Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Der Frieden ist nun selbstverständlich, Krieg ist unvorstellbar geworden.“ Zehn Jahre ist es her, dass der damalige Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, diese Sätze gesprochen hat. In Oslo war das bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Herman Van Rompuys Worte waren damals natürlich auf die Lage im Innern der Europäischen Union gemünzt. Und in der Tat: Krieg zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist auch heute unvorstellbar. Das ist und bleibt die größte Errungenschaft der europäischen Einigung.
({0})
Doch beim Blick auf die Ruinen von Mariupol, Tschernihiw oder Charkiw, beim Gedanken an die Massengräber von Butscha oder Hostomel, bei den Bildern zerschossener Häuser, zertrümmerter Autos und lebloser Körper unschuldiger Frauen, Männer und Kinder wird uns schmerzhaft bewusst: Krieg ist eben nicht überall unvorstellbar geworden – auch in Europa nicht. Und: Frieden ist nur dann selbstverständlich, wenn wir bereit sind, ihn zu verteidigen.
({1})
Das ist die Lehre, die wir aus Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine ziehen. Darin liegt die Zeitenwende, von der ich Ende Februar hier in diesem Haus gesprochen habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterschiedliche Herausforderungen und Krisen hat die Europäische Union in den letzten Jahren bewältigt. Der Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist ohne jeden Zweifel die größte. In einem aber ähnelt auch diese Krise den vorangegangen: Einmal mehr erleben wir: Je größer der Druck von außen ist, desto entschlossener und geeinter handelt die Europäische Union,
({2})
weil der von Putin entfachte Krieg allem widerspricht, wofür diese Union steht.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, geboren aus der Idee, den Krieg und die Feindschaft zwischen den Völkern Europas ein für alle Mal zu überwinden. Unsere Länder sind offen, frei und demokratisch – anders als Putins Autokratie. Wir begegnen uns mit Respekt und in dem Wissen, dass Ausgleich und Kompromissbereitschaft keine Schwächen sind, sondern dass darin unsere Stärke liegt. Mit dieser Haltung werden wir die Europäische Union fortentwickeln und dabei ihre Geschlossenheit wahren.
({3})
Auch Emmanuel Macron hat das bei seinem Besuch letzte Woche bekräftigt. Ich bin dem französischen Präsidenten daher sehr dankbar, dass ihn seine erste Reise nach der Wiederwahl hierher, nach Berlin, geführt hat. Darin liegt auch ein Bekenntnis zur deutsch-französischen Zusammenarbeit, die stets mehr war als ein bilaterales Projekt. Ihre Aufgabe liegt darin, Lösungen für die Zukunft zu finden, die für alle Mitgliedstaaten tragen.
({4})
Das muss immer der Antrieb des deutsch-französischen Motors sein. Die Zeitenwende erfordert, dass wir auch in Europa über den Tag hinausdenken. Dabei werden wir anknüpfen an die vielen guten Vorschläge, die die europäischen Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Zukunftskonferenz entwickelt haben. Am Europatag, heute vor zehn Tagen, haben sie die Ergebnisse vorgestellt.
({5})
Den Bürgerinnen und Bürgern geht es um eine bürgernähere und effizientere Union. Das wird auch unser Fokus sein.
Viele der Vorschläge sind ganz konkret. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich zum Beispiel mehr Konsequenz beim Klimaschutz, Fortschritte bei der europäischen Verteidigung, ein gerechteres und inklusiveres Europa mit mehr sozialem Miteinander. Vieles davon kann schnell umgesetzt werden. Dafür braucht es keine langwierigen Änderungen der Verträge. Dazu reichen gute Vorschläge der Kommission. Das gilt auch für viele Ideen, um die EU effizienter zu machen, wie die von uns geforderten Mehrheitsentscheidungen im Rat. Gerade hier sehe ich, dass sich in den letzten Wochen und Monaten immer mehr dieser Idee anschließen. Gut so!
Wenn die Sache es erfordert, dann können wir über eine Änderung der Verträge reden, auch über einen Konvent. Das ist kein Tabu. Wichtig aber ist, dass wir dabei größtmöglichen Konsens erzielen; denn wenn wir eines nicht brauchen in dieser Zeit, dann ist das eine kontroverse, zeit- und energieraubende Nabelschau zu institutionellen Fragen.
({6})
Das ginge auch an den Erwartungen vorbei, die die Bürgerinnen und Bürger an ein funktionierendes Europa haben. Die Zeitenwende betrifft auch Europa. Und deshalb: Ja, wir werden die EU weiterentwickeln. Genauso mutig und entschlossen wie unsere nationale Antwort wird auch unsere europäische Antwort darauf ausfallen.
Mit diesem Ziel werde ich in zehn Tagen zum Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs nach Brüssel reisen. Deutschlands Rolle dabei ist für mich ganz klar: Als größtes Land tragen wir besondere Verantwortung für die Einigkeit der Europäischen Union. Und mehr noch: Selten zuvor war unsere Zusammenarbeit mit den wirtschaftsstarken Demokratien, den G 7, so effektiv und so intensiv wie in diesen Tagen und Wochen unter unserem Vorsitz. Deshalb blicke ich voller Zuversicht auf unser Gipfeltreffen Ende Juni in Elmau. Selten zuvor war das Transatlantische Bündnis so eng, so lebendig und so essenziell wie heute. Präsident Biden hat großen Anteil daran, und dafür bin ich sehr dankbar.
({7})
Uns alle eint ein Ziel: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen.
({8})
Darum geht es. Darum geht es bei allem, was wir tun: bei unseren Sanktionen gegen Russland, bei der Aufnahme Millionen Geflüchteter in der Europäischen Union, bei der humanitären, entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine und, ja, auch bei der Lieferung von Waffen einschließlich schwerem Gerät.
Ich weiß: Das ist nicht unumstritten in unserem Land. Auch Sie erleben in Ihren Wahlkreisen sicher viele kontroverse Diskussionen. Sie bekommen Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die sich Sorgen machen. Mir geht es nicht anders. Manchen geht unsere Unterstützung nicht weit genug, anderen wiederum geht sie viel zu weit. Nahezu alle Bürgerinnen und Bürger eint die Sorge um den Frieden in der Ukraine, aber auch hier bei uns. Ich will daher eines ganz deutlich sagen: Einem brutal angegriffenen Land bei der Verteidigung zu helfen, darin liegt keine Eskalation,
({9})
sondern ein Beitrag dazu, den Angriff abzuwehren und damit schnellstmöglich die Gewalt zu beenden.
Noch immer glaubt Putin, dass er einen Diktatfrieden herbeibomben kann. Doch er irrt sich, so wie er sich schon mit Blick auf die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer und die Geschlossenheit unserer Bündnisse und Allianzen geirrt hat. Einen Diktatfrieden wird es nicht geben: weil die Ukrainerinnen und Ukrainer ihn nicht akzeptieren und wir auch nicht.
({10})
Erst wenn Putin das begreift, erst wenn er versteht, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann, wird er bereit sein, ernsthaft über Frieden zu verhandeln. Deshalb stärken wir der Ukraine den Rücken, auch militärisch. Wir tun das überlegt, abgewogen und international eng abgestimmt. Und es bleibt bei dem, was ich den Bürgerinnen und Bürgern am 8. Mai gesagt habe: Es wird keine deutschen Alleingänge geben. Alles, was wir tun, muss Russland mehr schaden als uns selbst und unseren Partnern. Wir unternehmen nichts, was die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Und: Wir werden unsere eigene Verteidigungsfähigkeit sichern und stärken.
({11})
Dafür braucht die Bundeswehr das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Wir sind dazu in guten Gesprächen, auch mit Ihrer Partei, lieber Herr Merz, um das Sondervermögen fest im Grundgesetz zu verankern. Dafür bin ich dankbar. Denn so bringen wir gemeinsam zum Ausdruck – Regierung und Opposition –: Wir stellen uns unserer staatspolitischen Verantwortung. Das Sondervermögen garantiert die Freiheit und Sicherheit unseres Landes in dieser schwierigen Zeit. Mehr noch: Mit dem Sondervermögen senden wir eine klare Botschaft an Freunde und Verbündete: Ja, wir meinen es ernst, wenn wir von Beistandspflicht und kollektiver Verteidigung reden.
({12})
Ja, als bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Nation Europas leistet Deutschland dazu seinen angemessenen Beitrag. Das erwarten unsere Freunde und Alliierten von uns im Rahmen der NATO-Ziele, und dazu sind wir bereit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn wir wissen: Es ist diese Bereitschaft, dieses Bekenntnis, „Einer für alle und alle für einen“, das unser Transatlantisches Bündnis trägt.
({13})
Welch großen Wert diese Gewissheit hat, das zeigt der Wunsch Schwedens und Finnlands, sich der NATO anzuschließen. Und ich sage ohne jedes Zögern: Liebe Freundinnen und Freunde in Schweden und Finnland, ihr seid uns herzlich willkommen. Mit euch an unserer Seite wird die NATO, wird Europa stärker und sicherer.
({14})
Russlands Angriff auf die Ukraine hat auch viele andere Länder Europas dazu gebracht, neu über ihre Sicherheit nachzudenken. Viele investieren seither deutlich mehr in ihre Verteidigung. Oft standen dabei unsere Entscheidungen Pate. Umso wichtiger ist es, dass wir diese nun mit dem Sondervermögen umsetzen. Auf eines werden wir dabei achten: Unsere Verteidigungssysteme und unsere Investitionen müssen auch europäisch enger koordiniert und besser aufeinander abgestimmt werden.
({15})
Wir alle wissen seit Jahren um die teure und ineffiziente Vielzahl unterschiedlichster Waffensysteme in Europa. So kann es nicht weitergehen. Deshalb wollen wir unsere technologischen Möglichkeiten stärker gemeinsam nutzen und die europäische Verteidigungsindustrie enger verzahnen. Über die notwendigen Schritte werden wir beim Sondergipfel Ende des Monats beraten. Es geht um mehr Effizienz und mehr Komplementarität. Nicht zuletzt geht es angesichts der russischen Bedrohung auch darum, jetzt einen großen Schritt Richtung Zukunft zu gehen zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung, die eine starke Säule innerhalb der NATO bleibt.
Den Blick vorauszuwerfen, heißt auch, sich in Sachen Ukraine weiter zu unterhalten. Hoffentlich früher als später wird der Krieg enden. Schon jetzt ist klar: Der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, die Wiederbelebung der ukrainischen Wirtschaft, all das wird Milliarden Kosten. Daher müssen wir als Europäische Union jetzt die Vorarbeiten für einen Solidaritätsfonds beginnen, der sich aus Beiträgen der EU und unserer internationalen Partner speist. Damit werden wir den Ukrainerinnen und Ukrainern helfen, die Zerstörung zu beseitigen, die der Krieg hinterlässt, solidarisch als europäische Freunde und Nachbarn. Bereits beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Versailles haben wir klar gesagt: Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie. Das gilt. Mit dem Solidaritätsfonds werden wir sie auf ihrem europäischen Weg unterstützen und dabei Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und die Demokratie stärken.
Die Ukraine hat beantragt, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Die Kommission wird vor dem Europäischen Rat voraussichtlich Ende Juni ihre Einschätzung zu dem Antrag abgeben. Und zugleich wissen wir alle: Emmanuel Macron hat recht, wenn er darauf hinweist, dass der Beitrittsprozess keine Sache von ein paar Monaten oder einigen Jahren ist. Deshalb wollen wir uns jetzt darauf konzentrieren, die Ukraine schnell und pragmatisch zu unterstützen. Über den besten Weg dafür werde ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen beraten.
({16})
Dass es auf dem Weg in die EU keine Abkürzung gibt, ist auch ein Gebot der Fairness gegenüber den sechs Ländern des westlichen Balkans. Seit Jahren unternehmen sie intensive Reformen und bereiten sich auf den Beitritt vor. Dass wir unsere Zusagen ihnen gegenüber einhalten, ist nicht nur eine Frage unserer Glaubwürdigkeit. Heute mehr denn je liegt ihre Integration auch in unserem strategischen Interesse. Es geht nicht allein um die Sicherheit dieser Region, in der externe Kräfte um Einfluss ringen, nicht zuletzt Russland. Es geht um unsere eigene Sicherheit, die ohne einen stabilen europäischen Westbalkan nicht zu haben ist.
({17})
Daher muss auch die EU jetzt liefern gegenüber dem westlichen Balkan. Und dafür setze ich mich ein: indem ich Gespräche führe, um Fortschritte bei den Verhandlungen zu erreichen und auch innerhalb der EU die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen, indem wir den sogenannten Berliner Prozess wiederbeleben, der die regionale Zusammenarbeit unter den sechs Westbalkanstaaten stärkt, und indem ich noch vor dem Europäischen Rat im Juni in die Region reise, mit der klaren Botschaft im Gepäck: Der westliche Balkan gehört in die Europäische Union.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Thema wird uns bei unserem Gipfel in zehn Tagen intensiv beschäftigen, und auch viele Bürgerinnen und Bürger treibt es um. Es geht um die Sicherheit und Unabhängigkeit unserer Energieversorgung. Es geht um bezahlbare Energie. Beides müssen wir gewährleisten, national und europäisch. Und sowohl national wie auch europäisch behalten wir eines immer im Blick: dass der von Russland verschuldete Preisanstieg niemanden überfordert. Wir lassen niemanden allein!
({19})
Das gilt ganz besonders für die Bürgerinnen und Bürger mit kleinem und mittlerem Einkommen. Sie spüren tagtäglich, dass durch den Krieg nicht nur der Sprit an der Zapfsäule teurer geworden ist,
({20})
sondern auch Lebensmittel, vom Brot bis zum Speiseöl. Und auch Betriebe, die unter den Energiepreisen leiden und denen ihr Russlandgeschäft weggebrochen ist, können sich auf unsere Unterstützung verlassen.
Dafür stehen die beiden Entlastungspakete, die wir schon beschlossen haben und die in den nächsten Wochen wirken: die Abschaffung der EEG-Umlage; die Energiepauschale von 300 Euro; die Zuschüsse für Familien, Wohngeldempfänger, Studierende und Sozialleistungsempfänger; die Entlastungen beim Tanken; das 9‑Euro-Ticket als Anreiz, stärker den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen – all das kommt den Bürgerinnen und Bürgern zugute: direkt, schnell und zielgerichtet.
({21})
Und für die Unterstützung dieser Maßnahmen durch den Bundestag sage ich herzlichen Dank.
Auf europäischer Ebene geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass es keine Engpässe bei der Energieversorgung in einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Das ist ein Gebot europäischer Solidarität. Teil einer europäischen Lösung ist daher auch der Ausbau der transeuropäischen Energienetze. Mittel- und langfristig bleibt der einzig vernünftige Weg, die einzig vernünftige Antwort auf die derzeitigen Probleme am Energiemarkt, dass wir uns unabhängig machen von fossiler Energie.
({22})
Dass wir dabei gemeinsam vorankommen in Europa, hat mein gestriges Treffen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Kommissionspräsidentin von der Leyen im dänischen Esbjerg gezeigt. Wirtschaftsminister Robert Habeck und ich haben mit unseren Kolleginnen und Kollegen vereinbart, die Gewinnung und Nutzung von Windenergie in der Nordsee gemeinsam noch stärker voranzutreiben. Die Kommissionspräsidentin hat dabei ihre Vorschläge erläutert, um Europa unabhängiger von fossilen Energieimporten aus Russland zu machen und den Übergang zu Klimaneutralität voranzubringen. Das ist eine wichtige Initiative der Kommission.
({23})
Wir werden uns die Vorschläge jetzt rasch ansehen und darüber beim Außerordentlichen Europäischen Rat beraten. Wir wollen, dass davon Impulse ausgehen zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien, für mehr Energieeffizienz und für die industrielle Transformation.
({24})
Auch das „Fit for 55“-Paket der EU spielt hier eine entscheidende Rolle. Es muss vollständig verabschiedet werden, so schnell wie möglich. Unser Ziel ist klar: Wir wollen und wir werden die Souveränität Europas auch in Energiefragen erhöhen und Europas Klimaziele erreichen.
({25})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur an dieser Stelle zeigt sich, wie tiefgreifend die Folgen des russischen Krieges sind, weit über die Sicherheitspolitik hinaus: bei der Energieversorgung, bei den Rohstoffpreisen, bei der weltweiten Versorgung mit Nahrungsmitteln – viele Länder in der Welt müssen sich Sorgen machen, wie das weitergeht angesichts des Kriegs in der Ukraine – und in vielen anderen Bereichen unseres Lebens.
Ich habe daher schon zu Beginn des russischen Angriffs gesagt: Die Folgen dieses Krieges treffen auch uns. Und zugleich bin ich fest davon überzeugt: Wir werden die Folgen bewältigen, hier bei uns in Europa und auch weltweit, weil wir ein starkes Land sind mit starken Partnern und Allianzen, vor allem aber, weil wir wissen, was wir verteidigen: Frieden, Freiheit und Recht.
Schönen Dank.
({26})
Ich eröffne nun die Aussprache, und als Erster hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen.“
({0})
– Beruhigen Sie sich doch mal! – Das war ein Zitat des Bundeskanzlers aus einem Interview. Es antwortete auf die Frage, wann er denn jetzt nach Kiew reisen wolle. Herr Bundeskanzler, wen meinen Sie denn mit dieser „Gruppe von Leuten“? Meinen Sie damit – –
({1})
– Bei Ihnen liegen aber nach dem letzten Wahlsonntag die Nerven wirklich blank.
({2})
Ich frage Sie noch mal, Herr Bundeskanzler: Wen meinen Sie denn damit? Das sind jetzt immerhin keine Jungs und Mädels mehr, die Sie da apostrophieren, sondern eine bestimmte Gruppe von Leuten. Also, ist das die Bundestagspräsidentin? Oder sind das die drei Ausschussvorsitzenden? Ist das der Generalsekretär der Vereinten Nationen? Ist das Nancy Pelosi, die Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses? Sind das die Ministerpräsidenten aus Polen, Tschechien und Slowenien? Oder ist es etwa die Bundesaußenministerin, die heute aus guten Gründen hier nicht dabei sein kann?
Sie sprechen immer, auch in Ihrer Rede heute, so viel von Respekt. Ich möchte an dieser Stelle einfach denjenigen, die aus Deutschland diese Reise gemacht haben – der Bundesaußenministerin und der Bundestagspräsidentin –, einmal herzlichen Dank sagen und Respekt ausdrücken, dass sie diese Reise gemacht haben. Herzlichen Dank dafür!
({3})
– Auch aufschlussreich, dass da jetzt nur die Unionsfraktion klatscht, nicht? Aber gut.
Meine Damen und Herren, die Ukraine braucht auch weiterhin die Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft. Und das haben Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihrer Regierungserklärung heute richtig und zutreffend zum Ausdruck gebracht. Das brutale Morden an der Bevölkerung der Ukraine und die sinnlose Zerstörung dieses Landes durch die russische Aggression gehen täglich weiter. Wir begreifen jeden Tag mehr, wie furchtbar dieser Krieg ist und wie tiefgreifend er die politische Ordnung nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt verändern wird.
Vor diesem Hintergrund ist es gut und richtig, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in der übernächsten Woche zu einem außerordentlichen Treffen zusammenkommen. Der Deutsche Bundestag hat Ihnen, Herr Bundeskanzler, auf dem Weg dorthin mit der gemeinsamen Entschließung, die wir mit großer Mehrheit am 28. April verabschiedet haben, eine Grundlage gegeben, welche Schritte wir aus der Mitte des Parlaments hier in Deutschland für richtig und für notwendig halten. Wir wollen und wir müssen dem Land finanziell und humanitär weiter helfen.
({4})
Ich will an dieser Stelle herzlichen Dank sagen an alle humanitären Organisationen in Deutschland, aber auch an die vielen Familien, die geflüchtete Frauen und Mütter mit ihren Kindern aufnehmen, ihnen Schutz und Zuflucht in Deutschland gewähren. Dies ist ein großartiges Zeichen unseres Landes.
({5})
Wir wollen einvernehmlich hier in diesem Haus mit Sanktionen dafür sorgen, dass dieses Putin-Regime getroffen wird, dass der gesamte militärisch-industrielle Komplex dieses Landes so hart wie möglich getroffen wird. Und, meine Damen und Herren, auch das ist Konsens hier in diesem Haus – jedenfalls in der politischen Mitte dieses Hauses –: Wir wollen und wir müssen der Ukraine mit Waffen helfen, damit dieses Land sein Recht zur Selbstverteidigung wahrnehmen kann.
({6})
Nun stellen sich allerdings in diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, eine ganze Reihe von Fragen. Sie haben richtigerweise in Ihrer Regierungserklärung hier betont, dass mit diesen Waffenlieferungen an die Ukraine keine Eskalation dieses Konfliktes verbunden ist. Die Einschätzung teilen wir. Aber warum erwähnen Sie denn in Interviews mehrfach hintereinander genau diesen Sachverhalt und nennen Waffenlieferungen aus Europa und aus Deutschland als einen möglichen Auslöser für eine Eskalation? Das passt doch nicht zusammen, was Sie heute Morgen hier gesagt haben und was Sie immer wieder auch in Interviews zu diesem Thema sagen.
({7})
Und dann erwecken Sie den Eindruck, dass diese Waffenlieferungen stattfinden. Die Wahrheit ist doch, dass aus Deutschland in den letzten Wochen so gut wie nichts an Waffen geliefert worden ist. Wir wissen es doch; wir können doch die Dokumente einsehen. Es wird praktisch nichts geliefert. Stattdessen versprechen sie den Gepard. Das ist ein Waffensystem, das die Ukraine gar nicht haben wollte. Das ist das komplizierteste Waffensystem, das es überhaupt gibt. Und für dieses Waffensystem gibt es keine Munition.
({8})
Was treiben Sie denn da für ein Spiel, auch mit der deutschen Öffentlichkeit, wenn es um diese Waffenlieferungen geht?
({9})
Sie sprechen seit Wochen von einem sogenannten Ringtausch, der da vonstattengehen soll. Der hat bis heute nicht stattgefunden. Sie erklären, dass Unternehmen, die noch Waffensysteme auf ihren Höfen stehen haben, liefern dürfen.
({10})
Seit Wochen beklagen diese Unternehmen mittlerweile öffentlich, dass sie die Exportgenehmigungen der Bundesregierung für diese Waffenlieferungen nicht bekommen. Was ist da eigentlich los? Welches doppelte Spiel wird da eigentlich in Ihrer Regierung betrieben, meine Damen und Herren?
({11})
Meine Damen und Herren, ich bin geneigt, Herrn Hofreiter hier noch mal zu zitieren, der, wie ich finde, in diesem Zusammenhang gar nicht zu Unrecht, gesagt hat: „Das Problem sitzt im Kanzleramt.“ Und so scheint es in der Tat zu sein.
({12})
Sie sprechen dann gleichzeitig der Bundesverteidigungsministerin Ihr Vertrauen aus, einer Ministerin, die seit Wochen mehr mit Selbstverteidigungs- als mit Verteidigungspolitik beschäftigt ist.
({13})
Am letzten Wochenende ist ein Bericht in der Presse erschienen, meine Damen und Herren, der nun endgültig belegt, dass diese Ministerin das Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht mehr erreichen wird.
({14})
Deswegen gebe ich Ihnen den Rat: Trennen Sie sich von dieser Ministerin so schnell wie möglich.
({15})
Sie werden es sowieso irgendwann in den nächsten Wochen und Monaten machen müssen. Also machen Sie es bald, damit es mit der Bundeswehr auch wieder wirklich vorangehen kann.
({16})
Vor diesem Hintergrund werden Sie verstehen, dass wir im Zusammenhang mit dem Vorschlag eines Sondervermögens über 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr besonders sorgfältig umgehen. Ja, wir sind in Gesprächen. Ob das gute Gespräche sind, sei einmal dahingestellt. Wir sind uns jedenfalls bisher nicht einig. Gut sind sie nur in einer Hinsicht: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die einzige Fraktion in diesem Bundestag, die bei Ihnen ist bei dem, was Sie in Ihrer Regierungserklärung am 27. Februar gesagt haben, nämlich 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und dauerhaft mehr als 2 Prozent unseres BIP in jedem Jahr für die Verteidigung. Wir sind die einzige Fraktion, die Ihnen auf diesem Weg uneingeschränkt folgen will.
({17})
Den Widerspruch gibt es nicht von uns; den gibt es aus Ihren Regierungsfraktionen, Herr Bundeskanzler.
({18})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Beschaffungssystem angesprochen. Wir sind uns mit Ihnen einig, dass wir daran wirklich etwas Grundlegendes ändern müssen. Wir können diese 100 Milliarden Euro nicht noch einmal so – –
({19})
– Was ist denn da Grund zur Aufregung? – Wir sind uns mit Ihnen einig, dass wir dieses Beschaffungssystem ändern wollen. Ich möchte nur heute, fast drei Monate nachdem Sie den Vorschlag gemacht haben, einmal feststellen: Es gibt aus Ihrer Koalition bis heute keinen einzigen Vorschlag dazu, wie das denn gehen soll.
({20})
Also, die Beschwörung einer Notwendigkeit, was da alles geändert werden muss, ist das eine. Aber praktische Politik in der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sehen wir bis heute nicht, meine Damen und Herren.
({21})
Dann lassen Sie mich abschließend einige Themen ansprechen, die Sie nur am Rande oder gar nicht angesprochen haben.
Ja, wir sind der Meinung, dass der Westbalkan in die Europäische Union aufgenommen werden sollte.
Wir sind mit Ihnen der Meinung, dass die Ukraine eine Perspektive für einen Beitritt in die Europäische Union haben muss.
({22})
Aber was sagt denn die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland auf diese Frage? Sind Sie für einen Kandidatenstatus der Ukraine, oder sind Sie es nicht?
({23})
Es wäre heute Morgen doch eine gute Gelegenheit gewesen, das hier im Deutschen Bundestag mal zu sagen.
Wie stehen Sie zu dem Wunsch der Ukraine, nach diesem Krieg, den wir hoffentlich bald zu Ende gehen sehen, Sicherheitsgarantien auch aus Deutschland zu bekommen? Sind Sie bereit, solche Sicherheitsgarantien zu geben, ja oder nein?
Wie soll der Wiederaufbau der Ukraine denn finanziert werden? Sie sagen: durch einen Solidaritätsfonds. Mit diesem Gedanken können wir uns durchaus anfreunden. Aber wie soll dieser Solidaritätsfonds denn finanziert werden? Sind Sie mit Teilen der EU-Kommission der Auffassung, dass dies mit zusätzlichen neuen Schulden der Europäischen Union gemacht werden soll, oder sind Sie dagegen?
({24})
Sagen Sie uns doch Ihre Meinung zu diesen zentralen Themen, um die es dann auch geht in der Welt von morgen nach diesem Krieg.
({25})
Zwei letzte Anmerkungen. Der französische Staatspräsident hat bei seinem Besuch hier in Berlin ja vorgeschlagen, ein neues System der Integration und der Heranführung verschiedener Staaten an die Europäische Union zu entwickeln. Er hat davon gesprochen, die Demokratien der Welt um die Europäische Union herum zu einen. Wie soll das denn gehen? Wir sind dafür, dass das stattfindet. Aber wie soll es denn institutionell gehen? Sind Sie der Meinung, dass zum Beispiel der Europäische Wirtschaftsraum gestärkt werden soll, dass die EFTA möglicherweise ein Instrument sein könnte? Sind Sie der Auffassung, dass Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf den Weg gebracht werden sollten, um die Heranführung an die Europäische Union zu ermöglichen? Und dann haben Sie über eine Zuständigkeit der Europäischen Union überhaupt nicht gesprochen, die Sie nämlich neben der Währungspolitik fast ganz alleine hat, bei der sie aber auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten angewiesen: Sie haben kein Wort über die Handelspolitik verloren.
({26})
Meine Damen und Herren, ja, wir brauchen Energie. Wir brauchen Gas, wir brauchen Kohle, wir brauchen Öl aus vielen anderen Ländern der Welt. Der Bundeswirtschaftsminister ist in Katar unterwegs, um Gaslieferungen nach Deutschland zu ermöglichen. Aber warum um Gottes willen lehnen Sie bis in diese Woche hinein die Befassung des Deutschen Bundestages mit dem fertiggestellten Freihandelsabkommen mit Kanada immer wieder ab?
({27})
Gestern im Wirtschaftsausschuss weigert sich die Mehrheit Ihrer Koalition, dieses Abkommen auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen. Es weigert sich die Mehrheit Ihrer Koalition auch, einmal über die Frage zu sprechen, wie wir denn die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika weiterentwickeln sollen. Mit Katar Gaslieferungen zu vereinbaren und mit Kanada kein Abkommen über den Freihandel abzuschließen – Herr Bundeskanzler, Ihre Politik wird nicht glaubwürdiger dadurch, dass Sie diese Art und Weise zulassen.
({28})
Zum Schluss. Sie verlieren kein Wort über den Umgang der Europäischen Union mit den zwei größten Ländern dieser Welt, nämlich mit Indien und mit China – zwei Länder, die sich in der Vollversammlung der Vereinten Nationen ihrer Stimme enthalten haben, als es um die Verurteilung der Aggression Russlands ging. Wie soll diese Europäische Union ihre Beziehungen zu Indien und China denn entwickeln angesichts dieser Weigerung, sich auf die Seite der freiheitlichen und demokratischen Staaten der Welt zu stellen? Darauf muss Europa doch eine Antwort geben. Und Europa kann nur eine Antwort geben, wenn es dazu eine Vorstellung der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gibt. Ohne Sie wird das nicht gehen, Herr Bundeskanzler. Sie müssen dazu etwas sagen.
({29})
Deswegen – lassen Sie mich zu der Schlussfolgerung kommen –: Wenn „Zeitenwende“ wirklich der Epochenwandel ist, den Sie in Ihrer Regierungserklärung am 27. Februar hier von dieser Stelle aus beschrieben haben, dann bleibt jedenfalls die heutige Regierungserklärung von Ihnen weit hinter den Notwendigkeiten zurück,
({30})
um eine solche Zeitenwende wirklich aktiv zu gestalten. Da muss mehr kommen, Herr Bundeskanzler. Das reicht nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
({31})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Merz, ich frage mich, warum Ihre Reden in diesen Generaldebatten eigentlich immer beginnen wie Bierzeltreden.
({0})
Ich finde das der Debatte einfach nicht angemessen.
({1})
Wir sind hier der Deutsche Bundestag. Wir tragen hier Verantwortung für dieses Land mitten in Europa in einer Zeit, in der der Frieden in Europa so sehr herausgefordert wird wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es ist unangemessen, so zu beginnen.
({2})
Es ist angemessen, mit dem zu beginnen, was hier wirklich vor uns liegt.
Wir sind in einer Zeit, in der es die Europäische Union so dringend braucht wie nie zuvor. Wir sind in einer Zeit, in der es europäische Einigkeit, Geschlossenheit und Entschlossenheit so dringend braucht wie nie zuvor. Angesichts der Aggression von Putin, angesichts eines Krieges gegen die Ukraine, der mit aller Brutalität geführt wird, ist es so wichtig und richtig, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier gemeinsam und geschlossen stehen.
({3})
Ja, es sind keine einfachen Entscheidungen, die wir in diesen Tagen treffen müssen, und ich verstehe jeden, der angesichts dieser Entscheidungen mit sich ringt. Aber: Wenn man sich ernsthaft mit dem auseinandersetzt, was da in der Ukraine gerade passiert, dann kann Nichthandeln keine Option sein. Denn Nichthandeln heißt, weiter zuzulassen, was in Butscha, was in Mariupol und was in vielen anderen Orten in der Ukraine täglich passiert. Nicht zu handeln, heißt, einen Krieg zuzulassen, der keine Grenzen kennt, einen Krieg zuzulassen, in dem Folter und Vergewaltigung Mittel des Krieges gegen die Menschen in der Ukraine sind, einen Krieg zuzulassen, in dem nach dem Rückzug der russischen Truppen sichtbar wird, dass die Straßen mit Leichen übersät sind. Diesen Krieg zuzulassen, hieße, weiter die Verschleppung von Kriegsgefangenen nach Russland zuzulassen, mit einem ungewissen Schicksal. Diesen Krieg zuzulassen, hieße, dass weiter Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Und: Diesen Krieg zuzulassen, hieße auch, weiterhin einen Präsidenten machen zu lassen, der selbst den globalen Hunger, selbst die Versorgung der ärmsten Länder dieser Welt mit Nahrungsmitteln zu einem Mittel seines Krieges gegen den Rest der Welt gemacht hat. Da ist es wichtig und richtig, dass wir dem gemeinsam ein Stoppzeichen entgegensetzen.
({4})
Es ist unsere Aufgabe, das zu tun. Und es war so wichtig, dass die deutsche Außenministerin in der vergangenen Woche in Kiew für die ganze Bundesregierung noch einmal deutlich gemacht hat: Wir arbeiten jeden Tag an weiteren Maßnahmen, an noch mehr Unterstützung für die Ukraine.
({5})
Unsere Botschaft an Putin ist: Wir werden niemals aufhören, die Ukraine zu unterstützen. Unsere Unterstützung gilt, solange sie notwendig ist.
({6})
Ja, das heißt Lieferung von schweren Waffen; denn die Ukraine muss sich verteidigen können. Und das heißt, weitere wirtschaftliche Sanktionspakete zu beschließen. Fünf hat die Europäische Union schon geschafft, fünf, mit denen wir schnell, entschlossen und konsequent Russland, soweit es geht, im globalen Handel isoliert haben. Jetzt steht ein sechstes Sanktionspaket an, eines, mit dem wir weitere russische Banken vom Finanzsystem abkoppeln werden, und es steht auch an, dass sich die Europäische Union auf einen Weg für ein Ölembargo einigt; denn die Abkopplung von fossilen Importen aus Russland ist das stärkste Instrument, das wir Russland wirtschaftlich entgegensetzen können.
({7})
Ja, es ist auch eine Zeit, in der die Europäische Union gezeigt hat, was sie kann. Sie hat gezeigt, dass sie Grenzen öffnen kann. Sie hat gezeigt, dass es möglich ist, in so einer Krise die Menschen aus der Ukraine hier aufzunehmen, ihnen Schutz zu bieten: einfach, unbürokratisch, schnell, unkompliziert. Ich finde, das muss der Maßstab auch dann sein, wenn Menschen aus anderen Regionen der Welt vor Krieg, Terror und Folter zu uns fliehen. Dann muss die Europäische Union diesen Maßstab auch zum Maßstab ihres Handelns machen.
({8})
Ja, wir müssen die Ukraine auf ihrem Weg in die Europäische Union unterstützen. Ich bin sehr froh, dass der Deutsche Bundestag in der letzten Sitzungswoche dieses Signal gemeinsam und so entschlossen ausgesendet hat. Denn die Europäische Union steht gerade jetzt für das Gegenteil von dem, wofür Russland steht. Die Europäische Union ist ein Projekt des Friedens, eine Gemeinschaft des Rechts und eine Gemeinschaft gemeinsamer Werte. Für uns sind Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte das Fundament, auf dem wir die Europäische Union aufgebaut haben; und das müssen wir jetzt umso dringender verteidigen.
({9})
Angesichts der russischen Aggression stehen wir auch in Sicherheitsfragen geschlossener zusammen denn je. Deshalb freue ich mich über die Entscheidung von Finnland und Schweden, jetzt der NATO, jetzt einem gemeinsamen Sicherheitsbündnis beizutreten.
({10})
Wir werden hier im Deutschen Bundestag, so schnell es geht, handeln, um diesen Beitritt zu ermöglichen.
Wir werden als Ampelfraktionen auch jetzt, in dieser Zeit, mehr in unsere gemeinsame Sicherheit investieren. Aber, Herr Merz, es geht um gemeinsame Sicherheit, und deswegen finde ich es völlig unverständlich, dass Sie ausgerechnet in dieser Zeit als Unionsfraktion aus einer Grundgesetzänderung, die dem Deutschen Bundestag vorliegt, das Bekenntnis zur Stärkung der Bündnisfähigkeit streichen wollen.
({11})
Was ist das für ein Signal an die NATO-Partner/-innen?
({12})
Was ist das für ein Signal an die Länder, die gerade Mitglied der NATO werden wollen, dass Sie das, worauf wir in der NATO unsere kollektive Sicherheit begründet haben, aus dieser Grundgesetzänderung streichen wollen? Sicherheit im 21. Jahrhundert denkt man nicht mehr national, sondern gemeinsam.
({13})
Es ist das Schicksal dieser Generation, die heute politische Verantwortung trägt, dass wir zwei Krisen gleichzeitig lösen müssen. Auf der einen Seite müssen wir die Frage der Sicherheit in Europa beantworten, und auf der anderen Seite nimmt die Klimakrise mit unbarmherziger Geschwindigkeit zu. Der Blick nach Indien und Pakistan, wo Menschen seit über zwei Monaten unter beispielloser Hitze leiden, zeigt, wie real die Klimakrise jetzt schon ist, wie sehr der Planet schon jetzt unter dem leidet, was wir durch unser Handeln in den letzten Jahrzehnten verursacht haben. Deswegen ist es jetzt so dringend, alles dafür zu tun, hier umzusteuern.
({14})
Da passen unsere Antworten sogar zusammen; denn die Frage der Energiesouveränität von Europa ist gleichzeitig auch eine Frage der Souveränität und Unabhängigkeit von den Fossilen. Diese Frage müssen auch Sie als Union beantworten; zu diesem Thema habe ich von Ihnen in Ihrer Rede nichts gehört, Herr Merz. Jetzt ist die Zeit, um gemeinsam in der Europäischen Union zu investieren in den Ausbau der erneuerbaren Energien. Jetzt ist die Zeit, zu investieren in eine Wasserstoffwirtschaft, die Ernst damit macht, dass die Wirtschaft auf eine klimaneutrale Produktion umstellen kann.
({15})
Jetzt ist die Zeit, zu investieren in einen Ausstieg aus fossilem Gas. Das Thema Energieeffizienz ist ein zentrales Klimathema; aber es ist auch ein zentrales Wirtschaftsthema. Das müssen wir gemeinsam europäisch beantworten.
({16})
Ja, wer es ernst meint mit der Unabhängigkeit von Russland, der muss auch mit der deutschen Wirtschaft ernsthaft sprechen: Den Glauben, dass wir irgendwann in den nächsten zwei oder drei Jahren wieder damit anfangen können, Gas, Kohle oder Öl aus Russland zu kaufen, den muss ich Ihnen nehmen. Es ist die klare Ansage – stellen Sie sich darauf ein –: Wir werden nie wieder so abhängig von Fossilen aus Russland, wir werden nie wieder so abhängig von Gas aus Russland; und darauf müssen Sie sich vorbereiten.
({17})
Das heißt etwas für die Lieferketten; ich weiß das. Das wird nicht einfach. Wir können über politische Unterstützung reden; aber glauben Sie nicht daran, dass wir auf diesem Weg noch einmal umkehren werden. Das schulden wir der Sicherheit in Europa, das schulden wir auch der Zukunft unserer Kinder mit Blick auf die Unabhängigkeit von Fossilen. Das ist die gemeinsame Antwort, die Sie und wir zusammen geben müssen.
({18})
Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Dr. Alice Weidel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland steckt politisch, wirtschaftlich und finanziell in einer der schwersten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Inflation ist dauerhaft auf hohem Niveau angekommen und stranguliert Mittelstand und Mittelschicht. Das wurde heute mit keinem Wort erwähnt. Unsere Energieversorgung steht auf der Kippe. Im Herbst droht ein ubiquitärer Zusammenbruch. Die Migrationskrise ist ungelöst, der Ansturm illegaler Migration übers Mittelmeer und über die Landrouten erreicht neue Höchststände.
({0})
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Katalysator, der die Krise zugespitzt hat und die Defizite unserer Militär- und Sicherheitspolitik offenlegt.
({1})
Und dass Ihre Koalition sich nicht einmal darauf einigen kann, die für die Bundeswehr vorgesehenen 100 Milliarden Euro tatsächlich in unsere eigene Armee zu stecken, zeigt, dass die Botschaft noch immer nicht bei Ihnen angekommen ist.
({2})
Die Ursache der Krise ist aber eine ganz andere, und zwar eine falsche, fehlgeleitete Politik. Die Energiewende hat mit dem gleichzeitigen Ausstieg aus Atomkraft und Kohlenutzung die Energiepreise hochgetrieben und die einseitige Abhängigkeit von russischem Erdgas erst verursacht. Sie saßen da in der Regierung, Kanzler Scholz.
