antrag hat ja auch Fragen über Fragen offengelassen: Was macht man mit den sechs Monaten? Warum nicht 12 oder 24 Monate? Warum nicht fünf Jahre? Mit Ihrem Beispiel könnte man auch länger speichern. Wie schützen Sie Personengruppen wie Anwälte, Geistliche, Journalisten, Abgeordnete, wenn Sie bei allen Vorratsdatenspeicherung machen? ({4}) Sie riskieren doch, mit Ihrem Vorschlag ein sechstes Mal krachend zu scheitern. Deswegen werden wir einen verfassungsgemäßen Vorschlag vorlegen, mit dem wir nicht scheitern. Denn es ist besser, die Messer zu schärfen, die Straftäter zu ermitteln, als mit untauglichen verfassungswidrigen Werkzeugen wieder zu scheitern und den Zustand der 16 Jahre wiederherzustellen, nämlich gar keine Instrumente zu haben. Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen: ({5}) Sie riskieren, wieder zu scheitern und nichts zu erreichen, während wir uns auf dem verfassungsmäßigen Boden mit schärferen Werkzeugen den Straftätern nähern, um sie dingfest zu machen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Throm, Sie möchten gern reagieren; das steht Ihnen zu. Bitte.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. – Herr Kollege Höferlin, das war ja mehr eine Plenarrede als eine Zwischenintervention.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich habe aufgepasst: Es war unter drei Minuten; insofern war es im Rahmen.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ah ja. – Herr Kollege Höferlin, wir haben doch gerade gesehen, dass Sie wieder alles durcheinanderschmeißen, indem Sie von Vorratsdatenspeicherung in Gänze sprechen. ({0}) Das ist nicht Inhalt unseres Antrags, und das ist auch nicht das, was der EuGH eröffnet hat. Der EuGH hat ausdrücklich in einem der vier Ausnahmefälle die Möglichkeit eröffnet, dass bei schwerer Kriminalität eine anlasslose Speicherung der IP‑Adressen stattfinden kann. ({1}) Und nichts anderes verlangen wir von der Ampel, von der Bundesregierung, vom Bundesjustizminister; die Innenministerin will es ja sowieso. Darum geht es: Wir wollen maximalen Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch und Kinderpornografie. ({2}) – Ich glaube Ihnen, dass Sie das wollen; aber Sie machen es nicht. Mit Quick Freeze haben Sie ein Mittel an der Hand, das für die Zukunft im Übrigen nicht IP‑Adressen, sondern Verkehrs- und Standortdaten auslesen will – also die ganz bösen Daten nach Ihrer Lesart –, ({3}) aber eben nicht die Möglichkeit gibt, Täter zu ermitteln. Sie kennen den Fall – das ist jetzt nicht Kindesmissbrauch – von dem Attentäter von Hanau, wo auch nicht nachvollzogen werden konnte, welche 500 Personen auf seiner Homepage waren, bevor er die Tat begangen hat, weil eben keine Auslesung der IP‑Adressen möglich war, ({4}) und Sie kennen den Fall von Wermelskirchen, den ich Ihnen gerade geschildert habe – alles Fälle, bei denen Sie mit Quick Freeze scheitern werden. Jetzt gestehe ich Ihnen zu – das habe ich in der Rede gesagt –, dass Sie sich auf die Positionen bezogen haben, die wir hatten, und darauf, was der EuGH dazu gesagt hat. Ich fordere Sie von FDP und Grünen aber auf, auch Ihre Positionen zu überprüfen und die Möglichkeiten, die der EuGH uns allen und Ihnen gegeben hat, –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

So.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– tatsächlich auch zu nutzen. Sonst werden Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, jetzt waren Sie drüber; aber Sie haben es fast geschafft. Eine Sekunde; aber das soll erlaubt sein. – Jetzt hat der Kollege Dr. Thorsten Lieb das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Thorsten Lieb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005129, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns die Frage gestellt, wir haben es geprüft, und wir bleiben bei unserer Position. Wir gehen den Quick-Freeze-Weg. ({0}) Schade, dass die heutige Debatte bislang so völlig überraschungsfrei verlaufen ist! Man hätte die Schallplattenaufnahme von der Sitzung unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause einfach hier ablaufen lassen können. Wir haben keinen neuen Erkenntnisgewinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Der Dienstag vergangener Woche war ein guter Tag für die Freiheit, und er war ein guter Tag für die Bürgerrechte. Die anlasslose, allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten ist endgültig Rechtsgeschichte, und das freut mich als Rechtshistoriker ganz besonders. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, einen rechtssicheren Vorschlag für eine anlassbezogene Vorratsdatenspeicherung zu unterbreiten, die durch richterlichen Beschluss dann eben auch entsprechend abgesichert werden kann. Jetzt ist der Zeitpunkt dafür gekommen. Ich freue mich darauf, dass das Ministerium einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten wird. ({2}) Das ist vor allem deswegen erforderlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir endlich ein wirksames Ermittlungsinstrument in die Hand bekommen. Die Wahrheit ist doch nach wie vor: Wir haben, Stand heute, nichts, aber auch gar nichts. Und immer wieder Krokodilstränen über etwas zu weinen, was überhaupt nicht durchsetzbar und einsetzbar ist, das muss endlich aufhören; es bringt uns keinen Deut weiter. Es gibt nichts im Moment, und wir sorgen dafür, dass es in der Zukunft etwas gibt. ({3}) Es ist unsere Aufgabe, das schleunigst zu ändern, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, sollten doch endlich dem Fetisch anlassloser Vorratsdatenspeicherung entsagen. Es gibt heute leise Andeutungen in der Diskussion, aber es sollte doch jetzt wirklich gut sein. ({4}) Es wäre klug von Ihnen, wenn Sie das mit dem nötigen Respekt vor der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ({5}) endlich eingestehen und konstruktiv an vernünftigen Mitteln arbeiten würden. Jetzt haben Sie einen Antrag vorgelegt. Den habe ich mir natürlich sehr genau angeguckt. ({6}) Ist das eigentlich rechtssicher, was Sie vorschlagen, wie Sie behaupten? ({7}) Ich sage: Nein. Sie fordern dazu auf, praxistaugliche Regelungen zur Speicherung von Portnummern zu treffen. Ich versuche es noch mal – ich habe es schon mal gesagt –: Portnummern und IP‑Adressen sind technisch nicht das Gleiche. Sie schreiben hier etwas rein, über das der EuGH kein Wort verliert. Sie schaffen neue Rechtsrisiken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Sie fordern auch eine sechsmonatige Speicherverpflichtung. Ich lese Ihnen auch dazu noch mal aus dem Urteil vor – wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin –: auf das absolut Notwendige begrenzter Zeitraum. – Woran machen Sie denn fest, dass sechs Monate genau dieser Zeitraum sind? ({9}) Das ist aus dem Urteil nicht erkennbar. Wahr ist: Sie streben eine auf sechs Monate befristete anlasslose Vorratsdatenspeicherung an, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist bestimmt nicht im Sinne des EuGH. ({10}) Mit anderen Worten: Obwohl die Diskussion, wie mehrfach angesprochen, in der Tat zentral wäre, machen Sie mit dem Antrag leider nichts anderes als das: Sie provozieren das nächste Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, Sie provozieren die nächste Klatsche, Sie provozieren, dass die Sicherheitsbehörden auch zukünftig keine wirksamen Ermittlungsinstrumente in der Hand haben. Damit machen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrem Antrag natürlich richtigerweise ansprechen. Es geht doch um die Frage: Wie bekämpfen wir effektiv sexualisierte Gewalt an Kindern? Diese Frage zu beantworten, ist dringend notwendig, und da liefern wir. Deswegen – klare Aussage von uns –: Für die FDP-Fraktion ist dieser Antrag alles andere als zustimmungsfähig. Wir freuen uns auf den Vorschlag der Bundesregierung, auf das Angebot, und dann gehen wir in die parlamentarische Debatte darüber, wie eine echte, gute und rechtskonforme Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung erfolgen kann. Das ist unser Auftrag, und das werden wir als Ampel liefern. Herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christoph de Vries ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lieb, wer im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch von „Fetisch“ spricht, ({0}) verhält sich, ehrlich gesagt, unanständig und unangemessen; das will ich an der Stelle einmal ganz deutlich sagen. ({1}) Mir als Familienpolitiker, als der ich hier heute in der Debatte sprechen darf, ist eines deutlich geworden: Wem es ein ernstes Anliegen ist, die Schwächsten in unserer Gesellschaft zu schützen, wem es ein ernsthaftes Anliegen ist, die einzige verwertbare digitale Spur, die zu den Tätern dieser widerlichen Straftaten führt, zu nutzen, und wem es ein ernsthaftes Anliegen ist, den Kinderschutz über den Datenschutz zu stellen, wenn es um die Bekämpfung von Kindesmissbrauch geht, der darf und der kann sich der befristeten Speicherung von IP‑Adressen in Deutschland nicht entziehen, meine Damen und Herren. ({2}) Ich sage: Ja, Herr Minister Buschmann, so einfach ist die Wahrheit; das sage ich auch den Kolleginnen und Kollegen der FDP und der Grünen. Wir leben in einer Zeit, in der wir an allen Ecken und Enden ideologische Dogmen über Bord werfen, und zwar weil es notwendig ist. Das gilt für Fragen von Waffenlieferungen, das gilt für den Wieder- und Weiterbetrieb von Kohlekraft- und Kernkraftwerken und vieles mehr. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Werfen Sie endlich Ihr Datenschutzdogma bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch über Bord! Das ist auch notwendig, meine Damen und Herren. ({3}) Schöpfen Sie den gesetzgeberischen Spielraum zur Speicherung aus! Hören Sie auf die Innenminister der Länder, die das einhellig diese Woche gefordert haben, und unterstützen Sie die Position der Bundesinnenministerin Faeser bei der verpflichtenden Speicherung von Verbindungsdaten! Ich sage an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Die Innenministerin Faeser hat die volle Unterstützung der Union bei diesem Thema. ({4}) Warum hat sie sich so positioniert? Sie hört auf die Experten vom BKA, auf die Landeskriminalämter, auf die Kinderschutzorganisationen. Herr Justizminister Buschmann, hören Sie doch endlich auch auf die Experten! Sie würden an der Stelle wirklich was Gutes tun. ({5}) Es ist angesprochen worden: Ihr Quick-Freeze-Verfahren macht doch überhaupt keinen Sinn; das sagen die Experten ebenfalls. ({6}) Sie wollen Daten im Nachhinein sichern, die gar nicht mehr bestehen, weil Sie die Speicherung nicht zulassen. Alle Ermittlungsansätze, die in der Vergangenheit liegen, könnten die Ermittler nicht mehr nutzen. Deswegen ist das, was Sie sagen, auch keine Alternative. Es ist eine einzige Nebelkerze, die Sie in dieser Diskussion hier verbreiten. ({7}) Ich frage mich in dieser Diskussion auch: Wo ist eigentlich die Familienministerin? Ich habe ihre Stimme dazu bisher nicht vernommen. Die Innenministerin befürwortet die Speicherung, der Justizminister lehnt sie ab. Aber was ist eigentlich mit Frau Paus? Als Familienministerin ist sie ja auch die oberste Kinderschützerin in Deutschland. Was hat sie dazu gestern gesagt? ({8}) Wir haben sie in der Fragestunde dreimal gefragt, wie ihre Position ist. Darauf konnte oder wollte sie uns keine Antwort geben. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, das ist ein Unding in einer so zentralen Frage des Kinderschutzes in Deutschland. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie kommen zum Schluss, bitte.

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Unser Anspruch als Union ist es, jeden einzelnen Fall aufzuklären und den Kindesmissbrauch so vehement zu bekämpfen, dass das Angebot dieses widerlichen Materials im Netz sinkt, weil jeder Angst haben muss, erwischt zu werden, wenn er sich daran beteiligt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, ich meinte „zum Schluss“.

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist unsere Maxime, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Sebastian Hartmann hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Mehr Sicherheit im digitalen Raum, das ist unser Ziel. Wir müssen und wir werden in unserem demokratischen Rechtsstaat alles dafür tun, um schwere und schwerste Straftaten zu ahnden. Es ist etwas widersprüchlich, dass gerade die Union dies in Zweifel zieht, auch wenn sie selbst immer wieder bei dem Versuch gescheitert ist und versucht, ihre Verantwortung für diesen Bereich in den vergangenen 16 Jahren nun auf andere – Koalitionspartner, die Dritten, irgendwelche Gerichte usw. ‑abzuwälzen. Meine Damen und Herren, Sie werden damit keinen Erfolg haben. ({0}) Rechtsfreie Räume oder blinde Flecken, das werden wir in unserem demokratischen Rechtsstaat nicht zulassen; machen Sie sich da keine Sorgen. Deswegen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Sie diese Debatte verfolgen und möglicherweise in Zweifel ziehen, an welcher Seite wir kämpfen und streiten: Genau dieser Versuch, diesen Anschein in der Debatte zu erwecken, ist eine Unverschämtheit. Ich weise dies mit aller Entschiedenheit zurück, meine Damen und Herren. ({1}) Das Gegenteil ist der Fall. In der vergangenen Woche hat der Europäische Gerichtshof tatsächlich – darauf haben wir schon im Koalitionsvertrag Bezug genommen – sein Urteil gesprochen. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag auch ausdrücklich festgestellt, dass dieses Urteil unser Anlass sein wird – wenn wir beim anlasslosen Speichern von Daten sind –, tatsächlich eine rechtssichere Regelung zu finden. ({2}) Der Justizminister Marco Buschmann hat innerhalb von kürzester Zeit schon getwittert: Es ist ein historisches Urteil. – Herr Justizminister, in aller Offenheit: Es ist natürlich in einer langen Folge von Entscheidungen ein weiterer Punkt und gibt uns deutliche Leitplanken vor, wie wir denn tatsächlich zu einer rechtssicheren Lösung kommen können. Darum auch die klare Ansage, die deutliche Erklärung: All das, was das EuGH-Urteil uns ermöglicht, um IP‑Adressen rechtssicher zu speichern, werden wir zur Verfolgung schwerer und schwerster Straftaten auch tun. Es wird keinen Zweifel geben, meine Damen und Herren. ({3}) Aber – und das ist die Grenze – wir werden nicht wieder etwas konstruieren, mit dem wir nur darauf setzen, dass es am Ende vor Gericht scheitert. Das ist der feine und klare Trennstrich, meine Damen und Herren. Diesen Schritt werden wir bei der Verfolgung der schweren und schwersten Straftaten eben nicht gehen. Es ist im EuGH-Urteil eindeutig erklärt worden, warum eine allgemeine Speicherung von IP‑Adressen für zulässig erklärt wird, aber ein feiner Unterschied zwischen Verkehrs- und Standortdaten gemacht wird. ({4}) Man muss es schon genau lesen; die Randnummer 100 gibt uns hier den Hinweis. Verschiedene technische Verfahren haben wir sogar vorab – ob es die Log-in-Falle ist, ob es ein aktuell diskutiertes Quick-Freeze-Verfahren ist, das wir noch nachträglich definiert haben – aufgenommen. Ich kann Ihnen versichern – und deswegen ist der Zungenschlag in dieser Debatte wirklich schräg –: Wenn das Ziel so einend ist und Sie einen so dünnen Antrag stellen, dann geht es Ihnen nicht darum, tatsächlich eine rechtssichere Lösung zu finden, sondern Sie versuchen, diese Debatte zu missbrauchen, um von Ihrem eigenen Versagen in 16 Jahren abzulenken. ({5}) Sie versuchen, von Ihrem eigenen Versagen abzulenken und eine tatsächlich nicht gangbare Lösung hier zu finden. Da liegt der Unterschied zwischen sozialdemokratischer und christdemokratischer Innenpolitik, meine Damen und Herren. ({6}) Es widerstrebt mir ausdrücklich – das muss hier wirklich noch mal in aller Klarheit, in aller Öffentlichkeit dargelegt werden –, dass der Anschein erweckt wird, wir versuchten hier, Regelungen und Möglichkeiten nicht zu nutzen, um die Begehung schwerer und schwerster Straftaten – gerade bei den widerlichen Fällen des Kindesmissbrauches – zu ermöglichen oder zu begünstigen. Wenn das allen Ernstes Ihr Vorwurf ist, dann ist das keine Grundlage, um auch nur in die Nähe einer gemeinsamen Arbeit oder Zustimmung zu kommen. Korrigieren Sie sich, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ({7}) oder wir haben keine Basis, um hier einen Meter voranzukommen. Das sage ich in aller Klarheit. ({8}) Uns ist bewusst, dass eine Speicherung – ob kürzer oder länger – auch ein nicht zu vernachlässigender Eingriff in unsere Grundrechte ist. Genau das werden wir an dieser Stelle anders regulieren. Wir können uns auch nicht davon abhängig machen, dass private Dritte diese Daten möglicherweise speichern oder nicht. Was in der Debatte auch nicht geht, ist, dass wir zulassen, dass dritte Staaten auf anderer Rechtsgrundlage uns möglicherweise Daten liefern. Das, meine Damen und Herren, kann nicht der Anspruch der Strafverfolgung sein. Ich bin der festen Auffassung: Wir werden eine grundrechtsschonende Lösung finden, die auf der einen Seite die Grundrechte der Mitbürgerinnen und Mitbürger schützt, die von diesen schweren und schwersten Straftaten betroffen sind – das sind unsere Kinder, die in der körperlichen Unversehrtheit oder ihrem Leben bedroht sind –, und auf der anderen Seite die Grundrechte der anderen betroffenen Bürgerinnen und Bürger schont. Das ist unsere Linie in dieser Debatte. Meine Damen und Herren, wir werden diese Frage in Einklang bringen. Wir werden das relativ zügig tun – ich gucke in Richtung des Justizministers, der im Übrigen eine Verabredung mit der Innenministerin hat – und nun eine entsprechende Regelung auf den Weg bringen. Ich bin mir sehr sicher, dass wir in den Beratungen des Innenausschusses und der weiteren beteiligten Ausschüsse dies an der einen oder anderen Stelle noch diskutieren und nachschärfen werden. Aber es wird keinen rechtsfreien Raum geben. Es wird keine Lösung geben, wo es nachher nicht möglich ist, die Straftäter, diejenigen, die diese widerlichen Straftaten begehen, zu verfolgen. Es ist ein Unding, dass uns die Union das mittelbar oder öffentlich unterstellt hat. Das weise ich in aller Klarheit für die Ampelfraktionen zurück! So geht es nicht! ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Misbah Khan ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Misbah Khan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005104, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr 15 Jahren wird uns erzählt, dass man mit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ganz einfach Straftaten aufdecken könne. Das ist aber de facto falsch. Beispiele, die die Absurdität dieser Debatte zeigen, haben wir zuhauf und massenhaft, und wir haben sie auch hier im Haus gehört. Argumentiert wird immer mit den krassesten Fällen: nicht nur mit sexualisierter Gewalt, sondern Herr Throm hat auch den Rechtsterrorismus angesprochen. ({0}) Aber wir können uns das auch mal ganz genau im Detail anschauen am Beispiel des NSU. Es wird nämlich immer wieder gesagt: Den NSU hätte man verhindern können, hätte man die Vorratsdatenspeicherung gehabt. ({1}) Wenn man sich das aber mal genauer anschaut, wird klar, dass doch Folgendes der Fall war: Wir hatten circa 20 Millionen Verbindungsdaten, 14 000 Namen und Adressen wurden gespeichert. Und, hat man die Täter ermittelt? Nein, man hat sie nicht ermittelt. Nach mehr als einer Dekade haben sie sich selbst enttarnt. ({2}) – Es beweist, dass Ihr Argument nicht zieht, Herr Throm. ({3}) Seit über 15 Jahren versuchen die Union und das Innenministerium – Grüße gehen raus an Nancy Faeser –, mit möglichst emotionalen Beispielen die Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung durchzusetzen. Und fast genauso lange sagen uns höchste Gerichte: So geht es nicht! ({4}) 2010, 2014, 2016, 2020 und jetzt 2022 sind Sie mit Ihrer Politik vor Verfassungsgerichten krachend gescheitert. Sie haben noch keinen Vorschlag vorgelegt, der in irgendeiner Form verfassungskonform war. Jetzt mal im Ernst: Wenn man fünfmal vor Gerichten gesagt bekommt: „Das Pferd, das man reitet, ist tot“, dann sollte man endlich absteigen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, statt mal das eigene Verhältnis zum Rechtsstaat zu reflektieren, ({6}) stellen Sie sich heute allen Ernstes wieder hierhin und machen einen offen verfassungswidrigen Vorschlag für eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung. ({7}) Denn nichts anderes ist Ihre IP‑Adressen-Speicherung. Nichts anderes ist es! ({8}) Wenn es Ihnen wirklich um den Kindesschutz ginge, dann würden Sie die Möglichkeiten auf den Tisch legen, die meine Kollegin Frau Loop schon erwähnt hat, nämlich die, die seit 16 Jahren nicht behandelt worden sind. Herr de Vries, wenn Sie gestern bei der Regierungsbefragung zugehört hätten, ({9}) dann hätten Sie gehört, wie unsere Familienministerin gesagt hat, dass sie gegen die anlasslose Massenüberwachung ist. Ich finde, das ist klar genug. ({10}) Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist: weiter überwachen und weiter speichern, und das bei allen Internetnutzerinnen und Internetnutzern. Das zeigt, dass Sie Ihren Kompass in Grundrechtsfragen völlig verloren haben. ({11}) Mit Quick Freeze und Log-in-Fallen geben wir den Sicherheitsbehörden endlich grundrechtskonforme und zielgerichtete Instrumente an die Hand. Statt dass sie weiterhin auf Gerichtsentscheide warten müssen, mit denen Ihre Politik im Zwei- und Vierjahrestakt einkassiert wird, geben wir den Sicherheitsbehörden rechtssichere Instrumente an die Hand. ({12}) Mein letzter Satz.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ja, der letzte Satz.

Misbah Khan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005104, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, der letzte Satz. ({0}) Ich empfehle der Union mehr Selbstreflexion und inhaltliche Aufarbeitung. An diesem Antrag erkennt man, dass das dringend notwendig ist. ({1}) Danke schön. ({2})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat den Lehrermangel entdeckt. Heureka! ({0}) Die kriegen dafür den Preis für die Spätzünder der Nation. Wir Freie Demokraten haben diese Problematik bereits in der letzten Wahlperiode thematisiert, und selbst die Linken haben vor einem guten halben Jahr einen entsprechenden Antrag gestellt. ({1}) Wer glaubt, die AfD hätte aus den verschiedenen Gesichtspunkten das Beste zusammengeschrieben und einen qualitativ hochwertigen und innovativen Antrag gemacht, der sieht sich getäuscht. Das ist ein völliges Sammelsurium unzusammenhängender Forderungen, und auch verschiedene Kompetenzbereiche sind betroffen; das passt überhaupt nicht. Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes, Planstellen an Schulen, Anzahl der Referendariatsplätze – alles Aufgaben der Länder –, Ausstattung der Schulen, Schulbau – allein kommunale Aufgabe. In Ihrer Forderung an die Bundesregierung, gemeinsam mit den Ländern einen Qualitätspakt Schule zu bilden, wird die Zuständigkeit der Länder für Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und die Einrichtung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die Einstellung von Lehrkräften in den aktiven Schuldienst völlig negiert. Darüber hinaus wird die Forderung nach einer Reduzierung des Einsatzes von Lehrkräften in der Radikalinklusion oder im Ganztag gestellt; keine Bundesangelegenheiten. Wer das fordert, der zeigt nur, wes Geistes Kind er ist. ({2}) Der Antrag übersieht auch die aktuellen Bemühungen, die Qualität des Lehramtsstudiums zu verbessern. Wir Freie Demokraten wollen mehr junge Menschen für ein Lehramtsstudium begeistern, wollen Quer- und Seiteneinsteiger besser qualifizieren. Die Tatsache, dass Bund und Länder gemeinsam die Qualitätsoffensive Lehrerbildung tragen, für die der Bund 500 Millionen Euro zur Verfügung stellt, wird nicht erwähnt. Mit den jetzt gestarteten Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung knüpfen wir an die Ergebnisse der Qualitätsoffensive Lehrerbildung an und legen den Fokus auf die Fortbildung von Lehrern. Mit diesen Maßnahmen unterstützt der Bund die für die Lehrkräfteausbildung zuständigen Länder. Ich versichere Ihnen: Der Bund wird sich auch weiterhin für die Qualitätsverbesserung der Lehrkräfteausbildung engagieren. ({3}) Gelöst wird das Problem aber nicht vom Bund, sondern von den Ländern. Der Lehrermangel verschärft sich nämlich weiter. Das neue Schuljahr startet mit Tausenden unbesetzten Stellen. Für die Länder wird es angesichts des Lehrermangels immer schwieriger, die Unterrichtsversorgung abzusichern. Die Prognose der Kultusministerkonferenz ist da sehr negativ. Bundesweit ist die Zahl der Studienplätze zwar um 17 Prozent gestiegen, aber die Zahl der Lehrer, die später bei den Schulen ankommen, sinkt. Wir reden also auf allen Ebenen vom Lehrermangel. Aber warum haben wir keinen Respekt vor dem Lehrerberuf? Das geht im Studium los und setzt sich beim Referendariat fort. Ich bin ja Hesse. In Hessen gibt es zum Beispiel zu wenige Referendariatsplätze, auch zu wenige Plätze im Studienseminar. Das bedeutet, die Lehramtsstudenten kommen nach ihrem Studium nicht sofort auf einen Referendariatsplatz, sie kommen in eine Warteschleife. Allgemein wird das Referendariat als die „Hölle“ bezeichnet. Ich als Jurist war ja auch Referendar. Bei Juristen ist das anders. Ich frage mich wirklich: Was ist die Rolle der Ausbilder in diesem Bereich? Wenn man das Referendariat abgeschlossen hat, gibt es in Hessen komischerweise oft keine Stelle. Die jungen Lehrer werden auch nicht richtig eingestellt. Sie bekommen einen TV‑H-Vertrag; sie werden abgespeist. Das bedeutet, Sie werden in Hessen – wie in vielen anderen CDU-geführten Ländern – im Sommer entlassen, müssen sich arbeitslos melden. Was ist das für eine Wertschätzung der CDU gegenüber Lehrern? ({4}) Dann gibt es diese „Lehrer light“. Diese „Lehrer light“ haben keinen Anspruch auf ein Dienstgerät. Wie sollen sie dann ohne Laptop digitalen Unterricht gestalten? Die CDU hat in Hessen und in vielen anderen Bundesländern ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ich erwarte von der Bundes-CDU, endlich mal Druck auf die von ihr geführten Landesregierungen zu machen. Machen Sie denen klar, was Lehrerausbildung bedeutet, wo ihre Aufgaben sind! ({5}) Wir Freie Demokraten sind für die Stärkung des Lehrerberufs. Wir wollen erfolgreiches Lernen ermöglichen. Dafür sind Lehrer und Umfeld entscheidend. Hochqualifizierte, engagierte Lehrerinnen und Lehrer sind der wichtigste Chancenmotor für die Zukunft unserer Kinder. Der Bund kann das Problem alleine eben nicht lösen. Und wenn es der Bund hätte lösen können, liebe CDU/CSU, hättet ihr es doch in den letzten 16 Jahren als CDU-geführte Bundesregierung längst gelöst, nicht wahr? ({6}) Also: Bund und Länder müssen sich vernetzen, in Teilbereichen wirklich zusammenarbeiten. Das ist unser Angebot an Sie. Diese Ampelregierung ist bereit dazu. Wir haben schon viele Angebote gemacht, im Interesse und für die Chancen unserer Kinder und im Interesse unseres Landes jetzt zusammenzuarbeiten. Ich erwarte aber von den Ländern eine echte Bereitschaft zur Zusammenarbeit, nicht nur das Fordern von Geld, sondern auch, wirklich mal in das Thema hineinzugehen, Kompetenzen auszugestalten, wirklich bereit zu sein, auf uns zuzugehen. Ihre Weigerung in vielen Bereichen, zusammenzuarbeiten, zeigt doch, dass Sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Antrag der AfD lehnen wir als substanzlos ab. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Daniela Ludwig hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war jetzt in sich ein bisschen widersprüchlich, Herr Kollege. Erst haben Sie lang und breit ausgeführt, dafür seien die Länder zuständig, um uns dann die Schuld dafür zu geben, dass es die letzten 16 Jahre nicht geklappt habe. ({0}) Sie müssen sich entscheiden, welchen Kalauer Sie in der Bildungsdebatte wählen: entweder den Föderalismuskalauer oder den mit den 16 Jahren. Tipp von mir: Der mit den 16 Jahren ist irgendwann durch. ({1}) Zum Thema Lehrermangel. Ich denke, das Thema ist wirklich wichtig. Es ist vermutlich auch zu wichtig, als dass ich es mir so leicht machen könnte, auf den Bildungsföderalismus, an dem wir alle, glaube ich, hängen, zu verweisen und damit festzustellen: Meine Rede ist an dieser Stelle beendet. Am Bildungsföderalismus wollen wir als Union jedenfalls nicht rütteln. Wir wollen aber auch die Augen nicht vor einem offenkundigen Problem vor Ort verschließen, das sich nicht auf ein Bundesland begrenzen lässt, sondern tatsächlich bundesweit virulent ist. Das hat unterschiedliche Ursachen – ich komme gleich darauf –, und vielleicht gibt es auch die eine oder andere Lösungsmöglichkeit. Aber in der Tat sind zunächst einmal die Länder am Zug. Nichtsdestotrotz machen die Bürgerinnen und Bürger draußen vor Ort kaum einen Unterschied, wer jetzt genau zuständig ist. Ich bin selber Mutter von zwei elfjährigen schulpflichtigen Kindern. Man fragt sich: Mensch, was könnte man denn sinnvollerweise noch tun? Und darum, denke ich, ist es bei allem Kuddelmuddel – mit Verlaub –, das dieser Antrag enthält, jedenfalls nicht falsch, dass auch wir im Bundestag zumindest mal die Chance nutzen, um darüber zu reden: Wo gibt es Chancen für uns? Und wo sind wir schlicht und ergreifend nicht die richtigen Ansprechpartner? Ich glaube tatsächlich – Herr Kollege, das haben Sie gerade nur am Rande angesprochen; aber es zieht sich durch viele Berufe, bei denen wir derzeit einen Mangel beklagen –, auch beim Lehrerberuf hakt es ein bisschen an der Wertschätzung. Wir alle kennen ein Stück weit dieses dümmliche Gerede, wenn ich das so sagen darf: Na, Lehrer gehen um 13 Uhr nach Hause, und dann haben sie nichts mehr zu tun. Ich glaube, all das kann man auch mal politisch proaktiv widerlegen und deutlich machen – jenseits der Frage, dass vielleicht etwas korrigiert werden muss, dass Unterricht vorbereitet werden muss –: Gerade unsere Lehrerinnen und Lehrer haben in den beiden Coronajahren, die hinter uns liegen, Überobligatorisches geleistet, und zwar ohne dass man sie gezwungen hat, sondern freiwillig, weil ihnen die Schülerinnen und Schüler am Herzen liegen. Dabei denke ich nicht nur daran, dass man natürlich digital unterrichtet hat, weil es nicht anders möglich war, sondern dabei denke ich auch daran, dass man Abiturklassen Zusatzstunden am Wochenende angeboten hat, versucht hat, Nachholstunden digital anzubieten, für seine Schüler ansprechbar war. Das ist alles hinter den Kulissen gelaufen, ohne großes Aufhebens darum zu machen. Darum, glaube ich, ist hier eine gute Gelegenheit, das mal zu sagen und Danke dafür zu sagen, dass sehr viele Lehrer gerade in dieser schwierigen Zeit alles dafür getan haben, dass die Schülerinnen und Schüler trotz aller Widrigkeiten gut durch die Schulschließungszeit gekommen sind. ({2}) Und ja, das eine oder andere Bundesland – Bayern gehört dazu, NRW auch – geht nun an das Thema der unterschiedlichen Bezahlung zwischen Grund- und Mittelschule einerseits und Gymnasium andererseits ran, mit künftig A 13 in Bayern und NRW auch für die Grund- und Mittelschulen. Das ist sicherlich ein richtiger Weg – absolut; wir stehen dahinter –, aber das hilft uns kurzfristig natürlich nur mittelmäßig. Kurzfristig können wir tatsächlich nur daran arbeiten – und ich bin gern bereit, das auch von Bundesseite mitzutun –, dass wir die Wertschätzung und die Attraktivität des Lehrerberufs steigern. Wer draußen an den Schulen unterwegs ist, der hört relativ deutlich Aussagen wie: Ja, wenn ich denn unterrichten dürfte, wäre das schön; aber stattdessen werde ich mit Verwaltungsaufgaben betraut, mit Bürokratie. – All diese Dinge gibt es nicht nur im Handwerk und in der Industrie, sondern bedauerlicherweise auch an den Schulen. Da wird sozusagen kostbare Unterrichtsstundenzeit von Lehrern dafür verwendet, dass die PCs gewartet oder Klassenlisten geführt werden müssen. All das sind natürlich Dinge, die sich ändern müssen. Wenn wir das hier gemeinsam anschieben können, wäre das sicherlich gut. Dafür brauchen wir natürlich zusätzliches Personal, nicht nur in der Verwaltung, sondern – jetzt kommt mein persönlicher Kalauer – das Startchancen-Programm böte eine Chance, um durch zusätzliches Personal an den Schulen Lehrer sozusagen jenseits der Unterrichtsaufgaben zu entlasten. ({3}) Da warten wir immer noch auf Ihre Vorschläge, liebe Ampel. Hoffentlich kommt da bald mal was. Es ist wieder angekündigt worden, Haushaltsmittel dafür haben wir aber immer noch keine gesehen. Ob es bei 2024 bleiben wird oder doch 2025 wird? Nehmen Sie es nicht auf die leichte Schulter! So schnell es geht, muss dieses Programm fliegen lernen. Das wäre uns wichtig. ({4}) Ein Letztes. Was wir nicht ausblenden dürfen, ist natürlich, dass die Schulen – kaum raus aus Corona, endlich wieder im Regelbetrieb – jetzt auch mit der Flüchtlingskrise – Stichwort „Ukraine“ – umzugehen haben und wir hier kurzfristig nicht sofort für Lösungen sorgen konnten. Da geht auch keinerlei Vorwurf an irgendwen. 180 000 ukrainische Schülerinnen und Schüler haben wir derzeit in Deutschland. Das ist verdammt viel. Da haben wir die Verantwortung, dass es auch denen selbstverständlich gut geht. Wenn man natürlich 2 700 Hilfskräfte aus der Ukraine beschäftigen kann, ist das gut; aber das ist in dem Fall auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir dürfen auch dieses Thema nach wie vor nicht aus den Augen verlieren. Ich glaube, hier können wir bundesseitig wirklich noch ein Stück mehr tun, um die Schulen und die Bundesländer zu unterstützen; denn ich glaube, wir können nicht erwarten, dass die Länder das ganz alleine lösen. ({5}) In diesem Sinne hoffe ich, dass wir bei diesem Thema zu einem guten Konsens kommen, Bildungsföderalismus hin oder her. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Katrin Zschau ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Katrin Zschau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005268, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Ministerin! Der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen und Erziehern ist eine der zentralen Herausforderungen für das Bildungssystem in den kommenden Jahren. Im Nationalen Bildungsbericht 2022 werden in einigen Bereichen teils massive Personalengpässe vorhergesagt. Im Schulbereich belaufen sich offizielle Bedarfsschätzungen auf etwa 30 000 fehlende Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen bis 2030. Hinzu kommt bis 2025 ein weiterer Zusatzbedarf von bis zu 65 600 Fachkräften durch den Rechtsanspruch auf ein Ganztagsangebot im Grundschulbereich. Seit Jahren wird vor wachsendem Lehrermangel gewarnt. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre belegen, dass die KMK den Bedarf an Lehrkräften regelmäßig systematisch unterschätzt hat. Lehrer/-innenmangel ist nicht gleich Lehrer/-innenmangel. Die Länder sind unterschiedlich stark betroffen. Vor allem im ländlichen Raum fehlen Lehrkräfte und Fachlehrer/-innen für die einzelnen Schularten. Ein Trend zeichnet sich jedoch bundesweit ab: Bis auf das Gymnasiallehramt sind alle weiteren Lehrämter unterschiedlich stark defizitär. Es fehlen besonders Absolventinnen und Absolventen für die Grundschule und für die Berufsschule. Trotz wachsender Schülerzahlen mit Förderbedarf stagnieren die Ausbildungs- und Einstellungszahlen für Lehramtsabsolventinnen und ‑absolventen mit einer sonderpädagogischen Fachrichtung. Grundsätzlich gibt es nicht genug MINT-Lehrkräfte. 50 Prozent des Musikunterrichts werden laut einer Bertelsmann-Studie fachfremd unterrichtet. Zu den Verzögerungen und Engpässen kommt es vor allem, weil nicht nach langfristigen Bedarfen ausgebildet und eingestellt wird. Der Fachkräftemangel ist dramatisch für den Bildungsweg und Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig verschlechtert er die Arbeitsbedingungen von Pädagoginnen und Pädagogen. Die Attraktivität des Berufsfeldes spielt im Zusammenhang mit dem Lehrkräftemangel natürlich eine wesentliche Rolle. Lehrkräfte benötigen mehr Kapazitäten, um Schüler/-innen individuell fördern und binnendifferenzierten Unterricht durchführen zu können. Schulen sind oftmals mit sozialen Problemen konfrontiert, die Lehrkräfte auffangen müssen. Für die gemeinsame Schul- und Unterrichtsentwicklung mit dem Kollegium bleibt immer weniger Zeit. Zeit, nicht Geld wünschen sich die allermeisten, wenn man sich mit ihnen über ihren Arbeitsalltag austauscht. Wenn ich sage, dass die Länder für die Fachkräftegewinnung zuständig sind, will ich damit die Verantwortung nicht wegschieben. Das geht in gewisser Weise ohnehin nicht, weil die Bürgerinnen und Bürger von uns Bildungspolitiker/-innen – das haben Sie gesagt – im Allgemeinen erwarten, dass wir die Probleme lösen. Wir sehen, dass die einzelnen Länderministerien unter Druck stehen. Noch scheint der Bedarf aber nicht da zu sein, sich innerhalb der gegebenen Strukturen des Föderalismus auf eine gemeinsame Problemanalyse zu verständigen, um auf dieser Grundlage Verabredungen zu treffen. Es muss aber um die Frage gehen, welche strukturellen Veränderungen auf welcher Ebene erfolgen müssen, damit das System der Lehrkräftebildung bedarfsdeckend und bedarfsgerecht ausbildet. Darüber hat sich unter anderem Mark Rackles Gedanken gemacht. Ich ziehe einige seiner Vorschläge heran: Länder sollten sich nach einer festen Quote verbindlich verpflichten, für ihren eigenen Bedarf so viele Lehramtsstudierende auszubilden wie nötig. Die Länder sollten nach einheitlichen Vorgaben und verbindlichen Mindeststandards Prognosen erheben, Kapazitäten planen und Bedarfe ermitteln. Ein weiterer Vorschlag ist es, den Lehrkräftemarkt bundesweit und länderübergreifend zu betrachten und Personalgewinnung danach und gemeinsam auszurichten. Notwendig sind qualitative Standards in der Ausbildung von Quer- und Seiteneinsteigern. Notwendig ist darüber hinaus ein öffentlicher Diskurs, der bisherige Selbstverständlichkeiten hinterfragt – die Zahl der Lehramtsstudiengänge beispielsweise – und sich mit der Frage beschäftigt, ob wichtige Studiengänge zulassungsbeschränkt sein müssen. Auf Bundesebene verpflichten wir uns mit der Förderung der Qualitätsoffensive Lehrerbildung auch inhaltlich. Wir sollten mit den Akteuren, vor allem mit den Zentren für Lehrerbildung, darüber diskutieren, wie die Strukturen der Lehrerbildung optimiert werden können. Diese inhaltlichen Punkte wollte ich voranstellen. Die Lehrkräftebildung darf keine Baustelle mehr sein. Sie muss Standards unterliegen, in sich stimmig sein und innovativ. Mit dem Abbau der Struktur- und Steuerungsdefizite verbindet sich die Hoffnung, dass die finanziellen Mittel, die jetzt für die Lehrerbildung insgesamt verausgabt werden, in der Sache ausreichen würden, um den Mangel zu beseitigen, wenn – das ist wichtig – eben gleichfalls strukturelle Veränderungen vorgenommen werden. Das lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Vor allem die Frage der geänderten Arbeitsbedingungen – Stichwort „Attraktivität des Arbeitsplatzes Schule“ – könnte zusätzliche Kosten verursachen. Der vorliegende Antrag lässt dieses offen. Gleichzeitig kommt er wegen einer unzureichenden Problemanalyse nicht zu zielführenden Lösungsansätzen. Wir lehnen ihn deshalb ab. Ich komme zum Schluss. Wichtig für uns ist in dieser ernsten Krise die Sicherung des Einzelplans Bildung in seiner jetzigen Höhe. Darüber hinaus werden wir mit dem Startchancen-Programm 4 000 Schulen mit Kindern und Jugendlichen aus Haushalten mit wenig formaler Bildung und ökonomischen Ressourcen in den Mittelpunkt stellen. Die Frage, wie viel Investition und Veränderung unser Bildungssystem insgesamt braucht, bleibt aber auf meinem und unserem Zettel. Wir sollten die Kontroverse suchen und um jeden Euro in der Bildung kämpfen. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nicole Höchst hat jetzt das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es herrscht dramatischer Lehrermangel. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger spricht von bis zu 40 000 unbesetzten Stellen, Bildungsforscher Klaus Klemm von bis zu 80 000 bis 2030, der VBE von langfristig knapp 160 000 – 160 000! Ihre Parteien in Bund, Ländern und Kommunen tragen die Verantwortung für diesen sich seit 50 Jahren abzeichnenden skandalösen Mangelzustand: in allen Bundesländern und Schulformen Unterrichtsausfall, Kürzungen der Stundentafel, größere Klassen, Zusammenstreichen der Förderangebote, Absenkung des Niveaus, babylonische Zustände usw. So schaffen Sie keine Zukunft. ({0}) Fehlgeleitete Reformen, Überbürokratisierung, Coronaschließungen und ideologische Projekte führten das Schulsystem an den Abgrund – der Lehrermangel darüber hinaus. Ihre Ideologie der offenen Grenzen schraubt Schülerzahlen in nicht planbare Höhen. Bis Mitte der 2030er-Jahre wird der Zuwachs an Schülern durch die Neubesiedlung Deutschlands auf etwa 1 Million Schüler geschätzt. Beenden Sie bitte endlich diesen Zuwanderungswahnsinn, der alle unsere Systeme überfordert! ({1}) Der Ruf nach einer weltbesten Bildung für alle wirkt vor diesem Hintergrund zynisch, genau wie Millionenausgaben für Bildung in Afrika. Wir fordern zusammen mit Schülern, aktiven Lehrern und Eltern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern einen Qualitätspakt Schule zu schließen. Unsere bunten Forderungen lauten: Stipendien für Mangelfächer, Werbung für das Lehramtsstudium, Aufstockung der Lehramtsstudiengänge und der Referendariatsplätze, besonders in den MINT-Fächern, Aufstockung des Lehrpersonals an den Schulen, höhere Zuweisung von Planstellen, deutliche Reduzierung von Einsätzen in unterrichtsfremden Tätigkeiten wie Ganztag oder Radikalinklusion, deutliche Entlastung der Lehrer und Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Schulen, Aussetzung von Zuverdienstgrenzen für pensionierte Lehrkräfte – länger arbeiten muss auf Wunsch möglich sein –, ({2}) vollständige Digitalisierung von Schulen, präsente Systemadministratoren, Schaffung einer zentralen Anlaufstelle in Schulen für Gesundheitsvorsorge, Inklusion, Schulsozialarbeit und schulpsychologischen Dienst unter der Leitung des Gesundheitsamtes, Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes. Der Bund sei nicht zuständig, sagen Sie? Ha, das ist schäbig! Der Bundestag kann nicht über Jahre hinweg Probleme schaffen, durch Radikalinklusion, Massenasyl und Masseneinwanderung verschärfen und dann die Bewältigung an die Länder überweisen. ({3}) Die Erfahrung zeigt: Immer, wenn der Bund will, findet er die Wege – siehe Digitalpakt. Lassen Sie die Lehrer endlich wieder Lehrer sein! ({4}) Befreien Sie sie von allen unnützen bürokratischen und pseudopädagogischen Maßnahmen! Sorgen Sie dafür, dass der Lehrerberuf wieder attraktiv und erfolgreich wird! Ein Beruf – gestatten Sie mir bitte dieses persönliche Wort –, der einer der schönsten, einer der wunderbarsten Berufe überhaupt ist. ({5}) Parteipolitisches Klein-Klein bei diesem wichtigen Thema ist den Menschen da draußen nicht mehr vermittelbar. Geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Nina Stahr hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen. ({0})