({3})
Verantwortungslose Schuldenpolitik, verbotene monetäre Staatsfinanzierung und die Nullzinspolitik der EZB, infolgedessen die Abwertung des Euros und dadurch erhöhte Importpreise sind doch die eigentliche Ursache der Inflation. Auch das wurde hier heute nicht erwähnt.
Die repressive Coronapolitik und undurchdachte Sanktionen haben Lieferketten zerbrochen und das Angebot verknappt, während die Geldmenge explodiert. Der Verfall des Euros raubt den Bürgern Kaufkraft und Wohlstand.
Härtere Klimaziele und der forcierte Ausbau sogenannter erneuerbarer Energien werden uns nicht unabhängiger machen, sondern die Energiekrise sogar noch verschärfen.
({4})
Härtere Klimaziele werden unseren Haushalt plündern. Sie werden unseren Haushalt so belasten, wie wir es noch nicht gesehen haben.
Und Sie werden nicht weitermachen können mit den Schulden; denn staatliche Schulden heizen die Inflation immer mehr an und verdrängen die private Nachfrage.
Die Russlandsanktionspakete sind kontraproduktiv. Sie schaden Deutschland und Europa mehr als Russland. Ein Öl- und Gasembargo gegen Russland wäre vollends ruinös; denn ein tragfähiger Ersatz für die ausfallenden Lieferungen steht in den Sternen.
Hoch gefährlich sind Pläne, das Einstimmigkeitsprinzip in zentralen Fragen abzuschaffen. Das ist eine antidemokratische Entmündigung der Nationalstaaten.
({5})
Gemeinsame Schulden für den Wiederaufbau der Ukraine sind nichts anderes als ein weiterer Ausbau der Schuldenunion zulasten der deutschen Steuerzahler.
Und unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Desinformation und Missbrauch betreibt die EU die Totalüberwachung der privaten Kommunikation.
({6})
Darüber hinaus plant man auch noch ein EU-weites Vermögensregister, um alle privaten Besitztümer zu erfassen. Das ist ein weiterer Schritt zur Enteignung der Bürger, um ihnen die Flucht aus dem verfallenen Inflationsgeld in Sachwerte zu verbauen.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie zum EU-Ratstreffen fahren, dann lautet Ihre vornehmste Pflicht, deutsche Interessen zu wahren und diesen Bestrebungen entgegenzutreten.
({7})
Räumen Sie der Bekämpfung der Inflation und der Sicherung der Energieversorgung oberste Priorität ein. Die Inflation beraubt die Bürger. Sie ist die unsozialste aller Steuern. Sie ist eine kalte Vermögensteuer, die vor allem die arbeitende und produktive Mitte von Wirtschaft und Gesellschaft trifft. Inflation bekämpft man nicht mit Umverteilung, sondern mit weniger Schulden, Steuersenkungen und Konzentration auf strategische Kernaufgaben des Staates.
Verlassen Sie also den Irrweg der Energiewende. Sorgen Sie dafür, dass Kohle- und Kernkraftwerke weiterlaufen und abgeschaltete Reaktoren wieder hochgefahren werden; denn laut EU ist Atomkraft grün und CO2-neutral.
({8})
Und vor allem: Tun Sie alles, um den Krieg in Europa schnell zu beenden. Wir teilen Ihre Sorge vor einer Eskalation. Sie haben festgestellt, dass Russland nicht gewinnen darf, aber als Atommacht auch nicht in eine ausweglose Lage gedrängt werden sollte. Der Krieg in der Ukraine ist nicht unser Krieg. Wir dürfen uns von Parolen, Propaganda und Emotionen nicht fortreißen lassen,
({9})
sondern müssen unsere eigenen Interessen vertreten, und die sind Waffenstillstand und Frieden.
({10})
Der Ukrainekrieg hat ein Stadium erreicht, in dem statt ständig neuer Waffenlieferungen der Verhandlungsweg beschritten werden muss, um einen jahrelangen Abnutzungskrieg zu verhindern.
Stellen Sie sich den extremen grünen Gefühlspolitikern entgegen, die vom infantilen Pazifismus umstandslos auf moralisierenden Bellizismus umgeschaltet haben.
({11})
Und erinnern Sie Ihre Minister daran, dass inhaltsleere Phrasen noch keine Außenpolitik sind. Wer nach Kiew fährt, muss auch nach Moskau fahren, um Gesprächsfäden wieder aufzunehmen. Beschreiten Sie bitte den Weg der Vernunft.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Christian Dürr.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 84 Tage Krieg in der Ukraine. Man befürchtet 10 000 tote Zivilistinnen und Zivilisten, mindestens 10 000 tote ukrainische Soldaten und über 15 000 Verwundete, 13 Millionen Geflüchtete oder Vertriebene im eigenen Land. Über 30 Prozent der Infrastruktur der Ukraine sind zerstört. Die Lage in der Ukraine ist eine Tragödie. Der Angriffskrieg Russlands bleibt, meine Damen und Herren, für immer unentschuldbar. Und ich sage eins an dieser Stelle: Wir dürfen uns an die Bilder aus der Ukraine nicht gewöhnen.
({0})
Das sage ich insbesondere vor dem Hintergrund der Rede meiner Vorrednerin. Wir in Deutschland, die Europäische Union, der gesamte Westen, wir müssen alles tun, was wir können, um diesen Krieg zu beenden und die Integrität der Ukraine wiederherzustellen, meine Damen und Herren. Das ist humanitäre Verpflichtung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es ist jetzt gerade unsere Aufgabe, die europäischen Werte der Freiheit, der Selbstbestimmung und der wirtschaftlichen Eigenständigkeit aufzuzeigen. Wir teilen diese Werte mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Deshalb ist es das richtige Zeichen, meine Damen und Herren, der Ukraine jetzt den europäischen Weg aufzuzeigen. Auch das will ich deutlich sagen.
({2})
Die Konsequenzen dieses Krieges für die internationale Ordnung sind dramatisch; denn das Alte kommt nicht wieder. Die alte Welt, auch die alten Beziehungen zu Russland werden so nicht wiederkommen. Es geschieht übrigens nun das, was Russland immer verhindern wollte: Wir stehen als westliche Verbündete zusammen. Dass Schweden und Finnland jetzt den Beitritt zur NATO beantragt haben, meine Damen und Herren, ist ein richtiges und gutes Zeichen. Wir heißen Finnland und Schweden in der NATO sehr herzlich willkommen. Auch das muss deutlich gesagt werden.
({3})
Was uns als Europäerinnen und Europäer, was uns als Europäische Union in dieser Phase so wichtig ist, ist, dass wir die richtigen Zeichen setzen. Das bereits vorgesehene Ölembargo müssen wir jetzt gemeinsam durchsetzen. Sowohl der entsprechende Beschluss der G‑7-Staaten als auch die Bemühungen der EU, aus russischem Öl auszusteigen, sind das richtige Zeichen. Der Beschluss des europäischen Ausstiegs und die Unabhängigkeit von russischen Rohstoffimporten sind ein Meilenstein. Es gilt jetzt, alles dafür zu tun, diesen Beschluss so schnell es geht umzusetzen. Es kommt uns als Europäerinnen und Europäer eine ganz entscheidende Rolle zu; auch in der Welt, nicht nur innerhalb der Europäischen Union.
Wir müssen darüber hinaus erkennen, dass die Auswirkungen des Krieges weit über Europa hinausgehen. Es ist daher die globale Verantwortung der EU, insbesondere auch das Thema Nahrungsmittelknappheit in der Welt zu adressieren. In Europa beobachten wir eine starke Inflation. Anderswo bedeutet dieser Krieg eine existenzielle Ernährungskrise. 47 Millionen Menschen sind zusätzlich vom Hunger bedroht. Auch der Hunger in der Welt, meine Damen und Herren – auch das will ich sagen –, ist eine Waffe Russlands in diesem Krieg. Wir müssen verstehen: Das, was hier als Inflation daherkommt, bedeutet woanders ganz konkret Hunger. Wir sollten gerade als Europäische Union und Deutschland unseren Beitrag leisten, dagegen anzugehen. Wir haben in Europa und in Deutschland eine sehr starke Landwirtschaft. Auch die brauchen wir an dieser Stelle jetzt.
({4})
Es geht in diesem Sommer um die Ernährungssicherheit in der gesamten Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ich will etwas Zweites für die Zukunft ansprechen: Es wird jetzt bei den Verabredungen innerhalb Europas auch um die Frage des Wiederaufbaus der Ukraine gehen. Die direkte finanzielle und militärische Unterstützung steht jetzt selbstverständlich im Vordergrund. Aber die Lieferung von Waffen, die jetzt richtig ist, hat ja ein Ziel, meine Damen und Herren. Jetzt schwere Waffen zu liefern – ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass diese Entscheidung getroffen worden ist –, hat ein Ziel; ich will das in aller Klarheit sagen.
Ich sprach vorhin über die Integrität der Ukraine. Aber wir müssen auch jetzt darüber hinaus auf den Aufbau der Ukraine insgesamt blicken, meine Damen und Herren.
({6})
Wenn wir davon reden, dass die europäische Freiheit in der Ukraine verteidigt wird, dann müssen wir auch sagen, wofür – nämlich dafür, dass Menschen dort in Zukunft in Wohlstand leben können. Das ist das Ziel der Menschen in der Ukraine. Wir wollen, dass die Ukraine wieder frei ist. Was wir uns immer bewusst machen müssen: Die Menschen in der Ukraine kämpfen für ein Danach in Freiheit und Wohlstand, meine Damen und Herren, und dabei unterstützen wir sie.
({7})
Dabei kommt uns natürlich unsere wirtschaftliche Stärke als Westen und Deutschland zugute. Diese wirtschaftliche Stärke ist zurzeit auch unsere geopolitische Stärke, meine Damen und Herren.
({8})
Herr Kollege Merz, ich will zum Schluss meiner Rede sagen: All das, was Sie hier gesagt haben, war weniger eine Abrechnung mit der Bundesregierung, es war eine Abrechnung mit Ihrer eigenen Regierungsverantwortung als CDU/CSU.
({9})
Das war es in Wahrheit.
Wissen Sie, Herr Merz, ich hätte mir von Ihnen etwas anderes gewünscht, da die Union selbst 16 Jahre Verantwortung für die Bundeswehr und für die Soldatinnen und Soldaten in Deutschland getragen hat.
({10})
Ich hätte mir etwas anderes gewünscht, meine Damen und Herren, wenn man selbst das 2‑Prozent-Ziel in Regierungsverantwortung fast nie erwähnt und in jedem Fall haushalterisch nie hochgehalten hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Ich hätte mir etwas anderes gewünscht – auch vor dem Hintergrund, dass Sie jetzt zum Glück mit dem Beitritt zu unserem Antrag zum Thema „Waffenlieferung, Beitrittsperspektive usw.“ in der vorvergangenen Sitzungswoche einen anderen Kurs eingeschlagen haben und als CDU/CSU-Bundestagsfraktion jetzt glücklicherweise entschieden haben, bei einer Verfassungsänderung keinen Abzählreim mehr aufzuführen, Herr Kollege Merz.
({12})
Ich will eines zum Schluss sagen: Wir als Ampelkoalition haben hier tatsächlich eine Zeitenwende eingeleitet. Wir liefern Waffen in Kriegsgebiete. Wir brechen die wirtschaftlichen Beziehungen mit einem ehemaligen Handelspartner ab. Wir investieren massiv in unsere Armee. Das hat es vorher nicht gegeben.
Perikles hat einmal gesagt: Der Schlüssel zum Glück ist die Freiheit. Der Schlüssel zur Freiheit ist der Mut. – Seien wir gemeinsam mutig!
Ich danke Ihnen.
({13})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Amira Mohamed Ali.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch heute, auch in diesen Minuten, sterben in der Ukraine Menschen. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands, dieser Krieg, bringt jeden Tag unvorstellbares Leid. So viele Menschen sind schon gestorben. Tausende stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Tausende sind auf der Flucht. Ihnen gehört unsere unumstößliche Solidarität.
({0})
Dank gilt vor allem denjenigen, die jetzt große Hilfsbereitschaft zeigen, die sich selbstlos einsetzen für diese Menschen in Not. Das ist so wichtig.
Klar ist: Dieser Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden. Klar ist auch: Putin darf ihn nicht gewinnen.
({1})
Aber wer ernsthaft glaubt, dass man Russland, die größte Atommacht der Welt, mit militärischen Mitteln in die Knie zwingen kann, der irrt einfach. Im Gegenteil: Das ist ein hochgefährlicher Kurs.
({2})
Oft wird in der aktuellen Debatte aber leider so getan, als gäbe es nur die Alternativen zwischen militärischem Sieg und Kapitulation der Ukraine. Wir erleben sogar immer wieder, dass diejenigen, die über sofortige diplomatische Bemühungen auch nur sprechen, in die Nähe Putins gerückt werden, besonders wenn das politisch passt. Aber das ist doch Quatsch. Diese Art der Auseinandersetzung hilft doch nicht weiter, und sie hilft vor allem nicht den leidtragenden Menschen in der Ukraine. Das ist die Wahrheit.
({3})
Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat doch recht, wenn er auf Friedensverhandlungen drängt. Ja, ich weiß: Friedensverhandlungen brauchen die Bereitschaft, einen Kompromiss zu finden. Einen Kompromiss zu finden, wo Russland doch die Ukraine überfallen hat, das widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden – auch meinem eigenen, natürlich. Aber ich kann doch trotzdem dem britischen Premier Boris Johnson nicht zustimmen, wenn er sagt, mit Putin gebe es nichts zu verhandeln. Denn: Was ist die Alternative zu diplomatischen Lösungen? Es ist ein immer länger dauernder Krieg mit immer mehr Toten. Es ist die wachsende Gefahr einer Ausweitung des Krieges, die Gefahr eines dritten Weltkrieges, und das darf doch nicht sein, Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Es heißt oft, die Türen für diplomatische Lösungen seien aktuell verschlossen. Frau Baerbock, ich möchte Sie einmal fragen: Wie viele Klinken haben Sie denn bisher eigentlich ernsthaft probiert? Warum waren Sie nicht in Peking oder in Neu-Delhi? Ich habe manchmal den Eindruck, Sie verwechseln, für welches Ressort Sie zuständig sind. Sie sind nicht die Verteidigungsministerin. Sie sind die Außenministerin, die Chefdiplomatin, und da erwarte ich auch Diplomatie von Ihnen.
({5})
Deutschland muss gemeinsam mit der EU endlich zur Stimme der Vernunft werden, und das kann die EU auch.
Erinnern wir uns an den Fünf-Tage-Krieg um Südossetien zwischen Georgien und Russland im Jahre 2008. Es war eine extrem schwierige Situation. Die Vereinten Nationen waren mit ihren Bemühungen bereits gescheitert. Es war die EU, die einen Kompromiss vermittelte. Bei dem Treffen des Europäischen Rates sollte es daher vor allem um gemeinsame diplomatische Anstrengungen gehen.
({6})
Stattdessen wird es aber vor allem um Sanktionen gehen, aber nicht mit Schwerpunkt gegen die russische Führung, gegen die mächtigen Oligarchen – das wäre richtig und auch wichtig –, sondern um allgemeine Sanktionen, die in Russland vor allem die Bevölkerung treffen und die schon jetzt in Deutschland und der EU einen enormen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Weil diese Sanktionen vor allem die eigene Wirtschaft und damit die eigene Bevölkerung so hart treffen, machen viele Länder dabei auch nicht mit, und sie kritisieren die Sanktionspolitik der EU. Schauen wir nach Südamerika, nach Südafrika, nach Indien.
Ich kann verstehen, dass viele Menschen in Deutschland Angst bekommen, wenn sie vom geplanten Ölembargo hören; denn sie fürchten, dass die Lebenshaltungskosten dann noch weiter steigen. Es ist doch jetzt schon so, dass sich so manche Friseurin am Ende des Monats kein frisches Obst mehr für ihre Kinder leisten kann. Herr Scholz, Sie behaupten immer, das sei nicht so. Sie ignorieren diese Not. Es ist aber die Realität. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
({7})
Ich kann verstehen, dass viele Menschen Angst um ihre Arbeitsplätze haben. Gehen Sie mal nach Schwedt. Die Raffinerie dort ist auf das Öl aus Russland angewiesen. Da kann man sich als gut bezahlter Politiker nicht einfach hinstellen und sagen: Das ist nun mal der Preis der Freiheit. – Das ist doch wirklich zynisch. Sie haben Verantwortung für die Menschen in unserem Land, besonders für die, die jetzt schon kaum wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.
({8})
Fakt ist doch: Ihre Entlastungspäckchen, die Sie heute wieder angepriesen haben, decken nicht mal im Ansatz die realen Mehrkosten ab. Was jetzt durch ein Ölembargo auf uns zukommen wird, ist doch um ein Vielfaches gravierender. Da helfen keine Lippenbekenntnisse und keine Durchhalteparolen. Es braucht konsequente Maßnahmen, zum Beispiel die Senkung von Verbrauchsteuern auf Grundnahrungsmittel, eine funktionierende staatliche Preisaufsicht für die Energie, wesentlich höhere Direktzahlungen. Es braucht einen Schutzschirm für betroffene Unternehmen, besonders im Osten, damit dort nicht zum zweiten Mal nach der Wende reihenweise Existenzen zerstört werden.
({9})
Dafür wäre es dringend notwendig, Geld in die Hand zu nehmen – und zwar wirklich viel Geld –, aber nicht für das sinnlose Sondervermögen für die Bundeswehr, was nur einen Effekt haben wird, nämlich die Aktienkurse der Rüstungsindustrie in die Höhe zu treiben. Da machen wir als Linke nicht mit.
({10})
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Achim Post.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden ja heute in einer ganz besonderen Situation über den Europäischen Rat, in einer Situation, die ich jedenfalls noch nicht erlebt habe. Wir reden in Deutschland und Europa über einen brutalen Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, mit schon jetzt Tausenden und Abertausenden von Opfern.
In Hunderten von Jahren war Europa stets ein Kontinent des Krieges. Durch die Europäische Union, durch die europäische Einigung, durch den europäischen Zusammenhalt ist Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Kontinent des Friedens geworden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir uns immer vor Augen halten, wenn wir hier über das eine oder andere innenpolitische Scharmützel reden; das ist aus meiner Sicht nämlich auch nicht angemessen bei dem, was hier diskutiert wird.
({0})
Nachdem diese Friedensordnung vor 30 Jahren durch die Balkankriege im ehemaligen Jugoslawien zerstört wurde, wird sie jetzt durch Putin und seinen brutalen Angriffskrieg zerstört. Ich halte es für die richtige, die angemessene Reaktion, wenn der Bundeskanzler sagt, er fährt mit klaren Zielen auf diesen Gipfel: mit dem Ziel, Europa zu stärken; mit dem Ziel, Europas Sicherheitspolitik zu stärken; mit dem Ziel, Europas Demokratie zu stärken. Für diesen Kurs, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben der Bundeskanzler und die Bundesregierung die Unterstützung der gesamten SPD-Bundestagsfraktion.
({1})
Worauf kommt es denn in der Europäischen Union an? Es kommt auf Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt an. Ich finde, die häufig zu Unrecht viel gescholtene Europäische Union hat in den letzten zehn, zwölf Wochen ihre Handlungsfähigkeit an den Tag gelegt: mit Wirtschaftshilfen, mit humanitärer Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtlingen, mit Waffenlieferungen, mit unzähligen Initiativen für Diplomatie in Richtung Waffenstillstand und auch mit mehreren Sanktionspaketen, die ihresgleichen suchen und die wirken.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es richtig, dass wir auf dem Europäischen Rat über Dinge reden, über die wir früher nie geredet hätten; der Bundeskanzler und die Bundesregierung werden das machen. Ich finde es richtig, dass ein Ölembargo gegen Russland auf der Tagesordnung des nächsten Rates steht. So schwer einem das auch fällt: Es gibt dazu wenig Alternativen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Ich finde es auch richtig, dass ein Gasembargo nicht auf der Tagesordnung steht; denn bei allen Sanktionen – das hat der Bundeskanzler betont – geht es darum, dass sie vor allen Dingen Putin, vor allen Dingen Russland schaden und nicht uns selbst. Deshalb ist das, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat, genau der richtige Kurs, der die volle Unterstützung des gesamten Hauses verdient.
({3})
Ich finde es richtig und klug, dass auf dem Gipfel darüber geredet wird, wie die europäische Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit gestärkt werden können. Schweden und Finnland wurden hier angesprochen. Schweden war 200 Jahre lang neutral. Finnland gehörte länger zum russischen Zarenreich, als es eigenständig ist. Diese beiden Länder unter der Führung zweier Regierungschefinnen und Ministerpräsidentinnen haben in zehn Wochen gezeigt, was eine Zeitenwende bedeutet: Sie haben nämlich all das, was sie 100 oder 200 Jahre für richtig gehalten haben, über Bord geworfen, weil es eine völlig neue Bedrohung in Europa gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen: Auf diesem Rat muss und wird auch darüber geredet werden, wie es eigentlich mit der Beitrittsperspektive für die Länder des westlichen Balkans aussieht und was aus den Versprechen geworden ist, die die Europäische Union und viele Regierungen in Europa den Ländern des westlichen Balkans seit vielen Jahren machen. Ich bin dafür, dass man die Versprechungen in Realitäten umsetzt und diese Länder Schritt für Schritt in die Europäische Union integriert. Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit.
({5})
Wenn wir über Europa und die Ukraine reden: Es ist doch klar – ich sehe hier gar nicht so viele Unterschiede –, dass wir den Weg der Ukraine in die Europäische Union tatkräftig unterstützen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn man darüber redet, Weichen richtig zu stellen – und das muss man heute machen, damit Europa auch morgen weiter stark ist –, dann ist es gut, dass wir eine EU-Zukunftskonferenz haben. Die vielen guten Vorschläge werden wir uns alle anschauen, und zwar so schnell wie möglich; denn ich glaube, dass es notwendig ist, dass es geboten ist, dass es zeitgemäß ist, in der Europäischen Union einige Dinge zu verbessern, auch für mehr Integration zu sorgen. Wenn das innerhalb der Verträge geht – wunderbar –, dann machen wir das innerhalb der Verträge. Wenn es nötig ist, es außerhalb der Verträge zu machen, dann machen wir das außerhalb der Verträge und organisieren über einen Konvent neue Möglichkeiten für das weitere Zusammenwachsen der Europäischen Union, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Zusammengefasst: Es steht viel auf dem Spiel, und jeder Oppositionsführer, jede Oppositionsführerin kann hier zum Glück sagen, was er oder was sie will; denn das ist ein freies Land, ein freies Parlament. Aber jeder muss auch wissen, was er hier in einer Situation sagt, wo mehr auf dem Spiel steht als die nächste Kommunalwahl irgendwo in Deutschland.
({7})
Es stehen Frieden und Sicherheit in Europa auf dem Spiel.
Schönen Dank.
({8})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Dobrindt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Europäische Rat ist mit großen Erwartungen verbunden. Es werden Themen auf der Agenda stehen, die die europäische Zukunft auf Jahre hinaus prägen werden. Ja, es wird darum gehen, wie man mit den Folgen des Krieges in der Ukraine umgehen muss: mit finanzieller Unterstützung, mit notwendigen Waffenlieferungen, mit humanitärer Unterstützung. Ja, das ist alles zwingend notwendig. Aber es wird auch darum gehen, wie wir ein neues Sicherheitsgleichgewicht in Europa schaffen können, wie wir zukünftige Kriege vermeiden, wie wir die Einheit Europas sichern, wie wir Stabilität neu schaffen können. Darüber haben wir heute zu wenig gehört, Herr Bundeskanzler.
({0})
Sie haben den französischen Präsidenten Macron zitiert, der angekündigt hat, dass er auf diesem Rat über institutionelle Reformen der EU sprechen will. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, es sei kein Tabu, darüber zu sprechen; aber Sie haben uns nicht gesagt, was Ihre Vorschläge sind. Macron sagt, Wirtschaft, Wachstum, Klima, soziale Fragen und die Erweiterung der EU seien seine Themen. Von Ihnen kennen wir nur das Bekenntnis zu einer europäischen Schuldenunion und einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Beides ist schlichtweg falsch. Wir brauchen keine Schuldenunion, wir brauchen keine europäische Arbeitslosenversicherung. Was wir brauchen, ist eine neue Kultur der Stabilität und eine ambitionierte Europäische Verteidigungsunion. Darüber hätten wir von Ihnen gerne was gehört.
({1})
Wir brauchen auf diesem Europäischen Rat eine Debatte über neue Sicherheitsgarantien – Sicherheitsgarantien bei der Frage der militärischen Zusammenarbeit und Rüstung, Sicherheitsgarantien bei der Frage der Inflationsbekämpfung und der Wohlstandssicherung und Sicherheitsgarantien bei der Frage der Weiterentwicklung der Europäischen Union, die gewährleisten, dass sie nicht überdehnt wird und eine Teilhabe an dem Friedensprojekt EU auch ohne eine Vollmitgliedschaft möglich ist.
Darüber hätten wir gerne etwas gehört, beispielsweise im Hinblick auf die Sicherheit der militärischen Zusammenarbeit. Ja, es ist richtig: Ein Baustein bei Rüstung und Sicherheit sind die Ankündigungen aus Ihrer Zeitenwende-Rede vom 27. Februar. Sie haben da vom „Sondervermögen Bundeswehr“ gesprochen, von Rüstungsvorhaben und von der dauerhaften Einhaltung des 2‑Prozent-Ziels. Herr Bundeskanzler, heute haben Sie das 2‑Prozent-Ziel in Ihrer Rede nicht mehr erwähnt. Ich hoffe, das war nur ein Versehen. Sie hatten hier an dieser Stelle ein Doppelversprechen abgegeben: 100 Milliarden Euro und 2 Prozent. Ich hoffe, dass das heute kein Hinweis darauf war, dass das Versprechen aus Ihrer historischen Rede vom 27. Februar bereits Geschichte ist, meine Damen und Herren.
({2})
Ja, es ist richtig, wir befinden uns aktuell in Gesprächen. Ich darf Ihnen, Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle aber auch sagen, dass es noch kein Stück Papier gibt, auf dem steht, dass 100 Milliarden Euro für die Streitkräfte ins Grundgesetz geschrieben werden und dass jedes Jahr 2 Prozent zur Erfüllung der NATO-Quote vereinbart sind. Das liegt schlichtweg nicht an uns.
Liebe Kollegin Dröge, wenn es um die Bündnisfähigkeit geht, dann lassen Sie sich bitte sagen: Nichts stärkt unsere Bündnisfähigkeit mehr, als 100 Milliarden Euro in die Streitkräfte zu stecken.
({3})
Das ist die Aufgabe, die dahintersteht.
({4})
Herr Mützenich, als Fraktionsvorsitzender der SPD haben Sie sich in dieser Woche öffentlich in Bezug auf die 100 Milliarden Euro und das 2‑Prozent-Ziel geäußert und davon gesprochen, dass die Union von ihren Maximalforderungen Abstand nehmen sollte. Wir stellen keine Maximalforderungen; aber wir erwarten, dass das, was der Bundeskanzler der Öffentlichkeit versprochen hat, von den Ampelkoalitionären mindestens eingehalten wird. Das erwarten wir an dieser Stelle.
({5})
Es geht um Sicherheitsgarantien für die Inflationsbekämpfung und die Wohlstandssicherung. Die Inflation entwickelt sich zur massiven Gefahr für Wachstum und Wohlstand in Europa. In Deutschland liegt sie bei über 7 Prozent, in unseren Nachbarländern mittlerweile bei deutlich über 10 Prozent. Die Inflation in Europa ist die stille Enteignung der Sparer, die stille Entwertung der kleinen und mittleren Einkommen. Herr Bundeskanzler, die USA haben den Kampf gegen die Inflation zum Topthema der amerikanischen Innenpolitik gemacht. Sie reden gerne vom sozialen Europa. Ich sage Ihnen, die steigende Inflation schafft ein unsoziales Europa. Deswegen: Machen Sie die Bekämpfung bitte zum Topthema!
({6})
Wir brauchen auch eine Sicherheitsgarantie bezüglich der Frage der Fortentwicklung der Europäischen Union. Ja, die Veränderung der sicherheitspolitischen Lage führt dazu, dass immer mehr Länder schnell der Europäischen Union beitreten wollen. Die sechs Balkanstaaten haben Sie genannt; sie haben unsere Unterstützung. Die Ukraine, Moldau und Georgien stehen an der Schwelle.
({7})
Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir die Europäische Union nicht überfordern. Ja, es braucht eine Perspektive für diese Länder: für die Ukraine, Moldau und Georgien. Aber wir wissen, dass Beitrittsverhandlungen Jahre und teilweise Jahrzehnte dauern. Es ist jetzt Ihre Aufgabe, eine neue Perspektive für diese Länder zu schaffen. Ich sage Ihnen, es braucht bei diesem Rat Verhandlungen darüber, wie wir eine Beitrittsperspektive zum Friedensprojekt Europäische Union schaffen können, ohne die Europäische Union dabei durch Vollmitgliedschaften zu überdehnen. Da haben Sie eine Aufgabe, und da erwarten wir von Ihnen eine Antwort.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Robin Wagener.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche Montag, am 9. Mai, schauten wir alle nach Moskau. Wir schauten auf den Roten Platz und sahen eine Armada von Soldaten, wir sahen Bilder von langen Panzerkolonnen, wir sahen mit Raketen bestückte Militärfahrzeuge. Eingebettet in diesen martialischen Rahmen hörten wir Wladimir Putin, wie er den brutalen Angriffskrieg in der Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg verglich. Das zeigte nicht nur seinen menschenverachtenden Zynismus, sondern das war blanker Hohn gegenüber den Opfern des Zweiten Weltkriegs und den Opfern des russischen Angriffskriegs.
({0})
Dieser Tag in Moskau war gewiss kein Tag des Sieges, es war ein Tag der Niederlage; denn Putin wird die Ukraine niemals besiegen. Aber er wird auch etwas anderes niemals besiegen, und das ist der unbedingte Wille, in ganz Europa Frieden und Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu schaffen. Diesen unbedingten Willen brachte am 9. Mai, am Europatag, fast zeitgleich zu Putins Propagandarede der französische Präsident Emmanuel Macron zum Ausdruck.
Präsident Macron sprach nicht vor Soldaten mit Waffen, nicht vor Langstreckenraketen, er sprach im Herzen der europäischen Demokratie: im Europaparlament in Straßburg vor Hunderten Bürgerinnen und Bürgern aus der gesamten Europäischen Union. Es war aber nicht nur eine Rede im Herzen der Demokratie, es war auch ein Fest der Demokratie. Denn der diesjährige Europatag markierte den Abschluss der Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union. Das klingt erst einmal sperrig, ist aber historisch beispiellos. Ein Jahr lang haben über 800 Bürgerinnen und Bürger aus der gesamten Europäischen Union mit Kommissionsmitgliedern, mit Parlamentarierinnen, mit Regierungsvertreterinnen über die Zukunft der Europäischen Union diskutiert.
Die Ergebnisse dieser Diskussionen können sich nicht nur sehen lassen, sie kommen auch genau zur richtigen Zeit. Denn ja, wir leben in einer Zeitenwende, und diese neue Zeit braucht auch neue Antworten: mehr Autonomie in strategischen Bereichen – bei medizinischen Produkten, bei kritischen Rohstoffen und vor allem bei unserer Energieversorgung.
({1})
Das heißt: raus aus russischem Öl und Gas, mehr Investitionen in Klimaschutz, mehr Energieeffizienz, massiver Ausbau der Erneuerbaren.
Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein sozialeres Europa. Das heißt: Armut und soziale Ausgrenzung bekämpfen, Lohngleichheit in Europa herbeiführen, einen gemeinsamen Rahmen für Mindesteinkommen schaffen.
Und die Bürgerinnen und Bürger wollen eine noch stärkere gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Das heißt: Abschaffung nationaler Vetos, gemeinsame Streitkräfte zur Selbstverteidigung, Stärkung der zivilen Fähigkeiten und eine bessere Krisenprävention in Europa.
({2})
All diese Ziele sind nur wenige der über 300 Maßnahmen, die von den Bürgerinnen und Bürgern für eine handlungsfähige EU erarbeitet wurden. Wie wichtig zum Beispiel die Abschaffung nationaler Vetos in der EU-Außenpolitik ist, das können wir aktuell gut beobachten. Eigentlich sind sich alle einig, dass wir raus aus russischem Öl müssen. Nur einer – diesmal in Budapest – sieht das anders und blockiert die längst überfällige Entscheidung.
Verstehen Sie mich an der Stelle bitte nicht falsch. Natürlich muss bei komplexen Fragen in der Europäischen Union über unterschiedliche Wege gestritten werden, und natürlich gibt es nicht immer eine Lösung für alle; aber das Ziel muss doch das gleiche sein. Denn wir dürfen uns in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht auseinanderdividieren lassen. Wenn wir eine relevante Stimme in der Welt sein wollen, dann kann das nur gelingen, wenn diese Stimme nur im europäischen Konzert erklingt.
({3})
Deshalb müssen plumpe Erpressungen, die wichtige Entscheidungen dauerhaft blockieren, endlich der Vergangenheit angehören.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Vorschläge der Zukunftskonferenz ernsthaft geprüft werden und, wo immer möglich, in konkrete Entscheidungen münden. Das heißt, dazu können auch ein Konvent und konkrete Vertragsänderungen gehören. Denn eine EU auf der Höhe unserer Zeit sind wir allen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Ukrainerinnen und Ukrainern, die für diese europäischen Werte gerade kämpfen, schuldig.
Ich bin Bundeskanzler Scholz dankbar, dass er vor wenigen Tagen noch einmal klargestellt hat, dass die Ukraine selbstverständlich zur europäischen Familie gehört und wir sie auf diesem Weg intensiv begleiten.
({4})
Ich bin auch Außenministerin Baerbock dankbar, dass sie in Kiew betont hat, dass dieser Weg in eine Vollmitgliedschaft führen wird, und auch ich betone: Vollmitgliedschaft.
Die Ukraine weiß, dass es auf diesem Weg keine Rabatte gibt. Das will sie auch gar nicht; das sagen alle meine ukrainischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Sie wollen die gleichen Beitrittskriterien wie andere auch. Aber gerade deshalb ist es so wichtig, dass die EU-Beitrittsperspektive glaubwürdig ist. Um das zu unterstreichen, sollten wir der Ukraine zum einen sehr schnell den Kandidatenstatus verleihen und sie zum anderen bestmöglich, auch finanziell, beim Wiederaufbau unterstützen.
({5})
Robert Schuman hat am 9. Mai 1950 seine Europaerklärung mit folgendem Satz begonnen:
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.
Dieser so wahre wie idealistische Satz wurde schon oft zitiert, auch von mir. Aber: Selten waren wir in einer Zeit, in der dieser Satz so klar als Auftrag für uns gelten musste. Genau diesem Auftrag müssen wir uns widmen, um uns den Bedrohungen der Welt zu stellen. Deshalb sind wir bereit, all die schöpferischen Anstrengungen aufzubringen, die notwendig sind, um den Frieden in Europa wiederherzustellen.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Harald Weyel.
({0})
Frau Präsidentin! Damen und Herren im Raume! Liebes Wahlvolk live und an den Endgeräten! Nur ein paar Grundgedanken und Alternativen zu den eben gehörten Regierungsabsichten wider die eigenen Bevölkerungsinteressen und ökonomischen Erfordernisse:
Erstens. Es war schon ein kleines Versäumnis – nicht des Europäischen Rates in Brüssel, sondern des Europarates in Straßburg als Forum für Menschenrechte und Demokratie –: Russland und die Ukraine hätten nämlich vor dem 24. Februar gemeinsam in die Umsetzung des 2014/2015 verhandelten Minsker Abkommens hineinkomplimentiert werden müssen. Das könnte man vielleicht sogar noch nachholen und überhaupt so einiges umkehren, was da falsch gelaufen ist. Vielleicht klappt es ja irgendwann mal in Brüssel, wenn nicht in Straßburg.
Der genaue Unterschied zwischen russischer und ukrainischer Oligarchenwirtschaft, offener und verdeckter staatlicher Übergriffigkeit ist ohnehin gar nicht mal so klar, und auch in den USA und in der EU gibt es ja Oligarchen oder wie auch immer man die nennen mag.
Zweitens. Ist in der jetzigen Situation der Hopplahopp-NATO-Beitritt von Finnland und Schweden – von anderen will ich gar nicht erst reden – nicht eher genau das Falsche statt das Richtige? Ich meine, ein Marschall Mannerheim hätte da anders agiert. Dieser hatte Finnland – und Schweden vielleicht gleich mit – ja wohl nicht nur vor einem gewissen Österreicher gerettet, sondern sogar auch vor einem gewissen Georgier.
Mit wem gedenkt man eigentlich in Moskau irgendwann und wie reden zu können? Was will man einem Russland unter welchem Präsidenten auch immer jemals anbieten? Kann nur ein US-Präsident mit einem russischen verhandeln? Und wie kläglich ist einmal mehr die Rolle der Europäer? Die US-NATO muss nicht nur der Ukraine etwas abverlangen, sondern auch Russland etwas anbieten, wer auch immer da regiert.
({0})
Drittens. Die amerikanische und viele europäische Regierungen sind derweil im Begriff, einen Weltwirtschaftskrieg zu entfachen, der so noch nicht mal im Kalten Krieg, im kältesten Krieg, stattgefunden hat. Immerhin hat dieser das Potenzial – ungeachtet aller militärischen Fährnisse –, eine neue Bipolarität einzuläuten, in der ein geschwächtes Russland mit einem gestärkten China amalgamiert oder eine neue Blockfreienbewegung hervorbringt. Auch Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien etc. bringen hierbei ein außereuropäisches Gewicht ein.
Dabei ist dann mehr denn je nach 1945 oder auch nur 1990 die Frage, ob Restdeutschland sich als fünftes Rad am Wagen von anderer Leute Interessen oder aber ebenfalls blockfrei ausrichten sollte. Als gedankenloser Financier und Diener der schlechten Ideen und Bequemlichkeiten anderer Leute hat das doppelte Nachkriegsdeutschland eine sehr trübe Zukunftsaussicht. In der Gegenwart hätte man seit den 60er-Jahren schon lernen können, dass es nicht gut ist, ständig dem Drängen anderer Staaten oder Institutionen nachzugeben. Man kann eine NATO so betreiben wie Frankreich, das nach fast 50 Jahren NATO-Urlaub erst 2009 in die militärische Integration zurückkehrte. Man kann die EU so betreiben wie Italien seit 1957 und Griechenland seit 1981. Schließlich kann man selbst genauso eigenständig und eigensinnig handeln wie das liebe, liebe Washington, mit dem man natürlich weiter gegen das böse, böse Moskau zu Felde ziehen kann.
Wenn alles nichts hilft – kein Militär, kein Boykott –, dann erinnere ich an die SEATO, also die asiatische NATO, die etwa 20 Jahre zwischen den USA, Frankreich, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Pakistan, Philippinen und Thailand existierte und die sich 1977 sogar selbst auflöste, nachdem alle Welt gesehen hat, dass selbst die amerikanische Katze im schutzbefohlenen Südvietnam, Laos, Kambodscha keine Mäuse mehr fängt. Einer der ganz wenigen Anachronismen der Geschichte, der sich je freiwillig selbst aufgelöst hatte, lange vor dem Warschauer Pakt sogar. Das Beispiel sollte vielleicht für die eine oder andere Institution, die ebenfalls keine Mäuse fängt und mehr Schaden verursacht als Nutzen stiftet, auch gelten.
Auf nun zur Vernunft und zum neuen Weltfrieden!
Danke.
({1})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Alexander Graf Lambsdorff.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Ende der Sowjetunion ist das Ziel deutscher Außenpolitik ein freies, friedliches Russland in einem freien, friedlichen Europa. Aus historischen Gründen, aus menschlichen Gründen, aus kulturellen Gründen, aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen sind Angebote gemacht worden ohne Ende: Transformationspartnerschaften, strategische Partnerschaften, Modernisierungspartnerschaften, die vier „Gemeinsamen Räume“, der NATO-Russland-Rat; es ist wirklich viel angeboten worden.
Nur eines hat Russland nicht verstanden – jedenfalls das Russland von heute –: Europa, das ist nicht nur Geografie. Europa ist ein Raum von Frieden und Freiheit, von Recht und Sicherheit, und zwar für alle Nationen auf unserem Kontinent, meine Damen und Herren,
({0})
nicht nur für Deutschland und Frankreich, sondern eben auch für Nationen wie Georgien und besonders die Ukraine. Deshalb ist dieser Angriffskrieg auf die Ukraine ein direkter Angriff auf Europa, auf unsere Friedensordnung, auf das Völkerrecht und damit sogar auf die Weltordnung und die Charta der Vereinten Nationen.
Manche sagen: Alle wären davon überrascht gewesen. – Ich glaube, das ist nicht ganz richtig. Wenn man Präsident Putin gelesen hat, wenn man ihm zugehört hat, dann konnte man heraushören, dass sich da etwas anbahnt, etwas zusammenbraut. Er hat diesen Satz gesagt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Oft wird das in Deutschland unter Weglassung des Wortes „geopolitisch“ zitiert. Aber das ist wichtig, weil Putin gerade gesagt hat: „geopolitisch“. Er hat nicht gesagt: die größte ideologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Es geht ihm nicht um die Wiedererrichtung der Sowjetunion. Deswegen missbraucht er jetzt die Geschichte als Ideologieersatz, um die Größe des Russischen Reiches durch Unterwerfung anderer Nationen wiederherzustellen. Meine Damen und Herren, das will Putin erreichen.
Aber was hat Putin wirklich erreicht? Militärisch erst mal erheblich weniger, als er sich erhofft hat. Die Schlacht um Kiew ist dramatisch verloren gegangen für die russische Seite. Er hat versucht, den Westen zu spalten. Stattdessen hat er die Einigkeit des Westens gefördert. Alle seine Versuche, die NATO zu spalten – wie wir das aus den Vertragsentwürfen, die Russland im Dezember vorgelegt hat, herauslesen konnten –, sind gescheitert. USA, Kanada, Europa, unsere demokratischen Verbündeten im Rest der Welt – wir sind zusammengerückt.
Er hat nicht nur erreicht, den Zusammenhalt des Westens zu stärken, er hat zudem konkret die Stärkung der NATO erreicht. Dass Schweden nach 200 Jahren seine Neutralität aufgibt und einem Militärbündnis beitritt, ist eine historische Zäsur im Ostseeraum. Und dass Finnland das gleich mitmacht, ist für mich – der sehr viel mit schwedischen und finnischen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten durfte – eine der größten Überraschungen, eine der dramatischsten Entwicklungen überhaupt. Ich freue mich auf den Beitritt der Schweden und der Finnen in die NATO. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, das geht uns allen so.
({1})
Wir haben auch innerhalb der NATO etwas getan. Deutschland hat die Ostflanke mit verstärkt: in der Slowakei, in Rumänien und ganz besonders auch in Litauen. Wir üben Solidarität mit der Ukraine. Es gibt große Unterstützung. Es werden Sanktionen gegen Russland verhängt, es werden Waffen geliefert.
Ich verstehe manche – der Bundeskanzler hat es gesagt –, die sich Sorgen machen, was das für Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, auf unseren Wohlstand und auf unser Wachstum haben könnte. Aber ich muss eines deutlich sagen: Die Ukraine nicht zu unterstützen, das wäre erheblich teurer, als jetzt Solidarität mit der Ukraine zu üben. Denn ein Erfolg Russlands bei seinem Unterwerfungsversuch würde Putin nur ermutigen, weiterzumachen auf seinem Weg des Krieges. Deswegen ist die Unterstützung für die Ukraine auch der günstigere, der bessere, der klügere und der moralisch richtige Weg.
({2})
Putin hat zudem erreicht, dass Deutschland eine nationale Sicherheitsstrategie entwickelt, in der die Außenministerin die Wehrfähigkeit in den Mittelpunkt gerückt hat, um unsere Freiheit zu schützen. Wir bekennen uns endlich klar zum 2‑Prozent-Ziel der NATO, und wir werden die Bundeswehr durch ein Sondervermögen stärken. Ich freue mich, dass auch die Union im Prinzip dafür ist.
({3})
Die Soldatinnen und Soldaten warten darauf. Es wäre schön, wenn CDU und CSU hier von der Bremse gehen
({4})
und der Bundeswehr die Stärkung zukommen lassen würden, auf die unsere Männer und Frauen in den Streitkräften so dringend warten.
({5})
Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt: Auch die Europäische Union – wir haben die Vorschläge von Präsident Macron gehört; wir haben gehört, was auf der Zukunftskonferenz gesagt wurde – wird sich reformieren müssen, wird sich stärken müssen, um unsere Freiheit, unsere Werte, unsere Demokratie zu verteidigen, auch damit wir genau diese Werte an kommende Generationen weitergeben können.
Ich danke Ihnen herzlich.
({6})
Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Nina Scheer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der dringlichsten Aufgaben dieser Zeit und damit auch für die anstehende Zusammenkunft des Europäischen Rats, die außerordentlich angesetzt ist, ist die Energiesicherheit. Auf dieses Thema möchte ich mich nun konzentrieren.
Es ist falsch, wenn vom rechten Rand behauptet wird, dass mit Energiewendefragen die Kassen und die Geldbeutel der Menschen geplündert würden. Es ist infam und dumm, so etwas zu unterstellen,
({0})
weil Fakt ist, dass wir allein im März durch Energiepreissteigerungen im fossilen Sektor 4,4 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben und insgesamt in der Europäischen Union seit Kriegsbeginn 50 Milliarden Euro an Russland für fossile Energieimporte überwiesen haben – 50 Milliarden Euro! Das sind die Zahlen, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Da gibt es nur eine einzige Antwort: dass wir so schnell wie möglich die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, insbesondere natürlich die Importabhängigkeiten von Russland, reduzieren bzw. auf null bringen müssen.
({1})
Wir haben gestern weitere Vorschläge von der Europäischen Kommission vorgelegt bekommen, die nun auch Gegenstand der Beratungen sein werden. Sie fokussieren richtigerweise auf ein massives Aufwuchsprogramm für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Es ist mit 195 Milliarden Euro unterlegt; 95 Prozent davon sollen auf die Erneuerbaren und auf Einsparungsmaßnahmen zielen. Das ist genau der Weg, den wir gehen müssen. Deswegen ist es auch wichtig, dass diese Vorschläge pünktlich zur Sitzung des Europäischen Rats vorgelegt werden.
In Deutschland waren wir nicht untätig: Wir haben in den letzten Wochen schon enorme Schritte geschafft bei der Reduzierung der Importabhängigkeiten im fossilen Sektor. Wir waren im Gasbereich Anfang des Jahres noch bei einer Abhängigkeit von ungefähr 55 Prozent; jetzt sind wir bei 35 Prozent. Wir waren im Bereich Steinkohle Anfang des Jahres bei 50 Prozent; jetzt sind wir bei 8 Prozent. Wir waren im Bereich Öl bei 35 Prozent; nun sind wir bei 12 Prozent. Das sind enorme Leistungen – für Deutschland und noch nicht für die gesamte Europäische Union gesprochen. Es zeigt: Wenn ein Industrieland wie Deutschland das schafft, dann sind wir auf einem guten Weg. Wir müssen dies gemeinsam in der Europäischen Union fortsetzen.
Ich möchte auf die Frage eingehen, woher die Preiskrise vor dem Krieg kam. Wir hatten eine fossile Energiepreiskrise, die bereits vorher eingesetzt hat. Die Auseinandersetzungen, die wir auch hier im Deutschen Bundestag schon vor dem Krieg geführt haben, etwa zu den Entlastungspaketen, waren Kennzeichen dieser fossilen Energiepreiskrise. Das müssen wir ganz klar fokussieren; denn das bedeutet, dass unsere Anstrengungen über die Abmilderung der Folgen dieses dramatischen Konflikts hinausgehen müssen.
Ich möchte betonen, dass das eine soziale Frage ist. Die Abhängigkeit von fossilen Energien zu beenden, ist eine soziale Frage, weil es ohne die entsprechende Unabhängigkeit zu Energiearmut kommt. Wir schaffen auch für ärmere Länder auf der Welt keine Teilhabe, keine Entwicklungsperspektive, wenn wir nicht eine Unabhängigkeit von endlichen fossilen Ressourcen erreichen. Das muss im Zentrum stehen. Genauso wichtig ist die Begrenzung des Klimawandels. Aber es muss uns deutlich werden, dass wir auch ohne den Klimawandel genau das Gleiche tun müssten: Wir müssten so schnell wie möglich die Importabhängigkeit und die generelle Abhängigkeit von fossilen Ressourcen beenden.
({2})
Insofern ist richtig, was die Europäische Union nun vorgelegt hat: ein massives Aufwuchsprogramm für Solarenergie. Der Solarenergieausbau soll verdoppelt werden. Wir müssen einen Grenzausgleichsmechanismus schaffen – das ist schon längere Zeit in der Diskussion –, damit es sich lohnt, auf CO2-ärmere Technologien zu setzen und Energieeinsparungen vorzunehmen. Damit betroffene Unternehmen im Wettbewerb nicht weggedrückt werden, muss es dafür einen Ausgleichsmechanismus geben; anders ist das im weltweiten Wettbewerb nicht zu wuppen. Dieses CBAM-System muss kommen.
In den nächsten Wochen muss auch noch auf etwas anderes hingewirkt werden: Wir haben ein massives Ungleichgewicht bei den Begünstigungen bzw. Ausnahmevorschriften von Beihilfeleitlinien. Im Kontext der Coronapandemie ist es uns gelungen – und dieser Ansatz war richtig –, auch Ausnahmen von Beihilfevorschriften in der Europäischen Union festzuschreiben, um die Wirtschaftsfähigkeit und die Hilfsfähigkeit gewährleisten zu können. Das muss jetzt auch bei den erneuerbaren Energien gelten. Wir dürfen uns hier nicht selbst im Wege stehen. Die Europäische Kommission hat gestern richtigerweise gesagt: Nur sechs Monate darf der Genehmigungsprozess dauern, nicht mehrere Jahre. – Auch Olaf Scholz hat immer und immer wieder betont: Der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien muss im Zentrum stehen.
({3})
Dafür dürfen wir diese Genehmigungshemmnisse nicht länger vor der Brust haben.
({4})
Energiesicherheit ist insofern eine Frage der europäischen Wertschöpfung in den Bereichen Solarzellen, Windkraftanlagen, aber auch in den Bereichen Speicher und natürlich Wasserstofftechnologien. Wir müssen dabei die Monopolabhängigkeiten überwinden.
Herr Merz, noch mal an Ihre Adresse: Wenn Sie meinen, dass in der Handelspolitik der letzten zehn Jahre alles richtig gelaufen sei, dann muss ich Ihnen widersprechen.
({5})
Die Abwanderung der deutschen Solarindustrie ist ein Effekt neoliberaler Politik. Wir haben nicht dafür Sorge getragen, dass sich die sozial-ökologische Wende, die wir brauchen, auch in der Handelspolitik niedergeschlagen hat.
({6})
Wenn Sie das immer noch nicht erkannt haben, dann wird es aus Ihren Reihen heraus sicher keine guten und konstruktiven Vorschläge geben, um diesen Wandel hinzubekommen. Wir müssen die Wertschöpfung in der Europäischen Union halten. Das macht uns unabhängig, das bringt Energiesicherheit.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Gunther Krichbaum.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Wir begrüßen es, dass es heute Morgen eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers gab; denn die Abgabe einer solchen Regierungserklärung gehört hier nicht nur zu einer festen Tradition, sondern es gehört auch zu den Rechten des Parlaments, dass sich die Regierung vor einem Europäischen Rat erklärt. Das war in den letzten Monaten etwas in Vergessenheit geraten. Aber wir werden der Regierung hier auch in Zukunft auf die Finger schauen und im Blick behalten, dass das stattfindet.
({0})
Nun, Bundeskanzler Scholz hat viel geredet, aber nichts gesagt.
({1})
Wir hätten uns aber gewünscht, dass sich die Regierung erklärt.
({2})
Das wäre eine Chance gewesen, insbesondere im Hinblick auf die Ukraine.
Bundeskanzler Scholz spricht selbst von der „Zeitenwende“. Mir ist mittlerweile klar, warum er diesen Begriff gewählt hat: weil er für diese Wende Zeit braucht.
({3})
Das ist aber Zeit, die die Ukraine nicht hat. Man rühmt sich, dass man mittlerweile sieben Panzerhaubitzen geliefert hat. Dabei muss man sich aber vor Augen halten, dass die Fläche der Ukraine ungefähr doppelt so groß ist wie die Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Heruntergebrochen hieße das in Zahlen: ungefähr eine halbe Panzerhaubitze für ganz Nordrhein-Westfalen. Das ist viel zu wenig.
Deswegen: Bundeskanzler Scholz, bitte gehen Sie es an! Liefern Sie Waffen, liefern Sie das, was die Ukraine braucht! Wenn Sie heute hier erklären, einem Land bei der Verteidigung zu helfen, sei keine Eskalation, dann kann man auch tun, was die Ukraine jetzt braucht. Sie braucht keine warmen Worte, sondern Taten. Diese allein zählen in diesen bitteren Zeiten.
({4})
Wir müssen darauf schauen, dass die Ukraine den Krieg militärisch nicht verliert, aber vor allem auch ökonomisch nicht kollabiert. Deswegen ist es richtig, dass die Länder der Europäischen Union hier finanziell dazu beitragen – aber bitte nicht mit dem Instrument, das für „Next Generation EU“ gewählt wurde. Gemeinsame Schulden helfen in diesem Falle nicht weiter. Vielmehr sollte eine Finanzpartnerschaft, vor allem gemeinsam mit dem IWF – dieses Stichwort ist heute noch nicht gefallen –, in den Blick genommen werden; denn hier brauchen wir auch internationale Unterstützung.
Damit das Feld komplett wird, sage ich: Nach meinem Verständnis muss immer noch derjenige für einen Schaden geradestehen, der ihn verursacht hat, und das ist Russland. Wir sollten deshalb auch völkerrechtlich alle Möglichkeiten und Wege prüfen, damit Russland herangezogen werden kann im Bereich der Reparationen. Das ist nicht einfach; das ist schwierig. Aber was ist in diesen Tagen schon einfach? Trotzdem: Russland und auch die russischen Devisenreserven müssen hier herangezogen werden.
Nun hätte ich mir im Zusammenhang mit dem Europäischen Rat auch ein klares Wort zu den Perspektiven der Ukraine – durchaus noch im Rahmen der französischen Ratspräsidentschaft – gewünscht. Bundeskanzler Scholz sagt: Ja, die Ukraine hat eine europäische Perspektive. – Ja, was heißt denn das? Ich bin der Überzeugung, dass der Ukraine der Kandidatenstatus eingeräumt werden muss,
({5})
und das auch noch während der französischen Ratspräsidentschaft. Damit hier keine Missverständnisse eintreten: Ein Beitrittsverfahren, erst recht für diese Länder, die jetzt anstehen, ist ein jahrzehntelanger Prozess. Da hat Präsident Macron ausdrücklich recht. Es gibt kein Schnellverfahren, kein Fast-Track-Verfahren in die Europäische Union hinein; das ließe Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union gar nicht zu. Es wäre auch nicht vermittelbar gegenüber den Staaten des sogenannten westlichen Balkans. Es wäre zudem auch eine Überforderung der Europäischen Union selbst, aber vor allem – und das ist ganz entscheidend – wird es nicht einmal von der Ukraine selbst eingefordert.
Nur, wir müssen doch in einem Punkt schauen: Wenn man jedenfalls mich vor etwas mehr als 30 Jahren gefragt hätte, wie die Europäische Union heute aussehen würde, hätte ich die – heute erkennbar – falsche Antwort gegeben. Deswegen sollten wir uns der Betrachtung der Perspektive bitte nicht verschließen, wie die Europäische Union in 30, in 40 Jahren aussehen wird. Da ist es eben wichtig, ein starkes Signal zu liefern, auch ein geostrategisches, etwas, wo die Europäische Union sicherlich noch hineinwachsen muss.
Und: Wir brauchen ein Modell für die Staaten, die heute der Europäischen Union nicht beitreten wollen, die ihr nicht beitreten können, die ihr noch nicht beitreten können. Lassen Sie es uns gern als eine „assoziierte Mitgliedschaft“ bezeichnen. Aber es muss glaubwürdig sein als eine Zwischenstation, nicht Endstation. Damit würde sich dieses Modell deutlich von der privilegierten Partnerschaft unterscheiden, was hier nicht vermittelbar war.
Ein letzter Satz. Wir brauchen Signale der Unterstützung für die Ukraine. Lassen Sie uns unsere Städte und Kommunen ermutigen, Städtepartnerschaften einzugehen. Das wird viel schneller gehen als ein Beitrittsverfahren in die Europäische Union. Das ist konkrete Hilfe.
Oder wie es Albanien in diesen Tagen gemacht hat: Die Stadtverwaltung von Tirana hat die Straße, in der die russische Botschaft ihren Sitz hat, umbenannt in „Straße der ukrainischen Unabhängigkeit und Freiheit“.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Fabian Funke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit dem 24. Februar ist die Welt nicht mehr die gleiche wie zuvor. Die Russische Föderation hat mit ihrem furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine auch unsere Welt in Deutschland und Europa verändert und sicher geglaubte Grundsätze infrage gestellt. Ich als jemand, der in einem geeinten Deutschland und Europa aufgewachsen ist, der den Eisernen Vorhang nur noch aus Erzählungen kennt und der beim Kosovokrieg gerade so geboren war, hätte mir nicht vorstellen können, dass wir in Europa noch einmal einen so fürchterlichen Krieg erleben. Unsere Solidarität gilt den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern, die unter diesem Krieg leiden und auch jetzt gerade, während wir hier sitzen, die Last des Krieges ertragen müssen.
Die Ukraine hat nicht nur jedes Recht, sich gegen diesen Angriff zu verteidigen; sie hat gar keine andere Option, als sich aktiv zu verteidigen. Sie verdient unsere volle Unterstützung. Denn das, was unter russischer Besatzung geschieht, haben wir mit den furchtbaren Bildern aus Butscha gesehen. Deswegen ist es auch genau richtig, dass die Bundesregierung und Bundeskanzler Olaf Scholz die Ukraine entlang unserer Möglichkeiten mit allen Mitteln unterstützen, sei es mit der Lieferung von Waffen oder humanitären Gütern.
({0})
Dabei werden die Gesprächskanäle für diplomatische Lösungen selbstverständlich nicht geschlossen. Aber wir müssen uns doch auch keine Illusionen machen: Von allein, ohne Druck wird Putin nicht an den Verhandlungstisch kommen und auch nicht die Integrität der Ukraine respektieren, auch wenn das in Teilen dieses Plenums scheinbar immer noch nicht angekommen ist und weiterhin Zugeständnisse vonseiten der Ukraine gefordert werden.
Neben allen nationalen Anstrengungen, die wir leisten und leisten müssen, braucht es für die Stärkung unserer Demokratien in Europa auch Entschlossenheit und Geschlossenheit. Die haben wir in den letzten Wochen hier auch gelebt.
({1})
Die Zielsetzung der französischen Ratspräsidentschaft ist europäische Souveränität. Wir brauchen ein souveränes Europa – mehr als je zuvor. Ein souveränes Europa, wie wir es uns vorstellen, ist nicht abhängig von fossilen Energieträgern autokratischer Staaten. Ein souveränes Europa ist in Krisenzeiten geschlossen und handlungsfähig. Ein souveränes Europa steht mit beiden Beinen fest auf den Grundsätzen der Demokratie, Diplomatie und wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber lässt keinen Zweifel daran, dass es wehrhaft ist, wenn Diktaturen und Autokratien das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen.
({2})
Auch in Europa hat sich in den letzten Wochen und Monaten einiges verändert. Europa ist geschlossen in seiner Reaktion auf Russland. Die Geschwindigkeit und Schlagkraft der bisherigen Sanktionspakete sind ein klarer Beweis dafür. Aber auch die Union zahlt für diese Sanktionen ihren Preis. Für einige Länder ist der Preis für diese Sanktionen höher als für andere. Insbesondere unseren zentral- und osteuropäischen Partner/-innen, beispielsweise Tschechien, fällt es deutlich schwerer, sich unabhängiger von russischer Energie und anderen Lieferungen zu machen. Wir sollten das anerkennen und darin nicht einen Grund sehen, über Uneinigkeit zu reden, sondern eher den Willen, sich zu einigen, als das erkennen, was es ist: europäische Stärke und Geschlossenheit.
({3})
Natürlich gibt es im Rechtsstaatsbereich in Osteuropa weiterhin vieles anzumerken; das tun wir auch. Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa gerade geschlossen eine große Leistung vollbringt.
Bei all der zweifelsfreien Wichtigkeit unserer historischen Freundschaft zu Frankreich – der Bundeskanzler hat es heute auch noch einmal erwähnt –
({4})
und unserem engen Schulterschluss zu Paris besteht Europa aus weit mehr Staaten als den Staaten westlich der Oder und des Erzgebirges. Für mich ganz persönlich, aufgewachsen an der tschechischen Grenze, bestand Europa in meiner Kindheit vor allem aus den offenen Grenzen und dem Austausch mit unserem östlichen Nachbarland Tschechien, nämlich in einer Schule in meinem Herkunftsort, in der seit 25 Jahren deutsche und tschechische Schüler/-innen gemeinsam lernen.
Für unsere Generation ist demzufolge Europa auch mehr als eine bloße Wirtschafts- und Verteidigungsunion; dieses Bild von Europa konnte man vorhin bei Herrn Dobrindt gewinnen. Deswegen ist mir auch besonders wichtig, dass wir in Zukunft die Perspektiven Mittel- und Osteuropas ernster nehmen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Deshalb ist es auch richtig, dass die Bundesregierung mit dem Ringtausch unsere Partner in Zentral- und Osteuropa dazu befähigt, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, und gleichzeitig ihre Wehrhaftigkeit unterstützt. Deshalb ist es richtig, dass die Bundeswehr ihrer Verantwortung in der NATO gerecht wird und weiter im Baltikum, in Rumänien, in der Slowakei und in Bulgarien unterstützt. Deswegen ist es auch besonders wichtig, dass der Bundeskanzler schon früh erklärt hat, dass er die Mitgliedschaft von Schweden und Finnland in der NATO unterstützt.
({5})
Deshalb ist es richtig, dass sich der Bundeskanzler auch im Europäischen Rat dafür einsetzt, dass alle Staaten der Europäischen Union die Hilfe bekommen, die sie benötigen, um so schnell wie möglich unabhängig von fossilen Energieträgern Russlands zu werden und ihre Industrie klimaneutral umzubauen.
Aber auch darüber hinaus muss sich die Union weiterentwickeln. In Zeiten, in denen Staaten aktiv die Bindung zu den Werten und Versprechen der europäischen Institutionen suchen, ist es wichtig, endlich die Beitrittsgesuche der Staaten auf dem Westbalkan ernst zu nehmen und eine ehrliche Perspektive aufzuzeigen. Auch hier danke ich dem Bundeskanzler für seine Initiative und klare Haltung, die er gerade auch noch einmal deutlich gemacht hat.
({6})
Ich bin der festen Überzeugung: Die Union steht vor großen Herausforderungen und gleichzeitig vor einer historischen Chance. Gemeinsame Sicherheit, Energieunabhängigkeit und die Bewältigung der Klimakrise, die meine Generation besonders betrifft, liegen vor uns. Diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam lösen. In diesem Sinne hoffen wir auf einen erfolgreichen Europäischen Rat.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat der Kollege Stefan Seidler.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Moin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ölembargo gegen Russland ist ebenso richtig wie die Reformen der Bundesregierung zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Es ist wichtig, dass wir Europäer geeint stehen und die Abhängigkeit reduzieren. Dass dies in Brüssel gelingt, dafür hat der Bundeskanzler hier im Hohen Hause breite Unterstützung. Die Konsequenz aus dem Embargo darf aber nicht sein, dass wir nun die Öl- und Gasförderung in der Nordsee ausweiten.
({0})
Wir hören vermehrt Stimmen darüber, auch aus der Bundesregierung. Der Nationalpark und das UNESCO-Welterbe Wattenmeer als einzigartiges Ökosystem ist dadurch bedroht.
Es stellt sich die Frage: Wie können wir bis 2045 klimaneutral sein, wenn etwa Wintershall DEA die Ölförderung auf der Mittelplate bis 2069 verlängern will? Über die Abholzung des Amazonasgebiets empören wir uns zu Recht. Doch sind wir so viel besser, wenn wir unser eigenes Wattenmeer nun durch Bohrungen beschädigen wollen?
Zum Gas. In Europa gibt es 37 LNG-Terminals. Deren Kapazitäten sollten wir erst einmal auslasten, bevor wir neue Anlagen für schmutziges LNG teuer einrichten,
({1})
zumal der Gasbedarf in Zukunft eher sinken wird.
Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit Bundesminister Robert Habeck waren Sie gestern im dänischen Esbjerg, um den Ausbau der Windkraft in der Nordsee mit den Anrainerstaaten zu besprechen. Europäische Kooperation ist genau der Weg, den wir brauchen. Sprechen Sie deshalb auf dem Gipfel in Brüssel bitte nicht nur über fossile Energieträger, sondern auch darüber, wie wir gemeinsam in Europa die Erneuerbaren stärken.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Jörg Nürnberger für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Themen, die vom Außerordentlichen Europäischen Rat Ende Mai in Brüssel behandelt werden, stehen alle im Zusammenhang mit dem verbrecherischen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Es wird daher bei diesem Rat ganz vorrangig um die Fragen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehen. Wir vertreten als SPD-Fraktion einen umfassenden Sicherheitsbegriff, der ganz verschiedene Aspekte von Sicherheit beinhaltet.
Ich möchte mich hier in meiner Rede, da ich Mitglied im Europa- und im Verteidigungsausschuss bin, auf den Bereich „klassische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ konzentrieren. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die entsprechenden und entscheidenden Maximen des Regierungshandelns in dieser Zeit des Krieges in Europa bereits beschrieben. Das wichtigste Prinzip ist: Wir stehen an der Seite der Ukraine und unterstützen sie mit all unseren Kräften. Gleichzeitig gilt dabei: Deutschland und die NATO dürfen nicht zur Kriegspartei werden. Wir stimmen unser Handeln stets mit unseren Partnern ab. Die deutsche Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit darf nicht eingeschränkt werden.
({0})
Und das letzte und wichtigste Ziel: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen.
({1})
Die gegenseitige Abstimmung mit unseren Partnern in Europa und der westlichen Welt ist dabei besonders wichtig. Bereits seit der deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 haben die EU-Mitgliedstaaten ihre Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik verstärkt. Mit dem Beschluss des Strategischen Kompasses im März haben wir nun eine neue Grundlage für die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit auf der Ebene der EU geschaffen. Der Kompass ist eine Grundlage für schnellere Reaktionsmöglichkeiten der EU in Krisenzeiten, um somit unsere europäischen Bürgerinnen und Bürger noch besser schützen zu können. Die Aufstellung einer entsprechenden europäischen Eingreiftruppe gehört dazu. Wir werden diesen Kompass für Sicherheit auch künftig stets nachjustieren, wenn es notwendig sein wird.
Gleichzeitig – das kann nicht oft genug gesagt werden – geht es in der EU nicht um den Aufbau von Doppelstrukturen, sondern immer nur um eine Ergänzung der Zusammenarbeit mit unseren NATO-Partnern. Die beabsichtigte Aufnahme der EU-Mitgliedstaaten Finnland und Schweden in die NATO wird hier nochmals eine Verbesserung der Sicherheitslage für alle Europäerinnen und Europäer mit sich bringen. Der türkische Präsident sollte seine ablehnende Position überdenken, da diese Erweiterung zwar nicht die Südflanke betrifft, aber eben insgesamt die NATO stärkt, wovon auch die Türkei profitieren wird.
({2})
Die Bedeutung einer starken europäischen Verteidigung ist mir an diesem Wochenende wieder ganz konkret bewusst geworden. Am Sonntag war ich als einziger Abgeordneter aus dem Bundestag Gast bei einer Gefechtsübung auf dem Truppenübungsplatz Bergen, wo 7 500 Männer und Frauen aus neun Nationen für den Ernstfall üben, der hoffentlich nie eintreten wird. Das zeigt die Stärke unseres Bündnisses. Wir sind in der Lage, neun Nationen zusammenzuführen und ein Team zu bilden, eine gemeinsame Verteidigung. Uns verbinden die Werte und die Absicht, die Freiheit unserer liberalen Demokratien gegen alle Autokraten dieser Welt zu verteidigen. Wir stehen zusammen.
({3})
Dieser Eindruck hat sich auch in Litauen verstärkt, wo ich den deutschen Anteil der Enhanced Forward Presence Battlegroup Litauen besucht habe. Genau hier, an der NATO-Ostflanke, sind die Ängste und Sorgen durch den russischen Angriff auf die Ukraine besonders groß. Meine Schwiegereltern zum Beispiel haben den Einmarsch der sowjetischen Truppen nach Tschechien live miterlebt, und selbst meine Frau, die Jahrgang 1971 ist, konnte immer noch die Schäden beobachten, die dieser Einmarsch hinterlassen hat, und zwar nicht nur an den Gebäuden in Liberec, sondern auch bei den Einstellungen der Bevölkerung und dem Verhältnis gegenüber der Sowjetunion und jetzt Russland.
Ein letzter Eindruck aus Tschechien, aus Žatec – der deutsche Name ist Saaz –, der Ort, wo der Hopfen herkommt, den ich am 3. und 4. Mai besucht habe. Hier sind diejenigen tschechischen Truppen stationiert, die einerseits sehr eng mit der 10. Panzerdivision in Nordbayern zusammenarbeiten und die sich andererseits aktuell auch auf ihren Einsatz in der Slowakei vorbereiten. Dort werden erneut deutsche und tschechische Soldatinnen und Soldaten zusammenarbeiten, um Russland von einer Aggression auf NATO- und EU-Gebiet abzuschrecken.
Warum erzähle ich das alles? Ich erzähle das deshalb, weil diese Zusammenarbeit der entscheidende Faktor ist, um die europäische Sicherheit voranzubringen. Unsere Partner wünschen sich nämlich ein starkes europäisches Engagement in sicherheitspolitischen Fragen. Die Bundesregierung und Olaf Scholz setzen hier genau die richtigen Schwerpunkte. Eine Abgeordnete aus einem kleineren NATO- und EU-Staat hat es diese Woche so ausgedrückt: Früher haben wir uns vor einem starken Deutschland gefürchtet, heute wünschen wir uns ein stabiles und starkes Deutschland, das seiner Verantwortung in Europa gerecht wird.
Es ist eine Zeitenwende, wenn gerade Deutschland als Garant für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gesehen wird. Daher vertrauen auch unsere Partner in Europa darauf, dass wir unseren Beitrag zur militärischen Verteidigung leisten. Dazu gehört die Errichtung des 100‑Milliarden-Euro-Sondervermögens der Bundeswehr.
Ein Wort an die Opposition sei schon gestattet. Wenn man Sie im Plenum beobachtet, spürt man, wie zwei Herzen in Ihrer Brust schlagen. Man spürt, dass Sie einerseits doch ein gewisses Gefühl für staatspolitische Verantwortung haben, aber Sie auf der anderen Seite offensichtlich auch andere Motive treiben. Bitte geben Sie sich einen Ruck, und werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht!
Olaf Scholz und die Bundesregierung verfolgen nämlich genau dieses Ziel und zeigen durch ihre entschlossene und gleichzeitig besonnene Vorgehensweise in den vergangenen Wochen, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden. Dafür gebührt der gesamten Regierung und insbesondere Olaf Scholz unsere Anerkennung und unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland muss schneller werden. Die sich stellenden Herausforderungen sind enorm: der nachhaltige Umbau hin zur Klimaneutralität, die Digitalisierung, die Sorge um die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft und der Erhalt der Versorgungssicherheit. Wir brauchen umfassende Investitionen, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt, meine Damen und Herren.
({0})
Ich finde, es steht uns als Union gut an, diesen Antrag hier zur Debatte zu bringen. Wir erkennen an, dass sich in der Koalition bei der Planungsbeschleunigung etwas tut, aber eben immer noch zu wenig. Daher legen wir weiter gehende Vorschläge auf den Tisch.
Und es steht uns auch gut an, diesen Antrag einzubringen mit Blick auf unsere zurückliegende Regierungsverantwortung. Da haben wir einiges erreicht, aber die Widerstände gerade des SPD-geführten Bundesumweltministeriums
({1})
bei allem, was Planung beschleunigt, sind mir noch in leidvoller Erinnerung – ich will nur mal Beispiele nennen –, sei es die Modernisierung des Bau- und Immissionsschutzrechts für den Umbau der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung hin zu mehr Tierwohl
({2})
oder die für die Erreichung der Klimaziele im Verkehr dringend zu beschleunigenden Elektrifizierungen der Schiene auch auf langen Strecken. All das war mit der SPD nicht möglich, und auch von den Grünen gab es immer wieder Kritik und Ablehnung, wenn ich beispielsweise an das Maßnahmengesetz zur Legalplanung wichtiger Infrastrukturprojekte denke.
Aber nun bestehen neue Herausforderungen und damit auch neue Chancen. Das Thema Planungsbeschleunigung geht alle demokratischen Kräfte an. Nur wenn Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen, kommen wir wirklich voran. Aber der entscheidende Impuls muss vom Bund und von der Bundesregierung ausgehen.
Und was macht die Ampel? Die Ampel vertut unnötig Zeit mit dem Streit darüber, was gute und damit zu beschleunigende Infrastruktur und was weniger gute Infrastruktur ist. Das, meine Damen und Herren, ist für mich absolut unverständlich.
({3})
Wer es mit der Transformation unserer Industrie ernst meint, der muss umfassende Investitionen in Industrieanlagen rasch ermöglichen, zum Beispiel bei der Wasserstoffwirtschaft. Moderne Verkehrswege, und zwar egal, ob Schiene, Wasserstraße oder Straße, sind die Lebensadern vitaler Wirtschaftsstandorte. Ohne sie leidet auch die soziale Teilhabe in Stadt und Land.
Und wir müssen auch auf vermehrte Starkregenereignisse, Hochwasser oder Dürreperioden reagieren. Zügige Verbesserungen beim Hochwasserschutz, beim Deichbau oder im Bereich der Wassernetze sind zwingend.
Die Bundesregierung handelt bislang nur auf eng begrenzten Feldern. In den genannten und in etlichen anderen Bereichen braucht Deutschland aber ebenfalls einen Beschleunigungsturbo, meine Damen und Herren.
Unser Antrag ist auch ein Angebot des konstruktiven Miteinanders. Lassen Sie uns gemeinsam dort einen Gang oder auch zwei Gänge zuschalten, wo es Sinn macht. Im bundesstaatlichen Gefüge mit starken Kommunen geht das nur im Konsens. Deshalb bin ich auch auf die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zur Planungsbeschleunigung gespannt. Ich will auch ganz klar sagen, was unsere Erwartung an die Ministerpräsidenten ist: Das muss ein großer Wurf werden!
Die zentrale Frage lautet: Wo können wir bei einzelnen Anforderungen und Auflagen ein Stück weit zurückfahren, weil das in einer Gesamtbetrachtung Sinn macht? Beim Ausgleich zwischen Investitionen für den Klimaschutz sowie dem Arten- und Naturschutz sind zum Beispiel schlankere Verfahren dort geboten, wo die positiven ökologischen Gesamtauswirkungen eines Vorhabens dies rechtfertigen.
Und auch bei einem anderen Thema ist die Bundesregierung gefordert. Wenn die Dinge nach dem gesunden Menschenverstand eigentlich klar erscheinen, ist es oft so, dass dann gern europäisches Recht oder Völkerrecht bemüht werden, sei es bei den Vorgaben zu Umweltverträglichkeitsprüfungen, bei der Verbandsklage oder beim Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz.
Das aber ist nicht mein Anspruch an Politik. Ich erwarte von einer Bundesregierung, dass sie sich auf europäischer und auf internationaler Ebene mutig und engagiert für Anpassungen am Rechtsrahmen einsetzt, wenn diese geboten sind.
({4})
Und in meinen Augen sind diese zwingend geboten. Der europäische Green Deal verändert die Geschäftsgrundlage fundamental. Die Mitgliedstaaten sollen ihre Wirtschaft, ihre Infrastruktur im Rekordtempo modernisieren und dekarbonisieren. Da muss auch die EU größtes Interesse an einer Verschlankung der Wege und Verkürzung der Verfahren haben.
Also, es gibt viel zu tun. Untätigkeit seitens der Bundesregierung wäre nicht nur politisch unverständlich, sondern würde der nachhaltigen Entwicklung Deutschlands schaden. Mit unserem Antrag liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch. Ich bitte Sie alle um Unterstützung für unsere Forderungen für eine gute Zukunft unseres Landes.
({5})
Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Lieber Herr Bilger, vielen Dank für den Antrag, vielen Dank für die mahnenden Worte von einem, der es wissen muss: Sie waren ja immerhin lange Jahre Parlamentarischer Staatssekretär im Verkehrsministerium. Da haben Sie ja ganz, ganz viel im Bereich Planungsbeschleunigung erreicht,
({0})
und Sie haben ja auch erwähnt, woran es aus Ihrer Sicht gelegen hat: Da muss jetzt mal die Europäische Union was machen.
({1})
Also, vielen Dank für den Antrag, vielen Dank, dass wir dieses Thema auf der Tagesordnung haben.
({2})
Und ich kann Ihnen zu Ihrer Beruhigung versichern: Wir sind an dem Thema dran.
({3})
Es steht nämlich auch schon im Koalitionsvertrag, und zwar an prominenter Stelle. Von daher immer gerne; Ihre konstruktive Mitarbeit kennen wir ja aus vielen Bereichen. Aber wir sind da offen. Bringen Sie Ihre Vorschläge gerne ein. Immerhin steht in dem Antrag ja einiges drin. Diese Koalition arbeitet mit Hochdruck daran.
Folgendes wollten Sie ja auch wissen: Eines der zentralen Themen ist natürlich der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir haben gerade eine lange Debatte dazu verfolgt. Da ging es darum, dass wir von russischem Gas, von russischen Energieimporten unabhängig werden müssen. Ich sage aber dazu: Wir haben es auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir bei der Bekämpfung des Klimawandels schneller werden wollen, viel schneller, als wir es in der Vergangenheit mit Ihnen gemeinsam geschafft haben.
({4})
- 16 Jahre, Herr Spahn, waren Sie in Verantwortung. An allem ist die SPD schuld; ist schon klar.
({5})
Diese Fortschrittskoalition hat in sechs Monaten mehr geschafft als Sie in 16 Jahren.
({6})
Vielleicht erinnern Sie sich noch an einen Energie- und Wirtschaftsminister, der Peter Altmaier hieß.
({7})
Der durfte ja nicht mal eine Kalkulation des Energiebedarfs vorlegen, weil die Unionsfraktion ihm das verboten hat. Erst am Ende der Legislaturperiode, als er sozusagen nicht mehr an diese Fesseln gebunden war, hat er dann eine Berechnung vorgelegt. Das war zugegeben etwas spät, und es war auch noch viel zu niedrig.
Also, wir hingegen handeln; wir handeln extrem schnell. Vielleicht ist ein gutes Beispiel dafür das LNG-Gesetz, das wir heute Abend in zweiter und dritter Lesung beschließen werden. Wir werden der Verantwortung gerecht, dass wir aufgrund der Zeitenwende schnell reagieren müssen.
({8})
Wir schaffen die Möglichkeit, dass noch in diesem Winter schwimmende LNG-Terminals ihre Arbeit aufnehmen können und dass wir damit einen entscheidenden Beitrag zu dieser Energieunabhängigkeit leisten werden.
Ich möchte dieses Beispiel noch an einer weiteren Stelle nennen, weil es nämlich auch aufzeigt, dass wir dabei die Dauerkrisen dieses Planeten eben nicht aus dem Blick verlieren. Es gibt die Artenkrise und den Klimawandel, und beides müssen wir natürlich bekämpfen. Deswegen ist es eine gute und richtige Entscheidung, dass wir jetzt einerseits die schwimmenden Terminals sehr, sehr schnell ins Werk setzen – auch unter Aussetzung von Umwelt- und anderen Fachrechten –, dass wir aber andererseits bei den Projekten, die sowieso längere Baumaßnahmen sind, die also mehrere Monate und Jahre brauchen werden, das Fachrecht nicht schleifen und auch nicht aussetzen,
({9})
sondern nur an den nötigen Stellen beschleunigen. Deswegen ist das, finde ich, ein kluges, gutes und angemessenes Vorgehen in diesen Zeiten, in denen wir sind.