Nina Stahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005227, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und bei dem Thema natürlich insbesondere: Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Schülerinnen und Schüler oben auf den Tribünen! Viele hier im Raum wissen, dass ich Lehrerin bin. Ich kann deshalb aus vollster Überzeugung sagen: Das ist einer der schönsten Berufe, die es überhaupt gibt. ({0}) Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg ins Leben ein Stück zu begleiten, ihnen zu helfen, zu lernen, zu wachsen, über sich hinauszuwachsen: Das ist eines der erfüllendsten Dinge, die man überhaupt erleben kann. Und sosehr ich mich als Geschichtslehrerin für die Französische Revolution und noch viel mehr für die Friedliche Revolution begeistern kann, sosehr mein Herz höherschlägt, wenn der Schüler endlich verstanden hat, dass man „become“ nicht mit „bekommen“ übersetzt, genauso sehr kann ich sagen: Das ist nicht das, was diesen Beruf ausmacht. Das, was diesen Beruf ausmacht, sind diese Momente: Wenn eine Schülerin, die mit ihren coolen Sprüchen immer den Unterricht stört, beim Besuch einer Gedenkstätte plötzlich deine Hand nimmt, weil sie echten Halt braucht und ihre Sprüche ihr hier nicht mehr helfen. Wenn ein Schüler auf einmal im Unterricht nicht mehr konzentriert ist und zu dir kommt und sagt, dass sich seine Eltern getrennt hätten; dann kannst du in dieser Familiensituation auch nicht helfen, aber du kannst zuhören, da sein und so zumindest ein Stück emotional beistehen. Oder aber auch, wenn du diesen einen Schüler hast, der immer alles weiß und alles kann und in jeder Diskussion immer genau das sagt, von dem er denkt, dass es die Lehrkraft hören möchte, und du arbeitest monatelang, um aus ihm endlich eine eigene Meinung herauszukitzeln, und auf einmal kommt die eigene Positionierung, und du merkst, dass du diesen Prozess der Meinungsbildung, diesen Prozess der Persönlichkeitsbildung ein Stückchen begleiten durftest und ein Stückchen dazu beitragen konntest, dass dieser Mensch seinen eigenen Weg geht. Das sind die Momente, für die ich damals Lehrerin geworden bin. ({1}) Aber damit diese Momente entstehen, braucht es Vertrauen, und damit Vertrauen entsteht, braucht es Zeit. Zeit, in der Lehrkräfte eben nicht nur Vokabeln und Jahreszahlen pauken, sondern in der sie ihren Schüler/-innen zuhören können. Als ich in einer meiner letzten Reden gesagt habe, dass wir in der Schule mehr Zeit für Beziehungsarbeit brauchen, hat danach jemand kommentiert, dass die Schule doch nicht zum Händchenhalten da ist, sondern für Wissensvermittlung. Wenn Sie mich fragen, warum zurzeit zu wenige Menschen Lehrer/-innen werden wollen, dann liegt das genau an dieser Einstellung. Diese Einstellung, dass die Lehrkraft dafür da ist, immer nur mehr Wissen in die Schüler reinzukippen, und dass man, ob sie ihren Job gut gemacht hat, dann an den Ergebnissen der Vergleichsarbeiten sieht. Natürlich ist Schule auch dafür da, dass Kinder und Jugendliche Wissen vermittelt bekommen, aber doch vor allem auch, dass sie Kompetenzen erlernen und Bildung bekommen. Das ist so viel mehr als Wissensvermittlung. Es geht darum, Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu machen. ({2}) Ganz wichtig dabei ist – das sind wirklich die Basics der Pädagogik –: Eine gute Beziehung ist mit die wichtigste Grundlage, um lernen zu können. Gestern haben hier in Berlin die Lehrkräfte gestreikt. Wissen Sie, was die Hauptforderung war? Das war nicht „mehr Geld“ oder „weniger Stunden“; die Hauptforderung war „kleinere Klassen“, weil das dafür sorgt, dass Lehrkräfte ihrem Bildungsauftrag, dass sie ihren Schülerinnen und Schülern gerecht werden können. ({3}) Hier braucht es jetzt vor allem eine enge Zusammenarbeit von Bund und Ländern; denn die sind nun einmal hauptsächlich zuständig. Aber als Bund übernehmen wir die Verantwortung und gehen genau das an, was wir als Bund tun können: ({4}) Wir werden zusammen mit den Ländern eine gemeinsame Koordinierungsstelle Lehrkräftefortbildung einrichten. Insgesamt werden wir vier Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten schaffen. Und mit dem Kompetenzzentrum im MINT-Bereich geht es bereits los. Wir werden die Qualitätsoffensive Lehrerbildung weiterentwickeln mit Schwerpunkten zu digitaler Bildung, zur dritten Phase der Lehrerbildung und zu bundesweiter Entwicklung des Seiten- und Quereinstiegs. Auch der Digitalpakt 2.0 wird zur Entlastung von Lehrkräften beitragen können. Wir werden als Bündnisgrüne sehr genau darauf schauen, dass er auch wirklich dazu beiträgt, Bildung zeitgemäß zu denken und eben nicht ein Bildungsverständnis aus dem 20. oder gar 19. Jahrhundert einfach nur zu digitalisieren. ({5}) Und natürlich wird – Frau Ludwig – auch das Startchancen-Programm einen Beitrag dazu leisten, dass Lehrer/-innen wieder besser arbeiten können. ({6}) – Ich freue mich, dass wir hier gemeinsam ein bisschen Erheiterung haben. Das ist doch gut. ({7}) Wenn ich höre, dass in manchen Schulen die Fenster nicht geöffnet werden können, weil sie drohen aus dem Rahmen zu fallen, dann ist es gut, wenn wir die Länder gezielt mit einem Investitionsprogramm unterstützen werden, mit dem wir die Schulen zu einer zeitgemäßen Lernumgebung umbauen. ({8}) Und wenn an den Schulen mehr Schulsozialarbeiter/-innen sind, wenn also mehr Menschen da sind, die die Schüler/-innen unterstützen, dann entlastet das natürlich auch die Lehrkräfte und gibt ihnen mehr Zeit. Auch das kommt mit dem Startchancen-Programm. ({9}) Und ein weiterer Baustein, um mehr Menschen als Lehrkräfte zu gewinnen, ist, liebe AfD, insbesondere diejenigen zu aktivieren, die ohnehin da sind, die nur darauf warten, dass sie hier ihren Beruf wieder ausüben können. Die Anerkennung ausländischer Qualifikationen ist deshalb essenziell, und ich bin froh, dass wir uns im Koalitionsvertrag verständigt haben, diese zu beschleunigen und zu vereinfachen. ({10}) Meine Damen und Herren, geben wir den Lehrkräften Zeit, damit sie die Momente, die ihren Job ausmachen, wieder erleben können! Sorgen wir dafür, dass sie ihren Freundinnen und Freunden erzählen: „Der schönste Beruf, den es gibt, ist der Lehrerberuf“, und dass ihre Schüler/-innen nach dem Schulabschluss sagen: „Ich möchte Lehrerin oder Lehrer werden“! Der Antrag der AfD-Fraktion leistet dazu leider überhaupt keinen Beitrag. Wir werden als Koalition aber weiter dafür arbeiten, dass Schüler/-innen in unserem Land die beste Bildung durch starke Lehrkräfte bekommen, damit alle die besten Startchancen haben – unabhängig vom Elternhaus. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nicole Gohlke hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesweit fehlen Tausende Lehrerinnen und Lehrer und anderes pädagogisches Personal. Die, die im Bildungssystem arbeiten, sind buchstäblich am Limit. Kinder, Eltern und Lehrkräfte können ein Lied davon singen. Aber das wird von der Bundespolitik seit Jahren ignoriert, meistens mit dem Verweis darauf, dass der Föderalismus ein Handeln des Bundes verhindere. Seit Jahren nimmt man lieber Unterrichtsausfall hin und ungenügende Betreuung und Burn-out bei Lehrkräften. Seit Jahren hangelt man sich durch mit Quer- und Seiteneinsteigern. Jetzt soll in Sachsen die Viertagewoche eingeführt werden: Ein Tag in der Woche soll wegen Lehrermangels nur noch als Distanzunterricht stattfinden. Kolleginnen und Kollegen, ich finde, das ist völliger Wahnsinn, ({0}) und mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass die Ampel dieses Problem von sich aus noch nicht einmal adressiert. Das ist die Wahrheit. ({1}) Für jedes Mal, wo ein Redner oder eine Rednerin der Ampel ans Pult tritt und sagt: Aber der Föderalismus …, sollte man wirklich einen Punkt beim Bullshit-Bingo vergeben. Wirklich wahr! ({2}) Jetzt hat sogar die AfD, zwar mit etwas Verspätung, das Thema entdeckt, kommt aber mit Vorschlägen daher, die wirklich zielsicher an allem vorbeigehen, was tatsächlich helfen könnte. Denn wer an den Lehrkräftemangel ranwill, muss natürlich dafür sorgen, dass der Lehrberuf und andere pädagogische Berufe attraktiver werden, dass sie eben mehr Wertschätzung erfahren. ({3}) Da geht es um bessere Arbeitsbedingungen, um weniger Stress. Es geht darum, den Druck rauszunehmen. ({4}) Es geht um kleinere Gruppen und kleinere Klassen. Und es geht natürlich auch um eine angemessene Bezahlung. ({5}) Es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass Lehrkräfte den Sommer über in die Arbeitslosigkeit geschickt werden wie in Bayern oder Baden-Württemberg ({6}) oder dass Lehrkräfte in Mittel- und Grundschulen mit 800 Euro weniger nach Hause gehen als die, die an Gymnasien arbeiten. Ist denn da die pädagogische Arbeit weniger wert? Das ist doch wirklich mittelalterlich! ({7}) Selbst Markus Söder hat das jetzt festgestellt und will das ändern. Aber die AfD, die fordert statt solcher Verbesserungen eine Werbekampagne – nun ja. ({8}) Dann schlägt die AfD noch vor, dass Lehrerinnen und Lehrer nach der Rente einfach weiterarbeiten. ({9}) Aber die Realität ist doch die, dass viele vorzeitig aussteigen oder nur Teilzeit arbeiten wollen, weil sie es eben nicht bis zur Rente schaffen. Wie kann man denn so an den Tatsachen vorbeiargumentieren? ({10}) Nächste Stellschraube gegen den Lehrkräftemangel ist natürlich die Ausbildung. Da muss der Bund mithelfen, mehr Studienplätze fürs Lehramt zu schaffen, und muss für bessere Bedingungen im Studium sorgen. Man braucht ein BAföG, das mehr Menschen ein Studium ermöglicht und das so gut ist, ({11}) dass die Studis eben nicht wegen unbezahlbarer Mieten, zwei Nebenjobs und Überschreiten der Regelstudienzeit zum Abbruch gezwungen sind. Aber die AfD kommt daher mit Bestenauslese und Stipendien. Wie das den akuten Mangel beheben soll, das bleibt wirklich Ihr Geheimnis. ({12}) Natürlich muss die Bildungsfinanzierung auf neue Füße gestellt werden. Genauso wenig wie die Kommunen die Schulgebäude alleine werden sanieren können – das wissen hier im Übrigen alle –, genauso wenig werden es die Länder alleine schaffen, den Lehrkräftemangel zu beheben; und das wissen hier auch alle. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen, muss das Kooperationsverbot endlich komplett fallen, und der Bund muss endlich rein in die Bildungsfinanzierung. Das ist wirklich sonnenklar angesichts dieser Situation. Übrigens auch dazu kein Wort von der AfD. ({13}) Aber dann wieder ganz typisch für die AfD: Wenn es irgendwo eng wird, dann treten Sie einfach nach unten. In Ihrem Antrag raunen Sie gegen den Ganztag und gegen die Inklusion, ausgerechnet gegen die zwei Pfeiler, die mehr Qualität für alle ermöglichen und vor allem für soziale Gerechtigkeit stehen. ({14}) Man darf die Lehrkräfte aber dabei nicht alleine lassen, man darf sie dabei nicht hängen lassen, sondern man muss ihnen alles zur Verfügung stellen, was sie für das Gelingen von Inklusion und Ganztag benötigen. Darum geht es, und nicht darum, Schwache gegen Schwächere in Stellung zu bringen, so wie Sie das machen. ({15}) Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Ampel muss endlich liefern. Und die AfD sollte sich besser raushalten. Vielen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ria Schröder spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Ria Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005215, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hallo an das Publikum auf den Tribünen! „#twlz“ – das kennen Sie vielleicht? – steht für „Twitterlehrerzimmer“. Unter diesem Hashtag teilen Lehrkräfte, Eltern und auch Bildungsinitiativen und ‑unternehmen auf dem Kurznachrichtendienst zum Beispiel Erlebnisse aus dem Schulalltag oder diskutieren über guten Unterricht und Chancengerechtigkeit. Und kürzlich habe ich darunter einen Thread gelesen. Der begann so: Liebe Lehrerinnen und Lehrer, „was müsste man eurer Meinung nach tun, um den Lehrermangel zu beheben“? Die Antwort mit den meisten Likes hatte den folgenden Inhalt: Schulen müssten richtig coole, modern konzipierte, bestausgestattete Bildungseinrichtungen und damit attraktivste Arbeitsplätze werden. Damit die Menschen richtig Bock haben, da hin zu gehen. Das zeigt doch, meine Damen und Herren: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler sind in einer ziemlich ähnlichen Situation. Ich will deswegen auf drei Punkte eingehen, die Schulen zu besseren Orten für alle machen: Erstens. Was ein guter Lernort für Kinder ist, ist auch ein attraktiver Arbeitsplatz. Starre Klassenzimmer im Frontal-Style werden ohnehin immer seltener. Aber Lern- und Inspirationsort – das ist mehr: neben Differenzierungsräumen zum Beispiel auch neue Kreativlabore. In Makerspaces können Schülerinnen und Schüler entdecken, experimentieren und selbstständig lernen. Das ändert auch die Arbeit für die Lehrkräfte und gibt ihnen Freiräume. Mit den Investitionen im Rahmen des Startchancen-Programms für moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen machen wir aus Brennpunkten Leuchttürme, die Vorbild für Bildungseinrichtungen im ganzen Land werden. ({0}) Zweitens. Gute Schule geht Hand in Hand, das heißt im Team. Viele Lehrkräfte wissen heute nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Statt sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten können, nämlich den Unterricht, müssen sie zudem Inklusion, Integration, soziale und psychische Herausforderungen bei den Schülerinnen und Schülern schultern. Hinzu kommen Verwaltungs- und IT‑Aufgaben. Lehrkräfte können nicht alle diese Ansprüche auf einmal erfüllen, und viele hadern damit. Deswegen werden wir mit dem Digitalpakt 2.0 dafür sorgen, dass auch für Wartung und Administration Mittel zur Verfügung stehen. Und mit dem Startchancen-Programm fördern wir die Schulsozialarbeit; denn gerade die Schulen in herausfordernden Lagen brauchen besondere Unterstützung. ({1}) Multiprofessionelle Teams machen Schülerinnen und Schüler stark und geben Lehrkräften die Möglichkeit, sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten können, nämlich Talente der Schülerinnen und Schüler entdecken und fördern, wie die Kollegin Stahr das hier eben sehr eindrücklich ausgeführt hat. Mein dritter Punkt: Respekt und Anerkennung. Anerkennung, meine Damen und Herren, drückt sich nicht nur, aber auch in der Frage der Bezahlung aus. Wir als FDP setzen uns für eine leistungsgerechte Vergütung von Lehrkräften ein. Und das bedeutet auch, dass gleichwertige Arbeit von Lehrkräften, sei es an Grund-, Haupt- oder Realschulen, gleich bezahlt wird. Deswegen unterstütze ich, dass sich die FDP etwa in Niedersachsen für A 13 für alle starkmacht. Das ist richtig, und es ist längst überfällig. ({2}) Meine Damen und Herren, die Antwort mit den zweitmeisten Likes – Sie erinnern sich, die Frage war: „Was macht den Lehrerberuf attraktiv?“ – war übrigens folgende: „… echte ernstgemeinte Wertschätzung in der breiten Bevölkerung“. Das ist jetzt keine Frage des Föderalismus, sondern dafür sind wir alle zuständig. Das können wir gemeinsam verändern. Ich habe einen Riesenrespekt vor den Lehrkräften, die so viel Verantwortung für die Kinder und damit auch für die Zukunft unseres Landes tragen. Deswegen will ich schließen mit Anerkennung und einem großen Dank an alle Lehrerinnen und Lehrer: Danke! ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lars Rohwer hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Glück auf! Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, die Debatte hat schon ganz gut gezeigt: Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben auch kein Umsetzungsproblem, wir haben ein Problem, die Menschen dafür zu gewinnen, dass sie diesen wunderbaren Beruf des Lehrers oder der Lehrerin ergreifen. Ich will Ihnen gern darlegen, weshalb es den Antrag von Ihnen, der AfD, an dieser Stelle ganz und gar nicht braucht: Er hat keine Lösung für dieses Problem. Ja, der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern ist in den letzten Jahren verstärkt bemerkbar geworden. Sie wissen jedoch in Ihrem eigenen Antrag, meine Damen und Herren von der AfD, nicht, wie Sie dem Lehrermangel in Deutschland nun wirklich begegnen wollen. Sie schwanken munter zwischen Bestenauslese und Quereinsteigern; Sie sehen die Pensionierungswelle als Ursache für den Lehrermangel, sprechen sich dann aber für einen flexiblen Eintritt in den Ruhestand je nach Lebenssituation aus. Der Antrag ist so widersprüchlich wie Ihre komplette Politik. Ihr Antrag schafft nach meiner festen Überzeugung nicht Lehrerinnen und Lehrer an die Schule, sondern ausufernde Kosten, und er zeigt Ihre Planlosigkeit. Es ist schon angesprochen worden: Wir haben einen föderalen Staatsaufbau. Die Zuständigkeit in Bildungsfragen liegt bekanntlich bei den Ländern; das ist im Grundgesetz klar geregelt. Die Bereitstellung personeller Ressourcen zur Aufrechterhaltung der Unterrichtsversorgung gehört explizit dazu. In den letzten Jahren hat die CDU-geführte Bundesregierung die Länder immer wieder bei der Bildung unterstützt und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern gelockert, um ihnen beispielsweise bei der Digitalisierung unter die Arme zu greifen. ({0}) Mein erster Punkt ist, wie gesagt: Wir haben kein Erkenntnisproblem. In den meisten Bereichen entspannt sich die Lage in den nächsten Jahren. Bereits 2025 werden wir ein Überangebot an Lehrerinnen und Lehrern im Primar- und Grundschulbereich haben, so eine Studie der KMK. Auch im Sekundarbereich II und beim Gymnasium generell wird von einem Bewerberüberhang ausgegangen. Allerdings: In den Fächern mit Berufsbezug, insbesondere in den 22 MINT-Fächern, und in den Berufsschulen bleibt die Lage sehr angespannt. Hier besteht ein durchschnittlicher Deckungsgrad von 62 Prozent. Wir müssen die Lage also differenziert betrachten. Mein Bundesland Sachsen hat die Zahl der Studienplätze für das Lehramt zuletzt auf 2 700 erhöht. Damit bildet Sachsen jährlich deutlich mehr Lehrerinnen und Lehrer aus, als aus dem Beruf ausscheiden. Leider – und das will ich an dieser Stelle betonen – gibt es immer noch Bundesländer, die ganz klar nicht genügend Studienplätze für ihren eigenen Bedarf anbieten. Mein zweiter Punkt: Wir haben kein Umsetzungsproblem. In Sachsen ist es durch verschiedene personalpolitische Weichenstellungen gelungen, 94 Prozent aller Absolventen der sächsischen Universitäten in den sächsischen Schuldienst zu übernehmen. ({1}) Der Freistaat Sachsen stellt aktuell deutlich mehr Lehrpersonal ein, als aus dem Dienst scheidet. Aber den aktuell stark steigenden Anstieg der Schülerzahlen kann das nicht kompensieren. Es ist also nicht alles in bester Ordnung in Sachsen – wie man vielleicht bei meiner Rede glauben mag –; denn wir haben ein Problem, genug Menschen für den wichtigen Lehrerberuf zu gewinnen. ({2}) Die Zahl an Studienbewerbern ist begrenzt, auch im Bereich des Lehramtes. In Sachsen konnten von den insgesamt 2 700 Studienplätzen zu Beginn des letzten Wintersemesters nur rund 2 200 belegt werden. Der Lehrermangel ist also kein Problem der fehlenden Studienplätze, sondern fehlender Absolventen. Daran kann aus meiner Sicht auch die beste Werbekampagne nur bedingt etwas ändern. Nach meiner Auffassung werden wir bei der Vielfalt unserer Gesellschaft auch eine Vielfalt von Professionen an den Schulen benötigen. Ich gehe fest davon aus, dass wir in den nächsten Jahren multiprofessionelle Schulteams erleben werden. ({3}) Und dies ist keine Zurücksetzung des klassisch ausgebildeten Lehrpersonals. Jeder Mensch ist einzigartig. Jede Region ist einzigartig und braucht deshalb auch keine Einheitsschule, sondern immer wieder differenzierte Lösungen für jede Situation. ({4}) Da werden Schulsozialarbeiter und Schulassistenten genauso gebraucht wie Logopäden für die sprachliche Entwicklung der Kinder. Wir brauchen die Inklusionsassistenz genauso wie die Integrationshilfe für Kinder mit Handicap. Psychologen und Seelsorger werden wir nicht nur brauchen, wenn es schlimme Vorfälle an Schulen gegeben hat. Vielmehr braucht es, gerade weil das Leben so vielfältig ist, viele Kompetenzen, um die Kinder zu bilden und für das Leben zu rüsten. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, ist einmal gesagt worden. Wir brauchen den engagierten Informatiker für die digitale Bildung genauso wie den klassischen Hausmeister im Schulhaus und auf dem Schulgelände, damit möglichst alles tipptopp in Ordnung ist. Deutschland ist ein föderales Land, in dem die Schulbildung in der Hoheit der Länder liegt. Wir können und sollten die Länder bei der Sanierung ihrer Schulgebäude und der Digitalisierung der Infrastruktur unterstützen. Die personelle Ausstattung der Schulen ist Aufgabe der Länder. Wir haben sie nicht alleine gelassen. Wie das Beispiel aus Sachsen zeigt, können die Länder den Lehrerberuf attraktiver gestalten. Unterstützen wir sie dabei! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ruppert Stüwe hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ruppert Stüwe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005236, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir als Koalition nehmen die Herausforderung der schulischen Bildung besonders ernst. – Die Ministerin ist ja heute hier, das finde ich sehr gut. Sehr geehrte Frau Ministerin! Man sieht das an dem, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Wir reden über Ihren Antrag von der AfD, und da sieht man, dass da anscheinend nicht mehr viel für substanzielle Forderungen übrig geblieben ist. Sie haben eine Werbekampagne vorgeschlagen. Dann schreiben Sie etwas von den Rentenzeiten, raunen über den Quereinstieg, und anscheinend hat am Ende noch mal irgendein Sportlehrer drübergeschaut und gesagt: Aber nicht beim Sport. – Am Ende soll es dann das Weihnachtsgeld lösen. Mein Fazit über den Antrag: Wenn ich auf die Lehrerinnen und Lehrer hören und etwas für sie machen will: Lieber GEW statt AfD. ({0}) Das Grundproblem ist seit Jahren bekannt: Es werden zu wenige Lehrkräfte ausgebildet. Wir reden über ein gesamtdeutsches strukturelles Problem, das tatsächlich in allen Bundesländern vorherrscht; das ist weder temporär noch regionalspezifisch. ({1}) Selbst in Bayern fehlen 20 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer. Wir müssen also die Studienplatzkapazitäten für die Lehramtsfächer erhöhen. ({2}) Wir müssen allerdings nicht die Anzahl der Studiengänge erhöhen. In Deutschland haben wir 5 000 Studiengänge an 100 Universitäten, die den Abschluss „Lehramt“ vergeben. In den MINT-Fächern haben wir übrigens noch nicht mal zu geringe Studienplatzkapazitäten, sondern es fehlt an Bewerberinnen und Bewerbern. ({3}) Da müssen wir die Universitäten attraktiver machen, und zwar für all diejenigen, die dort studieren wollen und für die es keine Selbstverständlichkeit ist, an Universitäten und an Hochschulen zu studieren, für die es keine Selbstverständlichkeit ist, den Lehrerinnen- und Lehrerberuf zu ergreifen. Darum gilt es vor allen Dingen, die Infrastruktur für diese Studierenden zu verbessern. Daran arbeiten wir bereits: Wir haben eine massive BAföG-Novelle auf den Weg gebracht, und die nächste steht schon an. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da tun wir etwas ganz konkret gegen den Lehrerinnen- und Lehrermangel, weil wir die Infrastruktur in unseren Hochschulen verbessern. ({4}) Bund und Länder müssen sich bei der Ausbildung der Lehrkräfte tatsächlich enger koordinieren. Auch da tun wir als Bund, was wir können. Wir wollen uns da auch gar nicht wegducken. Wir machen das über das Bundesprogramm, und wir machen das über Zentren. Aber natürlich müssen wir am Ende wissen, wie viele Studierende aktuell in welchen Fächern studieren und wie viele angehende Lehrkräfte pro Semester ihre Ausbildung beenden. Gerade die Hochschulen müssen wir länderübergreifend in die Pflicht nehmen, mehr Lehrkräfte auszubilden. Und da würde es bestimmt helfen, wenn wir uns auf KMK-Ebene noch über einen sehr konkreten Staatsvertrag einigen könnten. Eins ist klar, und das ist auch mein Appell an die Länder: Beendet das Headhunting um die Lehrerinnen und Lehrer! Werbt euch nicht gegenseitig Lehrerinnen und Lehrer ab, ({5}) sondern arbeitet mit dem Bund gemeinsam daran, genügend Kapazitäten zu schaffen. ({6}) Ein dritter Punkt ist mir besonders wichtig, weil ich mich damit auch immer wieder beschäftigt habe: Das ist die Integration geflüchteter Kinder aus der Ukraine in unseren Schulen. 150 000 Schülerinnen und Schüler sind aufgenommen worden. Sie werden willkommen geheißen, und sie werden mit großem Engagement betreut und integriert. Die aktuelle Schätzung der KMK geht davon aus, dass wir mit bis zu 400 000 geflüchteten Schülerinnen und Schülern und Studierenden rechnen können. Wir haben das übrigens schon mit einem eigenen Antrag behandelt, in dem wir ganz explizit auf dieses Thema eingehen und uns nicht auf ein solches Sammelsurium beschränken. Ich möchte mich bei all denjenigen im Bildungswesen bedanken, die sich darum kümmern, dass wir diese Kinder früh integrieren. Vielleicht sollte man das auch noch mal betonen, weil das ja in den letzten Tagen ein bisschen durcheinandergegangen ist: Das ist kein touristisches Angebot, sondern eine soziale Selbstverständlichkeit, das alles zu machen. ({7}) Allein in Berlin sind 4 240 Schülerinnen und Schüler in Willkommensklassen aufgenommen worden. Weitere 2 000 Schülerinnen und Schüler besuchen unsere Schulen regelmäßig. Die Integrationsprogramme werden gut nachgefragt und angenommen. Es gibt auch viele freiwillige Helferinnen und Helfer. Es geht eben nicht um Radikalinklusion, wie hier geraunt wird, sondern es geht um multiprofessionelle Teams, die wichtig sind an unseren Schulen. Wenn man das unter dem Begriff „Radikalinklusion“ verunglimpft, dann macht man genau das Falsche, liebe AfD. Wir brauchen mehr. Wir brauchen eine größere Schule, wir brauchen eine inklusivere Schule, und auch deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({8}) Unsere Antwort auf die Herausforderungen, die offensichtlich da sind an unseren Schulen, ist ein neues Kooperationsgebot. Das ist auch der neue Geist in dieser Koalition. Zum Glück brauchen wir dafür keine AfD. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die AfD-Fraktion hat jetzt Dr. Götz Frömming das Wort. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich muss schon sagen: Ich bin, gelinde gesagt, entsetzt, wie hier insbesondere die Vertreter der Regierungsparteien mit einem ernsthaften Antrag der Opposition umgehen. ({0}) Das triefte ja nur so von Arroganz, wie Sie hier mit unserem Antrag umgegangen sind. Sie suchen Haare in der Suppe, statt anzuerkennen, dass wir hier ein Problem adressieren von nationaler, ich möchte sagen: historischer, Dimension, ({1}) und dieses Problem haben nicht wir verursacht, sondern dafür sind Sie zuständig, in den Ländern und auch im Bund, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich geht es hier um sehr viel Geld. Aber man wird schon darauf hinweisen müssen: In den vergangenen Jahren haben wir ja auch Bankenkonzerne gerettet. Wir waren in der Lage, Bildung zu finanzieren in Afrika, in Afghanistan, in Palästina. Da war genug Geld da. Auch für Flüchtlinge und Migranten ist Geld da. ({3}) Aber wenn es, wie hier jetzt, um unsere eigenen Kinder geht, um die Zukunft der Bildung in Deutschland, dann ist plötzlich kein Geld mehr da. Das ist beschämend, und wir sprechen das aus! ({4}) Dann der nächste Punkt. Auch in dieser Debatte verweisen Sie immer wieder: der Bund auf die Länder, die Länder auf den Bund. Und Sie beschwören das sogenannte Kooperationsverbot. Sie wissen doch alle miteinander: Es gibt in unserem Grundgesetz kein Kooperationsverbot. ({5}) Hören Sie auf, diese Lüge immer wieder zu instrumentalisieren und hier zu verbreiten – es stimmt einfach nicht. Bei Projekten wie dem Digitalpakt – das ist schon gesagt worden – geht es ja offenbar auch. Da interessiert es Sie auch nicht; da finden Sie Mittel und Wege. Mit dieser lobbygesteuerten Politik muss endlich Schluss sein. Wir müssen lernen, jetzt in Köpfe zu investieren und nicht nur in Kabel, meine Damen und Herren! ({6}) Vielleicht dürfen wir Sie an dieser Stelle, insbesondere die Vertreter der Regierungskoalition, auch noch einmal an Ihren Amtseid erinnern. Ich darf – mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin – zitieren: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden werde ... So lautet der Schwur, den die Minister auch dieser Bundesregierung zu Beginn ihrer Amtszeit leisten mussten. Nun, wir wissen nicht, ob ihnen dieser Schwur schwergefallen ist, ob sie ihn gerne abgelegt haben, ob Herrn Habeck und Frau Baerbock die Worte „zum Wohle des deutschen Volkes“ leicht über die Lippen gegangen sind. ({7}) Wir wissen aber: Ihre bisherige Regierungsbilanz, und zwar nicht nur im Bildungsbereich, wo Sie den Lockdown zu verantworten haben, die Coronamaßnahmen usw., sondern auch in allen anderen Bereichen, im Wirtschaftsbereich, im Energiebereich usw., ist verheerend. Man muss sagen: Sie haben dem deutschen Volke weniger genutzt; Sie haben ihm, bis jetzt zumindest, vor allen Dingen geschadet. ({8}) Leiten Sie dringend eine Kurskorrektur ein zum Wohle des deutschen Volkes! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Laura Kraft spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Laura Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005113, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Schülerinnen und Schüler auf den Tribünen! 23 500 – das ist die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland, die uns laut Nationalem Bildungsbericht 2022 bis zum Jahre 2035 fehlen werden. Wir haben hier jetzt schon viele Zahlen gehört. Es gibt unterschiedliche Schätzungen, und einige zeichnen ein noch düsteres Bild. Aber was alle Zahlen letzten Endes miteinander verbindet, das ist die düstere Zukunftsperspektive, was den Lehrermangel angeht. Der Lehrkräftemangel ist und bleibt die zentrale Herausforderung im Bereich Bildung und Schule. Lassen Sie uns jetzt mal auf die Hochschulen schauen. Die Zahl der Lehramtsstudierenden ist in den letzten fünf Jahren gestiegen; das heißt, die Richtung stimmt schon mal. Wir brauchen aber auch ein Studium, das praxisnäher und inklusiver wird und den Übergang vom Hörsaal in die Klassenzimmer fließend gestaltet. Es sind nach wie vor zu wenige Lehramtsstudierende eingeschrieben, und einige brechen sogar ihr Studium ab, ({0}) und auch das ist ein Problem. Die Studienbedingungen müssen verbessert werden; denn nur, wenn wir genug Fachkräfte im Lehramtsstudium finden, haben wir auch eine Chance, dem Lehrermangel zu begegnen. Wenn wir mehr Lehrkräfte gewinnen wollen, muss aber auch die Berufsperspektive attraktiver werden. Die Bezahlung von Lehrkräften unterscheidet sich je nach Bundesland, und auch die Chancen auf eine Verbeamtung sind in den Ländern ungleich. Unterschiede im Kündigungsschutz, beim Gehalt, bei der Alters- und Gesundheitsvorsorge erleichtern niemandem die Entscheidung für ein Lehramtsstudium. Lehrkräfte ohne Verbeamtung ziehen oftmals den Kürzeren. Der Gipfel ist dann manchmal auch die ungeheuerliche Praxis, angestellten Lehrkräften vor den Sommerferien zu kündigen, um sie dann eventuell im Herbst wieder einzustellen. Und das, meine Damen und Herren, hat nichts mit Anerkennung zu tun, sondern das degradiert hochqualifizierte Fachexpertise zur Ramschware, und das im öffentlichen Dienst. ({1}) Hier sind die Länder auch mit in der Verantwortung, das endlich zu beenden; denn das ist falsch. Und auch die unterschiedliche Bezahlung von Lehrkräften je nach Schulform muss ein Ende haben. ({2}) Wir Grüne lassen in NRW unseren Worten Taten folgen. Ab 2026 werden alle Lehrkräfte nach A 13 bezahlt. Aber auch im Bund ziehen wir uns nicht aus der Verantwortung. Es ist die richtige Schlussfolgerung von der Ampel, dass bundesweit zusammengearbeitet werden muss. Und als Ampel haben wir eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, mit denen wir gemeinsam dem Lehrkräftemangel entgegenwirken und gute Bildung an Schulen aufrechterhalten wollen. Neben der Zusammenarbeit von Bund und Ländern schaffen wir eine Koordinierungsstelle zur Lehrkräftefortbildung und vernetzen Weiterbildungsangebote in ganz Deutschland. Damit wollen wir die vielen guten Ansätze und Konzepte in den Ländern zusammenbringen und dafür sorgen, dass alle Länder voneinander profitieren. Zusätzlich werden wir die Qualitätsoffensive Lehrerbildung erheblich weiterentwickeln. Wir bringen die Lehrkräftebildung auf den neuesten Stand. Auch eine bundesweite Qualitätsentwicklung des Seiten- und Quereinstiegs müssen wir voranbringen; denn wir müssen auch mehr Quereinsteiger für den Lehrerberuf gewinnen. ({3}) Und auch die Berufsschulen dürfen wir nicht aus dem Blick lassen; denn das wird allzu oft getan. Ein letzter Punkt, den ich hier anführen möchte. An den Schulen brauchen wir nicht nur Lehrerinnen und Lehrer – das ist hier auch schon genannt worden –; wir brauchen auch mehr Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, damit Lehrkräfte endlich entlastet werden und Kinder und Jugendliche nach ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen unterrichtet und betreut werden können. ({4}) Das ist gerade jetzt wichtig, weil wir auch viele geflüchtete Kinder und Jugendliche zu betreuen haben. Da müssen wir auch ganz einfach sagen: Kein Kind darf vergessen werden, und kein Kind wird von uns vergessen. Lassen Sie es uns anpacken. Wir haben gute Ideen vorgelegt. Die Länder sind auch mit am Zug. Gemeinsam können wir es schaffen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lina Seitzl hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Höchst, Herr Frömming, ich muss schon sagen: Nach Ihren Aussagen hier heute bin ich fast schon froh, dass Sie im Plenarsaal sitzen und nicht mehr im Klassenzimmer. ({0}) Dass wir den Beruf der Lehrkraft dadurch attraktiv machen, dass – ich zitiere aus dem Antrag – „unnötige Konferenzen“ abgeschafft werden, das glaubt dann wohl auch nur die AfD. Dennoch ist es gut, dass wir heute das Thema des Lehrkräftemangels hier im Plenum beraten, weil dieses Problem natürlich unser Bildungssystem vor ernstzunehmende Herausforderungen stellt. ({1}) Was allerdings nicht gut ist, ist die Art und Weise, wie in Teilen dieses Hauses darüber gesprochen wird und wie das auch in diesem Antrag dargelegt wird. Aber natürlich bedarf es einer fundierten Problemanalyse, und wir brauchen auch zukunftsfähige Lösungen, um mehr Lehrpersonen an die Bildungseinrichtungen im Land zu bringen. ({2}) Ich glaube, da lohnt es sich, auch mal einen Blick auf das Studium zu werfen; denn jeder sechste Studierende bricht das Lehramtsstudium im Bachelor ab. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ich möchte gerne drei davon nennen: erstens die starren Rahmenbedingungen des Lehramtsstudiums, die weit in die privaten Planungen von jungen Menschen eingreifen, zweitens die mangelnde Vorbereitung auf den Praxisalltag – Praktika sind in vielen Fällen in zu geringem Umfang und zu spät vorgesehen – und drittens die starke Fokussierung auf fachspezifische Kompetenzen bei den Studieninhalten, die in weiten Teilen den Anforderungen des späteren Berufsalltags nicht entsprechen. ({3}) Nach den Studienbedingungen folgt dann der Berufseinstieg, und auch hier besteht einiges an Nachholbedarf. Vorhin ist das Wort „Wertschätzung“ gefallen. Das teilen wir sicher alle; aber dazu zählt sicherlich nicht, junge Lehrkräfte über die Sommerferien zu entlassen und die Klassen zu überfüllen. Das nimmt dann doch jeglichen Elan und Idealismus, den die Lehrpersonen ja gerne ins Klassenzimmer tragen würden. Mein Heimatbundesland Baden-Württemberg führt die Statistik hier leider mit einem negativen Rekord von rund 4 000 Lehrkräften an. ({4}) So viele Entlassungen vor den Sommerferien zählt kein anderes Land. Besonders betroffen sind junge Lehrkräfte, sind Referendarinnen und Referendare, also gerade diejenigen, die wir ganz dringend brauchen. Jetzt möchte ich aber gerne zu den Lösungen kommen, die in der Fach-Community diskutiert und vorgeschlagen werden. Allem voran müssen Schulen, insbesondere in der Entwicklung der Ganztagsschule, als Lern- und Lehrorte begriffen werden, in denen in multiprofessionellen Teams gearbeitet wird, mit mehr Schulsozialarbeit und Integrationshelferinnen und Integrationshelfern. Um eine Schule konzeptionell und personell weiterzuentwickeln, brauchen wir ausreichend zeitliche Ressourcen für die Schulleitung. Wir brauchen mehr Offenheit gegenüber Quer- und Seiteneinsteigerinnen und ‑einsteigern, die Kompetenzen aus der Berufspraxis gewinnbringend einbringen können; sie müssen natürlich auch pädagogisch und didaktisch geschult werden. Dazu gehört selbstverständlich auch eine moderne, zeitgemäße Ausstattung. Marode Gebäude ohne WLAN können nicht unserem Anspruch an Schule des 21. Jahrhunderts genügen. ({5}) Und nicht zuletzt braucht es kleinere Klassen für bessere Betreuungsrelationen, geringere Lärmpegel und somit ein geeigneteres Lern- und Arbeitsumfeld. Natürlich ist Bildung primär Ländersache. Aber der Arbeitsmarkt für Lehrpersonen ist mittlerweile ein bundesweiter. Deswegen müssen wir, um den Fachkräftemangel an den Schulen zu bekämpfen, gemeinsam daran arbeiten. Verschiedene Bund-Länder-Programme adressieren diese Lösungsvorschläge bereits. Ich möchte aber gerne auch noch mal auf das Startchancen-Programm blicken, was eben genau jene Maßnahmen voranbringt, die die Schule von morgen braucht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme sind bekannt, die Lösung auch. Wir als Ampel arbeiten mit Hochdruck daran. Der vorliegende Antrag trägt nicht dazu bei, dass es Lehrkräften heute und morgen besser geht. ({6}) Danke. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Professorin Monika Grütters hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Was waren das doch für schöne Zeiten, als Martin Luther einst befand. Es gefällt mir kein Stand so gut, ich wollte auch keinen lieber annehmen, als ein Schulmeister zu sein. Diese Begeisterung für den Lehrerberuf ist heute leider nicht mehr, nicht immer und vor allen Dingen nicht überall so ausgeprägt wie damals bei ihm. Bei Frau Stahr immerhin habe ich sie gerade noch auch sehr persönlich herausgehört. Aber im Gegenteil, Lehrerin oder Lehrer zu werden, ist heute bei uns mehr als unattraktiv geworden. Die Zahlen sind zitiert, die KMK, immer noch das seriöseste Organ, rechnet bis 2035 mit 23 800 fehlenden Lehrkräften. Das zumindest hat die AfD richtig erkannt, legt uns heute aber einen vagen, widersprüchlichen und – tut mir leid – mit Stammtischparolen gespickten Antrag vor, über den es sich kaum zu debattieren lohnt. ({0}) Über den Lehrermangel selbst aber müssen wir reden. Es ist gut, dass wir das tun, auch wenn der Bund keine Zuständigkeit hat. Das sind wir uns und unseren Kindern schuldig. ({1}) Ein Grund für die aktuell vielerorts ja wirklich dramatische Situation ist beispielsweise die hohe Studienabbrecherquote. – Frau Kraft, es sind ja nicht einige, die hier abbrechen; jeder Fünfte tut das. In Lehramtsstudiengängen besteht mangelnde Flexibilität im Arbeitsort – da gibt es dann die Konkurrenz des Abwerbens, das natürlich das Problem nicht löst –, und es gibt eine schlechte Vertragssituation bei angestellten Lehrerinnen und Lehrern. Sie haben recht, aber die Grünen sind in Baden-Württemberg jetzt dran und können dieses Elend mit den Kettenverträgen dort ja ändern. Die Frau Schopper ist gefragt. ({2}) Der hohe bürokratische Aufwand im laufenden Schulbetrieb wird ja auch von fast allen in allen Ländern beklagt. Die Folge ist massiver Unterrichtsausfall. Vorübergehende Rettung: Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. Das kann natürlich am Ende nicht die Lösung sein. Etwa jeder fünfte Studierende bricht im Bachelor sein oder ihr Studium ab oder wechselt das Fach. Da kann man von sächsischen Verhältnissen, wo 94 Prozent in den Lehrerberuf übernommen werden, nur träumen. Mangelnde Betreuung im Studium, viel zu wenig Praxisbezug: Lieber Herr Stüwe, die SPD ist in Berlin an der Regierung. Das könnten Sie ja ändern. Sie haben die Unattraktivität der Studiengänge auch beklagt. ({3}) Gerade in den frühen Semestern ist der Praxisbezug zu gering. Zum Beispiel Berlin: chaotische logistische Organisation eines Lehramtsstudiengangs mit zwei Fächern. ({4}) Wer Pech hat, muss von Dahlem bis Adlershof fahren und eine Stunde Fahrzeit in Kauf nehmen, um seine zwei Fächer unter einen Hut zu bringen. Die Folge: In Berlin beträgt die Abbrecherquote 50 Prozent. ({5}) Die können hier nicht nur Wahlen nicht organisieren, auch bei der Bildungspolitik sind wir gerne das rote Schlusslicht. ({6}) Nach 26 Jahren übler sozialdemokratischer Bildungspolitik bietet sich in Berlin ein besonders dramatisches Bild. Es bräuchte jährlich 2 000 Nachwuchslehrkräfte. 2021 gab es gerade einmal 900. Dieses Jahr sind allein in Berlin 875 Vollzeitstellen nicht besetzt. Immerhin hat selbst Rot-Grün-Rot inzwischen begriffen, dass man Lehrerinnen und Lehrer verbeamten sollte, ({7}) was die CDU übrigens seit Jahren fordert. Der nötige Run auf die offenen Stellen ist in Berlin merkwürdigerweise trotzdem ausgeblieben. Eine Strategie, wie die 20 000 Lehrkräfte entschädigt werden, die bereits angestellt, aber noch nicht verbeamtet sind, fehlt übrigens nach wie vor. Gehaltslücken zwischen Quereinsteigern, Angestellten und verbeamteten Lehrkräften muss man natürlich intelligent schließen, statt einmal zugesagte Leistungen wieder zurückzunehmen, wie zuletzt in Berlin geschehen. Ja, Frau Kraft, Sie haben recht, die Kettenverträge sind übel, also muss man sie ändern. Wie gesagt, in Baden-Württemberg haben Sie jetzt die große Chance dazu. ({8}) Letztens konnte man lesen, in Berlin sei das Lehrerproblem gelöst, nur leider ohne Lehrer. Die GEW geht davon aus, dass im laufenden Schuljahr 60 Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte – 60 Prozent! – aus dem Quereinstieg rekrutiert werden. Jedem Einzelnen und jeder Einzelnen von ihnen können wir dankbar sein und uns nur wünschen, dass es für sie genügend Anreize gibt, so lange wie möglich zu bleiben. Gestern haben die angestellten Berliner Lehrerinnen und Lehrer erst einmal wieder gestreikt. Gefordert wurde ein Tarifvertrag zum Gesundheitsschutz, in dem das Verhältnis von Schülerinnen und Schülern zu Lehrkräften geregelt wird. Das bedeutet kurz gesagt: kleinere Klassen. Die aber kann es ja nur geben, wenn genügend pädagogisches Personal und außerdem intakte Räumlichkeiten zur Verfügung stehen; alles eigentlich Selbstverständlichkeiten, nur nicht hier in Berlin. ({9}) Aber wie kann es sein, dass in manchen Schulen in Berlin keine Klein- oder Arbeitsgruppen gebildet werden können, weil die Bausubstanz seit Jahren marode ist? Frau Stahr hat auf die Fenster hingewiesen, die aus dem Rahmen fallen. Das ist hier bei Rot-Rot-Grün und Rot-Grün-Rot schon lange der Fall. Wie soll der Lehrerberuf für junge Menschen also attraktiv werden, wenn man als Lehrkraft unter dem Strich mehr Zeit mit fachfremden bürokratischen Abläufen beschäftigt ist als mit Pädagogik und Didaktik? Wenn der SPD-Bildungssenatorin Busse in dieser Situation nicht mehr einfällt, als an Extras – so bezeichnet sie das allen Ernstes – wie den Förderunterricht zu sparen, tragen wir nicht nur die Folgen des Lehrkräftemangels auf dem Rücken der Schwächsten aus, wir senden auch ein fatales Signal. ({10}) An der Bildung zu sparen, kommt uns alle teuer zu stehen; denn nicht nur in einer multikulturellen, multilingualen und multireligiösen Großstadt wie Berlin hat jede Schülerin, hat jeder Schüler einen Anspruch auf ein individuelles Bildungsangebot. Das bleiben wir an vielen Orten und ganz besonders in der Hauptstadt schlicht schuldig. Das gelingt uns natürlich nur mit multiprofessionellen Teams, mit bundesweit erfolgreichen Programmen. Wir haben den Digitalpakt, das Ganztagsschulprogramm aufgelegt im Rahmen einer guten Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern im Sinne eines kooperativen Föderalismus. Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung haben wir auf Bundesebene aufgelegt und damals dazu beigetragen, Länder und Unis zu unterstützen. Es muss sich natürlich etwas ändern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Grütters.

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hoffe, dass wir dann am Ende nicht nur mit Frau Stahr und Herrn Luther sagen können: Es gefällt mir kein Stand so gut, ich wollte auch keinen lieber annehmen, als ein Schulmeister zu sein. Wir danken allen Lehrerinnen und Lehrern. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Holger Becker das Wort. ({0})

Dr. Holger Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005021, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Schülerinnen, liebe Schüler! Liebe Lehrerinnen, liebe Lehrer! „Lehrermangel konsequent bekämpfen“ heißt der Antrag, den wir hier diskutieren. Ich kann hier eigentlich nur meinen Kollegen Peter Heidt zitieren: Heureka! Selbstverständlich sind mehr Lehrerinnen und Lehrer wünschenswert. Bund und Länder arbeiten schon seit vielen Jahren daran. ({0}) Das gilt übrigens auch für Personen in der Pflege, für fast alle MINT-Berufe. Die Aufzählung könnte fast beliebig so weitergehen. Auf die Logiklöcher, Inkonsequenzen und fehlenden Zuständigkeiten des Bundes haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon ausführlich hingewiesen. Das Hauptproblem des Antrages bleibt ja bestehen: Wie Sie all die im Antrag genannten Ziele erreichen wollen, da sind Sie, wie so oft, völlig blank. ({1}) Da steht nämlich so etwas wie: Liebe Bundesregierung, mach doch mal einen Qualitätspakt Schule. – Und was kommt dann? ({2}) Im Grunde nichts weiter als eine ziemlich konzeptlose Ansammlung von Spiegelstrichen. Es liest sich zwar ganz nett, offenbart aber letzten Endes nur eine völlige Planlosigkeit. ({3}) Dabei gibt es zum Beispiel mit dem Digitalpakt inzwischen eine erfolgreiche Blaupause für Bund-Länder-Kooperationen ({4}) im Bildungsbereich. Um jeden Preis drückt sich Ihr Antrag allerdings darum, wie das denn alles gehen soll. Stattdessen stehen in Ihrem Antrag etwas erheiternde Ziele wie unter Punkt 6: „Aufstockung des Lehrpersonals an Schulen“. Sie wollen also den Lehrermangel durch Aufstockung des Lehrpersonals bekämpfen. Das ist ein offensichtlicher Zirkelschluss, der eigentlich keinen Sinn macht. Unter Punkt 12 wollen Sie die Klassengrößen verkleinern. Das Kuriose ist: Da hat die Realität Sie doch schon längst eingeholt. Mit Ausnahme der Grundschulen – da ist die Klassengröße in den letzten zehn Jahren konstant – ist die durchschnittliche Klassengröße in allen anderen Schulformen in den letzten zehn Jahren bereits gesunken. Das hätte man mit etwas Recherche auch herausbekommen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Fakt ist: Während im Jahr 2011 insgesamt 30 601 Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land eingestellt worden sind, hat sich diese Zahl im letzten Jahr auf 33 222 erhöht. Dieses Land stellt bereits mehr Lehrer ein. Es sind natürlich noch nicht genug, aber wir sind da auf dem richtigen Weg. Noch ein paar weitere Zahlen: zwischen 1991 und 2001 pro Jahr im Schnitt 17 917 Lehrerinnen und Lehrer, zwischen 2001 und 2011 26 990 und 2011 bis 2021 mehr als 33 000 Lehrerinnen und Lehrer pro Jahr. Merken Sie, wo diese Zahlen hingehen? Die gehen nämlich nach oben, in die richtige Richtung. Sie wollen den Lehrermangel konsequent bekämpfen. Dazu habe ich noch ein paar andere Zahlen für Sie. 2 Prozent beträgt der Anteil von ausländischen Lehrkräften in diesem Land, 12 Prozent beträgt der Anteil von ausländischen Schülerinnen und Schülern in diesem Land. Dass es wohlmöglich eine gute Idee wäre, diese Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern oder gezielt anzusprechen, aber Ihnen diese Idee nicht kommt, wundert mich ehrlich gesagt nicht. Man soll abschließend auch immer etwas Positives sagen. Unter Punkt 16 steht in Ihrem Antrag: „Erhöhung der Mittelzuweisung für Klassenfahrten“. Diese Idee finde ich gut. Wie das allerdings den Lehrermangel bekämpfen soll, ist mir noch etwas unklar, insbesondere weil dies in der generischen Verantwortung der Länder liegt. Vielleicht ist Ihr Antrag ja ein gut getarntes Anliegen, eine Föderalismusdiskussion vom Zaun zu brechen. Das wäre sicherlich eine sehr interessante Diskussion in diesem Haus. Vielen Dank. ({5})

Annalena Baerbock (Minister:in)