({10})
Sie hingegen schreiben in Ihrem Antrag, Sie setzen auf Ausnahmen, Sie setzen auf Einschränkungen, und Sie setzen auf Verschlechterungen beim Natur- und Artenschutz. Bei der Eingriffsregelung wollen Sie eine Umgestaltung des naturschutzfachlichen Vermeidungsgebots, und Sie wollen den Verzicht – höre, höre, höre! – auf den naturschutzrechtlichen Ausgleich. Damit schleifen Sie zentrale Elemente des Arten- und Naturschutzes. Das ist Ihre eindimensionale Antwort auf das Thema Planungs- und Verfahrensbeschleunigung.
({11})
Das ist nicht unser Weg, und den gehen wir nicht mit.
({12})
Ich komme zum Schluss. Wir wollen schneller werden. Sie werden sehen: Bereits in der zweiten Jahreshälfte werden wir die nötigen Gesetze und Verfahrensbeschleunigungen verabschieden,
({13})
weil nämlich hinter den Kulissen schon eifrig gearbeitet wird. Deswegen herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Wir setzen auf kürzere Verfahren. Wir setzen auf Digitalisierung. Wir setzen auf mehr Personal. Wir setzen auf Standardisierung und Beschleunigung, aber nicht auf das Schleifen von materiellem Recht, Fach- und Umweltrecht.
Vielen Dank.
({14})
Ein kleiner Hinweis für die nachfolgenden Rednerinnen und Redner: Die Ankündigung des Abschlusses der Rede ersetzt nicht den Schlusspunkt. Sie reden dann auf Kosten der nachfolgenden Rednerinnen und Redner Ihrer Fraktion.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Bleck für AfD-Fraktion.
({1})
Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
In bunten Bildern wenig Klarheit, Viel Irrthum und ein Fünkchen Wahrheit, So wird der beste Trank gebraut, D er alle Welt erquickt und auferbaut.
N ach diesem Rezept aus Goethes Faust haben CDU und CSU ihren Antrag geschrieben. Neben dem Fünkchen Wahrheit, Stichwort „Digitalisierung der Verwaltung“, beinhaltet er viel Irrtum, Stichwort „Artenschutz“.
Im Spannungsfeld zwischen Klimaschutz auf der einen Seite und Artenschutz auf der anderen Seite positionieren sich CDU und CSU völlig einseitig. So fordern Sie, ähnlich wie SPD, Grüne und FDP, den Schutz von Populationen bei Planungs- und Genehmigungsverfahren. Das hört sich zwar gut an, ist aber schlecht. Denn beim Populationsschutz ist nicht der bessere Artenschutz, sondern der schnellere Ausbau der sogenannten erneuerbaren Energien Motor des Gedankens.
({0})
Nicht mehr der einzelne Rotmilan soll geschützt werden, sondern nur noch seine Population.
({1})
Doch der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 4. März 2021 den Individuenschutz gestärkt. Für den Ausbau von Windkraftanlagen bleibt es also bei einer individuumbezogenen Betrachtung auf der Ebene des Verbottatbestandes. Wer eine populationsbezogene Betrachtung möchte, verstößt gegen europäisches Recht. Auch deshalb sagen wir: Rotmilan statt Windkraftwahn.
({2})
Darüber hinaus glauben CDU/CSU, der klimaschutzpolitische Nutzen von Photovoltaikanlagen auf Freiflächen überwiege grundsätzlich den naturschutzpolitischen Schaden. Doch das ist falsch. Richtig ist: Unter bestimmten Bedingungen kann – kann! – der Ausbau von Photovoltaikanlagen naturschutzverträglich gestaltet werden. Das ist jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Aus diesem Grund sollten für den Ausbau von Photovoltaikanlagen Dachflächen und nicht Freiflächen genutzt werden.
({3})
Dass Sie zudem einen Verzicht auf den naturschutzrechtlichen Ausgleich für Energieinfrastruktur fordern, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Sie etikettieren das als modernisierten Natur- und Artenschutz. Wir nennen das „kastrierter Natur- und Artenschutz“.
({4})
Des Weiteren müssen CDU und CSU das Verbandsklagerecht nicht nur auf Umweltbelange beschränken, sondern auch bei einer nicht ordnungsgemäßen Beteiligung der Verbände im Planungsverfahren ermöglichen. Klageberechtigt sollen nur Verbände sein, die anerkannt sind – höre, höre! Welche Verbände das wohl sein können, können wir uns alle vorstellen. Das etikettieren Sie in Ihrem Antrag als effizientere Bürgerbeteiligung. Wir nennen das „inszenierte Bürgerbeteiligung“.
({5})
Werte Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, dem Titel Ihres Antrags nach möchten Sie ein beschleunigtes Planungs- und Genehmigungsverfahren für mehr Wohlstand, Versorgungssicherheit und ökologischen Mehrwert. Doch diese Ziele werden Sie mit den sogenannten erneuerbaren Energien nicht erreichen. Wir haben bereits den höchsten Strompreis der Welt, wir haben bereits steigende Zahlen von Noteingriffen in das Stromnetz, und wir haben bereits einen unter Druck geratenen Artenschutz. Ihr Antrag wird das alles noch verschlimmern.
Obwohl ich weiß, dass einige Abgeordnete Ihrer Fraktion es besser wissen, erwähnen Sie eine Lösung für die teilweise von Ihnen mitverschuldeten Probleme nicht: die Kernenergie. Gemeinsam mit der Kohleverstromung legte die Kernenergie einst den Grundstein für den Wohlstand unseres Landes und unserer Bürger. Der Strompreis war niedrig, das Stromnetz stabil. Und im Unterschied zu Windkraftanlagen, Photovoltaikanlagen und Kohlekraftwerken liefern Kernkraftwerke CO2-freien und grundlastfähigen Strom.
Werte Kolleginnen und Kollegen, seit der 20. Wahlperiode im Deutschen Bundestag ist der Umweltausschuss auch für den Verbraucherschutz zuständig. Den Antrag von CDU und CSU könnten wir im Umweltausschuss auch unter verbraucherschutzpolitischen Gesichtspunkten mitberaten; denn es besteht hier offensichtlich ein Verdacht auf Etikettenschwindel und Mogelpackung.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Christina-Johanne Schröder für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ihren Antrag, liebe CDU/CSU-Fraktion, gelesen und dachte: Wow, die Union hatte einen echten Erkenntnisprozess.
({0})
Sie fordern den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft hin zu Klimaneutralität, den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien und wollen damit die Versorgungssicherheit in Deutschland sichern. Sie wollen einen besseren Schutz vor Starkregen, Hochwasser und Dürre, also die Folgen des Klimawandels abmildern. Sie von der Union wünschen sich Straßen, die nicht von Schlaglöchern übersät sind, Brücken, die man nicht sperren muss, weil sie unter der Last des Verkehrs zusammenbrechen. Und damit es weniger Verkehr gibt, sollen der ÖPNV und die Schieneninfrastruktur ausgebaut werden. Dabei denken Sie nicht nur an diejenigen, die von A nach B kommen müssen, sondern auch an jene, die unter Lärm und Abgasen leiden.
Wir befinden uns inmitten einer großen Wohnungs- und Mietpreiskrise. Die wollen Sie durch mehr bezahlbaren Geschosswohnungsbau lösen. Nicht zuletzt fordern Sie in diesem Antrag, die landwirtschaftliche Nutztierhaltung umzubauen, damit Tiere nicht leiden, sondern sich entsprechend ihren Bedürfnissen – Platz, Licht und Luft – bewegen können. Liebe Kollegen der Union, das wollen wir auch.
({1})
Ich habe mich nicht gefragt, warum Sie in den letzten 16 Jahren diese Ziele nicht umgesetzt haben.
({2})
Ich war vielmehr sehr daran interessiert, was Sie vorschlagen, und muss feststellen, dass wir das ganz gut mit der SPD umsetzen.
({3})
Ihre Lösungen sind halt beim Alten geblieben. Ihre zentrale Lösung, um die Planung in der Bundesrepublik zu beschleunigen, ist weiterhin die Beschneidung von Beteiligungsrechten. Bürger/-innen und Umweltverbände werden weiterhin als Planungsbremser/-innen abgewertet. Neu ist, dass die Beschneidung der Beteiligungsrechte mit ein bisschen Digitalisierung garniert wird.
Herr Bilger, Sie haben das Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz erwähnt. Das hat nun ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen die Bundesrepublik ausgelöst.
({4})
Dass dieses Gesetz gegen die Aarhus-Konvention verstößt, war schon während des Gesetzgebungsprozesses so gut wie klar. Das ist auch ein Versuch, Maßnahmen wie die Weservertiefung durchzudrücken, gegen die alle Parteien vor Ort sind und die ein normales Planfeststellungsverfahren nicht überleben würden. Wichtige Maßnahmen hingegen, die wir dringend brauchen, werden dadurch gestoppt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, so wird das nichts.
({5})
Durch die Ampelregierung wurde der Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung bereits gestartet. Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen ist Chefsache bei uns. Das Kanzleramt durchforstet mit den Staatssekretären bestehende Gesetze, plant Verschlankungen und analysiert sachgerecht die Ursachen für zu lange Genehmigungsprozesse. Es ist beinahe nicht zu glauben, dass praktisch alle Gesetze zur Entbürokratisierung und zur Planungsbeschleunigung nicht sachgerecht evaluiert wurden.
Da kommen wir zu einer wesentlichen Frage dieser Debatte: Warum verzögern sich Planungen in Deutschland?
({6})
Das ist wichtig: Es liegt nicht an der demokratischen Legitimation, an Bürger/-innen- und Beteiligungsrechten. Dieser Mythos gehört in den verstaubten Aktenschrank.
({7})
Dass schnelle Planung in Deutschland mit einer effektiv arbeitenden Regierung möglich ist, zeigen Gesetze, die wir aktuell beraten, zum Ausbau der erneuerbaren Energien und auch zu den LNG-Terminals, um Menschen im Winter eine warme Wohnung zu bieten und der Industrie die notwendige Prozesswärme.
({8})
Wir werden die dialogische Kompetenz für Beteiligungsverfahren stärken und den Ländern und Kommunen die eigenen Beratungskapazitäten zur Verfügung stellen. Frühzeitige Verfahrenskompetenzen zwischen Vorhabenträgerinnen und ‑trägern, Anhörungs- und Genehmigungsbehörden werden grundsätzlich etabliert, um gerichtliche Auseinandersetzungen zu minimieren. Behörden werden endlich mit der notwendigen Technik ausgestattet, damit Daten zur Kartierung und zum Artenschutz flächenübergreifend und lange nutzbar sind – und zentral zugänglich. Das Raumordnungsgesetz und das Baugesetzbuch werden modernisiert, und das nicht erst zum Ende der Legislaturperiode. Ein Grund für Verzögerungen in der Planung und Genehmigung ist sicherlich auch die personelle Ausstattung; deswegen ist eine Ausbildungs- und Fortbildungsinitiative ein zentraler Bestandteil der Planungsbeschleunigung.
Liebe Union, an 38 Punkten des Koalitionsvertrages wird die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen behandelt.
({9})
Wir messen dem einen hohen Wert zu, und wir werden das verlorene Vertrauen von Gesellschaft und Wirtschaft zurückgewinnen,
({10})
und zwar ohne Bürger/-innenrechte zu schleifen oder Schutzgüter infrage zu stellen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der CDU/CSU-Fraktion, Sie fordern die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren.
({0})
Wer möchte dem widersprechen? Wir alle wollen das, auch die Bürger wollen das. Wie kriegen wir das hin? Erstens. Um das hinzukriegen, brauchen wir vor allen Dingen eine abgesicherte finanzielle Ausstattung der Länder, des Bundes und der Verwaltung.
({1})
Zweitens. Wir brauchen qualifiziertes und motiviertes Personal. Wenn ein kommunales Bauamt aus vermeintlichem Geldmangel keinen Bauingenieur mehr einstellen darf, können Straßen, Brücken und Schulen nicht erneuert werden. Woher kommt der Mangel? Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck: Für den Mangel ist insbesondere Ihre Ideologie des schlanken Staates, des kaputtgesparten Staates verantwortlich.
({2})
Es ist schon bemerkenswert, was Sie hier jetzt machen – irgendwie finde ich es ja amüsant –: Sie kommen jetzt her und sagen: Da funktioniert alles nicht. Da gibt es Mängel. – Das sind Mängel, für die Sie durch die Brände, die Sie in diesen Bereichen gelegt haben, selbst verantwortlich sind, und jetzt wollen Sie Feuerwehr spielen. Ich habe den Eindruck: Das kommt daher: Sie wissen, es gibt im Recht eine Position, da heißt es: Wenn ein Brandstifter beim Löschen hilft, geht er straffrei aus.
({3})
Vielleicht ist dies Motivation für diesen Antrag.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie fordern unter anderem Investitionen in die Verkehrswege, die Ertüchtigung von Straßen, die Verbesserung der Schieneninfrastruktur, den Ausbau des Nahverkehrs. Das wundert mich jetzt doch. Nicht dass ich was gegen diese Forderungen hätte! Im Gegenteil!
({5})
– Vielleicht darf ich den Satz noch zu Ende machen. – Ich frage mich aber auch: Warum haben wir das eigentlich nicht längst? Ich weiß nicht. Unter dem Antrag stehen Herr Merz und Herr Dobrindt. Redet ihr eigentlich nicht miteinander? Könnten Sie denen mal sagen, wer zuletzt der Verkehrsminister war?
({6})
Gestatten Sie – –
Gleich. – Der hieß Andi Scheuer, und ich frage mich, wo der eigentlich ist, der Andi Scheuer. Sie haben nun viermal den Verkehrsminister gestellt, und die Heldenreihe ist ja relativ lang. Viermal sind Sie für all das verantwortlich, was Sie in diesem Antrag bemängeln. Das ist schon dreist.
({0})
Kollege Ernst, ich hab jetzt die Uhr angehalten und frage Sie: Gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage des Kollegen Heilmann?
Dann komme ich gleich noch mal auf Andi zurück; das kündige ich an. – Ja, bitte.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ja gesagt, wir seien der Brandstifter, weil wir Kürzungen beim Personal vorgenommen haben. Wie Sie vielleicht wissen, war ich, bevor ich in den Deutschen Bundestag gekommen bin, Justizsenator des Landes Berlin,
({0})
auf eine rot-rote Regierung folgend, die meinen Bereich gegen unseren Widerstand um 700 Stellen gekürzt hat, und ich musste das aufräumen. Einer der Gründe für die Verfahrensverzögerungen in Berlin lag genau darin. Warum sollen wir daran schuld sein, wo das doch in den Ländern stattgefunden hat,
({1})
auch sehr stark im Osten unter Beteiligung der damaligen PDS, heute Die Linke?
({2})
Dazu möchte ich Ihnen ganz einfach sagen: Entscheidend ist ja nicht, in welchem Land wie was passiert ist, sondern entscheidend ist, welche Ideologie sich in diesem Land durchgesetzt hat.
({0})
– Ja. – Und die Ideologie, die Sie durchgesetzt haben, war: Am effektivsten ist ein Staat, wenn er sich möglichst wenig selbst in Verantwortung für das nimmt, was er tut. Ein schlanker Staat, das war Ihre Ideologie. Diese Ideologie hat dazu geführt, dass wir den schlanken Staat von Ihnen in den Verwaltungen auf allen Ebenen bis in die letzte Kommune haben, übrigens auch bei der Bundeswehr. Wenn Sie jetzt beklagen, dass sie zu wenig Unterhosen hätten: Ja, wer hat denn das Verteidigungsministerium in der letzten Zeit geführt?
({1})
Sie haben den schlanken Staat propagiert, und das Ergebnis dieses schlanken Staates ist jetzt das, was Sie bemängeln. Deshalb sage ich: Dieser Antrag ist nicht so ganz verständlich. Sie könnten zumindest mit ein wenig Demut an die Sache gehen. Sie könnten zum Beispiel sagen – dann wäre es glaubwürdiger –: Dass das so ist, haben wir selbst verursacht, und jetzt haben wir einen Wandel vollzogen. – Das alles machen Sie nicht, sondern Sie stellen sich hierher und sagen: „Alles das, was ist, ist Mist“, und haben es selbst zu verantworten. Deshalb sage ich: Sie sind Brandstifter und wollen Feuerwehr spielen. – So, damit ist die Frage beantwortet.
({2})
Jetzt komme ich noch mal zum Scheuer; denn der Scheuer ist ja schon noch mal ein Punkt. Wenn ich es richtig sehe, ist der Steuerzahler ja nun für 500 Millionen Euro – das ist eine halbe Milliarde – in der Verantwortung für das, was der ausgegeben hat. Jetzt hat der auch noch ein Verfahren am Hals. Wo sitzt der eigentlich? Ich meine, ist er hier, oder sitzt er woanders? Das zeigt doch, dass das, was dort gelaufen ist, offensichtlich nicht ganz korrekt war.
({3})
Sie fordern richtigerweise den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien. Ich lasse die Mängel – Artenschutz usw.; das ist alles schon gesagt worden – weg. Die Energiewende war in den letzten Jahren Thema im Wirtschaftsausschuss; da war ich der Vorsitzende. Da saßet ihr mit eurem Koalitionspartner drin. Der Koalitionspartner hat bemängelt und kritisiert, dass es bei euch nicht vorwärtsgeht, sondern dass ihr in den Punkten, die ihr jetzt bemängelt, die Bremser wart.
({4})
Also, war es nicht so?
({5})
– Natürlich habt ihr das bemängelt. – Und jetzt stellt ihr euch hin und sagt: Jetzt müssen wir aber ganz schnell vorankommen. – Das ist alles nicht sehr glaubwürdig.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, uns habt ihr immer vorgeworfen: Wenn ihr einen Vorschlag macht, dann sagt ihr nicht, wo das Geld herkommt. – Ich habe keinen einzigen Vorschlag gelesen, wo das Geld bei euch herkommen soll, keinen einzigen. Es kann ja sein, dass ihr auf Merz vertraut, also auf BlackRock im Hintergrund.
({7})
Ich glaube, das funktioniert nicht. Wenn das aber so ist, meine Damen und Herren, dann kann ich Ihnen sagen: Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, der ist wirklich eher amüsant als ernst zu nehmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Prinzip gibt es hier im Haus eine große Einigkeit dazu, welche Infrastrukturprojekte wir gemeinsam angehen wollen. Um den Klimawandel zu bekämpfen und die Energiewende voranzutreiben, wollen wir erneuerbare Energien ausbauen. Um dabei zu helfen, dass mehr Menschen bezahlbaren Wohnraum finden, brauchen wir mehr bezahlbare Wohnungen, und die müssen gebaut werden. Wir müssen die Netze bauen, sowohl im Bereich der Digitalisierung, Glasfaser, als auch im Bereich des Stroms. Aber wir müssen uns auch um die Frage kümmern: Was ist eigentlich die Voraussetzung dafür? Wenn es uns nicht gelingt, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, dann können wir uns all diese Projekte an den Hut stecken. Das wird nicht hinhauen, und deswegen ist es gut, dass wir heute Morgen über Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung sprechen. Man hätte sich wahrscheinlich keinen besseren Tag aussuchen können, um über dieses Thema zu sprechen, weil heute Abend diese Diskussion hier im Haus eine Fortsetzung findet mit der Beratung des LNG-Beschleunigungsgesetzes.
({0})
Vielen Dank dafür! Denn mit diesem Projekt zeigt die Ampel, dass es möglich ist, in einem bestimmten Bereich zügig ein Beschleunigungsverfahren voranzubringen. Hier geht es darum, schneller unabhängig zu werden von russischem Erdgas und schneller eine eigene LNG-Infrastruktur vorzubereiten und auf die Schiene zu setzen.
Und plötzlich ist es möglich! In Krisenzeiten geht es dann, dass man auf die Umweltverträglichkeitsprüfung in bestimmten Bereichen verzichtet, sie nachholt und das Ganze schneller macht. Und diese Kreativität, diesen Pragmatismus, den wünschen wir uns auch in anderen Bereichen. Was bei LNG-Terminals geht, das muss auch bei Straßen gehen, das muss auch bei Brücken gehen, das muss auch bei Windenergie gehen.
({1})
Das muss auch bei Wohnungen gehen.
Das muss in all diesen anderen Bereichen auch gehen, und deshalb sollten wir uns genau anschauen, was da heute Abend beraten wird, und gucken: Wo kann man es auf andere Bereiche übertragen? Da macht die Ampel sehr gute Vorschläge, die man sich dann als Beispiel für andere Bereiche nehmen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das, was wir im Bereich der Planungsbeschleunigung machen, muss natürlich mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Und ja, wir haben auch im Bereich der Innen- und Rechtspolitik vieles vor, um die Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland zu beschleunigen. Ich nenne stellvertretend erstens die Entfristung des Planungssicherstellungsgesetzes im Geschäftsbereich des BMI und zweitens die Reform der Verwaltungsgerichtsordnung aus dem Geschäftsbereich des BMJ. Das ist alles gut, und das ist alles richtig, aber wir müssen auch hinterfragen, warum andere Staaten in Europa wie Dänemark oder die Niederlande, die das gleiche Europarecht haben wie wir, mit so viel weniger Einwendungen klarkommen.
Das hat etwas damit zu tun, dass es in diesen Staaten eine andere Planungskultur gibt, und diese andere Planungskultur wollen wir auch in Deutschland etablieren. Da gibt es im Koalitionsvertrag auf den Seiten 10 bis 12 – wahrscheinlich die besten Seiten des ganzen Koalitionsvertrags –
({2})
richtig gute Ideen, wie man das machen kann: durch mehr Digitalisierung – die Kartierungsdaten sind schon genannt worden –, durch mehr Schnittstellen zwischen Bund und Ländern
({3})
– sogar zwei –, durch eine personelle Unterstützung verschiedener Ebenen und auch durch eine finanzielle Unterstützung durch den angesprochenen Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung.
Das ist der richtige Weg, den müssen wir einschlagen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Ampelkoalition heute mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz einen ersten Schritt in die richtige Richtung geht, und anschließend arbeiten wir dann unseren Koalitionsvertrag ab.
({4})
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Kuhle, herzlichen Dank, dass Sie unserem Antrag zustimmen werden; denn das, was Sie jetzt angesprochen haben, konnten und können Sie alles bei uns lesen. Wir freuen uns auf die Unterstützung der FDP bei unserem Antrag. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Dem Kollegen Träger möchte ich einfach in Erinnerung rufen – und dann ist das Thema auch durch –: 16 minus 4 macht 12. Ganz einfach zu rechnen, auch für die SPD. Und dann sage ich: Schulze, Hendricks, Gabriel. Und jeder weiß, was gemeint ist. Stehlen Sie sich nicht permanent aus der Verantwortung! Stehen Sie zu dem, wie Sie mit uns zusammen regiert haben, liebe Kollegen!
({1})
Verkehrswege sind Lebenswege und Lebensadern. Sie sind Grundlage für unseren Wohlstand, für unsere Wirtschaft, und es gehört natürlich zu den Kernaufgaben des Staates, sie zu erhalten, sie anzupassen, sie auszubauen. Das muss geschehen unter den Lebensbedingungen und Lebensrealitäten der Menschen vor Ort.
Liebe Kollegin Schröder, es ehrt Sie: 38 Punkte im Koalitionsvertrag. Wir sind der Meinung: Das ist spitze!
({2})
Ich sage Ihnen, wie es vor Ort laufen wird: Vor Ort werden Sie wieder da sein und sagen: Geht nicht! Machen wir nicht! – Es wird Bürgerinitiativen geben. Ich mache Ihnen mal ein ganz einfaches Beispiel: Ausbau eines Bahnhofs, barrierefrei. Wollen wir alle. Zehn Jahre Planung, dann Klage, unterstützt von den Grünen.
({3})
Ich hätte es nicht glauben können, aber das war so bei mir vor Ort, in meiner Heimatstadt. Da wäre ich an Ihrer Stelle einfach ruhiger.
({4})
Es nützt nichts, wenn Sie in Berlin Papier füllen, aber vor Ort anders handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind genau die Dinge, die die Menschen frustrieren. Und das sind genau die Dinge, warum wir Planungsbeschleunigung brauchen. Wir brauchen sie bei den Netzen. Wir brauchen sie im Schienenverkehr. Es funktioniert kein Umstieg, wenn ich nicht schnell die Planungen genehmige. Wie sollen denn die ganzen Taktverbindungen geschaffen werden, wenn ich für jede Weiche zehn Jahre brauche?
Das hat natürlich auch etwas mit Präklusion zu tun, Herr Kollege Kuhle. Das hat was mit Rechtsstaat zu tun. Präklusion und Fristen – das hat was mit Rechtssicherheit zu tun, und genau an dieser Stelle müssen wir ansetzen. Ewige Verfahren werden von den Menschen nicht mehr akzeptiert werden. Sie sind, ich sage es, teilweise sogar demokratiegefährdend, weil die Menschen nicht mehr glauben, dass wir mit unseren Beschlüssen und unseren Gesetzen in der Lage sind, tatsächlich vor Ort etwas durchzusetzen, etwas umzusetzen. Deswegen freuen wir uns auch da auf die Unterstützung einer Rechtsstaatspartei, weil wir wissen, was Rechtssicherheit im Planungsverfahren bedeutet, und das auch bei der Planungsbeschleunigung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wenn wir erreichen wollen, dass Planungsbeschleunigung gelingt, dann heißt es natürlich abwägen. Aber dann heißt es auch: Nach einer Entscheidung einen Punkt machen und umsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau dafür sind viele der Punkte in unserem Antrag gedacht. Sie sind natürlich eine Fortentwicklung auch dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, was wir mit vier Planungsbeschleunigungsgesetzen in der letzten Legislaturperiode begonnen haben. Da war es nie so, dass Sie die Beschleuniger waren, sondern der Beschleuniger bei der Planungsbeschleunigung war tatsächlich die Union.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Verfahrensdauer mindestens zu halbieren.
({7})
Der Kollege Ernst lacht dazu. Keine Sorge, die Kontrolle in der nächsten Legislaturperiode, ob es gelungen ist, wird die Linke nicht mehr machen; dann ist sie nicht mehr da. Die Kontrolle wird sich hier sicher abspielen, ob es gelungen ist, sie zu halbieren.
Wir bieten heute Vorschläge. Wir bieten Ihnen mit diesem Antrag die Möglichkeit, gemeinsam den Weg zu gehen. Geben Sie das Startsignal für Planungsbeschleunigung! Geben Sie das Startsignal den Menschen, dass in diesem Land etwas umgesetzt werden kann! Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, wenn wir diesen Umbau in unserer Gesellschaft, in unserem Land möchten. In diesem Sinne: Los geht’s!
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Kaweh Mansoori für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit sich die Union in der Opposition mit der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren befasst, zeigt sie eine erstaunliche Lernkurve. Ich will Sie dazu erst mal herzlich beglückwünschen.
({0})
Das sage ich auch als Hesse. Dort haben Sie jahrelang vor der Verspargelung der Landschaft gewarnt und davor, dass Windräder höher sind als Kirchtürme. Verglichen damit sind das hier ganz neue Töne, die Sie an den Tag legen – herzlichen Glückwünsch dazu!
({1})
Ein paar gute Ideen machen aber noch kein schlüssiges Konzept; manches müssen Sie da auch noch in den eigenen Reihen klären. Es reicht ein Blick nach Bayern, um festzustellen, dass die Union nicht das Gaspedal zur Beschleunigung der Energiewende ist, sondern die Bremse, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
In Bayern bleibt es nämlich beim Grundsatz, dass der Abstand zwischen Wohnbebauung und Windrad regelmäßig die zehnfache Höhe der Anlage betragen muss, und das sind häufig 2 Kilometer. Ich frage Sie: Wo sollen denn eigentlich die ganzen Windräder gebaut werden? Mit der restlosen Abschaffung der 10‑H-Regelung wäre für die Beschleunigung mehr getan als mit dem Antrag, den Sie hier heute vorgelegt haben.
({3})
In vielen Punkten folgen Sie jetzt der Koalition, an anderen Stellen liest man wirkungslose Vorschläge oder Gedanken, die häufig nicht zu Ende gedacht sind.
Zum Beispiel: Klagegründe, die zu einem frühen Zeitpunkt nicht vorgebracht worden sind, für das weitere Verfahren auszuschließen, ist in der Sache richtig, aber auch nichts Neues.
({4})
Das europarechtskonform zu gestalten, ist die eigentliche Herausforderung, der sich auch die Ampelkoalition angenommen hat.
({5})
Oder: Warum öffentlich-private Partnerschaften oder neue Auskunftsansprüche von Behörden zu schnelleren Genehmigungsentscheidungen führen sollen, das wissen Sie wahrscheinlich selbst auch nicht so genau.
Um die Modernisierung des Landes voranzubringen, wollen wir die Dauer bis zur Realisierung von Projekten halbieren. Dafür müssen wir jeden Stein umdrehen. Ich sage aber auch: Das, was wir tun, muss am Ende auch funktionieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Sie schlagen unter anderem vor, dass Klagen gegen den Ausbau der Leitungsnetze, der erneuerbaren Energien, der Wasserstoffinfrastruktur und wichtiger Verkehrsinfrastrukturprojekte keine aufschiebende Wirkung haben sollen. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet, wenn Sie diese Ausnahme zur Regel machen? Ich kann es Ihnen sagen: Fakten schaffen auf Kosten der Rechtssicherheit. Haben die Klagen Erfolg, müssen Sie die Anlagen anschließend wieder zurückbauen. Das bringt kein Mehr an Tempo; das verwandelt unser Land in eine einzige Baustelle, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Wie Beschleunigung funktionieren kann – das Stichwort ist ja schon gefallen –, das zeigen wir bei Flüssiggas, aber auch bei vielen Neuerungen im Rahmen des Osterpakets, und da wollen wir im Laufe des Jahres weitermachen. Es gilt, die richtigen Schwerpunkte zu setzen, und drei davon will ich Ihnen nennen:
Erstens. Die Digitalisierung muss endlich in der Verwaltung ankommen. Es ist bittere Realität, dass sich in unseren Behörden die Aktenordner mit Planungs- und Genehmigungsverfahren stapeln. Es ist Realität, dass diese Papierakten jahrelang von Büro zu Büro gereicht werden. Diese Verfahren müssen schnellstmöglich digitalisiert werden. Der Kollege Kuhle hat es ja auch gesagt: Während der Pandemie haben wir gesehen, dass das funktionieren kann.
({8})
Das Planungssicherstellungsgesetz hat die digitale Öffentlichkeitsbeteiligung ermöglicht. Dahinter dürfen wir nicht mehr zurück, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Zweitens. Wir müssen das Verhältnis von Klima- und Artenschutz klären. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer glaubt, dass es der richtige Weg ist, Arten- und Klimaschutz im Planungsverfahren gegeneinander auszuspielen, der vergisst, dass die Bekämpfung der Erderwärmung der beste Schutz zur Rettung bedrohter Arten ist.
({10})
Eine Vielzahl von umwelt- und artenrechtlichen Aspekten wird häufig im selben Verfahren mehrfach geprüft. Das ist in erster Linie eins, nämlich Zeitverschwendung – Verschwendung von Zeit, die wir nicht haben, wenn es um die Modernisierung unseres Landes geht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Drittens. Behörden und Gerichte brauchen Personal. Eines muss klar sein: Straffere Verfahren bringen nichts, wenn in den Behörden niemand ist, der diese Verfahren bearbeitet. Schnelle Genehmigungen bringen nichts, wenn in den Gerichten niemand ist, um sie zu überprüfen. Eine Personaloffensive ist überfällig. Sie muss kommen, und sie wird auch kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Eines möchte ich den Autorinnen und Autoren des Antrags lassen: Die Analyse stimmt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn es um die Beschleunigung von Verfahren und damit in der Konsequenz um den Ausbau der erneuerbaren Energien, um den Schienenausbau und die Modernisierung unseres Landes geht. Genau deswegen berät dieses Parlament auch nicht irgendwann, sondern jetzt die Reformgesetze der Koalition, und die nächsten stehen schon in den Startlöchern.
Wir freuen uns, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, wenn Sie uns dabei unterstützen. Und wenn Sie dann auch noch beizeiten auf Ihre Kolleginnen und Kollegen in Bayern einwirken würden, dann wäre das ganz großartig.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! So dreist wie Sie von der Union muss man erst mal sein: So wie Sie in Ihrer Scheinoppositionsrolle plötzlich bemerken, dass beispielsweise ungezügelte Zuwanderung oder die Abschaffung von Kernkraftwerken nicht die besten Ideen sind, stellen Sie jetzt einen Antrag auf Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren – ganz so, als ob Sie nicht nur die letzten 16 Jahre nicht in der Regierung gesessen hätten, sondern noch dazu nicht alles getan hätten, um die Bürger, die zum Beispiel ein Haus bauen wollten, mit immer neuen Gesetzen und Vorschriften für den „Klimaschutz“ in den Wahnsinn, die Behörden und Gewerke in die Verzweiflung und die Kosten in ungeahnte Höhen zu treiben.
Frei nach Konrad Adenauer: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“, nur mit dem großen Unterschied, dass der sich mit wirklichen Problemen herumschlagen musste und deshalb seine Meinung änderte, um die Probleme dann erfolgreich anzugehen und zu lösen. Sie aber jagen gemeinsam mit den grünen Kommunisten der Ampel einem Phantomproblem namens „menschengemachte Klimakatastrophe“ nach und wollen die Transformation unserer Industrie vorantreiben, was allein deren Abwanderung zur Folge hätte und mit ihr den Verlust von Millionen hoch wertschöpfender Arbeitsplätze. Adenauer handelte im Interesse Deutschlands, Sie im Interesse korrupter Lobbyisten, wie wir sie leider auch in diesem Parlament finden.
({0})
Natürlich ist es richtig, Planungsverfahren zu beschleunigen. Allerdings sind einige von Ihnen vorgeschlagene Mittel nicht nur ungeeignet, sie erinnern auch in fataler Weise an die einer Demokratie unwürdigen Vorgehensweisen wie zum Beispiel in der ehemaligen DDR und dem heutigen China.
Nicht umsonst hat Herr Habeck in einem Interview die von ihm mit Sicherheit ernstgemeinte Frage aufgeworfen, ob unsere Demokratie oder der Staatsdirigismus à la China besser geeignet wäre, Maßnahmen gegen die vermeintliche Klimakatastrophe zu erzwingen – gegen den Willen der Betroffenen; koste es, was es wolle, und wenn es das eigene Volk ist. Im Interview hat sich Herr Habeck zwar zur Demokratie bekannt; das erkennen wir natürlich an.
({1})
Einige der ergriffenen Maßnahmen allerdings sind Meilensteine in Richtung chinesischer Verhältnisse.
({2})
Und die Union macht auch noch Vorschläge, wie wir am schnellsten dorthin kommen! Um den berechtigten Widerstand, beispielsweise gegen die naturzerstörenden, vogeltötenden und krankmachenden Ungetüme, zu brechen, sollen Klagen nur bei Oberverwaltungsgerichten eingereicht werden dürfen und die Klagen keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Sollten alle Forderungen Ihres Antrags umgesetzt werden, würden Sie damit den Wohlstand nicht erhalten, sondern in erheblichem Maße vernichten, einem Blackout einen großen Schritt näherkommen und unsere Natur in nie dagewesenem Umfang zerstören.
Verabschieden Sie sich von der Klimaideologie! Machen Sie Vorschläge, wie wir unsere Wirtschaft ertüchtigen, unseren Wohlstand erhalten und unsere Natur schützen! Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Solange Sie sich aber an der faktischen Vernichtung Deutschlands beteiligen, werden wir Sie und Ihre Pläne, natürlich mit demokratischen Mitteln, bekämpfen – zum Erhalt unserer Heimat und zum Wohle unseres Volkes.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Lukas Benner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Lage ist uns allen klar: der Krieg in der Ukraine, die Abhängigkeit von fossiler Energie von Diktatoren und steigende Energiepreise. Der Bundeskanzler hat hier heute Morgen gesagt, dass mittel- und langfristig der einzig vernünftige Weg die Unabhängigkeit von fossiler Energie und der Weg in die Energiesouveränität ist. Genau deswegen ist es doch klar, dass wir im Bereich Planungsbeschleunigung da anfangen, wo der Schuh gerade am meisten drückt: dass wir im Energiebereich anfangen.
Liebe Unionsfraktion, es ist schön, dass Sie das Thema für sich entdeckt haben, dass Sie jetzt auch bei der Planungsbeschleunigung mitmachen wollen. Als Inspiration für Ihren Antrag diente ganz offensichtlich der Koalitionsvertrag. Es ist ein Kompliment, dass die Ampel Sie überzeugt, weil Sie unsere Ideen in Ihren Antrag schreiben.
({0})
Sie haben 16 Jahre regiert.
({1})
– Sie haben 16 Jahre regiert. Sie hätten 16 Jahre die Chance gehabt, etwas zu ändern. Jetzt sind wir an der Reihe.
Wir haben drei zentrale Punkte, wie wir nach vorne gehen wollen:
Als Erstes ist das die Digitalisierung von Verfahren. Das Planungssicherstellungsgesetz hat eine Grundlage gelegt. Das müssen wir evaluieren und weiterentwickeln. Wir brauchen digitale Verfahren.
Das Zweite ist die personelle Ausstattung. Wir sehen, dass es in der Exekutive an Personal mangelt. Und noch schlimmer: Es mangelt am Ende auch bei den Gerichten an Personal, sodass nach Klagen nicht über die Verfahren entschieden werden kann. Da wollen wir ran: zum einen mit dem Pakt für den Rechtsstaat, mit dem wir die Justiz entlasten wollen, und zum anderen mit dem Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung. Damit nicht genug: Wir wollen in diesem Jahr noch die Grundlage legen für neue Stellen am Bundesverwaltungsgericht, um für schnelle Entscheidungen zu sorgen.
({2})
Der dritte Punkt ist die Vereinheitlichung von Auslegungen. Denn bei Rechtssicherheit geht es immer darum, dass die Behörden Recht auch einheitlich und klar auslegen. Hier müssen wir mit Auslegungshilfen vorangehen und dabei helfen, dass in den Behörden im ganzen Land gleiche Entscheidungen getroffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist aber nicht so, dass wir gerade erst anfangen. Die Häuser arbeiten mit Hochdruck daran, das Thema Planungsbeschleunigung voranzubringen. Das Osterpaket hat die erste Grundlage gelegt. Im Sommerpaket kommen die großen Maßnahmen für die Beschleunigung. Und das Eckpunktepapier zu Vogelschutz und Windkraft zeigt doch, in welche Richtung wir gehen wollen.
Es geht in Ihrem Antrag, liebe Union, vor allem darum, den Umweltschutz zurückzufahren. Das kann aber doch nicht das Ziel sein. Wir können doch nicht auf Kosten des Umweltschutzes die Planungsbeschleunigung voranbringen, sondern wollen Klimaschutz mit und für den Umweltschutz machen.
({3})
Der andere wichtige Punkt ist: Wir müssen die frühe Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nach vorne bringen; denn eine frühe Beteiligung beugt Fehlern vor und sorgt für mehr Akzeptanz unserer Verfahren. Unser Ansatz sind mehr Personal und straffe Verfahren anstatt, wie Sie es fordern, weniger Umweltschutz und ausbleibende Beteiligung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können hier für Planungsbeschleunigung sehr viel tun, und das werden wir auch. Die Währung der Energiewende ist die Fläche. Deswegen: Geben Sie Ihren Antrag doch mal der Bayerischen Staatskanzlei! Sorgen Sie dafür, dass die 10‑H-Regel fällt! Wir brauchen Flächen, auf denen mittels schneller Verfahren am Ende auch gebaut werden kann.
({4})
Es geht darum, dass wir das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen, dass wir mit allen Häusern gemeinsam die Grundlage schaffen, die Planungsbeschleunigung voranzubringen, und dass Sie in Ihren Ländern dafür sorgen, dass wir Flächen zur Verfügung gestellt bekommen, damit die Anlagen am Ende auch gebaut werden können. Wir sind an dem Thema dran.
Kollege Benner, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage des Abgeordneten Hilse?
Nein, danke.
({0})
Es geht darum, dass wir die Planungsbeschleunigung jetzt mit allen Häusern angehen; das läuft bereits. Liebe Union, ich freue mich auf Ihren Input. Ich kann Ihnen versprechen: Da kommt sehr, sehr viel in den nächsten Wochen und Monaten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren! Lieber Herr Ernst, Sie haben eben darüber gesprochen, welche Form der Staat aus Ihrer Sicht haben soll. Ich bin eigentlich total bei Ihnen, dass der Staat handlungsfähig sein muss. Aber ich fand interessant, über den Gedanken zu sprechen; denn für uns muss der Staat wie ein antiker griechischer Athlet sein. Er muss schlank sein auf der einen Seite und stark auf der anderen Seite.
({0})
Er muss da schlank sein, wo es eine Menge an Regeln gibt, die Dinge behindern, die uns daran hindern, schnell zu sein. Die Regeln müssen so gut sein, wie es geht; es geht ja nicht darum, dass der Staat nicht handlungsfähig ist. Aber das, was er regelt, muss klar reguliert sein, eindeutig zu verstehen und schnell in der Umsetzung. Und er muss stark sein, indem er die Dinge umsetzt.
Jetzt können wir uns fragen: Sind wir in Deutschland in einer Situation, in der das der Fall ist? Aktuell sind wir, auch nach 16 Jahren Missmanagement, nicht in dieser Situation.
({1})
Wir sind nicht schnell. Wir sind nicht gut darin, Dinge fix hinzustellen. Sie sind gut, wenn sie einmal stehen, weil deutsche Ingenieurinnen und Ingenieure, deutsche Schaffenskraft, deutsche Ingenieurskraft, deutsche Innovationskraft dafür sorgen, dass das, was wir tun, hervorragend ist. Aber bis wir es getan haben, dauert es leider ewig, und das können wir uns nicht leisten.
({2})
Wir planen, wir tun und machen, wir gehen vorwärts. Aber die meisten Menschen in Deutschland kennen das Problem: Wenn Sie versuchen, eine Solaranlage auf Ihr Dach zu bauen, oder mit jemandem darüber sprechen, der das tut, wenn Sie versuchen, eine Renovierung durchzuführen, oder wenn Sie irgendetwas anderes tun wollen, dann haben Sie zwei Probleme. Das eine ist die riesige bürokratische Hürde.
({3})
Das Zweite ist, dass es zu wenig Fachkräfte gibt, dass es zu wenig Menschen gibt, die daran arbeiten. Und das ist eine Herausforderung.
Gut ist, dass es in der Zukunft viele gute Arbeitsplätze im Handwerksbereich geben wird. Das ist eine gute Nachricht für diejenigen, die auf Jobsuche sind. Das ist eine gute Nachricht für diejenigen, die in diesen tollen Berufen arbeiten wollen. Aber es ist natürlich eine schlechte Nachricht für den Umbau, für die Transformation, dafür, dass wir schneller werden wollen. Das ist es, was wir auf der einen Seite angehen müssen.
Auf der anderen Seite liegt darin aber auch eine Chance; denn was wir in Deutschland für Wirtschaftswachstum brauchen, ist eine Steigerung unserer Produktivität. Wir müssen mit der Arbeitskraft, die wir haben, schneller und besser werden. Nur wenn wir unsere Produktivität steigern, dann steigt auch unser Wirtschaftswachstum wieder, und vor dieser Herausforderung stehen wir. Diese Herausforderung können wir mit unterschiedlichen Dingen angehen, vor allen Dingen aber damit, dass wir die Planfeststellungsverfahren verändern, dass wir in der Planung und in der Bereitstellung schneller werden.
Das LNG-Gesetz, das wir heute Abend diskutieren werden, beweist das. Es beweist aber auch und ist eine Blaupause dafür, was alles möglich ist, was wir umsetzen können bei Dingen, die wir schnell brauchen. FSRUs, also schwimmende Terminals, sind das, was wir unglaublich schnell umsetzen können. Auf der anderen Seite muss das natürlich rechtssicher sein. Deswegen ist es richtig, dass stationäre Anlagen bei der Umweltverträglichkeitsprüfung nicht gleichermaßen berücksichtigt werden; denn Rechtssicherheit ist in diesem Land zentral und bleibt auch zentral.
({4})
Wenn wir diese Gemeinsamkeit von Produktivitätssteigerung und schlankem, aber starkem Staat hinkriegen, wenn wir die Ideen und die Schaffenskraft umsetzen, dann, meine Damen und Herren, können wir in Deutschland wirklich etwas erreichen. Das tun wir gerade mit der Ampel. Insofern freue ich mich auf die nächsten Wochen und auch auf die weitere Diskussion mit der Union.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Staat ist zu bürokratisch, zu langsam, zu starr und zu komplex organisiert. Das sagen wir nicht heute mit unserem Antrag; das hat die CDU/CSU-Fraktion vor zwei Jahren in dem Buch „Neustaat“, das mehr als 300 Seiten umfasst, festgestellt – nicht heute, Herr Ernst. Ich will Ihnen zur Historie kurz schildern: Wir haben in den letzten Legislaturperioden – Steffen Bilger hat darauf hingewiesen – durchaus kluge Einzelmaßnahmen verabschiedet, die zur Planungsbeschleunigung in Deutschland beigetragen haben; aber wir haben unser Ziel eindeutig nicht erreicht.
Unsere große Sorge ist, dass auch die Ampel ihre Ziele zur Planungsbeschleunigung nicht erreichen wird, trotz der Maßnahmen, die Sie beschrieben haben, die auch in Ihrem Koalitionsvertrag stehen und zu denen wir größtenteils Ja sagen. Ich will begründen, woran das liegt: Das Problem ist größer, als wir gedacht haben, und auch größer, als Sie es jetzt beschreiben. Wir haben eine Verkrustung und eine Problemkomplexität, mit der wir nur zurechtkommen werden, wenn die Maßnahmen gravierend genug sind.
Im Prinzip müssen wir über verschiedene Ebenen reden. Das eine sind die fachgesetzlichen Maßnahmen, zu denen ich jetzt angesichts der Zeit nichts sagen kann; aber wir werden natürlich beim Sommerpaket und an vielen anderen Stellen darüber reden. Da werden wir auch unsere weiteren Vorschläge einbringen. Dann haben wir das Personalproblem; Sie haben es ja kurz erwähnt. Natürlich wäre eine Einstellungsoffensive das Richtige. Ich darf Sie nur darauf hinweisen, dass wir vor einem demografischen Wandel stehen und ein Drittel des öffentlichen Dienstes uns in diesem Jahrzehnt verlassen wird. Und wenn Sie nicht sagen, woher Sie die Leute nehmen wollen, um einen Aufwuchs im öffentlichen Dienst hinzubekommen, dann ist das einfach unehrlich. Deswegen müssen wir Lösungen finden, und die Lösungen liegen ganz sicher in der Automatisierung von Verfahren.
Ich habe vorgestern an einer Sitzung des Landkreistages teilgenommen. Da waren 300 kommunale Vertreter, die im Kern alle gesagt haben: Ihr versteht überhaupt nicht, wo unsere Probleme liegen. – Da können Sie natürlich sagen: Das ist auch die Schuld der Vorgängerregierung. – Aber das nützt uns ja alles nichts. Wir haben das vor zwei Jahren erkannt und einen grundsätzlichen Neuanfang gefordert; das steht auch in unserem Wahlprogramm. Nun sind wir in der Rolle der Opposition, können das jetzt also nicht selber umsetzen. Aber wir helfen der Ampel gerne, unter anderem mit diesem Antrag, aber keineswegs nur mit diesem Antrag, um da gemeinsam als Demokratie weiterzukommen. Denn wenn wir da nicht weiterkommen, dann werden wir viele Ziele, nicht nur in der Klimapolitik, eindeutig verfehlen.
Ich würde zu einem Punkt gerne noch etwas sagen. „Digitale Verfahren“ heißt nicht nur, dass wir Planungen digital offenlegen. Dafür sind wir auch; das haben wir ja selber mit dem PlanSiG beschlossen. Aber wenn sich der Bund nicht entschließt, die Standardisierung von Verfahren selber in die Hand zu nehmen – diese entscheidende Weichenstellung haben Sie im Koalitionsvertrag nicht vereinbart; ich habe die große Sorge, dass Sie das während dieser Legislaturperiode auch nicht mehr tun werden –, dann werden wir weiterhin einen Wildwuchs an digitalen Verfahren in Kommunen und Ländern, die gar nicht wissen, was sie beschaffen sollen, haben, mit der Folge, dass wir 40 000 Verfahren haben – wir haben alleine 328 verschiedene Verfahren, wie Einwohnermeldeämter in Deutschland ihre Daten sammeln und abspeichern – und dies nicht vernünftig konsolidiert bekommen oder nur mit sehr großem Aufwand.
Wenn wir diese Standardisierung also nicht zu einem Bundesthema machen und wenn wir nicht alles drei angehen, sprich: wenn wir erstens nicht für fachgesetzliche Verbesserungen sorgen – Sie schlagen welche vor, wir schlagen in unserem Antrag welche vor, und aus der Gesellschaft gibt es weitere –, wir zweitens die Themen „Personal“ und „Automatisierung von Verfahren“ nicht angehen und wir drittens das Thema „Standardisierung und Digitalisierung“ nicht so angehen, dass wir da ernsthafte Fortschritte machen, dann wird das, was Sie laut Koalitionsvertrag anstreben, die Halbierung der Dauer der Planungsverfahren, niemals gelingen. Frau Scheer hat heute Morgen sogar gesagt, sie wolle von sechs Jahren auf sechs Monate runterkommen. Nicht dass wir dagegen wären, aber das werden Sie mit dem bisher Angekündigten, glaube ich, auf gar keinen Fall schaffen.
Nehmen Sie diesen Antrag insofern als Angebot für einen ernsthaften Dialog, um die wirklichen Probleme mal ehrlich zu analysieren und gemeinsam zu besprechen.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Dorothee Martin.
({0})
Besten Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Planungsbeschleunigung ist und bleibt ein Dauerbrenner. Werter Kollege Heilmann, Sie haben eben gesagt, dass Sie Sorge haben, dass wir die Ziele im Koalitionsvertrag der Ampel nicht erreichen. Daher möchte ich jetzt einen Appell an Sie richten: Dann sorgen Sie als CDU/CSU-Fraktion bitte dafür, auch in Ihrer Verantwortung, die Sie in Ländern und Kommunen tragen, dass das in der Praxis umgesetzt wird, dass das wirklich ankommt.
({0})
Denn daran zeigt es sich schlicht und ergreifend; das ist die Wahrheit. Ich bin davon überzeugt: Das ist ein Gemeinschaftsprojekt. Planungsbeschleunigung, Genehmigungsbeschleunigung, Baubeschleunigung, das geht nur im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen. Da haben auch Sie eine Verantwortung.
({1})
Unser klares Ziel ist: Wir werden die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft mit grünem Strom – dazu wurde schon viel gesagt –, mit digitaler Infrastruktur und auch mit einer zuverlässigen Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig machen, und das so rasch wie möglich.
Kollegin Martin, gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage des Kollegen Heilmann?
Ja, gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Ja, natürlich haben wir eine Verantwortung. Aber ist Ihnen bewusst, dass man in Bayern gerade dabei ist, die 10‑H-Regel in den Vorranggebieten, also in den entscheidenden Gebieten, abzuschaffen? Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass Nordrhein-Westfalen das Bundesland ist, in dem im letzten Jahr die meisten Windkrafträder ans Netz gegangen sind?
({0})
Das ist ja einer der Gründe, warum Wüst die Wahl gewonnen hat. Also, jetzt tun Sie doch nicht so, als wenn unsere Länder gar nichts machen würden. Man kann sich natürlich immer dies und das und jenes vorwerfen. Ich würde sagen, wir sollten mal gemeinsam anfangen und diesen Dialog aufnehmen. Wann haben Sie das schon, dass eine Opposition sagt: „Wir würden das gerne gemeinsam mit Ihnen machen“?
Erst mal vielen Dank für das Angebot; das nehmen wir gerne an. Ich möchte Ihnen aber durchaus auch von der Praxis in meinem Wahlkreis erzählen. Dort sieht man nämlich sehr oft, dass Wasser gepredigt und Wein getrunken wird. Ich komme aus Hamburg; das wissen Sie vielleicht nicht. Wir haben sehr ehrgeizige Ziele beim Wohnungsbau. Wir haben schon viel erreicht; aber ich erlebe immer wieder – da sind wir beim Thema „Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort“ –, dass von CDU-Seite wichtige Wohnungsbauvorhaben vor Ort aus oppositionellen Gründen, aus opportunistischen Gründen verhindert werden. So kommen wir bei wichtigen Themen wie dem Wohnungsbau nicht voran. Dass Verfahren immer weiter verzögert werden, dass auch Klagen angestrengt werden, das ist genau diese Verantwortung, die ich meine, und die nehmen Sie vor Ort ganz konkret nicht wahr.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stehe hier aber an erster Stelle als Verkehrspolitikerin, und für uns Verkehrspolitiker steht die Schiene ganz vorne. Ja, wir haben diesbezüglich sehr ambitionierte Pläne im Koalitionsvertrag. Wir wollen bis 2030 unter anderem die Verkehrsleistung auf der Schiene verdoppeln und den Anteil des Schienengüterverkehrs deutlich steigern; denn nur wenn wir das Bahnangebot verbessern, werden mehr Menschen die Züge nutzen und eben auch mehr Güter auf der Schiene transportiert werden. Deswegen möchte ich ganz klar sagen, dass der Deutschlandtakt und der damit verbundene Infrastrukturausbau unerlässlich sind. Ja, dafür brauchen wir – das wurde schon gesagt – einheitliche Zulassungsverfahren, die Vermeidung von Doppelprüfungen, standardisierte Planfeststellungen oder auch frühere Stichtage, um nur einige Punkte zu nennen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht nur das Jahrzehnt des Schienenneubaus vor uns haben, sondern auch das Jahrzehnt der Sanierung der Schiene. Deswegen müssen wir uns auch das Baustellenmanagement anschauen. Wir müssen auch dort Strukturen und Regelungen schaffen, damit die Sanierungen auf einer Bahnstrecke zur gleichen Zeit möglich sind und die Bauabschnitte nicht gestückelt werden; ich glaube, viele von uns kennen das. Auch hier müssen Baumaßnahmen effizienter, schneller und vor allem kundenfreundlicher zu Ende gebracht werden.
({1})
Neben dem Erhalt geht es auch um konkrete kleinere Maßnahmen, um eben das Schienennetz zu verbessern. Darum wird sich die Beschleunigungskommission Schiene kümmern, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Hier geht es darum, mehr Kapazität im Bahnangebot zu erreichen, vor allem im Bereich des Güterverkehrs. Es geht auch darum, bei der Elektrifizierung der Schiene besser voranzukommen, etwa durch ein gezieltes Maßnahmenprogramm.
Letztlich brauchen wir eine Beschleunigung für alle Transformationsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben. Wir brauchen sie in allen Bereichen der Verkehrsinfrastruktur. Ja, die Bahn als Kern einer nachhaltigen Mobilität muss hier Vorreiter sein. Wir brauchen aber auch ein neues Mindset für die Planung hier in Deutschland, in der Gesellschaft: weg von einer Verhinderungskultur, die wir manchmal vorfinden, hin zu einer Kultur des Ermöglichens.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Susanne Menge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich würde mir wünschen, dass Regierungsfraktionen selbstkritisch ihre Regierungsverantwortung reflektieren, insbesondere im Bereich des Verkehrssektors. Man könnte zum Beispiel annehmen, dass der Zustand unseres Planeten und die Jahr für Jahr tonnenweise überschrittenen Emissionswerte Grund genug sein könnten, endlich grundsätzliche Überzeugungen zu revidieren. Bei der Suche nach Antworten in Ihrem Antrag stoßen wir auf circa 30 Maßnahmen, von denen einige wirklich gut sind; das möchte ich hier betonen. Aber auch die Verkrustung – Kollege Heilmann, Sie haben von Verkrustung und komplexen Aufgaben gesprochen – im Verkehrssektor wird deutlich; denn es werden wieder die alten Geister aus der Flasche gelassen, die Sie im verkehrspolitischen Sektor so oft betont haben.
Mangels Zeit nenne ich nur ein kleines Beispiel: Sie wollen nach dem Gießkannenprinzip Straßen, Schienenstrecken und den öffentlichen Verkehr – Zitat – „gleichermaßen“ voranbringen, irgendwie also alles fördern und im Ergebnis viele neue Straßen bauen.
({0})
Doch was wir angesichts von Klimakrise, Artensterben und einer fragilen Energieversorgung dringend brauchen, ist eine klare Schwerpunktsetzung in der Verkehrspolitik. Die energieeffizienten, flächensparenden Verkehrsmittel des Umweltverbundes müssen – das muss man betonen – massiv gefördert werden. Zu diesem Zweck müssen alle Planungs- und Genehmigungsmaßnahmen endlich darauf fokussiert werden. Ja, das bleibt ein Kraftakt in dieser Regierungskoalition, das bleibt er aber auch für alle anderen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure, für alle, die Klimaschutz, soziale und ökonomische Verantwortung im Verkehrssektor längst zusammen denken.
({1})
Das müssen wir in einem Turbotempo machen, auch wenn die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Mit der Beschleunigungskommission Schiene macht diese Ampelkoalition einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass sie alsbald ihre Aufgabe wahrnimmt.
Danke schön fürs Zuhören.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Carina Konrad für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte heute ist eines überdeutlich geworden: Wir brauchen einen Turbo in der Planungsbeschleunigung, und das überall. Wir brauchen ihn bei aktuellen Projekten. Der Entwurf des LNG-Beschleunigungsgesetzes, der heute Abend debattiert wird, zeigt doch, was möglich ist, wenn es notwendig ist. Gerade weil die Herausforderungen unserer Zeit in allen Bereichen so riesengroß sind, müssen wir Planungen neu denken, auch weil die Versäumnisse in den letzten Jahren so groß waren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es ist ja gut, dass Sie uns mal aufgeschrieben haben, was Sie alles noch hätten erledigen wollen, wenn es gegangen wäre. Jetzt finden hier Schuldzuweisungen statt, wer es denn gewesen sein soll in den letzten Jahren. Ich sage Ihnen: Das hilft den Menschen da draußen überhaupt nicht.
({1})
Den Menschen da draußen ist es völlig egal, warum es nicht funktioniert. Die Menschen da draußen interessiert, wie es besser geht. Und darauf müssen wir Antworten geben.
({2})
Der Zustand, den wir gerade auch im Haus von Volker Wissing vorgefunden haben, im Verkehrs- und Digitalministerium, ist erschreckend. Es ist erschreckend, wenn man sieht, in welchem Zustand unsere Infrastruktur ist. Die Infrastruktur, die wir heute benutzen, wurde von unseren Eltern, unseren Großeltern, von unseren Urgroßeltern errichtet und erschaffen. Hier müssen wir einen Turbo reinbringen. Wir müssen erneuern, reparieren, Lücken schließen. Bei mir zu Hause in Rheinland-Pfalz sind bei einer Autobahn Lücken zu schließen; darauf warten die Menschen seit Jahrzehnten.
({3})
Dort ist eine Brücke über den Rhein zu bauen; denn über 70 Kilometer gibt es keine Brücke über dem Rhein. Auch darauf warten die Menschen seit Jahrzehnten. Infrastruktur muss geschaffen werden, um Menschen zu verbinden. Wenn sie nicht geschaffen wird, kostet das den Menschen Lebenszeit und schadet das der Umwelt.
({4})
Kollegin Konrad, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage des Kollegen Lange?
Sehr gerne.
Frau Kollegin, Sie haben sich gerade ein bisschen über den Ausbauzustand der Autobahnen auch in Ihrem Bundesland beschwert. Ihnen ist sicherlich bekannt, dass die Autobahnen erst mit dem 1. Januar 2021 auf den Bund übergegangen sind. Sie kennen als Rechtsstaatspartei sicherlich den Staatsaufbau, die Auftragsverwaltung und auch die Zuständigkeit der Auftragsverwaltung. Können Sie mir beantworten, wer für die Planung der Autobahnen in Rheinland-Pfalz in den letzten Jahren die Verantwortung getragen hat? Geld war nach dem Investitionshochlauf genügend da. Sie hätten es abgreifen können.
Herr Lange, Ihre Frage zeigt genau das Problem auf, das wir zu lösen haben. Diese Frage bringt auf den Punkt, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Von der Kollegin Martin wurde es schon angesprochen: Es ist eine Frage der Kultur, die wir uns in Zukunft stellen müssen. Natürlich kann man auch Schuldzuweisungen machen, warum in der Vergangenheit Dinge nicht funktioniert haben.
({0})
Aber, Herr Kollege – Sie haben gerade die Kollegen der Linken außerordentlich beleidigt –,
({1})
meine Befürchtung ist: Wenn der Kulturwandel bei Ihnen nicht ankommt, nämlich in die Zukunft zu schauen, auf allen Ebenen mitzuarbeiten – das fängt bei den Kommunen an, geht über die Länder bis hin zum Bund – und
({2})
sich an jeder Stelle die Frage zu stellen, welchen Beitrag man selbst leisten kann, damit es der Umwelt besser geht, dann prophezeie ich Ihnen, dass Sie die Erfolge in der nächsten Legislaturperiode weiterhin aus der Opposition mitverfolgen können.
({3})
Um aber noch einmal darauf zurückzukommen, was wir vorgefunden haben und was alles passieren muss: Die Menschen in NRW merken das gerade ganz enorm; denn die Rahmede-Talbrücke ist auch ein Beispiel dafür, was diese Ampel unterstützt und auf den Weg gebracht hat. Noch einmal mein Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, dass wir auch hier schneller werden! Wenn die Infrastruktur gestört ist, wenn Verkehrsadern gestört sind, dann beschäftigt das die Menschen vor Ort, und dann müssen wir schneller werden.
({4})
Wir brauchen auch einen Turbo bei der Digitalisierung. Ohne Zweifel ist auch da einiges passiert in den letzten Jahren. Aber die Pandemie hat doch gezeigt, dass das lange nicht genug ist. Eine leistungsfähige digitale Infrastruktur ist ja kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für eine moderne, für eine selbstbestimmte und für eine wirtschaftlich starke Gesellschaft. Dafür zu sorgen, dass die weißen und grauen Flecken, die jetzt noch unterversorgt sind, verschwinden, dass man auch in die Zukunft denkt, welche Datenstruktur wir brauchen, dass digitale Verwaltungen mitgedacht werden, dass alle Knoten gelöst werden, die da gemacht wurden, das ist eine Riesenaufgabe. Sie können sich sicher sein: Wir nehmen uns dieser Aufgabe an.
({5})
Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel, für einen Kulturwechsel. Ich lade alle ein, mitzumachen, weil die Aufgabe so groß ist. Ganz klar ist: Das Ermöglichen muss wieder vor dem Verhindern stehen. Geht nicht – dafür habe ich kein Verständnis mehr. Warum in der Vergangenheit alles nicht möglich war, ist mir heute egal. Wir schauen ab heute in die Zukunft und verbessern die Situation. Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Gitta Connemann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. – Dieses Sprichwort ist alt, aber aktueller denn je, zu sehen an zwei Großprojekten vor den Toren Berlins: auf der einen Seite das Planungsdesaster Willy-Brandt-Flughafen – Baukosten: 7 Milliarden Euro statt 1 Milliarde Euro, Bauzeit: 14 statt 5 Jahre –, auf der anderen Seite das Planungsvorbild mit der Gigafactory von Tesla – Team Ehrgeiz, Baukosten wie geplant, Bauzeit: 2 Jahre. Das Zauberwort: vorläufiger Baubeginn. Ein Unternehmer, der konnte, eine Politik, die wollte! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Diese Ausnahme, die wir erlebt haben, muss für alle Großprojekte in Deutschland zur Regel werden, für Erneuerbare – ja –, aber eben auch für Autobahnen, für Breitband, privat oder staatlich; denn spätestens der Krieg in der Ukraine zeigt: Deutschland ist nur so stark wie seine eigene Infrastruktur. Aber Deutschland ist eben zu langsam, zu kompliziert, zu bürokratisch. Daran scheitern Investitionen, und Projekte ziehen sich hin wie unendliche Geschichten. Ich nenne als Stichworte nur: Stuttgart 21, Elbvertiefung Hamburg, Fehmarnbeltquerung, Friesenbrücke, Rheinbrücke Leverkusen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Alle diese Projekte eint: Das Planungsrecht begünstigt derzeit nicht schnelles Bauen, sondern erleichtert Blockaden und verteuert die Projekte. Um Klagen abzuwehren, ist häufig der moderne Ablasshandel zurückgekehrt.
Die Bevölkerung schüttelt inzwischen nur noch den Kopf. Sie verliert den Glauben an die Lösungsfähigkeit der Politik; denn wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Beispiel gefällig? Die A 20 -
({0})
in Schleswig-Holstein seit 1960 geplant, wahrscheinlicher Abschluss: 2030; in Mecklenburg-Vorpommern in sieben Jahren umgesetzt. Möglich machte es das Investitionsmaßnahmengesetz von Helmut Kohl. Der Gesetzgeber trat an die Stelle der Planfeststellungsbehörde. Es geht also, wenn man will.
({1})
Keine Frage, dieses Thema gab es schon zu Zeiten der GroKo, aber es gab keine Einheit, weder hier im Bundestag noch mit dem Bundesrat. Aber in Zeiten des Krieges, von Versorgungslücken, Lieferengpässen, im Zeichen drohender Rezession und zu hoher Inflation können wir uns dies nicht mehr erlauben. Wir brauchen dieses Gemeinschaftsprojekt in diesem Haus mit den Ländern, mit den Kommunen.
Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Menge?
Ja, natürlich. Sehr gerne.
Frau Kollegin Connemann, Sie haben gerade aufgelistet, was ich mit den alten Geistern der Verkehrspolitik meinte. Sie haben haufenweise Autobahnprojekte aufgelistet, die nicht nur umweltpolitisch hart umstritten sind, sondern bei denen es noch ganz andere Probleme gibt, was den baulichen Untergrund anbetrifft. Halten Sie es in der jetzigen Situation, was den Ressourcenverbrauch, den Flächenverbrauch und die Vernichtung von Mooren anbetrifft, wirklich für angemessen, diese Autobahnprojekte noch einzufordern?
Ich habe unter anderem von einer Autobahnbrücke gesprochen, deren Zustand dazu führt, dass der Schwerlastverkehr seit mehr als vier Jahren über riesige Umwege geführt werden muss, übrigens mit entsprechender Belastung der Umwelt durch CO2-Emissionen, Staus vorprogrammiert, was das gesamte Verkehrsnetz überfordert. Wollen Sie das wirklich gutheißen? Unsere Antwort lautet an dieser Stelle: Nein. Wir brauchen eine Beschleunigung, um auch solche Projekte schneller abschließen zu können, zum Wohle nicht nur der Bevölkerung, sondern auch von Klima und Umwelt. Nur weil Ihnen das nicht passt, können Sie das nicht ausblenden.
({0})
Wir unterstützen auch die Planungsbeschleunigung für LNGs. Aber zeitgleich verschiebt die Ampel das Ziel für den Gigabitausbau und bremst insoweit den Ausbau des Netzes aus. Aber wir brauchen die Planungsbeschleunigung – für Leitungstrassen, für Bahntrassen, für Schifffahrtswege und eben auch für die Autobahnen. Wir haben dazu Vorschläge gemacht. Sie machen sich hierüber lustig. Aber wenn wir das gemeinsam schaffen wollen, brauchen wir Planungsverfahren, die wir per Gesetz durchführen können, Maßnahmengesetze und die Aussetzung der Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung für manche Großprojekte. Dadurch werden Umweltschutzbelange übrigens nicht ausgesetzt, sie werden berücksichtigt. Aber die Verfahren werden nicht unendlich verzögert. Wir brauchen auch gesetzliche Stichtagsregelungen mit Standardfristen für Einsprüche. Wenn eine Behörde nicht reagiert, muss man nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Auch die Salamitaktik bei Einwänden in Planungsverfahren muss beendet werden. Das geht durch die Wiedereinführung der materiellen Präklusion.
Es gibt viele Vorschläge, die wir gemacht haben. Dem Grunde nach geht es aber um eine Kernfrage, nämlich die Frage, ob wir bereit sind, gemeinsam einen Mentalitätswechsel durchzuführen, der bedeutet: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. – Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen diesen Weg gehen.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Johannes Schätzl hat nun für die SPD das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich muss ganz kurz ein paar Sachen klarstellen, die die Vorrednerin hier erwähnt hat: Die Ampel hat nicht beschlossen, den Gigabitausbau zu verschieben. Da können Sie sich relativ sicher sein.
({0})
Ich würde Ihre Worte aufgreifen, und Sie können sich sicher sein: Wir haben den Willen, und wir werden auch den richtigen Weg finden.
An dieser Stelle muss ich aber sagen, dass der Weg Ihres Antrags heute noch nicht ausgereift ist. Der Kollege Mansoori ist auf viele Punkte dieses Antrags eingegangen. Ich möchte mir einen kleinen Bereich herausgreifen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, Sie wollen die Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Die wollen Sie mit mehr Tempo bei Planungs- und Genehmigungsverfahren erreichen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in dieser Kausalkette gebe ich Ihnen vollkommen recht. Wir erinnern uns: Sie wollen Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Dafür greifen Sie drei konkrete Maßnahmen auf: Sie wollen die digitale Einreichung von Planungsunterlagen, Sie wollen eine Digitalisierung im Bauwesen, und Sie wollen die Digitalisierung von Akten und Urkunden. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich weiß nicht, wie viele Lebensbereiche Sie kennen; mit Akten, Urkunden und dem Bauwesen ist es im Regelfall nicht getan.
Sie vergessen an dieser Stelle wesentliche Zusammenhänge. Ich habe Ihren Antrag etliche Male gelesen. Ich habe kein einziges Mal das Wort „Breitbandausbau“ gefunden. Sie schreiben nichts zu Planungs- und Genehmigungsverfahren, um den Breitbandausbau zu beschleunigen. Wir können tatsächlich – und das können wir gerne machen, weil es wichtig und richtig ist – über die Digitalisierung im Bauwesen sprechen. Ich stelle mir nur die Frage, wie Unternehmen, wie Bürgerinnen und Bürger und wie unsere Verwaltung mit einem immer größeren Datenaufkommen zurechtkommen sollen, wenn wir nicht die notwendigen Datenverbindungen dafür schaffen.
({1})
Sie vergessen diese kompletten Zusammenhänge. Aber das ist an dieser Stelle tatsächlich auch okay: Wir vergessen sie nämlich nicht. Die Ampel wird Tempo machen beim Breitbandausbau, die Ampel wird Tempo machen beim Bau von Mobilfunkeinrichtungen, und die Ampel wird Tempo machen bei Planungs- und Genehmigungsverfahren. Darauf hat sich diese Fortschrittskoalition verständigt, und Olaf Scholz hat es versprochen: Als der Kanzler am 15. Dezember 2021 – etwa vor einem halben Jahr – von einem umfangreichen Paket im ersten Jahr gesprochen hat, hat er die Digitalisierung mitgedacht – liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie von der Union sechs Monate später leider nicht.
Wir lehnen den Antrag an dieser Stelle ab.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jürgen Berghahn aus der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner ersten Bundestagsrede vor ziemlich genau zwei Monaten habe ich schon zum Thema „Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren“ gesprochen. Die CDU/CSU bietet mir mit ihrem Antrag heute freundlicherweise noch einmal die Gelegenheit, auf die in dieser Zeit schon erzielten Fortschritte einzugehen.
Der vorliegende Antrag betont die Wichtigkeit erneuerbarer Energien und der Klimaneutralität. Das ist natürlich völlig richtig, wobei es mich irritiert, dass die CDU/CSU diese Themen erst jetzt für sich entdeckt hat. Den Regierungsparteien ist die Wichtigkeit schon länger bekannt, weshalb wir zum Beispiel das Osterpaket so schnell auf den Weg gebracht haben. Mit diesem setzen wir etliche energiepolitische Inhalte des Koalitionsvertrages zügig um. Unter anderem gehen wir den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien an, und das Bundesbedarfsplangesetz und das Energiewirtschaftsgesetz werden angegangen – um nur ein paar zu nennen. Wir verringern in zahlreichen Bereichen bürokratische Hürden, verschlanken erforderliche Verfahren, sprich: Diese Koalition bringt Tempo in die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wenn Sie uns tatsächlich unterstützen wollen, dann wirken Sie doch bitte auf Ihre Kolleginnen und Kollegen der CDU und CSU in der Europäischen Union ein; denn in der EU-Kommission wird das Thema Planungsbeschleunigung gerade ausgebremst. Da können Sie tatsächlich unterstützen.
Als weiteren Punkt betont der Antrag die Relevanz intakter, moderner Verkehrswege und fordert eine verstärkte Digitalisierung. Auch das ist völlig korrekt. Die Ampel konzentriert sich auf die Sanierung und Instandsetzung bestehender Verkehrswege und – wo nötig – auf den Ausbau notwendiger Straßen. Standardisierte Verfahren sind ebenfalls geplant, beispielsweise beim Bau von Brücken. Auch der Einsatz von Building Information Modeling sowie eine frühzeitige Bürgerbeteiligung sind selbstverständlich vorgesehen. In Lüdenscheid an der Baustelle Rahmede-Talbrücke gibt es zum Beispiel einen Bürgerbeauftragten als Schnittstelle zwischen Bevölkerung, Wirtschaft und Politik. Sein Büro ist direkt angebunden an das Bundesministerium, an die Staatssekretäre. Wir verabschieden also nicht nur Papiere, sondern wir setzen auch die Inhalte um.
({0})
Für den Herbst sind, wie Sie alle wissen, weitere Maßnahmenpakete geplant, um die Planungen, Verfahren und Genehmigungen in zusätzlichen Bereichen zu beschleunigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, wenn ich mir Ihren Antrag so durchlese, habe ich den Eindruck, dass Sie in den letzten Wochen vielleicht im Urlaub waren. Sie fordern hier Dinge, die die Ampel längst beschlossen und teilweise sogar schon umgesetzt hat. Lesen Sie doch zum Beispiel im Neun-Punkte-Plan des Bundesverkehrsministeriums oder im sogenannten Osterpaket nach!
({1})
Dann werden Sie feststellen, dass Ihr Antrag überflüssig ist und ganz offensichtlich auf Ihre Versäumnisse der letzten 16 Jahre hinweist.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise streiten wir hier in der Sache ganz gerne. Heute geht es aber etwas harmonischer zu. Das liegt mir persönlich, ehrlich gesagt, viel mehr.
Mit dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz setzen wir eine ganze Reihe von Entlastungsmaßnahmen um, die zum einen sozial sehr ausgewogen und zum anderen wirtschaftlich wirklich sehr sinnvoll sind. Schon die Corona-Steuerhilfegesetze I bis III, die die Vorgängerregierung auf den Weg gebracht hat, wurden durch große Teile der Opposition unterstützt. Wenn ich von der temporären Umsatzsteuersenkung einmal absehe, die wir immer sehr kritisch gesehen haben, haben wir die Corona-Steuerhilfegesetze I bis III sehr positiv mitgetragen.
Zum Gesetz selber. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die schon in den Gesetzen standen, wurde in diesem Gesetzgebungsverfahren durch die Ampel noch einmal deutlich erweitert.
Wir sehen eine Steuerfreistellung für den Coronabonus für Pflegekräfte vor. Im Gesetzgebungsverfahren haben wir den Personenkreis deutlich ausgeweitet. Wir sind uns bewusst, dass die Abgrenzung hier sehr schwierig ist, und haben uns sehr stark daran gehalten, welche Personengruppen im Infektionsschutzgesetz aufgelistet sind. So haben wir den Personenkreis noch einmal deutlich erweitern können. Das ist eine gute Lösung.
({0})
Wir verlängern die Steuerfreiheit des Kurzarbeitergeldes um weitere drei Monate. Wir werden sehen müssen, ob das ausreichend ist.
Wir verlängern auch die Regelung zur Homeoffice-Pauschale bis zum 31. Dezember. Ja, wir sind uns in der Ampel auch darüber einig, dass da noch etwas mehr geschehen muss. Wir haben den Experten sehr sorgfältig zugehört und glauben, wir brauchen da eine etwas strukturelle Lösung. Das werden wir in Kürze angehen. Zunächst aber erst die Verlängerung bis zum 31. Dezember, damit wir die Lebens- und die Arbeitswirklichkeit vieler Menschen besser abbilden können.
Wir haben die degressive Abschreibung um ein weiteres Jahr verlängert. Das ist ein ganz wichtiger Investitionsanreiz vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen.
Wir verlängern die Fristen für Reinvestitionen für Rücklagen nach § 6b und § 7g des Einkommensteuergesetzes. Das ist ganz wichtig für Unternehmen, die wegen der Krise möglicherweise nicht die Liquidität haben, um diese Rücklagen auflösen oder in Anspruch nehmen zu können. Deshalb kommt diese Verlängerung genau richtig.
({1})
Wir packen die Verlustverrechnung an. Wir verlängern die Verlustverrechnung noch einmal bis zum 31. Dezember 2023, sodass die erhöhten Verlustverrechnunsbeträge erst im Veranlagungszeitraum 2024 zurückgeführt werden müssen, und implementieren den Verlustrücktrag dauerhaft auf zwei Jahre.
({2})
Ja, das ist auch in der Ampel durchaus strittig gewesen; das müssen wir so sagen. Wir haben darüber länger diskutiert, und einige hätten sich mehr vorstellen können. Letzten Endes ist es auf diesen Kompromiss hinausgelaufen, den wir selbstverständlich mittragen.
Wir sind auch noch einmal an die Fristen für die steuerberatenden Berufe herangegangen und da sogar über die Vorstellung des Bundesrates hinaus. Denn dieser Berufsstand hat mit ganz enormen Belastungen in der Coronapandemie zu kämpfen: Die Coronahilfen I bis IV müssen abgerechnet werden, in Zukunft kommen Belastungen durch die Grundsteuerneuberechnung dazu. Deshalb machen wir es möglich, dass die Fristen verlängert werden, und sorgen für Planungssicherheit. Die Fristverlängerung wird dann zurückgeführt, damit wir möglichst 2025 wieder beim Normalzustand angelangt sind. Das bedeutet Planungssicherheit für die Beraterbüros und letzten Endes vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort.
({3})
Schließlich schaffen wir die bilanzielle Abzinsung von unverzinslichen Verbindlichkeiten ab – eine Regelung, der es aus meiner Sicht nie bedurft hätte und die im Steuerrecht sowieso keine große Rolle spielt. Das ist sozusagen eine kleine Hygienemaßnahme im Steuerrecht, die wir an dieses Gesetz noch angekoppelt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die tolle Zusammenarbeit in den vielen Gesprächen, die wir zu diesem Gesetz geführt haben, auch mit der Opposition. Das ist in der Tat ein wirklich gutes und gelungenes Gesetz. Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Fritz Güntzler für die CDU/ CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, insbesondere auf den Zuschauerrängen! Sie nehmen Harmonie wahr; Herr Kollege Herbrand hatte das ja eingefordert. Ich kann vorab schon sagen – das wusste Kollege Herbrand schon nach den Beratungen im Ausschuss –, dass wir dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz zustimmen werden. Schließlich sehen wir dieses Steuerhilfegesetz natürlich auch in einer gewissen Tradition der letzten drei Corona-Steuerhilfegesetze, die wir noch in der Großen Koalition gemeinsam, meist auch mit der Zustimmung der FDP, beschlossen haben.
Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz enthält im Wesentlichen die gleichen Maßnahmen, sie werden nur entfristet oder fortgeschrieben. Wir bedauern aber, um etwas Wasser in den Wein zu gießen, dass es ein wenig spät kommt. Der Regierungsentwurf war erst von Februar 2022. Man muss sehen: Maßnahmen, die dieses Jahr komplett gelten sollen, werden im Bundesrat erst im Juni beschlossen werden. Es ist also ein halbes Jahr vorbei, bevor die Maßnahmen tatsächlich beschlossen werden. Sie haben vorhin von „Planungssicherheit“ gesprochen, die geschaffen werden solle. Damit wird es schwierig, wenn der Beschluss im Bundesrat erst am 10. Juni 2022 erfolgt.
Wir stimmen zu, wie ich gesagt habe, aber im Ergebnis hätte es auch ein wenig mehr sein können. Sie gehen den richtigen Weg, sind aber leider, wie so oft, auf halber Strecke stehen geblieben. Wir hatten es Ihnen dabei so leicht gemacht. Wir hatten einen Entschließungsantrag eingebracht, der 14 Punkte enthält, die Ihnen nicht ganz unbekannt vorkommen dürften, Herr Kollege Herbrand, die Sie hätten übernehmen können. Aber leider werden Sie heute gemeinsam als Ampelkoalition diesen Antrag wie schon im Ausschuss wohl ablehnen.