Politiker ID: 11004245

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Frauen, die im gnadenlosen Beschuss von Wasserwerfern stehen, die sich ihre Kopftücher abreißen, die singen: „Frauen, Leben, Freiheit“. Auch wenn das Internet jetzt abgeschaltet ist: Wir sehen und wir hören diese Frauen; Frauen, die sich mutig dem scheinbar so mächtigen iranischen Sicherheitsapparat entgegenstellen. Und all die Knüppel und das Tränengas sind alles andere als ein Ausdruck von Macht und Stärke. Aus dieser schieren Gewalt des iranischen Systems spricht pure Furcht. ({0}) Denn nichts fürchten jene, die mit betäubender Gewalt regieren, mehr, als dass Frauen gemeinsam auf die Straße gehen und ihre Stimme erheben. Und diese Stimme lässt sich nicht einfach niederknüppeln. Sie lässt sich auch nicht abschalten, indem man den Zugang zum Internet kappt. Nein, diese Stimme schallt laut und weit über den Iran hinaus. Es ist auch die Stimme von Mahsa Amini. Aminis Familie rief Mahsa bei ihrem kurdischen Namen „Jina“, das heißt: Leben. Auf ihren Grabstein haben ihre Eltern schreiben lassen – ich zitiere –: Du bist nicht gestorben, dein Name ist ein Aufruf. – Und diesem Aufruf folgen so viele: im Netz, auf der Straße gestern in Berlin. – Danke. Und wir folgen ihm heute hier im Deutschen Bundestag mit den politischen Mitteln, die wir als Politikerinnen und Politiker, als Abgeordnete unseres Landes und auch als Bundesregierung haben. Ich habe daher den Botschafter einbestellt, und wir haben am Montag für die Bundesrepublik Deutschland im Menschenrechtsrat in Genf ganz klar deutlich gemacht: Die iranischen Behörden müssen ihr brutales Vorgehen gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten unverzüglich einstellen. Der Tod von Jina Mahsa Amini und der vielen weiteren Menschen, die bei den Demonstrationen getötet wurden, gehört dringend aufgeklärt. ({1}) Im Kreis der EU-Staaten tue ich gerade alles dafür, dass wir Sanktionen auf den Weg bringen können – gerade jetzt, wo wir weiter über das JCPoA verhandeln – gegen diejenigen im Iran, die ohne Rücksicht Frauen im Namen der Religion zu Tode prügeln, Demonstranten erschießen. Und ich sage hier auch ganz deutlich: Das ist keine Einmischung in die Belange eines anderen Landes. Nein, hierzu hat sich der Iran wie jedes Land auf der Welt verpflichtet, unter anderem im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Bei allem Respekt vor kulturellen und religiösen Unterschieden: Wenn die Polizei, wie es scheint, eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun. Dann ist das schlicht ein entsetzliches Verbrechen. ({2}) Es ist wichtig, dass wir heute fraktionsübergreifend dieses Verbrechen so klar benennen. Denn ja, das ist deutsche Außenpolitik. Das ist deutsche wertegeleitete, feministische Außenpolitik. Ich möchte an dieser Stelle aber auch deutlich sagen: Eine wertegeleitete, feministische Außenpolitik bemisst sich für mich als Politikerin nicht daran, wie laut oder oft man twittert, sondern eine wertegeleitete Außenpolitik ist oftmals mühevolle, harte Arbeit hinter den Kulissen; denn es bedeutet vor allen Dingen, Strukturen – sexistische Machtstrukturen – aufzubrechen. ({3}) Der feige Mord an Jina Mahsa Amini ist kein Einzelfall, sondern er ist Ausdruck eines Systems, ({4}) eines Machtsystems, das auf Gewalt gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, auf Gewalt gegenüber seinen regionalen Nachbarn – im Zweifel auch mit Nuklearwaffen –, aber eben auch auf einem System der Erniedrigung und Gewalt gegenüber Frauen basiert. Und diese Machtsysteme, die auf sexuelle Gewalt und auf Erniedrigung aufgebaut sind, finden wir leider auch an anderen Orten dieser Welt. Diesen Machtsystemen ist inhärent, dass sie wissen: Wenn Frauen nicht sicher sind, dann weiß jeder im Land, dass niemand sicher ist. ({5}) Und umgekehrt gilt: Wenn Frauen sicher sind, dann ist jeder sicher in einer Gesellschaft. In diesem Sinne, liebe Unionskolleginnen, danke ich für Ihren Brief, den 19 von Ihnen an mich geschrieben haben und in dem Sie mich zu mehr Einsatz für Frauenrechte auffordern. Ich nehme ihn als Ausdruck dessen, liebe Frau Güler, liebe Frau Schön, liebe Frau Klöckner und die anderen, dass Ihr Parteivorsitzender seine Aussage zum „Sozialtourismus“ nicht nur korrigiert hat, sondern dass die Union uns alle aktiv dabei unterstützt, dass feministische Außenpolitik mehr ist als nur eine kurze emphatische Geste, dass wir gemeinsam, so wie mit dieser Aktuellen Stunde, bereit sind, Strukturen zu verändern, auch bei uns, ({6}) dass sich die Frauen im Iran – ebenso wie die ukrainischen Frauen – darauf verlassen können, dass unsere Solidarität trägt, auch wenn sie uns selbst etwas abverlangt, dass sie sich darauf verlassen können, dass unsere Solidarität trägt, wenn diese Frauen nicht mehr überall in den Nachrichten sind, dass wir gemeinsam froh – ich würde für mich persönlich sagen: auch stolz darauf – sind, dass wir zu Beginn dieses furchtbaren Russland-Krieges „diese Flüchtlinge“, wie manche sie nennen, nicht nur aufgenommen, sondern dass wir sie mit offenen Armen empfangen haben, dass wir unsere Gesellschaft und auch unsere Sozialsysteme für Hunderttausende Europäerinnen und Europäer aus der Ukraine geöffnet haben. Denn nur so können und konnten Kommunen, Lehrer, Nachbarn, Familien von Tag eins an alles dafür tun, dass bis zum heutigen Tag 465 054 Frauen und 352 467 Kinder ein Stück Sicherheit, aber eben auch ein Stück Zuhause bekommen haben. ({7}) Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, weil feministische Außenpolitik mehr ist als Einzelfälle: Ja, es hilft all diesen Frauen und Kindern, so wie es allen anderen hilft, die Schutz bei uns suchen, Kontakt nach Hause zu halten. Mich lässt ein Satz in diesem Krieg nicht mehr los, ein Satz eines Mädchens, das elf Jahre alt ist, aus einer Schule in Potsdam. Sie sagte bei einem der Schulbesuche zu mir: „Frau Baerbock, Sie kennen doch Herrn Selenskyj. Können Sie ihm bitte sagen, dass ich meinen Papa wiedersehen möchte?“ Und ich war so froh, als ich diesen Sommer hörte, dass sie für drei Wochen in die Ukraine fuhr, um ihren Vater nach 176 Tagen endlich wieder in die Arme zu nehmen. Aber nichts hat mich, ehrlich gesagt, mehr erleichtert als das, als ich gehört habe, dass sie mit ihrer Mutter und ihrem einjährigen Bruder zurückgekommen ist, denn ihr Zuhause ist die Oblast Saporischschja. Nicht alles ist derzeit besetzt, aber ihr Ort ist nahe an der Frontlinie. Ja, Hundertausende werden hin- und herreisen zwischen der Ukraine und Deutschland, ({8}) bis ihr Land wieder in Frieden leben kann. Und wir werden ihnen unsere Unterstützung geben, solange sie sie brauchen; ({9}) denn für mich bedeutet feministische Außenpolitik, auch dann Solidarität zu zeigen, ({10}) wenn einem der Wind entgegenbläst. Das gilt nicht nur für unsere ukrainischen Nachbarn. Nun fragen Sie, warum ich über die Ukraine rede. ({11}) Auch die Frauen im Iran müssen sich darauf verlassen können, dass wir nicht nur jetzt an ihrer Seite stehen, sondern auch morgen und übermorgen, wenn der Wind sich bei ihnen oder auf der Welt weiter gedreht hat. ({12}) Unsere Solidarität gilt den Frauen in Afghanistan, in Belarus und im Iran. Denn so furchtbar der Tod von Jina und die Niederschlagung der Proteste im Iran ist: Das ist kein Einzelfall. Jina Mahsa Amini, du bist nicht gestorben. Dein Name ist Aufruf, und zwar weltweit. ({13}) Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Annette Widmann-Mauz das Wort. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Lieber sterben wir, als dass wir weiterhin die Erniedrigungen ertragen“ – zu diesem existenziellen Schluss kommen Frauen im Iran. Trotz Festnahmen, Schlägen und brutaler Gewalt des Mullah-Regimes riskieren Tausende von ihnen gerade alles: ihr Leben, ihre Existenz. Diese Frauen verdienen unsere volle Solidarität, und sie verdienen ein starkes Zeichen der Geschlossenheit. ({0}) Ihre Stimmen sind viel zu laut, als dass sie überhört oder nur kleinlaut zur Kenntnis genommen werden können; denn wenn sie den Mut haben, auf die Straße zu gehen, dann dürfen doch gerade wir, die wir in Freiheit leben, zu dem Schicksal von Mahsa Amini, dem Verschwinden von Nilufar Hamedi, die ihr Schicksal aufdeckte, oder der Inhaftierung von mehr als 1 200 Menschen wie der Frauenrechtsaktivistin Faezeh Haschemi nicht schweigen. ({1}) Dass aber der Bundeskanzler in seiner 15-minütigen Rede vor den Vereinten Nationen die Proteste im Iran nicht mit einem einzigen Satz angesprochen hat, ({2}) ist wirklich mehr als beschämend. ({3}) Er hätte gerade die Anwesenheit von Staatspräsident Raisi nutzen können, die massiven Menschenrechtsverletzungen seines Regimes zu verurteilen. Er hätte sich hinter die VN‑Menschenrechtsdeklaration und damit an die Seite der protestierenden Frauen und Männer stellen können, ganz nach dem Motto „You’ll never walk alone“. Aber was tat er? Er schwieg – wieder einmal! Sein nachgeschobener Tweet – sorry! – war an Belanglosigkeit nicht mehr zu überbieten. Verehrte Frau Ministerin, leider waren auch Sie zu diesem Thema bis zum heutigen Tag öffentlich kaum wahrnehmbar. ({4}) Das steht in deutlichem Widerspruch zu Ihrem feministischen Anspruch, aber vor allen Dingen zu den Erwartungen der Frauenrechtsorganisationen und der iranischen Zivilgesellschaft. Warum eigentlich? ({5}) Bei der Ukraine sind Sie viel empathischer, und Sie zeigen es auch. Bei Herrn Lawrow finden Sie doch sonst auch klare und deutliche Worte. ({6}) Das Schicksal von Mahsa Amini teilen im Iran im Übrigen unzählige Frauen, die Tag für Tag von Sittenpolizei und Geheimdienst gefangen, verschleppt, inhaftiert, vergewaltigt und getötet werden. Mit dem Abstreifen des Hidschab, mit dem Abschneiden ihrer Haare zeigen sie der Welt vor allen Dingen ihre Stärke, ihre Kraft und ihren unbändigen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. ({7}) Ihr Protest ist ein Akt der Rebellion, des Sich-Auflehnens gegen einen islamistischen Gottesstaat, gegen ein System der Willkür und der Unterdrückung. ({8}) Frauen sind die treibende Kraft in diesem Kulturkampf für gesellschaftliche Veränderungen. Die Brutalität und die Härte, mit der das Regime gegen sie vorgeht, zeigen, wie sehr Despoten Frauen fürchten, die ihre Stimmen erheben und für ihre Rechte kämpfen. ({9}) Egal ob im Iran, in Afghanistan oder in Belarus: Ihr Widerstand ist der Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung einer ganzen Gesellschaft. ({10}) Frauenaußenpolitik ist deshalb auch kein Rand- oder Nischenthema, bei dem oft gern gesagt wird, es gebe gerade Wichtigeres. Nein, es geht schon längst nicht mehr darum, ob wir eine Frauenaußenpolitik brauchen. Nein, es geht darum, mit welchen Instrumenten sie auch wirksam wird – nicht nur langfristig, sondern auch ganz konkret in akuten Krisen und Konflikten. Welche Folgen haben denn jetzt die Proteste für die deutsche und die europäische Politik gegenüber dem Iran? Dazu habe ich wenig gehört. Welche Konsequenzen sehen Sie denn jetzt für die Bundesregierung bei den Verhandlungen um das Nuklearabkommen? ({11}) Was bedeutet „Frauenaußenpolitik“ ganz konkret im Rahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie? ({12}) Wenn Frauenaußenpolitik zu unserer außenpolitischen DNA gehören soll, dann muss sie doch auch mit den Mitteln der klassischen Außenpolitik verzahnt werden. ({13}) Was ist jetzt zu tun? Wir müssen den Druck auf den Iran erhöhen und ihm die Ressourcen entziehen, die das Unterdrückungsregime am Laufen halten. Es reicht einfach nicht, wie es die EU getan hat, nur den Umgang mit den Protesten zu kritisieren, zu ihren Ursachen dann aber höflich zu schweigen. Deshalb müssen zusätzlich die Sanktionen verschärft und ausgeweitet werden: erstens gegen die Personen und Regierungsstellen, die für die Morde und das brutale Vorgehen verantwortlich sind, zweitens mit der Ausweitung auf strategisch wichtige Felder – die USA haben bereits Firmen sanktioniert, die Russland mit Drohnen beliefern, die in der Ukraine eingesetzt werden – und drittens mit Nachjustierung im digital-technologischen Bereich, dort, wo nämlich ansonsten die Scheinwerfer auf das Unrecht ausgehen und die Mobilisierung und die Kommunikation der Zivilgesellschaft erschwert werden. Wir müssen alle Mittel und Wege nutzen, die Frauenrechtsbewegung im Iran zu unterstützen. Dazu braucht es auch mehr finanzielle Mittel für die regionale Vernetzung und gerade eben nicht –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– die von Ihnen vorgesehenen und geplanten Kürzungen im Haushalt des Auswärtigen Amts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Schweigen, Zögern –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Frau Kollegin, Sie müssen jetzt den Punkt setzen.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– und Zaudern sind im Feminismus keine Option. Handeln Sie danach! ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben Angst vor meinem Haar. Sie haben Angst vor meiner Stimme. Sie haben Angst vor meinem Körper. Ich als Frau kann ein ganzes Regime verängstigen. – Das ist ein Zitat der iranischen Journalistin Masih Alinejad. Besser kann man es nicht beschreiben. Gerade in diesen Tagen gehen im Iran Tausende Menschen auf die Straße. Sie gehen für ihre Rechte, für ihre Freiheit und für ihre Selbstbestimmung auf die Straße, allen voran die Frauen, die auf offener Straße ihre Schleier verbrennen. Für uns unvorstellbar, riskieren sie dabei Leib und Leben. Sie nehmen es mit einem Regime auf, das mit brutaler Repression reagiert. Weit über 1 000 Menschen wurden festgenommen. Ungefähr 60 wurden getötet. Und das sind nur die ungefähren staatlichen Angaben. In Wahrheit sind die Zahlen wohl viel höher. All diesen mutigen Frauen und Männern gilt unsere volle Solidarität. ({0}) Die Menschen in Iran sind wütend. Mahsa Amini musste mit nur 22 Jahren sterben. Ihr Tod war der Anlass für die aktuellen Proteste. Die Wurzeln der Wut reichen aber viel tiefer. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Frau von der Sittenpolizei misshandelt wird. Es ist auch nicht das erste Mal, dass auf Proteste willkürliche Verhaftungen und Folter folgen. Eines muss uns allen klar sein: Hier geht es nicht um den Hidschab und ob er falsch saß. Hier geht es auch nicht um Religion. Hier geht es um Kontrolle – über die Körper, über die Selbstbestimmung und über die Freiheit von Frauen. Und eigentlich geht es um die Freiheit im Iran insgesamt. Denn nicht nur die Frauen wünschen sich Freiheit, sondern natürlich auch Männer. Und sie haben eines gemeinsam: Sie wehren sich gegen die Unterdrückung. ({1}) Der Zwang zum Tragen des Schleiers ist das sichtbarste Symbol einer systematischen Repression. Die iranische Regierung macht ihre Macht abhängig von der Unterdrückung von Frauen, weil sie Angst hat. Sie fürchtet, dass jede Art von Lockerung ihre Macht gefährdet. Was wir hier sehen, ist der Überlebenskampf eines Systems, das sich schon lange selbst überlebt hat. Und es ist auch der Überlebenskampf des Patriarchats. Mahsa Amini musste sterben, weil sie eine Frau war. Ihr Tod macht einmal mehr bewusst: Feministische und menschenrechtsgeleitete Außenpolitik sind eins. Denn nur in einer Gesellschaft, in der Menschenrechte für alle gleichermaßen gelten, kann es Frieden, kann es Sicherheit geben, und das bedeutet immer auch und vor allem Freiheit. ({2}) Wir nehmen diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen nicht hin. Wir verurteilen die schweren Verstöße gegen Frauenrechte und die brutalen Repressionen gegen Demonstrierende. Menschen, die ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen, dürfen nicht willkürlich inhaftiert werden, nirgendwo auf der Welt. ({3}) Das müssen wir der Regierung im Iran deutlich machen, und das tun wir auch. Wir fordern den Iran auf, sofort eine unabhängige Untersuchung zuzulassen, um diesen Fall restlos aufzuklären. Es ist gut, dass Außenministerin Baerbock das Thema in den VN‑Menschenrechtsrat bringt. Mit unseren Partnern in der EU werden wir über weitere Konsequenzen sprechen. Dazu gehören auch gezielte Sanktionen gegen Verantwortliche. Wir signalisieren dem Iran: Wir stehen fest an der Seite der Menschen, die für ihre Rechte eintreten, und wir stehen fest an der Seite der Familie Amini. Dort nannte man Mahsa – die Außenministerin hat es gesagt – bei ihrem kurdischen Namen, Jina. Iranische Behörden erkennen kurdische Namen aber nicht an. Auch das ist ein Werkzeug staatlicher Unterdrückung. Auf Jina Aminis Grabstein steht: Du bist nicht gestorben. – Und sinngemäß: Dein Name ist ein Symbol. – Ich füge hinzu: ein Symbol auch für uns, für Freiheit und für Menschenrechte. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Nach biblischen Zeugnissen ließ Kyros II. die unter den Babyloniern verschleppten Juden in ihr angestammtes Land zurückkehren. Die persischen Könige ermöglichten es ihnen, den zerstörten Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen und nach den eigenen Gesetzen und Geboten zu leben. Nur in wenigen Imperien genossen die Juden im Verlauf der Jahrhunderte so große Freiheiten wie unter den Persern. Man schrieb das Jahr 539 vor Christi Geburt. Damals gab es keinen Islam. Heute lehnt sich das stolze persische Volk, Erbe eines der größten Reiche der Weltgeschichte, gegen die kulturfremde Herrschaft der Mullahs auf. ({0}) Eine junge Frau, die 22‑jährige Mahsa Amini, wird vor zwei Wochen auf den Straßen Teherans von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet. Nicht, weil sie kein Kopftuch getragen hat. Nein, sie wurde verhaftet, weil sie nicht das richtige Kopftuch getragen haben soll. Sie soll abgeführt und zu einem sogenannten Orientierungskurs gebracht worden sein. Später wird sie mit inneren Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert. Zwei Tage darauf ist sie tot. Bei den anschließenden Protesten in etlichen Städten werden mehr als 70 weitere Menschen getötet, Hunderte misshandelt von den brutalen Häschern der Mullahs. Diese Toten haben eine Vorgeschichte. Sie führt direkt ins Herz der europäischen Linken. ({1}) Als der Ajatollah Chomeini in einem Pariser Vorort im Exil saß, pilgerten linke 68er in Scharen zu ihm. Sie machten ihn erst bekannt. Chomeini kehrte nach der Flucht des letzten Schah in den Iran zurück. Er schaltete seine liberalen und sozialistischen Konkurrenten aus. Chomeinis Machtergreifung ist eine der größten Katastrophen des letzten Jahrhunderts. ({2}) Exil-Iraner sind entsetzt über das deutsche Verhalten gegenüber dem Islam: Löschung islamkritischer Postings, woker Radikalfeminismus, Trans-Propaganda. Und währenddessen werden im Iran Frauen und Schwule von Islamisten umgebracht. ({3}) – Hören Sie bitte den Menschen aus dem Iran zu. – Zitat: „Mit eurem selbstgerechten Einsatz gegen die vermeintliche Islamophobie unterstützt ihr nur die Sklavenhalter und Peiniger in unserer Heimat.“ So der Weckruf einer jungen Exil-Iranerin im „Cicero“. ({4}) Die grüne Regierungspartei sollte angesichts der aktuellen Proteste den Mund nicht vollnehmen. Es war der Erzgrüne Joschka Fischer, der in der linksradikalen Zeitschrift „Pflasterstrand“ die Islamische Revolution mit den Worten pries, ({5}) sie richte sich gegen das Eindringen des konsumistischen Atheismus der westlichen Industriegesellschaft. ({6}) Das ist derselbe Joschka Fischer, der als Außenminister die noch immer in den Köpfen der Linken dümpelnde Schnapsidee eines unwürdigen Atomabkommens mit diesem Staat vorangetrieben hat. Es war die damalige grüne Vorsitzende Claudia Roth, eine selbsternannte Feministin, die den iranischen Botschafter mit High five begrüßt hat. ({7}) Nämliches trifft auf die SPD zu. Ihr Bundespräsident Steinmeier verschickte im Namen seiner Landsleute Glückwunschtelegramme anlässlich des Jahrestags der Islamischen Revolution. ({8}) In Artikel 3 der iranischen Verfassung wird eine Außenpolitik auf der Grundlage der islamischen Maßstäbe vorgeschrieben. Und wie diese „wertegebundene Außenpolitik“ aussieht, das wissen wir zur Genüge. Die Islamische Republik war niemals, auch nicht unter den vermeintlich gemäßigten „Reformern“ um Rohani, ein Stabilitätsgarant für die Region. Sie war und ist im Gegenteil der wichtigste Financier von Tod und Terror im Nahen Osten. ({9}) Nachdem sich die Mullahs den benachbarten Irak unter den Nagel gerissen hatten, setzten sie ihren Einfluss ein, um islamistische Milizen im Jemen und in Gaza mit Geld und Waffen zu versorgen. ({10}) Seit Neuestem liefert der Iran Kamikaze-Drohnen nach Russland, die „Shahid“ heißen. Ein „Shahid“, das ist ein Kämpfer des Dschihad und bedeutet nichts anderes als „Selbstmordattentäter“. ({11}) – Sie waren ja sehr erfolgreich bei der Verhinderung des Islamismus und Terrorismus, Frau Kaddor, mit Ihren IS-Sympathisanten, die bei Ihnen gelernt haben. Super! ({12}) – Frau Kaddor, Sie gerade – tut mir leid! –, Sie gerade sollten mal lieber schweigen zu dem Thema. „Shahid“ bedeutet nichts anderes als „Selbstmordattentäter“. ({13}) Und etliche iranische Politiker und Generäle leugnen nicht einmal, Israel vernichten zu wollen. ({14}) Die Bundesregierung kann sich nicht mehr herausreden. Dass die Menschen im Iran auf der Straße sterben, hat sehr wohl mit dem frauen- und menschenverachtenden Islam zu tun, ({15}) und es hat auch mit den jahrelangen Beschwichtigungen von links zu tun. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Djir-Sarai das Wort. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mahsa Amini, eine 22‑jährige junge Frau, wurde von der iranischen Sittenpolizei ermordet. Eine junge Frau, die ihr ganzes Leben vor sich hatte, wurde mit Gewalt aus dem Leben gerissen. Schuld daran ist ein Regime, das Menschenrechte mit Füßen tritt und die eigene Bevölkerung ohne Rücksicht auf Verluste unterdrückt. Heute sehen wir auf den Straßen iranischer Städte mutige Frauen und Männer, die sich aus den Fesseln dieses grausamen Regimes lösen wollen. Für ihren Kampf für Menschenrechte, Bürgerrechte und Freiheit riskieren sie ihr Leben. Ihr Mut erweckt die Hoffnung, dass der Zusammenbruch der Schreckensherrschaft der Islamischen Republik möglich ist. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag in einer Aktuellen Stunde über die Ereignisse im Iran öffentlich diskutiert. Wir hatten gestern eine wunderbare Demonstration am Brandenburger Tor, und ich kann hier nur wiederholen, was ich auch dort gesagt habe: Solidarität und warme Worte reichen nicht mehr aus. ({0}) Der Tod der 22‑jährigen Mahsa Amini hat uns auf tragische Weise vor Augen geführt, dass wir eine fundamental andere Iranpolitik brauchen, meine Damen und Herren. ({1}) Während wir gestern hier im Deutschen Bundestag im Plenum diskutiert haben, haben iranische Drohnen, die Drohnen der Revolutionswächter, zivile Ziele in der Autonomen Region Kurdistan im Irak angegriffen. Europa braucht eine neue Iran-Strategie. ({2}) Wir können nicht ständig nur über ein Atomabkommen reden, während gleichzeitig im Iran seit vielen, vielen Jahren eklatante Menschenrechtsverletzungen stattfinden, meine Damen und Herren. Viel zu lange ist die Europäische Union mit dem Iran einen naiven Kuschelkurs gefahren. Viel zu lange wurde zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen immer und immer wieder geschwiegen. Diese beschämende Haltung muss ein für alle Mal ein Ende haben, meine Damen und Herren. ({3}) Die Islamische Republik ist ein Feind unseres westlichen Wertesystems. Dieses Mullah-Regime wird mit aller Härte seine eigenen Interessen verfolgen. Es hemmt den Nahen und Mittleren Osten in seiner Entwicklung, bedroht die Existenz Israels und widerspricht jeglichem Verständnis von Freiheit und Demokratie. Die Islamische Republik Iran ist nicht nur für eklatante Menschenrechtsverletzungen im Iran verantwortlich, sondern auch für Menschenrechtsverletzungen außerhalb des Irans. ({4}) Deutschland und die Europäische Union müssen gegenüber der Islamischen Republik selbstbewusst und entschlossen auftreten. Eine Neuausrichtung der Iran-Strategie muss jetzt erfolgen. Um den Druck zu erhöhen, müssen wir personenbezogene Sanktionen gegen Vertreter des Regimes und Revolutionswächter offen adressieren. Frau Ministerin, ich habe sehr aufmerksam dem zugehört, was Sie gesagt haben, und ich finde, Sie haben heute exakt die richtigen Worte gefunden. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Rede. Denn dahin geht die Reise: Die Führung der Islamischen Republik muss wissen, dass die Weltöffentlichkeit nichts vergisst. ({5}) Alle Verantwortlichen, die im Namen dieses islamistischen Regimes Verbrechen begehen, müssen für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden, meine Damen und Herren. ({6}) Die Freiheit im Iran liegt heute in den Händen von mutigen Menschen, die ihr Leben riskieren. Auf ihren Schultern ruht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – in Iran, im Nahen und Mittleren Osten und auf der ganzen Welt. Meine Damen und Herren, ich musste 1987 den Iran verlassen. Das ist auch schon ein paar Tage her; das ist inzwischen 35 Jahre her. Ich war damals 11 Jahre alt. Ich habe mit meinen eigenen Augen Krieg und Menschenrechtsverletzungen im Iran gesehen. Wer am eigenen Leib erfahren hat, wie sich Unfreiheit anfühlt, wird sich tagtäglich und unter allen Umständen für Freiheit einsetzen. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle versichern. ({7}) Der Name Mahsa Amini steht in diesen Stunden stellvertretend für den furchtlosen Kampf gegen ideologiegesteuerte und willkürliche Unterdrückung. Meine Damen und Herren, das sind nicht die üblichen Demonstrationen und Streiks, die wir derzeit im Iran erleben. Der Iran steht heute am Rande einer Revolution und das Mullah-Regime der Islamischen Republik am Rande des Zusammenbruchs. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Abgeordnete Gökay Akbulut das Wort. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Tagen demonstrieren im Iran Bürgerinnen und Bürger, allen voran sehr mutige Frauen und Mädchen, gegen das theokratische Regime des Landes. Sie gehen auf die Straße gegen die Repression der Ajatollahs, gegen die Brutalität der Sittenwächter, für ihre Freiheit und Menschenrechte. Die Ermordung der Kurdin Jina Mahsa Amini hat zu landesweiten Protesten geführt, die blutig niedergeschlagen werden. Mindestens 76 Tote und über 1 500 Verhaftungen gibt es schon. Diese Staatsgewalt verurteilen wir aufs Schärfste. ({0}) Wir bekommen nur einen Bruchteil der Geschehnisse mit, weil die Medien und das Internet im Iran eingeschränkt bzw. gleichgeschaltet sind. Die Gewaltexzesse gegen friedliche Demonstrationen müssen aber unverzüglich beendet werden. Jeder einzelne Todesfall muss von den Behörden aufgeklärt werden. Dafür brauchen wir eine unabhängige internationale Untersuchungskommission – eine UN‑Menschenrechtskommission mit zivilen Vertreterinnen und Vertretern, die diese ganzen Fälle untersuchen müssen. Das fordern auch die Aktivistinnen und Aktivisten sowie die Zivilgesellschaft und die NGOs vor Ort. ({1}) Ich finde es gut, dass in Deutschland und in anderen Ländern viele Menschen auf die Straße gehen, um sich mit den mutigen Frauen im Iran zu solidarisieren. Als Bundestagsabgeordnete mit kurdischer Migrationsgeschichte weiß ich, wie wichtig Solidarität in solchen Zeiten ist. Die deutsche Realpolitik führt unter der Ampelkoalition weiterhin einen Kuschelkurs gegenüber Autokratien: gegenüber dem Mullah-Regime, das Frauen unterdrückt, gegenüber Erdogan, der Kurdinnen und Kurden mit chemischen Waffen bekämpft, gegenüber den Saudis, die im Jemen jahrelang Zivilisten bombardiert haben. Erdogan möchte man als NATO-Verbündeten nicht verlieren; außerdem soll er ja die Flüchtlinge aus Europa fernhalten. Saudi-Arabien ist wichtiger Energielieferant. Und bei dem Mullah-Regime im Iran fürchtet man eine Gefährdung der Neuauflage des Atomabkommens. Im Großen und Ganzen geht es hier wieder um Profite und geostrategische Interessen. Aber so darf es nicht weitergehen. ({2}) Die mutigen Frauen im Iran brauchen unsere Solidarität. Frau Baerbock hat nach ihrem Amtsantritt eine feministische Außenpolitik angekündigt. Auch wenn Sie in Ihrer Außenpolitik inzwischen von „Kriegsmüdigkeit“ sprechen, wäre jetzt die Zeit, unter Beweis zu stellen, dass Sie es mit dem Feminismus wirklich ernst meinen. Handeln Sie endlich! ({3}) Meine Damen und Herren, die Repressionen des Regimes in Teheran sind auf einem Höhepunkt. Amnesty International hat recherchiert, dass im ersten Halbjahr 2022 im Iran mindestens 251 Menschen hingerichtet wurden, oftmals nach grob unfairen Gerichtsverfahren. Tausende Menschen wurden in den vergangenen Jahren strafrechtlich verfolgt und willkürlich inhaftiert. Deshalb brauchen wir Schutz und Aufnahme für Menschen, die vor dem Regime im Iran fliehen. ({4}) Derzeit liegt die Schutzquote bei den Asylverfahren von Iranerinnen lediglich bei 30 Prozent. Und stellen Sie sich einmal vor: Laut „taz“ hatte die bayerische Polizei in einem Fall einer Iranerin das Kopftuch aufgezwungen, um sie ordnungsgemäß abschieben zu können. 2017 meinte das Verwaltungsgericht Nürnberg, dass die Strafverfolgung im Iran wegen Verstoßes gegen Kleidervorschriften nicht asylrelevant sei; das habe keine politische Bedeutung. Mich macht so etwas angesichts der Entwicklungen im Iran einfach fassungslos. ({5}) Die geschlechtsspezifische Unterdrückung von Frauen im Iran muss hier in Deutschland als Asylgrund anerkannt werden, und es darf keine Abschiebungen in den Iran geben. ({6}) Meine Damen und Herren, die aktuellen Proteste im Iran hatten in der Provinz Kurdistan-Rojhelat ihren Anfang und haben sich im gesamten Land verbreitet. Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass es die mutigen kurdischen Fraueneinheiten der YPJ sind, die in der gesamten Region für die Befreiung der Frauen kämpfen und große Opfer bringen. Die Parole der kurdischen Frauenbewegung „Jin, Jiyan, Azadi“ – übersetzt: „Frauen, Leben, Freiheit“ – hat weltweit Zuspruch gefunden. Unter diesem Slogan legen Frauen ihre Kopftücher ab und schneiden sich aus Protest die Haare, weil sie zeigen wollen: Sie wollen leben, sie wollen in Freiheit und selbstbestimmt leben. Ich bin beeindruckt vom Kampf meiner Schwestern im Iran und in Kurdistan und möchte ihnen meine internationalistischen und feministischen Grüße senden. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Omid Nouripour das Wort. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hadis hat letzte Woche eine Demonstration in Teheran besucht. Hadis ist eine junge Frau, die auf die Demonstration gegangen ist, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und weil sie gegen die Ermordung von Jina Mahsa Amini protestieren wollte. Hadis Najafi hat auf dem Weg zu dieser Demonstration noch eine Videobotschaft für eine Freundin hinterlassen. Sie sagte: Ich bin nervös, weil alle wissen, was denjenigen, die protestieren, blüht. – Aber sie sagte auch: Ich bin froh, dass ich da hingehe. Jetzt protestieren wir. Hoffentlich ändert sich dadurch in ein paar Jahren etwas in diesem Land, und wir können wieder atmen. – Wenige Stunden später ist sie tot. Sechs Kugeln hatte sie in ihrem Körper. Sie wurde einfach niedergeschossen. Das, was da passiert, ist nicht neu. Dass die Rechte der Frauen im Iran unterdrückt werden, ist uralt. Seit 43 Jahren wird dieses Vorgehen auch noch staatlich organisiert. Dass Leute auf die Straße gehen und protestieren, ist nicht neu. Sie gehen auf die Straße wegen der Unterdrückung der Frau, wegen Korruption, wegen Luftverschmutzung, wegen fehlender Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern, wegen gefälschter Wahlen. Die Antwort des Regimes ist seit Jahrzehnten immer nur dieselbe: Es ist die rohe Gewalt. Und das ist der Grund, warum jetzt die Leute gegen das gesamte Regime auf die Straße gehen. Neu ist auch nicht, dass Frauen die Proteste tragen. Neu ist, dass sie sie jetzt anführen. Vor diesem unglaublichen Mut dieser Frauen, die vor Sicherheitsleuten mit einer Knarre in der Hand das Kopftuch abziehen und ihnen ins Gesicht schreien, dass sie sich das nicht mehr bieten lassen, kann man nur auf die Knie fallen. ({0}) Es ist auch nicht neu, dass wir uns in diesem Hohen Hause leider mit diesen Missständen im Iran beschäftigen müssen. Wir Grüne haben in der letzten Legislaturperiode einen Antrag initiiert, und ich bin sehr dankbar gewesen, dass wir Zustimmung erhalten und einen gemeinsamen Antrag der Großen Koalition, der FDP und der Grünen verfasst haben. Der Menschenrechtsausschuss hat diese Woche auch einen gemeinsamen Beschluss gefasst mit einer sehr klaren Verurteilung – auch dafür einen Riesendank. Es haben leider nicht alle zugestimmt; ich will nicht wissen, warum. Unbenommen davon ist es natürlich unser aller Aufgabe, diesen Leuten, diesen mutigen Frauen jetzt beizustehen. Was man jetzt im Iran lernen kann, ist nicht nur inspirierend für alle, die Demokratie verteidigen, weil es uns zeigt, was Freiheit und Demokratie wert sind. Kollege Djir-Sarai hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Leute, die Unfreiheit erlebt haben, wissen, was Freiheit wert ist. Ich kann nur hoffen, dass man nicht erst diese Erfahrung machen muss, um diese Wertigkeit auch zu kennen. Aber was wir gerade im Iran erleben, ist ja, dass die Männer begreifen: Da, wo Frauenrechte unter die Räder kommen, kommen Menschenrechte aller unter die Räder. – Deshalb gehen sie mit auf die Straße. ({1}) Deshalb bin ich so dankbar, dass sich die Außenministerin nicht nur dieser Tage mit diesem Thema beschäftigt und darum kümmert, dass der Druck erhöht wird. Ich bin nicht nur dafür dankbar, dass die feministische Außenpolitik in den Mittelpunkt ihrer Politik rückt. Bei jeder Reise ist das ein großes Thema; das ist, glaube ich, für alle, die es sehen wollen, sehr sichtbar. Ich bin auch dankbar, weil so viele Leute in diesem Land das sehen, sich davon berühren lassen und das machen, worum die Frauen im Iran bitten. Ich persönlich – es geht hier einigen so – habe so viele Zuschriften bekommen, so viele Posts von Frauen – nicht nur, aber vor allem von Frauen –, die sagen: Gerade jetzt, wo das Internet abgestellt wird, seid meine Stimme! – Bei aller Notwendigkeit, im politischen Raum Druck zu machen, bei aller Notwendigkeit, institutionell, im EU‑Rahmen, alles dafür zu tun, damit wegen der Lage vor Ort weitere Sanktionen beschlossen werden, haben wir auch die Verpflichtung, alles dafür zu tun, damit diese mutigen Frauen nicht vergessen werden. ({2}) Denn die internationale Aufmerksamkeit, die wir hier aufbringen müssen, ist sehr oft der einzige Schutz, den diese Frauen haben, und dieser ermutigt sie auch. Sie gehen natürlich aus purer Verzweiflung auf die Straße – ohne Angst, weil sie diese Angst nach all den Rückschlägen der letzten Jahre verloren haben. Aber sie wollen natürlich auch gesehen werden, weil sie wissen, dass sie nicht alleine sind. Dieses Gefühl müssen wir aufrechterhalten; denn das ist ein Baustein – vielleicht ein kleiner, aber ein Baustein –, den wir geben können, damit das, was Hadis Najafi sich gewünscht hat, am Ende des Tages auch kommt, nämlich Veränderungen. Das Regime selbst ist zu Reformen schon lange nicht mehr imstande. Es ist Zeit, dass die Bevölkerung das jetzt macht. Dabei sollten wir ihr beistehen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich finde es gut, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag mit diesem Thema beschäftigen, dass wir nicht nur draußen darüber sprechen – so wie gestern bei den Demonstrationen, bei den Kundgebungen –, sondern auch hier im Deutschen Bundestag, im Parlament, wo die Debatte hingehört. Auch hier sollten wir der Lage der iranischen Frauen gedenken. Warum? Weil viele von uns gestern überparteilich erst beim Deutschen Frauenrat, am Nachmittag auch bei HAWAR.help und bei unterschiedlichen Veranstaltungen waren und weil wir einfach gespürt haben – es wurde eben schon angesprochen –, dass wir auf Demonstrationen gehen und skandieren konnten, dass wir die Geschichten nacherzählen konnten, dass uns aber eines von den Frauen im Iran unterscheidet: Unsere Demonstrationen gestern haben natürlich überhaupt keinen Mut erfordert. Es ist eine Selbstverständlichkeit, in unserem Land auf die Straße zu gehen. Für uns alle ist es auch eine Selbstverständlichkeit, so gekleidet auf diese Demonstrationen zu gehen, wie wir gekleidet sein wollen. Deshalb möchte ich auch im Namen unserer Fraktion all den mutigen Frauen, die, wenn sie auf eine Demonstration gehen, eben nicht wissen, ob sie abends wieder nach Hause kommen – die Geschichten wurden ja erzählt –, wirklich noch einmal ganz herzlich danken. ({0}) Wir alle, die wir heute hier sind, kennen die Geschichte von Jina Mahsa Amini; aber ich möchte es trotzdem noch einmal plastisch vor Augen führen. Sie war mit ihrem Bruder in Teheran zu Besuch. Sie wurde am 13. September von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen, weil ihr Hidschab, ihr Kopftuch, zu locker gewesen sei; man hätte ja Haare sehen können. Die Vorstellung, dass das ein Grund ist, jemanden zu Tode zu foltern, ist vielleicht gerade für die jungen Menschen auf der Tribüne unfassbar. Wenige Stunden später ist sie mit schweren Kopfverletzungen ins Koma gefallen und im Polizeigewahrsam gestorben – mit 22 Jahren. Wir schreiben das Jahr 2022. Blicken wir 43 Jahre zurück – das ist eine Zeit, wo viele, die jetzt hier im Bundestag sind, noch gar nicht auf der Welt waren – ins Jahr 1979, als die UN‑Vollversammlung in New York das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die sogenannte Frauenrechtskonvention, verabschiedet hat. Der Iran ist natürlich keiner der 186 Staaten, die das Ganze ratifiziert haben. Wenn man überlegt, dass seit 1979 dieses theokratische System den Iran beherrscht, dann hoffe ich, dass der Tod von Jina Mahsa Amini dazu beiträgt, dass dieses Regime endlich gebrochen werden kann. ({1}) Es sind nicht nur die brutalsten Handlungen der Unterdrückung im Iran, die wir jetzt sehen. Warum hat das Ganze das jetzt ausgelöst? Weil es gesehen wird, weil es Bilder gibt. Es ja nicht der erste Fall und kein Einzelfall. Die iranische Justiz rechtfertigt für freiheitliche Nationen unvorstellbare Gräuel: Es gibt Hinrichtungen von Frauen, es gibt Steinigungen, es gibt Ehrenmorde, es gibt Folter, es gibt Missbrauch, häusliche Gewalt, Kinderehen – all das gehört zum Alltag im Iran. Das heißt: Frauenfeindlichkeit per Gesetz. Die Menschen kämpfen für die Freiheit, für ihre Rechte, für die Rechte der Frauen – aber ehrlicherweise nicht nur für die Rechte der Frauen, auch für Menschen, die anders leben, und für Menschen, die anders lieben. Die Frauen, die auf die Straße gehen, ihre Kopftücher verbrennen, sich ihre Haare schneiden lassen, sind gestern auch auf uns zugekommen und haben gesagt: Seid bitte für unsere Verwandten vor Ort die Stimme! Seid ihr die Bilder, seid ihr das Internet, das wir momentan nicht haben! Sehr geehrte Frau Bundesaußenministerin, ich persönlich, aber auch viele in meiner Fraktion finden es sehr gut, dass es auch eine feministische Außenpolitik gibt. ({2}) Ich finde schon, dass die Gewalt im Iran der Lackmustest der feministischen Außenpolitik ist, gerade bei den Frauen im Iran. Mir hat schon wehgetan, dass gestern bei den Demonstrationen – das sind auch Ihre Unterstützerinnen und Unterstützer – Schilder hochgehalten wurden, auf denen gefragt wird: Wo ist denn jetzt die feministische Außenpolitik? – Ronya Othmann hat in der „FAZ“ in ihrem Brief „Für Jina“ geschrieben: Und bei all dem Gerede über feministische Außenpolitik, wo ist die feministische Außenpolitik, wenn man sie braucht? Mögen den schönen Worten Taten folgen. Das unterstreiche ich. ({3}) Sie haben uns an Ihrer Seite. Es muss dringend Taten geben. Es muss personenbezogene Sanktionen geben, dass sich die Sittenwächter, die im Iran kraft Amtes morden und foltern, nicht mehr hier aufhalten können, dass sie nicht mehr von ihren satten Bankkonten zehren können. Es muss eine neue Iran-Strategie der Bundesregierung geben. Ich möchte mich da meinem Kollegen der FDP anschließen. Ich bin dankbar und würde mich wirklich freuen, wenn Ihre Rede zum Maßstab der Bundesregierung werden würde, damit dieses dröhnende Schweigen, das wir zwei Wochen gehört haben, beendet wird. ({4}) Dann haben Sie uns an Ihrer Seite. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Nils Schmid das Wort. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Frau, Leben, Freiheit“, mit diesen Rufen sind viele Tausende mutige Frauen auf der Straße in vielen Städten des Irans. Sie kämpfen gegen die strukturelle Unterdrückung. Sie kämpfen für die Freiheit, und sie beweisen einmal mehr und rufen uns allen auch in Deutschland in Erinnerung: Frauenrechte sind Menschenrechte. Wenn Frauen für ihre Rechte auf die Straße gehen, kämpfen sie immer auch für die Rechte und Freiheitsrechte der Männer, nicht nur für die der Frauen. ({0}) Sie kämpfen für die Freiheit der Gesellschaft, für Bürgerinnen- und Bürgerrechte. Deshalb ist der Zustand der Frauenrechte immer auch der Maßstab für den Zustand der Menschenrechte in einer jeden Gesellschaft und einem jeden Staatswesen. Wir müssen leider festhalten, dass der Iran, die Islamische Republik Iran, trotz aller Bemühungen, Frauen beispielsweise in Bildung und Ausbildung nach vorne zu bringen, strukturell frauenfeindlich und damit auch strukturell menschenrechtsfeindlich ist. Deshalb ist richtig, dass die feministische Außenpolitik – so wie die Außenministerin sie formuliert hat – an die Strukturen im Iran und in anderen Staaten und Gesellschaften dieser Welt geht. Deshalb kann ich den Vorwurf, Frau Bär, nicht nachvollziehen, es würde ein dröhnendes Schweigen aus der Bundesregierung geben. Sowohl der Kanzler als auch die Außenministerin haben sich klar auf die Seite der Frauen im Iran geschlagen, und wir unterstützen sie uneingeschränkt. ({1}) Auf Kurdisch lautet der Ruf: „Jin, Jiyan, Azadi“; Frau Akbulut hat die Freundlichkeit gehabt, es sogar aufs T‑Shirt zu schreiben und hier zu präsentieren. Durch diese Formulierung ist aber auch eines angezeigt: Der Iran ist ein Vielvölkerstaat. Trotz der zur Schau gestellten Toleranz, wie sie uns über Regierungsmedien immer wieder präsentiert wird, ist auch die Unterdrückung von kulturellen Rechten, von sozialen Rechten Programm in der Islamischen Republik. Diese strukturelle Unterdrückung von Vielfalt spielt rein in ein strukturell freiheitsfeindliches Regime. Das ist ein Grund mehr, die Freiheits- und Demokratiebewegung im Iran voll zu unterstützen. Was heißt jetzt Unterstützung? Natürlich heißt es – das sollten wir nicht gering achten – Solidarität; Solidarität, die wir zum Ausdruck bringen durch die parteiübergreifende Debatte hier im Parlament, die wir zum Ausdruck bringen durch Äußerungen bei Demonstrationen, auf diplomatischen Kanälen, zum Beispiel durch die Einbestellung des iranischen Botschafters oder durch Äußerungen in New York. Aber es geht auch um konkrete Maßnahmen, die wir treffen. Wir sorgen erstens dafür, dass es im UN-Menschenrechtsrat vorgebracht wird. Wir sorgen zweitens dafür, dass persönliche Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Unterdrückung im Iran von der EU verhängt werden. Wir haben dazu Mechanismen; die müssen im Falle des Polizeichefs von Teheran und anderer Verantwortlicher jetzt unbedingt angewandt werden. Es geht um persönliche Sanktionen, um die Einschränkung bei der Visavergabe für Verantwortliche des Regimes. Es kann ja nicht sein, dass sie einfach nach Europa reisen können oder gar ihre Kinder hier studieren können. Ich will aber – drittens – eine weitere konkrete, aus meiner Sicht unbedingt erforderliche Reaktion nennen. Es gibt erfolgreiche Beispiele, wie das Auswärtige Amt und andere Regierungen zusammenarbeiten, um Menschenrechtsverstöße und Verbrechen zu dokumentieren. Hinsichtlich Belarus haben wir beispielsweise einen solchen Mechanismus etabliert. Ich glaube, wir sollten dies jetzt mit unseren Partnern in der EU gemeinsam formal etablieren. Die Verbrechen, die das iranische Regime Tag für Tag begeht, müssen umfassend dokumentiert und festgehalten werden, um eine mögliche Strafverfolgung der Verantwortlichen zu gewährleisten. ({2}) Ich will ein letztes Beispiel nennen, wo wir konkret ansetzen können. Es ist verschiedentlich die Internetzensur angesprochen worden, also der beschränkte Zugang zu Informationen für die iranische Bevölkerung. Warum richten wir mit EU‑Mitteln nicht einen Fonds zur Ausweitung der technischen Möglichkeiten ein, um solche Internetzensurmaßnahmen im Iran zu umgehen? Ich glaube, das wäre ein guter Ansatzpunkt, wo die EU ganz konkret zeigen könnte, dass sie an der Seite der Frauen und Männer im Iran steht. Ich fände es gut, wenn eine solche Initiative von der EU auf den Weg gebracht würde. Damit könnten wir zumindest unseren Beitrag von außen dazu leisten, die Freiheit im Iran voranzubringen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Renata Alt für die FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine Frau geht auf die schwerbewaffneten Spezialkräfte zu, mit erhobenem Kopf, gestrafften Schultern, um einer anderen Frau den Arm um die Schulter zu legen, die alleine von Dutzenden Spezialkräften umringt ist, solidarisch, couragiert, furchtlos, Frauen, die ihr Kopftuch verbrennen, sich aus Protest die Haare abschneiden als Symbole der Unterdrückung des ultrakonservativen Regimes – das sind die Bilder aus dem Iran, die sich mir, die sich uns in diesen Tagen ins Gedächtnis einbrennen: die mutigen iranischen Frauen. Auf den Plätzen Teherans skandieren wütende Menschen: Frauen, Leben, Freiheit! Und dann gibt es die anderen Bilder, Bilder von Gewalt gegen die Protestierenden, Bilder der Brutalität und Grausamkeit gegen die eigene Bevölkerung. Das iranische Regime hat damit eine Grenze überschritten. Auch wir Freie Demokraten verurteilen diese unmenschlichen Handlungen aufs Schärfste. ({0}) Die Rechte der Frauen sind immer wieder Spielball von Männern, die starke Frauen fürchten; Spielball von Männern, die versuchen, Frauen mit mittelalterlichen Institutionen wie einer Sittenpolizei kleinzuhalten. Dass Frauen sich nicht kleinhalten lassen, sieht man an den mutigen Frauen im Iran. Diese kämpfen entschlossen für ihre Rechte. Sie haben keine Angst mehr. Auch wir dürfen keine Angst haben, gegen das iranische Regime klar Position zu beziehen. ({1}) Die Menschen im Iran kämpfen für Freiheit und Selbstbestimmung, für ihre Menschenwürde. Wir müssen ihnen solidarisch zur Seite stehen und sie bei diesem Kampf zu unterstützen! Die gestrige Demo am Brandenburger Tor war das Mindeste, wo wir ein Zeichen setzen konnten, dass wir die iranischen Frauen unterstützen. Die Sehnsucht nach der Freiheit ist bei den Iranerinnen und Iranern nach 43 Jahren Unterdrückung so groß, dass sie dafür alles, sogar ihr eigenes Leben riskieren. Jina Mahsa Amini hat für das Zeigen ihrer Haare mit ihrem Leben bezahlt. Sie wäre vor einer Woche 23 Jahre alt geworden. Ihr grausamer Tod ist aber nur die Spitze des Eisbergs der Menschenrechtsverletzungen im Iran. Die Todesstrafe dient im Iran als regelmäßiges Instrument der Unterdrückung, auch bei Minderjährigen, basierend auf Geständnissen, die unter Folter erzwungen wurden. Auch das Kopftuch ist zum Symbol breiter Unterdrückung im Iran geworden. Es ist viel mehr als eine Bedeckung der Haare. Es steht dafür, dass man nicht frei wählen darf, dass man seine Meinung nicht sagen darf, dass man nicht die Musik hören darf, die man hören möchte, dass man keine politische Teilhabe und Repräsentanz hat. Es ist auch das Symbol für die nicht vorhandenen Rechte der Minderheiten. Meine Damen und Herren, die westliche Welt darf bei diesem barbarischen Treiben des Mullah-Regimes nicht nur zuschauen. Alle Demokraten weltweit sollten jetzt handeln und das iranische Volk, bei dem sich die ganze Wut und Verzweiflung entlädt, unterstützen. ({2}) Die Regierung im Iran plant Sondergerichte, die hart gegen die Protestierenden vorgehen sollen. Die Protestierenden dürfen nicht mit Vergewaltigern und Schwerverbrechern gleichgestellt werden. Junge Mädchen, Frauen und alle im Iran, die sich seit Jahren nach einem Leben in Freiheit sehnen, brauchen jetzt unsere Hilfe. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Proteste blutig niedergeschlagen werden! Deutschland muss jetzt handeln. Warme Worte der Unterstützung – die Kollegen haben es schon gesagt – reichen nicht mehr. Die internationale Gemeinschaft muss vereint gegen die Tötung und Folter von Protestierenden im Iran vorgehen. Die Ereignisse im Iran müssen auf die Tagesordnung des UN-Menschenrechtsrates. ({3}) Es braucht schnellstmöglich gezielte, mit unseren demokratischen Partnern abgestimmte Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die gravierenden Menschenrechtsverletzungen und die groben Verstöße gegen das internationale Recht: für die Frauenrechte, für die Menschenrechte und für all die Iranerinnen und Iraner, die sich so tapfer dafür einsetzen. Tun wir jetzt alles dafür, dass ein politischer Wandel und die langersehnte Freiheit für alle im Iran endlich Wirklichkeit werden kann! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meinen Beitrag dazu nutzen, mich nicht mit Begriffen, sondern mit der Politik der Außenministerin seit der Ermordung von Frau Mahsa Amini zu beschäftigen. Ich möchte mich mit den Taten, mit den Realitäten in den vergangenen zwei Wochen beschäftigen. Zu diesen Realitäten, zu Ihrer Politik, die Sie betreiben, haben Sie heute in Ihrer Rede wenig gesagt, sehr geehrte Frau Außenministerin. Darum möchte ich das tun. Zu den Tatsachen Ihrer Politik zählt, dass Sie tagelang nach der Ermordung nichts gesagt haben. ({0}) – Nein, schütteln Sie nicht mit dem Kopf. Sie haben tagelang nichts gesagt. ({1}) Wenn das nicht der Fall ist: Bitte korrigieren Sie mich. Das erste Mal haben Sie dazu öffentlich etwas in New York am Rande der UN-Generalversammlung gesagt; da haben Sie zum ersten Mal etwas dazu gesagt. Alle Sätze, die Sie dort gesprochen haben, waren richtig. Alle Sätze, die Sie dort gesprochen haben, waren harmlos. Es ist bislang nichts gefolgt. Sie sind bei den Sanktionen immer noch im Prüfstadium; keine Konsequenzen. In der Sprache hören wir das Minimum des Notwendigen, was man als demokratische Politikerin sagen muss, kein bisschen mehr. Das ist Politik. Politik wird aus dieser Leisetreterei, dem Kleinlauten, wenn man über die Gründe spricht, warum Sie sich so verhalten. Ich unterstelle Ihnen überhaupt nicht, dass wir nicht völlig übereinstimmen; das ist ja klar. Aber es gibt dafür einen Grund, und den müssen Sie auch benennen. Da müssen Sie auch transparent im Parlament sein. Der Grund ist das Nuklearabkommen, der sogenannte JCPoA. Die Politik der Bundesregierung ist, dass Sie sich, um dieses Ziel, das Nuklearabkommen, nicht zu gefährden – es hängt sowieso in der Schwebe, es ist fast schon tot, aber es ist noch nicht wirklich tot –, dazu entschieden haben, gegenüber dem Regime zurückhaltend zu sein. Sie haben Angst: Wenn wir voll auf der Seite der Frauen stehen, dann stehen wir voll gegen das Regime. ({2}) Diese Kritik wollen Sie nicht einstecken, um das andere Ziel nicht zu gefährden. Das ist Ihre Politik. ({3}) Ich finde, über diese Politik müssen wir reden. Wir müssen darüber reden; denn das Ziel, das Sie verfolgen, das Nuklearabkommen doch noch zu verwirklichen, auch wenn es der Iran vielleicht nicht will, ist ein richtiges Ziel. Aber ich glaube, Sie haben einen schweren Fehler gemacht. Der schwere Fehler liegt darin, dass Sie sich dazu haben verleiten lassen, wegen des einen Ziels, nämlich des Nuklearabkommens, bei dem anderen Ziel, an der Seite der unterdrückten und protestierenden Frauen zu stehen, einen Kompromiss zu machen. ({4}) Diese Verquickung ist ein schwerer politischer Fehler. ({5}) Wir müssen für beides sein, für das Nuklearabkommen und unbedingt für die Rechte der Frauen im Iran eintreten, und dürfen keine Rücksicht auf das Regime nehmen. Das ist die richtige Außenpolitik. ({6}) Ich möchte begründen, warum diese Politik richtig ist, und ich möchte an Sie appellieren, zu dieser Politik zu kommen. Es ist ein Teil unseres außenpolitischen Selbstverständnisses, dass wir für Realismus sind, dass wir für Interessen sind, dass wir auch Kompromisse machen – gar keine Frage. Aber wir müssen genauso klarmachen, dass es ein Thema gibt, bei dem wir keine Kompromisse machen: Wir sind nicht bereit, uns selbst zu verleugnen. Wenn Freiheit und Würde von Frauen, von Menschen, die sich gegen ein Unterdrückungsregime wehren, unterdrückt werden, dann sind wir unmissverständlich an ihrer Seite. ({7}) Das ist unser außenpolitisches Selbstverständnis, und das müssen Sie nicht durch Worte und wohlfeile Reden bekräftigen, sondern Sie müssen es durch Taten praktizieren. Das müssen Sie tun. ({8}) Es ist auch eine falsche Iran-Politik. Die junge Generation, die dieses Regime satt hat und die jetzt unter der Führung der Frauen für ihre Freiheit und Würde kämpft, ist die Zukunft des Iran und nicht dieses Regime. Indem Sie so stark auf den JCPoA setzen, sagen Sie auch implizit, unausgesprochen, dass Sie auf das Regime als Verhandlungspartner auch in der Zukunft setzen. Sie entmutigen die protestierenden Frauen, indem Sie nur auf dieses Abkommen setzen. ({9}) – Wir müssen diese Kontroversen führen. ({10}) Sie müssen über konkrete Politik reden. Wir stimmen in den Grundwerten überein – das bestreite ich nicht –, aber Sie machen keine konkrete Politik, die an Ihren Reden orientiert ist. ({11}) Es besteht eine Kluft zwischen Reden und Handeln. Das müssen Sie sich gefallen lassen. Wir werden beim Regime nichts erreichen; denn Sie haben dem Regime eine bestimmte Erfahrung vermittelt. Ich glaube, das Regime ist überwiegend entschlossen, mit den Hardlinern, die da jetzt regieren, die Atomwaffe zu erwerben. Das Regime ist der Destabilisierungsfaktor der Region. Das Regime stattet Russland im Krieg gegen die Ukraine mit Drohnen aus. Und Sie haben diesem Regime jetzt folgende Erfahrung vermittelt: Wenn wir weiter auf Zeit spielen, wenn wir dieses Abkommen in der Schwebe lassen, dann haben wir einen Trumpf in der Hand; denn wir stellen fest, dass die europäischen Regierungen – auch die deutsche Regierung – dann noch Rücksicht auf uns nehmen. – Sie haben dieses Regime in seiner Politik, dieses Abkommen in der Schwebe zu halten und nicht zu verwirklichen, bekräftigt. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege!

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einen letzten Satz. – Die USA haben 2009 einen vergleichbaren Fehler gemacht. Es gab eine vergleichbare Situation, und sie haben sich aus einem anderen außenpolitischen Grund für Zurückhaltung entschieden. ({0}) Jake Sullivan war ein Mitarbeiter von Hillary Clinton, die damals verantwortliche Außenministerin war. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Röttgen!

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jake Sullivan hat in diesen Tagen erklärt: Wir haben damals einen Fehler gemacht, ({0}) und wir haben gelernt – ich zitiere das, und dann höre ich auf –, ({1}) dass es für die USA das Wichtigste ist, standfest, klar und prinzipiengeleitet zu sein, ({2}) wenn Bürger, egal in welchem Land, ihre Rechte und ihre Würde einfordern. Standfest, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Röttgen, bitte.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– klar und prinzipiengeleitet – das wünschen wir uns von der deutschen Außenpolitik. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Kaddor das Wort. ({0})

Lamya Kaddor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005095, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob wir heute in diesem sicheren Land, an dieser sicheren Stelle, in dieser sicheren Herzkammer unserer Demokratie, wirklich nachempfinden können, was uns die Bilder aus dem Iran zeigen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob auch ich mir wirklich vorstellen kann, wie es sich anfühlt, wegen eines verrutschten Kopftuchs festgenommen zu werden oder wenn meine Tochter nach einem Spaziergang mit ihren Freundinnen im Park nicht nach Hause kommen und sich dann herausstellen würde, dass ihr T‑Shirt verrutscht war, sodass ein Stück ihres Rückens sichtbar wurde, und eine sogenannte Religionspolizei, in der übrigens offensichtlich auch Frauen tätig sind, sie deshalb in Gewahrsam festhält. Das ist natürlich unvorstellbar. Welche Ängste, Kämpfe, Hoffnungen, Erschütterungen die iranischen Frauen dieser Tage durchstehen – auch ich vermag es nur zu erahnen. Trotzdem rufe ich ihnen zu: Wir sehen, was ihr aushaltet. Wir sehen, wie ihr leidet. Und wir sind an eurer Seite. ({0}) Für Schlagen, Knüppeln, Anbrüllen, Foltern und Erschießen gibt es keine Rechtfertigung – nirgends, niemals, egal von wem und mit welcher Begründung. Daher verurteile ich von dieser Stelle des Hohen Hauses, dem Deutschen Bundestag, das Vorgehen des iranischen Regimes aufs Schärfste. Ich prangere seine Menschenrechtsverletzungen an und rufe ihnen zu: Hören Sie auf, Frauen anzugreifen! Hören Sie auf, ihnen das Leben zur Hölle zu machen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schicksal der Frauen und Mädchen rührt uns besonders an. Aber es geht um noch viel mehr. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der Misswirtschaft, der Korruption durch das Regime in Teheran ist dieser Tage erneut ersichtlich, wie groß der Widerstand in der iranischen Gesellschaft insgesamt ist. Wer nicht auf Linie des Regimes ist, ist dagegen. So einfach stellt sich das im Moment dar. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste von 2019 setzen die Iranerinnen und Iraner erneut ihr Leben aufs Spiel. In dieser Stunde geht es für uns einerseits darum, sich mit den Menschen, die im Iran seit dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini vor elf Tagen auf die Straße gehen, zu solidarisieren, und andererseits darum, dem Regime in Teheran eine eindeutige Nachricht zukommen zu lassen, nämlich: Die Gewalt gegenüber Demonstrantinnen und Demonstranten wird Konsequenzen haben. Unsere Außenministerin hat das gerade sehr deutlich gemacht. Sie hat den iranischen Botschafter ins Auswärtige Amt bestellt und arbeitet mit Hochdruck an weiteren EU-Sanktionen. Briefe wie der von der Frauen Union der CDU, in dem die Ministerin zum Handeln aufgerufen wird, sind daher doch befremdlich; denn im Grunde genommen hat sie all das gemacht, was Sie von ihr verlangt haben. ({1}) – Richtig. ({2}) Die Außenministerin sagte – ich wiederhole sie hiermit –: Die Proteste im Iran zeigen einmal mehr, warum eine feministische Außenpolitik den Unterschied macht; denn wenn Frauen wie Jina Mahsa Amini wegen unmoralischer Kleidung nicht sicher sind, dann ist keiner in der Gesellschaft sicher. – Genau so ist es; so verhält es sich leider seit Jahrzehnten im Iran. Es herrscht Willkür. Die selbsternannten Sittenwächter wollen entscheiden, was islamisch und was nicht islamisch ist. Berichte von Gewaltanwendungen und Folter im Gewahrsam der angeblichen Sittenpolizei sind die Regel, nicht die Ausnahme. Dass Jina Mahsa Amini mutmaßlich wegen der Verhaftung durch diese Leute verstarb, überrascht niemanden. Es zeigt einmal mehr, dass Gewalt zur Kontrolle der Menschen für die Anhänger des Mullah-Regimes ein legitimes Mittel ist. Ihr Ziel: eigene Macht und Privilegien erhalten. Und so geht es den Demonstranten und Demonstrantinnen eben nicht primär um den Kopftuchzwang im Iran, wie manche hier behaupten. Die Proteste wenden sich vielmehr gegen eine brutale Herrschaft, die zudem das Land isoliert und es durch Korruption und Kriege heruntergewirtschaftet hat. Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Proteste nicht diskutieren, ohne die destabilisierende Wirkung und Rolle des Irans in der Region zu erwähnen. ({3}) Im Irak, im Libanon, in Syrien, im Jemen unterstützt Teheran direkt oder indirekt gewaltbereite Akteure. Sie bedrohen die Sicherheit Israels und anderer Staaten in dieser Region. Die russische Armee hat zuletzt vermehrt Drohnen iranischer Produktion in der Ukraine eingesetzt. Auch das zeigt deutlich, dass das iranische Regime aufseiten des Aggressors steht. Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern müssen wir jetzt handeln. Das aggressive Verhalten der Mullahs führt dazu, dass wir unsere Anstrengungen weiter verstärken sollten. Ich möchte meine heutige Rede mit einem Zitat von Gilda Sahebi beenden. Sie ist Ärztin, Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Deutsche mit iranischen Wurzeln. Sie stellt fest: Eine der weltweit größten feministischen Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte geht vom Nahen Osten aus. Isn’t that something? Darauf kann ich nur entgegen: It is! Und deshalb verdienen diese Frauen unsere größte Anerkennung und Solidarität. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr Dr. Röttgen, Sie haben ja versucht, hier einen Popanz aufzubauen, eine Theorie aufzustellen, die Sie sich ausgedacht haben, und sie hier selbst zu belegen. Als Sie dann über das Nuklearabkommen gesprochen haben, dachte ich, jetzt komme ein Vorschlag oder am Ende, dass Sie sagen, Sie wollten es vielleicht auch gar nicht mehr. Aber Sie wollen wirklich beides, und Sie haben dann gesagt, die Außenministerin und wir alle täten zu wenig im Bereich der Menschenrechtspolitik gegenüber dem Iran. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist – mir jedenfalls ist es aufgefallen –: Sie haben hier nicht an einer Stelle gesagt, zu was Sie die Bundesregierung auffordern, sondern nur einen Popanz aufgebaut. Das kann nicht funktionieren; denn diese Koalition, dieser Teil des Hauses, tut beides: Sie bemüht sich um den Weltfrieden und stellt die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Außenpolitik. Und das ist auch richtig so. ({0}) Wir gedenken heute Jina Mahsa Amini, einer 22 Jahre alten Iranerin, und mit ihr den vielen Tausend anderen bei Protesten in den letzten Jahren und Jahrzehnten Getöteten, Hingerichteten. Was ist das eigentlich für eine Regierung eines Staates, die die eigene Bevölkerung wegen einer Kleiderordnung verhaften, verprügeln und mutmaßlich auch totschlagen lässt? Weltweit und auch hier in Deutschland erinnern wir an diese Proteste und unterstützen wir diese. Interessanterweise sind viele Menschen, die aus dem Iran zu uns gekommen sind, auch in der deutschen Politik: der Parteivorsitzende der Grünen, der Generalsekretär der FDP; wir haben einen Fraktionsreferenten aus dem Menschenrechtsbereich, Arash Sarkohi. Sie sind wahrscheinlich hier, nicht weil es so toll in Deutschland ist – hier ist es natürlich auch toll –, sondern weil sie eben nicht mehr im Iran leben konnten. Deswegen ist das kein vom Westen gesteuerter Protest oder keine vom Westen gesteuerte Revolution – was auch immer da kommt –, sondern das ist die Unterstützung eines Protestes von einem freien Teil der Welt, wo Iranerinnen und Iraner ihre Heimat gefunden haben, weil sie hier offen reden können, weil wir für Freiheit und Offenheit in der Gesellschaft stehen. Deswegen ist es gut, dass wir das hier alle gemeinsam diskutieren können. Wir sollten das nicht untergraben, sondern als Deutscher Bundestag das klare Signal ausstrahlen: Wir stehen an der Seite der Iranerinnen und Iraner, die dort jetzt protestieren. ({1}) Ich will erinnern an Nahid Taghavi und andere, die eigentlich in Deutschland leben und beheimatet sind, aber ab und zu im Iran sind. Nahid Taghavi wurde dort am 16. Oktober des Jahres 2020 verhaftet und ist seitdem in Haft. Ich will auch daran erinnern, dass Vertreterinnen und Vertreter der iranischen Regierung nicht nur im Iran, sondern auch in Deutschland ihr Unwesen treiben und Menschen aus der Opposition, die hier im Exil leben, bedrängen. Ich finde, wir sollten alle gemeinsam genau hinschauen, zusammen mit den deutschen Sicherheitsbehörden, ob das eigentlich sein kann und ob wir da nicht weiter tätig werden können. ({2}) Seit mittlerweile 13 Tagen ebben die Proteste nicht ab. Es gibt nach den Erfahrungen der letzten Jahre unterschiedliche Einschätzungen dazu, wie lange das gehen wird und wie es ausgehen wird. Mein Eindruck ist – das ist das, was ich geschildert bekomme –, dass anders als 2016 und 2019 jetzt alle Schichten dabei sind: Menschen aus großen und aus kleinen Städten, traditionelle und liberale Communitys und auch Menschen, die wir vermutlich als unpolitisch beschreiben würden. Deswegen will ich auch an dieser Stelle Sardar Azmoun und der iranischen Fußballnationalmannschaft danken. Ich finde, angesichts der Debatte, die wir über Katar führen, stünde es der FIFA gut an, sich klar zu positionieren und sich mit der iranischen Fußballnationalmannschaft der Männer zu solidarisieren. ({3}) Die Angst ist bei vielen dem Mut gewichen, zum Teil dem Mut der Verzweiflung. Die Menschen gehen trotz der Erfahrung der brutalen Niederschlagung und 1 500 Toten an drei Tagen im Jahr 2019 jetzt auf die Straße. Frauen – das ist vielfach betont worden – sind die Speerspitze dieses Protestes, unter der Parole „zan, zengedi, azadi“ – Frau, Leben, Freiheit. Deswegen ist es vielleicht ein positiver Nebeneffekt der heutigen Debatte – so habe ich das verstanden –, dass zumindest Teile der Unionsfraktion eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik jetzt ganz gut finden. ({4}) Es geht darum, Menschen in aller Welt, die aus unterschiedlichen Gründen unterdrückt sind, in die Lage zu versetzen, sich für ihre Freiheit, für ihr freies Leben einzusetzen. Das müssen wir aus Deutschland mit aller Kraft unterstützen. ({5}) Ein letzter Satz. Es ist hier von Religion geredet worden. ({6}) Ich finde, man muss sich noch einmal klarmachen: Es ist keine Frage von Religion, wenn Menschen vorgegeben wird, wie sie zu leben haben. Es gibt andere muslimische Länder, die solche Vorschriften nicht kennen. Schon deswegen kann der Bezug auf die Religion nicht richtig sein. Man muss sowohl den Mullahs im Iran als auch der AfD sagen, ({7}) dass es keine Frage von Religion ist, wenn Menschen, wenn Frauen frei leben wollen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die demokratischen Parteien in diesem Haus sind sich einig: Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen, weder in der Ukraine noch bei dem Versuch, mit dem Einsatz von Gas als Waffe unsere westlichen Gesellschaften wirtschaftlich und sozial zu destabilisieren. Denn sein Ziel ist es erklärtermaßen, mit dem Einsatz von Gas als Waffe wirtschaftliche und soziale Unruhen herbeizuführen, die unsere Solidarität mit der Ukraine brüchig machen sollen. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden uns nicht spalten lassen, meine Damen und Herren. ({0}) Die Bundesregierung hat sich fünf Dinge vorgenommen, um Deutschland gut und sicher durch diese wirtschaftlich und sozial herausfordernde Zeit zu führen: Erstens: Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Die Anstrengungen dieser Bundesregierung, vor allen Dingen des Bundeskanzlers und meines Kollegen Robert Habeck, seit Beginn dieser Regierung sind darauf ausgerichtet, dafür zu sorgen, dass wir durch diesen Winter kommen und genug Gas zur Verfügung steht, dass wir weder in die Gasnotfallstufe kommen noch rationieren müssen, und das scheint zu gelingen. Zweitens. Durch Eingriffe in den Strom- und Gasmarkt, mit den heute beschlossenen Maßnahmen, mit dem Abwehrschirm gegen die wirtschaftlichen Folgen dieses Angriffskriegs werden wir dafür sorgen, dass für Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbraucher Gas- und Strompreise in einem erträglichen Maß gehalten werden. Drittens. Mit den Entlastungspaketen im Umfang von insgesamt 100 Milliarden Euro sorgen wir für gezielte Entlastung von Menschen mit unteren und mittleren Einkommen. Viertens. Heute ist auch beschlossen worden, dass wir die Wirtschaftshilfen ausweiten werden, um vor allen Dingen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die durch gestiegene Produktionskosten in Schieflage gekommen sind oder bei denen die Nachfrage wegbricht, zu helfen. Fünftens – damit bin ich bei dem Gesetzentwurf, über den wir heute reden –: Unser Ziel ist und bleibt es, dass wir auch den deutschen Arbeitsmarkt, die deutschen Arbeitsplätze stabil und robust durch diese Krise führen. ({1}) Deshalb habe ich als Bundesarbeitsminister entschieden, dass wir die Verordnungsermächtigung, die der Deutsche Bundestag uns noch bis zum 30. September gegeben hat, nutzen und den vereinfachten Zugang zur Kurzarbeit auch in diesem Winter gewährleisten, um Sicherheit zu geben für die Unternehmen, die Schlagseite bekommen, für die Beschäftigten, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben. Wir haben gestern im Kabinett zusätzlich entschieden, dass wir auch Arbeitnehmerüberlassung, das heißt Leiharbeit, abschirmen werden, weil wir Anzeichen sehen, dass Menschen entlassen werden könnten. Wenn wir Sie als Deutscher Bundestag heute bei diesem Gesetz darum bitten, in diesem Winter der Bundesregierung alle Verordnungsermächtigungen bis zur Mitte nächsten Jahres in die Hand zu geben, dann damit wir Vorsorge treffen für wirtschaftliche Eskalation. Ich hoffe, dass nicht von allen diesen Verordnungsermächtigungen Gebrauch gemacht werden wird. Aber klar ist, meine Damen und Herren: Kurzarbeit hat in der Coronapandemie ermöglicht, dass wir Millionen von Arbeitsplätzen sichern konnten. Sie hat geholfen, dass Unternehmen Fachkräfte an Bord halten konnten, um wieder durchzustarten. Sie hat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert. Deshalb ist ganz klar: In Krisenzeiten gilt es, eine Brücke zu bauen und Sicherheit zu schaffen. Meine Bitte diesem Hause gegenüber ist, dass Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen, um Sicherheit am Arbeitsmarkt zu schaffen. Putin wird diesen Krieg nicht gewinnen, weder wirtschaftlich noch sozial noch militärisch, meine Damen und Herren. Deshalb bitte ich Sie um die wirtschaftliche Unterstützung, die notwendig ist. Danke sehr. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege Maximilian Mörseburg das Wort. ({0})

Maximilian Mörseburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005159, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sowohl die Pandemie als auch die Energiekrise sind in der Lage, Menschen im Land, die Politik und die Gesellschaft als Ganzes bis zum Äußersten zu fordern. Das allein, sehr geehrter Herr Minister Heil, bedeutet aber nicht, dass wir zur Bewältigung beider Krisen dieselben Werkzeuge nutzen können. Auch wenn es gefühlt ähnliche Situationen sind, unterscheiden sie sich insbesondere wirtschaftlich deutlich voneinander. Im ersten Lockdown mussten wir völlig gesunden Unternehmen von einem Tag auf den anderen den Kundenverkehr untersagen. Millionen von Arbeitnehmern hätten innerhalb von kürzester Zeit auf der Straße gestanden, wenn wir sie nicht – vor allem mit dem Kurzarbeitergeld – aufgefangen hätten. Heute hingegen, nach den zwei schwierigen Jahren, finden wir oft bereits angeschlagene Unternehmen vor, die eigentlich produzieren könnten, aber bei denen es sich aufgrund der hohen Energiepreise nicht mehr lohnt, die es sich einfach nicht mehr leisten können. Und da alles so knapp wird, werden die Produkte, die diese produzieren, auch immer rarer und dadurch eben noch teurer. Um diese Spirale zu durchbrechen, dürfen wir unsere Unternehmen jetzt auf keinen Fall dichtmachen lassen. Sie müssen also so lange wie möglich offen gehalten werden, um den Angebotsschock nicht noch weiter zu beschleunigen und um die Nachfrage nach Produkten weiter bedienen zu können. Unternehmen, die, wie Minister Habeck sagen würde, einfach aufhören, zu produzieren, dürfen aber gar keine Kurzarbeit anmelden. Von gestiegenen Energiepreisen betroffene Unternehmen erfüllen nicht die Voraussetzungen zur Anmeldung von Kurzarbeit; das hat auch die öffentliche Anhörung ganz deutlich gezeigt. Und das zeigt Ihnen: Es ist eben nicht dieselbe Art von Notlage, in der wir stecken, weder rechtlich noch wirtschaftlich. Anstatt auf dieselben alten Rezepte zu setzen, haben Sie heute eine Reihe anderer Maßnahmen verkündet. Sie wollen 200 Milliarden Euro Schulden machen, um einen Schirm über den Energiesektor zu spannen. Sie wollen so die Preise senken. Vor ein paar Tagen hat der Finanzminister noch betont, dass nicht jede Belastung abgefedert werden kann; heute klang das anders. Am Ende haben Sie sich auf etwas geeinigt. Das ist jetzt so. ({0}) Aber dann stellt sich die Frage, ob diese 200 Milliarden Euro Schulden nicht auch die bessere Lösung sind, wenn es darum geht, bessere Maßnahmen zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes zu ergreifen. Die Regierungsfraktionen wollen zusätzlich aber die Bundesregierung ermächtigen, wieder Sozialversicherungsbeiträge zu übernehmen ({1}) und Kurzarbeitergeld auszuzahlen, bevor Urlaub und Überstunden abgebaut sind. Das klingt natürlich großzügig. Aber die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie finanzieren Sie das? Der Blick in den Haushaltsentwurf zeigt: Sie haben null Euro für diese Maßnahmen eingestellt, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Auch die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit sind aufgebraucht; das wurde uns noch mal eindrücklich von der Bundesagentur mitgeteilt. ({3}) Sie wollen die Beiträge aus der Arbeitslosenversicherung nutzen. Dafür wird aber die Erhöhung des Beitragssatzes auf 2,6 Prozent sicherlich nicht ausreichen. Wir können uns keine schwindelerregend hohen Sozialversicherungsbeiträge leisten. Sie können uns zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht mal sagen, wie viel diese Maßnahmen kosten werden. ({4}) Sie wissen nicht einmal, wie viele Leute von diesen Maßnahmen profitieren werden. ({5}) Das ist einfach keine solide Grundlage, um so etwas heute zu beschließen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({6}) Wenn Sie das Kurzarbeitergeld als Instrument in der Energiekrise einsetzen wollen, dann sollten Sie ein Krisenkurzarbeitergeld schaffen, das steuerfinanziert ist und das auch im Haushalt mit Geld hinterlegt ist; denn die Rücklagen sind nicht mehr da. Kurzarbeitergeld per se, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist für die CDU/CSU ein Herzensanliegen. ({7}) Wir haben es nicht nur in den letzten Jahren gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, der SPD, genutzt, um Deutschland durch die Krise zu steuern, sondern es selbst 1956 ins Gesetz geschrieben. ({8}) Deshalb stehen wir auch weiter zu diesem Instrument. Vor dem aktuellen Hintergrund werden wir aber einer Veränderung beim Kurzarbeitergeld, nämlich der Ausweitung, in der jetzigen Lage nicht zustimmen. Das ist wirtschaftspolitisch einfach nicht angezeigt, und die Beiträge aus der Arbeitslosenversicherung sind nicht Verfügungsmasse für Ihre Krisenpolitik. ({9}) Wenn Sie ein Krisenkurzarbeitergeld schaffen wollen, dann hinterlegen Sie es mit Steuermitteln im Haushalt. Dann können wir uns noch mal überlegen, ob wir Sie dabei unterstützen. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Beate Müller-Gemmeke das Wort. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Kurzarbeit ist ein bewährtes Instrument; es stabilisiert in Krisenzeiten nachweislich Beschäftigung. Das hat sich schon in der Finanzkrise gezeigt, das war auch in Zeiten von Corona so, und das gilt auch jetzt für die Krise nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und dessen energiepolitische Folgen. Das IAB bezeichnet den Arbeitsmarkt zwar im Moment noch als robust; aber das kann sich schnell ändern, wenn Produktionen reduziert werden müssen oder wenn Lieferketten reißen. Dann ist es gut, dass die Bundesregierung schnell reagieren kann; denn das Kurzarbeitergeld hilft sofort, unmittelbar, und das ist dann auch wichtig für die Unternehmen. ({0}) In der Anhörung am Montag haben Wirtschaft und Gewerkschaften den Gesetzentwurf einhellig begrüßt. Alle wissen, dass Krisenzeiten durch Kurzarbeit abgefedert und überbrückt werden können; Beschäftigte werden nicht arbeitslos. Unternehmen wollen ihre Beschäftigten in diesen schwierigen Zeiten halten, auch wegen des Fach- und Arbeitskräftemangels. In der Anhörung war zu spüren, dass alle – zumindest fast alle; die Union eben nicht – an einem Strang ziehen. Und diese Solidarität, das Signal, dass alle zusammenhalten, ist wichtig und wird dieser besonderen Situation gerecht. ({1}) Bei der Anhörung wurden aber auch Probleme im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitergeld angesprochen, die wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Da ist die Sorge der Bundesagentur für Arbeit, dass eine erneut hohe Zahl an Anträgen nicht bewältigt werden kann, weil die BA noch mit den Abschlussprüfungen aus der Coronazeit beschäftigt ist. Hier müssen Änderungen am Verfahren oder sogar ein neues Instrument, ein Krisenkurzarbeitergeld, diskutiert werden. Wenn die Bundesagentur für Arbeit das so deutlich sagt, dann müssen wir das natürlich ernst nehmen. ({2}) Und dann gibt es da noch die Regelung, dass ein Minijob beim Bezug von Kurzarbeitergeld anrechnungsfrei bleibt. Diese Regelung überdeckt ein Problem, und zwar, dass das Kurzarbeitergeld bei kleinen Einkommen zu niedrig ist und nicht zum Leben reicht. Hier gibt es definitiv Handlungsbedarf, mit dem wir uns ernsthaft beschäftigen müssen. ({3}) Das war ein kurzer Blick nach vorne. Heute aber geht es darum, die Bundesregierung handlungsfähig zu machen, damit sie mit dem Kurzarbeitergeld eine Brücke bauen kann, die den Unternehmen und den Beschäftigten, wenn es notwendig wird, wirklich hilft. Denn wir wollen natürlich alles dafür tun, um Entlassungen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Union hat gestern im Ausschuss dagegengestimmt und heute noch mal die Gründe genannt. Ich kann das überhaupt nicht verstehen; die Argumente sind extrem schwach. Trotzdem hoffe ich jetzt auf eine breite Unterstützung. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Hannes Gnauck für die AfD-Fraktion. ({0})