({0})
Unser gemeinsames Ziel ist: Wir wollen die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, aber auch des Ukrainekrieges abfedern und so dazu beitragen, dass es Stabilisierung bei den Unternehmen gibt, aber auch Entlastung bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen auch die Eigenkapitalbasis bei Unternehmen wieder stärken, die in der schwierigen Zeit ihr Eigenkapital abschmelzen mussten; das war zum Glück vorhanden, sodass sie in der Krise Bestand hatten.
Um das Ganze aber vielleicht ein wenig weiter in Richtung Reformprojekt zu bringen – ich will gar nicht das böse Wort „Unternehmensteuerreform“ in den Mund nehmen –, wäre doch einiges mehr notwendig gewesen. Es ist schon spannend, was man von Bundesfinanzminister Lindner in dessen Broschüre „Finanzpolitik in der Zeitenwende“ lesen kann. Er schreibt, dass wir ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht brauchen und dass die Belastung der Kapitalgesellschaften in Deutschland zu hoch ist. Da hat er recht. Aber ich frage in Richtung Bundesfinanzminister Lindner – die Staatssekretärin ist da, die kann das mitnehmen –: Wo bleiben Ihre Vorschläge? Also, wir würden schon erwarten, dass man nicht nur Papiere schreibt, sondern dass man auch handelt und Dinge hier ins Parlament einbringt.
({1})
Sie haben in diesem Corona-Steuerhilfegesetz natürlich wichtige Dinge angesprochen und adressiert. Ich glaube, ein Punkt ist, die Liquidität in den Unternehmen zu stärken; denn Liquidität ist mit das Wichtigste. Darum verstehen wir gut, dass Sie die Verlustverrechnung, den Verlustrücktrag auf zwei Jahre verlängert haben. Aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Da geht noch mehr.
({2})
Ich weiß, dass wir diese Diskussion in der Großen Koalition in der Vergangenheit geführt haben, und ich weiß auch – das geht in Richtung Grüne und FDP –, wie schwer es ist, mit diesem Koalitionspartner über Verlustverrechnung zu reden. Das Problem der Sozialdemokratie in Deutschland ist anscheinend, dass sie meint, Verlustverrechnung sei ein Steuergeschenk. Da muss man der SPD sagen: Da irrt sie komplett.
({3})
Denn das sind latente Steuerliquiditätsansprüche, Steuererstattungsansprüche von Unternehmen. Wenn Unternehmen Verluste und dann wieder Gewinne gemacht haben oder in der Vergangenheit Gewinne gemacht haben, dann bekommen sie Geld wieder, und sie würden bei einer besseren Verlustverrechnung ihr Geld schneller wiederbekommen. Von daher wäre es begrüßenswert gewesen, den Rücktrag auf drei Jahre oder sogar vier Jahre auszuweiten, wenn ich das hier als Hinweis der Grünen aufnehmen darf, weil der zweijährige Verlustrücktrag, der zum Glück dauerhaft kommt, in die Verlustjahre 2021 und 2022 geht. Also, von daher passt das nicht ganz.
Auch über die Höhe haben wir schon viel gestritten. Ich glaube, dass es unzureichend ist. Es ist nicht gut zu erklären, warum größere Unternehmen ihre Verluste nicht verrechnen dürfen, während kleinere Unternehmen bis 10 Millionen Euro das verrechnen können.
Ein weiterer Punkt ist der Verlustvortrag. Ich verstehe gar nicht, warum das Thema überhaupt nicht aufgegriffen worden ist. Es ist so in Deutschland: Wenn man Verluste gemacht hat, kann man die Gewinne der Zukunft nur teilweise verrechnen. Aber es ist doch eigentlich richtig, dass man Unternehmen, die aus der Krise herauskommen, die dann wieder Gewinne machen, die Möglichkeit gibt, das vollständig mit den Verlusten der Vergangenheit zu verrechnen. Das wäre, glaube ich, das richtige Signal gewesen.
({4})
Des Weiteren geht es um das Thema Abschreibungen. Herr Kollege Herbrand hat herausgestellt – das werden wir heute noch öfter hören –: Die degressive Abschreibung ist entfristet worden. Aber warum mussten Sie denn entfristen? Weil die Superabschreibungen, die Sie den Menschen in diesem Land im Koalitionsvertrag für das Jahr 2022 und 2023 versprochen haben, bis jetzt nur auf dem Papier da sind. Es gibt keinen Entwurf, es gibt keine Idee, es gibt nur zwei Zeilen im Koalitionsvertrag. Da muss ich sagen: Mit Verlaub, das ist ein bisschen wenig. Da müssen Sie sich nicht für die degressive Abschreibung loben lassen.
({5})
Und wenn Sie sie beschließen, wäre es sinnvoll, solche Verbesserungen von Abschreibungsbedingungen nicht mitten im Jahr, sondern rechtzeitig und mit Vorlauf zu beschließen, weil Investitionszyklen bei Unternehmen länger dauern. Es wäre richtiger gewesen, dann auch das Jahr 2023 einzubeziehen; denn Sie glauben selber nicht mehr daran, dass Ihre Superabschreibungen 2023 kommen werden. Von daher: Ein bisschen mehr Mut, nicht nur zu Fortschritt, sondern auch zu vernünftiger Steuerpolitik, wäre hier gut gewesen.
Weitere Dinge fehlen. Ich will nur das Thema der Verluste ansprechen, die in dieser Situation bei Unternehmen entstehen, die Beteiligungen in Russland haben. Dieses Thema ist überhaupt nicht adressiert; Sie haben es überhaupt nicht aufgenommen. Das bedaure ich sehr, denn da gibt es erhebliche Probleme. Durch die Sanktionen, durch Enteignung, durch Zerstörung haben deutsche Unternehmen, die Beteiligungen in Russland halten, erhebliche Probleme. Auch da wäre mehr nötig gewesen.
({6})
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir stimmen zu; ich habe es gesagt. Es gab mehr Luft nach oben. Schade, dass Sie keinen unserer richtungsweisenden Vorschläge aus dem Entschließungsantrag übernommen haben. Aber Sie werden die Möglichkeit haben, das im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu tun. Dann werden Sie das als Ihren eigenen Erfolg verbuchen; aber ich werde immer darauf hinweisen, dass wir das schon vorher gefordert haben.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Parsa Marvi das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Güntzler, wenn Sie uns immer so kritisieren, aber am Ende dann doch zustimmen, freut uns das in der Tat sehr.
({0})
– Da kann ja noch was werden mit uns.
Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz ist eine zentrale und wichtige Maßnahme, um etwas für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, beim Thema Arbeit und für die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen in einem durchaus sehr angespannten wirtschaftlichen Umfeld zu bewegen. Ein gutes Werk ist im Rahmen unserer gemeinsamen Verhandlungen und Beratungen noch besser geworden. Unser Gesetz steht – das wurde schon gesagt – in einer guten Tradition bisheriger Coronagesetze, nicht nur wegen des Konsenses, sondern auch, weil wir hier erneut zu schnell greifenden Maßnahmen für Hilfe und Entlastung dort, wo die Folgen der Pandemie besonders spürbar sind, gekommen sind. In besonderer Weise gilt das natürlich für die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Pflege.
Die im von uns vorgelegten Gesetzentwurf enthaltene Steuer- und auch Abgabenfreiheit für die Coronasonderzahlungen ist eine logische Konsequenz und zugleich wichtige Ergänzung des Pflegebonusgesetzes für Angestellte, die in Krankenhäusern und in der Langzeitpflege in ambulanten und stationären Einrichtungen tätig sind. Wir wollen mit der Ermöglichung von steuerfreien Coronaboni für eine finanzielle Wertschätzung der Arbeit insbesondere der Beschäftigten sorgen, die viele Überstunden zur Bewältigung dieser Pandemie auf sich genommen haben, die erheblichen mentalen Belastungen und natürlich auch direkten Gesundheitsgefahren ausgesetzt waren.
Weil es – Stichwort „halbe Strecke“ – unter anderem in der öffentlichen Anhörung Forderungen gab, weitere Berufsgruppen einzubeziehen, will ich ausdrücklich sagen: Es ist aus unserer Sicht absolut vertretbar und gut, dort zu helfen, wo die Folgen der Pandemie mit am stärksten ausgeprägt waren. Das sind die Bereiche Gesundheit und Pflege, und dazu stehen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es ist ein schöner Erfolg der Verhandlungen und der Berichterstattergespräche, dass wir als Ampel den Adressatenkreis für den steuerfreien Coronabonus vergrößert haben, indem wir, wie vom Bundesrat gefordert, auch Boni im Rahmen der Tarifverträge, die Freiwilligenzahlung und auch Aufstockungen durch die Arbeitgeber steuerfrei stellen und – es wurde schon von Herrn Herbrand gesagt – weitere Einrichtungen gemäß dem Infektionsschutzgesetz, nämlich Arztpraxen, Dialyse- und Rehaeinrichtungen und Einrichtungen für ambulantes Operieren, einbeziehen. Das bedeutet auf den Punkt gebracht: Bis zu 1 Million Beschäftigte mehr, 870 000 Medizinische Fachangestellte und 86 000 Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter, können zusätzlich von unserem Gesetz profitieren. Wir sind uns sicher, dass die Arbeitgeber von dieser Möglichkeit rege Gebrauch machen werden. Das ist ein ganz wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein und echter Fortschritt durch eine Fortschrittskoalition, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wichtig für die Stützung der Konjunktur in der aktuellen Lage und für die Liquidität und Investitionsfähigkeit gerade von kleinen und mittleren Unternehmen sind die Maßnahmen, die wir auf den Weg bringen: die degressive Abschreibung, die so im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen war, aber jetzt natürlich sehr notwendig ist, im Vorgriff auf die sich in Konzeption befindliche Investitionsprämie die Verlängerung der Investitionsfristen für Reinvestitionen sowie die Verlängerung der erweiterten Verlustverrechnung und vor allem die jetzt neue und auf Dauer angelegte Möglichkeit des Verlustrücktrages auf zwei Jahre. Das ist eine wirkliche Weiterentwicklung unseres Steuerrechts. Wir bewegen uns damit auch in der internationalen Dynamik von steuerpolitischen Maßnahmen für Unternehmen. Das ist gut für unsere Volkswirtschaft, und es ist auch gut für den Standort Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Was bleibt, ist diese Botschaft: Die Ampelkoalition handelt in ungemütlichen Zeiten. Wir helfen Beschäftigten im Gesundheitswesen, in der Pflege. Wir helfen dem Mittelstand und bringen das Thema Arbeit voran. In diesem Sinne werden wir aus Überzeugung dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz zustimmen. Es ist schön, dass es auch andere überzeugt.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, das Steuerrecht als wichtiges Instrument zur Stabilisierung und Stärkung der Konjunktur einzusetzen – wie es in der Begründung heißt –, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. Die Vorredner haben die einzelnen Maßnahmen bereits aufgezählt: degressive AfA, Verlustrücktrag, Steuerfreiheit des Pflegebonus, Verlängerung der Homeoffice-Pauschale und viele andere Dinge mehr.
In die gleiche Richtung zielt ein Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion mit zahlreichen Forderungen, die in den letzten zwei Jahren schon mehrfach von der AfD-Fraktion im Bundestag beantragt wurden. Wie in diesem Hause üblich, wurden sie alle auch von der CDU reflexhaft abgelehnt.
In diese Zeit politischer Agonie fällt auch die unsinnige Wiederbelebung der Grundsteuer. Das war steuerliche Denkmalspflege, das Gegenteil von Fortschritt.
({0})
In diesen Tagen bekommen die Eigentümer von 35 Millionen Grundstücken Papierberge, um ihre Immobilienwerte zu ermitteln. Eine dringende, von uns unter Zusatzpunkt 1 beantragte Fristverlängerung für die Bewältigung dieses Bürokratiemonsters ist daher geboten. Bereits in Kirchhofs Vorschlag einer echten Steuerreform von vor zehn Jahren kommt die Grundsteuer nicht mehr vor, und im Kopf eines jeden Steuerreformers kommt sie auch nicht mehr vor.
In der Begründung des CDU/CSU-Antrags heißt es weiter, dass die anhaltend hohe Inflation und das niedrige Wirtschaftswachstum Anzeichen einer Stagflation sein könnten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist in der Tat Stand der Erkenntnis. Die Inflationsrate lag im April dieses Jahres bei 7,4 Prozent. Die Energiekosten sind im Jahresvergleich um 35 Prozent gestiegen, Erdgas hat mit 47,5 Prozent zum Preisschub beigetragen und das Heizöl mit 98,6 Prozent.
Das Gespenst der Inflation in der EU kommt also mit Macht – was zu erwarten war. Jahrelang wurde uns erzählt, dass die Inflation besiegt sei. Dann war eine Inflation von unter, aber nahe 2 Prozent die neue Preisstabilität, eine Eigendefinition des Hauses EZB. Als sich die Inflationsrate über die 2‑Prozent-Linie bewegte, wurde das Narrativ des symmetrischen Inflationsziels bemüht, um auch diesen Vorgang irgendwie wegzureden. Die EZB verlautbart in diesen Tagen – ich zitiere –:
Wir glauben, dass die Inflation im Laufe dieses Jahres zurückgehen und im nächsten und übernächsten Jahr viel niedriger sein wird als in diesem Jahr.
Wie kann man sich dieses Ausmaß an Realitätsverweigerung erklären? Gerade hat die US-Notenbank die Zinsen zur Inflationsbekämpfung erhöhen müssen. Die EZB betreibt stattdessen Auftragsarbeit für den „Club Med“ der romanischen Staaten, der seit Jahren den EZB-Rat beherrscht – von Unabhängigkeit der EZB keine Spur. Frau Lagarde ist und war französische Politikerin. Von Wirtschaft versteht sie, nebenbei bemerkt, auch nichts.
({1})
Das einzige Interesse dieser Mehrheit und ihrer Präsidentin ist, die überschuldeten romanischen Länder vor Staatskonkursen zu bewahren. Werden die Eurozinsen angehoben, steigen die Kosten für die Staatsschulden. Bleibt die Inflation oder wird sie größer, schmelzen die Staatsschulden. Das ist die handlungsleitende Maxime von Lagarde und ihrem Club. Ein deutscher Notenbankgouverneur hat dort keine Chance. Wohl deshalb hat er resigniert seinen Hut genommen, wie zwei deutsche Chefvolkswirte kurz vorher ebenfalls.
Der Bestand an Zentralbankgeld hat sich seit 2008 bis Ende letzten Jahres von 880 Milliarden Euro auf 6 Billionen Euro erhöht; das ist eine Versiebenfachung der Geldmenge. In der gleichen Zeit ist das BIP in der Eurozone um 32 Prozent gestiegen. Das heißt, der Geldmengenerhöhung von 600 Prozent steht ein Wirtschaftswachstum von 32 Prozent gegenüber – ein Vorgang, der bei der wirklich unabhängigen Bundesbank unvorstellbar wäre.
Die Finanzierung des Staatshaushaltes durch die Notenpresse, abgekoppelt von der realen Güterproduktion, hat in der Geschichte der Menschheit immer zu Staatskrisen geführt. Die Null- und Negativzinspolitik verstärkt seit Jahren den Effekt dieser hemmungslosen Schuldenpolitik. Die EZB hat die Staatsschuldenexzesse der Mitgliedstaaten größtenteils mitfinanziert und dadurch erst ermöglicht. Die Staatsschulden der Euroländer sind seit der Finanzkrise von 6,7 Billionen Euro auf 11,3 Billionen Euro angewachsen; mehr als 200-mal wurden dabei die Stabilitätskriterien gerissen, natürlich ohne Sanktionen.
({2})
Von diesem Schuldenzuwachs um 4,6 Billionen Euro, der diese Inflation produziert, an der Sie herumdoktern, hat alleine die EZB 76 Prozent durch Aufkauf von Staatsanleihen in die eigenen Bücher genommen. Damit hat sie gegen das ausdrückliche Verbot der Staatsfinanzierung nach Artikel 123 AEUV in eklatanter Weise verstoßen.
({3})
Der EuGH sieht das natürlich alles anders, weil dort die Richtermehrheit die gleiche ist wie die im EZB-Rat und in der Kommission.
({4})
Die EU-Kommission flankiert den Schuldenwahnsinn durch eine zusätzliche, ebenso regelwidrige Eigenverschuldung in Höhe von 828 Milliarden Euro für sogenannte Resilienzmaßnahmen für überschuldete Staaten.
Wozu das alles? Ein Auseinanderbrechen des EU-Regimes soll um jeden Preis verhindert werden – „whatever it takes“. Wer diese Union in einen Großstaat verwandeln will, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, der muss viele nationale Demokratien zerstören, die geeignet wären, eine solche Entwicklung zu verhindern. Er will und wird ein unregierbares Etwas erzeugen, was an die Stelle von Nationalstaaten, die Demokratien sein können – nur die können Demokratien sein –, tritt.
({5})
Genau das ist das, was die Konferenz der EU als Ergebnis erzielt hat, mit gezinkten Teilnehmern: 800 von 550 Millionen Einwohnern. Das muss eine repräsentative Meinungsteilabnahme gewesen sein.
Was derzeit von dieser Regierung gemacht wird durch Placebos bei Energiekosten, durch kurzzeitige Entlastung von Energiesteuern und eben auch durch verspätete Verbesserungen des Steuerrahmens für Unternehmen, ist der Versuch, das EU- und EZB-Versagen national zu reparieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das wird nicht gelingen.
Die EU-Staaten befinden sich in einem Dilemma. Entweder wird die Inflation zu einem massiven Kaufkraftschwund der Bevölkerung und zu Massenenteignungen von Sparern führen, oder wir werden erneut Staatsschuldenkrisen erleben, die nicht beherrschbar sind.
({6})
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
({7})
Das alles wird die Existenz des Euro infrage stellen, ob Ihnen das gefällt oder nicht.
Zum vorgelegten Gesetzentwurf werden wir uns enthalten, dem CDU/CSU-Antrag werden wir zustimmen. Aber beides, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird die Großwetterlage, die ich Ihnen geschildert habe, nicht verändern.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Glaser. – Herr Staatsminister a. D. Hoppenstedt, machen Sie sich keine Sorgen: Meine sexuelle Orientierung wechselt stündlich.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Heute ist ein guter Tag für Unternehmen und für sehr viele Beschäftigte, auch für sehr viele im Gesundheitsbereich.
({0})
Hinter dem Gesetzesnamen „Viertes Corona-Steuerhilfegesetz“ verbergen sich ziemlich viele echt tolle Dinge: für Unternehmen beispielsweise, dass die Verlustverrechnung endlich, und zwar nicht nur temporär, sondern dauerhaft, auf zwei Jahre ausgedehnt wird. Das wird uns für zukünftige Krisen fitmachen. Lieber Herr Güntzler, ja, man hätte auch rückwirkend noch mehr machen können.
({1})
Aber das ist eine tolle Entscheidung, mit der wir uns zukunftsfest aufstellen; deswegen finde ich die großartig.
({2})
Außerdem verlängern wir – davon profitieren kleine und mittelständische Unternehmen ganz besonders – noch mal die Investitionsfristen; denn die Situation bei den Lieferketten ist gerade wirklich schwierig – das wissen wir alle –, und durch diese Verlängerung kann man den Unternehmen in diesen schwierigen Zeiten helfen.
Zum Homeoffice hatte der Kollege Herbrand schon etwas gesagt. Dieses Gesetz ist eine Kombination aus schnellem und pragmatischem Handeln, aber auch der zukunftsgerichteten Adressierung von Themen. Beim Thema Homeoffice ist es so: Wir verlängern jetzt kurzfristig die Pauschale um ein Jahr. Aber wir haben uns auch darauf geeinigt, in Bezug auf Arbeitszeiten, Arbeitszimmer und andere Themen, mit denen wir uns noch beschäftigen wollen, zu schauen – dafür war dieser Prozess sehr gut –, was Arbeit im 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet, um dann zu einer guten steuerlichen Gesetzgebung zu kommen. Damit wird hier ein Anfang gemacht.
({3})
Ein ganz besonderes Herzensanliegen ist mir, heute noch mal zu betonen, was wir im Parlament gemeinsam hinbekommen haben. Ich beziehe mich besonders darauf, dass wir den Kreis derjenigen deutlich ausgeweitet haben, die von der Steuerfreiheit beim Pflegebonus, aber eben auch bei anderen Boni profitieren. So viele Menschen im Gesundheitswesen haben Unermessliches geleistet. Da dürfen wir nicht nur auf die im Krankenhaus oder in der Langzeitpflege Tätigen schauen. Wir haben es im Parlament als Finanzpolitiker/-innen und auch als Gesundheitspolitiker/-innen geschafft, dass auch die fast 1 Million Medizinischen Fachangestellten, die vielen im Rettungsdienst tätigen Personen zumindest durch die Steuerfreiheit bei den Boni eine gewisse finanzielle Wertschätzung erfahren. Das ist großartig, und darüber freue ich mich persönlich ganz besonders.
({4})
Noch mal zu den Details: Die Regelung gilt eben nicht nur für tarifliche Boni, sondern auch für freiwillig gezahlte und auch für einen sehr großen Personenkreis.
({5})
Ein weiteres Thema – es klingt vielleicht vom Wording her technischer – sind die Steuererklärungsfristen. Kleine und mittelständische Unternehmen, auch größere Unternehmen, die Coronahilfen bekommen haben, wissen, wie unfassbar aufwendig es ist, die Überbrückungshilfen in den Steuererklärungen abzuwickeln. Die über 50 000 Steuerkanzleien, die sich damit beschäftigt haben, und die Hunderttausenden Menschen, die in den Steuerkanzleien arbeiten, haben dadurch eine riesige Last vor sich. Wir haben vorrausschauend über sehr viele Jahre ein gutes, abschmelzendes Modell geschaffen, das sogar über den Gesetzentwurf hinausgeht. Da sind, glaube ich, gerade alle – ich höre in die Szene hinein – wirklich dankbar und froh darüber, dass wir das gemacht haben.
({6})
Sozialer ist es auch noch; denn anders als die Vorgängerregierung ermöglichen wir Menschen, die gar nicht beraten werden, endlich auch längere Fristen und ein bisschen mehr Entlastung. In diesem Sommer nach den Coronaeinschränkungen möchte man vielleicht lieber mal rausgehen, als sich hinzusetzen und seine Steuererklärung fertig zu machen.
Es war das erste Gesetz, das ich als Berichterstatterin begleitet habe,
({7})
und es hat mir richtig viel Freude bereitet. Ich möchte mich an dieser Stelle einmal persönlich bedanken bei der Parlamentarischen Staatssekretärin Hessel, mit der wir im Dialog waren, bei Markus Herbrand, bei Maximilian Mordhorst, bei Parsa Marvi, bei Nadine Heselhaus, bei Michael Schrodi und natürlich bei meinen vielen Grünenkolleginnen und ‑kollegen. Es war mir eine große Freude.
Als Ausblick verweise ich auf die degressive AfA. Sie ist sehr gut. Wir handeln pragmatisch, wir handeln schnell als Regierung. Wir haben aber auch vereinbart: In Zukunft werden wir den Begriff „Steuern steuern“ weiterentwickeln in Bezug auf Zukunftsfähigkeit und Investitionen in Klimaschutz, in Digitalisierung und bessere Anreize. Auch da freue ich mich sehr auf den Prozess, das klug und zukunftsweisend hinzubekommen.
Herzlichen Dank. Es ist ein gutes Gesetz. Ich freue mich auf die Zustimmung.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Beck. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Christian Görke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel zu lange wurde über den Pflegebonus bzw. über die Sonderzahlung geredet, viel zu lange wurde geklatscht, statt zu zahlen. Verzeihen Sie mir, Frau Kollegin Beck, dass ich Ihre Harmonie ein bisschen störe, aber diese koalitionsinterne Fingerhakelei im Zusammenhang mit der Frage, über welche Bereiche wir bei der Steuerfreiheit reden, war doch Ausdruck dessen.
Ich möchte die Gelegenheit hier auch nutzen und den Pflegerinnen und Pflegern meinen höchsten Respekt zollen;
({0})
denn sie waren es, die uns durch diese Pandemie geführt haben. Sie waren und sind das Rückgrat unseres Gesundheitssystems.
({1})
Das Mindeste, sehr geehrter Herr Marvi, ist, dass Sie jetzt – Gott sei Dank – noch die Kurve bekommen haben und den Empfängerkreis ausgeweitet haben.
Wir als Linke plädieren aber für einen deutlich höheren Bonus, einen Bonus, der auch den besonderen Leistungen der Pflege wirklich gerecht wird, erst recht vor dem Hintergrund der explodierenden Preise, die wir alle spüren. Diese Erbsenzählerei der letzten Wochen und Monate war nicht nur respektlos, sondern sie hat die Pflegerinnen und Pfleger auch viel Geld gekostet.
({2})
Die Linksfraktion begrüßt natürlich die Homeoffice-Pauschale. Wir begrüßen auch, dass diese bis zum 31. Dezember verlängert wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, alle Fakten für eine Verlängerung liegen doch auf dem Tisch; da müssen wir nicht noch einmal eine Ehrenrunde drehen.
({3})
Stichwort „Kurzarbeitergeld“: Auch hier gibt es eine ganz klare Zustimmung der Linken zum Grundsatz, dass das Kurzarbeitergeld steuerfrei gestellt wird. Gleichzeitig sind wir aber enttäuscht, dass Sie auch beim Vierten Corona-Steuerhilfegesetz den Progressionsvorbehalt im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitergeld nicht abschaffen. Progressionsvorbehalt – das ist typischer Politsprech, den die Menschen in meinem Wahlkreis in der Lausitz möglicherweise nicht verstehen. Deshalb gebe ich hier kurz den Erklärbär: Das Kurzarbeitergeld ist steuerfrei, aber zur Ermittlung des Einkommensteuersatzes wird es auf das reguläre Einkommen angerechnet, sodass die Kurzarbeiter möglicherweise höhere Steuertarife zu befürchten haben.
({4})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Ja, gerne.
Ich bin gedanklich noch beim Thema Fingerhakelei und möchte an dieser Stelle irgendwie in eine Frage verpacken, dass ich mich sehr darüber gefreut habe, dass auch Sie gestern der Ausweitung der Bonuszahlungen und der Steuerfreiheit zugestimmt haben; das fand ich sehr schön. Übrigens: Fast alle Fraktionen haben dem zugestimmt.
({0})
Um es irgendwie als Frage zu verpacken, frage ich Sie, warum Sie darauf so kritisch eingehen, wenn Sie dem doch zugestimmt haben?
({1})
Frau Kollegin, wenn Sie freundlicherweise sich von Ihrem Platz erheben.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Beck, natürlich haben wir der Ausweitung zugestimmt. Aber Sie als Koalition haben diesen Pflegebonus und die Steuerfreiheit als allererste Maßnahme, glaube ich, schon im November letzten Jahres, also vor fast sieben Monaten, thematisiert. Die Zeit, die Sie für diese Maßnahme gebraucht haben, ist einfach zu lang vor dem Hintergrund, dass die Menschen, die uns durch die Krise getragen haben, auch entsprechend honoriert werden. Das wollte ich hier deutlich machen.
({0})
Ich komme zurück zum Kurzarbeitergeld. Ich war bei den höheren Steuertarifen und der Post vom Finanzamt, mit der am Ende möglicherweise von einigen eine saftige Nachzahlung gefordert wird, die ohnehin schon in der Coronakrise Entbehrungen und auch Einkommensverluste hinnehmen mussten. Viele rechnen gar nicht damit. Damit bin ich auch schon beim Rechnen. Zumindest für den Bundeshaushalt hat es sich gerechnet. Durch die Progression sind ungefähr 3,4 Milliarden Euro Einnahmen im Bundeshaushalt gelandet. Ich finde, das ist nicht in Ordnung. Das ist eine Unverschämtheit. Die Leute kommen sich auch verschaukelt vor.
({1})
Auf der einen Seite haben wir die exorbitanten Gewinne der Energiekonzerne. Auf der anderen Seite müssen die Menschen, die in Kurzarbeit waren, möglicherweise mit Steuernachzahlungen rechnen. Meine Damen und Herren, das hat mit Respekt, das hat mit Fortschritt und das hat auch mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
({2})
Insofern meine Forderung und die Bitte: Entlasten Sie die Kurzarbeiter, und besteuern Sie endlich die Krisengewinner!
({3})
Sie haben morgen die Möglichkeit, in der Debatte zu unserem Antrag zur Übergewinnsteuer genau dazu zu reden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Görke. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wer der Debatte auch nur halbwegs aufmerksam gefolgt ist, stellt fest: Es besteht hier eine große Einigkeit in Bezug auf das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz, um das es hier jetzt geht. Bis auf eine zumindest mir sehr lang vorkommende, krude EU-Vorlesung gab es nicht einmal von der Linken Grundsatzkritik an dem, was wir hier machen. Sie können sich sicher sein: Wenn wir eine so breite Mehrheit des Hauses haben, dann kann man, glaube ich, abschließend sagen: Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz ist sehr gut,
({0})
und deswegen kann man ihm mit gutem Gewissen auch zustimmen.
({1})
Ich will gar nicht so viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, sondern nur auf das eine oder andere eingehen, was die Union teilweise von uns abgeschrieben hat. Was mir ein bisschen Sorge bereitet, ist – das sollten wir uns schon merken in Ergänzung zu den genannten Punkten –: Wir beschließen ein Corona-Steuerhilfegesetz. Sie haben dazu Maßnahmen vorgeschlagen, darunter viele Ausnahmen – ich würde mich auch freuen, wenn wir die eine oder andere verlängern –, beispielsweise bei den Steuererklärungsfristen, die bis 2029 laufen sollen. Also, den Optimismus sollten wir uns schon zutrauen, dass wir solche Sondergesetze dann nicht mehr brauchen werden. Dass wir da vernünftige Änderungen hinbekommen, gerne. Aber solche Ausnahmelösungen sind beim Corona-Steuerhilfegesetz falsch untergebracht. Es passt aber zu dem steuerpolitischen Potpourri, das man in Ihrem Entschließungsantrag findet. Alles, was man in den letzten 16 Jahren nicht gemacht hat, packt man jetzt zusammen und versucht, es durchzusetzen.
Ich glaube, wir haben in den letzten acht Monaten schon eine ganze Menge auf den Weg gebracht und werden das auch weiter machen. Deswegen kann ich nur darum bitten: Stimmen Sie dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz zu! Es ist sehr gut.
({2})
Das war ja mal eine ordentlich kurze Rede. – Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon in der Zeit, als wir die Bundesregierung in der damaligen Großen Koalition angeführt haben, die Corona-Steuerhilfegesetze I, II und III auf den Weg gebracht, die wichtige Maßnahmen enthielten wie das Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfen, die Möglichkeit der Inanspruchnahme von KfW-Krediten und vieles andere mehr. Wir haben mit diesen Gesetzen in der Pandemie der Wirtschaft unter die Arme gegriffen und sie stabilisiert. Deshalb, wenn man es rückwirkend betrachtet, muss man sagen: Es ist gelungen. Die Insolvenzquote war so niedrig wie noch nie. Wir konnten Arbeitslosigkeit verhindern und die Betriebe wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Zukunft führen.
Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz ist konsequent und setzt die Maßnahmen, die wir damals mit aufgesetzt haben, fort. Deswegen stimmen wir diesem Gesetzentwurf auch zu. Lieber Kollege Mordhorst, ob es ein sehr gutes Gesetz ist, weiß ich nicht. Es fehlen natürlich noch wesentliche Inhalte,
({0})
die Sie übrigens immer auch selbst beantragt hatten; ich komme später darauf zurück. Wenn konsequenterweise die Maßnahmen fortgeführt werden, die wir auch beschlossen haben, dann ist es eben auch richtig, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe als Opposition ist es, gute Anträge und Gesetzentwürfe zu unterstützen, aber auch den Finger in die Wunde zu legen, wenn noch Dinge fehlen. Deswegen haben wir unseren Entschließungsantrag auf den Weg gebracht; denn ich glaube, wir müssen deutlich ansprechen, was in diesem Gesetz fehlt.
Erstens. Die Geltungsdauer der steuerfreien Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld wird um sechs Monate verlängert. – Konsequent und richtig; haben wir auch damals mitangestoßen.
Zweitens. In Sachen Homeoffice-Pauschale, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich ein bisschen schmunzeln. Es ist ein ureigenes Thema der CSU gewesen, die Homeoffice-Pauschale auf den Weg zu bringen.
({2})
Was wir da für Diskussionen geführt haben, um sie bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD durchzubekommen und im Gesetz zu verankern, war Wahnsinn. Und jetzt verlängern Sie sie und schreiben sie auf Ihre Fahne. Aber ich bin ja dankbar dafür, dass Sie es tun. Ich bin übrigens gespannt, welche Vorschläge zu einer Erweiterung und Verstetigung der Homeoffice-Pauschale kommen. Wir hätten uns vorstellen können, die Verstetigung schon im vorliegenden Gesetzentwurf zu verankern.
({3})
Drittens. Die Möglichkeit der Inanspruchnahme degressiver Abschreibungen ist in Ordnung und richtig. Auch hier hätte man eine Entfristung vornehmen können; aber gut. Es ist ein wichtiger und richtiger Schritt.
Viertens: die Fristen zur Abgabe der Steuererklärung in beratenden Fällen. Sie hatten zunächst in Ihrem Gesetzentwurf eine Verkürzung dieser Fristen vorgenommen und das Abschmelzmodell zurückgeführt. Aber gerade in einer Zeit, in der die Steuerkanzleien extreme Belastungen haben – Coronahilfenbeantragung, die Schlussrechnung der Coronahilfen, die Grundsteuerbeantragung für Juli bis Oktober –, muss eine Erklärungsfrist verlängert werden. Sie haben unsere Intervention dankenswerterweise fast eins zu eins wahrgenommen und unseren Antrag umgesetzt. Danke dafür, dass Sie das getan haben!
({4})
Die Verlängerung der Reinvestitionsfristen im Einkommensteuerrecht ist folgerichtig, ebenso die Verlängerung der Investitionsfristen für steuerliche Investitionsabzugsbeträge.
Zur Verlustverrechnung. Der Zeitraum für den Verlustrücktrag wird ab 2022 auf zwei Jahre ausgeweitet. Genau das ist jetzt handwerklich falsch. Sie haben in der letzten Legislaturperiode selber Anträge zum Verlustrücktrag gestellt: Ausweitung um vier Jahre; die FDP hat einmal einen Verlustrücktrag über drei Jahre gefordert. Wenn jetzt Verluste aus dem Jahr 2022 in das Jahr 2020 zurückgetragen werden, dann erfolgt ein Verlustrücktrag in die Jahre, die von der Pandemie betroffen waren. Das hat also null Effekt; denn 2020 war für viele ein Verlustjahr. Sie tragen jetzt sozusagen in den Verlust zurück. Wenn es Ihnen damit ernst gewesen wäre, dann hätten Sie einen Verlustrücktrag über drei Jahre, also in das Gewinnjahr 2019, ermöglichen müssen. Das wäre konsequent gewesen. Wir haben das beantragt.
({5})
Wenn wir einen guten Antrag stellen, dann könnten Sie auch zustimmen.
({6})
Wahrscheinlich bleiben Sie bei Ihrer parteipolitischen Brille und sagen: Das machen wir nicht. – Also jetzt wäre es möglich. Wir haben den Antrag eingebracht. Sie könnten eigentlich zustimmen. Das tun Sie aber nicht.
Ich will noch auf eines zu sprechen kommen. Im Pflegebereich haben Sie Gott sei Dank noch einmal nachgeschärft. In Ihrem ersten Gesetzentwurf waren viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgenommen. Es gab zahlreiche Anfragen von Betroffenen: Warum wir nicht? Wir sind doch auch in der Pflege tätig. – In gemeinsamen Diskussion haben wir erreicht, den Kreis der Berechtigten für den Pflegebonus auszuweiten. Das ist richtig. Aber eine Berufsgruppe – das ist, glaube ich, auch in der Anhörung deutlich geworden – wird nicht berücksichtigt. Sie sprechen von Respekt und Wertschätzung, liebe Kollegin Beck; aber einer Gruppe bringen Sie keine Wertschätzung entgegen. Das sind die über 500 000 Steuerfachangestellten und Steuerfachwirte, die in den Kanzleien arbeiten, die in dieser Zeit extrem belastet sind. Wir hätten uns gewünscht, dass Sie die Coronaprämie auf diese Berufsgruppe ausweiten. Wahrscheinlich mögen Sie diese Berufsgruppe nicht; deswegen haben Sie sie herausgenommen.
({7})
Ähnlich ist es beim Klimageld: Sie nehmen wesentliche Gruppen aus dem Gesetz heraus. Schade, dass Sie hier keinen Respekt zollen.
({8})
Im Gesetzentwurf fehlen wichtige Aspekte; deswegen haben wir ergänzend unsere Anträge eingebracht. Ich nenne die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Sie klagen sogar für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Das hätten Sie hineinnehmen können. Jetzt sitzen Sie am Steuer,
({9})
und das, was Sie beklagen, setzen Sie nicht um. Sie kündigen Turboabschreibungen an,
({10})
machen es aber nicht. Die Anpassung des Einkommensteuertarifes – wir werden heute Nachmittag darüber reden – setzen Sie auch nicht in dem Maße um, wie es notwendig wäre. Deswegen ist das kein sehr guter Gesetzentwurf. Er enthält wichtige Punkte, denen wir zustimmen. Aber Sie hätten deutlich mehr machen können.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Heselhaus, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz steht in einer Reihe von Hilfen, die die finanziellen Auswirkungen der Pandemie auf die Menschen in Deutschland verringern. Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen erfahren steuerliche Entlastungen. Dabei muss man ehrlich zugeben, dass der Staat Härtefolgen nie vollständig ausgleichen kann, auch die der Pandemie nicht.
({0})
Wir mildern die Belastungen für die Bevölkerung ab. Dabei haben wir alle Menschen im Blick, insbesondere jene mit niedrigem Einkommen.
({1})
Die Arbeitsbelastung wurde in vorherigen Reden bereits angesprochen; insbesondere im Gesundheitswesen ist diese außerordentlich hoch. Die Wertschätzung für die Arbeit der Pflegekräfte und anderer Gruppen stieg in der letzten Zeit deutlich an. Vielen Menschen wurde noch einmal bewusst, welchen Stellenwert die Arbeit im Gesundheitsbereich für unsere Gesellschaft hat. Uns ist es wichtig, dass diese herausragende Leistung und der Einsatz nicht nur öffentliche Wertschätzung erfahren, sondern sich auch im Geldbeutel widerspiegeln. Wir arbeiten langfristig an besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen; denn nur Tariflöhne garantieren eine ordentliche Bezahlung. Darüber hinaus muss der besondere Einsatz der letzten Zeit auch besonders entlohnt werden können. Deshalb haben wir uns für einen Pflegebonus in Höhe von insgesamt 1 Milliarde Euro eingesetzt. Damit der Bonus auch im Portemonnaie ankommt, stellen wir Zahlungen von bis zu 4 500 Euro steuerfrei.
({2})
Die Steuerpflichtigen insgesamt und auch die steuerberatenden Berufe sind durch die andauernde Coronapandemie weiterhin belastet. Diesbezüglich haben wir in den vergangenen Jahren die steuerlichen Abgabefristen immer wieder verlängert und so auch für zeitliche Entlastungen gesorgt. Schon jetzt können wir damit rechnen, dass es in den Kanzleien durch die Bearbeitung der Coronahilfen und der Grundsteuer zu Mehrbelastungen in den folgenden Jahren kommen wird. Daher erweitern wir die Frist zur Abgabe von Steuererklärungen für das Steuerjahr 2020 in beratenen Fällen und dehnen diese – auch abgestuft – für die kommenden Jahre aus. Die Verlängerungen werden dann schrittweise zurückgeführt, sodass ab dem Besteuerungszeitraum 2025 wieder die regulären Termine und Fristen für beratene Fälle zur Anwendung kommen werden. Auch diejenigen, die ihre Steuererklärung selbst erstellen, erhalten verlängerte Abgabefristen für die Steuerjahre bis 2023. Mit dieser vorausschauenden Regelung der Abgabefristen schaffen wir Planungssicherheit für Steuerpflichtige, für die Kanzleien und auch für die Verwaltung.
({3})
Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz enthält darüber hinaus eine Reihe von Maßnahmen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Besonderen unterstützen: von der steuerlichen Förderung der Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld bis hin zur Homeoffice-Pauschale. In der Coronapandemie arbeiten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch viele Selbstständige im Homeoffice. Oft fehlen dabei die Voraussetzungen für ein häusliches Arbeitszimmer. Viele arbeiten in einer Arbeitsecke, am Küchen- oder eben auch am Esstisch. Um auch diesen Erwerbstätigen einen steuerlichen Abzug zu ermöglichen, hat die vorherige Regierung und insbesondere Hubertus Heil eine Homeoffice-Pauschale eingeführt.
({4})
So kann auch derjenige, der kein echtes Arbeitszimmer hat, bis zu 600 Euro im Jahr als Werbungskosten geltend machen. Die Geltungsdauer dieser gut angenommenen Maßnahme verlängern wir auch für das Jahr 2022.
Wir sehen, dass viele Menschen immer mehr Geld für das Nötigste ausgeben müssen. Darauf hat die Bundesregierung reagiert und zwei Entlastungspakete mit einem Volumen von fast 30 Milliarden Euro beschlossen. Dieses Vierte Corona-Steuerhilfegesetz kommt noch dazu; denn Entlastung muss in diesen Tagen breit angelegt sein.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Sandra Detzer, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diesen Gesetzentwurf vorgelegt – meine Vorrednerin hat dazu das Richtige gesagt – in der Hoffnung, Unternehmen und den Menschen Unterstützung zukommen zu lassen und die negativen wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise abzufedern. Aber sind wir uns sehr bewusst, dass wir natürlich nicht das gesamte Ausmaß der Folgen abfedern können. Deswegen danke ich all denjenigen, die auch dafür Verständnis haben, dass wir als Gesetzgeber nicht alles auffangen können, was an Härten auftritt. Das bringt viele an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, an das Ende ihrer Kräfte. Wenn Sie ein ganz kleines bisschen Nachsehen mit uns haben, wäre uns das sehr lieb, und dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
({0})
Meine Kolleginnen und Kollegen haben die Vielzahl der Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, schon aufgezählt. Ich will einen weiteren Gedanken hinzufügen. Insbesondere bei der Unterstützung von Unternehmen sind die Verlängerung der Frist für die degressive Abschreibung, die Verlängerung der Investitionsfristen, auch die dauerhafte Ausweitung des Zeitraums für den Verlustrücktrag ganz entscheidend. Und ja – die Kollegin Beck hat es ja auch schon gesagt –, beim Verlustrücktrag hätten wir Grüne uns – gerade im Kontext der Pandemie – noch einmal verlängerte Rücktragsfristen vorstellen können. Das, was die Kollegen von der Union sagen, ist genau richtig. Wir sind natürlich in der Situation, dass wir jetzt mit den Rückträgen genau in die Pandemiejahre kommen; das wissen wir auch.
({1})
– Allerdings, allerdings.
Jetzt kommt der Punkt, den ich ansprechen will: Wir haben in dieser Situation natürlich immer auch das Gesamtbild im Blick zu behalten. Wir müssen sehen, dass sozusagen das Mehr an Liquidität, das die Unternehmen gerade durch den Verlustrücktrag bekommen, ein Weniger an Liquidität für die öffentlichen Haushalte bedeutet, dass also Bund, Länder und Kommunen da ein Stückchen weit in Vorleistung gehen. Ich glaube, wir dürfen gerade die Länder und die Kommunen, deren Haushalte ja ebenfalls von den Coronafolgen gezeichnet sind, da eben nicht überlasten. Ich glaube, deswegen ergibt genau dieser Zeitraum von zwei Jahren, den wir da gewählt haben, Sinn, und es ist ein guter Kompromiss.
({2})
Jetzt will ich zum Ende noch einen Gedanken loswerden; denn heute sind ja wirklich viele Berufsgruppen zu Recht genannt worden. Ich will jetzt einer von ihnen ganz besonders danken: Das sind die Beschäftigten in den Steuerverwaltungen. Wir wissen natürlich ganz genau, dass die Beschäftigten in den Finanzämtern das Rückgrat des deutschen Steuerstaates sind und dass ihre gute Arbeit die staatlichen Einnahmen und ja auch die Steuergerechtigkeit in diesem Land sichert.
Natürlich ist die Steuerverwaltung – das wissen Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen – Sache der Länder. Dennoch ist uns Grünen natürlich sehr bewusst, dass wir mit diesem Corona-Steuerhilfegesetz noch mal zusätzliche Belastungen auch für die Verwaltung schaffen, und das sind Mehraufgaben, die erst mal zu stemmen sind.
Kommen Sie zum Schluss.
Deswegen an dieser Stelle noch mal herzlichen Dank an die Beschäftigten in den Finanzämtern. Sie sind es, die dieses Vierte Corona-Steuerhilfegesetz zum Erfolg machen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Detzer. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor 40 Tagen haben wir hier das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz zum ersten Mal debattiert und besprochen, und schon da habe ich sehr deutlich gemacht, dass die Fortführung bewährter steuerlicher Maßnahmen in der Krisenzeit durchaus ein probates Mittel ist, um unkompliziert Hilfen für die Menschen, für die Unternehmen zur Verfügung zu stellen, die von der Coronakrise betroffen sind.
Aber – und das ist entscheidend – mit den jetzt vorgesehenen minimalinvasiven Korrekturen an diesem Gesetz können Sie von der Ampel das von Ihnen gesteckte Ziel nicht erreichen; denn das gesteckte Ziel war ja, die wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen durch die Coronapandemie so gering wie möglich zu halten. Es reicht deswegen nicht, was hier vorliegt, weil es mittlerweile ja nicht mehr nur alleine um die Folgen der Coronakrise geht, sondern es geht ebenso um die wirtschaftlichen Konsequenzen des unsäglichen Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine, es geht um die rapide steigende Inflation, und die muss die Bundesregierung entschlossen bekämpfen,
({0})
und das insbesondere deswegen, weil uns da das Gröbste noch bevorsteht.
Ja, Sie haben in der Tat schon mehrere Gesetzentwürfe vorgelegt – es geht hier ja nicht nur um dieses Gesetz –; aber all diese Gesetze, die hier in den letzten Wochen vorgelegt wurden, haben eins gemeinsam: Es sind zwar gute Ansätze enthalten, aber es wird überall zu kurz gesprungen.
({1})
Da werden Maßnahmen des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes wie die Änderung von Verlustverrechnungsmöglichkeiten oder die degressiven Abschreibungen für bewegliche Wirtschaftsgüter und auch die steuerlichen Investitionsfristen verlängert. Aber man muss sich doch fragen, ob diese Maßnahmen den Unternehmen in der Praxis tatsächlich entsprechend helfen.
Vor allem mittelständische Unternehmen müssen doch erst mal in die Lage versetzt werden, verlustfrei zu wirtschaften und in die Zukunft zu investieren. Dazu brauchen wir stark verbesserte wirtschaftspolitische und steuerliche Rahmenbedingungen, um dafür jetzt in dieser Krisensituation endlich auch die Bedingungen zu schaffen. Das muss die Bundesregierung eben jetzt umsetzen und nicht erst in einigen Monaten oder Jahren. Jedenfalls reichen Ankündigungen und markige Sprüchen hier nicht, sondern wir brauchen jetzt Taten. Nur dann wird wieder in die Zukunft investiert.
Deswegen, liebe Ampel: Stärken Sie die Eigenkapitalbasis der Betriebe! Passen Sie die Behandlung von Gewinnen, die zur Stärkung der Eigenkapitalbasis im Unternehmen einbehalten werden, der jetzigen Situation an! Die Thesaurierungsbegünstigung muss praktikabler werden; sie muss praxistauglicher und attraktiver gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen gemacht werden.
({2})
In dieser Situation – das haben wir jetzt schon mehrfach hier gehört – muss auch der ertragsteuerliche Verlustrücktragszeitraum auf mindestens drei Jahre erhöht werden. Gerade jetzt, wo es um die Krisenjahre 2021/22 geht, da macht das doch keinen Sinn – Kollege Brehm hat es vorhin schon mal deutlich gemacht –; wir können doch nicht ein Coronaverlustjahr mit einem Coronaverlustjahr verrechnen. Noch mal: Das macht ja nun überhaupt keinen Sinn. Deswegen muss das dauerhaft ausgeweitet werden, und wir haben das ja auch entsprechend beantragt.
({3})
Was in diesem Gesetz eben auch fehlt, ist das Thema: Wie gehen wir damit um, dass die Betriebe, die in Russland und in der Ukraine investiert haben, jetzt von Sanktionen, Enteignungen, Zerstörungen betroffen sind? Die dortigen Beteiligungen deutscher Steuerpflichtiger müssen jetzt entsprechend berücksichtigt werden. Da brauchen wir temporär steuerliche Abschreibungen. Das muss in der aktuellen Situation in so ein Gesetz hier einfach mit aufgenommen werden.
Sie haben in den Beratungen in den letzten 40 Tagen bei diesem Gesetzgebungsverfahren leider nur wenig bewegt. Eine kleine Verbesserung, nämlich die Verlängerung der Steuererklärungspflichten, haben Sie hinbekommen. Das finden wir auch gut. Gelungen ist das durch den Druck der CDU/CSU-Fraktion,
({4})
aber auch der Bundesländer und des Bundesrates.
({5})
Ich sage ausdrücklich: Wir finden das richtig und gut.
({6})
Meine grundsätzliche Unterstützung gilt im Übrigen auch allen Regelungen, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugutekommen: die angesprochene Fristenverlängerung, die Förderung des steuerfreien Zuschusses beim Kurzarbeitergeld, die Verlängerung bei der Homeoffice-Pauschale. – Alles richtig, alles gut. Aber warum entfristen Sie es dann nicht? Warum immer nur eine kurzfristige Verlängerung? Eine Entfristung wäre hier besser. Es wäre das richtige Signal für die Arbeitnehmer und für die Unternehmen.
({7})
Auch bei den hier schon angesprochenen Bonuszahlungen können wir selbstverständlich den vorgenommenen Änderungen zustimmen. Ich glaube, es macht Sinn, dass wir die Leistungen der Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich hierdurch honorieren. Aber eins muss man auch noch mal unterstreichen: Das ist keine automatische Auszahlung, die hier vorgenommen wird. Es wird ja immer der Eindruck erweckt, als ob das schon sicher wäre. Es gehört auch hier noch der Arbeitgeber dazu, der das entsprechend auszahlen muss.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Diesen Wunsch zur Eingrenzung kann ich auch verstehen. Wir wollen hier natürlich nicht mehr den gleichen Fehler machen wie bei dem Bonus aus der ersten Coronaregelung. Dass die Mitglieder des Bundesvorstandes der Grünen sich da bedienen können, soll natürlich nicht mehr vorkommen. Deswegen: Diese Einschränkung ist richtig.
Herr Kollege Gutting, bitte nur noch einen Satz.
Ich kann diesem Gesetzentwurf zustimmen – das hatten wir schon angekündigt –; aber ich werbe gleichzeitig auch um Zustimmung für unseren Antrag „Mut zu wesentlichen steuerlichen Hilfsmaßnahmen“. Dieser enthält richtige steuerpolitische Antworten. Wir brauchen – –
Herr Kollege Gutting, ich entziehe Ihnen jetzt das Wort.
({0})
– Es hört Sie keiner mehr.
({1})
Ich bin heute wirklich gnädig. Aber eine Minute zu überziehen, ist schon regelmäßig irgendwie nicht gut. Wir sind schon bei einem Sitzungsende um 0.40 Uhr heute Nacht, und jede Minute, die wir überziehen, heißt eben, dass es noch deutlich später werden könnte.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Frauke Heiligenstadt, SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und auch im sonstigen Saal! Bei der Bewältigung der Coronapandemie ist unser oberstes Ziel seit Jahren gewesen, die wirtschaftlichen und die sozialen Belange so gering wie möglich zu belasten. Daher sieht das heute zu beschließende Gesetz über steuerliche Maßnahmen zugunsten von Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen eine ganze Menge von Maßnahmen vor. Ich werde darauf auch gleich noch eingehen.
Da aber die Kolleginnen und Kollegen der Union jetzt so häufig ihren Antrag „Mut zu wesentlichen steuerlichen Hilfsmaßnahmen“ hier so hoch loben – er hört sich ja sehr staatstragend an, aber er ist auch wirklich ziemlich dünn; es sind gerade mal zwölf Forderungen darin –,
({0})
will ich darauf doch etwas eingehen. Im Grunde genommen ist Ihr Antrag nichts anderes als ein steuerpolitisches Sammelsurium oder ein steuerpolitisches Kraut-und-Rüben, ein Durcheinander von Forderungen, die Sie immer mal wieder gestellt haben, aber nie selber haben durchsetzen können.
({1})
Man kann natürlich auch sagen, es handelt sich um einen Klientelantrag. Wie nicht anders zu erwarten, adressieren Sie vor allen Dingen Unternehmen. An die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer denken Sie mit Ihren Vorschlägen da eher weniger.
({2})
– Frau Tillmann, drei Viertel Ihrer Vorschläge in diesem Antrag beziehen sich ausschließlich auf die Unternehmensbesteuerung; das sieht man, wenn man ihn sich genau anguckt.
({3})
Wenn man sich dann auch noch ernsthaft inhaltlich mit den einzelnen Forderungen beschäftigt, dann kommt man natürlich zu der Frage: Wie soll das denn tatsächlich finanziert werden? Sie sollten ja nicht nur Vorschläge machen, sondern Sie müssen auch irgendwie Vorschläge für die Gegenfinanzierung machen. Immerhin würde die Umsetzung Ihrer Vorschläge einige Milliarden Euro geringere Einnahmen im Bundeshaushalt produzieren.
({4})
Gegenfinanzierung in Ihrem Antrag? Fehlanzeige! Zur Finanzierung Ihrer großzügigen Steuergeschenke findet man lediglich den Halbsatz, die Maßnahmen sollen – ich zitiere – „im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel“ – Zitat Ende – durch die Bundesregierung umgesetzt werden. Ja, echt jetzt, liebe Union? Was bedeutet das denn ganz konkret? Das bedeutet, Sie haben sich noch nicht mal die Mühe gemacht, Ihre eigenen Vorschläge durchzurechnen und gegenzufinanzieren. Das ist also ziemlich dünn, was da vorliegt.
({5})
Ich freue mich aber – das haben Sie auch am Anfang gesagt –, dass Sie schlussendlich doch noch überzeugt wurden und dem Gesetzentwurf des Corona-Steuerhilfegesetzes zustimmen werden. Ihr Antrag ist da natürlich nicht besonders förderlich.
Wir dagegen kümmern uns um die Menschen und um die Unternehmen in unserem Land. Sie sind uns eben nicht egal. Deshalb haben wir auch mit den beiden Entlastungspaketen, die wir in den vergangenen Wochen ja schon besprochen haben, und auch mit diesem Corona-Steuerhilfegesetz zahlreiche Entlastungen auf den Weg gebracht, die sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen wichtig sind. Das ist gute, fortschrittliche Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Ich will das mal ganz kurz und komprimiert zusammenfassen: Die Maßnahmen, die wir in dem entsprechenden Steuerentlastungsgesetz durchgesetzt haben, sind die Anhebung des Grundfreibetrags, die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags, das Vorziehen der befristeten Anhebung der Entfernungspauschale für Fernpendler, die Energiepreispauschale und der Kinderbonus. Durch diese bereits verabschiedeten Entlastungspakete werden die Bürgerinnen und Bürger um insgesamt 16 Milliarden Euro entlastet. Das ist nicht nichts. Dafür muss man sich auch nicht entschuldigen. Es ist gut und richtig, dass wir es so beschlossen haben.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion?
Bitte.
Frau Kollegin, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass Sie sich für Entlastungen nicht entschuldigen müssen. Würden Sie sich bereit erklären, sich bei den Rentnerinnen und Rentnern sowie den BAföG-Empfängern dafür zu entschuldigen, dass Sie sie mit den Kosten sitzen gelassen haben?
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, auch die Rentnerinnen und Rentner profitieren natürlich von dem Entlastungspaket. Auch sie werden das 9‑Euro-Ticket nutzen können. Auch sie kriegen die Heizkostenpauschale, wenn sie Wohngeldempfängerinnen und ‑empfänger sind. Auch sie profitieren zum Beispiel von der Senkung der EEG-Umlage. Es sind ausreichende Entlastungen für alle Menschen in diesem Paket enthalten.
({0})
Aber das Steuerentlastungspaket, Frau Tillmann, ist ja auch nicht alles. Deshalb bringen wir heute ja auch weitere steuerliche Entlastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den Weg. Coronasonderzahlungen werden bis zu 4 500 Euro steuerfrei sein, und sie werden bei der Grundsicherung von Arbeitsuchenden nicht angerechnet. Wir verlängern die Homeoffice-Pauschale, wie schon sehr umfassend ausgeführt wurde. Wir verlängern die Steuerfreiheit beim Kurzarbeitergeld.
({1})
Die wirtschaftliche Erholung wird durch zusätzliche Investitionen und Investitionsanreize für Unternehmen unterstützt. Dazu verbessern wir die Möglichkeiten der Verlustverrechnung. Die degressive Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens wird verlängert, und steuerliche Investitionsfristen werden ausgeweitet. Zur Steuerbefreiung des Pflegebonus hat ja auch mein Kollege Parsa Marvi entsprechend ausgeführt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, als Opposition kann man ja immer mal ein bisschen klappern und sagen: „Es ist Luft nach oben“ und: „Da muss noch mehr kommen.“ Aber im Grunde des Herzens wissen Sie ganz genau: Diese Regierung tut den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen gut, und deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf auch zustimmen – mit Ihnen gemeinsam.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Saskia Weishaupt, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner letzten Rede habe ich davon gesprochen, dass es auch Berufsgruppen gibt, die eben nicht vom Pflegebonusgesetz profitieren werden, die aber letztendlich alles dafür getan haben, dass wir gut durch die Pandemie gekommen sind und noch gut durch diese Pandemie gehen werden. Darunter fallen die vielen, vielen Medizinischen Fachangestellten, die neben dem normalen Praxisalltag teils Tausende Impfungen durchgeführt und organisiert haben, aber auch immer die erste Anlaufstelle waren für die vielen Coronapatientinnen und ‑patienten – und das mit der ständigen Angst, sich selber zu infizieren und diese Infektion in ihre Familie und ihren Freundeskreis zu schleppen.
Es sind aber nicht nur die Medizinischen Fachangestellten, es sind auch die Rettungssanitäter/-innen, die die Erstversorgung gemanagt haben und immer einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt waren. Sie haben in den besonders schweren Phasen der Pandemie mit Intensivtransporten letztendlich eine größere Katastrophe und die vollständige Überlastung einzelner Krankenhäuser verhindert. Ich möchte mir deswegen die Zeit nehmen – hören Sie jetzt bitte genauer zu –, um diesen Menschen Danke zu sagen.
({0})
Klar ist: Es kann nicht bei Danksagungen bleiben. Wir erweitern deshalb nach dem Vorschlag der Grünen die Steuerfreiheit auf freiwillige Boni und schließen die beiden erwähnten Berufsgruppen und noch viele weitere Berufsgruppen und Arbeitnehmer/-innen in diversen Einrichtungen mit ein. Doch was bedeutet das letztendlich konkret? Zum einen schaffen wir den Anreiz, die Beschäftigten für die zusätzlichen Belastungen zu entlohnen, und zum anderen sind diese Sonderleistungen für die Menschen, die in der Pandemie so viel geleistet haben, in der Regel steuerfrei. Wenn jetzt also beispielsweise eine Ärztin ihren Medizinischen Fachangestellten einen Bonus zahlen möchte, kommt dieser in vollem Maße auf dem Konto der Beschäftigten an – und das ist ein Riesenerfolg.
({1})
Es ist ein klares Signal an die vielen Beschäftigten, dass wir ihre Arbeit wertschätzen, und es ist auch ein Zeichen an die Berufsverbände und an die Menschen in der Praxis. Die Forderungen und die Stellungnahmen der verschiedensten Verbände sind in unsere Arbeit mit eingeflossen. Es ist ein Zeichen, dass wir ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Damit gehen wir wirklich den ersten richtigen und wichtigen Schritt in Richtung Wertschätzung der Gesundheitsberufe.
({2})
Aber ehrlich gesagt – das wissen wir alle; das haben wir schon sehr oft gesagt –: Dabei kann es nicht bleiben. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs müssen wir uns neu fokussieren. Wir müssen die Arbeitsbedingungen in den Gesundheitsberufen verbessern. Für mich bedeutet das sehr konkret: Wir müssen die Gesetze für die Gesundheitsberufe modernisieren. Auch hier werden und müssen wir mit den Berufsverbänden zusammenarbeiten, ihnen zuhören, und wir müssen Antworten auf und Lösungen für drängende Fragen finden.
({3})
Ich bin mir sicher: Als Ampelkoalition werden wir richtige und wichtige Schritte gehen, um diese Berufsgesetze ins 21. Jahrhundert zu holen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Weishaupt. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Schrodi, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe es mir mal angeschaut: Das erste Corona-Steuerhilfegesetz war im April 2020. Da haben wir schon die Steuerbefreiung und die Zuschüsse für Arbeitgeber zum Kurzarbeitergeld auf den Weg gebracht. Das setzen wir jetzt fort. Wir sind jetzt beim Vierten Corona-Steuerhilfegesetz angelangt. Da sieht man: Die Pandemie ist nicht vorbei. Die Folgen sind nicht vorbei. Wir müssen weiterhin etwas tun. Wir setzen vieles von dem fort, was wir in der Großen Koalition angelegt haben, wo vieles richtig war, wo wir den Menschen und den Unternehmen geholfen haben.
Ich glaube nicht, dass wir irgendwie in Sack und Asche gehen müssen für das, was wir tun. Es sind 12 Milliarden Euro, die wir mit diesem Gesetz auf den Weg bringen. Wir haben am Anfang der letzten Legislatur noch um vielleicht 12 Millionen Euro gestritten. Jetzt geht es um 12 Milliarden Euro. Es sind riesige Pakete, die wir auf den Weg bringen, um die Wirtschaft zu stützen, um den Menschen zu helfen. Ich glaube, es ist gutes Signal dieser Ampelkoalition, das wir da entsprechend geben.
({0})
Da darf man sich übrigens auch loben, Herr Güntzler, auch für die degressive AfA. Das sind 10 Milliarden Euro, die wir damit auf den Weg bringen.
({1})
Ich glaube, man kann schon mal betonen, dass wir das tun und dass wir weitere Maßnahmen mit auf den Weg bringen.
Übrigens, was mir nicht gefällt, auch an der Zwischenfrage von Frau Tillmann: Sie fangen immer an, einzelne Maßnahmen sehr isoliert für sich zu betrachten. Da sagen Sie immer: Hier und da mal ein bisschen mehr und auch da und dort. – Wenn ich mal zusammenfasse, was wir alles auf den Weg bringen – Überbrückungshilfen, Kinderbonus, Heizkostenzuschuss, Kurzarbeitergeld, Wirtschaftsstabilisierungsfonds –, dann kann man nicht sagen: „An der einen kleinen Schraube hätte es aber gerne noch ein bisschen mehr sein können“, sondern das Gesamtkonzept muss betrachtet werden, übrigens auch bei dem Thema Energiepreispauschale. Natürlich tun wir was für Rentnerinnen und Rentner, natürlich auch für Studierende. Ich glaube, diese Gesamtschau muss man auch mal in den Blick nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Herr Kollege Schrodi, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein.
Wir tun auch was – das finde ich auch wichtig zu betonen, weil sich viele in der Union im Bereich des Unternehmensteuerrechts befinden – für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und Herr Gutting, dann sagen Sie: Es gab nur minimalinvasive Eingriffe am bisherigen Gesetzentwurf! – Bei 1 Million Menschen mehr, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jetzt von der Steuerbefreiung des Coronabonus profitieren, ist der Eingriff nicht minimalinvasiv, sondern gut, gerecht und für die Menschen in den Pflegeberufen ein deutliches Signal der Wertschätzung. Das muss man an der Stelle auch mal deutlich sagen.
({0})
Richtig ist: Auch die Unionsfraktion stimmt heute zu, weil wir vieles von dem fortsetzen, was wir schon richtig angelegt haben. Das erkennen wir an. Ich glaube, es war ein gutes Gespräch, das wir in dieser Woche zum Abschluss der Beratungen dieses Gesetzentwurfs hatten. Aber natürlich: In der Opposition scheint man immer noch ein Stück drauflegen zu müssen. Herr Güntzler, es kommt mir ein bisschen so vor wie auf dem Hamburger Fischmarkt: Hier noch mal ein Aal drauf und da noch was. – Ich glaube, so funktioniert das Ganze nicht.
({1})
– Ich komme mal nach Hamburg zum Fischmarkt und schaue mir an, wie das da ist.
({2})
Herr Güntzler, ich kann mich noch erinnern, dass Sie zum Thema Fristverlängerungen gesagt haben: Der Bundesrat hat dazu Vorschläge gemacht. Diese seien recht gut. Das haben Sie gelobt.
({3})
Wir sind darüber hinausgegangen, und dann gibt es von der Union natürlich noch mal eins drauf. Ich glaube, wir müssen uns anschauen, was machbar, was notwendig ist. Da haben wir als Koalition Mitte und Maß getroffen. Dass Sie als Opposition mehr fordern müssen, ist in Ordnung.
({4})
Das müssen Sie mit sich vereinbaren.
Aber wir führen Maßnahmen durch, die gezielt sind, die insgesamt richtig sind, die die Richtigen treffen und die für Maß und Mitte stehen. Insofern ist es ein sehr gutes Gesetz. Ich freue mich über die breite Zustimmung hier in diesem Haus und würde mich über eine Wiederholung dieser großen Zustimmung bei anderen Gesetzen freuen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Schrodi. – Die AfD-Fraktion hat eine Kurzintervention beantragt, die ich zulasse. Der Kollege Stöber hat das Wort.
Herr Kollege Schrodi, wir beide sind uns ja schon richtig ans Herz gewachsen.
({0})
Zunächst möchte ich vorausschicken, dass wir als AfD-Fraktion einräumen, dass die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen werden, durchaus zielführend sind.
Aber ich sage Ihnen mal eins: Kennen Sie die Geschichte mit dem Feuerwehrmann, der massenhaft Häuser anzündet und hinterher als Erster da ist, um zu löschen? Genau das ist es, was Sie hier machen. Sie haben über zwei Jahre ganzen Branchen ein Berufsverbot ausgesprochen. Sie haben den Einzelhandel, die Gastronomie und Hotels geschlossen, obwohl das nach dem ersten Lockdown nicht mehr notwendig war. Und jetzt stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir retten diese Branchen. – Das ist doch unverschämt.
Danke.
({1})
Herr Kollege Schrodi, Sie können antworten, müssen aber nicht.
Ich muss es tun; denn ich muss eins klarstellen: Ans Herz gewachsen sind mir meine Frau und meine Kinder, nicht die AfD; zum einen.
({0})
Zum Zweiten. Brandstifter sind ein Virus und Putin – und nicht wir. Wir bekämpfen die Auswirkungen dieser, und das mit aller Kraft und zum Wohle der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.
Danke schön.
({1})
Damit sind wir am Ende der Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Liebe Soldaten und Veteranen, die vielleicht zuschauen! Die Alternative für Deutschland hier im Deutschen Bundestag beantragt hier heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufarbeitung des Einsatzes in Afghanistan, der 2001 von Rot-Grün begonnen wurde, von vier weiteren Bundesregierungen getragen wurde und 2021 in einem Desaster endete. Kein einziges Ziel wurde erreicht. Afghanistan wurde in ein Chaos gestürzt.
Was waren die Ziele der Bundesregierung? Das Hauptziel waren die Aufrechterhaltung der Sicherheit und die Schaffung einer sich selbst tragenden Stabilität. Fakt ist, dass die Anzahl der Terrortoten im Laufe der Zeit und unter Präsenz der westlichen Truppen Jahr für Jahr gestiegen ist. Im Jahr 2007 gab es beispielsweise 2 000 Terrortote, im Jahr 2009 8 600 Terrortote – eine Vervierfachung. 2016 war der Blutzoll der afghanischen Streitkräfte so groß, dass die afghanische Regierung und die US-Regierung beschlossen haben, die Zahlen nicht mehr zu veröffentlichen, und die Bundesregierung hat sich dieser Täuschungsstrategie angeschlossen. Insgesamt sind von 2001 bis 2021 212 000 Tote zu beklagen. Das ist das Ergebnis wertegeleiteter Außenpolitik, bei der der Werteexport und die Demokratisierung wichtiger waren als die Realität vor Ort, die kulturelle Identität der Afghanen und der Traditionen dieser Menschen. Wir waren in den Augen vieler Afghanen keine Befreier, wir waren Besatzer,
({0})
ein westlicher Fremdkörper in einer archaischen Stammeskultur und damit selbst ein Faktor für die zunehmende Instabilität in diesem Land.
Ein weiteres Ziel der Bundesregierung war die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frauenrechten. Ein wissenschaftliches Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages sagt jetzt: Einen funktionierenden Rechtsstaat hat es in Afghanistan in den Jahren 2001 bis 2021 nie gegeben. Afghanistan war spätestens seit 2010 de facto ein gescheiterter Staat. Die Taliban gewannen die Oberhand, damit auch Korruption, Drogenökonomie und Milizenwillkür. Doch die Bundesregierung verbreitete noch zehn weitere lange Jahre Durchhalteparolen und gaukelte der Öffentlichkeit eine Verbesserung der Lage vor, die es vor Ort nicht gab.
Und was ist mit den Frauenrechten? Heute ist die Burka – man liest es in den Zeitungen – wieder Pflicht für Frauen. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung wird begrenzt. Mädchen dürfen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen. Das ist das Ergebnis feministischer Außenpolitik!
({1})
Die Bundesregierung hat das Ziel verfolgt, Drogenanbau in Afghanistan zu bekämpfen. Das Ziel, das ausgerufen wurde, war die Halbierung der Drogenanbauflächen. Tatsächlich ist die Opiumproduktion von 2001, dem letzten Jahr der Talibanherrschaft, bis 2021 um das 36-Fache gestiegen. 36-mal mehr Drogenproduktion, obwohl man den Kampf gegen Drogen ausgerufen hatte! Afghanistan ist heute der Hauptdrogenproduzent, der Hauptopiumproduzent weltweit und versorgt 24 Millionen Drogenkonsumenten, 80 Prozent aller Nutzer. 2021 war Afghanistan auch zweitgrößter Haschischproduzent der Welt. Kein Bürger versteht, wie man den Kampf gegen Drogen ausrufen kann, und dann entsteht dort ein Staat, der sich zum Global Player in der Drogenökonomie hocharbeitet. Kein Mensch versteht das!
({2})
Ein weiteres Ziel der Bundesregierung war, afghanische Sicherheitskräfte zu befähigen, Sicherheit im eigenen Land zu gewährleisteten. 2003 lag die Zahl der afghanischen Streitkräfte bei 6 000, 2020 bei 272 000. Die Streitkräfte umfassten mehr Truppen und Polizisten als die Bundeswehr. Trotzdem konnten die Taliban nach dem Abzug der westlichen Truppen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, Afghanistan zurückerobern. Ergebnisse von 20 Jahren Ausbildung, Ausrüstung, Finanzierung, Training sind binnen weniger Tage pulverisiert worden. Wie ist so etwas möglich?
Meine Damen und Herren, dieser Krieg hatte viele Verlierer, aber auch Gewinner. Die Verlierer sind die deutschen Steuerzahler, die über 17 Milliarden Euro bezahlt haben für diesen Einsatz. Die Verlierer sind über 100 000 deutsche Soldaten, die in diesem Einsatz sinnlos verheizt wurden. Die Verlierer sind 59 getötete deutsche Soldaten und Tausende mit einsatzbedingten psychischen Erkrankungen, die heute noch damit zu kämpfen haben. Und die Profiteure? Das ist die Rüstungsindustrie, die gute Geschäfte gemacht hat, vor allem aber sind es die Taliban, die heute fester im Sattel sitzen als noch 2001 und die extrem hochgerüstet sind durch unsere Ausstattung und durch unsere Ausbildung.
Es ergeben sich unendlich viele Fragen aus diesem 20-jährigen Einsatz; und diese Fragen wollen wir im Rahmen eines Untersuchungsausschusses klären. Wie konnten fünf Bundesregierungen sich selbst und die deutsche Öffentlichkeit zwei Jahrzehnte lang täuschen? Warum setzte die Bundesregierung auf korrupte Warlords und Kriegsverbrecher als Partner, die nur Interesse am eigenen Machtausbau hatten, aber nicht an Stabilität? Wie konnte es sein, dass die Opiumproduktion unter westlicher Präsenz stets höher lag als unter der Herrschaft der Taliban? Warum hat sich die Bundesregierung so lange geweigert, trotz der militärisch aussichtslosen Situation, mit den Taliban Gespräche zu führen, wie es der damalige SPD-Chef Kurt Beck 2007 gefordert hat und wie es letztlich von Trump, dem US-Präsidenten, auch getan wurde? Wie viel Steuergeld ist in den Händen korrupter Machteliten gelandet? Und vor allem: Wie konnte eine ganze Armee, die größer war als die Bundeswehr, innerhalb weniger Tage kollabieren? Diese Fragen müssen aus unserer Sicht geklärt werden.
Damit komme ich zum Schluss. Die Aufarbeitung von 20 Jahren Afghanistan-Einsatz wird verwundete und traumatisierte Soldaten nicht heilen. Sie wird auch keinen der 3 getöteten Polizisten und der 59 getöteten Soldaten zurückholen. Aber wir sind es ihnen und ihren Angehörigen schuldig, das Desaster, die falschen Entscheidungen, die leeren Versprechungen, die Täuschungen, die Lügen schonungslos aufzuklären.
({3})
Wir wollen und wir müssen die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Das ist das Ziel, das wir mit diesem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu Afghanistan verfolgen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Springer. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Ralf Stegner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Nichts ist gut in Afghanistan“, so könnte man fast wieder sagen. Im Schatten des Ukrainekrieges verschlechtert sich die Lage für die Menschen täglich. 95 Prozent der Bevölkerung können sich nicht mehr ausreichend ernähren. Besonders dramatisch ist die Situation für Kinder. Hinzu kommen massive Gewalt gegen Frauen, schwerste Menschenrechtsverletzungen, geduldet oder veranlasst durch die Machthaber der Taliban. Es ist unsere Verantwortung, hier sofort und unbürokratisch humanitäre Hilfe zu leisten.
({0})
Es wundert mich kein bisschen, dass der Antrag der AfD die Situation der Menschen mit keinem Wort erwähnt.
({1})
Der AfD geht es nie um Menschen, nie um internationale Zusammenarbeit und schon gleich gar nicht um Friedenssicherung. Ihr Leitstern bleibt der Nationalismus des vergangenen Jahrhunderts. Mit dieser rostigen Ideologie haben Demokraten in diesem Hause nichts gemeinsam.
({2})
Wir haben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eine Verantwortung dafür, dass das deutsche Engagement in Afghanistan aufgearbeitet wird. Fehler haben alle gemacht: die internationale Gemeinschaft, die afghanische Regierung und auch wir.
({3})
Nach sage und schreibe 20 Jahren Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und deutscher Entwicklungszusammenarbeit müssen wir daraus für zukünftige Auslandseinsätze lernen und diese neu ausrichten.
({4})
Dass es mit dem Denken bei Ihnen von der AfD nicht so weit her ist, habe ich ja schon ausgeführt. Leider klappt es nicht mal mit dem Lesen.
({5})
Hätten Sie den Koalitionsvertrag der SPD mit Grünen und FDP gelesen, wüssten Sie nämlich: Wir werden einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss sowie eine Enquete-Kommission einsetzen.
({6})
Wir werden im Juni gemeinsam mit der demokratischen Opposition den Untersuchungsausschuss auf den Weg bringen.
({7})
Dafür brauchen wir Ihren Antrag nicht. Dass es ein bisschen länger gedauert hat,
({8})
ist der Kriegssituation in der Ukraine geschuldet, was jeder nachvollziehen kann, der über ein bisschen Urteilsvermögen verfügt; das tun Sie ja bekanntermaßen nicht. Ihrer heldenhaften Aufklärerpose bedarf es also auch diesmal nicht.
Übrigens kann Ihr Antrag auch nicht verdecken,
({9})
dass die politische Rechte kein Konzept für eine zeitgemäße europäische Außen- und Sicherheitspolitik hat.
({10})
Wenn Sie Ihren Fragenkatalog, auf den Sie so stolz sind, nicht wegwerfen wollen, ein kleiner Tipp von mir: Stellen Sie die Fragen im Untersuchungsausschuss, den wir einrichten, dann werden sie beantwortet.
({11})
Wer wirklich etwas lernen will, verzichtet besser auf vorgezogene Schlussfolgerungen. Auch das disqualifiziert übrigens die heutige Debattengrundlage.
Die Ampelkoalition bekennt sich zu ihrer Verantwortung, die deutsche Außenpolitik an unseren Werten von Frieden und Freiheit, der europäischen Zusammenarbeit und den Prinzipien des Völkerrechts auszurichten.
({12})
Dazu gehört immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Auslandseinsätzen unserer Parlamentsarmee hier im Deutschen Bundestag. In seiner Zeitenwende-Rede hat der Bundeskanzler angekündigt, dass wir mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro endlich für die anständige und zeitgemäße Ausrüstung unserer Soldatinnen und Soldaten bei der Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch bei den Auslandseinsätzen sorgen werden.
Menschen dürfen niemals beliebige Figuren auf dem Schachbrett von Großmacht- oder Ressourceninteressen werden.
({13})
Daher müssen Auslandseinsätze, an denen die Bundeswehr sich beteiligt, immer dem Ziel dienen, den Frieden zu sichern oder zu schaffen und humanitäre Hilfe zu leisten.
({14})
Außenpolitische Konflikte lassen sich am Ende niemals militärisch lösen. Die Zeitenwende verlangt eine Neuordnung unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
({15})
Wir werden in den nächsten Monaten über komplexe Fragen von Sicherheit, Demokratie, globaler Gerechtigkeit, Rüstungskontrolle, einer neuen Friedensordnung, die dem Völkerrecht entspricht, und der Humanität reden müssen.
({16})
Lassen Sie mich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion noch einmal unseren Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Entwicklungsexpertinnen und ‑experten und den vielen Menschen vor Ort danken. Sie haben im Auftrag des Deutschen Bundestages mit ihren Partnern viele Jahre dafür gesorgt, dass zeitweise sehr wohl beträchtliche Fortschritte eingetreten sind: bei der Rechtsstaatlichkeit, bei den Bildungschancen für Mädchen, bei Frauenrechten, bei Infrastrukturaufbau, bei Terrorismusbekämpfung.
({17})
Gerade von unserem Programm für berufliche Bildung haben viele Tausend Menschen profitiert. Die gelernten Fähigkeiten werden noch in Jahrzehnten für Afghanistan von Bedeutung sein,
({18})
auch wenn der Einsatz unrühmlich zu Ende gegangen ist. Das bleibt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({19})
Die furchtbaren Bilder vom Abzug aus Afghanistan sind uns allgegenwärtig. Die Willkür der Taliban, die Unterdrückung vieler Menschen, vor allem von Frauen und Mädchen, ist unerträglich. Täglich erreichen uns auch Anfragen verzweifelter Menschen, die das Land aus Angst um ihr Leben verlassen müssen. „Nichts ist gut in Afghanistan“ bleibt trotzdem nur ein Teil der Wahrheit. Das Ende der Afghanistan-Mission bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass unser Einsatz für Frieden mit anderen Partnern umsonst oder falsch gewesen wäre. Einfache Antworten sind nie richtig. Eine moderne Außen- und Sicherheitspolitik ist anspruchsvoller als die Schwarz-Weiß-Debatten in Social-Media-Blasen.
Der Untersuchungsausschuss und die Enquete-Kommission bieten uns die Gelegenheit, gemeinsam mit den demokratischen Parteien dieses Hauses konstruktiv daran zu arbeiten und aus Fehlern zu lernen.
({20})
– Sie reden mehr, als Sie denken. Sie sollten es mal umgekehrt halten. – Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden und es zukünftig besser machen. Den Antrag der Rechtsradikalen lehnen wir ab.
Vielen herzlichen Dank.
({21})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stegner. – Nächster Redner wird sein der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort zum Antrag der AfD-Fraktion.
({0})
Der Antrag zeigt, dass Ihre Fraktion entweder das Instrument des Untersuchungsausschusses nicht verstanden hat oder dass Ihre Fraktion es missbräuchlich einsetzt.