Hannes Gnauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005066, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Winter naht, und man merkt: Ihnen auf der Regierungsbank wird allmählich warm, ganz im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung. Wir sehen mit der Änderung der Verordnungsermächtigungen beim Kurzarbeitergeld den Auftakt Ihres kommenden Krisen- und Protestmanagements in diesem Winter. Sie beschneiden hier natürlich die Handlungsfähigkeit des Bundestages, da Weichenstellungen mit einem Kostenvolumen dieser Dimension eigentlich im Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der Legislative und eben nicht der Exekutive liegen. Das Budgetrecht liegt beim Parlament. Frau Anke Eidner von der Bundesagentur für Arbeit erklärte im Ausschuss für Arbeit und Soziales noch in dieser Woche, dass eine erneute massenhafte Inanspruchnahme des Kurzarbeitergeldes wie in den letzten zwei Jahren während der Phase Ihrer unverhältnismäßigen Coronamaßnahmen nicht zu bewältigen wäre. Die Rücklagen sind ja bereits jetzt aufgebraucht. Kurz gesagt: Sie haben gar nicht mehr das Geld, um diesen sozialen Schirm zu finanzieren. Aber wen kümmert das angesichts der Inflationsrate noch? Bei Ihnen in der Bundesregierung offenbar niemanden. Zugestanden: Wir stehen vor solch großen Verwerfungen, dass eine flexible Handlungsfähigkeit der Regierung notwendig sein wird. Zumindest da können wir als AfD-Fraktion mitgehen. Natürlich ist der primäre Zweck des ausgeweiteten Kurzarbeitergeldes die Verhinderung von Massenarbeitslosigkeit, und das ist in einer Krise die oberste Priorität der politischen Führung. Das Kurzarbeitergeld ist allerdings eigentlich dazu da, um im Falle einer kurzfristigen schlechten Auftragslage die Arbeitnehmer vor dem Arbeitsverlust zu schützen, aber nicht dazu, um alle Unternehmen unseres Landes, ob wirtschaftlich arbeitend oder nicht, zu subventionieren. ({0}) Sie greifen hier auf eine neoliberale Politik zurück, meine Damen und Herren, die der Dimension der Lage überhaupt nicht angemessen ist. Sie öffnen damit dem Missbrauch und negativen Lenkungseffekten Tür und Tor, während Arbeitnehmer durch verringerten Lohn, steigende Inflation und andauernde Steuerabgaben kaputtgeschröpft werden. Sie können mit der Veränderung dieser Regelung vielleicht über den Winter hinweg unsere Wirtschaftslandschaft strukturell halbwegs am Leben halten. Eine echte Lösung für das Sterben unserer Industrienation ist es dennoch nicht, meine Damen und Herren. ({1}) Hier liegt das viel grundlegendere Problem. Sie haben sich über Jahrzehnte mit einem Fokus auf Dienstleistung, grüner Energiewende und außenwirtschaftlicher Einseitigkeit in eine Lage manövriert, in der unser Land nun kurz vor dem Abgrund steht. Sie können mit Kurzarbeitergeld die soziale Frage in Deutschland vielleicht ein wenig aufschieben, lösen werden Sie sie allerdings nicht. Ganz im Gegenteil: Sie wird sich in den kommenden Wochen und Monaten bloß noch zuspitzen. Was wir hier sehen, ist das typische Handlungsmuster einer vor allem von Verfehlungen getriebenen Bundesregierung. ({2}) Die Problemzusammenhänge sind dermaßen komplex, dass die Krise zum Dauerzustand geworden ist. Sie nutzen staatliche Instrumente, die ursprünglich für kurzfristige Notstände vorgesehen waren, und machen sie zum permanenten Werkzeug Ihres Verfallsmanagements. Das Krisenregime, das sich in diesem Hause langsam anbahnt, wird sich jeder Beratung entziehen, der von uns als parlamentarischer Opposition sowieso. Das haben wir bei Corona schon gesehen. Aber auch der Volksprotest interessiert Sie, Frau Baerbock, ja nicht im Geringsten. Deshalb muss sich der Protest der Bürger schleunigst konzentrieren. Meine Damen und Herren, daher möchte ich abschließend alle Mitmenschen dazu aufrufen, hier in der Hauptstadt am 8. Oktober mit uns als AfD als geeinter Volksprotest auf die Straße zu gehen, insbesondere auch jene, die von Kurzarbeit betroffen sind, damit es nicht bei permanenter Kurzarbeit, grüner Deindustrialisierung und Massenverarmung bleibt und damit die Entscheidungsträger dieses Hohen Hauses mal wieder an ihren Amtseid erinnert werden. Denn, meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik ist und bleibt der Souverän das deutsche Volk. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kurzarbeitergeld ist ein Erfolg. Es ist ein notwendiger Erfolg in einer schwierigen Situation. Viele Experten in anderen Ländern beneiden uns um dieses Instrument. Es ermöglicht die Wahrung und Sicherung der Existenz vieler Arbeitsplätze, auch wenn wir nicht verschweigen dürfen, dass es für viele mit Einkommensverlusten einhergeht. Deshalb kann das Kurzarbeitergeld natürlich auf der einen Seite die Sorgen mildern, aber auf der anderen Seite auch nicht jede Sorge beseitigen. Ich möchte darauf hinweisen, dass es ein Vorteil für die Unternehmen ist. Auch die Unternehmen konnten nach der schwierigen Phase, in der sie Kurzarbeitergeld beantragen mussten, mit ihren bewährten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sofort den Schwung in der wirtschaftlichen Entwicklung, der dann am Arbeitsmarkt entstanden ist, nutzen, um wieder Produkte auf den Markt zu bringen. Ich möchte mich ausdrücklich bei denjenigen unter den Unternehmerinnen und Unternehmern bedanken, die das Kurzarbeitergeld aus eigenen Mitteln aufgestockt haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit, und das sollte hier nicht unerwähnt bleiben. ({0}) Was auch nicht unerwähnt bleiben sollte, sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, die den erhöhten Ansturm auf das Kurzarbeitergeld, die erhöhten Zahlen an Anmeldungen für Kurzarbeit bewältigt haben – unter hohem persönlichen Einsatz und mit hoher persönlicher Motivation. Nur durch diese Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit war es am Ende möglich, die Hilfe möglichst schnell zur Verfügung zu stellen. Herzlichen Dank dafür! ({1}) Besonders freut mich in diesem Zusammenhang, dass es auf unsere Initiative hin gelungen ist, dass auch die Branche der Zeitarbeit in den drei Monaten zwischen dem 1. Oktober und dem 31. Dezember beim Kurzarbeitergeld berücksichtigt wird. Übrigens, es wäre vielleicht auch mal an der Zeit, darüber nachzudenken, ob der Begriff „Leiharbeiter“ für Zeitarbeiter noch angemessen ist; denn es sagt schon etwas über das Bild der Menschen aus, die in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis arbeiten, wenn wir sie als „Leiharbeiter“ bezeichnen. Ich glaube, hierüber sollten wir mal nachdenken. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten aber auch nicht verschweigen, dass Kurzarbeit ein teures Instrument ist. Man darf davon ausgehen – die genauen Zahlen liegen ja noch nicht vor –, dass schon um die 50 Milliarden Euro und mehr aufgewendet wurden. Im Februar sagte der damalige Chef der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele, dass es im Jahr 2021 46 Milliarden Euro plus Steuergeld in Höhe von etwa 18 Milliarden Euro gewesen seien. Es ist also ein notwendiges, aber teures Instrument. Aber wir dürfen auch nicht verschweigen, dass dahinter die erhebliche Arbeitsleistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch der Unternehmen in den guten Zeiten steht, die es ermöglicht hat, die entsprechenden Rücklagen in der Arbeitslosenversicherung überhaupt aufzubauen. Mein Dank geht auch an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die hier einspringen, obwohl sie persönlich vielleicht gar nicht von Kurzarbeit betroffen sind. Eine große solidarische Leistung dieser Gesellschaft! Alle halten zusammen! Ganz großartig! Herzlichen Dank dafür! ({3}) Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Krise, die wir bisher kannten – im Wesentlichen Corona –, vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen bei der Kurzarbeit in den nächsten Monaten vielleicht noch ganz anders gestalten wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier die richtigen Maßnahmen treffen. Die Bundesregierung hat sich gerade darauf verständigt, wie die Energiepreise im Griff behalten werden können. Das ist eine wichtige Entscheidung, weil es natürlich notwendig ist, auch die Kostensteigerungen für die Unternehmen im Blick zu behalten. Da möchten wir als FDP in dieser Koalition daran erinnern, dass wir Unternehmen auch dadurch entlasten können, dass wir sie nicht dauernd neu belasten. Daran hat das Arbeitsrecht natürlich auch seinen Anteil. Ich würde mich freuen, wenn wir noch mal auf die Nachweisrichtlinie schauten. Die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, die uns die EU einräumt, ({4}) würde viele Unternehmen entlasten. Da wäre es, glaube ich, angebracht, an dieser Stelle noch einmal zu prüfen, ob wir hier nicht zu Entlastungen kommen können. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kämpfen alle gemeinsam für die Bewältigung der Krise. Der Energiekrieg Putins gegen die freie Welt, gegen unsere Volkswirtschaft, gegen unsere Gesellschaft wird keinen Erfolg haben. Dafür steht diese Regierung solidarisch mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Wir schaffen auch diese Herausforderung; da bin ich zuversichtlich. Vielen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie an diesem Donnerstagnachmittag alle ganz herzlich. Ich spüre die Frische im Raum, die sich jetzt in dieser Debatte sicherlich noch mal ausbreiten wird. Das Wort erhält Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jessica Tatti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004911, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beschäftigten und Betrieben steht ein harter Winter bevor. Die Unsicherheit ist groß. Deshalb stimmt Die Linke dem Gesetzentwurf zum Kurzarbeitergeld selbstverständlich zu. ({0}) Allerdings, Minister Heil: Nutzen Sie dieses Gesetz jetzt auch für Verbesserungen. Greifen Sie doch einfach mal die sehr guten Vorschläge meiner Fraktion auf, ({1}) zum Beispiel die Einführung eines Mindestkurzarbeitergeldes von 1 200 Euro für Vollzeitkräfte ({2}) oder die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent vom Netto. Das wäre bei diesen krassen Preissteigerungen total sinnvoll. ({3}) Nicht zuletzt: Es kann doch nicht sein, dass Unternehmen, die Kurzarbeit in Anspruch nehmen, gleichzeitig horrende Boni an Manager und hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten. ({4}) Das ist völlig unangemessen und muss endlich unterbunden werden. Jetzt zuhören, Herr Mörseburg von der Unionsfraktion: Derzeit kann das Kurzarbeitergeld eben nicht mehr aus Beiträgen finanziert werden, sondern muss aus Steuermitteln bezahlt, das heißt, von der Allgemeinheit getragen werden. ({5}) Die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit sind nach Corona schon lange verbraucht. Während der Pandemie mussten weit über 20 Milliarden Euro aus Steuermitteln zugeschossen werden. Das war auch richtig so, weil damit Arbeitsplätze erhalten wurden. ({6}) Das wird weiterhin richtig sein. Denn diese Krise, deren Ausgangspunkt der völkerrechtswidrige Angriffskrieg war, ist eine politische Krise. Deshalb, Pascal Kober, ist die Finanzierung der Kurzarbeit auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({7}) So unverzichtbar das Kurzarbeitergeld auch ist, noch besser wäre es natürlich, zu verhindern, dass überhaupt wieder massenhaft Beschäftigte in die Kurzarbeit gehen müssen. Dass ganze Industriezweige ins Wanken geraten, muss verhindert werden. ({8}) Die Chaostage der Bundesregierung – Gasumlage ja, jetzt wieder nein; Gaspreise deckeln: gestern noch nein, heute doch ja – sind für die Bürgerinnen und Bürger, für die Betriebe, in denen Beschäftigte Angst um ihren Arbeitsplatz haben, unzumutbar. ({9}) Wie viel Zeit ging dadurch ins Land? Stoppen Sie die Preisexplosion! Sichern Sie die Produktion mit einem wirksamen Gaspreisdeckel! ({10}) Kolleginnen und Kollegen, richten Sie Bundeskanzler Scholz doch bitte herzliche Grüße von mir aus. Ich erwarte nämlich von ihm, dass er beim nächsten Treffen der Konzertierten Aktion, wenn er sich mit den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden trifft, mal nachhakt: Warum nutzen die Betriebe eigentlich die Zeit von Kurzarbeit nicht viel stärker für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten in der Transformation? ({11}) Die Fakten: Kurzarbeiter nahmen in der Pandemie wesentlich seltener an Weiterbildungen teil als andere Beschäftigte. Und wenn doch Weiterbildungen stattfanden, dann für Beschäftigte mit Hochschulabschluss neunmal häufiger als für Leute, die gar keinen Abschluss haben. Und das ist doch eine wirklich katastrophale Bilanz. ({12}) Also, hier ist noch massiv etwas zu tun. Sofort anfangen könnten Sie im Übrigen, Herr Heil, mit der Stärkung der Mitbestimmung, mit der Stärkung von Betriebs- und Personalräten; denn dort, wo es Betriebsräte gibt, finden auch mehr Weiterbildungen statt, auch für die Kurzarbeiter. Und deshalb: Fangen Sie damit endlich an! ({13})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt erhält Jens Peick das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Jens Peick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005178, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Fangen wir mal mit der guten Nachricht an: Unser Arbeitsmarkt ist robust. ({0}) Trotz drohender Rezession sind wieder mehr Menschen in Arbeit. Trotz der realen Gefahr einer Gasmangellage suchen Unternehmen in diesem Land händeringend Fachkräfte. Ohne diese dunklen Wolken am Horizont würden wir heute voller Zuversicht auf einen ungetrübten Arbeitsmarkt schauen. Aber wegen dieses getrübten Ausblicks verlängern wir hier und heute die Verordnungsermächtigung für die Sonderregelungen des Kurzarbeitergeldes, des erfolgreichsten Kriseninstruments in der Coronapandemie. ({1}) Das ist richtig so, weil dieses Gesetz den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen Sicherheit und Verlässlichkeit für die Zukunft gibt. Mit dieser Verordnungsermächtigung machen wir den Arbeitsmarkt weiterhin krisenfest. ({2}) In der Coronapandemie haben wir gesehen, was die Sonderregelungen des Kurzarbeitergeldes leisten können. In dieser bisher schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit konnten über 5 Millionen Menschen durch die Sonderregelungen des Kurzarbeitergeldes ihren Job behalten. Und die Kritiker der Sonderregelungen – wir haben es ja gerade auch gehört – fragen dann immer: Zu welchem Preis? Ja, es hat die Reserven der Bundesagentur für Arbeit aufgebraucht. Ja, es hat viel Geld gekostet, insgesamt über 45 Milliarden Euro, auch wenn wir die konkrete Zahl noch nicht haben. Aber in der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf am Montag hat die Bundesagentur für Arbeit noch einmal ganz klar gesagt, was es uns gekostet hätte, wenn wir diese Regelung nicht gehabt hätten. ({3}) Wer in Kurzarbeit ist, der bekommt eine monatliche Unterstützung in Höhe von circa 830 Euro. Wer aber arbeitslos wird, muss mit 1 850 Euro aus der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden. Das heißt, ohne Kurzarbeitergeld wäre diese Krise mehr als doppelt so teuer geworden. Und dabei reden wir noch nicht über die sehr wichtigen sozialen und volkswirtschaftlichen Folgekosten. Denn was das mit dem Einzelnen macht, was es für Familien bedeutet, wenn man arbeitslos wird, welche Sorgen und Probleme damit verbunden sind, das lässt sich nicht in Euro ausdrücken. ({4}) Und auch von den immer wieder an die Wand gemalten Schreckensszenarien ist beim Kurzarbeitergeld kein einziges eingetreten. Nein, es lässt sich keine Entwöhnung der Menschen von der Arbeit feststellen. Nein, es gab nach der Coronapandemie keine Zombiefirmen, die einfach in die Insolvenz gegangen sind. Und nein, es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass der Strukturwandel verschleppt wurde. Ganz im Gegenteil: Dass wir einen robusten Arbeitsmarkt haben, dass wir eine schnelle Erholung der Beschäftigtenzahlen haben, das ist das Verdienst des Kurzarbeitergeldes. So sieht gute Arbeitsmarktpolitik aus. ({5}) Und deswegen ist es folgerichtig, heute der Bundesregierung weiterhin die Möglichkeit zu geben, diese Instrumente zu nutzen. Und uns ist vollkommen klar, dass das nicht ausreicht, dass das ein Baustein in der Krisenbekämpfung ist. Um nichts anderes geht es doch. Natürlich brauchen wir flankierende Wirtschaftshilfen, um Insolvenzen zu verhindern. Natürlich braucht es Entlastungspakete und vor allem einen Energiepreisdeckel für Gas und Strom, so wie er heute von der Bundesregierung auch beschlossen wurde. ({6}) Und wir brauchen auch Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand, wie der Fall Uniper zeigt. ({7}) Und natürlich müssen wir auch Krisenprofiteure in die Pflicht nehmen, am besten mit einer Übergewinnsteuer. ({8}) Und ich will noch eins kurz zur Kritik von Herrn Mörseburg sagen: Natürlich rechtfertigen gestiegene Preise beim Gas keine Kurzarbeit – das ist Betriebsrisiko-, aber Lieferengpässe tun es – auch die sind doch durch den Krieg in der Ukraine nicht ausgeschlossen –, und auch eine Gasmangellage würde es rechtfertigen. Und natürlich ist das Kurzarbeitergeld keine Dauerlösung. Aber Krisen sollen es auch nicht sein. Solange es die Krise gibt, reagieren wir auch. Was die CDU/CSU macht, ist vollkommen unklar. Im Fachausschuss haben Sie dagegengestimmt, im Haushaltsausschuss haben Sie sich enthalten. Sie irrlichtern durch die Krise, und ich bin gespannt, was Sie gleich tun werden. ({9}) Ich kann Ihnen nur sagen: Stimmen Sie zu, weil wir mit diesem Gesetz den Arbeitsmarkt krisenfest machen. Das ist gut so. So geht Politik, die den Menschen hilft. Herzlichen Dank. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Und es folgt Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zunächst möchte ich ganz klar feststellen: Das Kurzarbeitergeld hat uns während der Pandemie einen guten Dienst erwiesen. Wir haben in Deutschland keine massenhafte Arbeitslosigkeit gesehen, der Arbeitsmarkt ist stabil geblieben. Das war schlichtweg gut für die Beschäftigten; denn sie wussten, dass ihre Arbeitsplätze abgesichert werden. Zugleich war es gut für die Unternehmen: Die Arbeitgeber konnten ihre Mitarbeiter nicht nur halten, sondern hatten die Möglichkeit, nach der Pandemie wieder durchzustarten. ({0}) Es war daher richtig, den Zugang zum Kurzarbeitergeld zu vereinfachen und weitere Sonderregelungen einzuführen. Dennoch war schon damals klar, dass das Instrument eigentlich nicht für solche Fälle gedacht ist. Die Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit wurden zulasten ihrer Hauptaufgaben beansprucht. ({1}) Trotzdem war das Kurzarbeitergeld der richtige Weg. Nun haben wir aber eine völlig andere Situation. Wir waren in der Pandemie gezwungen, die Wirtschaft allgemein herunterzufahren. Deshalb war das breit angelegte Kurzarbeitergeld ein gutes Konzept. Jetzt müssen wir vielmehr verhindern, dass bestimmte Branchen lahmgelegt werden. Wir brauchen zielgerichtete Hilfen für energieintensive Unternehmen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, Sie irren sich, wenn Sie das Kurzarbeitergeld als Mittel gegen die hohen Energiekosten einsetzen wollen. Der Weg ist nicht nur einfach falsch, er richtet auch Schaden an. ({3}) Sie stellen sich das Kurzarbeitergeld als Liquiditätshilfe für kleine und mittlere Unternehmen vor. Aber diese Vorstellung geht schlichtweg an der Realität vorbei. ({4}) Fakt ist: Das Kurzarbeitergeld dient dazu, Beschäftigungsausfälle zu begrenzen. ({5}) Und ich möchte Sie, Herr Minister, und die Kolleginnen und Kollegen der Koalition daran erinnern: Wir haben derzeit in Deutschland 1,9 Millionen unbesetzte Stellen. Wie können Sie das vergessen? Für seine eigentlichen Aufgaben wird das Kurzarbeitergeld doch weiter benötigt. Aber es ist doch kein Instrument für jede Krise. Zeitlich überschaubare Ausfälle aus konjunkturellen Gründen müssen natürlich auch in Zukunft aufgefangen werden. Daran rüttelt auch niemand. ({6}) Statt die Sonderregeln zu verlängern, muss unser Ziel doch nun sein, möglichst viele Betriebe am Laufen zu halten. Unser Mittelstand ruft doch seit Wochen und Monaten um Hilfe. Aber von Ihnen kommt keine Antwort. Im Herbst und im Winter – das werden wir erleben – wird es zu umfangreichen Betriebsschließungen kommen können. Da geht es nicht um ein temporäres Pausieren, wie das Herr Habeck sagte, sondern um das dauerhafte Verschwinden von Unternehmen auf dem Markt. ({7}) Sorgen Sie endlich dafür, dass die Produktion am Laufen bleibt und unsere Unternehmen und Arbeitnehmer weiterarbeiten können. ({8}) Sie wissen es, und Frau Nahles weiß es auch: Der finanzielle Spielraum der Bundesagentur für Arbeit ist aufgebraucht. Sie werden in Zukunft das Kurzarbeitergeld aus Steuermitteln finanzieren oder neue Schulden aufnehmen müssen. Keine guten Perspektiven! ({9}) In der Folge wird die hohe Inflation weiter angeheizt, die Preise steigen, und die Krise verschärft sich noch mehr. ({10}) Wenn Sie diesen Weg weitergehen, werden Sie politisch scheitern. Scheitern werden aber auch Tausende von Unternehmen und ihre Beschäftigten, und das wäre nicht zu verkraften. Wir fordern vom Bundesarbeitsministerium seit über einem Jahr, das Kurzarbeitergeld weiterzuentwickeln. Ganz besonders müssen dabei auch Qualifizierung und Weiterbildung berücksichtigt werden. Das wurde in den Phasen der Kurzarbeit bislang nicht ausreichend umgesetzt. Wir müssen unseren Beschäftigten das richtige Rüstzeug mitgeben, damit sie auch in Zukunft den Wandel der Arbeitswelt bestehen können. Das ist nicht unser O‑Ton, das ist der O‑Ton der Bundesagentur. Sie warnt sogar davor, dass die Kurzarbeit notwendige Transformationsprozesse in Betrieben verhindert. Hier hätten schon lange Lösungen entwickelt werden müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist deutlich geworden: Wir brauchen in dieser Krise neue Konzepte, ({11}) um den Arbeitsmarkt auf Kurs zu halten. Dabei müssen wir die langfristigen Trends im Auge behalten ({12}) und dürfen vor allen Dingen den Wandel der Arbeitswelt nicht verschlafen. Ganz akut müssen unsere Betriebe bei den hohen Energiekosten unterstützt werden. Sie machen heute das Gegenteil. Sie zweckentfremden und überladen das Kurzarbeitergeld. Dem können wir nicht zustimmen. Um das Kurzarbeitergeld zu erhalten, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für Bündnis 90/Die Grünen erhält jetzt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihre Argumentation, Herr Knoerig, aber auch Herr Mörseburg, warum Sie das Gesetz ablehnen, ist mehr als dünn und überhaupt nicht nachvollziehbar. An einem Punkt haben Sie recht: Wir sind in einer anderen ökonomischen Situation als zu Beginn der Coronakrise. Zu Beginn der Coronakrise war das Kurzarbeitergeld das zentrale Mittel aus den Gründen, die wir alle kennen. Jetzt ist es ein Mittel, aber ein wichtiges Mittel. Wir stehen vor einer drohenden Rezession aufgrund eines Preisschocks, der verursacht worden ist durch den Angriffskrieg von Putin. Darauf müssen wir reagieren. Eine Rezession fällt nicht vom Himmel, sondern wir sind handlungsfähig und können dagegen angehen. Die Energieversorgung muss sichergestellt werden. Da ist die Bundesregierung seit Dezember letzten Jahres dran, und die Energiespeicher sind gefüllt. Wir entlasten die Menschen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es sind noch nicht einmal alle Entlastungspakete umgesetzt. Das läuft also. ({0}) Wir unterstützen die kleinen und mittleren Unternehmen und die sonstige Wirtschaft. Das hat die Bundesregierung heute beschlossen und auch mit finanziellen Mitteln hinterlegt. Das ist sehr gut. ({1}) Die Gasumlage brauchen wir nicht einzuführen, weil wir das finanziell anders geregelt haben, ganz im Gegensatz zu Ihren Forderungen zur Ablehnung der Gasumlage. Es ist gut, dass die Gasumlage weg ist und die Gegenfinanzierung gesichert ist. ({2}) Es ist gut, dass jetzt noch einmal konkretisiert worden ist, dass wir in die Preismärkte einsteigen und gucken, dass wir einen Gaspreisdeckel und einen Strompreisdeckel hinbekommen. Auch das ist sinnvoll. ({3}) Wir stehen vor einer Rezession. Die 200 Milliarden Euro, die die Bundesregierung heute vorgeschlagen hat und die wir im Bundestag erst noch beschließen müssen, haben das Zeug dazu, ein regelrechtes Konjunkturprogramm zu sein. Auch das ist in der jetzigen Situation richtig. Wir dürfen bei einem Preisschock nicht nur auf das Angebot schauen, sondern müssen auch die Nachfrage sicherstellen. Auch das macht die Bundesregierung genau richtig. ({4}) Wir wissen: Die Arbeitsmärkte sind sehr robust. Es ist nicht einmal klar, ob eine schwache Rezession überhaupt auf die Arbeitsmärkte durchschlägt. Warum macht das Gesetz aber trotzdem Sinn? Aus zwei Gründen. Erstens – das ist noch gar nicht gesagt worden –: Corona ist noch nicht vorbei. Die Herbstwelle läuft und nimmt zunehmend an Fahrt auf. Wir wissen nicht, wie heftig dieser Herbst und Winter noch werden. Darauf müssen wir vorbereitet sein. ({5}) Der zweite Punkt ist: Wir sind nicht hilflos gegenüber der ökonomischen Entwicklung. Die Entwicklung ist aber so schwierig vorherzusehen – und auch die Prognoseinstrumente der ökonomischen Institute sind relativ unklar –, dass es trotz aller Anstrengungen, die wir gemeinsam machen, doch heftiger wird. Auch darauf müssen wir vorbereitet sein. Die Verordnungsermächtigung ermöglicht der Bundesregierung, im Fall des Falles schnell zu reagieren und Arbeitsplätze zu sichern. Das ist genau der richtige Weg. Dem sollten alle demokratischen Parteien zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält Natalie Pawlik das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Natalie Pawlik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Es wurde heute von einem Teil der Parlamentarierinnen und Parlamentarier deutlich, aber vor allem wurde das in dieser Woche in der öffentlichen Anhörung seitens der Expertinnen und Experten aus den Gewerkschaften, von den Wirtschaftsverbänden, von der Bundesagentur für Arbeit, aus der Wissenschaft deutlich: Das Kurzarbeitergeld ist und war eine wesentliche Stütze, die uns durch Krisenzeiten führt. Deswegen ist es richtig, dass wir das heute verlängern. ({0}) Beschäftigung zu fördern und Arbeitsplätze gerade in Krisenzeiten zu sichern, ist der Kern sozialdemokratischer Politik. Genau dafür sorgen wir heute mit der Verlängerung. Drei Jahre Coronapandemie und die bisherigen Folgen des schrecklichen völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine haben unsere Wirtschaft und unseren Arbeitsmarkt nicht in den Ruin getrieben. Das sieht man zum Beispiel bei mir zu Hause in Südhessen. Dort konnten wir wegen des Kurzarbeitergeldes zahlreiche Unternehmen am Industrie- und Dienstleistungsstandort halten und Beschäftigung sichern. ({1}) Millionen Arbeitsplätze konnten und können durch die Kurzarbeit erhalten werden. Das sind nicht nur Zahlen. Das sind Menschen. Dahinter stehen Familien. Dahinter stehen Existenzen, die davor bewahrt werden konnten, mitten in einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation in Arbeitslosigkeit zu geraten und in eine ungewisse Zukunft zu schauen. Und das ist auch hierbei wichtig zu betonen. ({2}) Aber es ist nicht nur die Perspektive seitens der Beschäftigten, die belegt, dass Kurzarbeit ein Erfolgsinstrument ist. Für uns als Gesamtgesellschaft ist Kurzarbeit wesentlich günstiger als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Für unsere Unternehmen stellt Kurzarbeit sicher, dass sie sich schnell von Krisen erholen und handlungsfähig bleiben, weil sie gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht gehen lassen müssen. Es sind viele Instrumente, die wir gerade in diesen Krisenzeiten auf den Weg bringen. Es sind Preisbremsen, das sind Entlastungspakete, es ist der Mindestlohn von 12 Euro, es ist das Bürgergeld, das wir auf den Weg bringen werden, und viele, viele andere Maßnahmen, die wir derzeit tätigen. Sie alle zusammen werden uns durch die Krise und diesen Winter führen. Und so zu tun, als würde die Bundesregierung gar nichts tun, ist schlichtweg falsch. ({3}) Herr Knoerig, ich wundere mich tatsächlich, was Sie hier vorgetragen haben; denn die Regelungen zur Qualifizierung in der Kurzarbeit haben wir in der Großen Koalition noch in der letzten Legislaturperiode gemeinsam auf den Weg gebracht. So zu tun, als gäbe es die nicht, ist ebenfalls falsch. ({4}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben gerade in Zeiten, in denen viele politische Kräfte – gerade hier an meiner rechten Seite – dieses Land gerne am Boden sehen würden, Leute, die mit politischen Kräften und Kriegsverbrechern zusammenarbeiten, die lieber Gas sinnlos verbrennen, statt es nach Europa zu schicken. Doch bei all den Schwierigkeiten und bei all den Herausforderungen, die wir zusammen zu meistern haben, und bei all den inhaltlichen Differenzen, die wir unter den demokratischen Parteien beim Ringen um den richtigen Weg haben, –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Natalie Pawlik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– bin ich fest davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft und als Demokratie stärker sind als die Kriegsverbrecher dieser Welt. Wir sollten alles dafür tun, diese Gesellschaft zusammenzuhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Klaus Mack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Bürgermeister aus Sachsen berichtet von einem Wolfsrudel, das tagsüber durchs Dorf schleicht; Kinder gehen dort aus Angst nicht mehr zu Fuß zur Schule. ({0}) Vorletzte Woche haben Wölfe eine ganze Alpakaherde ausgelöscht; die Zäune wurden untergraben. Inzwischen müssen in Niedersachsen und in Brandenburg selbst grüne und rote Umweltminister den Abschuss von Wölfen erleichtern. Meine Damen und Herren, ich habe die zuständige Staatssekretärin mit diesen Fragen hier im Plenum konfrontiert. Sie meinte, das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf sei auserzählt. Das Märchen ist aber nicht auserzählt – ganz im Gegenteil: Wir schlagen gerade ein neues Kapitel auf, und wenn wir jetzt nicht handeln, dann wird es auch kein Happy End geben. ({1}) Seit dem Jahr 2000 breitet sich der Wolf exponentiell aus. Die Bestände wachsen jährlich um rund 30 Prozent. In Deutschland gibt es mehr als 2 000 Wölfe. Rechnen Sie das mal auf die nächsten zehn Jahre hoch. Dabei ist jetzt schon klar, dass wir beim Wolf von einem günstigen Erhaltungszustand ausgehen können. Natürlich ist das ein Erfolg für den Artenschutz. Es geht ja auch nicht darum, den Wolf wieder auszurotten. Es geht darum, den Bestand zu regeln, so wie bei jeder anderen Wildtierart auch. Sonst werden wir die Folgen nicht in den Griff bekommen. Erkennen Sie endlich an, dass der Wolf in manchen Gegenden Deutschlands schon jetzt zum echten Problem geworden ist. ({2}) Wir haben zunehmend Schäden durch Angriffe auf Weide- und Haustiere. 2020 wurden allein rund 4 000 Weidetiere getötet. Jetzt hat es sogar das Pony unserer EU‑Kommissionspräsidentin erwischt. Aber das ist ja nur die prominente Spitze eines Eisberges. Es geht um die vielen Weidetierhalter. Präventionsmaßnahmen sind eben nicht immer wirksam. Schwere Wolfszäune lassen sich eben nicht immer die steilen Hänge hinauftragen. Die Weidetierhaltung ist vielerorts ernsthaft bedroht. Aber so weit darf es nicht kommen. Mit ihren grün-roten Träumereien und einer völlig falschen Romantisierung des Wolfes setzen Sie den Erhalt unserer Kulturlandschaft aufs Spiel. ({3}) Wissen Sie, ich habe als Bürgermeister im Schwarzwald erlebt, wie es ist, wenn ein Wolf in einer Nacht im Blutrausch 20 Schafe tötet und die von hinten angefressenen Körper morgens noch lebend auf der Weide liegen. Offensichtlich wird hier wieder einmal von Berliner Schreibtischen aus über Probleme sinniert, ohne mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Das ist ungefähr so, wie wenn zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es zum Abendessen gibt. ({4}) Den Menschen vor Ort im ländlichen Raum hilft das aber nicht. Es wird hier nur an den Folgen herumgedoktert. ({5}) Das Bundesumweltministerium weigert sich, das Problem grundlegend anzugehen. Wir fordern ein aktives Wolfsbestandsmanagement. Setzen Sie sich bei der EU‑Kommission dafür ein, dass der Wolf von Anhang IV in Anhang V der FFH-Richtlinie eingestuft wird. Lassen Sie uns das Bundesjagdgesetz ändern, und legen Sie wolfsfreie Gebiete fest. Denn wo stehen wir heute? Die Grünen würden am liebsten mit dem Wolf tanzen und alles laufen lassen. ({6}) Hätte es die SPD bei den Gebrüdern Grimm schon gegeben, würde Rotkäppchen wahrscheinlich hinter einem Schutzzaun sitzen. ({7}) Wollen Sie denn am Ende ganz Deutschland einzäunen? Einzig die FDP weiß eigentlich, was zu tun wäre. Sie von der FDP haben einen entsprechenden Antrag schon 2018 gestellt. Sie müssen heute aber natürlich wieder gegen ihre eigene Überzeugung stimmen. Dazu sage ich nur, liebe Kollegen von der FDP: Wer sich selbst zum Schaf macht, den fressen am Ende die Wölfe. ({8}) Haben Sie den Mut, unseren Antrag zu unterstützen – im Sinne unserer Landschaftspfleger, im Sinne der Menschen vor Ort. Helfen Sie mit, unsere schöne Kulturlandschaft in Deutschland zu erhalten. Ich danke Ihnen. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Wir alle haben jetzt diverse Bilder im Kopf. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Dr. Lina Seitzl für die SPD-Fraktion erhält das Wort. ({0})

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte mal mit guten Nachrichten beginnen; wir haben ja jetzt alle hier viel Spaß gehabt. Ich möchte mal mit einer Erfolgsgeschichte anfangen: Der Wolf war fast 150 Jahre in Deutschland ausgerottet. Heute wächst die Population wieder, und das ist eine gute Nachricht angesichts der Tatsache, dass fast 7 000 Tierarten hierzulande vom Aussterben bedroht sind. Die Rückkehr des Wolfes zeigt, dass europäische und nationale Schutzmaßnahmen wirken. ({0}) Der Wolf sorgt aber natürlich auch für viel Aufregung. In einigen Regionen Deutschlands verursachen Wolfsrisse Schäden. Sie beunruhigen Anwohnende. Was aber Sie, liebe Unionsfraktion, in Ihrem Antrag fordern, das steht in keinem Verhältnis zu dem, was Sie eigentlich fordern wollen, was auch in Ihrem Titel steht, nämlich eine – ich zitiere – „ausgewogene Balance zwischen dem Schutz von Mensch und Tier sowie dem Artenschutz“. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht. Wenn es nach Ihnen ginge, sollten wir sogenannte wolfsfreie Zonen schaffen und die Entnahme einer spezifizierten Anzahl von Wölfen erlauben. Ein fairer Kompromiss zwischen dem Schutz des Tieres und den Interessen der Landwirtschaft ist das nicht. Das, was Sie hier fordern, ist ein Abschuss ohne Wenn und Aber, sonst nichts. ({1}) Ich erinnere Sie gerne daran, dass wir in diesem Haus gemeinsam, SPD und Union, 2019 das Bundesnaturschutzgesetz geändert haben und wir genau das hergestellt haben, was Sie jetzt behaupten herstellen zu wollen, nämlich eine ausgewogene Balance. Wir haben damals sachlich und mit Verstand verhandelt. Den Abschuss von Wölfen haben wir erleichtert, wenn die Tiere ernste landwirtschaftliche Schäden verursachen, ({2}) und wir haben zum ersten Mal sowohl die Schäden in der Landwirtschaft als auch die Schäden bei Hobbytierhalterinnen und Hobbytierhaltern berücksichtigt. ({3}) Nach geltendem Recht kann bereits jetzt im schlimmsten Fall ein ganzes Wolfsrudel entnommen werden, bis Schäden ausbleiben. Sie sehen: Wir nehmen die Sorgen der Landwirtschaft ernst; wir machen aber auch solide Politik, die den EU‑Richtlinien entspricht. ({4}) Die Gesetzesnovelle, die wir gemeinsam mit Ihnen verabschiedet haben, die gilt selbstverständlich auch dem Schutz der Menschen. Der Abschuss von Wölfen ist demnach möglich, wenn ein Wolf einen Menschen verletzt, ihn verfolgt oder sich ihm gegenüber unprovoziert aggressiv zeigt. Mit diesen Änderungen haben wir Sicherheit für alle geschaffen, für die Tiere, für den Wolf und für den Menschen. Wir haben diese Novelle 2019 verabschiedet. Jetzt muss zusammen mit den Ländern, der Landwirtschaft, dem Naturschutz, der Bevölkerung evaluiert werden, wie die Umsetzung vor Ort funktioniert. Eine Novelle nach der anderen vorzuschlagen, ist dagegen unnötiger Aktionismus und keine seriöse Politik, sehr geehrte Damen und Herren. ({5}) Im Antrag fordern Sie – jetzt gehe ich noch mal genauer auf Ihren Antrag ein –, dass der „Erhaltungszustand des Wolfes in Deutschland unverzüglich zu definieren und jährlich zu bewerten“ sei. Ich möchte Sie gerne daran erinnern, dass Deutschland zu den Ländern mit den detailliertesten und umfassendsten Monitoringstandards gehört. Nirgendwo in Europa werden Wolfspopulationen so sorgfältig gezählt und überwacht – jährlich. Diese Daten werden jährlich von den Ländern gesammelt, in einem aufwendigen Verfahren wissenschaftlich ausgewertet. Es gibt hier keine Geheimnisse und keine Unklarheiten. ({6}) So wurden in Deutschland im Rahmen des Monitorings im Jahr 2020/2021 158 Rudel, 27 Wolfspaare, 19 sesshafte Einzelwölfe und damit insgesamt 403 adulte Wölfe gezählt. Zu keiner anderen Art gibt es in Deutschland so viele detaillierte Daten wie zum Wolf. Das ist die Wahrheit. ({7}) Sie schreiben weiter, man solle die Kriterien für den Erhaltungszustand des Wolfes offenlegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hat mich etwas verwundert; ({8}) denn diese Informationen sind ebenfalls alle öffentlich zugänglich. Es geht um die Gesamtzahl der Population; aber das ist nicht das einzige Kriterium. Es geht auch um die Verbreitung, es geht um die Größe und Qualität des Habitats sowie um die Zukunftsaussichten für die Entwicklung des Wolfs. ({9}) Es geht bei der Bewertung, wie gut es dem Wolf in Deutschland geht, also um das Gesamtbild: um die Verteilung, um die genetische Vielfalt der Population. ({10}) Es geht uns also um einen soliden wissenschaftlichen Artenschutzansatz und nicht um Schlagzeilen. Auch wenn sich der deutsche Wolfsbestand – ich glaube, da sind wir uns einig – in den vergangenen Jahren positiv entwickelt hat, ist das Gesamtbild dieser Kriterien immer noch nicht gut genug, um Wölfe einfach so abschießen zu können, ({11}) auch wenn das hier von Ihnen gewünscht wird. Sehr geehrte Damen und Herren, nach 150 Jahren ohne Wolf kehrt dieses Tier nun wieder in unsere Wälder zurück und schließt damit eine Lücke in unserem Ökosystem. Das ist eine gute Nachricht, und ich wünschte mir, wir könnten solche Erfolge für den Artenschutz jede Sitzungswoche hier verkünden. ({12}) Diese Rückkehr bringt aber selbstverständlich Herausforderungen für alle – Mensch und Tier –; deshalb brauchen wir ein gutes Monitoringsystem, Maßnahmen zum Herdenschutz, eine finanzielle Kompensation für Weidetierhalter, eine regelmäßige Überprüfung der aktuellen Situation, und, ja, in Einzelfällen auch die Entnahme von Einzeltieren im Rahmen der Möglichkeiten des Bundesnaturschutzgesetzes und der europäischen Regelungen. Was wir definitiv nicht brauchen, sind populistische Forderungen. Vielen Dank. ({13})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält Frank Rinck für die AfD-Fraktion. ({0})

Frank Rinck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005189, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Heute unterhalten wir uns zum zweiten Mal in diesem Jahr über das leidige und einfach zu lösende Wolfsproblem in Deutschland. Die Wölfe erobern mittlerweile nicht nur unsere ländlichen Räume, sondern auch unsere Städte, wie beispielsweise die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover und ihre Region. Auch ehemalige Verteidigungsministerinnen können sich mittlerweile zu den betroffenen Haltern von getöteten Tieren zählen. ({0}) Anscheinend ist das in Verbindung mit der niedersächsischen Landtagswahl nun endlich Grund genug, dass auch die CDU sich damit beschäftigt. ({1}) Liebe Kollegen von der CDU, ich frage mich, warum Sie vor wenigen Monaten unseren Antrag abgelehnt haben und nun weite Teile unserer Begründung und unseres Antrags in Ihrem übernommen haben. ({2}) – Lesen Sie mal Ihre Begründung. Ab dem dritten Satz haben Sie abgeschrieben, und das kann man auch sehen. Ich habe auch sehr darüber gestaunt. Das mal zum einen. ({3}) Nun ist es ja nicht so, dass nur Sie versprochen haben, die Wolfsprobleme zu regulieren; auch die FDP hat das vor der Bundestagswahl getan. Und, meine Damen und Herren, heute Nachmittag saßen wir im Sitzungssaal des Landwirtschafts- und Ernährungsausschusses und haben dort die Brüsseler Erklärung von einigen Weidetierhaltern entgegengenommen. Zu meinem Erstaunen habe ich festgestellt, dass auch die SPD und Die Linke die Wolfsbestände unbedingt regulieren wollen. ({4}) Darum kann ich nur sagen: Heute werden wir sicherlich alle Ihrem Antrag zustimmen und das Wolfsproblem ein für alle Mal lösen. ({5}) Mittlerweile wissen wir, dass es keine wolfssicheren Zäune gibt, wie uns grüne wolfsfreundliche Ideologenvereine und ‑verbände weismachen wollten. Genauso wenig bewährt haben sich die Herdenschutzhunde, die im Grunde nicht weniger gefährlich sind als die Wölfe. ({6}) – Natürlich stimmt das. ({7}) Außerdem gefährdet der Wolf den Hochwasserschutz und den Tourismus, beispielsweise bei mir zu Hause in der Lüneburger Heide. Die Zahl der von Wölfen getöteten Nutztiere hat sich trotz aller Herdenschutzmaßnahmen innerhalb von nur zwei Jahren fast verdoppelt. Meine Damen und Herren, 4 000 Wolfsrisse im letzten Jahr lässt die Dimension dieser Tierquälerei deutlich werden. Und wenn ich so was höre wie: „Erhalt von Artenvielfalt“, dann kann ich nur sagen: „In meinem Nachbarlandkreis, in der Göhrde, hat der Wolf das Muffelwild ausgerottet.“ So viel dann zum Artenerhalt. ({8}) Trotzdem wurde bisher nicht reagiert. Um die Schäden zu reduzieren und die aktuelle Steuermittelverschwendung für Herdenschutzpräventionsmaßnahmen von ungefähr 10 Millionen Euro im Jahr nicht noch weiter ausufern zu lassen, ist die Entnahme der Wölfe unbedingt notwendig. Wölfe haben keine natürlichen Feinde. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen würde eine Anzahl von ungefähr 1 000 Tieren absolut ausreichen. Laut Statistik gehen auch die geringsten Schätzungen von mehr als dem Doppelten an Wölfen aus, die es in unserem Land gibt. Ich kann nur an Ihren gesunden Menschenverstand appellieren: Folgen wir unseren schwedischen, finnischen und französischen Nachbarn, und bejagen wir die Wölfe, um unsere Weidetierhalter und unsere Bevölkerung zu schützen. Vielen Dank. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält Harald Ebner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stecken mitten im größten Artensterben seit Menschengedenken. Die Wissenschaft warnt vor einem Point of no Return. Und die Union will Wölfe abschießen. Um zu kaschieren, was Sie in Wahrheit wollen, nämlich den Wolf wieder ausrotten, ({0}) reden Sie im Titel Ihres Antrags nicht nur von einer Balance, sondern sogar von einer ({1}) – hören Sie doch mal zu – „ausgewogenen Balance“. Also, ich habe jetzt lange nachgedacht: Ich bin nicht darauf gekommen, was eine nicht ausgewogene Balance wäre. Also, da wäre vielleicht eine Beratung durch das Institut für Deutsche Sprache gar nicht schlecht gewesen. ({2}) Aber nicht mal die Überschrift Ihres Antrags ergibt Sinn, liebe Union, genauso wenig der Inhalt. Hier geht der blanke Populismus mit Ihnen durch. Wer in Ihrem Text nach Hilfen für den Herdenschutz sucht, der „sucht sich einen Wolf“. Aber genau die brauchen wir doch für die Weidetierhalter, und die werden wir auch auf den Weg bringen. Stattdessen schüren Sie Ängste – Kollege Mack mit Rotkäppchen –, ({3}) tischen Scheinlösungen auf und liefern keine konstruktiven Beiträge. Unser wissenschaftlich vorbildliches Bestandsmonitoring, das passt Ihnen nicht, weil Sie lieber mit aufgeblähten Bestandszahlen Panik verbreiten wollen. ({4}) Sie fordern etwas Gutes, Sie fordern die Erfassung von Rissschäden und Kosten für den Herdenschutz – wunderbar, das ist schön. Aber das gibt es doch schon. Also, vielleicht sollten Sie sich einfach mal die Berichte durchlesen; für Ihre Anträge müssten Sie früher aufstehen. Ihr ewiges Mantra „Der Wolf ins Jagdrecht“ wird doch durch ständige Wiederholung nicht praktikabler; vielmehr würden bei Umsetzung durch das Kompetenzwirrwarr schnelle Entnahmen erschwert. ({5}) Unsere Jäger, die haben doch wahrhaft Besseres zu tun, als von Ihnen noch den Abschuss von Wölfen übergeholfen zu bekommen. Ich bin froh, wenn sie die Wildbestände so regulieren können, dass unser Wald vernünftig aufwachsen kann. ({6}) Sie berufen sich mit Ihren Forderungen nach wolfsfreien Zonen und Bestandsregulierungen auf Schweden. Was passiert denn in Schweden? Die kleingehaltene Population ist durch Inzucht gefährdet. Genau deshalb sage ich: Was Sie da wollen, ist eine Ausrottung; denn eine durch Inzucht gefährdete Population ist auf Dauer nicht lebensfähig. ({7}) Außerdem hilft das auch nicht. Sie kriegen doch die ziehenden Jungwölfe gar nicht aus der Welt. Und das, was Sie versprechen, funktioniert nur insofern, wenn Sie den Wolf flächendeckend wieder ausrotten. Das Wort „Artenschutz“ in Ihrem Antrag, das schämt sich ja fast schon selber. Ja, ich wünsche mir von Ihnen tatsächlich mal eine konstruktive Oppositionsarbeit. ({8}) Statt eines Balanceakts, wie Sie ihn eigentlich in Ihrer Überschrift versprechen, haben Sie leider schon wieder das Gleichgewicht verloren. Danke schön. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält Ina Latendorf für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ina Latendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005123, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Wolf ist in Deutschland zurück und hat hier wieder in die Natur gefunden; aber es läuft nicht alles glatt. Der Antrag der Unionsfraktion trägt in Teilen der agrarpolitischen Problematik durchaus Rechnung. Das Problem ist: Sie greifen mit Ihren Schlussfolgerungen meiner Meinung nach bisher fehlenden, aber notwendigen Daten vor. Wir haben leider faktisch keine verlässlichen bundesweiten Daten, auch wenn wir hier gerade etwas anderes gehört haben. Sie haben recht, wenn Sie ein Monitoring und ein aktives Bestandsmanagement fordern. ({0}) Dem stimmen wir Linken zu. ({1}) Ob man in Deutschland allerdings von einem günstigen Erhaltungszustand des Wolfes ausgehen kann, wie Sie es in Ihrem Antrag unterstellen, ist umstritten. Das Bundesumweltministerium zum Beispiel sieht die Wolfsbestände noch weit entfernt von einem günstigen Erhaltungszustand. Die deutschen Schafhalter – einige heute hier im Saal – sehen diesen Zustand natürlich als erreicht an angesichts der Risszahlen, die sie zu verzeichnen haben. Das Problem ist, dass bislang jedes Bundesland für sich das Wolfsmonitoring eigenständig betreibt. In meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, gehen die Fachleute – Stand 2021 – von 14 Wolfsrudeln aus. Ist das zu viel? Was ist der Maßstab? Klare und aktuelle Aussagen zum Erhaltungszustand bundesweit fehlen, und da ist definitiv nachzubessern. ({2}) Liebe Kollegen aus der Union, wenn Sie nun fordern, das Bundesjagdgesetz zu ändern und den Wolf in den Katalog der jagdbaren Arten aufzunehmen, ist das populistisch. Als wenn es so einfach wäre! ({3}) In Ihrer Forderung, „den Wolf von Anhang 4 in Anhang 5 der FFH-Richtlinie neu einzustufen“, sehe ich eine ziemlich schräge Gleichstellung mit Baummarder und Iltis – und das, wie gesagt, ohne belastbare Datengrundlage. Mit Ihren Forderungen gehen Sie den zweiten Schritt vor dem ersten. Lassen Sie uns zunächst den ersten Schritt gehen. ({4}) Es geht darum, zwischen Naturerhaltung, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit eine „ausgewogene Balance“ herzustellen – das ist Ihr Wortlaut –; aber dazu reicht es nicht, Wölfe einfach abschießen zu lassen und die Weidetierhalter dann trotzdem im Regen stehen zu lassen. Wenn Sie etwas für die Weidehaltung tun wollen, dann folgen Sie, erstens, unserer jahrelangen Forderung: Helfen Sie mit, einen verlässlichen, bundesweit einheitlichen Rechtsanspruch auf Erstattung aller Aufwendungen für den Herdenschutz inklusive der Abgeltung der damit verbundenen Arbeitszeit zu garantieren. ({5}) Zweitens. Realisieren Sie, dass die soziale Absicherung der Weidetierhalter jeder Beschreibung spottet! Denn auch ganz ohne Wolf geht es den Schäfern nicht besonders gut. Selbstausbeutung ist an der Tagesordnung. Stundenlöhne von 6 Euro sind keine Ausnahme, und das bei einem Arbeitstag von zwölf Stunden und länger – ohne Wochenende und ohne geregelten Urlaub. Wir fordern eine soziale Absicherung, die dem Engagement dieser Berufsgruppe gerecht wird. Die Regierung muss endlich in der Weidetierhaltung für soziale und ökologische Gerechtigkeit sorgen. Das sage ich klar mit Blick auf die Fehlstellen im aktuellen Haushaltsentwurf. Der Wolf wird nämlich als eine Tatsache für viele erträglicher, wenn der soziale Ausgleich erfolgt, und das sollte doch unser Ziel sein. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die FDP erhält Ulrike Harzer das Wort. ({0})

Ulrike Harzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005076, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Thema des uns vorliegenden Antrages der CDU/CSU ist insbesondere die Problematik der zunehmenden Wolfspopulationen in Deutschland. Diese gestiegenen Zahlen sind aus artenschutzrechtlicher Sicht aufgrund der gewünschten Wiederansiedlung ein voller Erfolg. Die wachsende Menge an Wölfen, insbesondere in einigen der wolfsreichen Regionen Deutschlands, entwickelt sich jedoch inzwischen zu einer zunehmenden Herausforderung für den Menschen ({0}) und hierbei besonders für die Weidetierhaltung. ({1}) Trotz umfangreicher Präventionsmaßnahmen, wie Zäune, Herdenschutzhunde, wachsen die Probleme für die Weidetierhalter. Wolfsrisse von Weidetieren, wie Schafen, Rindern, Pferden, nehmen signifikant zu. Die Union bemängelt nun in ihrem Antrag – wie so oft in letzter Zeit – Zustände und gesetzliche Regelungen, zu deren Klärung und Umsetzung Sie selbst ausreichend Zeit hatten und deren unzureichende Erfüllung Sie selbst zu verantworten haben. ({2}) Das betrifft sowohl das Wolfsmonitoring zur Beobachtung der Bestandsentwicklung des Wolfs als auch das Wolfsmanagement selbst. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren, dennoch sind in dem Antrag einige wichtige Punkte enthalten. Auch wir wollen das Zusammenleben von Weidetieren, Mensch und Wolf gut und mit möglichst wenigen Konflikten gestalten. Gerade der angestrebte Anstieg von Weidetierhaltung in der Natur statt im Stall und der stete Zuwachs des Wolfsbestandes erhöhen die Spannungen und die Konflikte. Dem Schutz von Wölfen, Weidetieren und den menschlichen Bedürfnissen muss aus diesem Grund gleichermaßen Rechnung getragen werden. Zur Wahrheit gehört eben auch, bessere Kriterien für die Möglichkeit zur Entnahme von Wölfen zu schaffen. Bereits im Koalitionsvertrag der letzten Wahlperiode hatten Sie sich selbst schon, liebe Kollegen von der Union, ähnliche Ziele gesetzt, haben aber in vier Jahren keine ausreichende Lösung herbeigeführt. Die 2020 erfolgte Änderung war nicht weitreichend genug. Sie haben solch ein regionales Bestandsmanagement zwar mehrfach diskutiert in Ihrer Fraktion, wie zum Beispiel aus Ihrer Pressemitteilung von 2019 ersichtlich ist, aber dieses nicht eingeführt. ({4}) Hätten Sie dies getan und Ihre Vorhaben tatsächlich umgesetzt, wären die Kleinen Anfragen von Ihnen zu diesem Thema zu Beginn der neuen Legislatur überflüssig gewesen. ({5}) Entweder waren Sie nicht willens genug, oder der Weg zur Problemlösung ist dann doch komplexer und langwieriger. ({6}) In beiden Fällen ist Ihre Kritik an der Ampel für Ihre eigenen Versäumnisse unangemessen. ({7}) Sehr geehrte Damen und Herren, die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Monitoringstandards zu überarbeiten, um den Wolfsbestand in Deutschland realitätsgetreu abbilden zu können. ({8}) Darüber hinaus werden wir den Ländern ein regional differenziertes Bestandsmanagement ermöglichen. Wichtig ist hier jedoch, diese Maßnahmen wohlüberlegt umzusetzen; denn sie müssen im Einklang mit den schwierigen Rahmenbedingungen des europäischen Rechts stehen, um für alle Beteiligten rechtssichere Verhältnisse zu schaffen. Schnellschüsse helfen uns hier nicht weiter. ({9}) Als Ampel werden wir uns jedoch dieses Themas annehmen und deshalb Ihren Antrag für die weitere Arbeit in den Ausschuss verweisen. Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit. Vielen Dank. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt gab schon eine ganze Menge Zwischenrufe von Herrn Otte. Jetzt darf er auch hier am Mikrofon sprechen – für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vielen Dank für die Begrüßung. – Ich meine es sehr ernst. Die Lage in unserer Region ist todernst, wird aber von einigen hier nicht angemessen wahrgenommen. Herr Hocker, was haben Sie damals für einen Wahlkampf gemacht? ({0}) Ich wünsche Ihnen, dass Sie diesen Elan, den Sie damals vor der Wahl hatten, auch gegenüber Ihrem Koalitionspartner zum Ausdruck bringen. ({1}) Ich will Ihnen eins sagen: Versetzen Sie sich mal bitte in die Lage der Schafhalter vor Ort: Bei 13 Angriffen 79 tote Tiere und dazu noch viele, die bei lebendigem Leibe verletzt dahinvegetieren! Herr Ebner, ich hätte mir bei Ihrer Rede – – Herr Ebner? – Dann spreche ich halt nicht zu Ihnen, sondern zum ganzen Hause. ({2}) Ich hatte angenommen, dass Herr Ebner hier konstruktive Vorschläge macht. Was ich überhaupt nicht verstehe, ist, dass die zuständigen Minister für Landwirtschaft und für Umwelt heute nicht da sind. ({3}) Was ist denn das für ein Umgehen mit der Situation vor Ort! ({4}) Dieses Bild, das ich Ihnen schildere, ist bei mir im Wahlkreis, bei uns in der Lüneburger Heide, dem wolfsverdichtetsten Gebiet der Welt, ({5}) tagtäglich zu sehen. Hier werden die letzten Weidetiere verschwinden. Das letzte Rotwild kommt unter Druck. ({6}) Aber vor allem die Schafhalter werden aufgeben. Und da ist es eben nicht mit Erstattungen getan. Diese werden dem täglichen Stress, der vielen Arbeit, den Sorgen, der Fürsorge um die Tiere – die Schafhalter leben von und mit den Tieren – nicht gerecht. Wir müssen diesen Zustand ändern, meine Damen und Herren, und Sie haben nun einmal die Regierungsverantwortung. ({7}) Tiere im Wald, Tiere auf der Heide, Schäfer auf der Heide, das alles ist weg, wenn wir so weitermachen. Jetzt muss gehandelt werden. Es ist genug evaluiert worden. Die Zahlen sind da. ({8}) Der günstige Erhaltungszustand ist längst gegeben. Das müssen Sie nach Brüssel melden, damit die Tiere in den Anhang V der FFH-Richtlinie kommen, sodass man hier in Berlin Möglichkeiten hat, die Gesetze anzupassen, meine Damen und Herren. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Bündnis 90/Die Grünen?

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Niklas Wagener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Geschätzter Kollege Otte, Sie sprachen gerade in Ihrer Rede davon, das Rotwild sei durch den Wolf bereits in Bedrängnis geraten. ({0}) Wie Sie vielleicht wissen, sind unsere Anstrengungen groß, in Zeiten des Klimawandels die Natur zu verjüngen und die nächste Waldgeneration hochzuziehen. Die hohen Wilddichten in Deutschland tragen ihren Teil dazu bei, dass ein Erfolg dieser harten Arbeit vieler Försterinnen und Förster nur schwer gelingt. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob Sie von diesem Problem der hohen Wilddichten wissen ({1}) und ob Sie davon wissen, dass der Wolf hier natürlich einen Beitrag leisten könnte, wieder in ein natürliches Gleichgewicht zu kommen, das heute so nicht vorhanden ist und das erfolgreichen Waldumbau – fit für die Zukunft – heute nur sehr schwer möglich macht. ({2})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geschätzter Herr Kollege, da fragen Sie genau den Richtigen. Ich habe viele Pflanzen selbst gesetzt im Wald. Ich bin selbst Jäger. ({0}) Ich komme aus der Lüneburger Heide, und ich lade Sie ganz, ganz herzlich ein, nicht nur unsere Truppenübungsplätze zu besuchen, sondern auch die Gebiete, wo die Förster sind, ({1}) wo aber auch die privaten Waldbauern sind. Das Rotwild gerät dermaßen unter Druck und wird auch bei lebendigem Leibe aufgefressen. Sie haben Verantwortung für Flora und Fauna, meine Damen und Herren. Deswegen sage ich: Wenn das letzte Weidetier verschwunden ist, dann brauchen Sie keinen günstigen Erhaltungszustand mehr zu melden. Jetzt haben Sie die Verantwortung, meine Damen und Herren. ({2}) Wir haben eine völlige Überkonzentration von Wölfen. Das Rudelverhalten des Rotwildes ist so, dass sie sich zusammenführen wie Wagenburgen. Ich lade auch Sie ein, zu kommen. Öffnen Sie endlich mal die Augen! Haben Sie Verständnis für die Schafhalterfamilien, wenn die ansehen müssen, wie ihre Tiere zugrunde gehen, meine Damen und Herren! Es liegt daran, dass wir eine Überkonzentration haben. Der günstige Erhaltungszustand ist längst gegeben. Das muss nach Brüssel gemeldet werden, ({3}) damit wir hier in Deutschland Maßnahmen ergreifen können. Ich lade die Bundesumweltministerin, Herr Staatssekretär, sehr herzlich ein, mal zu kommen, mit den Schafhaltern zu sprechen und uns hier nicht Populismus vorzuwerfen. Keiner Ihrer Rednerinnen und Redner hat gesagt, was sie machen würden, wenn sie Schafhalter wären. Sie haben uns nur Populismus vorgeworfen. Wir setzen uns ein für die Menschen, für die Tiere. ({4}) Wir fordern Sie auf: Machen Sie endlich von ihrer Verantwortung Gebrauch! Melden Sie endlich die Zahlen, die da sind, nach Brüssel! Der günstige Erhaltungszustand, Herr Ebner, ist längst erreicht beim Wolf. ({5}) Es muss jetzt gehandelt werden. Wir bitten Sie herzlich darum. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Ich möchte nur bemerken: Zwischenfragen lasse ich in der Regel schon zu; aber ich unterbreche ungern den Redefluss. Es wäre schön, wenn die Redner mir also ab und zu eine Chance geben würden. Wenn sie es gar nicht wollen, ist es natürlich etwas anderes. Es erhält das Wort Dr. Franziska Kersten für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär und sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Sie sind natürlich hier, weil Sie dieses Thema wichtig finden. Ich möchte einmal etwas zu Herrn Otte sagen: Das war viel Meinung und wenig Ahnung. ({0}) – Alles ist gut. – Ich fand es schon sehr interessant, dass Sie den Titel Ihres Antrags geändert haben. Ursprünglich war es „Weidetierhaltung durch nachhaltiges Wolfsbestandsmanagement ermöglichen“. Da konnte ich so ein bisschen nachvollziehen, was Sie wollen. Mit dem jetzigen Titel zeigen Sie, dass Sie den Wolf abschießen wollen. Das Problem ist dadurch einfach nicht gelöst. Wenn Sie das nur damit machen, aber nicht für Herdenschutz sorgen, dann müssen Sie alle Wölfe abschießen. Aber das schaffen Sie gar nicht mehr. ({1}) Außerdem gibt es eine Reihe von Einrichtungen, die sich intensiv mit Wolfsmonitoring und ‑management beschäftigen. Es gibt die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes in Görlitz und das „Bundeszentrum Weidetiere und Wolf“ der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung in Eberswalde. Unser Ziel auf Bundesebene sollte sein, sie dauerhaft und personell gut auszustatten, damit sie der Erfüllung ihrer Aufgaben wirklich nachkommen können. Es gibt auch viele regionale Institutionen, nicht zuletzt das Wolfskompetenzzentrum meines Heimatlandes Sachsen-Anhalt. Denn die Rückkehr der Wölfe erfordert einfach auch eine präventive Anpassung der Weidetierhaltung. Hier ist die Initiative der Tierhalter unverzichtbar, um durch Wölfe verursachte Schäden zu vermeiden bzw. zu minimieren. Wölfe sind sehr lernfähig, und bei mangelhaften oder fehlenden Präventionsmaßnahmen können wiederholte Übergriffe eine Herde wirklich gefährden. Vorbeugung ist die beste Schadensverhütung. ({2}) Weidetiere sind essenziell für den Erhalt der Kulturlandschaft. Wir nehmen daher die berechtigten Sorgen der Weidetierhalter sehr ernst. ({3}) Natürlich muss ihnen eine wirtschaftliche Zukunft ermöglicht werden. Das kann nur mit effektivem Herdenschutz funktionieren. Das beginnt mit einer individuellen Beratung; denn man kann das Geld nur sinnvoll verwenden, wenn man weiß, wie man es anstellt. Hier müssen die Maßnahmen genau auf den Einzelfall abgestimmt werden. Insbesondere der technische Herdenschutz ist zu nennen. Es können feste oder mobile Zäune sein, in Kombination mit elektrischen Weidezaungeräten. ({4}) Die Anschaffung wird finanziell unterstützt, und die Einhaltung der Mindeststandards bei Zaunhöhe und Beschaffenheit ist eine Voraussetzung für Entschädigungszahlungen. Der richtige Zaun mit der notwendigen Spannung gewährleistet nach Aussage von Experten ungefähr 80 Prozent der gesamten Schutzwirkung. Durch geeignete Herdenschutzhunde können Sie das eben noch mal um 15 Prozent erhöhen. Ein Restrisiko ist sicherlich nicht auszuschließen; aber ich habe lange Erfahrungen in Sachsen-Anhalt. Mit einem 1,20-Meter-Zaun mit vernünftiger Spannung waren in diesen zwei Jahren keine Verluste von Weidetieren zu beklagen. Wir haben das in der IG Herdenschutz plus Hund, die von einem Schäfermeister in Sachsen-Anhalt organisiert wird, diskutiert. Er hat bisher keinen Weidetierhalter, den er beraten hat, der seinen Beratungen folgt, mit Problemen in der Weidetierhaltung festgestellt. Ich würde Sie einladen, nach Sachsen-Anhalt zu kommen. ({5}) Wir können das uns zusammen mal anschauen. ({6}) Schauen wir uns die Ergebnisse der Herdenschutzmaßnahmen in Sachsen-Anhalt an: Während es im Monitoringjahr 2019/2020 385 Nutztiere bei 95 Wolfsübergriffen erwischt hat, waren es 2020/2021 nur noch 233 Tiere bei 62 Übergriffen – und das bei einer steigenden Rudelzahl. ({7}) So sieht erfolgreiches Wolfsmanagement aus. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nee. ({0}) Herdenschutz und die Umsetzung der artenschutzrechtlichen Regelungen sind vor allem Ländersache. Der Bund unterstützt die Länder dabei, tragbare und sachgerechte Lösungen für präventiven Herdenschutz zu finanzieren. Das erklärte Ziel im Koalitionsvertrag ist es, den Erfahrungsaustausch zu bündeln. Daher arbeiten wir gerade an der Einrichtung eines Dialogs „Weidetierhaltung und Wolf“. Die mit diesen Fragen befassten Organisationen und Verbände werden daran teilnehmen. Ob die Zuständigkeit für die Rissbegutachtung direkt bei den Landesbehörden liegen sollte, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, würden wir auch dort beraten. In Gebirgslagen und an Deichen ist der Herdenschutz eine besondere Herausforderung. Es liegt daran, dass es sich oft um unwegsames und unübersichtliches Gelände handelt oder aber Vorgaben des Hochwasserschutzes zu beachten sind. Was wir nicht machen können, ist die Einrichtung wolfsfreier Zonen, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren. Wir haben nämlich festgestellt, dass es EU‑rechtswidrig wäre, wie der EuGH in seinem Urteil vom 10. Oktober 2019 schon einmal bestätigt hat. ({1}) – Der Herr Auernhammer hat eine Frage.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es sind noch fünf Sekunden. Aber bitte schön.

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin und Frau Dr. Kersten, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben uns jetzt sehr viel von den Zaunmaßnahmen, von den Zäunungen erzählt. Abgesehen davon, dass diese Zäune in der Auslegung verdammt schwer sind und unsere Schäfer da sehr viel zu schleppen haben – im wahrsten Sinne des Wortes –, möchte ich Sie fragen: Wie stellen Sie es sich vor, dass man diese Zäune am Hochfelln, am Hochries, in den Bergen oder an den Teichen aufstellen soll? Wie stellen Sie sich vor, dass man da einen wolfssicheren Zaun über die Berge baut? Ich weiß nicht, ob Sie den Jubiläumsgrat kennen, ob Sie diese Bergregionen kennen. Wie stellen Sie sich vor, dass man hier wolfssichere Zäune aufstellen kann? Da ich aber weiß, dass Sie gleich mit dem Argument der Herdenschutzhunde kommen: Wir haben hier wunderbare Wandergebiete. Hier ist der Tourismus eine Einkommensquelle für die ganzen Täler. Wie wollen Sie sicherstellen, dass diese Herdenschutzhunde die Touristen, auch wenn sie aus Sachsen-Anhalt kommen, nicht angreifen? Danke schön.

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Auernhammer, danke für diese Frage. – Da kann ich jetzt schon darauf hinweisen, dass Sie 2021 gemeinsam mit uns einen Entschließungsantrag beschlossen haben, um die Forschung zu effektivem Herdenschutz in diesen besonderen Gebieten zu unterstützen. Aktuell läuft genau dieses Forschungsprojekt an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Wir sind sicher gut beraten, uns die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Untersuchung anzuschauen und danach zu entscheiden, wie wir da weiter vorgehen. ({0}) Außerdem möchte ich gerne betonen, dass das Land Niedersachsen aus Landesmitteln Forschung zu besserem Herdenschutz auch an Deichen fördert. Dort werden Umweltschutz und Landwirtschaft eben immer schon zusammengedacht. Mein Dank geht daher an den Minister Olaf Lies. ({1}) Wenn es trotz Herdenschutz zu Nutztierrissen durch Wölfe kommt, werden diese selbstverständlich entschädigt. Ich betone noch einmal: Prävention durch Herdenschutz ist der beste und eigentlich der einzige Weg. Vielen Dank. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort geht noch mal an die CDU/CSU-Fraktion, an Alexander Radwan. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche jetzt hier nicht, weil ich in den zuständigen Ausschüssen bin, sondern weil ich wie der Kollege Otte als lokaler Abgeordneter mit dem Thema konfrontiert bin – aber jetzt nicht im Norden, sondern im Süden, dort, wo die Almen zu Hause sind. Dort ist schon seit sehr, sehr langer Zeit der Wolf ein großes Thema. Dort haben die Bauern schlicht und ergreifend das Gefühl, dass Teilen der deutschen Politik der Wolf wichtiger ist als ihre Höfe, als die Almen, als der Erhalt der kleinen Landwirtschaft. ({0}) Das betrifft uns in Bayern bei den Almen, bei den Alpen, aber auch in Tirol. Und die Meldung, die ich die Tage aus Tirol bekommen habe, ist: 300 Tiere gerissen, über 1 500 Tiere frühzeitig abgetrieben. Weil die Bauern es satthaben und ihre Tiere nicht mehr sicher sind, führen sie diese runter, meine Damen und Herren. ({1}) Gerade Almbauern arbeiten mit sehr viel Idealismus, mit sehr viel Leidenschaft auf ihren Almen, setzen sich dort ein; das ist sehr arbeitsintensiv. Und viele profitieren davon: Ausflügler, Wanderer, Mountainbiker.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das jetzt einfach mal zu Ende führen; ich habe ja eh nur drei Minuten.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Also: Nein.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Besten Dank. – Dann ist es umso erstaunlicher, wenn bestimmte Ziele, die immer hochgehalten werden, wie Tierschutz oder das Ziel, dass die Anbindehaltung verhindert werden soll usw., dadurch konterkariert werden. Denn ein natürlicheres Leben wie auf der Alm gibt es für die Tiere nicht. Was ist Ihnen da wichtiger? Wollen Sie, dass die Bauern Stück für Stück aufhören? Was geschieht eigentlich mit der Artenvielfalt, wenn in kürzester Zeit die Almen wieder versteppen? ({0}) Meine Damen und Herren, da sind Sie selber nicht konsistent in Ihrer Argumentation. Ihnen ist der Wolf wichtiger als all die anderen Argumente, die Sie regelmäßig anführen. ({1}) Und der Höhepunkt war vor einem Jahr. Da haben sich die Bauern die Mühe gemacht, mal so einen Zaun hinzustellen. Da war dann ein Vertreter des BUND Naturschutz, und der hat bei seinem Grußwort gesagt: Ich bin dafür, dass es zwischen Almbauern und Wolf eine Koexistenz gibt. Wenn dieses aber nicht möglich ist, dann müssen die Almbauern – die seit Jahrhunderten ihre Almen haben – ihren Betrieb eben einstellen. – Das sagt dieser Mann diesen Menschen ins Gesicht, die alles daransetzen, unsere Kulturlandschaft entsprechend zu erhalten. ({2}) Meine Damen und Herren, in manchen Regionen ist eine Koexistenz nicht möglich. Da darf man nicht nur träumen, sondern da muss man der Realität ins Auge schauen. Man muss diese Menschen in ihren Sorgen ernst nehmen und schauen, dass die Almwirtschaft dort vorangeht, und darf nicht nur in Sonntagsreden oder bei Almbegehungen entsprechend das Hohelied singen, aber am Schluss die Menschen alleinlassen. Besten Dank, meine Damen und Herren. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für eine Kurzintervention erhält das Wort der Kollege Lenkert von der Fraktion Die Linke.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Radwan, sind Ihnen folgende Zahlen bekannt? Im Jahre 2005 gab es in Deutschland 2,64 Millionen Schafe. Im Jahre 2013, als es fast noch keine Wolfsbestände gab, war die Zahl auf 1,5 Millionen Schafe gesunken. Um diese Zahl pegelt es sich bis heute ein. Die Ursache ist die unzureichende Finanzierung der Weidetierhaltung. Meine ehemalige Kollegin Kirsten Tackmann hat Sie jedes Jahr darauf hingewiesen, dass wir dringend eine Weidetierprämie brauchen, ({0}) um die Weidetierhalter, die Schäferinnen und Schäfer und auch Ihre Almbauern zu unterstützen, damit sie die Kulturlandschaft erhalten können. Sie haben dies jedes Mal verhindert. ({1}) Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir auch dieses Jahr wieder 50 Millionen Euro extra für eine Weidetierprämie fordern, für die Weidehaltung, damit die Weidetierhalter, die Schäferinnen und Schäfer die Chance haben, zu überleben. ({2}) Was fordern Sie? Sie fordern, den Wolf abzuschießen. Das ist alles, was Sie kennen; das ist doch billig. ({3}) Ein nächster Punkt. Wir haben jahrelang gefordert – meine Kollegin Kirsten Tackmann hat das jedes Mal getan –, endlich mehr Weideschutzmaßnahmen zu finanzieren, Weideschutzhunde zu finanzieren, ein Herdenschutzzentrum richtig aufzubauen. Sie haben dies verhindert. Und jetzt einfach die Wölfe abschießen zu wollen, ist der falsche Weg. Selbst wenn jeder Wolf getötet werden würde, liebe Schäferinnen und Schäfer, wird Ihre Existenz trotzdem nicht besser, weil Sie die Weidetierhaltung nicht gut finanziert bekommen, weil Sie nicht genügend Geld verdienen können. Ohne eine Weidetierprämie werden Sie nicht überleben können, ob mit Wolf oder ohne Wolf. Deswegen fordern wir eine Weidetierprämie ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Wollen Sie erwidern? – Bitte schön.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben mich gefragt, ob ich die Zahlen kenne. Ich kann Ihnen sagen, was bei mir in diesem Sommer in den Alpen passiert ist und was mir die Bauern erzählt haben; das kann ich Ihnen erzählen. ({0}) Da können Sie gerne mal zu mir rauskommen und sich anhören, was die Bauern zu sagen haben. Denn mir geht es nicht primär um die Schafe, sondern auch um die Kuhhaltung und die Tiere, die dort von der Klippe abstürzen. Sie können gerne vorbeikommen und sich das anschauen. Ich halte es – und das abschließend – für blanken Zynismus. Die Bauern fragen mich nicht nach Geld oder irgendwelchen entsprechenden Zahlungen dafür. ({1}) Sie wollen in Ruhe sicher für ihre Tiere sorgen und nicht zusehen, wie sie verenden müssen. Das ist purer Zynismus, was Sie hier sagen. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Zum Abschluss dieser Debatte erhält Zoe Mayer von den Grünen das Wort. ({0})

Zoe Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja schon ein bisschen absurd: Die Menschheit weiß, wie man zum Mond fliegt, aber beim Punkt Weidetierschutz oder Weidetierhaltung, da fällt der Union wirklich gar nichts ein außer „abschießen“, und das ist wirklich sehr, sehr traurig bei so einer Debatte. ({0}) Die Weidetierhaltung ist ein großer Fortschritt für den Tierschutz. Denn natürlich ist die Weidetierhaltung besser als alles, was die Stalltierhaltung zu bieten hat. Die Weidetierhaltung hat noch andere positive Aspekte in Bezug auf unsere Umwelt, zum Beispiel beim Landschaftsschutz oder beim Humusaufbau. Deswegen müssen wir die Weidetierhaltung politisch natürlich unterstützen. ({1}) Wir haben eindeutig Probleme mit Wolfsrissen; wir erkennen das an. Genau deswegen beschäftigen wir uns damit, ernsthafte Maßnahmen zu finden, und fordern nicht einfach wild populistisch: den Wolf abschießen. Wir wissen, dass es das Problem nicht lösen wird. ({2}) Wir haben heute schon einige Punkte zum Thema Herdenschutz angesprochen. Auch meine Kollegin Franziska Kersten hat bereits darauf hingewiesen. Wir haben eine tolle Dokumentation darüber, was hilft und was wir beim Herdenschutz eigentlich tun können. Wir sehen auch: In über 80 Prozent der Fälle, wo es Wolfsrisse gab bei Schafen und Ziegen, gab es keinen hinreichenden Herdenschutz oder sogar gar keinen Herdenschutz. ({3}) Da müssen wir ansetzen; da müssen wir auch von unseren Nachbarländern lernen, die ja schon länger den Wolf beheimaten. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Zoe Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich glaube, wir haben dazu tatsächlich schon alles gesagt. – Mir ist es wichtig, noch mal darauf hinzuweisen: Wir haben in den Ländern schon fast flächendeckend Förderprogramme. Fast alle Bundesländer bieten das an, und auch der Bund unterstützt mit Fördermitteln über die GAP und über die GAK. Also: Es passiert viel. Wir sind natürlich bereit, unser Instrumentarium auch fortwährend weiterzuentwickeln. Da könnten Sie sich auch mal konstruktiv einbringen. Das, glaube ich, wollen Sie an der Stelle aber gar nicht. ({0}) Alle, die heute den Abschuss des Wolfes fordern, die sollen uns doch bitte einmal nachweisen, dass das Abschießen wirklich eine wirksame und vor allen Dingen eine gerechtfertigtere Maßnahme für den Tierschutz und für den Artenschutz ist als die anderen Maßnahmen, die wir haben. Das tun Sie nicht, und ich bin mir sicher: Sie können es auch nicht. ({1}) Zum Abschluss der Debatte muss man sagen, gerade weil die CDU/CSU heute so viel über Tierschutz gesprochen hat: Es ist natürlich die traurige Ironie heute: Wenn der Wolf am Ende die Weidetiere nicht tötet, der Mensch tut es ganz sicher. ({2}) Deswegen ist der beste Tierschutz natürlich, gar nicht zu töten. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Damerow das Wort.

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie haben sehr viel von Weidetierschutz, von Zaunschutz usw. gesprochen. Nun, mein Wahlkreis ist Nordfriesland und das nördliche Dithmarschen, hinter den Deichen. Wie Sie vielleicht wissen, ist Zaunbau auf den Deichen nicht zu verwirklichen. Auf der anderen Seite ist Schafhaltung auf unseren Deichen unverzichtbar, um den Deich überhaupt erst sicher zu machen. Jetzt frage ich Sie: Wie soll denn ein Weidetierschutz in einer Region wie der meinen, in der man eben nicht zäunen kann, funktionieren? ({0}) Übrigens ist das ein ähnliches Problem wie auf den Almen. Darauf haben Sie keine Antworten. Dieses Thema diskutieren wir wirklich schon sehr lange, und es treibt die Schafhalter in meiner Region um. Dort ist eben Ende mit „Wir ziehen Zäune“. Das geht nicht. Die Haltung von Hütehunden geht ebenfalls nicht. Was schlagen Sie diesen Menschen vor? Sind Sie wenigstens bereit, sich darüber Gedanken zu machen, dass wir in Deutschland auch Regionen brauchen, in denen es den Wolf nicht gibt? ({1})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin Mayer, wollen Sie erwidern?

Zoe Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Sie sagen natürlich, wir hätten uns nicht mit Maßnahmen befasst. Ich finde es, wie gesagt, einfach sehr traurig, dass die Union nichts anderes als das Abschießen zu bieten hat. ({0}) Darüber sind wir uns ja alle einig – Sie haben es heute artenschutzrechtlich noch einmal ausführlich begründet bekommen –: Das geht auch nicht. Wir haben, wie gesagt, einige Möglichkeiten für den Herdenschutz; ({1}) Frau Dr. Kersten hat da schon einiges aufgezählt. Ich möchte keine Redundanz in die Debatte bringen ({2}) und immer wieder die gleichen Argumente wiederholen. Aber Sie sind sehr herzlich eingeladen, sich bei uns konstruktiv an dieser Debatte zu beteiligen. ({3}) Wenn der einzige Vorschlag immer wieder ist: „Abschießen!“, dann ist das leider nicht konstruktiv. Vielen Dank. ({4})

Michael Sacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005298, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als dezidierter Nichtjurist spreche ich hier bei diesem Thema als überzeugter Europäer und nicht nur als Mitglied des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union – als ein überzeugter Europäer, der auch mithilfe der trockenen Rechtsprechung hofft, die Zukunft auf unserem Kontinent und darüber hinaus friedlich und prosperierend gestalten zu können. „Prosperierend“ ist hier allerdings nicht in einem herkömmlichen, vereinfachten Sinne mit „Wirtschaftswachstum“ zu verwechseln, sondern weit darüber hinaus als ein blühendes Gedeihen einer vielfältigen Zivilgesellschaft zu verstehen. ({0}) Wie schon das Sams in den Büchern von Paul Maar bei dem Gebrauch von Wunschpunkten einforderte, „genauestens genau“ zu wünschen, so ist es auch auf dem Feld der Rechtsprechung wichtig und wesentlich, genau zu sein, nachzujustieren, wenn sich Probleme bei der Durchsetzung des gültigen Rechtes zeigen. Die Europäische Kommission möchte erreichen, dass die Verletzungen von EU-Sanktionen zu Straftaten erklärt werden, um so die Verfolgung effektiver zu gestalten. Wir als Bundestag müssen dem zuvor zustimmen, sodass Verstöße gegen die von der EU verhängten Sanktionen in den Kriminalitätsbereich übernommen werden können. So einfach, so gut. Darum geht es hier. Nicht unwesentlich ist vielleicht der Hinweis, dass Deutschland das letzte europäische Land ist, das hier noch auf nationaler Ebene zustimmen muss. Dies liegt diesmal nicht am langsamen Internet, sondern daran, dass wir eines der wenigen Parlamente sind, die überhaupt damit befasst werden – ein Zeichen unserer starken parlamentarischen Demokratie. ({1}) Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, ist diese rechtliche Schwachstelle bei den Sanktionen noch einmal deutlich hervorgetreten, verbunden mit dem Problem, dass eine Harmonisierung des Strafmaßes in den Mitgliedstaaten vonnöten ist. Denn wenn das Strafmaß in den unterschiedlichen europäischen Ländern von einigen Tausend bis zu mehreren Hunderttausend Euro variiert, lässt das nicht nur Fachleute wie Laien staunen, sondern zeugt auch nicht gerade von einer gut aufgestellten, einheitlichen Geschlossenheit. Sanktionen zu verhängen, ist das eine, sie aber auch nachhaltig und effektiv durchsetzen zu können, das andere. Hier nachzubessern, ist notwendig und dringend geboten. Die Anhörung von Expertinnen und Experten im Ausschuss hat das einhellig und deutlich unterstrichen, nicht ohne auf die Schwierigkeiten im Detail, nämlich die Präzisierung, zu verweisen. Aber diese ist auch erst der zweite Schritt auf europäischer Ebene, den wir heute durch unseren Beschluss erst ermöglichen. Es geht um eine vernünftige, nachvollziehbare Regulierung, die jetzt vor allem rechtlich abgesichert werden muss, damit die Europäische Union in diesem Punkt international handlungsfähig und verlässlich bleiben kann. ({2}) Diese Regelung ist, um es knapp zu sagen, einfach notwendig und wichtig. Der Teufel wird sicherlich noch im Detail stecken, wo zum Beispiel die einzelnen Tatbestände noch rechtssicher und – wir erinnern uns – „genauestens genau“ definiert werden müssen. Hier seien nur alle in diesem Haus beruhigt; denn diese Ausformulierung wird erneut hier im Parlament verhandelt und besprochen und dann erst auf den rechtsgültigen Weg gebracht. Eingangs wies ich schon darauf hin, dass ich ein überzeugter Europäer bin, ein Umstand, auf den hinzuweisen in diesen Tagen vielleicht wieder notwendiger wird, als alle hier – oder fast alle hier – gedacht und gehofft hatten. ({3}) Eine starke Gemeinschaft verträgt durchaus Unruhen, Aggressionen von innen und außen, kann darauf reagieren, damit diskursiv umgehen. Und nicht nur in der Europäischen Union hilft Kritik häufig, einfach besser zu werden. So wie Demokratie nie ein festgefügter Endzustand ist, sondern ein Prozess, ein immerwährendes Aushandeln, so ist es auch mit der Europäischen Union. Vielstimmigkeit und Diversität sind dabei unsere Stärken. ({4}) Stumpf mit dem nationalen Kopf durch die Wand zu wollen oder vielmehr faktenfrei mit diesem an die Wand zu schlagen, ist weder eine gute Strategie noch eine konstruktive Politik; es tut auch meistens schon beim Zuschauen weh. ({5}) Die Europäische Union wird beständig von uns neu gestaltet, hoffentlich Schritt für Schritt verbessert und den jeweils aktuellen Gegebenheiten angepasst. Wenn Kritik aber in Hass umschlägt und alles Konstruktive vermissen lässt und es nicht um eine Verbesserung, sondern einfach nur noch um die Zerstörung geht, dann ist ein Punkt erreicht, wo wir hier in unserem Parlament, in unserem Land, in Europa und in Brüssel für eines der stärksten Friedensprojekte kämpfen müssen – nicht kämpfen, wie die Ukraine mit schweren Waffen gegen einen Aggressor von außen kämpfen muss, sondern von innen heraus kämpfen, mit Überzeugung, Fakten und den Möglichkeiten, die ein freies Miteinander bieten. ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen, nur in einem freien und diversen Miteinander werden wir uns für eine gelingende Zukunft aufstellen können, in einer Europäischen Union, in der wir unsere Konflikte regelbasiert und ohne ein nationalistisches „Ich zuerst!“ lösen können. ({7}) Und manchmal sind es eben vermeintlich kleine juristische Maßnahmen, die einen nicht unwesentlichen Anteil am Gelingen eines großen Kampfes für den Frieden in Europa haben. Danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Catarina Santos Firnhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Putins Teilmobilmachung vor einer Woche sowie den Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine neue Stufe erreicht. Als Reaktion darauf hat die EU-Kommission gestern einen Vorschlag für ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland vorgelegt. Enthalten sind unter anderem weitere Importbeschränkungen im Wert von 7 Milliarden Euro sowie die Rechtsgrundlage für einen Preisdeckel für Ölimporte aus Russland. Neben neuen Sanktionspaketen bedarf es jedoch vor allem auch endlich einer effektiveren Durchsetzung der bereits bestehenden Sanktionen sowie einer Ahndung von Verstößen. Aktuell bestehen zwischen den Sanktionsregimen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten signifikante Unterschiede, was deren Wirkkraft insgesamt deutlich abschwächt. So handelt es sich in einigen Mitgliedstaaten bei entsprechenden Verstößen um Ordnungswidrigkeiten, in anderen Ländern um schwere Straftaten, die mit langen Freiheitsstrafen geahndet werden. Angesichts dieses unterschiedlichen Umgangs der Mitgliedstaaten mit Sanktionen ist es höchste Zeit, das Sanktionsstrafrecht auf EU-Ebene zu harmonisieren und so gewisse Mindeststrafen bei Verstößen in allen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten. ({0}) Wir müssen als EU einheitlich und stark reagieren können. Jede Umgehung von Sanktionen, jedes Schlupfloch schwächt die Sicherheit, die Verhandlungsbasis und letztendlich auch die Reputation der EU und jedes Mitgliedstaats selbst. ({1}) Grundsätzlich liegt das Strafrecht in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Allerdings darf die EU nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV Mindestvorschriften für Straftaten und Strafen in besonders schwerwiegenden Kriminalitätsbereichen festlegen, die eine grenzüberschreitende Dimension haben. Das gilt zum Beispiel schon für den Bereich der Geldwäsche, wo durch komplexe grenzüberschreitende Verflechtungen eine länderübergreifende Strafverfolgung und Zusammenarbeit sinnvoll und notwendig ist. Im Mai dieses Jahres hat die EU‑Kommission den Vorschlag für einen Beschluss des Rates vorgelegt, demzufolge auch das Sanktionsstrafrecht aufgrund seiner grenzüberschreitenden Dimension in die Liste jener Kriminalitätsbereiche aufzunehmen ist. Aus meiner Sicht ein absolut wichtiger und richtiger Schritt. Mir ist es an dieser Stelle noch mal wichtig, zu betonen, dass der Deutsche Bundestag sich auch in kurzer Zeit intensiv in dieses Thema eingearbeitet und zu den Themen beraten hat – sowohl in unserer Fraktion als auch in den entsprechenden Gremien, zuletzt gestern im Europaausschuss und am Montag in der öffentlichen Anhörung. So werden wir unserer Integrationsverantwortung deutlich und umfassend gerecht. ({2}) Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält zur Überraschung vieler auch einen Passus zum Infektionsschutzgesetz. Wie kommen wir jetzt vom AEUV zum Infektionsschutzgesetz? Aufgrund des Omnibusverfahrens. Wie in einem Bus – bildlich gesprochen – kommt in unserem Fall ein weiterer Passagier dazu, und wir fahren gemeinsam durch dieses Gesetzgebungsverfahren. In diesem Fall geht es um eine Änderung im Infektionsschutzgesetz. Auf Druck der unionsgeführten Länder hat der Bundesrat vor zwei Wochen nun entschieden, dass es nach einer überstandenen Coronainfektion keine Testpflicht für Kinder, Jugendliche und Beschäftigte bei der Rückkehr in Schulen, Kitas sowie Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe geben soll, welche zu einer stärkeren Belastung der vorgenannten Personengruppen geführt hätte. Erwachsene können schließlich auch nach einer überstandenen Coronainfektion ohne negativen Test an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Wir begrüßen daher ausdrücklich diese Streichung. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu unserem Gesetzentwurf zu den Sanktionen. Wie sieht das weitere Verfahren aus? Wird der Beschluss des Rates angenommen, kann die EU-Kommission in einem zweiten Schritt eine konkrete Richtlinie für eine EU-weite Mindestharmonisierung von Sanktionen vorlegen, die dann wiederum, wie schon erwähnt, in nationales Recht umgesetzt werden muss. Wenn es im nächsten Schritt dann in die nationale Umsetzung geht, ist es mein Wunsch und Anliegen, eine enge Abstimmung auf nationaler Ebene zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Dazu gehört für mich auch eine enge Abstimmung unter den Parlamentariern in den verschiedenen Foren, die wir dafür haben. Ein gutes Beispiel – das wäre mir wirklich ein Herzensanliegen in dieser Sache – ist ein gemeinsamer Austausch mit den französischen Kollegen in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. In jedem Fall wird uns dieses Thema auch auf parlamentarischer Ebene noch eine längere Zeit begleiten. Wir sehen uns also wieder. Herzlichen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Das Wort erhält Fabian Funke für die SPD-Fraktion. ({0})

Fabian Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005057, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was hinter diesem – zugegebenermaßen – etwas verwaltungsdeutsch und kompliziert klingenden Tagesordnungspunkt steht, ist ein weiteres wichtiges Signal der Unterstützung der Ukraine gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation. Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir als Europäische Union gemeinsam stark sein können, wenn wir geschlossen agieren. ({0}) Das haben wir bei der politischen Unterstützung der Ukraine gesehen. Das haben wir bei der materiellen Unterstützung der Ukraine gesehen. Und das haben wir auch immer bei den Sanktionen gesehen – auch wenn es manchmal schwer war, Einigkeit unter den Mitgliedstaaten herzustellen, weil die Gegebenheiten und Abhängigkeiten so unterschiedlich sind. Hier in Deutschland haben wir mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz bereits national die Voraussetzungen geschaffen, Verstöße gegen die Sanktionen entsprechend zu ahnden. Mit der Änderung des Artikels 83 AEUV schaffen wir sie auch europäisch. ({1}) Doch was genau verbirgt sich dahinter? Mit der Befähigung der Bundesregierung zur Zustimmung der Änderung des Artikels 83 Absatz 1 AEUV im Europäischen Rat fügen wir dem Katalog grenzüberschreitender europäischer einheitlicher Bekämpfung von Kriminalität einen neuen Kriminalitätsbereich hinzu: Verstöße gegen die EU-Sanktionsbeschlüsse. Dieser Schritt ermöglicht uns, gemeinsame europäische Mindeststandards für die Strafen bei Verstößen gegen die Sanktionen festzulegen. Wir werden Schluss machen mit den Dutzenden unterschiedlicher, nationalstaatlich organisierter Sanktionsregime. Wir legen das Fundament dafür, dass künftig Sanktionsbeschlüsse das Ende und nicht der Anfang von Umsetzungsdebatten sind. ({2}) Wir machen dem russischen Regime deutlich: Hier handeln 27 Staaten von der Atlantikküste bis zur ukrainischen Grenze als Einheit. Die Sanktionsverstöße in den Katalog aufzunehmen, ist im Übrigen auch ein mustergültiges Beispiel für die Anwendung des Artikels 83; denn sie erfüllen die beiden ausschlaggebenden Kriterien dafür außerordentlich: Sie repräsentieren einen besonders schweren Kriminalitätsbereich und haben eine grenzüberschreitende Dimension. Denn welches Verbrechen könnte schwerer wiegen als Handlungen gegen unsere gemeinsamen Bemühungen, Frieden und Freiheit in Europa wiederherzustellen? Und welcher Tatbestand könnte grenzüberschreitender sein, als beispielsweise mit Verstößen gegen die Finanzsanktionen hier bei uns die Kriegsmaschinerie in Russland zu finanzieren? Die besondere Notwendigkeit, diese Kriminalität auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, ist offensichtlich. Aber scheinbar nicht offensichtlich genug. Denn abgesehen von der Opposition ganz rechts hier im Plenum und leider Gottes auch Teilen der Opposition ganz links im Plenum, auf die ich eigentlich gar nicht weiter eingehen möchte, weil es nichts bringt, gibt es derzeit immer noch eine laute Stimme aus der Mitte dieses Parteienspektrums, die es auch nach sieben Monaten an Gräueltaten immer noch nicht verstanden hat und anders sieht. Gerade als Abgeordneter aus Sachsen ist es mir deshalb besonders wichtig, noch mal grundsätzlich ein paar Worte zu den Sanktionen und ihrer Wichtigkeit zu verlieren. Russland führt seit sieben Monaten einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die russische Armee begeht systematisch Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Russland finanziert seit Jahren in Europa rechtsradikale Bewegungen, Parteien und Kandidaten. Russland arbeitet aktiv an der Destabilisierung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch massive Desinformationskampagnen. Die europäischen Sanktionen sind unsere Reaktion darauf. Die hohen Gaspreise, die blockierten Lebensmittellieferungen, die versiegelten Pipelines – das sind alles Druckmittel der russischen Regierung, mit der sie nur eins erreichen will: dass wir ihr alles durchgehen lassen, dass wir nicht mal den Versuch unternehmen, unsere Demokratie zu verteidigen. Doch darauf lassen wir uns nicht ein. ({3}) Die Energiekrise, die Preiserhöhungen, die gestörten Lieferketten – das alles ist die Konsequenz des russischen Handelns und nicht die Konsequenz unserer Reaktionen darauf. Wir reagieren mit Entlastungspaketen und der Gaspreisbremse, um die Folgen für unsere Bevölkerung abzufedern. Liebe CDU/CSU, ich bedanke mich bei Ihnen ausdrücklich für die konstruktive Zusammenarbeit im Bereich der Ukrainehilfe und auch für die Unterstützung dieser Beschlussempfehlung – sowohl bei der Anhörung am Montag als auch im Ausschuss. Aber erklären Sie mir bitte, wieso ein amtierender christdemokratischer Ministerpräsident und stellvertretender Parteivorsitzender die Sanktionen mittlerweile nahezu täglich und ausgiebig in Interviews und öffentlichen Auftritten infrage stellt – mit dem Duktus, dass man nur mal richtig Diplomatie betreiben müsse, und dann werde alles wieder in Ordnung sein. Das ist naiv und falsch. ({4}) Das schwächt die deutsche Position in Europa. Das schwächt die europäische Position gegenüber Russland. Und das sorgt dafür, dass sich Putin nachts im Kreml ins Fäustchen lacht. Auch die schlimmen Äußerungen Ihres Fraktions- und Parteivorsitzenden Friedrich Merz in dieser Woche, die ich, ehrlich gesagt, von der AfD erwartet hätte, aber nicht von Ihnen, haben das nicht besser gemacht. Gerade in Ostdeutschland wissen wir, was Autokratie und Fremdbestimmung aus Moskau bedeuten. Die Stasi, Enteignung und fehlende Grundrechte – das alles kam aus dem Handbuch Moskaus. Ich erwarte von einem sächsischen Ministerpräsidenten – erst recht, wenn er offenkundig für ganz Ostdeutschland sprechen möchte –, dass er in dieser aktuellen Lage Solidarität mit unseren zentral- und osteuropäischen Partnern zeigt, mit denen wir so viel mehr historische Gemeinsamkeiten teilen. ({5}) Ich freue mich, dass seine und Ihre Parteifreundin, Kommissionspräsidentin von der Leyen, gestern das nächste Sanktionspaket vorgelegt hat. Und ich habe großes Vertrauen in die Bundesregierung, dass wir die Bürgerinnen und Bürger im kommenden Winter weiter von den Effekten der Politik Putins entlasten werden und sie auch gut durch diesen Winter bringen werden. Wir schaffen das nur gemeinsam in Europa. ({6}) Zu guter Letzt noch ein paar Worte zur Änderung von § 34 Infektionsschutzgesetz, die auch Teil dieses Tagesordnungspunktes ist. Mit diesem Änderungsantrag kommen wir der breit getragenen Bitte der Bundesländer nach, die Testpflicht für Schulkinder nach einer Coronainfektion zu streichen. Mit der Aufnahme in diesen Gesetzentwurf stellen wir auch sicher, dass die Änderung pünktlich die Bundesratssitzung am 7. Oktober 2022 erreicht; und das ist gut so. Vielen Dank. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt erhält das Wort der Abgeordnete Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass man keine Krise ungenutzt vorbeigehen lassen sollte, ist ein alter und allgemein anerkannter Grundsatz. Auch die EU hat sich diesem Prinzip verschrieben. Zuletzt hat man die Krise der sogenannten Pandemie genutzt, um unter ihrem Deckmantel das Verschuldungsverbot der EU zu kippen. Seitdem nimmt die EU selber Schulden auf, für die am Ende die Mitgliedstaaten und natürlich vor allem Deutschland haften. Jetzt haben wir die Krise des russischen Krieges gegen die Ukraine, und auch diese bleibt natürlich nicht ungenutzt. Vielmehr dient sie als willkommener Vorwand, um den Parlamenten der Mitgliedstaaten weitere strafrechtliche Gesetzgebungskompetenzen zu entziehen. Wir als AfD-Fraktion lehnen das selbstverständlich schon aus grundsätzlichen Erwägungen ab. ({0}) Die fortlaufende Aufgabe weiterer Teile unserer staatlichen Souveränität ist ein schwerer Fehler, und der Umstand, dass diejenigen, die solche Staatszersetzung betreiben, gleichzeitig mit diesem Schlagwort auf uns zeigen, die wir uns dagegen wehren, ist ein ganz schlechter Scherz. Wir sind aber nicht nur aus abstrakten Gründen dagegen; auch im Konkreten bietet der Vorgang mehr als genug Anlass zur Ablehnung. Der Weg, der hier gegangen werden soll, führt über die Brückenklausel in Artikel 83 des AEU-Vertrages. Der hat einige vage gehaltene formale Voraussetzungen. Um uns bestätigen zu lassen, dass es nicht bereits daran scheitert, haben wir am Montag im EU-Ausschuss extra noch ganz kurzfristig eine Anhörung abgehalten. Hinterher war in den Hausmitteilungen des Bundestages zu lesen, die Sachverständigen hätten allesamt bescheinigt, es sei alles ganz wunderbar. Nun ja. Die mündlichen Äußerungen sind das eine; hilfreicher sind manchmal die schriftlichen Ausführungen der Sachverständigen. Denen lassen sich gute Gründe für erhebliche Bedenken entnehmen. Denn worum geht es hier? Die EU macht heutzutage ja auch in Außenpolitik. Im Zuge dessen erlässt sie Verordnungen über Sanktionen gegen andere Staaten, aber auch gegen Einzelpersonen, die vermeintlich oder tatsächlich solche Staaten unterstützen. Diese Verordnungen nun enthalten teilweise so unbestimmte Rechtsbegriffe, dass sie nach rechtsstaatlichen Maßstäben eigentlich nicht als Grundlage einer Strafbarkeit taugen. Gleichwohl will die EU zukünftig auch darüber entscheiden, dass und wie Verstöße gegen diese Sanktionen strafrechtlich verfolgt werden müssen. Der Deutsche Bundestag hat die Verantwortung dafür, dass das in Deutschland geltende Strafrecht rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. Indem der Bundestag hier und heute einen Teil seiner Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht weggibt, entzieht er sich dieser Verantwortung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Lissabon-Entscheidung auch dargelegt, wo die äußersten Grenzen einer Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten im Strafrecht liegen. Eine solche Grenze sind die Kernaussagen des Grundgesetzes, die auch einer Verfassungsänderung entzogen sind. Dazu gehört im Strafrecht das Schuldprinzip, also der Grundsatz, dass nur schuldhaftes Verhalten bestraft werden kann. Schuldhaft kann aber nur menschliches Verhalten sein, was nach verbreiteter Ansicht eine Strafbarkeit von Organisationen wie etwa Unternehmen ausschließt. Nun hat die EU-Kommission freundlicherweise bereits mitgeteilt, wie sie ihre zukünftige Möglichkeit, das Strafrecht in Deutschland zu bestimmen, auszunutzen gedenkt. Da findet sich dann auch das Vorhaben, genau eine solche originäre Verbandsstrafbarkeit vorzusehen. Es ist also bereits heute vorhersehbar, dass uns die gesetzgeberische Tätigkeit der EU womöglich ein Strafrecht beschert, das mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Das sollte eigentlich Anlass genug sein, von dem, was hier heute passiert, Abstand zu nehmen. ({1}) Da aber die ganz große Mehrheit des Hauses, abgesehen von der AfD und partiell der Linken, sich für alle diese Dinge nicht wirklich interessiert, werden Sie mit ebendieser großen Mehrheit das beschließen, was Sie sich vorgenommen haben. Das ist bedauerlich. Wir können es aber bisher leider nicht ändern. Vielen Dank. ({2})

Dr. Thorsten Lieb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005129, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Jacobi, durch bloße Wiederholung von dem, was ich gestern im Rechtssauschuss schon mal gehört habe, werden Ihre Aussagen weder juristisch noch politisch richtiger; aber dazu später mehr. ({0}) Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg in Europa: ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine als souveränen Staat, gegen die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine, und ein Krieg gegen Freiheit und Demokratie. Vor welche Herausforderungen uns das als Bundesrepublik Deutschland stellt, ist uns nicht zuletzt mit dem heute vorgestellten Abwehrschirm noch mal sehr bewusst geworden. Als Reaktion hat die Europäische Union gegen die Russische Föderation umfangreiche Sanktionen verhängt: gezielte Sanktionen gegen Einzelpersonen, gegen Unternehmen, Beschränkungen des Zugangs zu Kapital- und Finanzmärkten sowie umfassende wirtschaftliche Maßnahmen. Und das war und ist richtig so, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Sanktionen haben erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung. Eine Abmilderung oder gar eine Aufhebung dieser Sanktionen kommt, solange die Waffen sprechen, auf gar keinen Fall in Betracht. ({1}) Ich bin der EU-Kommission dankbar, dass sie just in den letzten Tagen vor dem Hintergrund der Scheinreferenden und der vorgesehenen Annexion noch mal deutlich gemacht hat: Wir werden diesen Weg als Europäische Union gemeinsam gehen. Wir werden weitere Sanktionen dort, wo erforderlich, verhängen. Da bleiben wir als Europäische Union zusammen. Es ist auch wichtig, für heute festzustellen: Wir bleiben an der Seite der Ukraine in diesem Konflikt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Damit diese Sanktionen aber Wirksamkeit entfalten, brauchen wir klare Regeln; und darum geht es in diesem Gesetzentwurf: um klare Regeln bei ihrer Durchsetzung. Deswegen beraten wir heute abschließend den Gesetzentwurf der Bundesregierung, aufgrund dessen die Bundesregierung im Rat zustimmen kann, dass die Europäische Union diesen weiteren Vorschlag unterbreiten und dem Europäischen Parlament vorlegen kann. Damit bekommen wir die Möglichkeit, auf europäischer Ebene hier Mindestvorschriften festzulegen. Und – das ist der grundlegende Irrtum, Herr Kollege Jacobi – es geht hier und heute erst mal nur um die Frage, ob überhaupt die Europäische Kommission Vorschläge machen kann. ({3}) Wie diese konkret ausgestaltet sind, wie diese aussehen und ob das zum deutschen Strafrecht passt, das werden wir selbstverständlich – und das ist unser Recht als Deutscher Bundestag – im Einzelnen beraten. Das ist unsere Aufgabe. Es geht nicht darum, das heute schon zu bewerten, weil die Vorschläge überhaupt noch nicht vorliegen. ({4}) – Aber doch nicht als Rechtsdokument! ({5}) Was an dem Text, den wir beraten, technisch klingt, ist in zweierlei Hinsicht, finde ich, bemerkenswert. Erstens, und bereits damit erweisen sich alle Vorwürfe als obsolet: Wir beraten das heute und stimmen darüber im Deutschen Bundestag in dem breitesten Partizipationsverfahren aller Parlamente in der Europäischen Union ab. Wer dann noch sagen möchte, das sei irgendwie undemokratisch, der braucht vielleicht mal einen staatsrechtlichen Nachhilfekurs, Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Zweitens leisten wir mit der Zustimmung, für die ich hier noch mal ausdrücklich werbe, einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass wir als Europäische Union gemeinsam stehen, und einen wichtigen Beitrag zur effektiven Durchsetzung dieser Sanktionen. Es ist schon angesprochen worden: Es ist in der Tat erstaunlich, wie unterschiedlich das im Augenblick ist. Wir brauchen aber diese Geschlossenheit als Europäische Union genau in diesen Zeiten. Wenn wir dem heute zustimmen, dann hat der Rat die Möglichkeit, uns rechtssicher Vorschläge zu machen ({7}) und diese in den parlamentarischen Prozess einzubringen, gerade um endlich Möglichkeiten zu schaffen – und ich glaube, das ist dringend notwendig –, in die entsprechenden Vermögen einzugreifen. ({8}) In Anbetracht des fortdauernden Krieges und des Reparaturbedarfs in der Ukraine ist das auch dringend notwendig. ({9}) Wir als Deutscher Bundestag kommen unserer Integrationsverantwortung nach, wir genügen dieser Integrationsverantwortung, wenn wir heute diesem Gesetzentwurf zustimmen und den beschriebenen Weg für die Europäische Kommission eröffnen. Wir freuen uns dann auf die konkreten Vorschläge der Europäischen Kommission, dann werden wir hier gemeinsam im Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen beraten, wie das dann konkret ausgestaltet wird. Um es noch mal deutlich zu machen: Wir leisten mit dem Vorschlag einen entscheidenden Beitrag zur effektiven Durchsetzung der Sanktionen. Deswegen werden wir als FDP-Fraktion heute zustimmen. Alles andere wird sich weisen. Vielen herzlichen Dank. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Dem nächsten Redner darf ich, bevor er ans Mikrofon tritt, zum Geburtstag gratulieren. Herzlichen Glückwunsch erst einmal! ({0}) Und jetzt erhält er auch das Wort: Andrej Hunko für Die Linke. ({1})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Worum geht es in dieser Debatte? Es geht darum, dass auf EU-Ebene ein neuer Straftatbestand geschaffen werden soll – Sanktionsverstoß –, der in einem ersten Schritt dem Bereich Kriminalität hinzugefügt werden soll, um dann die Grundlagenverträge entsprechend zu ändern. Ein Sanktionsverstoß wird dann von der EU also gleichbehandelt wie Terrorismus und Menschenhandel. Dabei geht es nicht nur um die aktuellen Russlandsanktionen – dazu kann man ja unterschiedlicher Meinung sein –, sondern es geht um alle Sanktionsregime. Wir haben jetzt schon über 40 EU-Sanktionsregime. Da geht es um Sanktionen, die sowohl Oligarchen als auch individuelle Übeltäter betreffen, aber eben auch um umfangreiche Wirtschaftssanktionen, die die Bevölkerung treffen. Und ich sage ganz klar: Die Linke lehnt Sanktionen, die die Bevölkerung treffen, ab – egal ob in Russland oder hierzulande. ({0}) Wir sehen eine zunehmende Entwicklung hin zu unilateralen Sanktionen. Wir reden ja nicht über UN-Sanktionen und nicht über Urteile von internationalen Gerichten; das ist eine ganz andere Kategorie. Wir reden über unilaterale Sanktionen. Wir sehen diese Entwicklung sehr kritisch. Ich habe schon von den über 40 EU-Sanktionsregimen gesprochen; in den USA wächst das auch sehr stark. Und ich kann sagen: In der UN, in den Vereinten Nationen, wird diese Entwicklung auch sehr kritisch gesehen, und auch der Generalsekretär äußert sich immer wieder kritisch zu solchen Sanktionsregimen. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen, genauso wie das auch Die Linke im Europaparlament geschlossen gemacht hat. ({1}) Zusätzlich zu diesem zugegebenermaßen komplexen Vorgang wird an diesen Gesetzentwurf jetzt ganz kurzfristig noch eine Änderung zum Infektionsschutzgesetz angeflanscht. Ich halte dieses sogenannte Omnibusverfahren, bei dem ein ganz sachfremdes Thema angeflanscht wird, für einen völlig intransparenten Vorgang. Das lehnen wir natürlich auch ab. Allein das wäre schon ein Grund, dieses Gesetzesvorhaben abzulehnen. Ich finde, solche Sachen müssen getrennt diskutiert werden, damit man sich da eine Meinung bilden kann. ({2}) Zusammengefasst: Diese sozusagen neue Ermächtigung für die EU, Sanktionsverstöße in Zukunft wie Terrorismus oder Menschenhandel behandeln zu können, ist – jetzt noch mal: völlig unabhängig vom Ukrainekrieg und von der Situation mit Russland – auch mit Blick auf künftig mögliche Sanktionsregime kritisch zu sehen, vor allen Dingen dann, wenn es Wirtschaftssanktionen sind. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält für die SPD-Fraktion Sebastian Fiedler. ({0})

Sebastian Fiedler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte versuchen, den vielen richtigen Ausführungen, warum es wichtig ist, dass wir das jetzt machen, warum das sehr demokratisch legitimiert ist, noch ein paar Aspekte hinzuzufügen, die ein bisschen auch mit meiner beruflichen Herkunft zu tun haben, weil es ja um die grundsätzliche Frage geht, warum wir zu den anderen Kriminalitätsbereichen, die in diesem Artikel 83 AEUV drinstehen, etwas hinzufügen sollten. Ich will dabei versuchen, das in Verbindung zu ein paar anderen Themen zu setzen, die insbesondere auch von den deutschen und europäischen Rechtsauslegern immer ins Feld geführt werden. Dazu zwei Aspekte, die noch nicht genannt worden sind. Man muss, glaube ich, auch noch erläutern, dass es ganz interessant ist, einmal nachzulesen, aus welchen Gründen sich Personen oder Entitäten, wie es heißt, also Unternehmen, auf diesen Listen befinden. Das kann man nachlesen, und das steht da sehr transparent drin. Da stehen nämlich Begründungen drin, auf welche Weise – um jetzt bei Russland zu bleiben – das System Putin durch diese Personen oder Unternehmen unterstützt wird. Und das ist im Übrigen auch justiziabel. Wer damit also nicht einverstanden ist, geht zum Europäischen Gerichtshof. Hier ist der Rechtsschutz eröffnet. Das heißt, wir reden über ein ganz rechtssicheres und demokratisch legitimiertes Verfahren, übrigens einstimmig beschlossen im Außenrat. Das gehört, glaube ich, noch hinzu. ({0}) Und dann will ich das jetzt einfügen in ein Themenfeld, das wir viel zu selten diskutieren und dessen Bedeutung wir viel zu selten herausstellen: Die Europäische Union ist ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. – Das kommt in diesem Artikel außerordentlich gut zum Ausdruck. Ich will die ganzen Bereiche, die aus dem Artikel 83 AEUV exemplarisch angesprochen worden sind, durchaus eben noch mal kurz nennen: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Hier fügen wir jetzt die Sanktionsverstöße zusätzlich ein. Warum ist das wichtig? Zuvor muss man noch erwähnen, dass die AfD – sie hat ja entsprechende Parteitagsbeschlüsse, vergisst aber, das hier zu sagen – aus der Europäischen Union austreten will. Deutschland soll raus. ({1}) – Gut, dass Sie klatschen. Ich versuche, das noch in andere Kontexte zu setzen. – Sie wollen auch die Mittel von Europol und von Eurojust kürzen. Hier geht es nämlich um die Themen, die dahinterstecken. Dahinter steckt die europäische Sicherheitsarchitektur. ({2}) Und das macht es gerade so paradox. ({3}) Ich habe wirklich viele Delegationen mit Kolleginnen und Kollegen aus den Sicherheitsbehörden, mit Staatsanwältinnen und Staatsanwälten innerhalb der Europäischen Union geführt. Wir haben die Institutionen besucht; wir waren bei Europol, bei Eurojust. Kein Einziger und keine Einzige käme auf die absurde Idee, zu sagen, wir hätten eine bessere Situation bei der internationalen Kriminalitätsbekämpfung, wenn wir entweder aus der Europäischen Union austräten oder sagen würden, wir schaffen Europol oder Eurojust ab. Das ist eine groteske Argumentation der Nationalisten in der Europäischen Union. ({4}) Deswegen müssen wir hier jede Gelegenheit nutzen und all denjenigen, die zugucken, und insbesondere denjenigen, die bei den Sicherheitsbehörden arbeiten, sagen, warum die Rechtsausleger, die in den Parlamenten sitzen, ein Sicherheitsrisiko sind. ({5}) Sie wollen sozusagen den wichtigsten Institutionen bei der Bekämpfung der schwerwiegendsten Kriminalitätsfelder den Stecker ziehen. Sie wollen Europol die Mittel kürzen. Sie wollen da, wo die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Europa zusammen kooperieren, die Mittel kürzen. Und Sie sind gegen eine Europäische Staatsanwaltschaft, die wir eingeführt haben, um die wichtigsten Kriminalitätsfelder gemeinsam, ohne an Rechtshilfegrenzen zu stehen, tatsächlich zu bekämpfen. ({6}) Die Idee der europäischen Rechtsausleger ist die Pickelhaube am Schengen-Grenzbaum. Das ist Ihre Idee. Sie wollen mit Uniform an den Binnengrenzen stehen und da die internationale Computerkriminalität und die internationale organisierte Kriminalität bekämpfen. Das ist Ihr Konzept, und das sagen Sie all Ihren Gruppen bei den Sicherheitsbehörden, wenn Sie wieder Wahlkampf machen und mit Anträgen zur Clankriminalität versuchen, das Hohe Haus hier zu beglücken. ({7}) Das hat somit unmittelbar mit diesem Themenfeld zu tun, das wir hier besprechen. Natürlich sagen wir: Wir wollen nicht Kriegspartei werden. Stattdessen wollen wir gemeinsam mit den europäischen Partnerinnen und Partnern Sanktionen beschließen. Und wer dagegen verstößt, der muss sich natürlich mit den Mitteln des Strafrechts verfolgen lassen. ({8}) Und wir schaffen nicht mehr als den Rahmen, über den anschließend im europäischen Kontext und dann, in der Folge natürlich auch hier im Hohen Haus, noch mal demokratisch abgestimmt wird. Vorher passiert hier gar nichts. Da können Sie im Rechtsausschuss noch so viel erzählen und fabulieren ({9}) oder es hier noch einmal bringen – es ist genau so, wie meine Kolleginnen und Kollegen es wiedergegeben haben. Mehr Europa auch in der Verbrechensbekämpfung – das ist das, was drin steckt, und dafür sind wir alle. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Letzter Redner in dieser Debatte ist Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ursache bzw. Anlass dieser Initiative zur Gesetzgebung auf europäischer Ebene ist: Wie können wir die notwendigen Sanktionen Europas gegen Russland in Europa durchsetzen? Ich knüpfe ein wenig beim Kollegen Fiedler an, aber ich setze den Fokus darauf, wie es in der Praxis aussieht. Ich möchte damit anfangen: Am 22. April dieses Jahres war der Parteivorsitzende der SPD in meinem Wahlkreis, bei mir daheim in Gmund am Tegernsee, und gab dort ein Interview. Er schaute über den See, nach Rottach-Egern, schätze ich, hatte dort wahrscheinlich die Villa von Herrn Usmanow im Blick und sagte – das kann jeder nachschauen –, er sei dafür, dass die Sanktionen durchgesetzt werden und er wolle Vermögen nicht nur einfrieren, sondern auch einziehen, ({0}) um die Ukraine wieder aufzubauen. Seitdem – Sie sind ja jemand, der aus dem Bereich kommt und sich regelmäßig öffentlich äußert – beschäftige ich mich sehr stark mit der Frage: Wie setzen wir die Sanktionen eigentlich um? Erst wurden Arbeitsgruppen gebildet, dann kam, weil die Abläufe im föderalen Staat sehr schwierig sind, das Sanktionsdurchsetzungsgesetz I. Aber dieses Sanktionsdurchsetzungsgesetz I wurde ja schon so angekündigt, dass wir wussten, ein zweites muss folgen; ich formuliere es hier sehr freundlich. Daneben fand in diesen Tagen eine Razzia statt, die durch die Medien ging, am Tegernsee, aber auch generell. Hundertschaften sind in das Haus rein, haben es durchsucht und Sachen sichergestellt. Basis für die Razzia war nach den Medienberichten nicht das Sanktionsrecht, sondern das Steuerrecht. Jetzt habe ich mit Herrn Usmanow nur bedingt Mitleid; denn wer sich mit dem Steuerrecht hier in Deutschland und dem Steuerstrafrecht anlegt, der hat schon was zu beißen. Aber letztendlich ist der Weg über das Steuerstrafrecht ein Kunstgriff. Deswegen sehen wir auf europäischer Ebene eine entsprechende Ermächtigung vor, dass wir den Straftatbestand erweitern können. Es geht, wie Sie zu Recht gesagt haben, um ein Mindestmaß an Harmonisierung und um die Erweiterung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten in Fällen, in denen das nationale Recht nicht ausreicht, weil wir hier international und europäisch denken müssen. Sie haben sich jetzt sehr stark an der AfD abgearbeitet. Was ich von Herrn Jacobi in letzter Zeit höre, lässt bei mir den Eindruck entstehen, die AfD möchte die internationale Kriminalität am liebsten mit dem PAG, dem Polizeiaufgabengesetz der Bundesländer, bekämpfen, das wäre Ihr Ansatz, internationale Kriminalität zu bekämpfen. Das ist schon sehr, sehr provinziell. Damit, meine Herrschaften, würden Sie den Herausforderungen in keinster Weise gerecht. Die EU-Kommission hat jetzt die Möglichkeit, Regelungen zu erlassen, in einem Zweistufensystem. Eines möchte ich hier schon noch betonen: Die Strafrechtsthematik ist notwendig auf europäischer Ebene. Unsere Innenpolitiker sagen: Wir wollen nicht nur einfrieren. Auch die Kommission will nicht nur „freeze“, sondern auch „seize“, sie will auch Vermögen einziehen. Dafür ist es notwendig, dass die nationale Gesetzgebung, die nationale Politik hier Vorgaben macht. Meine Damen und Herren, das ist das, was wir erwarten. Wir hoffen auf die europäische Ebene. Ich blicke insbesondere die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an, weil wir wissen: Beim Einziehen von Vermögen tut sich die Fraktion, die den Bundesjustizminister stellt, sehr, sehr schwer, sowohl beim Einziehen auf europäischer Ebene als auch beim Einziehen auf nationaler Ebene. Der Entwurf des zweiten Sanktionsdurchsetzungsgesetzes, der vorliegt, beinhaltet dazu noch nichts. Darum mein Appell an die anderen beiden Fraktionen der Ampelkoalition: Setzen Sie sich hier einmal gegen die Freien Demokraten durch! Helfen Sie uns, damit die Sanktionsmöglichkeiten, die der Bundesstaat hier hat, nicht nur einen ersten Schritt darstellen, sondern geben Sie den Sanktionen Zähne, dass sie entsprechend umgesetzt werden. Das wäre mein Appell an Sie. Besten Dank. ({1})

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der Rechtsakt über Künstliche Intelligenz … ist wahrscheinlich das wichtigste digitale Dossier, das derzeit in Brüssel diskutiert wird.“ Diesem Zitat des „Tagesspiegels“ vom 31. August schließen wir uns als Union vollständig an. Ja, die Entscheidungen, die momentan im Rahmen der Verhandlungen zur KI‑Verordnung auf europäischer Ebene getroffen werden, haben weite Auswirkungen für Deutschland und Europa. Auswirkungen darauf, ob es uns gelingen wird, die Chancen von KI für die Gesellschaft zu nutzen. Auswirkungen darauf, ob wir es aber auch schaffen, dass Deutschland mit Blick auf den Wirtschafts- und Forschungsstandort wettbewerbsfähig bleibt, um damit die Grundlage für unseren Wohlstand, für unsere sozialen Errungenschaften zu erhalten. ({0}) Schade, dass die Ampelregierung das anders sieht; denn anscheinend messen Sie dieser wichtigen Schlüsseltechnologie keine so wirklich wichtige Bedeutung zu. Anders können wir, selbst beim besten Willen, Ihre Performance im Rahmen der Verhandlungen nicht erklären. Und das halten wir für einen schweren politischen Fehler. ({1}) Fehlende Stimmabgaben in der EU-Ratsarbeitsgruppe, versäumte Fristen, Rangeleien zwischen den Ressorts und vage Positionierungen mit dem Offenhalten von zentralen Verhandlungspunkten sind die bisherige Bilanz. Zuständig für die Verhandlungen in Brüssel sei das BMDV oder – nein – das BMWK oder doch das BMJ? Selbst ein Jahr nach der Wahl herrscht nach wie vor Zuständigkeitschaos, und das lassen wir Ihnen so nicht durchgehen. ({2}) Während andere Staaten fleißig ihre Positionen strategisch in die Ratsverhandlungen einbringen, schauen wir vom Spielfeldrand aus zu. Aber es muss doch als größte Volkswirtschaft in Europa unser Anspruch sein, dass wir dieses Regelwerk mitgestalten, anstatt es einfach nur zur Kenntnis zu nehmen. In den vergangenen Monaten – ich habe es schon gesagt – war das schlichtweg Arbeitsverweigerung. Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, der vor allem auf die offenen Punkte im Rahmen der Verhandlungen abzielt. Wir sind als Union überzeugt davon, dass KI natürlich immer zum Nutzen von Mensch und Gesellschaft eingesetzt wird und dass sich jede Regulierung immer auch an unseren europäischen Werten und Normen ausrichtet. Wir sehen aber vor allem auch große Chancen, die sich uns bieten: im Bereich der Mobilität, des autonomen Fahrens, mit Blick auf eine bessere Medizinversorgung, in der Frage eines innovativen Klimaschutzes und mit ganz neuen Teilhabemöglichkeiten in den Bereichen Bildung und Inklusion. Deswegen sage ich: Wir als Union, wir wollen – wir sagen sogar: wir müssen – diese Chancen auch endlich nutzen. ({3}) Es kann nur dann funktionieren, wenn wir diese Regulierung auch richtig angehen. Den Ansatz der Bundesregierung, jetzt immer mehr Anwendungen in den sogenannten Hochrisikobereich zu schreiben, halten wir für falsch; denn es wird zu einer neuen Welle von Bürokratie führen. Vor allem ist es ein brutaler Wettbewerbsnachteil für unsere Start-ups, für unsere kleinen und mittleren Unternehmen. Das, was jetzt auf dem Tisch liegt und was Sie sich vorstellen, mag ja von den großen amerikanischen Tech-Giganten zu leisten sein, aber für unsere Unternehmen ist es ein Nachteil. Das wird vor allem dazu führen, dass sie sich nicht im Bereich von KI etablieren oder gar künftig vorne mitspielen können. Auch inhaltlich ist die Verordnung einfach zu weit gefasst. Die Definition der Abgrenzung von KI ist – das wissen wir spätestens seit der Enquete-Kommission – eine schwierige Sache, aber sie muss deswegen auch trennscharf gemacht werden. Es darf nicht sein, dass nachher ganz alltägliche Anwendungen wie eine Excel-Kalkulation unter diese Verordnung fallen. ({4}) Deswegen geht es um Vorschriften, die in der Praxis einen Mehrwert bieten. Es geht um Vorschriften, die von unseren Unternehmen umgesetzt werden können, ansonsten können wir sie gleich zurück zur Schreibmaschine und zum Rechenschieber bringen. Der vorliegende Entwurf entspricht nicht dem, was unser Anspruch sein kann. ({5}) Wir haben noch eine Chance im internationalen Wettbewerb, aber nur dann, wenn wir tatsächlich Standards setzen, die von unseren europäischen Akteuren umgesetzt werden können. Wir gewinnen am Ende des Tages nichts, wenn Innovationen nur noch außerhalb von Europa, maßgeblich in China oder den USA, stattfinden. Wir möchten ein souveränes Europa, ein Europa, das die Wahl hat, auf Dienstleistungen und Produkte aus Europa, auch im Bereich KI, zurückgreifen zu können. Dafür müssen wir die Grundlage legen und nicht die sprichwörtliche Axt am Baum ansetzen. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir fordern die Regierung deswegen auf: Klären Sie Ihr Zuständigkeitswirrwarr. Setzen Sie sich vor allem aber für eine Verordnung ein, die Innovationen stärkt, statt sie im Keim zu ersticken, und die uns mehr statt weniger digitale Souveränität in Europa gewährleistet. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Parsa Marvi. ({0})

Parsa Marvi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005143, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kemmer, Sie sollten Frau von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission, die all diese tollen Dinge mitkonzipiert, wieder einmal in Ihre Fraktion einladen. Da gibt es zu den Themen Übergewinne, KI‑Verordnung und zu anderen Themen sicher viel miteinander zu diskutieren. Aber zum Thema. Mit der europäischen Verordnung für künstliche Intelligenz debattieren wir heute ein Thema, das für die breitere Öffentlichkeit vom Begriff her ähnlich sperrig sein dürfte wie das Wort „Transformation“. Doch hat diese Technologie heute und umso mehr in der Zukunft eine große Bedeutung. Deswegen ist diese Debatte eine gute Gelegenheit, um aufzuzeigen, wie wichtig KI für unser Leben ist. Sie wird gebraucht in der Medizin als Bilderkennungssoftware zum Beispiel zur Diagnose von Krebs. Sie spielt eine zunehmende Bedeutung für Logistikketten, für industrielle Wertschöpfung. Sie wird uns über das autonome Fahren neue Möglichkeiten der Mobilität eröffnen. Sie hilft Menschen mit Seheinschränkungen bei einem barrierefreien Studium. Sie wird eine wertvolle Unterstützung für die Beschleunigung der Energiewende sein. Die Zukunftstechnologie KI spielt also eine zentrale Rolle für unser Leben, für unsere Lebensqualität, für die Arbeit und für die Sicherung des Wohlstandes der Zukunft. Deswegen tobt ein ganz intensiver Wettbewerb um KI mit anderen Regionen: mit China, mit den USA. Hier müssen wir uns klar positionieren. Wir finden, dass die Verordnung der Europäischen Union diese klare Positionierung, dieses klare Regelwerk schafft, indem sie bei 85 Prozent der Anwendungen Luft zum Atmen lässt, aber bei den von Ihnen vorhin beschriebenen 15 Prozent Hochrisikoanwendungen sehr genau hinschaut, sehr wachsam ist. Durch die Anhörung im Digitalausschuss, die wir hatten, fühlen wir uns bestärkt, zum Beispiel durch Aussagen des Geschäftsführers des TÜV-Verbandes, Dr. Joachim Bühler, der das Ganze auf den Punkt gebracht hat: Wer von Ihnen will eigentlich mit lax regulierten, von KI-Software betriebenen Aufzügen fahren? Wer will einen nachlässig regulierten KI-Einsatz in der Medizin erleben? Wer will einen Verkehrsunfall durch Softwarefehler riskieren, weil beim autonomen Fahren nicht so genau hingeschaut wurde? Frau Kemmer, Sie sprachen von brutalen Wettbewerbsnachteilen. Ich sage Ihnen: Es wäre brutal und fahrlässig, diesen Thesen zu folgen. ({0}) Deswegen setzt die europäische KI‑Verordnung für meine Fraktion grundsätzlich die richtige Balance zwischen Innovation und Regulierung. Wir haben damit als EU die Chance, den Goldstandard zu setzen, auf den andere schauen, an dem sich andere orientieren. Wir wären die erste Region auf der Welt, die ein solches Regelwerk schaffte. Das wird Vertrauen stärken, das wird die Akzeptanz in KI stärken und zu einer größeren Nutzung in Europa führen. ({1}) Wir verbinden mit den Verhandlungen zur KI‑Verordnung zum Beispiel die Hoffnung, dass man sich einigt auf den Ausschluss der biometrischen Fernidentifizierung in Echtzeit im öffentlichen Raum im Rahmen staatlicher und privater Anwendungen. Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich bei diesem Vorhaben. Wir können uns als freie und offene Gesellschaft keine wahllose Videoüberwachung leisten. Das ist sicherlich richtig und wichtig. ({2}) Wir wollen bei diesen anstehenden Verhandlungen die Grundrechte im Rahmen der KI-Verordnung stärken. Wir wollen eine Kennzeichnungs- und Transparenzpflicht für KI. Wir brauchen starke Informations-, aber auch Beschwerderechte für Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich bleibe dabei: Das Regelwerk ist gut. Es wird dringend gebraucht. Lassen Sie es uns im Rahmen der europäischen Verhandlungen verbessern. Vielen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Joana Cotar. ({0})

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Die EU macht wieder einmal das, was sie am besten kann: Sie reguliert sich zu Tode. Diesmal geht es um das Thema künstliche Intelligenz. Natürlich brauchen wir bei neuen Technologien einen Rechtsrahmen; aber das, was wir hier erleben, erinnert mich ganz stark an die DSGVO. Man will die großen Konzerne treffen und verliert dabei die kleinen und mittleren Unternehmen aus den Augen, die den Murks dann ausbaden dürfen. KI wird von der Europäischen Union zuallererst als bedenklich, gefährlich, risikobehaftet angesehen. Es ist genau diese Herangehensweise, die dazu führt, dass die Menschen Angst vor künstlicher Intelligenz haben. Während andere Länder und Unternehmen vor allem die Vorteile sehen, die Chancen, die sich bieten, konzentriert sich die EU auf das Negative und will, wenn möglich, alles bis ins kleinste Detail regeln. Bei der Expertenanhörung, die wir am Montag dazu hatten, wurde recht deutlich, dass dieses Vorgehen den KI-Standort Europa gefährden kann, oder wie es ein Experte sehr drastisch formulierte: Die geplante Verordnung hat das Potenzial, KI in Europa gänzlich unmöglich zu machen. ({0}) Europas Technologiesektor könnte abgehängt werden. Wir werden zur digitalen Kolonie Chinas oder der USA. ({1}) Das können wir uns gerade aktuell, in einer Zeit wie dieser, in einer Zeit, in der Europa vielmehr unabhängiger, souveräner werden muss, nicht erlauben, meine Damen und Herren. Ginge es nach der EU, wäre im Prinzip jeder Taschenrechner eine künstliche Intelligenz. Alles wäre gefährlich. Überspitzt gesagt: Jedes Mal, wenn ein Roboter ein Update erfährt, müsste am besten noch einmal der TÜV drüberschauen. So verliert der Standort Deutschland schlichtweg seine Wettbewerbsfähigkeit. ({2}) Die Bundesregierung muss unserer Meinung nach also darauf hinwirken, dass neben den Risiken vor allem die Chancen von KI‑Lösungen betont werden. Eine defensive Regulierung von KI‑Lösungen bringt nicht nur für Start-ups und KMUs ein immenses Quantum an Bürokratie, sie führt auch dazu, dass Innovationen im Bereich KI sich in anderen Regionen der Welt vollziehen. Man könnte zum Beispiel die KI‑Verordnung um eine Chancen- und Wertigkeitsklasse von KI‑Lösungen erweitern, wie wir das in unserem vorgelegten Antrag fordern. Die prohibitiv wirkenden administrativen und finanziellen Hürden zur KI-Risikoklassifizierung müssen gesenkt werden, damit auch Start-ups und KMUs eine solche Einschätzung ihrer KI‑Lösungen vornehmen können und diese in den Verkehr bringen können. Wir brauchen auch einen Austausch von Daten. Die geplante Verordnung muss daher um einen eigenen Titel zu „Daten, Datenzugänglichkeit, Datennutzung und Datenverfügbarkeit“ erweitert werden. Vorsicht ist bei der Europäisierung des Polizeirechts geboten. Der Einsatz von KI zu Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrzwecken gehört nicht in die Regelungskompetenz der EU. ({3}) Eine Verschärfung des Einsatzes von KI durch die mitgliedstaatlichen Sicherheitsbehörden darf es daher durch diese Verordnung nicht geben, meine Damen und Herren. Ein weiteres Problem. Nach dem vorliegenden Entwurf wird beim Thema Haftung auch das Thema General Purpose Idea erfasst, und damit werden Open-Source-Entwickler haftbar gemacht. Hier muss dringend gegengesteuert werden, werte Regierung. In der Anhörung wurde von einem Sachverständigen etwas gesagt, was wir hier im Bundestag leider viel zu wenig hören. Auf den Hinweis der EU, dass es notwendig sei, KI auf EU‑Ebene zu regulieren, weil es sonst bald 27 nationale KI‑Verordnungen geben würde, antwortete der Experte: Gut so, dann gibt es endlich Wettbewerb. – Und genau das ist richtig, meine Damen und Herren. Lassen wir doch endlich wieder richtigen Wettbewerb zu und den freien Markt. Dann setzen sich auch die besten Lösungen durch. ({4}) Wir wissen doch alle, wie es mit den Verordnungen der EU so ist: Es gibt europäische Länder, die werden sich nicht darum kümmern oder sie so auslegen, dass sie das Beste für ihr Land herausholen. Deutschland als Musterschüler wird dagegen die Vorgaben bis zum letzten Gendersternchen erfüllen und damit den eigenen Standort schwächen, und das darf nicht passieren, meine Damen und Herren. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Mir persönlich wäre also keine Regulierung auf EU-Ebene am liebsten. Muss es unbedingt eine sein, dann bitte mit unseren Verbesserungsvorschlägen. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Dr. Anna Christmann. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute über „Künstliche Intelligenz made in Europe“ sprechen; denn wir reden hier darüber, dass in Europa Standards für eine Zukunftstechnologie definiert werden. Für uns ist klar: Das ist der eine Teil; insgesamt kann das aber nur gelingen, wenn wir natürlich auch stark in der Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz sind. Das sind zwei Dinge, die gehören zusammen, und dafür setzen wir uns als Bundesregierung ein. ({0}) Deswegen hat diese Verordnung für uns eine sehr hohe Priorität. Und deswegen kann ich die hier formulierte Aufforderung, uns da einzubringen, gar nicht nachvollziehen. Diese Bundesregierung hat bereits dreimal eine Stellungnahme – geeint zwischen allen Ressorts – eingebracht gegenüber der EU-Kommission, der Ratspräsidentschaft. ({1}) Wir bringen uns sehr aktiv ein in diese Verordnung, weil wir um ihre große Bedeutung wissen und weil sie der Schlüssel ist für einen starken Standort für künstliche Intelligenz in Europa. ({2}) Die Punkte sind ja völlig richtig. Wir müssen pragmatisch sein. Deswegen ist es richtig, dass sich gerade die Definition weiterentwickelt. Mit dem aktuellsten Vorschlag werden nicht mehr sämtliche statistischen Systeme erfasst; es geht um maschinelles Lernen und um Expertensysteme, aber nicht mehr um jedes Programm, das in irgendeiner Form eine Rechnung durchführt. Das ist richtig. Diesen pragmatischen Ansatz unterstützen wir ebenso wie den Umstand, dass nicht mehr drinsteht, dass jeder Datensatz fehlerfrei sein muss, in dieser Absolutheit. Der neue Vorschlag geht in die Richtung: soweit eben möglich. Also Pragmatismus in der Umsetzung ist definitiv wichtig und auch unser Anliegen. Auch Innovationen – das ist der andere Teil – werden mit der Verordnung unterstützt. Die Idee von Reallaboren, in denen man Dinge ausprobieren kann, auch Regulierungen ausprobieren kann, ist explizit Teil des Entwurfs. Das ist etwas, was von Deutschland sehr starke Unterstützung findet. Das heißt, Start-up-Freundlichkeit hat für uns hohe Priorität; das ist auch etwas, was wir einbringen. Dann möchte ich zum Punkt „Hochrisiko“ kommen, der gerade noch groß in der Debatte ist. Für welche Teile trifft er zu, für welche nicht? Erst einmal möchte ich betonen: Es ist richtig, dass zwei Dinge ausgeschlossen sind, nämlich Social Scoring und die Live-Fernüberwachung. Das sind Dinge, die nicht akzeptabel und nicht mit den EU-Werten vereinbar sind. ({3}) Natürlich geht es bei Hochrisikoanwendungen darum, einen Standard zu haben. Da müssen wir draufschauen. Was passiert da? Wir brauchen Transparenzregeln und Qualitätsanforderungen. Hochrisikoanwendungen werden eben nicht verboten, sondern es gibt Standards. Natürlich ist es richtig, dass diese Standards für verschiedene Anwendungen im Gesundheitsbereich gelten müssen. Natürlich ist es richtig, dass sie zum Beispiel für den Zugang zu Wohnungen gelten müssen, wenn so was mit KI gemacht wird. Das ist ein Vorschlag, den wir einbringen: dass wir da die Dinge zum Teil erweitern. Da muss man draufschauen. KI muss natürlich fair, nachvollziehbar, transparent sein. Das ist der Sinn der Standards bei Hochrisikoanwendungen. ({4}) Das Ganze muss einhergehen mit der nötigen Unterstützung. Das ist klar. In der Digitalstrategie haben wir ein Programm für Unternehmen aufgelegt: Kickstart. Wir verbessern die Datenverfügbarkeit, die zentral ist für die Anwendungen von KI. Das heißt, wir haben beides auf dem Schirm: eine kluge Regulierung, aber auch die nötige Unterstützung für Innovationen im Bereich KI. Und daraus wird eine gute künstliche Intelligenz made in Europe werden. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftstechnologie mehr. Längst begegnet sie uns täglich, und die meisten rechnen noch nicht einmal damit. Vor allem wissen sie nicht, dass der Einsatz und die Nutzung der KI im Moment nahezu im rechtsfreien Raum stattfinden. Das ist problematisch, weil nicht selten Grundrechte berührt sind. Es ist höchste Zeit, entsprechende Regelungen zu treffen. Auf EU‑Ebene – die Kollegen haben es gesagt – passiert das gerade. Diese Verordnung soll dann auch für Deutschland gelten. Das Problem ist nur: Diese Verordnung hinterlässt mehr Lücken, als sie wirklich Dinge regelt. Mal wieder haben Lobbygruppen den Vorrang gehabt, ({0}) und wir finden, dass das dem gesamten Vorhaben schadet. Was ist gemeint? Da ist erstens die Definition – Frau Christmann hat es gerade erwähnt –: Was wird unter KI oder – besser – unter maschinellem Lernen verstanden? Je enger die Auslegung ist, desto mehr bleibt für andere Systeme ungeklärt, insbesondere für Systeme, die einfach nur nach festen Regeln entscheiden. Schon heute gibt es maschinelle Systeme in öffentlichen Einrichtungen, zum Beispiel bei Sozialversicherungen, in der Bundesagentur für Arbeit oder bei den Rentenversicherungen. Wir meinen, gerade solche Systeme, die der Staat einsetzt, sollten als sogenannte Hochrisikosysteme gelten. Dann – völlig klar – müssen besonders hohe Anforderungen an Transparenz und Nachvollziehbarkeit erfüllt werden. Und für uns gehört auch dazu, dass diese Systeme in einem öffentlichen Register aufgelistet werden. Somit kann dann jeder jederzeit sehen, wo eigentlich welches System zum Einsatz kommt. Wir finden, das ist eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Zweitens will die Bundesregierung die KI‑Nutzung in Sicherheitsbehörden gesondert regeln. Das wiederum sorgt weniger für Transparenz, und es ist auch nicht wirklich vertrauensbildend. Mithin haben wir es hier mit einem besonders grundrechtssensiblen Bereich zu tun. Beispielsweise könnte sich doch wieder eine Hintertür für die Gesichtserkennung öffnen. Ich finde schon, dass das, was im Koalitionsvertrag steht – Sie haben es selber angesprochen –, auch weiterhin Gültigkeit haben sollte. Biometrische Erkennungen im öffentlichen Raum, so heißt es da sinngemäß, sind europarechtlich auszuschließen. Genau dabei soll es bleiben. ({1}) Schließlich und drittens. Nehmen Sie die Anbieter mit in die Verantwortung. Es kann doch nicht ernsthaft sein, dass Innovationsförderung eine Freifahrt dafür sein kann, dass Unternehmen, gleich welcher Größe, von solchen Entscheidungen, von solchen Pflichten ausgenommen werden. Auch auf diese Unternehmen muss vertraut werden können. Vertrauen – ganz klar – entsteht durch Transparenz und natürlich –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– mache ich – durch Verlässlichkeit. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Maximilian Funke-Kaiser. ({0})

Maximilian Funke-Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005058, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist essenziell, dass wir in der aktuellen Zeit akute Maßnahmen ergreifen, um die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen zu entlasten und unterstützen. Das machen wir heute mit dem Abwehrschirm. Genauso wesentlich ist es, dass wir die Zukunftsfähigkeit dieses Landes im Blick behalten. Und auch das machen wir. Das zeigen wir mit der Gigabitstrategie, das zeigen wir mit der Digitalstrategie. Das zeigen wir auch mit der notwendigen Debatte über die Förderung von künstlicher Intelligenz in Europa, in Deutschland, und das nicht erst seit dieser Woche, sondern bereits seit vielen Monaten. ({0}) Für die FDP-Fraktion waren, sind und bleiben für die Auslegung einer EU‑Rechtsverordnung für künstliche Intelligenz zwei Prämissen ganz essenziell. Die erste Prämisse ist, dass wir einen Rechtsrahmen brauchen, der Innovationskraft ermöglicht und Wettbewerbsfähigkeit fördert – ganz klar. Die zweite Prämisse ist, dass wir die Systeme, die unsere Bürgerrechte beschneiden, verbieten. Öffentliche Gesichtserkennung, Chat-Kontrollen, Social Scoring – all das hat in einem demokratischen Rechtsstaat nichts zu suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({1}) Da machen wir auch Druck. Wir dürfen nicht Gefahr laufen, dass wir uns mit der KI‑Verordnung einen neuen Klotz ans Bein binden. Natürlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir in dieser Schlüsseltechnologie auch besser sein könnten. Deswegen wird es jetzt auch eine KI‑Verordnung geben, einmalig im globalen Kontext. Da müssen wir jetzt Druck machen – ganz klar. Wir machen Druck, weil wir es besser können und weil wir besser werden müssen. Das werden wir mit der KI‑Verordnung. Und wir machen Druck, dass wir keine Überregulierung bekommen. Wir machen Druck, dass wir keinen Verhinderungswahn erleben. Wir machen Druck, dass wir klare Regeln in dieser KI‑Verordnung bekommen, damit sich diese Schlüsseltechnologie in Europa entfalten kann, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Es geht hier um den positiven Nutzen für unser Land, für den Fortschritt und für die Zukunftsfähigkeit. Es geht um Gesundheitsversorgung – ganz klar. Es geht um Nachhaltigkeit. Es geht auch um Grundlagenforschung. Und was wirklich wesentlich ist: Es geht nicht um uns Politiker, nicht um irgendwelche Bürokraten, sondern darum, die Schaffenskraft der Unternehmerinnen und Unternehmer, der Gründerinnen und Gründer hier in Deutschland zu beflügeln. Das werden wir machen. Und darauf legen wir auch ganz speziell Wert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Abschließend. Wir stehen in einem sehr engen Austausch mit den europäischen Parlamentariern. Der Rechtsrahmen wird aktiv von uns mitgestaltet, und zwar so, dass für unser Land und die Europäische Union der bestmögliche Nutzen für Forschung, Innovation und Wettbewerb dabei herauskommt, gemäß unseren Werten und den Bürgerrechten. Denn gerade Letzteres steht – gerade bei der Union; das haben wir heute erst wieder beim Thema Vorratsdatenspeicherung gesehen, Stichwort „Chat-Kontrolle“ – gerne zur Disposition. Herzlichen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Catarina dos Santos-Wintz. ({0})

Catarina Santos Firnhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Künstliche Intelligenz ist die treibende Kraft in der Entwicklung der Digitalisierung, und daher müssen wir uns klar darüber sein, welch hohe Bedeutung die Regulierung in diesem Bereich hat. Dazu kommt: Die Europäische Union betritt mit einem so umfassenden Vorschlag regulatorisches Neuland – weltweit. Die Regulierung wird nicht nur für europäische Hersteller und Entwickler gelten, sondern für alle, die ihre Produkte auf den europäischen Markt bringen wollen. Aus Sicht meiner Fraktion besteht aktuell aber Anlass zur Sorge, dass die Bundesregierung ihrem Auftrag, sich aktiv für Deutschland in die Verhandlungen einzubringen, nicht gerecht wird. ({0}) Das ist auch der Grund für unseren umfangreichen Antrag. Dass das Digitalministerium hier heute Abend nicht vertreten ist, bestärkt unsere Einschätzung in diesem Punkt ein klein wenig. ({1}) Doch ich will mich an dieser Stelle auf wesentliche inhaltliche Punkte konzentrieren. Wir brauchen meines Erachtens – erstens – eine starke Definition des Begriffs „künstliche Intelligenz“, zweitens eine europäische Souveränität im Bereich Entwicklung und Nutzung von KI, und wir brauchen – drittens – jetzt die richtigen Entscheidungen für einen zukunftsfähigen Wohlstand, den uns diese Technologie bringen wird. Die Definition des Begriffs „künstliche Intelligenz“ ist aus unserer Sicht in der europäischen Verordnung zu allgemein gefasst. Damit würde ein zu großer Teil aller derzeitigen softwarebasierten Technologien erfasst, und es kann fatal sein, wenn in Zukunft einfachste Anwendungen reguliert werden und große sowie kleine Unternehmen mit erheblichen bürokratischen Hürden und Rechtsunsicherheiten konfrontiert sind. ({2}) Wir müssen hier sachlich und nicht ideologisch an das Thema herangehen. Alles, was notwendig ist, muss geschützt werden. Aber um es einmal bildlich zu sagen: Es gibt keinen Airbag für jede Situation der Zukunft. ({3}) Ähnlich sollten wir auch bei der Definition von Hochrisikoanwendungen herangehen. Aus meiner Sicht sollten drei Faktoren eine Rolle spielen: kritische Infrastruktur, Kontext und Gebrauch der Anwendung. Klar ist auch: Wir werden die Gesetzgebung regelmäßig an die Gegenwart anpassen müssen. Aber in einem Punkt sollten wir uns alle einig sein: Europa sollte im Feld „künstliche Intelligenz“ die Spitzenposition im Bereich Forschung und Entwicklung belegen. Das sollte unser Anspruch sein. Die Entwicklung schreitet rasant voran, und wir sind durchaus gut aufgestellt. Es werden beispielsweise in Aachen Sprachsteuerungsmodelle entwickelt, oder Mittelständler finden mithilfe von KI heraus, wann bei einem Windrad Einzelteile getauscht werden müssen, ohne dass jemand auf ein Windrad klettern muss. Souveränität ist hier das entscheidende Stichwort; denn die Entwicklungen – beispielsweise im Bereich des autonomen Fahrens – werden fortschreiten. Aber wir müssen uns entscheiden: Nutzen wir diese Produkte in Zukunft nur, oder entwickeln wir sie mit? Es ist also auch im Interesse der Bundesregierung, sich aktiv in diesen Verhandlungen in Brüssel zu engagieren. Das konnten wir bislang allerdings kaum wahrnehmen. Erst am 14. September 2022 positionierte sich die Bundesregierung zu einem Kompromissvorschlag des tschechischen Ratsvorsitzes und fokussierte sich dabei fast ausschließlich auf den Sicherheits- und Migrationsbereich, und das, obwohl auf Seite 2 ihrer Digitalstrategie steht, dass die digitale Souveränität Deutschlands das Leitmotiv der Digital- und Innovationspolitik der Bundesregierung sei und auf das übergeordnete Ziel der strategischen Souveränität Europas einzahle. Aber das reicht uns nicht! ({4}) Schon jetzt ist die Abhängigkeit unserer Unternehmen von ausländischen Unternehmen in der Digitalisierung besorgniserregend. 80 Prozent der deutschen Unternehmen fühlen sich technologisch abhängig von nichteuropäischen Partnern. Auch die Verwaltung ist stark abhängig von ausländischen Unternehmen. Es ist dringend geboten, dass wir unsere technologische Handlungsfähigkeit bewahren und einseitige Abhängigkeiten zügig abbauen. ({5}) Wir brauchen eine starke europäische Digitalwirtschaft. Diese ist nicht nur in Deutschland mittelständisch geprägt; denn 99 Prozent der IT-Unternehmen in Europa sind kleine und mittelständische Unternehmen. Das bedeutet: Eine Digitalpolitik, die Abhängigkeiten abbauen und eine selbstbestimmte Digitalisierung made in Europe ermöglichen will, ist in erster Linie auch Mittelstandspolitik. ({6}) Es liegt daher in unserem ureigenen Interesse, das Thema auch aus industriepolitischer Sicht zu betrachten. Wir brauchen in Europa eigene KI-basierte Geschäftsmodelle. Insbesondere KMUs und Start-ups dürfen nicht durch Überregulierung in Form von teuren Zertifizierungen und wahnsinnigen Dokumentationspflichten gegenüber großen Playern am Markt ausgespielt werden. Lassen Sie mich auch noch einmal in aller Klarheit sagen: Überregulierung macht den europäischen Standort im internationalen Vergleich nicht attraktiver. ({7}) Für mich gilt: Wir brauchen eine Regulierung von künstlicher Intelligenz, die Vertrauen in die Technologie schafft, pragmatisch Nutzung und Entwicklung in Europa unterstützt, unsere IT-Wirtschaft sich frei entfalten lässt und im internationalen Raum konkurrenzfähiger macht. Herzlichen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Punktlandung. – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Armand Zorn das Wort. ({0})

Armand Zorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zukunftstechnologie „künstliche Intelligenz“ hat das Potenzial, unsere Wirtschaft, unsere Arbeitswelt und auch unseren Alltag grundlegend zu verändern. So abstrakt diese Technologie auch sein mag, so konkret sind ihre Auswirkungen schon heute. Beispielsweise werden in der Produktion Prozesse KI-gesteuert energieeffizienter aufgestellt, oder KI-basierte Assistenztechnologien erleichtern Menschen mit Schwerbehinderung eine Teilhabe am Arbeitsplatz. Die Bedeutung von KI wird in Zukunft noch zentraler werden. Eine McKinsey-Studie schätzt, dass das globale Wirtschaftswachstum durch KI bis 2030 um bis zu 13 Billionen US-Dollar ansteigen wird. Damit wird KI für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas entscheidend sein. Aus dem Antrag der Unionsfraktion ist die Sorge zu lesen, dass der AI‑Act dazu führen wird, dass die EU im Vergleich zu China und zu den USA nicht mehr so wettbewerbsfähig ist. Liebe Union, ich kann Sie da beruhigen. Ihre Sorgen sind überhaupt nicht berechtigt. Diese Regulierung schafft Planungs- und Rechtssicherheit für die Wirtschaft, gleichzeitig aber auch den notwendigen Schutz für die Menschen. ({0}) Denn zwischen staatlich überwachten Innovationen aus China und marktgetriebenen kapitalistischen Innovationen aus den USA bietet diese Regulierung eine Chance für den europäischen Standort. Digitalisierung made in Germany oder made in Europe kann sich gegenüber der US-amerikanischen und der chinesischen Konkurrenz nur dadurch abheben, indem sie explizit gesellschaftspolitische Faktoren wie Umweltstandards, ethische Standards und soziale Fragen berücksichtigt. Die EU wählt also hier einen wertebasierten, einen verantwortungsbewussten, einen menschenzentrierten Weg, und genau das kann ein internationaler Goldstandard werden. Überall auf der Welt machen sich Regierungen und Parlamente auf den Weg, Regulierungsansätze zu entwickeln. Es wird ganz genau geschaut, was wir hier auf europäischer Ebene machen. Wir sind hier Vorbild. Der Brüssel-Effekt zeigt bereits jetzt seine Wirkung. Gesellschaftliche Akzeptanz einer Technologie wirkt sich positiv auf deren Nutzung und folglich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes aus. Der AI‑Act wird diese Akzeptanz schaffen, indem er explizit auch auf die Risiken im Hinblick auf die Nutzung eingeht. Entscheidungen, die durch KI‑Systeme vorbereitet und getroffen werden, können tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Bürgerinnen und Bürgern haben. Deswegen ist es wichtig: Das darf nicht ohne Aufsicht und nicht ohne Regeln geschehen. Wir brauchen hier endlich eine Regulierung. ({1}) Künstliche Intelligenz hält vermehrt Einzug in das alltägliche Leben. Zum Beispiel unterstützen KI‑basierte Systeme die Auswahl von passenden Bewerberinnen und Bewerbern. Auch wenn es darum geht, Leistungsbewertungen von Beschäftigten auszuwerten, werden zunehmend KI‑basierte Systeme genutzt. Auch bei der Vergabe von Krediten und dem Abschluss von Versicherungen sind KI‑gestützte Systeme bereits im Einsatz. Das heißt also: Hier besteht ein hohes Diskriminierungsrisiko. KI‑Systeme basieren auf Trainingsdaten, die auch diskriminierende Muster enthalten können. Daher brauchen wir Regeln, um diese Ungleichbehandlung, die tatsächlich stattfindet, zu reduzieren und somit auch das Vertrauen in künstliche Intelligenz zu erhöhen. Ein erster Schritt kann eine Informationspflicht sein, damit Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich darüber informiert werden, wenn sie mit KI interagieren. Das ist eine Forderung, die wir auf den Weg gebracht haben. Wir sind sehr froh, dass auch die Bundesregierung diese Haltung unterstützt. Wir brauchen in einem zweiten Schritt aber auch Offenlegungspflichten, weil wir dafür sorgen müssen, dass Betroffene die Möglichkeit haben, die Entscheidungen nachzuvollziehen und auch Klagen dagegen zu richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der AI‑Act erreicht hier die richtige Balance zwischen Stärkung der Innovationskraft und Minimierung der Risiken. Wir werden diesen Ansatz weiterhin unterstützen und sind der Bundesregierung sehr dankbar für das Positionspapier, was dazu auf den Weg gebracht wurde. Wir können gemeinsam daran arbeiten, dass die Regulierung noch besser wird. Vielen lieben Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und für Bündnis 90/Die Grünen hat Sabine Grützmacher das Wort. ({0})

Sabine Grützmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben gerade gehört: Wir müssen Vertrauen schaffen. – Ich kann Ihnen sagen, wie man Vertrauen schafft: Wenn man dafür sorgt, dass nicht permanent etwas kaputtgeht. Ich erinnere an die Zeugnis-Blockchain. Wenn das die vertrauensbildenden Maßnahmen sind, die Sie sich vorstellen, dann sehe ich da tatsächlich schwarz. Ich glaube, im Kern sind wir uns einig: KI soll den Nutzen für die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Aber Gesellschaft ist mehr als Wirtschaft. Gesellschaft, das sind Menschen in all ihrer Vielfalt, und dazu gehören auch vulnerable Gruppen. In der Anhörung zum AI‑Act machte der Sachverständige Herr Geuter deutlich: Zu oft wird über Vorstellungen und Fantasien der Zukunft geredet, die nicht auf wirklichen Eigenschaften oder Strukturen basieren. Aber KI liefert nicht auf magische Weise automatisch Mehrwert. Das zeigt Ihr Beispiel zum angeblich erfolgreichen KI‑Einsatz in der Pandemie. Es gibt eine Metastudie des MIT. Es fand unter über 100 Anwendungen keine einzige erfolgreiche KI‑Anwendung. Aber ich verstehe trotzdem den Punkt; denn ja, gute KI kann Innovation hervorbringen. Wir müssen aber anfangen, zwischen Algorithmen, künstlicher Intelligenz, Machine Learning, Deep Learning und zukünftigen Ansätzen wie Quantum Machine Learning zu unterscheiden und auch diese Entwicklung zu ermöglichen. Wir müssen uns da auch ehrlich machen; denn Zukunftstechnologien machen nicht per se alles besser, weil Buzzwords auf dem Etikett stehen. Sie machen es besser, wenn echte KI‑Anwendungen enthalten sind und passende Technologien für passende Szenarien ausgewählt werden. ({0}) KI‑Anwendungen sind mehr als die Summe ihrer Teile, und wir müssen kombinierte Einsätze bewerten, nicht nur Branchen und Segmente. Und: Sie müssen sicher sein; denn wenn Regierungen nicht in der Lage sind, Zukunftstechnologien sicher zu machen, dann verlieren wir alle das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Wohin das führt, hat die Sachverständige Catelijne Muller von der Organisation ALLAI in der Anhörung berichtet. So ist die Regierung Rutte der VVD aufgrund eines KI‑Systems, das über 20 000 Bürgerinnen und Bürger des Betrugs bezichtigt hat, zurückgetreten. Dieser Ausgang war vermutlich nicht Teil der Risikobetrachtung. Die KI‑Verordnung liefert hier einen für die EU zukunftsweisenden Vorschlag, an dem natürlich noch weiter gearbeitet werden kann. Aber die deutsche Stellungnahme ergänzt sinnvolle Punkte wie die Frage nach Möglichkeiten der Sammel- und Verbandsklage und die Absage an biometrische Live-Fernüberwachung auch im nichtöffentlichen Raum. Auch die Forderungen des Koalitionsvertrags nach Wahrung von Bürgerrechten oder Diskriminierungsfreiheit werden eingearbeitet. Ähnlich wie die DSGVO – sie ist eigentlich ein Erfolgsmodell – bietet sich die Möglichkeit eines europäischen Markenkerns; denn Technikfolgenabschätzung und sichere KI als europäisches Konzept, das ist gelebte Wirtschaftsförderung, weil Wirtschaft rechtsverbindlich und sicher planen kann. ({1}) Wenn dann bei der Zusammensetzung des zu schaffenden AI‑Boards vielleicht auch noch die digitale Zivilgesellschaft mit am Tisch sitzen dürfte, dann wären wir sogar noch einen Schritt weiter. Ich bin guter Dinge, dass wir das gemeinsam beraten bekommen. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute darüber debattieren. Denn auch an der Debatte im Plenum sieht man: Wir befinden uns auf europäischer Ebene offensichtlich an einem Scheideweg, in welche Richtung wir mit dieser Technologie gehen wollen. Wollen wir alles totregulieren und schon von Anfang an nur die Gefahren sehen oder wollen wir alles laufen lassen und es eigentlich verhindern, weil „europäisch“ vorne dransteht? Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. KI ist nicht gut oder böse. Es ist eine Technologie, und das bedeutet: Es ist das, was wir hier und in Europa daraus machen. ({0}) Für uns ist deswegen völlig klar: Wir wollen Standards setzen. Wir wollen dafür sorgen, dass Bürgerrechte eine große Rolle spielen. Das geht aber nur, wenn wir hier in Europa eine innovative Struktur bekommen, wo diese Technologie erfolgreich angewandt wird. Wenn wir das nicht machen, dann werden wir überhaupt keine Standards auf der Welt setzen. Deswegen ist es entscheidend, dass wir hier erst einmal KI bekommen, um sie dann auch regulieren zu können. Was mir besonders wichtig ist – das ist der zweite Punkt, den ich noch kurz ansprechen will –: Liebe Unionsfraktion, wir sind uns ja darin einig, dass wir bei dem Ganzen vor allem die Chancen sehen. In Ihrem gesamten Antrag finde ich aber nichts zum Thema Bürgerrechte. Wir haben schon sehr viel darüber gesprochen: Natürlich gibt es durch KI neue Möglichkeiten der Einschränkungen von Bürgerrechten. Wir haben über Face Scans gesprochen, über Social Scoring. Wir wissen: Schon das Gefühl, dass man dauerhaft beobachtet wird, dass man nicht weiß, was damit passiert und wer das Ganze beobachtet, erzeugt eine Unsicherheit, die das Verhalten ändert. Deswegen ist das ein Grundrechtseingriff. Der französische Philosoph Michel Foucault nannte das einmal „Panopticon“. Man hat das Gefühl, immer unter Beobachtung zu sein. Deswegen müssen wir sehr genau darauf achten, große Grundrechtseingriffe zu verhindern, und gleichzeitig dafür sorgen, dass KI in Europa gestärkt wird und wir zukunftsfest vorbereitet sind auf das, was kommt. Vielen Dank. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in der Debatte ist Dr. Holger Becker für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Holger Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005021, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Gegensatz zu einigen anderen Themen, die gern mal zu etwas überhitzten Diskussionen in diesem Plenarsaal führen, glaube ich, dass wir uns heute bei der Bedeutung des Themas künstliche Intelligenz vergleichsweise einig sein könnten. KI-Systeme und algorithmische Entscheidungshilfen sind ja schon heute in vielen Bereichen unseres Alltags etabliert und werden in unserer Zukunft nicht mehr wegzudenken sein. Ausnahmsweise – und das ist wirklich wichtig – haben wir in diesem Bereich die Möglichkeit, den technologischen Entwicklungen mit Regulierungsverfahren nicht nur hinterherzurennen, sondern mit den Entwicklungen auf Augenhöhe einen regulatorischen Rahmen zu schaffen, der branchenübergreifend Sicherheiten gibt und somit den Transfer von Forschung in die Anwendung im gesamten europäischen Umfeld und auch weltweit vorantreibt und die Chance bietet, weltweite Standards zu setzen. ({0}) Genau das ist das Kernziel der von der EU-Kommission vorgelegten Verordnung über künstliche Intelligenz. Dass hier dringender Handlungsbedarf besteht, haben die insgesamt 1 215 Beiträge der vorangegangen Onlinekonsultation gezeigt. Denn es ist egal, ob das ein Start-up, ein KMU oder ein Big Player ist: Solange Unsicherheiten durch fragmentierte regulatorische Lösungen innerhalb der EU bestehen, wird unsere Innovationskraft in diesem Bereich nur auf Sparflamme laufen. Genau deshalb sind wir mit der vorgelegten KI-VO auf dem absolut richtigen Weg. Wie auch schon in unserer Digitalstrategie erwähnt – ich zitiere –, „sorgen klare und verlässliche Rahmenbedingungen … für ein nutzer- und wettbewerbsfreundliches Umfeld“, welches wiederum elementar wichtig für die digitale Souveränität Europas ist. Denn nur durch ein gemeinsames Vorgehen können sich die Potenziale des digitalen Binnenmarkts bestmöglich und vor allen Dingen innovationsfreundlich entfalten. ({1}) Die festgelegten Rahmenbedingungen sind dabei ein wichtiger Baustein, um ein Level Playing Field zu gewährleisten. Eine weitere wichtige Komponente dafür ist die Vermittlung von KI-Kompetenz. Deswegen werden wir mit der Initiative „Civic Coding“ nicht nur die Daten- und KI-Kompetenz in der Zivilgesellschaft stärken, sondern auch den KI-Campus als Lernplattform für künstliche Intelligenz und den Ausbau der Zentren für vertrauenswürdige KI vorantreiben. Wie schon bei der Datenschutz-Grundverordnung schaut die restliche Welt ganz genau darauf, welche Werte und auch welche Visionen unser europäisches Bündnis für die digitale Dekade hat. Die Chance, eine global wegweisende Rolle einzunehmen, indem wir eine innovationsfreundliche und ‑ermöglichende Verordnung vorlegen, die unsere Werte und unsere Grundrechte schützt, während gleichzeitig ein hohes Sicherheitsniveau gewährleistet wird, wurde meiner Meinung nach mit der vorliegenden Verordnung und der begrüßenswerten Anmerkung unserer Bundesregierung erkannt und auch vorangetrieben. ({2}) Der VP of Government Affairs eines großen Digitalunternehmens ging gestern so weit, die europäische Herangehensweise und den politischen Prozess zur KI-Verordnung als mustergültig zu bezeichnen. Ich bin mir sicher, dass wir mit dem derzeitigen Entstehungsprozess der KI-Verordnung auf einem erfolgversprechenden Weg sind. Lassen Sie uns weiter gemeinsam in einem konstruktiven Arbeitsprozess diesen wichtigen Schritt in unsere digitale Zukunft gehen. Vielen Dank. ({3})

Christian Kühn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004333

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten immer klar betont, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen darf. Genauso gilt: Russland muss und wird mit dem erpresserischen Einsatz von Energielieferungen als Waffe scheitern. Eine der vielen Maßnahmen, mit denen wir uns in Deutschland nun für den kommenden Winter wappnen, ist die Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Damit schaffen wir eine Lösung auf Zeit, zugeschnitten auf die aktuelle Situation der Gasmangellage. Ich füge an der Stelle noch hinzu: Anstatt ideologische Debatten zu führen, wie das Teile dieses Hauses tun, lösen wir pragmatisch die Probleme, die durch die Gasmangellage auf uns zukommen. Das hier ist ein gutes Beispiel dafür. ({0}) Wir sorgen mit den geplanten Änderungen vielmehr für Versorgungssicherheit in Industrie, Mittelstand und bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Gleichzeitig nutzen wir hier eine Chance, um ganz real Gas einzusparen und uns zu wappnen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ermöglichen wir einen schnellen und unkomplizierten Brennstoffwechsel, zum Beispiel von Erdgas auf Heizöl, für Industrieanlagen und für Kraftwerke und damit in der gesamten deutschen Wirtschaft. Hierzu sind nun befristet – befristet! – Verfahrenserleichterungen bei den immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren vorgesehen. So schaffen wir Rechtssicherheit für den Brennstoffwechsel, den wir jetzt brauchen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann nun ein vorzeitiger Betrieb der Anlage auch genehmigt werden, ohne dass vorher alle Genehmigungsunterlagen oder die Öffentlichkeitsbeteiligung abgeschlossen sind. Ich finde, das ist eine wirklich pragmatische Lösung, die wir gefunden haben. Ein solcher Betrieb darf dann erfolgen, wenn die Anlage eine positive Prognoseentscheidung hat und damit das Schutzniveau bezüglich der Umwelt und der Menschen weiter hoch ist. Damit wird der Brennstoffwechsel erleichtert, und wir geben der Industrie klare Erleichterungen in dieser Zeit. Das kann auch zeitweise zu erhöhten Immissionen führen. Aber dann – das ist vollkommen klar – muss die Anlage unverzüglich nachgerüstet werden. Zusätzlich ermöglichen wir mit der 30. Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, dass Anlagen zur mechanischen und biologischen Abfallbehandlung bei einem Beschaffungsnotstand nicht stillgelegt werden, sondern eben weiterbetrieben werden können. Damit verhindern wir als Bundesregierung, als Ampel einen Engpass bei der Entsorgung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Winter naht. Statt rückwärtsgewandte Debatten zu führen, wie wir sie leider auch heute und in den letzten Tagen, gerade hier im Plenum, immer wieder gehört haben, schaffen wir hier eine sehr pragmatische Lösung. ({2}) Auf der einen Seite ermöglichen wir, dass Anlagen weiterbetrieben werden können, justieren wir unsere Standards in dieser Krisensituation neu. Auf der anderen Seite wahren wir Umweltstandards und den Anspruch der Menschen auf Schutz bei Gefahren. Ich finde, damit zeigen wir, dass die Ampel liefert, dass diese Bundesregierung liefert, dass das Umweltministerium liefert. Damit zeigen wir, dass wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen und pragmatisch handeln. Diese Regelung, die nun von uns auf den Weg gebracht wird, haben wir nicht alleine erarbeitet. Die haben wir gemeinsam mit den Ländern erarbeitet, mit der Industrie und mit dem Mittelstand abgestimmt. Ich glaube, so geht Krisenbewältigung, meine Damen und Herren. ({3}) Zusammenfassend. Die Ampel liefert. Ich bedanke mich bei allen Kollegen, die in den letzten Tagen und Wochen daran mitgearbeitet haben. Ich glaube, so funktioniert Politik – zum Wohle der Menschen und der Umwelt, pragmatisch und mit Augenmaß. Danke schön. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Christian Hirte. ({0})

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stimmen heute über das Vierzehnte Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zusammen mit einigen anderen Regelungen zum Immissionsschutz ab. Ich will es vorab für unsere Fraktion festhalten: Wir stimmen dem zu. Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation, in der wir versuchen, auf eine Gasmangellage in unserem Land zu reagieren. Herr Staatssekretär Kühn, Sie haben ausdrücklich recht. Selbstverständlich kann die Bundesregierung nichts für die Ursachen derselben. ({0}) Wir haben einen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, und wir sind in einer Situation, in der sicherlich die meisten in unserem Hause die Ursachen relativ klar einordnen und benennen können. Aber, Herr Staatssekretär, in Bezug darauf, wie wir mit diesen Umständen umgehen, müssen wir schon darüber reden, ob das der richtige Weg ist. ({1}) Meine Fraktion hat den Eindruck: Wenn Sie meinen, dass in den vergangenen Tagen und Wochen auch noch rückwärtsgewandte ideologische Debatten geführt worden seien, dann meinen Sie wohl eher sich selbst und Teile Ihrer eigenen Koalition. ({2}) Ich erinnere mal an die Rede der geschätzten Kollegin Skudelny, die vor einer Woche darauf hingewiesen hat, dass wir als Union wertvolle Beiträge liefern, die eine Hilfe dabei sein können, um mit der Energienot in unserem Land zurechtzukommen. ({3}) Frau Skudelny hat außerdem etwas euphemistisch darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Koalition noch nicht in allen Punkten Einigkeit gibt. ({4}) Einigkeit müsste doch aber eigentlich dahin gehend bestehen, dass wir nicht nur mit der Notlage umgehen, indem wir die Folgen mildern, sondern auch mehr Energie organisieren, mehr Energie produzieren müssen: aus Kohle, aus Kernkraft, ({5}) aber auch aus Gas und mit anderen Möglichkeiten. ({6}) Wir brauchen am Ende, Herr Staatssekretär, mehr Energie bei der Regierung, damit sie die notwendigen Dinge auf den Weg bringt. ({7}) Wir haben heute die Ankündigung des Kanzlers, von Wirtschaftsminister Habeck und von Finanzminister Lindner gehört, die Herr Scholz als „Doppel-Wumms“ bezeichnet hat. Ich habe eher den Eindruck, wenn ich auf die Geschichte der Gasumlage schaue: Es ging mit Krach hinein in diese Regel und heute mit Getöse wieder raus. Der Rest bleibt noch ziemlich im Ungefähren, außer dass man einen gigantischen Betrag von 200 Milliarden Euro aufwenden will. Ich glaube, es wäre notwendig, dass das gemacht wird, was wirklich unmittelbar hilft, nämlich festzulegen, dass die Kernkraftwerke weiterlaufen können ({8}) – das ist eine der vielen Lösungen; ich habe es gerade gesagt: wir brauchen Kohle und anderes –, und dass Herr Habeck dafür sorgt, dass wir auch Kernbrennstoff bestellen. ({9}) Und ja, ich weiß: Sie haben Wahlkampf. Aber es geht ums Land und nicht nur um Ihre eigene Parteien. ({10}) Wir sind jedenfalls diejenigen, die, wenn es vernünftig wird, uns auch konstruktiv einbringen, die deswegen auch, wenn es in die richtige Richtung geht, zustimmen, wie bei den Regeln, die jetzt hier vorliegen. Deswegen will ich ausdrücklich sagen: Wir unterstützen solche vernünftigen Vorschläge wie das Vierzehnte Änderungsgesetz. ({11}) Die Preisexplosionen und auch die Versorgungslage sind für die Unternehmen dramatisch. Deswegen hilft alles, was dazu beiträgt, dass wir weniger Gas verwenden und dass wir andere Möglichkeiten finden, wie wir Gas ersetzen können. ({12}) Wenn Unternehmen etwa noch alte Ölkessel haben und wir mit dieser Regelung dabei helfen können, den sogenannten Fuel Switch hinzubekommen, dass wir also andere Brennmittel außer Gas nutzen können, ({13}) dann ist es genau der richtige Weg, das zu vereinfachen. Ich will es ausdrücklich sagen: Es ist richtig. ({14}) Das Bundes-Immissionsschutzgesetz – Herr Kühn, Sie haben es gesagt – ist befristet, und die Abweichung von den Immissionsgrenzwerten macht auch Sinn, weil es momentan übergeordnete Interessen gibt, nämlich die Sicherheit unserer Versorgung. Sie müssten dann allerdings auch darauf schauen, dass im Rahmen der Sicherstellung des Fuel Switch die Unternehmen in die Lage versetzt werden, auch tatsächlich einen Ersatzbrennstoff zu bekommen. Es ist nämlich nicht ganz banal, wenn man zum Beispiel heute nicht nur anfängt, Öl in Größenordnungen zu bestellen, sondern auch dafür sorgen muss, es geliefert zu bekommen. Auch da, glaube ich, kann durchaus noch ein bisschen Hilfe bezüglich der Regulatorik vor allem von Ihrem Haus geleistet werden. ({15}) Letzte Anmerkung. Ich würde mir auf dem Wege hin zu einer guten Lösung wünschen, dass Sie auch unserem Vorschlag folgen, wenn es darum geht, noch weitere Erleichterungen für die kleinen und mittelgroßen Unternehmen auf den Weg zu bringen, indem die Genehmigungspflicht für die Installation größerer Flüssiggastanks, wie von uns vorgeschlagen, von 3 Tonnen auf 12 Tonnen angehoben wird.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Helfen Sie uns auf diesem Weg, damit wir zu einer guten Regelung kommen. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Carsten Träger. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass wir große Einigkeit im Haus darüber haben, dass das ein sinnvoller, notwendiger und richtiger Schritt ist. Damit könnte ich eigentlich schon fast zum Ende meiner Ausführungen kommen. ({0}) Aber ganz so einfach mache ich es euch natürlich nicht. Also: Wir regeln in dem BImSchG eine ganze Anzahl von Sonderregelungen, damit es eben schnell und unbürokratisch die Möglichkeit für Unternehmen gibt, den sogenannten Brennstoffwechsel, Fuel Switch, durchzuführen. Spaß beiseite: Das ist natürlich ein wichtiger Schritt, um die Menschen und die Unternehmen zu beruhigen, die sich Sorgen machen, wie sie die drohende Gasmangellage bewältigen können. Deswegen ist es gut, dass diese Regierung handelt, dass diese Koalition handelt, dass hoffentlich das Parlament zustimmt. Es wäre natürlich auch gut, wenn das ganze Parlament dem „Doppel-Wumms“ zustimmen würde, der gerade schon angesprochen wurde; denn das ist ein Maßnahmenpaket, das tatsächlich eine kraftvolle Antwort auf die Herausforderungen der Zeitenwende ist. ({1}) Viele, viele Menschen machen sich Sorgen – das haben Sie, Herr Brandner, vielleicht nicht mitbekommen –: ({2}) Wie komme ich über die kalte Jahreszeit? ({3}) Viele Unternehmen machen sich Sorgen: Wie können wir bei Energiemangel unsere Produktion aufrechterhalten? Wie können wir denn den Wohlstand in diesem Land erhalten? ({4}) Deswegen ist diese kraftvolle Antwort genau das, was wir brauchen: 200 Milliarden Euro. ({5}) Ein Abwehrschirm – 200 Milliarden Euro! –, damit genau diese Sorgen nicht mehr das Tagesgeschehen bestimmen müssen. Die Gasumlage fällt weg, dafür kommt die Gaspreisbremse. In Verbindung mit der Strompreisbremse ist das die Antwort auf die Herausforderung, die die drohende Energiekrise an uns stellt. Deswegen werbe ich dafür, dass wir alle den notwendigen Gesetzen zustimmen, ({6}) und bedanke mich ausdrücklich bei der Regierung, dass sie diesen Vorschlag gemacht hat. ({7}) Es ist die richtige Reaktion auf die Herausforderungen der Zeitenwende. Denn wollen wir nicht vergessen: Drei Entlastungspakete im Volumen von 100 Milliarden Euro sind schon unterwegs, um die Symptome, die die heraufziehende Krise jetzt schon verursacht hat, dann tatsächlich auch zu lindern. Weitere 100 Milliarden Euro sind im Sondervermögen für die Ausstattung der Bundeswehr schon zugesagt. Ich würde mal sagen: Diese Regierung handelt. Diese Regierung mit der Koalition, die sie trägt, handelt kraftvoll, schnell und entschlossen, und das wird auch von Erfolg gekrönt sein. ({8}) Kurz noch zu dem eigentlichen Gesetz, dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, das uns vorliegt. Wir machen nun möglich, dass es schnellere Genehmigungsverfahren gibt. Wir ermöglichen Ausnahmen von den Immissionsgrenzwerten; denn es ist klar: Wenn ein Unternehmen von einer Gasfeuerung auf zum Beispiel eine Ölfeuerung umstellt, dann entstehen andere Immissionen. Wir machen sogar den Weg dafür frei, dass ein vorläufiger Betrieb der Anlage möglich ist, wenn noch nicht alle notwendigen Dokumente beigebracht sind. Das heißt: Leinen los! Es kann schnell losgehen. Als Umweltpolitiker mache ich keinen Hehl daraus, dass mir Befristung in diesem Zusammenhang ein großes Anliegen ist; denn die Regelungen, die wir hatten – und die wir haben –, sind nicht vom Himmel gefallen. Es gibt gute Gründe dafür. Nun sind wir in einer Notsituation. Wir sehen uns einem Angriff gegenüber. Physisch wird die Ukraine attackiert, aber es gibt natürlich auch so etwas wie einen Energie- und Wirtschaftskrieg, dem sich Europa ausgesetzt sieht. Die Maßnahmen sind eine richtige Antwort auf diese Herausforderungen. Deswegen freue ich mich, dass wir anscheinend einen breiten Konsens in diesem Haus für eine Zustimmung haben. Vielen Dank. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion spricht Andreas Bleck. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät einen Gesetzentwurf und einen Verordnungsentwurf, die wir beide nicht bräuchten, wenn wir diese Bundesregierung nicht hätten. ({0}) Denn anders, als es hier dargestellt wird, ist sie nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. ({1}) Es geht um die Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der 30. Bundesimmissionsschutzverordnung. Um es vorwegzunehmen: Wir stimmen diesen Änderungen zu, weil wir nicht möchten, dass diese Bundesregierung neben der Versorgungssicherheit auch noch die Entsorgungssicherheit gefährdet. Doch wir dürfen uns nichts vormachen: Damit werden nur die Symptome gelindert; das hat der werte Herr Kollege Träger zu Recht angesprochen. ({2}) Die galoppierende Inflation und die explodierenden Strom- und Gaspreise, ({3}) die die Ursache dieser Symptome sind, werden nicht wirksam bekämpft, auch nicht durch den „Doppel-Wumms“. Der wird eher ein doppelter Rohrkrepierer. ({4}) Eigentlich müsste ein guter Politiker wie ein guter Arzt handeln: Erst die richtige Diagnose, dann die richtige Therapie. Zur richtigen Diagnose gehört, dass man erkennt, dass die ideologische Energiepolitik der Bundesregierung uns erst in die extreme Abhängigkeit von russischem Öl und Gas getrieben hat. ({5}) Der massive Ausbau der sogenannten erneuerbaren Energien bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kohleverstromung und Kernenergie hat dazu geführt, dass wir Gaskraftwerke bei der Dunkelflaute benötigen. ({6}) Obwohl wir uns eigentlich auf eine Gasmangellage vorbereiten müssten, wird immer noch Gas in Gaskraftwerken verstromt. Das ist genau das Gas, das wir jetzt benötigen, um die Entsorgung bei den Abfallbehandlungsanlagen im Rahmen der geltenden Immissionswerte sicherzustellen. Währenddessen lässt sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit großem medialen Popanz dafür feiern, dass er mit den Vereinigten Arabischen Emiraten die Lieferung von LNG-Gas nach Deutschland verhandelt hat. 137 000 Kubikmeter LNG-Gas sollen im Winter geliefert werden. Der Bedarf an Gas betrug 2021 jedoch 90,5 Milliarden Kubikmeter. Diese Lieferung reicht also nur für etwa einen halben Tag! ({7}) Umso gravierender ist die Sabotage an den Pipelines Nord Stream 1 und 2. Doch der Bundeskanzler äußert sich nicht. Kein medialer Popanz: Er schweigt. Schweigt er wegen klammheimlicher Freude, oder schweigt er, weil ihm Informationen vorliegen, die nahelegen, dass die Sabotage von einem Staat ausging, der vorgibt, unser Verbündeter zu sein? ({8}) Und was ist eigentlich mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck? Der grüne Klimaschamane betet währenddessen, dass uns ausgerechnet die verhasste Klimaerwärmung über den Winter bringen möge. Das ist völlig absurd. ({9}) Unser Land krankt an dieser Bundesregierung. Unser Land bräuchte diesen Gesetzentwurf und Verordnungsentwurf nicht, wenn die Bundesregierung eine vernünftige Energiepolitik betrieben hätte. Zur richtigen Therapie gehört, die Steuer- und Abgabenlast zu senken. Die CO2-Abgabe und EEG-Umlage müssen abgeschafft, die Energiesteuer und Netzentgelte gesenkt werden. Die drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke müssen weiterbetrieben, die drei abgeschalteten Kernkraftwerke wieder in Betrieb genommen werden. Das, werte Kolleginnen und Kollegen, würde unserem Land helfen. ({10}) Ob uns Ihr Gesetzentwurf und Verordnungsentwurf helfen, wagen wir zu bezweifeln. ({11}) Die Fachverbände, werter Herr Kollege Ebner, haben doch selber verdeutlicht, dass die Abfallbehandlungsanlagen trotzdem nicht in der Lage sein werden, bei einer Gasmangellage die Industrieemissionsrichtlinie der Europäischen Union einzuhalten. Neben der Energie- und Lebensmittelkrise droht uns Ihretwegen auch noch eine Abfallkrise. ({12}) Werte Kolleginnen und Kollegen der Ampelkoalition: Wachen Sie endlich auf!

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn Sie schon nicht zum Wohl unseres Landes handeln, dann handeln Sie wenigstens zu Ihrem eigenen Wohl! Bedenken Sie:

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Bleck, letzter Satz, bitte.

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn die Energie ausfällt, fällt auch die Ampel aus, und dann gilt rechts vor links. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muss meine Rede ein bisschen umstellen und beginne zunächst einmal damit, zu sagen, warum wir überhaupt hier stehen. Ich glaube, es ist doch noch nicht jedem in diesem Haus ganz klar: Putin führt einen Krieg in und gegen die Ukraine. Das ist der eigentliche Grund, warum wir heute hier sind. ({0}) Weil wir uns an die Seite der Demokraten gestellt haben, an die Seite derer, die sich auf dem richtigen Weg – mit unserem Wertegerüst – befinden, deswegen führt Putin jetzt einen Energie- und vor allem einen Gaskrieg gegen Europa und gegen Deutschland. Das ist der Grund, warum wir heute in dieser Lage sind und hier debattieren. ({1}) Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes – darüber haben wir heute noch viel zu wenig gesprochen – ist übrigens eine Flexibilisierung der Energieversorgung der deutschen Industrie und Wirtschaft. Sie ist deswegen notwendig, weil in der Vergangenheit viele auf Gas als ein klimafreundliches Brennmaterial gesetzt haben und wir jetzt in der Situation sind, dass es vielleicht eine Gasmangellage geben wird. Wir werden – das haben wir heute beschlossen – 200 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um die Auswirkungen der Krise für die deutsche Gesellschaft, vor allem für die deutsche Wirtschaft, auszugleichen. Aber Geld kann nur dort helfen, wo es um Kosten geht. Wenn wir in eine wirkliche Gasmangellage kommen, dann hilft alles Geld der Welt nicht, dann müssen wir auf andere Brennstoffe umswitchen. Damit wir diesen Fuel Switch schnell und unbürokratisch hinbekommen, sitzen wir heute hier. An diesem Gesetz arbeiten wir. ({2}) Einen ersten Schritt zur Flexibilisierung sind wir schon im Juli gegangen. Da haben wir bei mittleren und Großfeuerungsanlagen den Fuel Switch beschleunigt. Jetzt nehmen wir alle weiteren Anlagen in Angriff und wollen, dass auch hier eine Änderung des Brennstoffs funktioniert. Dabei, liebe Union, bewegen wir uns im Rahmen der Vernunft. Es ist tatsächlich so, dass gerade dieses Flüssiggas leicht entzündbar und deswegen sehr gefährlich ist. Wir wollen natürlich beschleunigen, aber wir wollen dabei nicht alle Vorsicht sausen lassen. Deswegen haben wir den Gesetzentwurf so vorgelegt, wie er ist. Wir sind nicht in einen genehmigungsfreien Raum gegangen, sondern haben gesagt: Mit Sinn und Verstand, unter Schutz von Mensch und Umwelt wollen wir beschleunigen, das aber unter Vorsichtsmaßnahmen, die hier weiterhin gelten müssen. ({3}) Bei der Beschleunigung des Brennstoffwechsels arbeiten wir mit einem Dreiklang. Wir arbeiten mit einer Verfahrensvereinfachung durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz, wir schaffen Erleichterungen und Ausnahmen in den untergesetzlichen Verordnungen, und – das finde ich besonders toll – wir beschleunigen auch den Vollzug in den Ländern, indem wir mit dem Gesetz auch konkrete Vollzugshinweise geben. „Vollzugshinweise“ hört sich ein bisschen technisch an, es bedeutet: Wir geben den Behörden eine Bedienungsanleitung, damit sie genau und schnell wissen, was zu tun ist, und diesen Brennstoffwechsel, diese Änderungsgenehmigung auch schnell vollziehen können. Ich glaube, dass uns hier ein richtig gutes Gesetz gelungen ist. Also, ich kann uns nur selber loben: Das Gesetz ist top. ({4}) Jetzt bin ich aber ein bisschen befangen, und ich verstehe, dass die Union da nicht unbedingt automatisch unserer Meinung ist. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Wir hätten es noch früher gewollt!) Deswegen möchte ich jemand völlig Unverdächtiges zitieren, nämlich den Bundesverband der Deutschen Industrie. Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ich vorlesen, was er in seiner Stellungnahme zu diesem Gesetz gesagt hat: Nach Ansicht des BDI sind die Gesetzgebungsentwürfe gut geeignet, die Verfahren deutlich zu verkürzen. ({5}) Und weiter: Bundestag und Bundesrat sollten die Entwürfe möglichst zügig und unverändert beschließen … Genau dazu lade ich dieses Haus ein. ({6}) Weil ich FDPler bin und weil ich optimistisch bin, weiß ich, dass aus jeder Krise auch noch etwas Gutes zu holen ist. Meine Damen und Herren, es ist fantastisch, wie wir Deutschland beschleunigen können. Eines der Ziele, die sich diese Ampelkoalition gegeben hat, ist, die Dauer von Planungsverfahren zu halbieren. Ich sage nicht, dass jede einzelne Maßnahme geeignet ist, um sie auf Dauer fortzuführen; aber wir werden jede Beschleunigung deutlich prüfen. Denn wir müssen nicht nur in Krisenzeiten schnell und flexibel sein, wir müssen Deutschland auch danach fit für die Zukunft machen. Das macht die Ampel heute, und das wird sie auch morgen weitermachen. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Ralph Lenkert. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Aktuell Kohlekraftwerke in Betrieb nehmen und Ölkessel wieder aktivieren ist weder für das Klima noch für die Gesundheit sinnvoll, aber derzeit leider notwendig. Es ist bedauerlich, dass die Union durch das zu langsame Umstellen auf fossilfreie Energieversorgung und die Fixierung auf Russlands Gas Deutschland in diese schwierige Lage brachte. ({0}) Hier besteht jetzt Konsens, dass für eine kurze Übergangszeit Kohle- und Ölkraftwerke mehr Feinstaub, mehr Stickoxide, mehr CO2 ausstoßen dürfen. Aber es ist unerträglich, dass einige Unternehmen und Lobbyisten diese Situation jetzt ausnutzen wollen, um notwendige Gesundheitsstandards abzusenken. Als Techniker frage ich mich: Worin besteht die Notwendigkeit, dass bei Abluftreinigungen, die schädliche Stoffe mittels Wasser entfernen, mit diesem Gesetz die Grenzwerte aufgeweicht werden, wenn man eigentlich Gas sparen will? ({1}) Man könnte annehmen, dass die Bundesregierung aus den Fehlern des kurzfristigen Denkens, die wir jetzt alle teuer mit explodierenden Kosten, Zukunftsangst und Stress bezahlen, lernen würde und endlich anfängt, langfristig gute Entscheidungen zu treffen. Eine Fehlannahme. Um kurzfristig ein wenig Gas zu sparen, verzichten Sie auf die Verbrennung von krebserregenden Stoffen aus Industrieprozessen und nehmen langfristige Gesundheitsbelastungen, die menschliches Leid verursachen und Millionen Euro kosten werden, in Kauf. Grenzwerte wurden eingeführt, um Gefahren zu minimieren, die Gesundheit, die Natur und das Klima zu schützen. Daher dürfen sie nicht einfach gekippt werden. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Entwurf werden Lockerungen, erst drei bis sechs Monate nachdem sie überflüssig geworden sind, wieder zurückgenommen. Das darf doch nicht wahr sein! Windräder dürfen nachts im Winter 4 Dezibel lauter sein. Das ist viel, aber bei Strommangel notwendig. Aber bei sehr viel Wind werden im kommenden Winter auch wieder einige Windparks wegen Stromüberschuss im Netz abgeschaltet werden müssen. Da könnte man doch wenigstens zu diesen Zeiten die Lärmgrenzwerte einhalten. ({3}) Daher fordert Die Linke: Erstens. Grenzwerte dürfen nicht pauschal gelockert werden. Zweitens. Der Zeitraum der Lockerungen muss so kurz wie möglich sein. Drittens. Wir fordern Sanktionen für Unternehmen, die die Lockerungen von Grenzwerten zur Profitmaximierung ausnutzen. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, bei politischen Entscheidungen ist wichtig, dass sie angemessen sind und die Lasten gerecht verteilt werden. Bei diesem Gesetzentwurf ist dies leider nicht der Fall. Lassen Sie mich am Ende noch einen Dank an die Koalition zu einem ganz anderen Thema aussprechen. Herzlichen Dank dafür, dass Sie unseren Hinweis übernommen haben, dass die Mehrwertsteuersenkung auf Gas auch für die Kunden von Fernwärme umgesetzt werden muss. Ansonsten: Bessern Sie nach! Vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Tessa Ganserer. ({0})

Tessa Ganserer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005060, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle zunächst einmal festhalten, dass die im Bundes-Immissionsschutzgesetz vorgesehenen Schutzziele für mich und meine Fraktion einen sehr hohen Stellenwert haben. Um schädliche Auswirkungen auf Mensch, Umwelt und Natur zu minimieren, müssen aus unserer Überzeugung diese Ziele sogar noch, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, zugespitzt werden. Deswegen werden wir in dieser Legislaturperiode noch Maßnahmen ergreifen, um die Luftbelastung zu reduzieren, und die Europäische Kommission bei ihrem Ziel, die EU-Luftqualitätsrichtlinie zu novellieren, unterstützen. ({0}) Aber dieser fürchterliche völkerrechtswidrige Angriffskrieg, den Putin gegen die Ukraine führt und zu verantworten hat, den Putin mit fossilen Energieträgern, mit Getreide, mit Hunger auf dieser Welt und sogar mit Desinformationen führt, bringt uns in eine extreme Ausnahmesituation. Wir werden an dieser Stelle nicht zulassen, dass Putin unsere Gesellschaft spaltet. Selbst wenn hier im Parlament am rechten Rand eine Fraktion sitzt, die sich sogar noch als willfähriger Handlanger von Putin andienen will: Wir werden nicht zulassen, dass Putin unsere Gesellschaft spaltet! ({1}) Wir ergreifen deswegen mit diesem Gesetzentwurf Ausnahmeregelungen, um die Industrie in die Lage zu versetzen, dass sie kurzfristig noch in diesem Winter einen Brennstoffwechsel vornehmen kann, um Gas in dieser absoluten Gasmangelsituation einzusparen. Für uns Grüne ist es wichtig, dass diese Regelungen zeitlich befristet sind und auch nur im Falle einer ernsten oder erheblichen Gasmangellage greifen. Deswegen bitte ich um Unterstützung zu unserem Gesetzentwurf. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Björn Simon.

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Christian Hirte hat es schon vorweggenommen: Wir werden dem Gesetzentwurf der Koalition zustimmen, wenngleich wir etwas enttäuscht darüber sind, dass Sie im Ausschuss unseren Änderungsantrag, der sehr sinnhaft ist, in dieser Angelegenheit leider abgelehnt haben. ({0}) Damit war aber leider zu rechnen; wahrscheinlich weil er aus der Unionsfraktion kommt. ({1}) Schade, dass Sie in dieser wichtigen Angelegenheit mitten in einer der schwersten Krisen, die unser Land in den letzten Jahrzehnten erlebt, nicht über Ihren Schatten springen können. Wir hätten uns sehr gefreut. ({2}) Wir können Ihren Gesetzentwurf auch gar nicht ablehnen, vor allem nicht zu diesem Zeitpunkt. Putin hat europäische Staaten zu unfreundlichen Staaten erklärt. Das ist ein Krieg am Gashahn; das muss man klar feststellen. Im Kern ist Ihr Gesetzentwurf richtig und gut. Nur – das ist mittlerweile symptomatisch für die Ampelkoalition, aber auch die Regierung – sind Sie mal wieder viel zu spät dran. Seit Monaten ist das Problem bekannt, das wir hier beschreiben. Die Unternehmen haben die Bundesregierung bereits im April auf die hierfür notwendigen Verfahrenserleichterungen hingewiesen. Jetzt am Wochenende, übermorgen, beginnt der Oktober. Das sind einige Monate, die seitdem ins Land gegangen sind. ({3}) Vor allem mittelständische Unternehmen bereiten sich längst mit Hochdruck auf den Ersatz oder die Einsparung von Erdgas in ihren Feuerungs- und Produktionsanlagen vor und benötigen dringend die Unterstützung der Bundesregierung. ({4}) Viele Unternehmen zweifeln mittlerweile leider an der Bundesregierung, aber auch an der Ampelkoalition. Wer einmal in seinen Wahlkreis reinhört und mit Unternehmerinnen und Unternehmern spricht, stellt fest: Die sind wirklich etwas vor den Kopf gestoßen. ({5}) Ich habe gestern mit dem Präsidenten der Arbeitgeberverbände des Hessischen Handwerks, Wolfgang Kramwinkel, telefoniert, der mir klar seine Sorgen an dieser Stelle geschildert hat. Viele Unternehmen bezweifeln mittlerweile, dass eine Energieträgerumstellung so schnell umgesetzt werden kann, ({6}) dass sie in dem jetzt nahenden Winter überhaupt noch für Entlastung sorgt. Neben Lieferschwierigkeiten im Anlagenbau treffen sie nämlich vor allem auf genehmigungsrechtliche Schwierigkeiten, die eine zügige Umstellung noch vor dem Winter unmöglich machen werden. Die Erleichterungen, die wir heute beschließen, sind, wie gesagt, leider längst überfällig und hätten bereits spätestens vor der Sommerpause beschlossen werden müssen. ({7}) So hätten die Unternehmen auch ausreichend Zeit gehabt, um noch vor dem Winter ihre Prozesse umstellen zu können. Das wurde auch in der öffentlichen Anhörung am Montag so bestätigt. Genau vor diesem Hintergrund können wir eben nicht nachvollziehen, warum Sie unseren wichtigen Änderungsantrag ablehnen. ({8}) Es ist doch mehr als nachvollziehbar, dass Unternehmen in der aktuellen Lage entweder neue Flüssiggastanks anschaffen oder ihre bestehenden Flüssiggastanks ausbauen. Nach der aktuellen Rechtslage können kleine und mittelständische Betriebe Flüssiggastanks aber nur bis zu einem Fassungsvermögen von 3 Tonnen genehmigungsfrei errichten. Das reicht für die meisten Betriebe nicht aus. Warum gehen wir nicht den Schritt weiter zu einem Schwellenwert von 12 Tonnen? Dann können nämlich mehrere Tanks zusammengefasst werden. Das wäre eine sinnvolle Lösung. ({9}) Damit hätten nämlich gerade die mittelständischen Unternehmen, auch das Handwerk, eine große Chance, zumindest in einer Übergangszeit möglichst schnell Erdgas durch Flüssiggas zu ersetzen. Nachvollziehbare Argumente gegen eine solche Anhebung sind uns von Ihrer Seite bislang nicht zu Ohren gekommen. ({10}) Eine weitere Kritik, die ich an der Vorgehensweise der Bundesregierung üben muss, ist, dass Sie leider auch in dieser sehr wichtigen Zeit, die wir gerade durchleben, ständig suggerieren, dass die Bezahlbarkeit von Gas keinen Berechtigungsgrund darstellt. Die Unternehmen geben einen steigenden Gaspreis natürlich an die Endkunden weiter. Und wenn der Endkunde diesen gestiegenen Preis des Produkts nicht mehr bezahlen möchte, fehlt der Absatz. Das Unternehmen verkauft nicht mehr, macht keinen Umsatz und damit auch keinen Gewinn. Wie es dann im schlimmsten Falle weitergeht, das haben wir, glaube ich, hier oft genug durchgearbeitet; das brauche ich Ihnen nicht mehr zu erklären. Planungssicherheit für unsere Industrie sieht jedenfalls anders aus, Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Ich möchte noch ganz kurz auf die Verordnung zur Änderung der Verordnung über die biologische Abfallbehandlung eingehen; das wurde schon angesprochen. Wir unterstützen an dieser Stelle, dass Sie die Verordnung für den Fall einer Gasmangellage anpassen. Das heißt nämlich, dafür zu sorgen, dass die Anlagen nicht einfach ausfallen und die Entsorgung von Abfällen sichergestellt ist. Das ist sehr gut; das unterstützen wir. Dabei müssen wir trotzdem sehen, dass wir, wenn wir von einer Verknappung von Gas und Strom reden, immer auch das Angebot ausdehnen müssen. Das machen Sie zu langsam. Wir müssen alle AKWs, die wir zur Verfügung haben, ans Netz bringen. ({12}) Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, die Energie bringen. Da sind Sie leider immer noch zu langsam. Sie, die Bundesregierung, aber auch die Ampelkoalition, tragen in dieser Situation Verantwortung. Übernehmen Sie die!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Falko Mohrs jetzt das Wort. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An alle vielleicht ganz rechts, die die Zusammenhänge nicht verstanden haben: Wir führen die Diskussion über diesen Gesetzentwurf vor dem Hintergrund eines Angriffskrieges, vor dem Hintergrund, dass Putin, dass Russland versucht, das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts zu stellen und Energie, Gas als Waffe einzusetzen. Und Sie betätigen sich hier als Stichwortgeber eines radikalen Landes, um hier im Inland die Spaltung, die Verunsicherung voranzutreiben. ({0}) Das ist das Licht, das Sie auf diese Debatte werfen. ({1}) Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir lassen nicht zu, dass Sie als Stichwortgeber im Zusammenhang mit Russland, mit Putin dieses Land hier verunsichern, meine Damen und Herren. ({2}) Bevor Sie hier dazwischenschreien: Sie haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, Mikrofone anzulassen, beispielsweise in TikTok-Videos, in denen genau Sie davon reden, dass es super wäre, wenn es Deutschland im Winter richtig schlecht ginge. Das war Ihre Priorität. Sie haben gesagt, in der Folge würde es der AfD gut gehen. Wir sagen: Unser Ziel ist: Deutschland muss es gut gehen. Deutschland muss gut durch den Winter kommen. Da gehört alles dazu, was wir hier politisch tun können. ({3}) Das, was wir mit diesem Gesetzentwurf machen, ist, dass wir auf beides achten. Wir haben den Auftrag, Versorgungssicherheit herzustellen, beispielsweise die Sicherheit der Versorgung mit Gas. Das ist eine der Topprioritäten dieser Bundesregierung und dieser Ampelkoalition. Seit Anfang des Jahres, noch bevor der Krieg begonnen hat, war die Frage: Wie kann es eigentlich sein, dass die Speicher so leer sind, was Peter Altmaier zu verantworten hatte? Wie kann das eigentlich sein? Deswegen ist es eine der Kernaufgaben, die Versorgungssicherheit herzustellen. Eine zweite Aufgabe ist es, aber auch dafür zu sorgen, dass es bezahlbar ist, meine Damen und Herren. Das ist genau der Zweiklang, mit dem wir hier das Problem lösen müssen. Weil aber auch einige Unternehmen die Chance haben, mit einem sogenannten Fuel Switch, also dem Brennstoffwechsel, sowohl einen Beitrag zur Versorgungssicherheit als auch einen Beitrag zur Bezahlbarkeit zu leisten, haben wir mit diesem Gesetzentwurf vor, genau diesen Brennstoffwechsel zu vereinfachen, indem wir hier deutliche Verfahrensvereinfachungen herbeiführen, indem wir Fristen verkürzen, Genehmigungsverfahren einfacher werden und auch Ausnahmegenehmigungen schneller und einfacher erteilt werden können. Wir sagen eben: Wir müssen in dieser Energiekrise pragmatisch damit umgehen. Wir müssen Unternehmen die Chance geben, sowohl auf der Seite der Versorgungssicherheit als auch auf der Seite der Bezahlbarkeit etwas zu machen. Dazu dient genau dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren. ({4}) Das ist eine wichtige, eine notwendige, aber am Ende noch keine ausreichende Unterstützung. Mit dem heute vorgelegten 200-Milliarden-Euro-Paket wird deutlich gemacht, dass wir mit einer Bremse beim Gaspreis, mit einer Bremse beim Strompreis, mit Unternehmenshilfen auch in den Bereichen, wo diese Preisbremsen allein nicht ausreichen, eine Brücke bauen. Daher ist das, was wir hier heute beschließen, ein guter, ein wichtiger Anfang. Wir werden hier in den nächsten Wochen und Monaten noch einiges zu tun haben, um auch in Zukunft in diesem Energiekrieg, diesem Gaskrieg, im Kampf gegen die Waffe, die Putin versucht gegen uns einzusetzen, und gegen die Stichwortgeber im eigenen Land dieses Land zusammenzuhalten. Ich fordere uns alle auf, mit dieser Verantwortung sehr klar, sehr bewusst, aber eben auch verantwortungsvoll umzugehen. Das beginnt mit der Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Bernd Schattner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005203, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung lässt die Bürger und Unternehmen in diesem Land um ihren über Jahrzehnte erarbeiteten Wohlstand und ihre wirtschaftliche Existenz fürchten. Circa 100 Milliarden Euro an Entlastungen sind durch die Entlastungspakete I bis III an die Bevölkerung geflossen. Weitere bis zu 200 Milliarden Euro will die Bundesregierung für die sogenannte Gaspreisbremse bereitstellen, wobei hier schon der erste Fehler liegt: Diese Pakete sind eben keine Entlastungspakete, sondern in erster Linie die teilweise Rückgabe zu viel gezahlter Steuern oder, anders ausgedrückt, die Übergewinnsteuer des Staates aus der Energiekrise. Denn die Bürger zahlen durch die massiv gestiegenen Preise eben auch wesentlich mehr Steuern. Als AfD haben wir bereits vor Monaten spürbare Entlastungen gefordert. Leider sind Sie unseren Anträgen damals nicht gefolgt, haben nach Ihren links-grünen ideologischen Doktrinen gehandelt und damit im Ergebnis wieder einmal vollkommen versagt. ({0}) Der Preis Ihres Versagens lautet in Zahlen gefasst wie folgt: bis zu 300 Milliarden Euro Schulden allein für Ihre verfehlte Energiepolitik, eine Inflationsrate von über 10 Prozent und die schlimmste Wirtschaftskrise seit über 70 Jahren. Herr Habeck, während die CDU unter Angela Merkel unser Land an den Abgrund geführt hat, haben Sie und die Vertreter der selbsternannten Fortschrittskoalition unsere Nation in diesen geführt. Meine Damen und Herren, Sie vollführen schlimmere Taschenspielertricks als die CDU in den letzten 16 Jahren. ({1}) Erneut werden die Steuerzahler über den Tisch gezogen mit den höchsten Steuern, den höchsten Abgaben und damit auch der höchsten Belastung der Bürgerinnen und Bürger EU-weit. Das kommt doch nicht von ungefähr. Wenn ich bösartig wäre, dann würde ich nicht nur sagen, dass Sie Ihren Amtseid, zum Wohl des deutschen Volkes zu handeln, vergessen haben, sondern dann würde ich Ihnen auch unterstellen, dass es Ihr Ziel ist, den deutschen Bürger nicht nur arm zu machen, sondern auch arm zu halten. ({2}) Mit den Unternehmern in unserem Land gehen Sie nicht besser um. Die verheerenden Folgen dieser Politik sehen Sie zum Beispiel bei den SKW-Piesteritz-Werken in Lutherstadt Wittenberg. Die SKW produziert aus Gas Mineraldünger und daraus wiederum AdBlue. Dabei hat die SKW einen Marktanteil an der AdBlue-Produktion in Deutschland von circa 40 Prozent. Allein durch diese Zahlen sollten Sie erkennen, welche Bedeutung diese eine Firma für den Betrieb unserer Lkws und Traktoren und damit auch unmittelbar für die Versorgung unserer Bürger hat. Mit anderen Worten: Wenn die SKW-Werke nicht produzieren können, stehen 40 Prozent der Logistik in Deutschland auf der Kippe. Bereits jetzt spüren die Logistiker, aber auch die Fahrer von modernen Dieselfahrzeugen die Auswirkungen jeden Tag an der Zapfsäule. Lag der Preis von AdBlue vor knapp zwei Jahren bei rund 49 Cent pro Liter, so sind es schon jetzt 1,93 Euro. Grund hierfür ist vor allem die eingestellte Produktion in Piesteritz aufgrund der massiv gestiegenen Gaskosten. Wer von Ihnen denkt in diesem Zusammenhang übrigens an die 850 Arbeitsplätze in einer ohnehin strukturschwachen Region in Sachsen-Anhalt? ({3}) Wie geht das Wirtschaftsministerium mit einem solch systemrelevanten Unternehmen um? Aus dem Kreis der Geschäftsführung ist zu hören, dass das BMWK nach zwei Wochen Gesprächen erst einmal verstanden hat, um was es überhaupt geht. Die aus unserer Sicht naheliegendste Lösung zur nachhaltigen Senkung des Gaspreises wäre die sofortige Beendigung der bestehenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland, um eine Stabilisierung der Produktion wieder zu ermöglichen. ({4}) Leider kommt diese Option bei Ihnen, liebe Regierung, nicht vor. Eher sind Sie bereit, ein vorher kerngesundes Unternehmen auf dem Altar der grünen Ideologie zu opfern, anstatt fachlich gut begründete Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie haben sich nun entschieden, eine Gaspreisbremse zu installieren. Dies ist sicherlich eine gangbare Lösung; aber es ist wiederum die teuerste, was mich bei den Grünen aber in keinster Weise verwundert. Beim Stickstoffdünger sieht es nicht besser aus. Die Bundesregierung hat auf eine Anfrage vor Kurzem geantwortet, dass die fehlende Düngerproduktion im Inland mit der Mehrproduktion im Ausland ausgeglichen werden kann. In der Praxis sieht das dann folgendermaßen aus: Über chinesische Zwischenhändler können Sie via Handelsplattform Alibaba russischen mineralischen Harnstoffdünger nach Deutschland liefern lassen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Lösung der Probleme war neben der Aufhebung der Sanktionen die Forderung nach Instandsetzung von Nord Stream 1 und die Öffnung von Nord Stream 2. Ich persönlich bin sehr gespannt darauf, wen man schlussendlich als angeblichen Schuldigen für diese Taten benennen wird. Mit der jetzt beschlossenen Gaspreisbremse von bis zu 200 Milliarden Euro geben Sie zwar den Bürgern die Möglichkeit, billiger an Gas zu kommen; gleichzeitig verschleiern Sie damit aber die massiven Kosten für den Import von teurem LNG-Gas aus den USA. Aus diesem Grund treten wir als AfD-Fraktion, aber auch ich persönlich für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und die sofortige Aufnahme von Friedensbemühungen ein. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Falko Mohrs hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ich würde fast sagen: Die Wiederholung ist die Mutter der Pädagogik. Ich wiederhole jetzt einige Dinge aus meiner Rede eben für Sie, ({0}) weil Sie in den letzten Minuten, aber auch Wochen offensichtlich irgendwie sehr tief geschlafen haben. ({1}) Um es auch für Sie noch mal sehr deutlich zu machen: Es geht nicht darum, dass irgendwer hier Amtseide bricht oder das Wohl des deutschen Volkes ignorieren würde. Es geht darum, dass wir an der Seite von Demokratinnen und Demokraten stehen, ({2}) dass wir an der Seite eines Landes stehen, das überfallen wurde, weil Russland, weil Putin wieder Grenzen in Europa verschiebt. Wir sagen in aller Deutlichkeit: Das ist für uns nicht akzeptabel. – Das ist der Grund, warum wir diese Debatte führen, und nicht, weil irgendwelche Hirngespinste, die Sie sich überlegen, Realität sind. Es geht darum: Es gibt Sanktionen, und wir mussten uns in aller Deutlichkeit von russischen Energieimporten unabhängig machen. ({3}) Wir haben nie verschleiert, auch wenn Sie das hier behaupten, dass in der Folge natürlich entsprechende Preise zu zahlen sind. ({4}) Genau deswegen nehmen wir unsere Verantwortung sehr ernst und sagen: Es gibt eine Bremse für den Preis auf Strom, und es gibt eine Bremse für den Preis auf Gas. Uns ist doch klar, dass wir nicht versuchen dürfen, diese Situation im Reparaturbetrieb zu bewältigen. Vielmehr müssen wir an die Wurzel der Herausforderung für viele Millionen Haushalte und Unternehmen in diesem Land ran. Es geht um die Bezahlbarkeit von Energie. Deswegen ist das, was heute vorgelegt wurde, 200 Milliarden Euro über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds bereitzustellen, ({5}) ein wichtiger Baustein, damit wir gut durch diese Krise kommen. Das ist der Doppel-Wumms, der heute angesprochen wurde, ({6}) weil wir es so schaffen, sowohl den Unternehmen als auch den Haushalten Planungssicherheit zu geben. Das ist die Grundlage dafür, dass wir gut durch diesen Winter kommen. ({7}) Es wird aber so sein, dass wir trotz dieser Preisbremse nicht alle Herausforderungen werden bewältigen und nicht alle Preissteigerungen werden auffangen können. Deswegen wird es für Unternehmen auch Wirtschaftshilfen geben; so sollen die Kostensteigerungen, die in direktem Zusammenhang mit den Folgen des Krieges und den Sanktionen stehen, gedämpft werden. Das werden wir so gestalten, dass es keine Mitnahmeeffekte gibt und zielgenau die Unternehmen unterstützt werden, die Arbeitsplätze gesichert werden, die in Gefahr sind. Wenn Sie hier SKW Piesteritz ansprechen, dann muss man sagen: Sie haben Ihre Hausaufgaben ganz offensichtlich nicht gemacht. Denn die Bundesregierung hat hier beispielsweise über ihren Beauftragten für Ostdeutschland, Carsten Schneider, und über das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz von Anfang an Gespräche mit der Geschäftsführung aufgenommen, ({8}) um passgenau zu schauen, wie wichtige Lieferketten aufrechterhalten werden können. Deswegen: Wenn Sie es wüssten, hätten Sie das sagen können; wenn Sie es nicht wissen, lernen Sie vielleicht hinzu. ({9}) Es steht ja auch die Wiederaufnahme der Produktion in Piesteritz an; denn allen Beteiligten ist klar: Über zielgenaue Hilfen sichern wir die Lieferketten in Piesteritz; wir sichern 850 Arbeitsplätze. Das genau ist die Priorität, die wir hier verfolgen. ({10}) Meine Damen und Herren, ich sage es in aller Deutlichkeit: Wir lassen nicht zu, dass Putin mit Energie und Preisen als Waffe eine Verunsicherung, Spaltung und Destabilisierung unseres Landes, unserer Gesellschaft herbeiführt und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Wir lassen es nicht zu, dass sich manche im Inland zu Stichwortgebern machen lassen. Wir als Regierung sind entschlossen und standhaft. Wir werden unser Land, die Unternehmen und die Menschen hier schützen. Das ist unser Auftrag, und dafür nehmen wir genau die richtigen Instrumente in die Hand. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hansjörg Durz ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den vergangenen Tagen hat die Wirklichkeit erneut eine der Kernforderungen Ihres Antrags überrollt. Sie fordern Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch Russland. Mit dem mutmaßlichen Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines löst sich nicht nur jede Menge Erdgas in der Ostsee und in der Atmosphäre auf; auch Ihre Forderungen lösen sich in Luft auf. ({0}) Doch auch ohne die Vorkommnisse der letzten Tage zeigt dieser Antrag deutlich, wie weit Sie sich von der rationalen Beurteilung der Realität entfernt haben. Auch Sie müssen doch langsam wahrnehmen, dass Putin kein Interesse an Verhandlungen hat. Wenn er daran Interesse hätte: Warum steht dann eine Gasturbine hier in Deutschland, die offensichtlich doch so wichtig für Gaslieferungen ist? Warum liefert er nicht über andere Pipelines, was er ja tun könnte? ({1}) Und warum droht er sogar mit dem Stopp des Gastransits durch die Ukraine? Die Antwort darauf ist eindeutig: Russland führt einen Energiekrieg, auch gegen uns. Nehmen Sie diese Realität endlich wahr! ({2}) Ein autoritäres Regime mit Großmachtfantasien halten Sie ganz sicher nicht auf, indem Sie klein beigeben. Im Gegenteil: Mit Forderungen, wie in Ihrem Antrag, stricken Sie mit an der Propaganda des russischen Regimes. ({3}) Russlands Trolle gibt es nicht nur im Netz, sondern leider auch in diesem Parlament. Wir stimmen gegen Ihren Antrag. ({4}) Was wir dieser Tage in unserem Land erleben, ist ein Angebotsschock im Energiebereich, wie wir ihn seit 1945 nicht erlebt haben. Aktuell ist Deutschland leider nicht mit einer Bundesregierung gesegnet, die wirklich alles in ihrer Macht Stehende tut, um diese Krise zu überstehen. Stattdessen: ideologische Scheuklappen bei der Atomkraft, ein ewiges Hin und Her bei der Rettung von Energieversorgern und drei Entlastungspakete, bei denen die Unternehmen nicht einmal erwähnt werden. ({5}) Wir erleben eine Regierung, die zu großer Verunsicherung beiträgt. Bestes Beispiel bis zum heutigen Tage war die Gasumlage, die erst zwei Tage vor Inkrafttreten nun final abgeschafft werden soll. ({6}) Ich hätte mir gewünscht, wir hätten uns gewünscht, dass Sie den Menschen schon viel früher Klarheit verschaffen. ({7}) Als Leitsatz in dieser Krise hat sich der Bundeskanzler einer Fußballhymne bedient: „You’ll Never Walk Alone“. ({8}) Ursprünglich stammt das Lied aus einem Theaterstück; es sollte den Protagonisten positiv in die Zukunft blicken lassen. ({9}) Deshalb singen es die Fans in Liverpool übrigens vor Beginn des Spiels ({10}) und nicht erst, wenn die Mannschaft bereits 0 : 3 zu drei hinten liegt. Mir scheint, die Bundesregierung hat den Ernst der Lage lange Zeit überhaupt nicht erkannt. Das Spiel hat nicht nur schon längst begonnen, sondern der Wirtschaftsstandort Deutschland ist auch deutlich in der Defensive. ({11}) Für Beschäftigte wie Unternehmenslenker klang der Spruch deshalb bisher wie Hohn; denn die Lage spitzt sich von Tag zu Tag mehr zu, und bis zum heutigen Tag hat die Bundesregierung sie ziemlich alleingelassen. Seit heute wissen die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, dass die Ampel bereit ist, 200 Milliarden Euro zu stemmen und einen Schutzschirm gegen diese Krise aufzuspannen. Es wurde auch höchste Zeit, dass diese Regierung sich endlich einigt, und dabei möchte sie offensichtlich viel von dem aufnehmen – das war der Pressekonferenz heute so zu entnehmen –, was wir als Opposition seit Monaten fordern. ({12}) Doch leider ist nach wie vor völlig unklar, wer ab wann in welcher Höhe wie lange unterstützt wird. Der Bäckermeister weiß noch nicht, ob er kleinere Brötchen backen oder den Ofen eventuell ganz ausmachen muss. Deshalb appelliere ich an Sie: Schaffen Sie so schnell wie möglich Klarheit, nicht nur für den Einzelnen, sondern insbesondere auch für die Unternehmen in diesem Land! Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie die Krise an der Substanz unserer Volkswirtschaft zehrt, zum Beispiel bei mir im Wahlkreis, in Meitingen. Meitingen hat ein „Herz aus Stahl“, wie jüngst verlautete, und zwar auf einem Protestplakat. Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der dort ansässigen Lech-Stahlwerke, die etwa so viel Strom im Jahr verbrauchen wie eine Stadt mit 300 000 Einwohnern, haben vor wenigen Tagen demonstriert. Sie fürchten um ihren Arbeitsplatz, sie fürchten um ihre Familien, sie fürchten um ihre soziale Existenz. Sie rufen nach Unterstützung für die Wirtschaft, und es wird Zeit, dass diese Bundesregierung sie endlich hört. ({13}) Während wir Abgeordnete lange im Voraus wissen, wann wir nach Berlin zur Arbeit kommen müssen, wissen das die Beschäftigten der Lech-Stahlwerke derzeit nicht. Der Betrieb muss je nach Strompreis entscheiden, ob produziert wird oder nicht. Die Mitarbeiter, die äußerst solidarisch sind, erfahren nur wenige Tage im Voraus, ob sie zur Arbeit kommen müssen oder nicht, und das ist meist am Wochenende der Fall. Warum können die Lech-Stahlwerke überhaupt noch Löhne zahlen? Sie können die Löhne zahlen, weil ihr Lager vor Monaten noch gut gefüllt war. Im Moment wird der Lagerbestand abgebaut, damit das Unternehmen überhaupt Einnahmen hat. Doch kaum neue Ware wird produziert. So kann kein Unternehmen auf Dauer überleben. Wenn sich nicht bald etwas verändert, hört das Herz aus Stahl in Meitingen auf, zu schlagen. Stellen Sie sich das Weihnachtsfest für die über Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Familien vor! Ich erzähle diese Geschichte, damit jeder weiß, wie dringend die Unternehmen in diesem Land Entscheidungen und Klarheit benötigen. ({14}) Es ist die Bundesregierung, die schnell entscheiden muss, wie die angekündigten Preisbremsen aussehen sollen, und damit auch entscheiden muss, ob die derzeitige Energiekrise zur Zeitenwende für die deutsche Industrie wird, möglicherweise hin zu einem deindustrialisierten Deutschland – wo wird dann produziert, wie sehen dann die Wertschöpfungsketten bei uns aus, ({15}) und nach welchen Standards wird produziert? –, oder ob sie die angekündigten Instrumente so ausgestaltet, dass Deutschland die Probleme bei der Wurzel packt und damit einer Wirtschaft den Weg ebnet, die nicht nur einen Beitrag zum Wohlstand dieses Landes, sondern übrigens auch zum Klimaschutz leisten kann, weil sie innovativer, weil sie erfindungsreicher ist als in anderen Teilen der Welt. Heute Morgen haben wir hier im Deutschen Bundestag über Nachhaltigkeit debattiert. Die Lech-Stahlwerke produzieren ihren Stahl aus Schrott und sind damit das größte Recyclingunternehmen in Bayern. Für den Kampf gegen die Klimakrise brauchen wir innovative Unternehmen. ({16}) In Meitingen kommt es derweil zu Koalitionen, auf die vor wenigen Wochen noch kaum jemand gekommen wäre. Seite an Seite demonstrieren Betriebsrat und die Unternehmensleitung, die IG Metall und der Bürgermeister. Sie wissen, dass die Bundesregierung nicht zaubern kann, aber sie haben zwei ganz klare Forderungen: Erstens. Diese Bundesregierung muss wirklich alles tun, was möglich ist, um diese Krise zu überwinden, und das heißt in einer Knappheitssituation, zuallererst das Angebot auszuweiten. ({17}) Niemand versteht, warum noch immer so viel Gas verstromt wird. Niemand versteht, warum in Krisenzeiten Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Niemand versteht, warum die Bundesregierung sieben Monate gebraucht hat, um den Deckel für Biogas aufzuheben. Niemand versteht, warum von den verfügbaren Kohlekraftwerken erst zwei wieder am Netz sind. Und niemand versteht, warum die Bundesregierung europäische Solidarität einfordert, aber selbst nicht alles unternimmt, um alle Kapazitäten ans Netz zu bekommen. ({18}) „Jede Kilowattstunde zählt“, diese Parole von Minister Habeck muss endlich zur Maxime der Politik dieser Regierung werden. Wichtig wäre ein Wumms beim Anschalten von Kraftwerken. ({19}) Die Demonstranten in Meitingen haben noch einen zweiten Wunsch an die Bundesregierung. Sie wollen, dass eingehalten wird, was versprochen wurde. So hat Olaf Scholz einen Industriestrompreis angekündigt. ({20}) Bis zum heutigen Tage wurden jedoch drei Entlastungspakete geschnürt, ohne auch nur ein Mal die Unternehmen zu entlasten. ({21}) Schaffen Sie endlich Klarheit, und zwar schnell, für die Unternehmen und deren Mitarbeiter, und damit ein Fundament dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bewahrt wird und in Meitingen auch in Zukunft das Herz aus Stahl schlägt! Vielen Dank. ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Dieter Janecek das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Schattner, Sie haben sich ja entschieden, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen, und Sie haben sich weiter entschieden – das hat Herr Chrupalla gestern auch schon bewiesen –, das Sprachrohr der russischen Propaganda hier im Deutschen Bundestag zu sein. Das nehmen wir zur Kenntnis. Wir werden Sie aber immer wieder darauf hinweisen, warum wir in dieser Krise sind. Grund ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine, und der ist auch von Ihren Schergen befürwortet worden. ({0}) Landtagsabgeordnete der AfD reisen in Gebiete, die jetzt annektiert werden. Das ist wahrlich eine Schande. Wir werden Sie daran erinnern, dass wir in dieser Krise entschlossen handeln. ({1}) Die Bundesregierung hat heute ein kraftvolles Paket mit 200 Milliarden Euro an Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger und für die Unternehmen auf den Weg gebracht. ({2}) Das ist ein Signal, dass wir in der Krise handlungsfähig sind, dass wir helfen. Wir sagen: Wir verstehen, dass es eine historische Aufgabe ist, ({3}) jetzt einen Abwehrschirm gegen diese russische Aggression aufzubauen, um die Wertschöpfungsketten zu erhalten, um den Mittelstand zu sichern, aber auch, um die vielen Sorgen der Menschen aufzunehmen. Wir führen einen Gaspreisdeckel ein, wir führen einen Strompreisdeckel ein – das ist jetzt notwendig in dieser Krise –, und wir handeln entschlossen. ({4}) Kollege Mohrs hat es gesagt: Allein die Aufnahme von neuen Mitteln für den Wirtschaftsstabilisierungsfonds – nennen wir es ganz deutlich: die Aufnahme von Schulden – ist natürlich noch nicht die Lösung der Krise. ({5}) Die Ausweitung des Angebots, die Auffüllung der Gasspeicher, was wir in Rekordzeit geschafft haben, die Fertigstellung der LNG-Terminals, die neuen Verträge, der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien, Energiespeicher: ({6}) All das bringen wir in so kurzer Zeit auf den Weg, wie uns das keiner zugetraut hätte. Wir können wirklich stolz sein auf die Leistungen der letzten Wochen und Monate. Ich lasse mir bei allem Respekt vor Ihrer Rede, Herr Durz, nicht vorhalten, dass wir nicht handlungsfähig gewesen wären. Wir haben Tag und Nacht gehandelt in dieser Krise, und wir werden das auch weiter tun, mit Entschlossenheit. ({7}) Nichtsdestotrotz: Auch wenn wir es durch staatliche Maßnahmen, aber auch durch Eingriffe in den Markt und durch eine Ausweitung des Angebots jetzt schaffen, die Preise zu senken, die Inflation – auch im kommenden Jahr – hoffentlich kraftvoll zu bekämpfen, ist eines wichtig: Wir werden in diesem Winter nicht umhinkommen, weiter Energie einzusparen. In dem Moment, wo die Preissignale dazu führen, dass der Verbrauch wieder steigt, bekommen wir negative Effekte. Das heißt, Energieeinsparung dort, wo sie möglich ist – in der Industrie, bei den Haushalten –, bleibt das Gebot der Stunde. Wir müssen jetzt also wachsam sein, damit wir nicht erneut Knappheit erzeugen. Wir haben mit dieser Haltung – Einsparung auf der einen Seite, staatlichen Hilfen, Angebotsausweitung auf der anderen Seite – genau den richtigen Kurs gesetzt, und wir brauchen jetzt europäische Solidarität. ({8}) Es geht jetzt darum, dass wir Europa in dieser Krise zusammenhalten. Uns steht ein harter Winter bevor. Wir haben heute das Signal gesetzt, dass wir alles tun werden, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Denn Russland muss diesen Krieg verlieren; das sage ich mit aller Deutlichkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Janine Wissler hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der AfD fallen zum Thema Energiepolitik genau zwei Punkte ein, nämlich Atomkraftwerke und Import fossiler Energie, vorzugsweise aus Russland. Das ein Konzept zu nennen, wäre grotesk. Es ist rückwärtsgewandter Unsinn; mehr muss man dazu gar nicht sagen. ({0}) Meine Damen und Herren, die Gasumlage ist seit heute endgültig vom Tisch. Das war überfällig, und das zeigt: Öffentlicher Druck und Proteste haben Wirkung. ({1}) Um die explodierenden Gaspreise zu begrenzen, brauchen wir schnell einen echten Gaspreisdeckel. Finanziert werden sollte das über eine Übergewinnsteuer, die Sie einführen sollten. ({2}) Spanien, Portugal, Belgien, Großbritannien und andere Länder haben bereits einen Preisdeckel. In Frankreich dürfen die Energiepreise nur um 4 Prozent steigen. Ohne eine solche Deckelung werden Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Viele Unternehmen sind von Insolvenz bedroht. Die Inflation verschärft die soziale Spaltung in diesem Land. Die Einmalzahlungen der bisherigen Entlastungspakete reichen überhaupt nicht aus. ({3}) Wenn ein Vierpersonenhaushalt für Gas mit Mehrkosten von bis zu 5 000 Euro rechnen muss, dann ist eine Einmalzahlung von 300 Euro wirklich nicht mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. ({4}) Niedrige und mittlere Einkommen brauchen ein monatliches Inflationsgeld. ({5}) Ich sage es mal so: Man kann nur hoffen, dass die Gaspreisbremse, die die Ampel jetzt beschließen will, besser bremst, als die Mietpreisbremse die Mieten bremst; da haben wir ja sehr schlechte Erfahrungen gemacht. ({6}) Nötig ist ein bezahlbares Grundkontingent an Strom und Gas. Hoher Verbrauch darf natürlich nicht auf Kosten der Allgemeinheit subventioniert werden. Und wer die Preise deckeln will, das heißt die Differenz aus Steuermitteln ausgleichen will, der kommt um eine Preiskontrolle nicht herum, damit Spekulation die Kosten nicht ins Unermessliche steigert. ({7}) Der Markt regelt das eben nicht, weder die Bezahlbarkeit noch die Versorgungssicherheit. Es ist doch absurd, dass im Norden Windkraftanlagen zwangsweise abgeschaltet werden und wir gleichzeitig über eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken diskutieren. ({8}) Die Energiewende wurde verschleppt und die Abhängigkeit von fossilen Energien gefestigt. Nun reiste der Kanzler in der letzten Woche ja nach Saudi-Arabien. Seit heute wissen wir, mit was die Energielieferungen offenbar erkauft werden. Die Ampel hat Waffenexporte nach Saudi-Arabien genehmigt – Munition für Kampfjets für ein Land, in dem Menschen- und Frauenrechte mit Füßen getreten werden und das einen verbrecherischen Krieg gegen den Jemen führt. Angesichts der Bomben auf den Jemen, angesichts des Mordes an Khashoggi und der willkürlichen Hinrichtungen in Saudi-Arabien ist das, was Sie da machen, verantwortungslos und verwerflich. ({9}) Der Krieg im Jemen ist doch nicht weniger verbrecherisch als der Krieg in der Ukraine. Dahin darf man doch keine Waffen liefern! Aber Wirtschaftsminister Habeck genehmigt das. Außenministerin Baerbock hat heute eine wirklich gute Rede gehalten, ({10}) in der sie viele richtige Sachen zum Iran gesagt hat. Ich frage mich aber: Wie kann man es dann mit sich vereinbaren, dass man Waffen nach Saudi-Arabien liefert? ({11}) Das ist doch keine wertebasierte und feministische Außenpolitik, von der Sie gerne reden. Meine Damen und Herren, das ist eine Schande und eine moralische Bankrotterklärung für die Ampel. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Carl-Julius Cronenberg ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der AfD, in der Einleitung zu Ihrem Antrag suggerieren Sie, dass sich die Bundesregierung freut, wenn die Industrie die Produktion einstellt. Diese Unterstellung weise ich auf das Schärfste zurück. ({0}) Um es deutlich zu sagen: Wer nahelegt, dass in der aktuellen Energiekrise bei irgendwem, sei es in der Regierung, sei es im Parlament, Freude aufkommt, der verfolgt in Wahrheit die politische Absicht, Misstrauen zu säen und das Land zu spalten. ({1}) – Ihre Rede, Herr Schattner, hat das im Übrigen eindrücklich bestätigt. ({2}) Ja, die Lage ist ernst, und deshalb geht es jetzt darum, Vertrauen zu schaffen, anstatt das Land in Panik zu versetzen. ({3}) Es geht um die unmissverständliche Botschaft an den Kriegstreiber Putin: Sein Energiekrieg gegen Deutschland und Europa wird scheitern. ({4}) Putin wird es nicht gelingen, unsere Wirtschaft in die Knie zu zwingen. ({5}) Deswegen handeln wir jetzt. ({6}) Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Grundstoffindustrie, der Chemieindustrie, des industriellen Mittelstands und auch des energieintensiven Handwerks. Dafür haben wir einen 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm aufgespannt. Deshalb führen wir die Gas- und Strompreisbremse ein, um Preisspitzen zu kappen. Wir weiten das Gasangebot aus, erschließen neue Bezugsquellen, fahren die Gasverstromung zurück, ({7}) nutzen alle Energieträger zur Stromerzeugung, bis die Gaspreise wieder Weltmarktniveau erreicht haben, bauen im Rekordtempo LNG-Terminals, ermöglichen Fuel Switch, beschließen ein Belastungsmoratorium, stellen die Liquiditätshilfen, Eigenkapitalhilfen zur Verfügung. Soll ich noch weitermachen? ({8}) Ja, die Lage ist ernst. Aber während Sie den Kollaps der Wirtschaft beschwören, handeln wir. Sie schüren Ängste, die Koalition schafft Lösungen für die Menschen. Das ist der Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Kommen wir zum zweiten Teil des Antrags der AfD. Da fordern Sie die Priorisierung der Energiepolitik gegenüber der Außenpolitik. ({10}) Oha, da wird es mal interessant. ({11}) Erinnern wir uns kurz: War es nicht so, dass die alleinige Priorisierung niedriger Energiekosten jahrelang den Bau von LNG-Terminals an deutschen Küsten verhindert hat? ({12}) War es nicht so, dass diese falsche Priorisierung die vollständige Übernahme von PCK Schwedt durch Gazprom überhaupt erst möglich gemacht hat? ({13}) Und ist es nicht so, dass die Unterzeichnung des Vertrags zu Nord Stream 2 nach Putins rechtswidriger Besetzung der Krim eine rein energiepolitisch motivierte Fehlentscheidung war? ({14}) Wenn Sie heute die Priorisierung der Energiepolitik gegenüber der Außenpolitik fordern, dann fordern Sie die Fortsetzung genau der Politik, die uns in diese dramatische Lage überhaupt erst gebracht hat, die uns den ganzen Mist überhaupt erst eingebrockt hat. ({15}) Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Darüber müssen wir im Ausschuss noch mal ausführlich reden. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Sebastian Roloff ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Sebastian Roloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja bekanntermaßen mit wenig zufrieden. ({0}) Deswegen begeistert mich dieser Antrag, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil mittlerweile sogar die AfD verstanden hat, dass die Inflation mit den Energiepreisen zu tun hat, wir also mit der Diskussion über die geldmengengetriebene Inflation endlich mal aufhören können; zum anderen, weil wir einmal über die Probleme in den Lieferketten in den letzten Monaten und Jahren sprechen können. Beides sind wichtige Themen. Kollegin Detzer und ich sind da regelmäßig dran, und jetzt hat das endlich mal den prominenten Raum, den es auch verdient hat. Es ist ganz offensichtlich, dass sich die hohen Energiepreise auch auf diesen Teilaspekt negativ auswirken. Klar ist, dass die Transportkosten für die Logistikbranche massiv durch die Decke gehen; das macht die Produkte in der Folge teurer. Es ist ganz offensichtlich, dass die Logistikbranche hier Probleme hat. Wir haben spätestens in diesem Jahr, aber eigentlich auch schon davor sehr schmerzhaft gelernt, dass die bisherige Strategie der deutschen Wirtschaft, zu sagen: „Was ich an Rohstoffen brauche, kann ich mir zur Not auf dem Weltmarkt beschaffen; im schlimmsten Fall wird es teurer, aber ich kann mich darauf verlassen, dass die Rohstoffe zu bekommen sind“, nicht länger funktioniert. Lieferketten, die funktionieren, wären essenziell. Das kann in der heutigen Zeit aber keiner mehr versprechen. Deswegen müssen wir nicht nur regionale Lieferketten auf den Prüfstand stellen, sondern auch internationale Lieferketten. Ich bin froh, dass wir über eine neue Rohstoffstrategie sprechen. Die Bundesregierung geht den Weg, hier neue Handelspartner zu suchen, zum Beispiel in Südamerika und in Kanada. Das ist genau der richtige Weg, und den müssen wir weitergehen. ({1}) Ich hätte gerade beinahe „China“ gesagt. Aber: Wir haben in der Frage von Energie aus Russland ja gemerkt, dass es fatal ist, sich da in Abhängigkeit zu begeben, und wir sollten den Fehler, den wir in den letzten Jahren im Hinblick darauf gemacht hatten, mit Blick auf Rohstoffe aus China nicht wiederholen. ({2}) – Weil Sie noch nie Fehler gemacht haben; das ist mir schon klar. ({3}) – Sie haben, das wissen wir, noch nie irgendetwas auf die Reihe bekommen. Jenseits dessen appelliere ich auch noch mal an alle Unternehmen, die auf Lieferketten angewiesen sind, sich zu überlegen, ob „just in time“ – bisher war das der große Königsweg – immer sinnvoll ist. Es könnte sein, dass die Schaffung von Lagerkapazitäten und das Abkürzen von Lieferketten viel größere Beiträge zur Versorgungssicherheit leisten. Ich glaube, da brauchen wir bei den rohstoffintensiven Unternehmen einen Mentalitätswechsel. ({4}) Selbstverständlich ist auch klar, dass wir für jeden Rohstoff, den wir zu Hause abbauen können, keine Lieferkette brauchen, dass er nicht beschafft werden muss. Deswegen müssen wir uns als Koalition auch überlegen, wie wir den heimischen Rohstoffabbau fördern können – aber selbstverständlich immer unter hohen ökologischen Standards. Diese Diskussion müssen wir auch führen. Klar ist auch, dass es gut ist, die Kreislaufwirtschaft zu unterstützen – Brüssel hilft uns da, und wir haben im Koalitionsvertrag gute Sachen dazu vereinbart –, weil jedes Produkt, das recycelt werden kann – und sei es nur teilweise –, nicht neu hergestellt werden muss. ({5}) Dementsprechend glaube ich, dass wir da auf einem guten Weg sind. ({6}) Ich glaube, dass wir die Marktmacht der Europäischen Union als Einkäufer von Rohstoffen nutzen sollten und dass ein IPCEI, das einen Blick auf sichere Versorgung mit Rohstoffen legt, da sinnvoll wäre. Wir sollten die Kombination von heimischen und internationalen Quellen strategisch angehen und noch mehr verbessern als in den letzten Monaten. In diesem Zusammenhang ist auch die Handelspolitik neu zu bewerten. Da gibt es Diskussionen, denen wir uns stellen müssen. Klar ist aber auch, dass wir verlässliche Partnerinnen und Partner brauchen. Ich glaube, das Lieferkettengesetz, das ein großer Erfolg meiner Partei ist, wird dazu einen gewissen Beitrag leisten. ({7}) Schließlich freue ich mich, mit dem größten Teil des Hauses an stabilen und diversifizierten Lieferketten und der Stärkung der heimischen Rohstoffförderung zu arbeiten, weil es weiterhin so ist, dass der Staat in Notfällen eingreifen muss. Die Entscheidungen von heute, über die ich sehr froh bin, haben gezeigt: Wir haben einen handlungsfähigen Staat, der die richtigen Entscheidungen trifft, wenn es nötig ist. Diesen Weg werden wir weitergehen. Die Ampel liefert. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Sandra Detzer hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Sandra Detzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005039, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte am Wochenende die Möglichkeit, mit ungefähr 30 Handwerkerinnen und Handwerkern zu sprechen; es war eines der vielen Gespräche, die wir in den letzten Tagen und Wochen geführt haben. Denen stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Eine Handwerkerin hat wirklich mit Tränen in den Augen gefragt: Kann ich eigentlich meinen Kindern noch empfehlen, meinen Betrieb zu übernehmen? ({0}) Der Nächste hat gefragt: Wie kann ich in ein paar Wochen das 200-jährige Jubiläum meines Betriebs feiern? Ich bin froh, dass ich diesen Handwerkerinnen und Handwerkern jetzt sagen kann: Ja, diese Bundesregierung hat geliefert, ja, wir haben den Rettungsschirm aufgespannt, und Sie werden weiter produzieren, in der Fläche dieses Landes. Das ist eine gute Nachricht. ({1}) Ganz besonders wichtig ist, glaube ich, dass wir neben den vielen Anstrengungen der letzten Wochen, die die Versorgungssicherheit betrafen, nun auch ganz konkret die Preise angehen. Wir werden mit der Gas- und der Strompreisbremse auch dafür Sorge tragen, dass die Preise sich stabilisieren, dass Unternehmen Planungssicherheit haben, dass sie gemeinsam mit uns in dieser schwierigen Zeit in den nächsten Monaten – ich fürchte, auch in den nächsten Jahren – den Weg gehen können und dass wir trotzdem nicht die Wirtschafts- und die Innovationskraft verlieren. Das ist eine gute Nachricht, die von dem heutigen Tag ausgeht. ({2}) Wir müssen uns aber trotzdem mittel- und langfristig noch einmal sehr genau mit dieser Erfahrung beschäftigen; denn eines ist klar: So etwas wie diese Abhängigkeit von russischem Gas, die wir in den letzten Jahrzehnten gehabt haben, darf uns nie wieder passieren. Gerade mit Blick auf kritische Rohstoffe und auf den Ausbau der Erneuerbaren geht es darum, unsere Rohstoffsouveränität in Europa, in Deutschland zu erhöhen. Deswegen werden wir eine nationale Rohstoffstrategie auf den Weg bringen und im Rahmen der nationalen Sicherheitsstrategie noch mal genau überlegen, wie wir diese Flanken schließen können. Denn es ist eine Frage der Wirtschaftssicherheit, darüber zu reden; es ist eine Frage der Souveränität und auch der Wettbewerbsfähigkeit in diesem Land, sich diese Gedanken zu machen. Die Ampel tut dies. Wir sind handlungsfähig, und das ist das gute Signal, das heute aus Berlin in die Welt geht. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Reinhard Houben hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit Blick auf die Debatten in den letzten Wochen hatte man eigentlich den Eindruck: Zu diesem Thema ist schon alles gesagt. Nun kommt auch noch dieses AfD-Papier dazu, wobei Ihr Antrag letztendlich kein ernstzunehmendes Konzept ist, sondern eine Art Lex Piesteritz, wie ich es nennen würde. Ich frage Sie: Haben Sie überhaupt mal mit dem Unternehmen gesprochen? ({0}) Freuen die sich, dass sie ausgerechnet von der AfD in dieser Form in die Öffentlichkeit gezogen werden? Ich kann mir vorstellen, dass die Begeisterung in Piesteritz sich an der Stelle auf sehr geringem Niveau befindet, weil Sie auch heute mal wieder bewiesen haben – es gibt den Begriff „Fünfte Kolonne Moskaus“ –: Sie sind, glaube ich, die sechste Kolonne Moskaus. ({1}) In Ihrem Antrag – um ihn mal inhaltlich zu betrachten – fordern Sie wirklich schon etwas Irres. Sie fordern nämlich die Umkehrung der Gaspriorisierung dahin gehend, dass in einer Gasmangellage zuerst die Industrieunternehmen abgeschaltet werden, dann die privaten Haushalte, dann die Krankenhäuser und zuletzt die Stickstoffwerke Piesteritz. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wollen Sie eine Zwischenfrage von der AfD zulassen? ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Nachdem der Kollege Reichardt heute Mittag die Präsidentin als „Herr Präsident“ angesprochen hat, Frau Präsidentin, möchte ich keine Zwischenfrage der AfD zulassen. ({0}) Bei allem Respekt für diesen regional wichtigen Industriebetrieb: Es gibt immer noch genügend Produktion von AdBlue in Deutschland, unter anderem bei der BASF. Es ist von vielen Kolleginnen und Kollegen der Ampel ausgeführt worden: Die Regierung ist handlungsfähig. Deswegen muss man sich in Piesteritz weder Hilfe der AfD wünschen, noch braucht man sich Sorgen um die Produktion zu machen. Vielen Dank. ({1})

Hakan Demir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Unterschreiben Sie hier!“, sagte der Standesbeamte, und ich habe unterschrieben und damit als Trauzeuge die Ehe meines besten Freundes bezeugt. Also alles super gelaufen. Doch René erzählte mir auch, wie stressig es für ihn war, einen Termin bei seinem Standesamt vor Ort zu machen, um seine Geburtsurkunde abzuholen, die er für die Anmeldung der Eheschließung brauchte. Seine Frau Maike dagegen hat es ein bisschen einfacher gehabt. Ihr Standesamt hat ihr ihre Geburtsurkunde einfach digital zur Verfügung gestellt. Wir haben also eine Uneinheitlichkeit, was die Digitalisierung in diesem Land anbelangt, und das wollen wir ändern. Denn es kann nicht sein, dass die Welt um uns herum immer digitaler wird, aber die Verwaltung nicht. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben Anspruch darauf. ({0}) Wir wollen, dass René und Maike und viele andere einfach von der Couch aus Verwaltungsleistungen der Standesämter digital nutzen können. Das ermöglicht es ihnen, mehr Zeit mit ihrer Familie zu haben, sie haben weniger Kosten und müssen nicht in Amtsstuben warten. Oder noch besser: Die Geburtsurkunde liegt dem Standesamt schon vor; die Standesämter sind digital miteinander verknüpft und tauschen sich miteinander aus. Das wäre auch ein Ziel dieses Gesetzes. Klar ist: Ab dem 1. Januar 2023 müssen nach dem Onlinezugangsgesetz Verwaltungsleistungen ohnehin digital angeboten werden. Das betrifft über 600 Verwaltungsleistungen, und die Standesämter gehören dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Reform wird die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht mehr beurkundet. Ich finde das auch richtig; denn die Religion ist kein Bestandteil des Personenstandes nach § 1 des Personenstandsgesetzes, und Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, das in Personenstandsurkunden die Religion aufführt. Die Sachverständigenanhörung hat zudem eines gezeigt: Wir sollten von den Menschen, die uns ihre Daten anvertrauen, nicht mehr speichern, als notwendig ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, René und Maike konnten zwar von diesem Gesetz nicht profitieren – sie haben quasi ein paar Monate zu früh geheiratet –, aber wir sollten es den Menschen im Land nicht schwer machen, zu heiraten, Urkunden ausstellen zu lassen oder Verwaltungsleistungen zu nutzen, die sie brauchen. Mit diesem Gesetz kommen wir diesem Ziel auf jeden Fall näher. Danke schön. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Philipp Amthor hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gemeinsame vorweg: Ja, es ist gut, dass das Onlinezugangsgesetz jetzt auf die Digitalisierung der Verwaltung Druck macht. Es ist auch gut, dass das Personenstandsregister digitalisiert wird. Das ist ein Mehraufwand für die Behörden, aber ich bin sicher, es bringt einen Mehrwert für die Bürger. Dagegen haben wir nichts einzuwenden; das ist gut. ({0}) Was aber schlecht ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die gesellschaftspolitische Volte, die Sie von der Ampel hier im Windschatten der Verwaltungsdigitalisierung hinlegen. Sie wollen die Religion aus dem Personenstandsregister streichen. Sie untergraben das bewährte Verhältnis von Staat und Kirchen. Das lehnt meine Bundestagsfraktion ab, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Durch Ihre Trödelei und durch Ihre Schludrigkeit mussten wir völlig unnötig in einem Hauruckverfahren binnen weniger Tage in einer Anhörung diesen Gesetzentwurf beraten. Ihr zurückhaltendes Interesse hat man daran erkannt, dass die Ampel mangels Anwesenheit über weite Strecken nicht mal eine Verfahrensmehrheit hatte. Sie haben lieblos vorgetragen und formelhaft abgelesen, und Sie haben vor allem – das ist das Hauptproblem – keinen plausiblen Grund vorgetragen, warum man die Religion aus dem Personenstandsregister streichen soll. ({2}) Sie haben gegen die berechtigte Kritik unserer Fraktion und der Kirchen allein das schwache Argument vorgebracht, man könne damit vielleicht rechnerisch 200 000 Euro pro Jahr sparen. Das muss man sich mal vorstellen, meine Damen und Herren: Die Ampel nimmt eine Verschlechterung des Status der Religionsgemeinschaften für eine Einsparung von vielleicht 200 000 Euro im Jahr in Kauf und stellt hier am selben Tag 200 Milliarden Euro Sonderschulden auf Kosten künftiger Generationen ins Schaufenster. Da haben Sie doch völlig Maß und Mitte verloren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich will Ihnen auch sagen: Es ist auch ein Affront gegenüber einer großen Bevölkerungsgruppe. Sie tun hier so, als würde das Personenstandsregister niemand nutzen. Wir müssen uns nur mal die Zahlen vor Augen führen: 50 Prozent im Geburtenregister, 50 Prozent im Eheregister und 80 Prozent im Sterberegister nutzen den Eintrag ihrer Religionsgemeinschaft. Sie sehen es als positives Bekenntnis zur Religionsfreiheit. Sie sehen es als Bestandteil ihrer Identität, und ich finde, es gibt keinen Grund, dieses Identitätsbekenntnis zu streichen. ({4}) Man muss sich das vorstellen – Ihre Koalition ist doch sonst immer so für Identitätspolitik –: Sie wollen in Fragen der Geschlechter alle mögliche Selbsterklärungsfreiheit in den Registern, aber Religion als Identitätsmerkmal wollen Sie streichen. Das passt nicht zusammen. ({5}) Sie wollen die Religion ins Private zurückdrängen. Sie wollen eine Schlechterstellung der Religionsgemeinschaften. Das ist für uns Grund genug, diesen ansonsten sinnvollen Gesetzentwurf abzulehnen. Wir machen bei diesem Gesetzentwurf nicht mit. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Marlene Schönberger ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marlene Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! In der vorliegenden Gesetzesänderung geht es um die Digitalisierung der Verwaltung und um einfachere und schnellere Prozesse in Standesämtern. Außerdem streichen wir die Angabe der Religionszugehörigkeit aus dem Personenstandsregister. Expertinnen und Experten sagen glasklar, dass es sie dort nicht braucht. ({0}) Schon 1920, in der Weimarer Republik, strich das Parlament die Religionszugehörigkeit aus dem Personenstandsrecht. ({1}) Denn diese Angabe überschreitet die Grenzen dessen, was ein Staat über seine Bürger/-innen wissen muss. Das Sammeln von Daten birgt immer die Gefahr, dass sie missbraucht werden. ({2}) Heute kämpft die Unionsfraktion weiterhin dafür, dass die Religion Teil des Personenstands bleibt. Herzlichen Glückwunsch, liebe Union! Sie hinken mehr als 100 Jahre hinterher. ({3}) Das Streichen der Religion aus dem Personenstandsregister hat aber noch eine viel tiefer gehende Bedeutung. Wir haben uns als Koalition vorgenommen, ganz genau auf unser Rechtssystem zu schauen, um alle noch vorhandenen Spuren der NS-Ideologie aus unseren Gesetzen zu streichen. ({4}) Nachdem die Angabe der Religion 1920 gestrichen wurde, wurde sie 1937 durch die deutschen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten wieder eingeführt. Jüdische Menschen sollten gekennzeichnet werden. Bürokratie war Teil des antisemitischen Vernichtungssystems der Nazis. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Amthor zulassen?

Marlene Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. ({0}) Nach 1945 erfolgte die Übernahme der Religionsangabe in das Personenstandsregister der Bundesrepublik, nicht aus antisemitischen Gründen, aber schlicht unreflektiert und weil es sehr gut zum konservativen Zeitgeist passte. Heute sind wir weiter. Wir beschließen eine späte, aber wichtige Korrektur. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, in der von Ihnen einberufenen Anhörung haben wir die Geschichte der Religionszugehörigkeit im Personenstandsrecht erklärt bekommen. Wenn Sie schon eine Anhörung einberufen, dann schenken Sie den Expertinnen und Experten bitte auch Gehör! ({2}) Trotz aller begrüßenswerter Neuerungen, die wir einführen: Ich persönlich hätte mir mehr gewünscht. Noch immer werden queere Menschen im Personenstandsrecht benachteiligt. Ein Beispiel: Jens und Daniel sind verheiratet und ziehen nach Frankreich. Wenn sie nachweisen möchten, dass sie verheiratet sind, erhalten sie vom deutschen Standesamt keinen korrekten französischen Auszug; sie müssen den deutschen selbst übersetzen lassen. – Jens und Daniela, ein Heteroehepaar, bekommen hingegen den französischen Auszug ohne Probleme. Das ist eine krasse Ungerechtigkeit, die wir dringend ausräumen müssen. ({3}) Nachbesserungsbedarf gibt es leider auch beim Datenschutz. Ein einfacherer Datentransfer, wie wir ihn heute beschließen, braucht mehr Sicherheit für die Bürger/-innen. Es muss zum Beispiel missbrauchssicher protokolliert werden, wer welche Daten wann wozu abfragt und einsehen kann; denn Datenschutz ist ein Grundrecht. Trotz allem: Wir ersparen Bürgerinnen und Bürgern viel kostbare Lebenszeit, die sie sonst auf Standesämtern verbringen müssten. Wir bringen die Digitalisierung der Verwaltung voran. Wir streichen Überbleibsel nationalsozialistischen Unrechts aus unserem Rechtssystem. Wir gehen Richtung Zukunft. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie sollten sich fragen, in welche Richtung Sie gehen möchten. Stimmen Sie zu, und helfen Sie uns, dieses Gesetz gerechter zu machen! Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Joana Cotar spricht für die AfD. ({0})

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Deutschland hat bei der Digitalisierung der Verwaltung geschlafen – viel zu lange. Wir liegen in Europa allenfalls im Mittelfeld und verlieren sogar Ranglistenplätze, wie der Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft belegt. 17 Jahre wurde uns versprochen, dass sich das ändert; 17 Jahre hat sich nichts getan. Jetzt aber passiert etwas, und das begrüße ich ausdrücklich. Endlich werden die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Daten aus dem Personenstandswesen über vernetzte Register abrufen zu können. Zukünftig sollen also die Daten laufen und nicht mehr die Mitbürger zu den Ämtern. Das baut Bürokratie ab, verringert die Kosten und vereinfacht Verwaltungsdienstleistungen. Die Bürger müssen also nicht mehr ein und dieselben Daten mehrfach bei den Ämtern vorlegen, sondern können öffentlichen Stellen die Erlaubnis geben, diese Daten abzurufen. Das im OZG vorgesehene Once-Only-Prinzip rückt also näher, und das wird unser aller Leben ein bisschen leichter machen. Es gibt jedoch drei Kritikpunkte, die ich hier anmerken möchte: eine völlig realitätsfremde Darstellung der Kosten für die Gemeinden, eine überaus ambitionierte Zeitplanung und die Streichung der freiwilligen Eintragung der Religionszugehörigkeit. Die Standesämter sind auf Gemeindeebene organisiert. Der Erfüllungsaufwand für die Gemeinden ist mit rund 40 Millionen Euro angegeben. Im Jahr 2020 wurden knapp 11 000 Gemeinden in Deutschland gezählt. Das heißt, der Erfüllungsaufwand pro Gemeinde wird auf 3 600 Euro geschätzt. Für 3 600 Euro bekommen sie ganze zwei Tage lang externe Projektunterstützung durch einen Consultant. In diesen zwei Tagen sind keinesfalls die kommunalen Fachverfahren ertüchtigt, Schnittstellen implementiert, Daten nacherhoben, geschweige denn die notwendigen organisatorischen Änderungen tradierter Verwaltungsabläufe im Standesamtswesen erfolgt. Auch stimmt es nicht, dass die Länder nicht mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand belastet werden. Alle Länder unterhalten Spiegelregister zu den Daten aus dem Personenstandswesen, die natürlich auch ertüchtigt werden müssen. Aspekt Zeitplanung. Im Gesetzentwurf werden zwei Deadlines genannt. Bis Ende 2022 sind auch Verwaltungsleistungen des Personenstandsrechts elektronisch anzubieten. Bis Ende 2023 ist das Personenstandsregister an die europäische Registerinfrastruktur anzuschließen. Die im Gesetzentwurf dargestellte Lösung schweigt sich jedoch darüber aus, wie die Deadlines erreicht werden können. Die durch das BMI verantwortete Umsetzungssteuerung beim Onlinezugangsgesetz gehört bereits jetzt zu der größten IT-Projektmanagementkatastrophe im öffentlichen Sektor, ({0}) und es zeigt sich, dass beim Thema Registermodernisierung die gleichen Fehler gemacht werden. Die Kommunen kommen in der Planung des BMI nicht vor, obwohl die Kommunen mit ihren vielschichtigen IT‑Landschaften direkt betroffen sind. Letzter Punkt. Die Religion stellt ein Identitätsmerkmal einer Person dar, und es ist für viele Menschen von großer Bedeutung, sich zu ihrer Religion bekennen zu können. Eine Streichung ist eine unzureichende Wertschätzung personaler Identität durch die Regierung, und daher lehnen wir diese ab. ({1}) Zusammenfassend: Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt zur Verwaltungsdigitalisierung. Aufgrund der genannten Kritikpunkte, bei denen nachgearbeitet werden muss, wird sich die AfD-Fraktion allerdings enthalten. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Manuel Höferlin hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer wieder höre ich, wahrscheinlich ebenso wie Sie, von Bürgerinnen und Bürgern, wie sie sich mit einfachsten Behördengängen herumplagen müssen und welche Erfahrungen sie dabei gesammelt haben. Auch ich selbst habe mal eine merkwürdige Situation erlebt. Es ging um einen Fehler in meinem Personalausweis – er betraf ein einzelnes Zeichen –, den ich korrigieren lassen wollte. Ich habe meinen Ausweis vorgelegt, und dann hieß es: Da müssen Sie zum Standesamt und sich entweder eine Geburtsurkunde oder einen Auszug aus dem Geburtenregister ausstellen lassen; dann können wir das korrigieren. – Das Standesamt war drei Zimmer weiter. Ich bin rübergegangen, habe einen Papierauszug geholt und bezahlt, bin wieder zurück zur Personalausweisstelle, und dann wurde mein Personalausweis korrigiert. Jeder hat wahrscheinlich ähnliche oder auch andere Erfahrungen gemacht. Jahrelang hat man bei der Verwaltungsmodernisierung, der Digitalisierung der Verwaltung auf der Bremse gestanden. Deutschland darf bei der Digitalisierung aber nicht schlafen, muss vielleicht sogar Vorreiter in Europa werden. Darum haben wir die digitale Aufholjagd begonnen, meine Damen und Herren. ({0}) Das Dritte Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften ist ein guter und weiterer Schritt in Richtung einer digitalisierten Verwaltung. Zukünftig werden Bürgerinnen und Bürger ihre Personenstandsdaten beispielsweise selber eingeben können und dem Standesamt auf elektronischem und gesichertem Weg übersenden können; es soll auch Abgleiche zwischen diesen geben. Wir setzen damit ein Stück weit das Once-Only-Prinzip, also die einmalige Eingabe von Daten, konsequent um. ({1}) Und dort, wo es nicht zwingend notwendig ist, werden wir zukünftig auf Nachweise von Bürgerinnen und Bürgern verzichten. Das gilt insbesondere dann, wenn die Dokumente schon einmal bei einer anderen Behörde gespeichert wurden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das, was wir unter einer bürgerfreundlichen Verwaltung verstehen. ({2}) Wir entlasten aber nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die nun nicht mehr für alle Angelegenheiten zum Standesamt fahren müssen; wir entlasten auch die Standesämter selbst. Wir sorgen für Bürokratieabbau, weil es natürlich viel einfacher ist, Daten digital zu übertragen, anstatt sie aus Faxen abzutippen. Wir werden aber noch einige Änderungen am Personenstandsrecht in dieser Legislaturperiode vornehmen müssen, zum Beispiel hinsichtlich von Geschlechtseintragungen für queere Menschen. Das muss noch geändert werden; denn das Personenstandswesen orientiert sich am Familienrecht, dessen Anpassung wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Wir werden auch sicherstellen müssen, dass die Registermodernisierung – das gehört dazu – verfassungsfest ausgestaltet wird. Dazu gehört, dass wir die Rechtsunsicherheit bei der Nutzung der Steuer-ID endlich beenden und, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, eine verfassungsfeste Lösung der Registermodernisierung festlegen werden, meine Damen und Herren. ({3}) Letztlich wird es auch darum gehen, das Vertrauen in die Datenverarbeitung der Verwaltungen zu stärken und zu festigen, was jahrelang vernachlässigt wurde. Es geht darum, dass die Protokollierung dann zum Beispiel in einem Datencockpit sichtbar gemacht wird. Das, was bei der Registermodernisierung angefangen wurde, werden wir auch bei anderen Arten der Datenverarbeitung der Verwaltungen einführen müssen, damit Menschen gerade dort, wo sie vielleicht nicht beteiligt sind, wenn Behörden bei Behörden Daten abgleichen, zumindest im Nachhinein sehen können, wer wann aus welchem Grund auf Daten zugegriffen hat. Deshalb ist, glaube ich, das Datencockpit, das in den Registern und in der Verwaltungsmodernisierung Platz greifen muss, ein wichtiger vertrauensbildender Aspekt. Es ist Ausdruck von Transparenz, und die schafft dann auch Akzeptanz für diese digitalen Verfahren. ({4}) Es ist richtig und wichtig, dass wir jetzt diesen Schritt der Verwaltungsmodernisierung schaffen und damit zum 1. November die Registermodernisierung ermöglichen, damit im nächsten Schritt die IT-Umsetzung erfolgen kann. Moderne Register sind ein Multiplikator für die Verwaltungsmodernisierung. Sie sind datensparsamer, erfordern weniger Aufwand, sie führen zu enormen Kosteneinsparungen und helfen am Ende den Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie der Verwaltung. Herzlichen Dank. ({5})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Unionsfraktion, den wir heute abschließend beraten, trägt den Titel „Bewusste Kaufentscheidungen fördern – Verlässliche und relevante Verbraucherinformation stärken“. Das klingt ja erst mal schön und richtig, aber eine Frage sei mir dann doch erlaubt: Wo sind Sie denn die vergangenen 16 Jahre gewesen? ({0}) Dass die Union plötzlich Themen für sich entdeckt, die sie die vergangenen Legislaturperioden vernachlässigt oder sogar vehement blockiert hat, ist ja nichts Neues, und sicher stehen auch ein paar vernünftige Punkte in Ihrem Bauchladen an Forderungen drin. Aber es doch ziemlich wohlfeil, wenn Sie hier eine „umfassende und verbindliche“ Lebensmittelkennzeichnung fordern, die Julia Klöckner, Mitglied der Unionsfraktion und – Achtung! – frühere Landwirtschaftsministerin, jahrelang verweigert hat. ({1}) Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, das jetzt in der Opposition zu fordern! ({2}) Ihr Antrag mag ja Tatkraft simulieren, bei genauem Betrachten fällt sie aber komplett in sich zusammen. Und ein Punkt, den Sie offenbar auch noch nicht begriffen haben: Verbraucherschutz funktioniert eben anders. Ja, Verbraucherinformation ist wichtig, sie ist aber kein Allheilmittel. Sie muss sinnvoll aufbereitet sein, und zwar so, dass alle Verbraucherinnen und Verbraucher sie wahrnehmen und auch verstehen können. Als Digitalpolitikerin finde ich ja den Vorschlag, mithilfe von QR‑Codes auf Produktinformationen zuzugreifen, nicht verkehrt. Der Vorschlag ist aber nicht neu. Mit CodeCheck und anderen Anwendungen gibt es so was ja bereits. Wenn aber notwendige Informationen nur noch digital abrufbar sind, schließt man bestimmte Verbraucherinnen und Verbraucher doch aus. Viele wissen nicht mal, was ein QR‑Code ist, geschweige denn, dass sie ihn scannen können – mal abgesehen von denen, die gar kein Smartphone haben. Notwendige Infos müssen daher auch weiterhin auf der Produktverpackung bleiben. ({3}) Was aber sicher kommen wird, ist der digitale Produktpass. Damit sind ja ein paar Ihrer Forderungen bereits übererfüllt. Der wird nämlich noch viel mehr Angaben enthalten, zum Beispiel zur Lebensdauer, Reparatur, Herkunft und Entsorgung. Damit kann der Ressourcenverbrauch deutlich reduziert werden. Mit dem digitalen Produktpass schützen wir also nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch Umwelt und Klima. Den Reparaturindex haben Sie übrigens völlig vergessen. Dabei wollen Verbraucher/-innen doch wissen, ob das Produkt, das sie kaufen, repariert werden kann. Um dem Anspruch der Nachhaltigkeit zu entsprechen, sollten zukünftig alle Geräte reparierbar sein. Deshalb brauchen wir Nachhaltigkeit by Design, damit die Langlebigkeit von Produkten zum Standard wird. Das stärkt die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({4}) Wo Sie noch mal in sich gehen müssen, ist Ihre Forderung zu Dark Patterns. Offenbar haben Sie gar nicht richtig verstanden, wozu die eingesetzt werden. Mit Dark Patterns werden Nutzerinnen und Nutzer zu Handlungen verleitet, die ihren eigenen Interessen entgegenstehen. Wenn Sie die Untersuchung von Dark Patterns fordern, um „daraus verbraucherfreundliche Empfehlungen abzuleiten“, widerspricht das doch komplett dem Gedanken Ihres Antrags, selbstbestimmtes und informiertes Handeln der Verbraucherinnen und Verbraucher zu fördern. Besser wäre es, Dark Patterns zu verbieten und so diesen intransparenten Praktiken endlich einen Riegel vorzuschieben. ({5}) Ich muss also feststellen: Die Union will nicht die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern stärken, sondern die Verantwortung auf diese abwälzen. Verbraucherschutz, liebe Union, funktioniert nun mal anders. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Volker Mayer-Lay ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volker Mayer-Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Kommt Ihnen Folgendes bekannt vor? Du sollst nicht Autofahren. Du sollst nicht in den Urlaub fliegen. Du sollst keine Weihnachtsbeleuchtung haben. Du sollst zu Hause einen Wollpullover anziehen. Du sollst nicht baden. Du sollst im Übrigen auch nicht duschen, sondern du sollst den Waschlappen benutzen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen sagen: Die originalen Zehn Gebote haben mir deutlich besser gefallen als das, was uns in den letzten Monaten an Verbrauchertipps vonseiten der Grünen so um die Ohren geflogen ist. ({1}) Es ist inzwischen jedem klar, dass wir Energie sparen müssen. Aber glauben wir denn wirklich, dass die Menschen in diesem Land nicht von selbst auf diese Idee kommen? Glauben wir wirklich, dass die Menschen in diesem Land sehenden Auges zum Fenster rausheizen oder Tag und Nacht die Festbeleuchtung zu Hause brennen lassen? Nein, bestimmt nicht; denn jeder in diesem Land merkt doch inzwischen leider schmerzhaft am eigenen Geldbeutel, was los ist. Die Menschen in diesem Land sind verantwortungsbewusst genug, dass viele schon bislang, vor der Energiekrise, aufgepasst haben, ihren Energieverbrauch nicht unnötig zu erhöhen. Die Leute sind informiert, und vor allem können sie ihre Rechnung lesen, meine Damen und Herren. Warum erzähle ich das alles? ({2}) Weil genau das, nämlich das Bild, das wir und das Sie von den Menschen haben, die Verbraucherschutzpolitik der Union von der der Ampel fundamental unterscheidet. Wir glauben an den mündigen Verbraucher, einen Verbraucher, dem wir keine Vorschriften, Verbote und Gebote zu machen haben. Wir glauben an einen selbstbestimmten Verbraucher, der selbstbestimmte und kluge Entscheidungen treffen kann, wenn man ihm die nötigen Informationen dazu gibt. ({3}) Dazu haben wir eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Mich hat es schon stark überrascht, dass bei der letzten Debatte über dieses Thema hier im Deutschen Bundestag vonseiten der FDP der Vorwurf kam, es seien zu viele Punkte und es sei eine Zumutung gewesen, das alles lesen zu müssen. ({4}) Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schon eine sehr bemerkenswerte Arbeitsauffassung. Wenn wir von der Union uns gründlich mit einem Thema auseinandersetzen, ({5}) gute Vorschläge machen und dann kritisiert wird, das sei zu viel, dann ist das schon starker Tobak, meine Damen und Herren. ({6}) Oder wenn ich im Ausschuss vonseiten der Grünen höre, grundsätzlich seien die Vorschläge ja sehr gut und man könne gar nicht fassen, dass so etwas von der Union komme, ({7}) aber die Union habe dies in den letzten 16 Jahren nicht umgesetzt, und deshalb werde man nicht zustimmen. ({8}) Meine Damen und Herren, ich habe mich in dieses Hohe Haus wählen lassen, um die Zukunft mitgestalten zu können. Bei Ihnen scheint es aber wohl noch einen sehr großen Bedarf an Vergangenheitsbewältigung zu geben, wenn das tatsächlich als Begründung für die Ablehnung eines Antrags der Union herangeführt wird. Ich wünsche Ihnen bei der Verarbeitung dieses 16‑Jahre-Traumas viel Erfolg. Tun Sie es aber nicht zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher! ({9}) Ähnliches durfte ich dann auch von der SPD hören. Der Antrag stamme aus der Feder der Union, daher könne man ihn nicht so richtig ernst nehmen und lehne ihn schon deshalb ab. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, früher hat man zumindest noch das Haar in der Suppe gesucht, um einen Oppositionsantrag ablehnen zu können. Nicht einmal diese Mühe machen Sie sich noch. Ein solches Verhalten ist eine Missachtung der Opposition und zutiefst undemokratisch, meine Damen und Herren. ({11}) Um was geht es uns konkret? Ein paar Beispiele: Viele in diesem Land warten auf eine nationale Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln. Wir bekommen so nicht nur nützliche Informationen, sondern auch mehr Chancen für heimische Produkte – die im internationalen Vergleich höhere Produktionsstandards und damit höhere Preise haben –, sich durch klare Kennzeichnung auf dem Markt zumindest ein bisschen besser durchzusetzen. Eine weitere Kernforderung ist der Schutz vor irreführenden Werbeversprechen. Wir wollen strengere Voraussetzungen bezüglich wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse, wenn Produkte mit bestimmten Eigenschaften oder Wirkungen angepriesen oder bezeichnet werden. Wir wollen auch, dass bei Langzeitverträgen oder bei Abos ein klarer Durchschnittspreis angegeben wird, damit man nicht mit einem billigen Angebot für die ersten ein oder zwei Monate gelockt wird, um nachher in den Folgemonaten zu erschrecken, wenn das Vielfache vom Konto abgebucht wird. Wir wollen auch, dass konsequent gegen Fake-Bewertungen im Internet vorgegangen wird, damit sich die Menschen auf diese Bewertungen verlassen können und nicht an der Nase herumgeführt werden. Liebe Ampelkoalitionäre, Sie haben es ja schon angekündigt: Sie werden unserem Antrag auch dieses Mal nicht zustimmen. Es kann ja auch nicht sein, dass die Union mit ihren Vorschlägen schneller ist als die Regierungsparteien, und dann noch bei dem Thema, bei dem Sie meinen, die Deutungshoheit zu haben. Wie dem auch sei: Tun Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern in diesem Land den Gefallen und kommen Sie selbst zu Potte! Im Ankündigen sind Sie schon mal ganz gut. ({12}) Die Menschen wollen aber jetzt Ergebnisse sehen. Vielen Dank. ({13})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der CDU/CSU, die Union prangert mit diesem Antrag Missstände im Verbraucherschutz an, die sie selbst mit verschuldet hat. Wir haben dem Antrag im Ausschuss aber zugestimmt, weil uns viele Dinge aus dem AfD-Wahlprogramm bekannt vorkommen. Das ist schon mal ein ganz guter Ansatz. ({0}) Zwar findet sich bei Ihnen auch der eine oder andere Kotau vor den omnipräsenten Zeitgeistlichen der Inklusions- und Klimareligionen, zum Beispiel die Forderung nach Produktinformationen in einfacher Sprache oder nach einem Nachhaltigkeitssiegel, aus dem die CO2-Bilanz hervorgehe. Wir wollen hier auch nicht ganz vergessen, dass offenbar 16 Jahre Merkel-Regierung für die Union zu kurz waren, um sich dem Verbraucherschutz zu widmen. Aber insbesondere die Kritik an neumodischen Entwicklungen wie pflanzlichen Ersatzprodukten trage ich mit. Als Frank Plasberg noch nicht jede Mode mitgemacht hat, wurde veganer Fleischersatz sogar im Öffentlich-Rechtlichen zur besten Sendezeit offen als das bezeichnet, was er sehr häufig ist, nämlich Verbrauchertäuschung und Etikettenschwindel. ({1}) Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer konnte noch im Deutschlandfunk fundiert darlegen, dass Sojaprodukte, die hochgepriesenen, die Fruchtbarkeit von Männern herabsetzen. Ich habe vor drei Monaten bei der ersten Lesung gesagt, dass unsere Spritpreise so hoch sind wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Inzwischen trifft das auf alle Energiepreise zu. Zugleich haben wir eine Regierung, die sich noch im Angesicht von Blackouts weigert, unsere wenigen verbliebenen Kernkraftwerke eindeutig weiterzubetreiben. Währenddessen sitzt die FDP auf der Regierungsbank. Sie plädiert auf dem Papier und in Talkshows für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Aber sie rührt nicht mal den kleinen Finger, um sich in dieser grün-linken Regierung wirklich durchzusetzen. ({2}) Es sind jedoch längst nicht nur die Rohstoffpreise zu hoch. Wenn Sie für den Verbraucher wirklich etwas tun wollen, dann müssen Sie zuallererst bei der schlichtweg dreisten CO2-Bepreisung ansetzen. Lagen 2020 die Kosten noch bei unter 10 Euro pro Tonne CO2, so sind sie bis Ende letzten Jahres auf mehr als 60 Euro gestiegen, also lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Durch diese CO2-Bepreisung wird alles verteuert, das komplette Leben der Bürger. Solange die Regierung da keine Fehler eingesteht und die CO2-Steuern abschafft, ist jedwede Verbraucherschutzmaskerade nichts weiter als pure Heuchelei. ({3})

Maik Außendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005012, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher/-innen auf den Tribünen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze setzen wir in erster Linie die EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie um. Doch sorgen wir ebenso für Transparenz mithilfe von Klarstellungen hinsichtlich der Mitteilungspflichten für Gewerbetreibende, die einer Zuverlässigkeitsprüfung unterliegen, und ermöglichen die strukturierte Datenermittlung zwischen den kommunalen Gewerbebehörden und den Finanzbehörden. Warum ist das so wichtig? Digitalisierung und Entbürokratisierung sind eben manchmal kleinteilige Kärrnerarbeit. Daher mein Dank an das Ministerium, hier punktgenau zu arbeiten und uns in der Digitalisierung, auch wenn es kleine Schritte sind, weiterzubringen. Denn was wir machen, ist nichts weniger als konsequente Aufräumarbeit, um die massiven Rückstände der Digitalisierung aufzuholen, um zumindest für die verwaltungsinterne Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden nicht mehr auf Umlaufmappen und den Postversand zu setzen. ({0}) Für die weitere Umsetzung braucht § 138 der Abgabenordnung noch ein Update. Dies wird das BMF unter Einbeziehung der Länder in Angriff nehmen. Die letzten Jahre der Pandemie haben auch gezeigt, dass nicht jedes Gremium grundsätzlich in vollzähliger Präsenz tagen muss. Daher ermöglichen wir es nun dauerhaft, dass Kammern digitale oder hybride Sitzungen durchführen können. Entbürokratisierung und Digitalisierung werden somit gemeinsam ermöglicht. ({1}) Wir haben im Berichterstattergespräch aber innerhalb der Koalition sehr konzentriert und konstruktiv – daher mein Dank an die Kollegen Manfred Todtenhausen und Hannes Walter, die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben – auch verabredet, das Ministerium nach einem Jahr um einen Bericht zu den Erfahrungen zu bitten, um Sorgen bezüglich der breiten Beteiligung der ehrenamtlichen Strukturen und transparenter Sitzungsdurchführung zu begegnen. Das haben wir so verabredet, das wollen wir dann auch so machen. Die vorgesehene Änderung der Gewerbeordnung kann allerdings nur ein Baustein sein. Neben dem heute durch die Bundesregierung aufgegleisten Entlastungsprogrammen von bis zu 200 Milliarden Euro braucht es mittelfristig einen massiven Schub bei der Entbürokratisierung und Digitalisierung, um die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Unternehmertum zu stärken. Im Koalitionsvertrag haben wir uns zu diesem Politikfeld viel vorgenommen. Wir wollen endlich Schluss machen mit Formularen, Briefsendungen oder E‑Mails mit eingescannten Papieren. Um den Bürgerinnen und Bürgern Wege zu ersparen und die Verwaltung zu entlasten, müssen die Verwaltungsdienstleistungen endlich digital angeboten werden, und zwar nach dem Once-Only-Prinzip. Das heißt, Bürger/-innen und Unternehmen müssen staatlichen Stellen nur noch einmal benötigte Daten und Dokumente übermitteln. Die Weiterleitung übernehmen dann die Behörden selber. Das schenkt den Menschen wertvolle Lebenszeit. ({2}) In den letzten Monaten haben wir gezeigt, allen voran Robert Habeck mit dem Wirtschaftsministerium, dass wir im Krisenmodus Höchstleistungen erbringen können. ({3}) In kürzester Zeit wurde die Gasversorgung auf neue Füße gestellt und milliardenschwere Hilfsprogramme wurden aufgesetzt. Jetzt müssen wir mit Hartnäckigkeit und Ausdauer ein Entbürokratisierungsgesetz IV schnüren und damit Soloselbstständige, Kleinstunternehmen und KMU stärken, damit diese mit voller Kraft durch Innovationen und Investitionen zur anstehenden Transformation beitragen können. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nachlesen können wir die Reden von Dr. Carsten Linnemann und Hannes Walter, da sie ihre Reden zu Protokoll gegeben haben; dafür vielen Dank. ({0}) Das Wort hat jetzt Enrico Komning für die AfD. ({1})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir reden heute Abend über nur kleine Änderungen an der Gewerbeordnung und an der Handwerksordnung. Dabei sollten wir eigentlich über die historische Krise von Gewerbe und Handwerk diskutieren, und das in der Primetime und nicht mitten in der Nacht. Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute erwarten im kommenden Jahr einen Wirtschaftseinbruch von nahezu 8 Prozent. 8 Prozent, meine Damen und Herren, das ist nicht wenig. Unsere Wirtschaft bricht zusammen, Hauptleidtragende sind Mittelstand, Handwerk und Arbeitnehmer. Die Unternehmer gehen in Scharen auf die Straße und protestieren. Wirtschaftspolitik muss endlich zur Chefsache werden und darf nicht ahnungslosen, ideologietrunkenen grünen Wirtschaftsministern und Staatssekretären übergeben werden. ({0}) Wir brauchen hier für die ernsten Probleme auch ernsthafte Menschen. Tausende Gewerbetreibende und Handwerksbetriebe stehen vor dem Nichts. Sie stehen vor dem Nichts, weil sie Strom-, Gas- und Benzinpreise nicht mehr bezahlen können. Sie stehen vor dem Nichts, weil sie keine Fachkräfte und keine Auszubildenden bekommen. Sie stehen vor dem Nichts, weil sie in Bürokratie ersticken. Und sie stehen vor dem Nichts, weil sie am Standort Deutschland weltweit mit die höchsten Steuern und Abgaben zahlen müssen. Fummeln Sie nicht wie hier an und mit kleinen Gesetzesänderungen rum! Ich fordere die Bundesregierung auf: Schaffen Sie Raum zum Atmen für Mittelstand und Handwerk! Bekämpfen Sie die galoppierende Inflation, und senken Sie die Steuer- und Abgabenlast! Sorgen Sie tatsächlich für bezahlbare Energie! Ich bin mal gespannt, was Ihren großen Ankündigungen von heute folgt. Verlieren Sie sich nicht in Symptombehandlungen, sondern beseitigen Sie das Grundübel! ({1}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, verabschieden Sie sich deshalb von der Energiewende, und lassen Sie mehr Kohle- und Kernkraftwerke wieder ans Netz! Die Kraftwerksbetreiber sind doch längst bereit und warten nur darauf, dass Sie sich endlich bewegen. Mehr Energie, das senkt nachhaltig die Preise. Schaffen Sie wieder echte Gewerbefreiheit! Ein mittelständischer Unternehmer hat doch heute gar keine Zeit mehr für seinen Betrieb, weil er den ganzen Tag bürokratische Auflagen in seinem Betrieb einhalten, dokumentieren und über sie berichten muss. Hören Sie also auf, Zulassungs-, Förderungs- und Abschreibungskriterien immer mehr an Ihre kruden ideologischen Ziele zu knüpfen! Fangen Sie endlich mit der Entbürokratisierung an! Befreien Sie die Unternehmen von Ihrer sozial-ökologischen Transformation, von Ihrem Gender- und Gleichstellungsfirlefanz! ({2}) Heben Sie die Zwangsmitgliedschaften der Betriebe in Kammern und Innungen auf! Schaffen Sie endlich wieder Freiheit für das mittelständische Unternehmertum! Dann ist es vielleicht noch nicht zu spät. Vielen Dank. ({3})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es eine schöne Sache, dass der Antrag der Union uns mal Gelegenheit gibt, über das Schöffenamt zu sprechen, ein wichtiges Amt für die Strafrechtspflege in Deutschland. Sein Licht steht leider ein bisschen zu sehr unter dem Scheffel; es steht selten im Rampenlicht, obwohl es eigentlich ein wichtiges Amt für eine funktionierende Rechtspflege bei uns ist – wie viele Ehrenämter, die leider oft übersehen und vergessen werden. Deswegen ist das eine gute Gelegenheit, einen Dank an viele Schöffinnen und Schöffen auszusprechen, die in Deutschland ihren Dienst vor den Gerichten tun. ({0}) Es gibt auch Ansätze in dem Antrag von der Union, die wir uns sehr genau ansehen werden, die wir nicht verkehrt finden, wie zum Beispiel die Forderung, das Schöffinnen und Schöffen ein Bekenntnis zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablegen müssen und dafür auch jederzeit eintreten müssen. Das BMJ ist auch schon dabei, in den §§ 44a und 45 des Deutschen Richtergesetzes entsprechende Änderungen vorzunehmen. Das ist also schon auf dem Wege, meine Damen und Herren. Soweit Sie den Kündigungsschutz verbessern wollen, ist Ihrem Antrag nicht so genau zu entnehmen, was Sie eigentlich vorhaben. Aber Sie können gewiss sein, dass das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen wachsamen Blick darauf hat, wo der Kündigungsschutz noch verbessert werden muss. ({1}) Es gibt aber ein paar Punkte, die mir nicht so recht einleuchten wollen und der Grund sind, weshalb wir Ihrem Antrag nicht zu folgen vermögen. Dazu gehört zum Beispiel Ihr Vorschlag, dass die Schöffenwahl bundeseinheitlich durchgeführt werden soll. Warum eigentlich? Worin liegt der Mehrwert, wenn die Schöffen zwischen Nordsee und Alpen, zwischen Rhein und Oder immer am gleichen Tag gewählt werden? Hat es jemals jemanden gestört, dass hier die Länder ihrer Vielfalt Rechnung tragen können und jedes Land für sich selber bestimmen kann, wann die Schöffenwahl durchgeführt werden soll? Das ist für mich eine unnötige Vereinheitlichung. Wenn die Länder etwas in ihrer Vielfalt regeln können, dann sollte man sie auch lassen. Es gibt für mich keinen zwingenden Grund, zu sagen: Das muss bundeseinheitlich geregelt werden, meine Damen und Herren. Schließlich ist der interessanteste Punkt des Antrages das Thema der Altershöchstgrenze für die Schöffen. § 33 GVG – Gerichtsverfassungsgesetz – besagt ja, dass Schöffen bei Beginn der Amtsperiode nicht jünger als 25 Jahre und nicht älter als 69 Jahre alt sein sollen. Bei einer Amtszeit von fünf Jahren heißt das, dass jemand, der mit 69 Jahren gewählt wird, bis zum Alter von 74 Jahren im Amt sein kann. Ich finde diese Alterseingrenzung – ein Schöffe soll nicht jünger als 25 und bis zum Ende seiner Amtszeit potenziell nicht älter als 74 Jahre sein – eine sinnvolle und weise Entscheidung, weil man sagt: Na ja, es ist auch nicht gut für die Akzeptanz des Gerichtes, wenn ein Schöffe zu jung ist. Und eine Grenze bei 74 Jahren finde ich auch eine durchaus passende Altersentscheidung. Daher sehe ich keinen Grund, weshalb man diese Alterseingrenzung „25 bis 74 Jahre“ im Ergebnis anrühren sollte. Ich finde, das ist für die Akzeptanz der Gerichte eigentlich eine gute Entscheidung. Daher würde ich sie auch nicht verändern. ({2}) Dahinter mag auch stehen, dass Sie sagen: Es wird immer schwerer, Ehrenamtler für Ehrenämter zu gewinnen. – Ja, das ist richtig. Aber dann einen bequemen Weg zu gehen und zu sagen: „Dehnen wir einfach die Altersgrenzen aus“, erscheint mir ein bisschen zu einfach. Unser Anspruch sollte doch sein, zu versuchen, jüngere Menschen wieder für das Schöffenamt wie übrigens für alle Ehrenämter zu gewinnen. Das ist nicht nur Aufgabe der Politik, aber wir könnten auch einen Beitrag dazu leisten. Jedenfalls erscheint es mir zu einfach, zu sagen: Die Älteren ins Ehrenamt. – Wir sollten versuchen, auch Jüngere wieder fürs Ehrenamt zu begeistern, auch für das Schöffenamt, ein schönes Amt. Deswegen vielen Dank für den Antrag; wir werden ihm im Ergebnis aber nicht zustimmen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ansgar Heveling hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2013 hat Altbundestagspräsidentin Rita Süssmuth in diesem Hause im Großen Protokollsaal den Deutschen Schöffenpreis erhalten. Sie erhielt diese Ehrung als Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbandes für ihr Engagement für die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter. Im Rahmen der Preisverleihung sagte Rita Süssmuth, für eine Verurteilung brauche es „mehr als Wissen“. „Du musst wissen, wo du als Mensch stehst.“ Schöffen hätten oft „einen anderen Zugang“. Es dürfe nicht immer nur der mitreden, der die „Kompetenz professionell erworben“ habe. Sie ergänzte: „Wenn wir nur noch zu Spezialisierten werden, mögen wir tolle Kopfmenschen sein.“ Urteile müssen selbstredend nach Recht und Gesetz gesprochen werden. Aber auch der gesunde Menschenverstand eines vermeintlichen Laien ist für eine faire, von der Gesellschaft akzeptierte Rechtsprechung von enormer Bedeutung; denn Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen, nicht im Namen von Richter XY. Der normale Mensch von der Straße muss sie verstehen und nachvollziehen können. So erreichen wir eine akzeptierte Rechtsprechung. Die Bedeutung des richterlichen Ehrenamtes für die Rechtsprechung ist also groß. Anerkennung gibt es aber wenig, und die Vereinbarkeit von Ehrenamt und Beruf gestaltet sich oftmals schwierig. Mit ein Grund dafür ist, dass die gesetzlichen Regelungen zum richterlichen Ehrenamt in ihrer Form seit rund einem halben Jahrhundert bestehen und eine Lebensrealität widerspiegeln, die eher der Vergangenheit angehört. Deshalb müssen wir sie den geänderten gesellschaftlichen Umständen anpassen. ({0}) So müssen wir die Freistellungsregeln verbessern. Es kann nicht weiter angehen, dass Stunden bei Gericht, die in die Gleitzeit fallen, bei Tarifbeschäftigten nicht als entschuldigtes Fehlen gutgeschrieben werden und damit kein Vergütungsanspruch besteht. ({1}) Wir müssen uns von der starren Altersgrenze verabschieden. Ein modernes Schöffenrecht muss berücksichtigen, dass heutzutage deutlich mehr Menschen auch im hohen Alter noch körperlich und geistig gesund sind. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, 21 Mitglieder des Deutschen Bundestages sind zum jetzigen Zeitpunkt bereits 70 Jahre alt oder werden innerhalb dieser Wahlperiode den 70. Geburtstag feiern. ({2}) Wir werden ihnen doch nicht allen Ernstes die für die Strafrechtspflege erforderliche geistige Beweglichkeit absprechen wollen. Um die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu stärken, brauchen wir darüber hinaus einen bundesweit einheitlichen Wahltag zur ehrenamtlichen Richterwahl. Durch gezielte mediale Kampagnen steigen die Chancen einer breiten Berichterstattung, und das Amt bekommt die Aufmerksamkeit, die es verdient. Darüber hinaus brauchen wir eine sachverständige Ansprechstelle und das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Vorhaben müssen umgesetzt werden; denn das Schöffenamt ist gelebte Volkssouveränität. ({3}) Bitte helfen Sie dabei mit, und unterstützen Sie unseren Antrag! Die gut 100 000 ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in Deutschland werden es Ihnen danken. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sonja Eichwedes Rede, die sie zu Protokoll gegeben hat, können Sie später nachlesen. ({0}) Das Wort hat Thomas Seitz von der AfD. ({1})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Mitwirkung von über 100 000 gewählten ehrenamtlichen Richtern auf allen Ebenen der Rechtsprechung verwirklicht den Grundsatz der Volkssouveränität und ist unverzichtbar. Es ist eine Schande, dass bereits 2013 der Vorsitzende des Bundesverbandes ehrenamtlicher Richter, DVS, klagen musste – gemeint sind die ehrenamtlichen Richter –: Sie üben eines der verantwortungsvollsten staatlichen Ehrenämter in Deutschland aus. Die Missachtung arbeitsschutzrechtlicher Regelungen und des bestehenden Benachteiligungsverbotes am Arbeitsplatz stehen einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat … nicht gut zu Gesicht. Auch wenn der Antrag der Union angesichts Ihrer vielen Regierungsjahre heute viel zu spät kommt, ist das Anliegen richtig, insbesondere bei den Verbesserungen bei Freistellung und Kündigungsschutz der ehrenamtlichen Richter. Es ist schlicht skandalös, dass ein ehrenamtlicher Richter bisher die in die Gleitzeit fallende Dauer seiner Inanspruchnahme nacharbeiten muss. Viele weitere Details zum Reformbedarf kann man beim DVS seit Jahren nachlesen. Eine Erhöhung der Altersgrenze auf 75 Jahre ist im Hinblick auf die über Jahrzehnte gestiegene körperliche und geistige Leistungsfähigkeit auch im Alter sinnvoll, ebenso ein einheitlicher Wahltag für die Richterwahlen, um mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen oder, besser, um überhaupt erstmalig etwas Aufmerksamkeit zu erzeugen. ({0}) Unzureichend ist der Antrag leider bei der Unterstützung der Richter in der effektiven Ausübung ihres Amtes. Insoweit braucht es zumindest ein flächendeckendes Angebot von Einführungsveranstaltungen sowie einen gesetzlichen Fortbildungsanspruch. Spannend wird es bei der inhaltlich selbstverständlichen Forderung, dass ehrenamtliche Richter sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und für ihre Erhaltung eintreten müssen; denn wer diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann seinem Amtseid aus § 45 Absatz 3 des Deutschen Richtergesetzes ohnehin nicht gerecht werden. Konkret wird es auf die Einführung eines Überprüfungsverfahrens hinauslaufen; wir haben es ja vorhin gehört. Oder anders: Alle am Schöffenamt interessierten Bürger stehen dann unter dem Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Wertschätzung für das Ehrenamt sieht anders aus. Aber immerhin hilft es, Klimaterroristen, wie ein Fräulein Neubauer, die das Sprengen von Pipelines öffentlich propagiert hat, vom Richteramt fernzuhalten. ({1}) In Wahrheit geht es nur um einen Vorwand, um mithilfe eines instrumentalisierten Verfassungsschutzes Kritiker der Regierung und der Zustände in Deutschland weiter zu stigmatisieren und zu entrechten. Mit Ihrer Forderung wollen Sie nicht das Richteramt stärken, sondern den Missbrauch des Rechts vorantreiben. Dennoch stimmen wir dem Antrag zu; denn wir als AfD sind hier im Bundestag die einzige Partei, die wirklich für die FDGO kämpft und sie nicht schleichend abschaffen will – siehe Coronamaßnahmen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Erfreulich ist einerseits, dass die Kolleginnen Canan Bayram und Susanne Hennig-Wellsow ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, ({0}) Ich weiß nicht, ob jemand singen möchte; auch das ist möglich und erlaubt im Plenarsaal. – Aber erst mal haben Sie, Frau Hierl, das Wort. ({1})

Susanne Hierl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005085, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als Union wollen mit unserem Antrag das Augenmerk auf einen besonderen Bereich des Ehrenamts lenken: die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter und die Schöffen. Deren Tätigkeit ist wichtig, um notwendiges Wissen aus der Praxis, zum Beispiel in der Sozialgerichtsbarkeit, in die Rechtsprechung mit einzubringen und juristische Vorgänge auch für Nichtjuristen verständlich zu machen. So wird auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz gestärkt. Damit sich weiterhin Personen gerne für die Tätigkeit als ehrenamtliche Richterinnen und Richter zur Verfügung stellen und sie diese Tätigkeit gut ausüben können, gilt es, die bestehenden Regelungen anzupassen. Einerseits müssen ehrenamtliche Richterinnen und Richter alle durch ihre Tätigkeit beim Gericht versäumten Arbeitsstunden auf ihre Arbeitszeit anrechnen lassen können. Andererseits darf der Einsatz im Ehrenamt nicht Grund für eine Kündigung sein. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass ehrenamtliche Richterinnen und Richter oftmals von ihren Arbeitgebern dazu aufgefordert werden, versäumte Arbeitszeit nachzuholen bzw. Urlaub dafür einzureichen. Es ist verständlich, dass es eine Belastung für Arbeitgeber darstellt, den Arbeitnehmer zum Beispiel für mehrtägige Verhandlungen freistellen zu müssen. Dies darf aber nicht dazu führen, dass man sich über die bestehenden Regelungen hinwegsetzt. Wir brauchen daher einen besseren Schutz und eine weitere Klarstellung für ehrenamtliche Richterinnen und Richter ({0}) Weiter gibt es die besorgniserregende Entwicklung, dass antidemokratische Kräfte das ehrenamtliche Richteramt unterwandern wollen. Dies ist nicht zu tolerieren. Aus diesem Grund ist es dringend erforderlich, die Regelungen nachzuschärfen. Es muss eine Klarstellung in den Gesetzestext aufgenommen werden, dass sich ehrenamtliche Richterinnen und Richter durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen müssen. Sofern dies nicht gesichert ist, muss es möglich sein, dass diejenigen Personen nicht in das Amt berufen werden können. ({1}) Das will auch die Bundesregierung. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Strasser vom April dieses Jahres: Die Bundesregierung plant, die verfassungsrechtlich bereits vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigte Pflicht zur Verfassungstreue für ehrenamtliche Richterinnen und Richter ausdrücklich im Gesetz zu verankern, um Personen auszuschließen, bei denen zweifelhaft ist, ob sie jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten werden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, stärken Sie gemeinsam mit uns das ehrenamtliche Richteramt! Stärken Sie die Justiz, und stimmen Sie für unseren Antrag zur Reform der Regelungen für die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter! Sie stärken damit das Ehrenamt und zeigen, dass Sie das Ehrenamt nicht nur in Sonntagsreden würdigen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Marco Buschmann (Minister:in)

Politiker ID: 11004023

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer! In der Gesetzgebung gibt es ja Kür, und es gibt Pflicht. Was wir heute erledigen, ist eine Pflichtaufgabe; denn der Gesetzentwurf setzt eine europäische Richtlinie um. Die Umsetzungsfrist ist leider schon lange abgelaufen. Die Arbeit hätte schon von der Vorgängerregierung und der sie tragenden Mehrheit erledigt werden müssen. Die Tatsache, dass wir diese Arbeit jetzt beherzt nachholen, hat dafür gesorgt, dass wir ein Vertragsverletzungsverfahren verhindern konnten. So sparen wir dem Steuerzahler viele Millionen Euro an Strafzahlungen. ({0}) In der Sache selber geht es um etwas, das nach einhelliger Ansicht der Organisations- und Managementwissenschaften eigentlich notwendige Bedingung für nachhaltigen Erfolg ist, nämlich eine positive Fehlerkultur. Denn wo Menschen zusammenarbeiten, da geschehen auch Fehler; das ist eben menschlich. Je größer eine Organisation ist, desto wahrscheinlicher ist es natürlich, dass zuerst die operativ tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eben nicht das Management diese Fehler entdecken. Wenn diese Fehler schwere Rechtsverstöße darstellen, dann liegt es im Interesse einer Behörde oder eines Unternehmens, schnell davon zu erfahren, damit man die Dinge abstellen kann; denn sonst drohen rechtliche Sanktionen und schwere Reputationsschäden. Deshalb ist Hinweisgeberschutz Unternehmensschutz, meine Damen und Herren. ({1}) Wir haben ein Interesse daran, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich trauen, ihren Vorgesetzten zu berichten. Wenn sie sich das nicht trauen, dann – das ist der Kern der Richtlinie und der Umsetzung in unserem Gesetzentwurf – müssen Betriebe ab 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine interne Meldestelle einrichten, an die sich die Hinweisgeber wenden können. Wenn sie das tun, sind sie vor Repressionen geschützt. Das schützt eben die positive Fehlerkultur. Falls dieses Vertrauen dort nicht existiert, gibt es auch externe Meldestellen. Ziel ist aber natürlich, dass innerhalb des Betriebes die Probleme erkannt und dann auch abgestellt werden. Das tun heute viele Unternehmen auch freiwillig: etwa 70 Prozent der Großunternehmen und etwa 40 Prozent der KMUs, die unter diese Regelung fallen. Diese Unternehmen zeigen damit, dass sie wissen: Hinweisgeberschutz ist Unternehmensschutz, meine Damen und Herren. ({2}) Bei der Umsetzung war uns wichtig, dass wir alle Flexibilitätsspielräume der Richtlinie ausnutzen. Wir haben auch mit der Kommission sehr intensiv diskutiert, und es ist uns gelungen, die Rechtsansicht der Kommission bei einer ganzen Reihe von Dingen zum Wohle unserer Unternehmen zu ändern. Deshalb wird unsere Umsetzung vorsehen, dass die Unternehmen beispielsweise gemeinsam interne Meldestellen betreiben können – das spart Kosten –, dass sie das outsourcen können, beispielsweise an Anwaltskanzleien – die häufig schon bestehenden Systeme bleiben so erhalten –, und dass innerhalb eines Konzerns die interne Meldestelle beispielsweise auch bei der Konzernmutter angesiedelt werden kann. Das spart Kosten, und das zeigt, dass wir in dieser Zeit, in der unsere Unternehmen sowieso schon viele Lasten zu tragen haben, immer ein Auge darauf haben, dass wir sie nicht mit überflüssiger Bürokratie belasten. ({3}) Das alles zeigt: Es geht bei diesem Gesetzentwurf nicht darum, einen Anreiz zum Verpfeifen zu setzen, sondern darum, einen Anreiz dafür zu setzen, dass die Dinge intern geklärt werden. Jede Unternehmerin und jeder Unternehmer wird mir bestätigen: Es ist besser, von den eigenen Leuten die Probleme zu erfahren, damit ich sie selber abstellen kann, als irgendwann über das eigene Unternehmen in der Zeitung zu lesen oder Besuch vom Staatsanwalt zu bekommen. ({4}) Und deshalb gilt: Hinweisgeberschutz ist Unternehmensschutz, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Martin Plum spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Plum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, lieber Herr Minister Buschmann, dass zumindest ein Mitglied Ihrer Koalition heute Abend zu diesem Gesetzentwurf spricht, aber er ist wahrlich kein Grund, um stolz zu sein. Er ist unklar, unausgegoren und unausgewogen. Ja, es ist gut, dass Sie Ihre Pflichtaufgabe erfüllen, die Richtlinie umsetzen und den Hinweisgeberschutz gesetzlich regeln. ({0}) Aber nein, es ist nicht gut, wie Sie es machen. Erstens lässt Ihr Entwurf in weiten Teilen die notwendige Klarheit vermissen. ({1}) Anstatt mit eindeutigen Formulierungen Rechtssicherheit für Hinweisgeber und Unternehmen zu schaffen, wimmelt er nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen. Anstatt den Hinweisgeberschutz insgesamt zu regeln, bleibt das Verhältnis des Entwurfs zu bestehenden Meldesystemen vollkommen unabgestimmt. Und anstatt eindeutig festzulegen, wie Hinweisgeber geschützt sind, wenn sie sich unmittelbar an den Betriebsrat, an den Personalrat, an die Staatsanwaltschaft oder an die Polizei wenden, machen Sie aus internen und externen Meldestellen lieber so etwas wie Betriebs- oder Zweitstaatsanwaltschaften, ohne deren Befugnisse und ohne deren Verhältnis zu den staatlichen Ermittlungsbehörden klar zu regeln. Die Versprechen aus Ihrem Koalitionsvertrag, Gesetze verständlicher zu machen und diese Richtlinie rechtssicher umzusetzen: Vergessen! ({2}) Ihr Entwurf ist zweitens aber auch vollkommen unausgegoren. Anstatt eindeutige Regelungen für interne Ermittlungen zu schaffen, bleiben die Anforderungen an die interne Meldestelle und ihre Befugnisse vage. Anstatt zu Unrecht Beschuldigte wirksam vor falschen Verdächtigungen und missbräuchlichen Meldungen zu schützen, knüpfen Sie den Hinweisgeberschutz an in der Praxis kaum verifizierbare subjektive Momente. Und anstatt die Dokumentation der Meldungen so lange zu ermöglichen, wie sie erforderlich ist, führen Sie eine starre Löschfrist von zwei Jahren ein, ohne Rücksicht auf Prozessrisiken und Verjährungsfristen. ({3}) Die Versprechen aus Ihrem Koalitionsvertrag, einen präzisen Rechtsrahmen für interne Untersuchungen zu schaffen und die Richtlinie praktikabel umzusetzen: Vergessen! ({4}) Und Ihr Entwurf ist drittens auch gänzlich unausgewogen. Anstatt die Richtlinie maßvoll umzusetzen, weiten Sie den Anwendungsbereich der Richtlinie vollkommen über Gebühr aus. Das Versprechen aus Ihrem Wahlprogramm – Sie werden sich vielleicht erinnern –, Richtlinien nicht über das erforderliche Maß hinaus umzusetzen: Sowieso längst vergessen! Anstatt sich dafür einzusetzen, interne gegenüber externen Meldewegen zu bevorzugen, verzichten Sie auf jegliche Anreize dafür. Und anstatt Ihr groß angekündigtes Belastungsmoratorium vom heutigen Tag einfach mal umzusetzen, belasten Sie rund 90 000 Unternehmen in diesem Land mit neuer Bürokratie, einmaligen Kosten von über 200 Millionen Euro, jährlichen Kosten von 400 Millionen Euro und versehen das Ganze noch mit Bußgeldern von bis zu 100 000 Euro. Wo, wenn nicht hier, hätten Sie einmal Bürokratie abbauen und den Mittelstand entlasten können? ({5}) Hier von „Unternehmensschutz“ zu sprechen, setzt dem Ganzen die Krone auf. ({6}) Unverständlich, unausgegoren, unausgewogen! Wer es wie Sie schafft, aus einer handwerklich schlechten Richtlinie einen handwerklich noch schlechteren Gesetzentwurf zu machen, der hat eines nicht verstanden: sein Handwerk. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dankenswerterweise hat der Kollege Sebastian Fiedler seine Rede zu Protokoll gegeben. Es redet Tobias Peterka für die AfD. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Nachdem der Vorstoß der Grünen in der letzten Legislatur abgelehnt wurde, kommt also jetzt der Ampelentwurf zum Hinweisgeberschutz. Es ist natürlich an sich schon amüsant, dass gerade die EU gegen Rechtsverstöße Standards setzen lassen will, nimmt sie sich da doch selbst gerne alle Freiheiten heraus. Aber gut, Korruption kann keiner wollen, und es gibt in der Tat Mitgliedstaaten, bei denen selbige wortwörtlich zum guten Ton gehört. ({0}) Jedoch – Sie wissen es – hat man die rein finanzielle Stoßrichtung im Hinblick auf EU-Recht hier schon lange hinter sich gelassen, wie von mir mehrfach so vorhergesagt. Die zugrundeliegende Richtlinie bekam also gruselige Spielräume, und natürlich konnte die Bundesregierung jetzt der Versuchung nicht widerstehen, das Zuträgertum über die Maßen auszudehnen, nicht nur auf nationales Recht, nein, sogar auf unter Umständen missbräuchliches Verhalten des Arbeitgebers. Auch die externen Meldestellen können bekanntlich sofort und auf Verdacht mit Informationen versorgt werden. Das hat nun wirklich ein Geschmäckle. ({1}) Bessere Kontrollen bei Behörden oder Selbstbedienungsläden wie den öffentlichen Rundfunkanstalten – sehr gerne. Aber das Vertrauen innerhalb privatwirtschaftlicher Unternehmen per se durch ein System des Misstrauens ersetzen zu wollen, wie Sie es hier tun, geht eindeutig zu weit. ({2}) Wenn zum Beispiel Frau Schlesinger auf Beitragszahlerkosten zu Hause auf den Putz haut oder eine Behörde über Grundrechte hinweggeht, dann muss der Hinweisgeberschutz scharfgestellt sein. Das verlangen auch wir als AfD gerade. Wenn aber der Handwerksmeister von jedem vielleicht nur unzufriedenen Mitarbeiter de facto mit Beweislastumkehr an den Pranger gestellt werden kann, dann vergiftet das nun wirklich jedes berufliche Umfeld. Übrigens will das die Ampel sogar bei rechtmäßigem Handeln – es reicht ein zweckwidriges Verhalten des Arbeitgebers. Es tut mir leid, dann kann ich mit meinem Unternehmen gleich nach China auswandern; ({3}) da bekomme ich meinen Social Score wenigstens offen mitgeteilt und kann auf Geschäftsgeheimnisse gleich verzichten. Freie Wirtschaft braucht einen Restbereich Innenverhältnis. Bei Missbrauch greifen bekanntlich Strafrecht, Wettbewerbsrecht und Steuerrecht. Enthüllungen sind bereits jetzt über presserechtliche Quellenschutzregelungen möglich. Wir fordern beim Hinweisgeberschutz einen starken Fokus auf Grundrechtsverstöße durch öffentliches Handeln. Da drückt der Schuh in Deutschland und nicht bei einer fehlerhaften Druckerpapierbestellung. Wir befürchten nämlich aus Erfahrung, dass öffentliches Interesse und Sicherheit – das steht in Ihrem Gesetzentwurf – ganz schnell den Hinweisgeberschutz aushebeln werden, wenn staatliches Handeln „falsch“ hinterfragt wird. ({4}) Ob es so kommt oder nicht, das wird die Zukunft zeigen. Orwellianischer wird diese Zukunft mit dem vorliegenden Gesetz in jedem Fall ein gutes Stück. Vielen Dank. ({5})

Susanne Hierl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005085, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, beschäftigt sich mit dem Schutz vor Benachteiligungen für Hinweisgeber, die Verstöße gegen Rechtsvorschriften, die ihnen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit offenbar geworden sind, melden. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie sich zum Ziel gesetzt, die in der Praxis von einem Gesetz betroffenen Gruppen oder Personen in Ihre Überlegungen mit einzubinden. Versetzen wir uns doch einmal in die Situation eines potenziellen Hinweisgebers – also eines Arbeitnehmers in einem Unternehmen oder einer Behörde, der sich überlegt, ob er einen Verstoß meldet. Er muss zuerst überlegen, ob der Verstoß, den er melden will, in den Katalog der Vorschriften fällt, die ihm einen Schutz nach dem vorliegenden Gesetz gewähren. Der Mitarbeiter ist es also, der entscheiden muss, ob seine Meldung in den sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fällt. Meldet er – was durchaus im Interesse seines Arbeitgebers liegen kann – einen Verstoß gegen eine interne Richtlinie, hat er keinen Anspruch auf Schutz nach diesem Gesetz. Danach hat der Hinweisgeber zu entscheiden, wo er die Meldung erstattet, also intern bei seinem Arbeitgeber oder extern bei einer Meldestelle. Im Gesetzentwurf ist keine Rangfolge der internen Meldung vor der externen Meldung vorgesehen, obwohl die EU-Richtlinie dieses Vorgehen explizit befürwortet und dies durchaus Sinn macht. ({0}) Erfolgt die Meldung zunächst an eine externe Stelle, dann läuft das dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers zuwider; das ist dann kein Unternehmensschutz, Herr Minister. ({1}) Verstöße schnell und effektiv abzustellen, ist daher nicht möglich; die Regelung ist kontraproduktiv. Nehmen wir nun an, der Hinweisgeber ist selbst Beteiligter an dem Verstoß, den er melden möchte; dies würde er gerne anonym tun. Es ist im Gesetzentwurf jedoch nicht verpflichtend vorgesehen, dass eine Meldung auch anonym beim Arbeitgeber abgegeben werden kann. ({2}) Weiter ist im Gesetzentwurf eine Rangfolge der nichtanonymen Meldung vor der anonymen Meldung vorgesehen. Anonyme Meldungen sollen zwar bearbeitet werden, aber nur dann, wenn die Bearbeitung der nichtanonymen Meldungen nicht leidet. Man befürchtet hier Missbrauch. Eine Unterscheidung in gute – nichtanonyme – Meldungen und schlechte – anonyme – Meldungen ist kontraproduktiv. Im Fall unseres gedachten Hinweisgebers führt die fehlende Möglichkeit zur anonymen Meldung beim Arbeitgeber dazu, dass er letztendlich nicht meldet. Das kann nicht im Sinn des Gesetzgebers sein. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, nutzen Sie die Zeit bis zur Verabschiedung des Gesetzes, und bringen Sie die Sichtweise der vom Gesetz Betroffenen mit ein – so wie Sie es sich in Ihrem Koalitionsvertrag selbst aufgegeben haben! Herzlichen Dank. ({4})

Clara Bünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005289, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! In den letzten Tagen gingen die Videos der mutigen Menschen in Dagestan um die Welt, die sich gegen die Teilmobilmachung wehren und offen und laut den Angriffskrieg Russlands kritisieren. Diese Menschen verdienen unsere Solidarität. ({0}) Die russischen Behörden reagierten darauf mit Gewalt und verschärfter Repression. Mehr als 2 000 Protestierende wurden im ganzen Land bereits festgenommen. Auch Deserteure und Kriegsdienstverweigerer gehen hohe persönliche Risiken ein. Bei Kriegsdienstverweigerung drohen bis zu 15 Jahre Haft; das Strafmaß wurde gerade noch erhöht. Ich wurde auch schon von Menschen kontaktiert, die Angst haben, fliehen wollen und um Unterstützung bitten. Vielen bleibt nur die Flucht. Mehrere Hunderttausend Menschen haben Russland mittlerweile verlassen. Je mehr Menschen sich dem Kriegsdienst entziehen, desto schwieriger wird für Russland eine Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Kriegs in der Ukraine. ({1}) Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass nun parteiübergreifend Schutz für russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in Deutschland gefordert wird. ({2}) Jetzt muss die Regierung aber auch endlich handeln. Denn wie sollen die russischen Deserteure hier einen Asylantrag stellen? Ohne humanitäre Visa bleibt nur die Wahl, sich auf die gefährlichen Fluchtrouten zu begeben und zu versuchen, die hochgerüsteten Außengrenzen der EU zu überwinden. Vor einigen Monaten hatte Innenministerin Faeser noch eine Aufnahmeregelung für russische Deserteure auf europäischer Ebene in Aussicht gestellt. Ich fasse kurz zusammen, was seitdem passiert ist: nichts. ({3}) Abgesehen von den humanitären Visa, die die Bundesregierung jetzt erteilen muss, muss Frau Faeser das Schutzangebot für russische Wehrdienstverweigerer ganz klar kommunizieren. ({4}) Denn das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, das für alle Menschen gelten muss. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Helge Lindh hat seine Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Moritz Oppelt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Moritz Oppelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005171, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Innenpolitiker der Ampel sind zu Recht stolz darauf und erwähnen es auch immer wieder, dass es uns bereits zu Beginn des Ukrainekonflikts gelungen ist, mit der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie eine gemeinsame europäische Antwort im Bereich der Flüchtlingspolitik zu geben, und ich hoffe, dass wir auch dabei bleiben. Ich will dem Bundeskanzler deshalb ganz ausdrücklich dafür danken, dass er seinen Justizminister Buschmann, der Anfang der Woche auf Twitter vorgeprescht ist, bereits zurückgepfiffen und klargestellt hat, dass es im Bereich der Migration weiterhin keine deutschen Alleingänge geben darf. ({0}) Eine überstürzte massenhafte Aufnahme russischer Deserteure, etwa durch reihenweise Erteilung humanitärer Visa, wie von der Linksfraktion vorgeschlagen, kommt für die Union nicht in Betracht. ({1}) Mit der Aufnahme von 1,1 Millionen Ukrainern in den vergangenen sieben Monaten leistet Deutschland bereits einen wichtigen humanitären Beitrag in diesem Konflikt. Trotz aller Hilfsbereitschaft und des großartigen Engagements der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer hören wir doch alle, aus unseren Kommunen und aus den Ländern, dass die Aufnahmekapazitäten vor Ort schon knapp werden und teilweise an ihre Grenzen stoßen. Da erwarte ich eigentlich von einem Bundesjustizminister der FDP, dass er, bevor er auf Twitter Einladungen ausspricht, sich zumindest mal Gedanken macht, wo wir potenziell Hunderttausende Menschen unterbringen sollen. ({2}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass mich hier niemand falsch versteht: Wir stehen zu unseren humanitären Verpflichtungen und den Verpflichtungen des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 16a Grundgesetz genießt derjenige Kriegsdienstverweigerer in Deutschland Asyl, der bei der Verpflichtung zum Kriegsdienst mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar oder mittelbar an Kriegsverbrechen teilnehmen müsste. Ob das auf russische Deserteure zutrifft, ist im Wege einer Einzelfallüberprüfung sorgfältig zu ermitteln, ({3}) und wenn diese Überprüfung positiv ausfällt, dann bieten wir Schutz. ({4}) Aber zu dieser Einzelfallprüfung gehört auch eine Sicherheitsüberprüfung, ({5}) gerade vor dem Hintergrund der aktuell im Raum stehenden Sabotagevorwürfe. Die Aufnahme von russischen Deserteuren darf nicht zum Sicherheitsrisiko für unser Land werden! ({6}) Zusammengefasst: Die aktuelle Situation erfordert eine gesamteuropäisch abgestimmte Position und keine deutschen Alleingänge. Asyl darf nur im Einzelfall und mit Sicherheitsüberprüfung gewährleistet werden. Und bei all dem müssen wir die Leistungsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit unserer Länder und Kommunen im Blick behalten. Den Antrag, wie er hier vorliegt, lehnen wir ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Julian Pahlke zu uns. ({0})

Julian Pahlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005173, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Zu den Bildern des Krieges gegen die Ukraine kommen neue Bilder hinzu: Bilder von russischen Männern, die auf allen Wegen versuchen, das Land zu verlassen, Männern, die sich verkleiden, Männern, die von russischen Beamten wieder aus dem Flugzeug gezogen werden. Nicht nur Reservisten, sondern auch junge Männer aus Städten und Dörfern werden wahllos rekrutiert und als Kanonenfutter zum Kämpfen geschickt. ({0}) Auf Antikriegsdemonstrationen wurden Männer verhaftet und direkt eingezogen. Russische Männer fliehen aus dem Land, um eben nicht zu kämpfen. ({1}) Auch ihnen müssen wir Unterstützung und Schutz bieten. Ich bin nicht bereit, in jeder Debatte aufs Neue die Gültigkeit des Grundrechts auf Asyl zu verhandeln. Das Recht auf Asyl ist nichts, was man nach politischem Belieben aus der Tasche ziehen oder in die Tonne treten kann. ({2}) Das Recht auf Asyl gilt auch für diejenigen, deren Meinung wir nicht immer teilen. Die einzige Frage ist: Braucht jemand Schutz? Und wenn die Antwort Ja lautet, dann machen wir keinen Gesinnungstest, sondern bieten den Menschen einen sicheren Ort zum Leben. ({3}) Natürlich ist es eine innere Auseinandersetzung, die viele von uns mit sich führen: einerseits unverbrüchlich an der Seite der Ukraine zu stehen und auf der anderen Seite denjenigen Russen, die Schutz brauchen, Schutz zu gewähren. Gleichzeitig ist aber jeder Soldat, der keine Waffe in die Hand nehmen möchte und stattdessen flieht, ein Soldat, der nicht auf unsere ukrainischen Verbündeten schießt. ({4}) Im europäischen und deutschen Asylrecht steht klar, dass staatliche Verfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes ein Grund für Asyl ist. In Russland drohen bei Kriegsdienstverweigerung oder Desertion bis zu 15 Jahre Haft. Dass Wehrdienstverweigerer aus Russland bei uns Schutz finden müssen, sehen nicht nur wir Grüne so, sondern auch Innenministerin Faeser und Justizminister Buschmann – sie müssen jetzt sicherstellen, dass dieses Versprechen auch in der Praxis umgesetzt wird. ({5}) Aber die einzige demokratische Partei, die mit dem Begriff des Asylrechts ganz offensichtlich ein fundamentales Problem zu haben scheint, ist die Union. ({6}) Wenn Ihr Parteivorsitzender von „Sozialtourismus“ spricht, greift er genau das Recht an, von dem das Leben von Flüchtenden abhängt. ({7}) Herr Merz, Ihnen ist das Grundgesetz doch ganz offensichtlich scheißegal. Sie haben ein gestörtes Verhältnis zu unserem Grundgesetz und kündigen gleichzeitig die Solidarität mit der Ukraine auf. ({8}) Ich bin wirklich erleichtert, dass Sie keine Verantwortung für dieses Land und damit auch für schutzsuchende Menschen haben. ({9}) Natürlich müssen wir überblicken, wer diesen Schutz in Anspruch nimmt, wenn wir gleichzeitig als Diplomaten getarnte Geheimdienstler ausweisen wollen und auf die Aufklärung russischer Kriegsverbrechen drängen. ({10}) Aber genau das passiert in individuellen Sicherheitsüberprüfungen und im Asylverfahren und eben nicht in einer politischen Debatte. ({11}) Um den Menschen tatsächlich die Einreise in die EU und nach Deutschland zu ermöglichen und ihnen damit Sicherheit zu gewähren, ({12}) müssen wir jetzt die Spielräume bei der Visavergabe nutzen und über die humanitäre Aufnahme sichere Wege gewähren. ({13}) Wenn Ukrainer/-innen in ihren Häusern beschossen und getötet werden, wenn russische Männer in einen Krieg gezwungen werden sollen, den sie ablehnen, dann müssen wir zusammenstehen und allen Menschen Schutz bieten, die vor Putins Gewalt fliehen – dann handeln wir nach unseren Werten und den Menschenrechten und leisten einen kleinen Beitrag dazu, dass Putin diesen Krieg noch etwas schneller verliert. Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Rüdiger Lucassen hat jetzt das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linken ist dumm, kann aber von der Ampelkoalition unterstützt werden. Denn der Bundeskanzler hat dem Wunsch der Linken bereits entsprochen: Olaf Scholz will russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern Asyl gewähren. Das ist wieder einmal eine Fehlentscheidung aus dem Bauchraum sicherheitspolitischer Amateure. Die AfD lehnt diese Schnapsidee ab. ({0}) Die Entscheidung, russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer nach Deutschland zu rufen, ist in der gegenwärtigen Kriegslage gefährlich, und das aus drei Gründen: Erstens. Die Bundesregierung greift mit dieser Entscheidung in das russische Wehrsystem ein. ({1}) Das gleicht im Grunde einem Sabotageaufruf. Die Bundesregierung führt Deutschland damit wieder einen Schritt weiter in Richtung Kriegspartei. ({2}) Mit ihrer Einladung an Hunderttausende Russen nach Deutschland will die Bundesregierung ihre edle Gesinnung zur Schau stellen. ({3}) Die russische Armee schwächen Sie damit nicht. Im Gegenteil: Sie eskalieren weiter und spielen dem Kreml in die Hände. ({4}) Zweiter Grund. Bei wehrpflichtigen Russen handelt es sich nicht nur um mustergültige Demokratiestudenten aus Sankt Petersburg. Von der Wehrpflicht erfasst sind auch Männer aus Tschetschenien, Dagestan, Burjatien und vielen anderen zwielichtigen Gegenden. ({5}) Gegen Einheiten aus diesen Gebieten ermittelt unter anderem der Generalbundesanwalt wegen Kriegsmassakern. Und diese Männer, ungeprüft und ungefiltert, laden Sie mit nach Deutschland ein. ({6}) Das ist ein nicht akzeptables Risiko für die innere Sicherheit Deutschlands. ({7}) Drittens: das Recht – oft bemüht, aber wenig respektiert. Für Kriegsdienstverweigerer aus Russland besteht kein Asylrecht; Artikel 16a Grundgesetz ist da eindeutig. Ein solches Recht führt die Bundesregierung auch gar nicht an. Sie will an der Erosion der russischen Armee mitwirken, ({8}) erreicht aber das Gegenteil und missbraucht einmal mehr die deutsche Asylgesetzgebung. ({9}) Ich empfehle der Bundesregierung:

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie kommen zum Ende, bitte. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Machen Sie Realpolitik, um den Krieg in der Ukraine zu beenden! Verlassen Sie dafür –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie kommen bitte zum Ende.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– den gefährlichen Pfad Ihrer Gesinnungspolitik! Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Stephan Thomae hat seine Rede für die FDP-Fraktion zu Protokoll gegeben. ({0}) Matthias Helferich hat das Wort. ({1})

Matthias Helferich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005079

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Es ist sicherlich folgerichtig, dass ich den heutigen Abend schließe. Afghanische Ortskräfte, knapp 1 Million Ukrainer und bis zu 200 000 Asylanträge außereuropäischer Migranten. Wirtschaftsminister Robert Morgenthau betreibt die Deindustrialisierung unseres Landes, und die Inflationsrate klettert auf 10 Prozent. Und was tut die solidarische Linke in unserem Land? Sie fordert die Aufnahme russischer, belarussischer und ukrainischer Deserteure. Ich hatte ja eigentlich auf einen heißen Herbst gemeinsam mit Ihnen in einer Querfront gehofft. ({0}) Aber Sie haben es immer noch nicht verstanden und betreiben weiterhin Ihre lustvolle Selbstvernichtung. Massenmigration ist das Vehikel des Globalismus, des woken Globalismus, um nationale Solidargemeinschaften aufzulösen. Nur geschlossene, geschützte Gemeinschaften können sich überhaupt gegenseitig beistehen. Jede Sucht, so auch die Migrationssucht, endet irgendwann mit einer Überdosis. ({1}) Gebt gut acht, liebe Linke, sonst erlebt ihr den heißen Herbst vielleicht gar nicht mehr. Kümmert ihr euch weiterhin um die Internationale der Deserteure – wir kümmern uns in diesem heißen Herbst um unsere Leute. Vielen Dank. Einen schönen Abend! ({2})