({1})
Im Zentrum eines Untersuchungsausschusses steht die Beweisaufnahme.
({2})
Es geht um Sachverhaltsermittlung; allein darum geht es. Es geht um Sachverhaltsermittlung, Tatsachenermittlung und nicht Agitation. Die können Sie hier betreiben; die können Sie sonst wo betreiben. Aber dafür ist nicht das Instrument des Untersuchungsausschusses da.
({3})
Insofern kann ich mich noch nicht mal der Empfehlung des Kollegen Stegner anschließen, dass Sie Ihre Fragen, die Sie dort formuliert haben, im Untersuchungsausschuss stellen. Denn all diese Fragen wären unzulässig
({4})
– das sage ich –, weil der Untersuchungsausschuss eine ganz spezifische, einzigartige Funktion hat: Er kann wie ein Richter mit richterlichen Befugnissen Beweise erheben; er kann sogar vereidigen. Das heißt, dort muss vorgegangen werden wie zu Gericht. Es müssen die Beweisanträge gestellt werden nach den Anforderungen der Strafprozessordnung.
Das Typische an Ihren Fragen ist, dass Sie mit Ihren Fragen immer gleich die Wertung und Bewertung vornehmen. Kein Richter in diesem Land dürfte, könnte, würde solche Fragen stellen; sie sind unzulässig.
({5})
Darum ist schon formal Ihr ganzer Antrag unzulänglich, und er zeigt, dass es überhaupt kein Bemühen gibt, sich mit dieser dramatischen Lage auseinanderzusetzen.
({6})
Das möchte ich in der verbleibenden Zeit kurz tun; denn ich bin davon überzeugt, dass es aus dem Afghanistan-Einsatz Lehren zu ziehen gibt. Wir als Fraktion sind wie auch andere Fraktionen der Auffassung, dass etwas aufzuarbeiten ist.
({7})
Ich möchte mich hier auf eine Lehre und einen Gegenstand der Aufarbeitung beziehen, den ich auch benennen möchte und der mich umtreibt.
Ich nutze die Gelegenheit, hier zu sagen, dass mich bis dahin selten in der Politik etwas so wütend und traurig gemacht hat
({8})
wie das Ergebnis des Abzuges der NATO-Truppen aus Afghanistan. Denn seitdem die NATO nicht mehr in Afghanistan ist, ist in dieses Land Terror, Chaos und Elend zurückgekehrt; das ist die Folge des Abzugs der NATO. Die Taliban sind zurückgekehrt. Es herrscht eine fürchterliche Hungersnot – fürchterlich! –, der Unfähigkeit und dem Chaos des Talibanregimes geschuldet. Mädchen können eben nicht mehr in die Schule gehen. Frauen können kein selbstbestimmtes Leben mehr führen. Die Scharia wird angewendet in dem Chaos dieses Landes. Das ist das Ergebnis der Entscheidung, dass die NATO abgezogen ist.
({9})
Als die NATO da war, war eine Zeit von Freiheit, Selbstbestimmung und Stabilität,
({10})
die Afghanistan seit Langem und seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Das war die Realität.
({11})
Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir diesen – –
({12})
– Genau das ist wieder die gewohnte Übereinstimmung von AfD und Linksfraktion in der Außenpolitik; absolute Übereinstimmung.
({13})
Sie sind der Meinung, die NATO ist schuld.
({14})
Ich bin der Meinung: Das Problem ist, dass die NATO nicht mehr da ist – das ist ja empirisch bewiesen –, weil vorher in einem großen Maß Stabilität, Freiheit und Selbstbestimmung möglich waren, und jetzt ist es wieder wie zuvor. Also müssen wir doch fragen: Was ist falsch gelaufen? Wie konnte es dazu kommen? Sie meinen: Es ist, weil die NATO da war. Ich sage: Es ist, weil die NATO nicht mehr da war.
({15})
Warum ist die NATO nicht mehr da? Die NATO ist nicht mehr da, weil Präsident Trump so entschieden hat.
({16})
„America first!“, das ist nicht mehr unser Interesse. Er hat mit den Taliban verhandelt und selbst diese Verhandlungen dadurch obstruiert, dass er einen Abzugstermin genannt hat. Die Taliban mussten nicht mal verhandeln, sie mussten nur abwarten.
({17})
Dann kam der Amtswechsel zu Präsident Biden. Er hat im Wesentlichen mit einer viermonatigen Verzögerung diese Politik, dieses desaströse Erbe nur fortsetzen können; und die Amerikaner sind abgezogen.
({18})
Die Europäer wussten: Es ist falsch. Aber wir wussten auch: Wir sind nicht in der Lage, unsere Interessen zu vertreten, außenpolitisch das zu tun, was wir für richtig halten,
({19})
weil wir die militärischen Möglichkeiten dazu nicht haben. – Das ist die Lehre und die Erfahrung daraus.
({20})
– Wenn Sie mal Ihr dummes Gerede für eine halbe Minute einstellen könnten, wäre ich Ihnen dankbar.
({21})
Sie haben außer dummen Sprüchen hier nichts beizutragen. Es stört mich auch deshalb, weil ich hier über das Elend von Menschen rede und Sie nichts anderes im Sinn haben als Ihre dummen parteipolitischen Sprüche. Es ist eine Beleidigung und Verhöhnung der Opfer.
({22})
Herr Kollege Röttgen, einen ganz kleinen Moment. – Ich teile Ihre Auffassung – das habe ich früher schon gesagt –, dass permanentes Zwischenrufen nicht der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages entspricht und auch nicht sonderlich intelligent ist. Wenn Sie was zu sagen haben, Herr Brandner, melden Sie sich. Ich lasse eine Kurzintervention auch gerne zu, wenn Sie das wollen. Aber den Redner durch dauernde Zwischenrufe zu stören, ist einfach stillos.
({0})
– Herr Kollege Röttgen, Sie haben erneut das Wort.
Damit bin ich bei der Lehre. Wir müssen uns mit der europäischen Ohnmacht beschäftigen, die wir erlebt haben. Der amerikanische Rückzug hat europäische Ohnmacht sichtbar gemacht. Für die Amerikaner ist das einen Ozean weit entfernt. Diese Region wird auch nicht mehr Priorität der Interessen der Amerikaner werden. Aber es ist aufs Engste und untrennbar mit der Sicherheit und Stabilität in Europa verbunden, wie es in der Region in Zentralasien und im Nahen und Mittleren Osten aussieht. Das ist die Lehre, die wir ziehen müssen – um unserer Sicherheit willen und um willen unserer Verantwortung für die Menschen dort. Wir dürfen wegen unserer eigenen Interessen und wegen unserer Verantwortung europäische Ohnmacht nicht weiter dulden. Wir müssen entschieden uns selber befähigen, unsere eigenen Interessen zu vertreten, meine Damen und Herren.
({0})
Das Zweite ist die Art und Weise des Rückzugs. Unsere Ohnmacht hat sich bis in die Art und Weise des Rückzugs, ja am Ende fast des fluchtartigen Abzugs aus Afghanistan gezeigt. Ich selber bin angerufen worden von Eltern und Schulleitungen von Kindern und Schülern, die in Afghanistan waren, deutsche Schüler afghanischer Abstammung, zu denen es keinen Kontakt gab. Wir haben Menschen zurückgelassen, mit denen wir kooperiert haben. Und das muss aufgeklärt werden. Warum waren wir auf den schlechten Verlauf der Dinge nicht vorbereitet? Wer hat wie agiert? Wie lief die Koordination? So etwas darf nicht mehr passieren. Und bevor wir zu den Wertungen kommen, müssen wir den Sachverhalt und die Tatsachen ermitteln – allerdings seriös; das ist unsere Verantwortung.
Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden. Die CDU/CSU-Fraktion ist in guten Gesprächen mit den Koalitionsfraktionen, um den Sachverhalt zu ermitteln, um zu ermitteln: Was ist falsch gelaufen? Es ist unsere Verantwortung, Lehren und Konsequenzen zu ziehen. Das ist das Gebot der Stunde; dem wollen wir folgen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Röttgen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Und Herr Hoppenstedt kann sich schon mal überlegen, welchem Redner aus seiner Fraktion ich eine Minute abziehen darf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich: Wir sind dann erst mal nur per Telefon zu erreichen. Wir zerstören die IT. Schönen Sonntag noch. Ende. – Das sind die letzten Worte, die im August 2021 aus der deutschen Botschaft ans Auswärtige Amt gekabelt wurden. Danach machte sich der stellvertretende Botschafter mit seinen verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf den Weg zum Flughafen. Es waren dramatische Stunden in Kabul, das von den Taliban überrannt wurde. Es war auch das brutale Ende eines sehr langen und schwierigen Bundeswehreinsatzes.
Lassen Sie mich vorwegschicken: Als Abgeordnete, die die Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan immer sehr kritisch gesehen hat, möchte ich zunächst allen Soldatinnen und Soldaten, Diplomatinnen und Diplomaten und zivilen Helferinnen und Helfern und all den Menschen in Afghanistan danken, die über Jahre alles gegeben haben, um das Leben der Menschen dort zu verbessern, und die in den dramatischen Stunden des Abzuges alles getan haben, um so viele Menschen wie möglich zu retten.
({0})
Und den schadenfrohen, überheblichen und pseudobelehrenden Ton, den wir hier von rechts gehört haben, den finde ich absolut deplatziert in dieser wichtigen Debatte.
({1})
– Ich meinte die Rede des Kollegen, der die Debatte eröffnet hat.
Ja, es gab sehr viel, meine Damen und Herren, auf das wir kritisch zurückblicken müssen: zum einen auf das deutsche und internationale Engagement der letzten 20 Jahre und zum anderen auf den chaotischen Abzug und die Frage, warum eine Evakuierung von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, von Personal, von Ortskräften und besonders gefährdeten Gruppen nicht viel sorgfältiger vorbereitet wurde, warum Menschen, die unser Engagement in Afghanistan unterstützt haben, ausharren mussten, obwohl sie schon vor Jahren Anträge gestellt haben, weil sie bedroht waren. Diesen Menschen zu helfen, bleibt nach wie vor eine sehr wichtige Aufgabe.
({2})
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart – mit der Genehmigung des Präsidenten zitiere ich –:
Wir wollen die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten. Zudem wollen wir den Gesamteinsatz in einer Enquete-Kommission mit wissenschaftlicher Expertise evaluieren. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufgearbeitet werden, so dass sie in die Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen.
Es ist nicht gewöhnlich, dass Sie das Vorhaben eines Untersuchungsausschusses im Koalitionsvertrag von Regierungsfraktionen finden. Aber weil diese Fragen so ernst sind, weil der Abzug so dramatisch war, haben sich hier Fraktionen, demokratische Fraktionen aus Opposition und Koalition, zusammengetan, um eine ernsthafte Debatte hinzubekommen. Ich kann Ihnen versichern: Wir sind gemeinsam in sehr guten Gesprächen. Ohne den brutalen Angriffskrieg in der Ukraine wären wir schon so weit; aber ich bin gerade mit Blick auf die letzten drei Monate sehr dankbar, wie sachlich-konstruktiv wir in der Ampel und auch gemeinsam mit der Union zusammenarbeiten konnten. Das ist für mich, auch gerade in diesen ernsten Zeiten, Ausdruck eines neuen Politikstils jenseits dieser rituellen Rollen von Regierung und Opposition, die wir, glaube ich, alle satthaben; und der sollte Schule machen.
({3})
Die Einzigen, die versuchen, aus dieser ernsten Debatte eine peinliche Show zu machen, sind die Rechten hier am Rand. Sie legen total überstürzt einen ganz absurden Antrag vor – er ist ja schon exzellent von Herrn Stegner und Herrn Röttgen versenkt worden;
({4})
ich kann mich allem anschließen – und fordern einen Untersuchungsausschuss – ich komme zur nächsten Absurdität – über 20 Jahre.
({5})
Ich war selbst Mitglied mehrerer Untersuchungsausschüsse, und ich kann Ihnen sagen: Das ist ein Mittel zur Aufklärung, nicht zur Abrechnung. Es geht darum, konkrete Fehler zu beleuchten, Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen und Verantwortung zu benennen. Sie dagegen wollen, dass sich ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Deutschland unter anderem mit der Frage beschäftigt – das haben Sie dann auch zum Anlass genommen, es hier im Plenum noch mal vorzutragen –, warum – Zitat – „die Opiumproduktion während der Zeit der westlichen Präsenz in Afghanistan stets höher lag als während der Regierungszeit des Taliban-Regimes“ – Frage 22.
({6})
Mir ist bewusst, dass parlamentarische Arbeit nicht Ihre Stärke ist; aber das ist selbst für die AfD weltfremd und peinlich.
({7})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein. – Ein Untersuchungsausschuss ist zudem extrem zeit- und arbeitsintensiv; das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
({0})
Kurzer Hinweis: Der Untersuchungsausschuss zur Bombardierung in Kunduz tagte knapp zwei Jahre – bei 339 Aktenordnern; da ging es um einen Zeitraum von wenigen Wochen. Ein Untersuchungsausschuss, der die von Ihnen aufgeworfenen Fragen ernsthaft bearbeiten würde, würde Jahrzehnte tagen müssen, und man muss die Akten dann auch lesen. Aber Ihnen geht es offensichtlich nicht um Erkenntnisse, sondern um Effekthascherei.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Untersuchungsausschuss zum Abzug und die Enquete zum Engagement in Afghanistan – sie stehen dafür, dass wir die Menschen in Afghanistan nicht vergessen haben, sondern auch nach dem Abzug, auch wenn die Aufmerksamkeit weniger gegeben ist, hinschauen und zu unserer Verantwortung stehen. Das sind wir auch der Bundeswehr schuldig. Gemeinsam werden wir von den demokratischen Fraktionen zeigen, dass Politik sich ihren Fehlern stellen kann, dass sie Verantwortung übernimmt, dass sie den Anspruch hat, zu lernen und Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Mit diesem Antrag von rechts sehen wir das genaue Gegenteil davon.
Frau Kollegin.
Und deshalb freue ich mich, dass wir Ihnen bald einen sehr klugen, breit getragenen und ernsthaften Vorschlag vorlegen können.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Brugger. – Die AfD-Fraktion hat eine Kurzintervention beantragt. Ich gebe dem Kollegen Keuter das Wort.
({0})
Herr Vorsitzender, vielen Dank für die Erteilung des Wortes. – Wir müssen hier mal mit einigen Fehlinformationen der Redner der anderen Fraktionen, die vorher gesprochen haben, aufräumen. Es ist uns ja vorgeworfen worden, wir würden mit unserem Antrag gewisse Wertungen vornehmen. Dem ist nicht so. Es braucht aber für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gewisse Anfangsverdachtsmomente. Diese Anfangsverdachtsmomente hat mein Kollege Springer benannt, und darauf gründen wir die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Frau Brugger, Sie hatten gerade eben gesagt, Sie haben schon an Untersuchungsausschüssen teilgenommen. Dann müssten Sie ja eigentlich wissen, dass dies, wie der Kollege Röttgen auch schon sagte, kein Gerichtsverfahren ist; vielmehr ist ein Untersuchungsausschuss ein politisches Instrument. Es zeigt politisches Versagen auf, und es zeigt Staatsversagen auf.
Wenn wir Sie als regierungstragende Fraktionen alleine machen lassen würden, dann würde sich der Untersuchungszeitraum auf das Ende dieser Mission in Afghanistan und den Abzug verdichten, wozu Sie, Frau Brugger, gerade eben auch gesprochen haben. Viel wichtiger ist es für uns, zu wissen, zu welchen Fehlleistungen der Bundesregierung es in der Zeit der kompletten Mission gekommen ist, wie es dazu kommen konnte, dass Bundespolizisten und Kameradinnen und Kameraden der Bundeswehr in einem Auslandseinsatz gefallen sind, der für uns in dieser Form in keinster Weise nachvollziehbar war. Und dazu gehört auch, zu hinterfragen, warum die Drogenproduktion in Afghanistan stärker oder erfolgreicher war als in den ganzen Jahren ohne westliche Militärpräsenz. Das sind Sachverhalte, die es aufzuarbeiten gilt.
Wir möchten mit unserem Antrag den Blick dafür schärfen, den Untersuchungsauftrag möglichst breit zu fassen, um uns genau diesem Versagen zu widmen. Es handelt sich um ein politisches Instrument, darum, politische Verantwortlichkeiten aufzuzeigen.
Und eine letzte Information, die uns auch noch interessiert. Es sollen nach unseren Informationen 50 000 Menschen in Pakistan auf gepackten Koffern sitzen, die sukzessive nach Köln und nach Leipzig ausgeflogen werden. Nach den Anfragen, die meine Fraktion in den letzten Monaten gestellt hat, dürfte die Zahl dieser Angehörigen, die einen Überführungsanspruch haben, lediglich maximal 8 000 bis 10 000 betragen.
Herr Kollege Keuter, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Da fragen wir uns: Wie kommt es plötzlich zu 50 000? Es gibt sehr viel, was hier –
Herr Kollege Keuter, kommen Sie bitte zum Schluss!
– ja – aufzuarbeiten ist. Dafür haben wir den Antrag gestellt. Wie gesagt: Wir möchten dieses politische Instrument weit fassen.
Vielen Dank.
({0})
Bevor Sie antworten, Frau Kollegin Brugger, wenn Sie es überhaupt wollen, möchte ich den Kollegen Keuter darauf hinweisen, dass die Sitzungsleitung hier nicht mit „Vorsitzender“, sondern mit „Präsident“ oder „Präsidentin“ angesprochen wird. Das lernen Sie aber wahrscheinlich auch noch bis zum Ende der Legislaturperiode; ansonsten werden wir noch mal darauf hinweisen.
Frau Kollegin Brugger, Sie können antworten.
Herr Präsident, Sie haben völlig recht: Zuhören und Lesen ist immer sehr hilfreich.
({0})
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Und, ehrlich gesagt, mit jeder Rede, mit jedem Zwischenruf und erst recht mit dieser Kurzintervention offenbaren Sie wirklich deutlich, dass Sie keinen Plan von Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen haben,
({1})
wie sie funktionieren, nach welchen Regeln sie funktionieren. Ich sehe hier gerade eine Reihe von Kollegen nicken, so Kollegen Strasser, der da auch schon Erfahrung hat.
({2})
Wirklich, es lohnt sich gar nicht, da einzusteigen. Der Präsident würde mir gar nicht so viel Zeit an dieser Stelle geben.
Deshalb haben wir uns als Fraktionen, die demokratisch sind und Ahnung haben,
({3})
Gedanken gemacht, wie wir auch der Verantwortung gerecht werden können, die 20 Jahre Auslandseinsatz in Afghanistan aufzuarbeiten. Noch mal: Kunduz, einige Wochen, 339 Aktenordner, zwei Jahre tagen. Wir saßen da jeden Donnerstag nachts bis teilweise 5 Uhr morgens. Wie lange wollen Sie eigentlich Ihren Untersuchungsausschuss über die 20 Jahre führen?
Das richtige Mittel ist hier die Enquete-Kommission, die mit Wissenschaftlern, mit der Bundeswehr, mit Sachverständigen, mit der Zivilgesellschaft und dem hohen Sachverstand aus den demokratischen Fraktionen dieses Hauses genau die Frage aufarbeiten wird,
({4})
welche Lehren wir ziehen müssen. Noch mal: Lesen hilft, sowohl der Geschäftsordnung des Bundestages, der Regeln des Untersuchungsausschusses als auch des Koalitionsvertrags. Vielleicht ist das besser investierte Zeit, als solche wirklich grottigen Anträge zu schreiben.
({5})
Nun erhält das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Krieg in Afghanistan war von Anfang an falsch. Die einzige konsequente Gegenstimme, schon zu Beginn, kam von der PDS, später auch von der Linken. Allerdings räume ich ein, dass wir beim Antrag der Regierung auf Abzug der Bundeswehr und Rettung von Menschenleben absolut daneben entschieden haben, nämlich mit Ja, Nein und Enthaltung – absurd! Wir hatten 20 Jahre lang recht, und dann das. Na schön!
Dieser Krieg hatte zu keiner Zeit die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes – zu keiner Zeit! Sie haben 20 Jahre lang die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung ignoriert,
({0})
über 17 Milliarden Euro sinnlos ausgegeben, das Leben und die Gesundheit von Soldatinnen und Soldaten geopfert, den Tod von afghanischen Frauen, Männern und Kindern in Kauf genommen. Man kann mittels Krieg nicht die soziale, religiöse, staatliche Entwicklung eines Landes umstülpen, auch nicht zum Guten.
({1})
Die Taliban sind heute stärker denn je. Nichts von dem, was die Bundeswehr dort schaffen wollte, hat Bestand.
Wann wollen Sie eigentlich die anderen Einsätze beenden?
({2})
Weil wir jetzt ja mal grundsätzlich darüber nachdenken müssen.
({3})
Zum Beispiel im Kosovo: 20 Jahre, 50 Jahre, 100 Jahre? Nie beziffern Sie ein Ende der Einsätze.
Das Streben der deutschen Außenpolitik seit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien, das internationale Gewicht Deutschlands durch immer neue Militär- und Kriegseinsätze der Bundeswehr zu erhöhen, hat sich mit dem fluchtartigen Ende in Afghanistan endgültig als gescheitert erwiesen.
({4})
Am schlimmsten aber ist, dass Sie nicht daraus lernen. In Mali wiederholt sich das Desaster. Die zweite Putschregierung dort lehnt Wahlen ab, Frankreich zieht seine Truppen zurück, aber der Bundestag soll morgen die Verlängerung beider Einsätze beschließen.
Umso dringender wäre eine gründliche und schonungslose Aufarbeitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Versprochen wurde dies noch von Bundeskanzlerin Merkel. Auch im Koalitionsvertrag ist von einer Enquete-Kommission, einem Untersuchungsausschuss und einer interministeriellen Arbeitsgruppe die Rede. Aber selbst ein Dreivierteljahr nach dem Ende des Krieges gibt es nichts davon. SPD, Grüne und FDP bieten im Verein mit der Union nun ausgerechnet der Rechtsaußenseite des Hauses die Gelegenheit, die große Aufarbeiterin zu geben
({5})
– tja –, jener Partei, der es mit der Abschiebung von Menschen nach Afghanistan trotz des Krieges nie schnell genug gehen konnte und die auch heute kein Problem damit hat, Menschen in die Talibanherrschaft zu schicken, jener Partei, die mit der gewaltsamen Abwehr von Flüchtlingen überhaupt keine Probleme hat,
({6})
jener Partei, die gerade versucht, sich als Friedensbewegung zu inszenieren. Sie können niemals Teil der Friedensbewegung sein, weil Sie eine Partei des Unfriedens, der Diskriminierung, des Hasses, des Rassismus und des Antisemitismus sind.
({7})
Schon deshalb muss man Ihren Antrag ablehnen, und zwar durch alle anderen Fraktionen des Hauses.
({8})
Aber das ändert nichts daran, dass man der Ampelkoalition offensichtlich auf die Sprünge helfen muss, damit das Afghanistan-Desaster endlich aufgearbeitet wird. Wir werden einen besseren Antrag einreichen.
({9})
Es bleibt eine dringende Aufgabe, den Menschen zu helfen, die der Bundeswehr geholfen haben, die sich zu demokratischen Werten und Frauenrechten bekannten und bekennen. Doch die Bundesregierung hat es bisher nicht einmal geschafft, wenigstens alle Menschen in Sicherheit zu bringen, die unmittelbar mit Bundeswehr, GIZ und anderen deutschen Einrichtungen zusammengearbeitet haben.
({10})
Dieser hartherzige, abwehrende Umgang ist eine Schande für uns.
({11})
So wie wir Menschen helfen, die aus der Ukraine vor den russischen Angriffen fliehen, so ist es auch unsere Pflicht, den Menschen zu helfen, die vor den Taliban fliehen. Es darf keine Geflüchteten erster, zweiter und dritter Klasse geben.
({12})
Regierungsfraktionen und Union wollen die gigantischste Aufrüstung in der bundesdeutschen Geschichte beschließen. Russland wird Deutschland nicht angreifen. Und wenn doch, wäre es ein Bündnisfall. USA, Großbritannien, Frankreich und viele andere müssten eingreifen, und wir hätten den dritten Weltkrieg.
Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Deshalb umgekehrt: Nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine brauchen wir Deeskalation, Abrüstung, viel mehr Diplomatie, Interessenausgleich – auch das Gegenüber hat ja Interessen – und endlich die strikte Wahrung des Völkerrechts von allen Seiten.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Gysi. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Müller, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Manchmal ist es nötig, von dieser Stelle aus zu erklären, was der Unterschied zwischen einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 44 unserer Verfassung und einer Enquete-Kommission ist: Ein Untersuchungsausschuss arbeitet explizit mit dem Mittel der Beweisaufnahme. So steht es in Artikel 44. Er ist ein Mittel zur Aufarbeitung politischer Verantwortung und von Schuldfragen. Eine Enquete-Kommission arbeitet auf wissenschaftlicher Basis. Hier wird mit den Erkenntnissen und den Erfahrungen aus der Vergangenheit an der Zukunft gearbeitet.
Die antragstellende AfD verteufelt den Bundeswehreinsatz in Afghanistan in Gänze. Dabei verschweigt sie, dass die Bundeswehr im Jahr 2001 im Rahmen von NATO-Beschlüssen aufgrund der Bündnisverpflichtung im Artikel 5 zusammen mit allen NATO-Partnern am Einsatz teilnehmen musste.
({0})
Wären wir damals nicht mitgegangen, wären wir heute nicht mehr in der NATO.
({1})
Offensichtlich ist dies die Intention der antragstellenden AfD. Wladimir Putin ist dieser Partei immer wieder zu großem Dank verpflichtet.
({2})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Afghanistan-Einsatz begann zehn Jahre vor der Gründung der AfD.
({3})
Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, erlaube ich nicht. – Trotzdem will uns diese Fraktion hier erklären, dass man schon immer gewusst habe, dass unsere Teilnahme am Einsatz schon immer ein grundlegender Fehler gewesen sei. Wie anmaßend ist diese Einstellung? Mit dem Wissen von heute wollen Sie diejenigen verurteilen, die vor 20 Jahren in einer akuten Lage brutalster Terroranschläge eine Entscheidung treffen mussten.
Osama Bin Laden und seine Schergen von al-Qaida lebten in Afghanistan und wurden von der damaligen Talibanregierung toleriert und protegiert. Von dort aus haben sie in der ganzen Welt hochkomplexe und blutigste Terroranschläge auf Zivilisten geplant und exekutiert. Die U-Bahn-Anschläge von Madrid und London, der unvorstellbar brutale Anschlag auf das World Trade Center, die Tausenden von getöteten unschuldigen Zivilisten, all das wollte die AfD offensichtlich dauerhaft in Kauf nehmen, um die Terrorbanden in Afghanistan nicht dabei zu stören. Wie zynisch ist es, wenn Sie in Ihrem Antrag behaupten – Zitat –, „der westliche Eingriff in Afghanistan“ sei eher „friedenshemmend als ‑förderlich gewesen“? Diese üble Geschichtsklitterung sagen Sie den Waisenkindern und Witwen des 11. September 2001 ins Gesicht. Es ist wirklich zum Schämen!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Große Koalition hat die Mission Resolute Support auch aus meiner Sicht viel zu wenig evaluiert. Sie hat sie immer wieder unverändert verlängert, ohne sich einmal selbst zu hinterfragen,
({1})
ohne Erfolge, Misserfolge und Auswirkungen gründlich auszuwerten und die eigene Strategie einmal zu überprüfen. Ich selbst habe daher in den letzten vier Jahren nur ein einziges Mal einer Verlängerung von Resolute Support zugestimmt, danach nie mehr, weil auch ich nicht mehr von diesem Einsatz überzeugt war.
Deswegen bin ich besonders dankbar, dass unsere Koalition eine gründliche Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes vornimmt, und zwar so, wie es geboten ist: die Klärung der Verantwortung für die damalige Situation der Ortskräfte, der fatalen Lagefehleinschätzung im August 2021, des Evakuierungschaos in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wo Sie Ihre Fragen alle stellen können. Und nebenbei erfolgt parallel die wissenschaftliche Aufarbeitung der Lehren aus dem Einsatz, also was man mit einem Auslandseinsatz grundsätzlich erreichen kann und was nicht, im Rahmen einer Enquete-Kommission. Das ist genau der richtige Ansatz, und so haben wir es im Koalitionsvertrag auch vereinbart.
Beide Gremien, Enquete-Kommission und Untersuchungsausschuss, starten in diesem Sommer mit ihrer Arbeit. Wir freuen uns daher auf eine breite Zustimmung für dieses Vorgehen in diesem Haus.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Die AfD-Fraktion hat eine Kurzintervention beantragt. Das ist die letzte, die ich zu diesem Themenkomplex zulassen werde von der AfD-Fraktion. Der Kollege Wundrak hat das Wort.
Werter Herr Kollege Müller, nur um der historischen Wahrheit den Raum zu geben, ein Statement von einem, der schon 2001 mit der Thematik befasst war: Die Beteiligung Deutschlands an dem ISAF-Einsatz war im ersten Jahr kein NATO-Einsatz. Der Einsatz wurde am 22. Dezember, wenn ich das richtig erinnere, durch den damaligen Bundeskanzler Schröder entschieden als Teilnahme an einer Coalition of the Willing. Das ist einfach der historische Hintergrund.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Müller, wollen Sie antworten? – Ich sehe, Sie wollen. Also haben Sie das Recht, zu antworten.
Danke für die Belehrung, Herr Kollege Wundrak. Ich wusste gar nicht, dass Sie in den Jahren 2001, 2002 hier auch schon mit in der Verantwortung waren.
({0})
Die AfD hat mit diesem Antrag den gesamten Afghanistan-Einsatz infrage gestellt, in Bausch und Bogen verurteilt. Daher macht es wenig Unterschied, ob wir ein Jahr später auf NATO-Bitte hingefahren sind oder nicht.
({1})
Wenn Sie den Einsatz so komplett infrage stellen, macht das keinen Unterschied mehr.
({2})
Vielleicht darf ich noch darauf hinweisen, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist und der Bundeskanzler selbst keine eigenen Entscheidungen für Auslandseinsätze treffen kann, nur das Parlament höchstselbst. Das sage ich nur, damit die deutsche Öffentlichkeit keinen falschen Eindruck erhält.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rebecca Schamber, SPD-Fraktion.
({1})
Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jeden Morgen geht mein erster Blick zu den Eilmeldungen: Was ist passiert in der Welt? Natürlich ist gerade der Angriffskrieg gegen die Ukraine im medialen und in unser aller Fokus; aber wir dürfen die anderen Krisen dieser Welt nicht vergessen. Auch aus Afghanistan kommen stetig besorgniserregende Meldungen. Ich will exemplarisch nur zwei nennen:
Rund 95 Prozent der Menschen in Afghanistan haben nicht genug zu essen. Gerade Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen. Es kommt laut Medienberichten sogar immer häufiger vor, dass Eltern eines ihrer Kinder verkaufen, um die übrigen ernähren zu können.
Vor nicht einmal zwei Wochen war überall zu lesen: Die Taliban haben verordnet, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit wieder vollkommen zu verschleiern haben.
Die Meldungen zum Leid in Afghanistan scheinen sich immer mehr zu verdichten. Darum möchte ich an dieser Stelle zuerst ganz klar sagen: Wir werden unser Engagement für die Bevölkerung vor Ort fortsetzen. Es ist schwierig – ja –, aber das darf uns nicht abhalten.
({0})
Des Weiteren müssen wir Lehren aus der Vergangenheit, aus dem 20‑jährigen Bundeswehreinsatz in Afghanistan ziehen, aufklären und aufarbeiten – und das ganz selbstkritisch mit einer am Ende ehrlichen Bilanz. Dafür haben wir uns als Koalitionsfraktionen vorgenommen, sowohl einen Untersuchungsausschuss als auch eine Enquete-Kommission einzusetzen, um unabhängig Missstände in der Exekutive aufzudecken und das Fehlverhalten von Verantwortlichen zu überprüfen. Beide Untersuchungsgremien werden eigene Schwerpunkte setzen und sich doch ergänzen. Damit geht unser Aufklärungsvorhaben noch weit über die Forderung der Oppositionsfraktion AfD hinaus, ist präziser und aus meiner Sicht auch logischer.
({1})
Ich frage mich ohnehin – das ist hier schon mehrfach angeklungen –, wozu die AfD einen Untersuchungsausschuss beantragen will, wenn sie schon im Antragstext unterstellt, das Ergebnis bereits zu kennen,
({2})
weil es dann keinen Untersuchungsausschuss mehr bräuchte. Somit hat die AfD ihren eigenen Antrag überflüssig gemacht.
Uns als SPD ist eine unabhängige und umfassende Aufklärung hingegen wichtig. Wir Abgeordnete tragen gegenüber den Einsatzkräften eine besondere Verantwortung, sie künftig besser zu schützen und keinen unnötigen Gefahren auszusetzen. Als Verteidigungspolitikerin ist mir das ein besonderes Anliegen.
Der Einsatz in Afghanistan war eine Zäsur. So beschreibt es die Wehrbeauftragte in ihrem aktuellen Bericht. 59 Soldaten starben in Afghanistan, viele weitere müssen bis heute mit körperlichen und psychischen Folgen leben. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dass wir im Parlament aufklären, welche Fehler es bei diesem Auslandseinsatz gegeben hat, damit wir sie in Zukunft bei anderen Einsätzen vermeiden können.
({3})
Die Bundeswehr hat allerdings in Afghanistan auch gezeigt, was sie zu leisten imstande ist. In kürzester Zeit, nämlich in nur 11 Tagen, ist es ihr gelungen, mehr als 5 000 Menschen nach Deutschland in Sicherheit zu bringen. Diese Evakuierungsmission war schwierig und extrem gefährlich. Es war eine enorme Leistung unserer Streitkräfte. Aus Gesprächen mit der Truppe, mit einzelnen Soldatinnen und Soldaten, weiß ich, dass sie alles ihnen Mögliche getan haben, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Ich bin fest davon überzeugt: Sie hätten gerne noch mehr getan.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als der letzte A400M mit dieser Rettungsaktion auf dem Fliegerhorst in Wunstorf landete. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht Abgeordnete, sondern Bürgerin im Nachbarort von Wunstorf, welches heute zu meinem Wahlkreis zählt. Durch diese örtliche Nähe kenne ich einige Soldatinnen und Soldaten, auch Piloten, und habe diese Zeit sehr emotional miterlebt. Mir ist es jetzt als Parlamentarierin ein Bedürfnis – und ich bin froh über diese Gelegenheit –, hier heute noch einmal unserer Parlamentsarmee für diesen Einsatz herzlich Danke zu sagen. Ein besonderer Gruß und Dank geht natürlich an das Lufttransportgeschwader 62 nach Wunstorf.
({4})
Zum Abschluss noch einmal ganz ausdrücklich: Wir werden diesen Einsatz aufarbeiten und unsere Schlüsse daraus ziehen. Dafür braucht es keinen unlogischen Antrag der AfD-Fraktion, den wir natürlich ablehnen werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Rückkehr der letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan am 27. August 2021 endete das deutsche militärische Engagement in Afghanistan.
Wir haben uns hier im Hohen Haus lange und ausführlich ausgetauscht und beispielsweise auch über den Satz diskutiert, nichts sei gut in Afghanistan. Wir müssen mit Blick auf den Rückzug und die Entwicklungen danach leider feststellen – das haben die Kolleginnen und Kollegen schon an der einen oder anderen Stelle deutlich gemacht –: Nichts ist besser geworden in Afghanistan. Das schmerzt sehr.
Die Bilder der damaligen internationalen Evakuierungsmission aus Kabul gingen um die Welt. Die Evakuierung selbst stellte einen Abschluss dar. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, was am Anfang stand und unser Engagement in Afghanistan ausgelöst und notwendig gemacht hat, und das waren die fürchterlichen Terrorakte in New York und in Washington vom 11. September 2001.
Mit diesem Engagement, das über die gesamte Zeit von breiten parlamentarischen Mehrheiten getragen wurde, haben unsere Soldatinnen und Soldaten unter schwierigen Bedingungen 20 Jahre lang einen anerkannten Beitrag zur Sicherheit und zum Fähigkeitsaufbau in Afghanistan geleistet. Das Gleiche gilt für unsere Diplomaten sowie für zahlreiche zivile, staatliche, aber auch nicht staatliche Entwicklungshelfer.
Meine Damen und Herren, zur Wahrheit gehört: Der Versuch der internationalen Gemeinschaft, Frieden und Demokratie nach Afghanistan zu bringen, war auf lange Sicht leider nicht von Erfolg gekrönt. Zur Wahrheit gehört aber auch: In der Zeit des internationalen militärischen Engagements ging von Afghanistan keine terroristische Bedrohung für Europa und die westliche Welt aus. Deshalb kann und muss man festhalten: Deutschland ist mit der Bundeswehr nicht spektakulär gescheitert, wie es im AfD-Antrag heißt. Die Bundeswehr hat die Aufträge, die ihr von der Politik erteilt worden sind, in Afghanistan erfüllt.
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben ihre Pflicht erfüllt. 59 davon haben dafür das größte Opfer gebracht, das man erbringen kann. Auch deshalb finde ich es unredlich, dass Sie in Ihrem Antrag die Bundeswehr und konkret die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten in 20 Jahren Afghanistan nicht einmal mit einer Silbe ansprechen.
({0})
– Sie machen diesen Fehler nicht besser mit Ihrem Geschrei.
Unsere Truppe verdient nämlich Anerkennung, nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch aus dem parlamentarischen Raum. Das gilt für links außen, und das gilt eben auch für rechts außen.
Herr Gysi, Sie hatten heute die große Chance, nach 20 Jahren zum ersten Mal in diesem Parlament zu sagen,
({1})
welche Leistungen die Bundeswehr im Namen dieses Parlaments tatsächlich geleistet hat, und sich zu bedanken. Auch diese Chance haben Sie wieder einmal liegen gelassen.
({2})
Mit dem vorliegenden Antrag, meine Damen und Herren von der AfD, machen Sie deutlich, dass es der AfD nicht um eine ernsthafte Aufarbeitung geht. Dieser Antrag der AfD ist eine reine Show. Sie haben es ja förmlich darauf angelegt, dass dieser Antrag abgelehnt wird, sonst hätten Sie sich mehr Mühe gegeben, um zumindest die formalen Voraussetzungen zu erfüllen, dass über diesen Antrag positiv abgestimmt werden kann.
Dazu gehört zum Beispiel, dass der Antrag das Ergebnis der geforderten Untersuchung schon vorwegnimmt. Dies zeigt doch, dass es Ihnen eben nicht um Aufklärung geht. Sie möchten aus diesem Untersuchungsausschuss politisches Kapital schlagen, und das am Ende auf dem Rücken unserer Soldatinnen und Soldaten. Herr Brandner, Ihre unqualifizierte und niveaulose ständige Zwischenschreierei hat das auch noch einmal deutlich unterstrichen.
({3})
Die weltweiten Krisen werden künftig eher zu- als abnehmen. Nicht alle werden sich mit Diplomatie lösen lassen. Wir werden nicht umhinkommen, möglicherweise wieder Soldatinnen und Soldaten in Einsätze zu schicken. Diesen Soldatinnen und Soldaten schulden wir es, jetzt die richtigen Schlüsse aus den vergangenen 20 Jahren am Hindukusch zu ziehen.
({4})
Meine Damen und Herren, deshalb ist es doch klar: Unser Engagement in Afghanistan muss aufgearbeitet werden. Der Afghanistan-Einsatz bedarf einer umfassenden Evaluierung. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist jedoch unstreitig das falsche Mittel, um das ressortübergreifende deutsche Engagement in Afghanistan im Rückblick angemessen und würdig zu beleuchten,
({5})
und schon gar nicht so, wie es sich die AfD vorstellt. Der vorliegende Antrag liest sich eher wie die Forderung nach einem Tribunal. Das lehnen wir entschieden ab.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn. – Nächster Redner ist der Kollege Julian Pahlke, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Wir alle erinnern uns an die Bilder aus dem letzten Sommer: Verzweifelte Menschen, die mit allen Mitteln versuchen, die Stadt zu durchqueren, um den Kabuler Flughafen zu erreichen, die sich auf dem Rollfeld drängen, die versuchen, in eines der wenigen Flugzeuge zu kommen; die Bilder aus dem Innenraum einer amerikanischen Maschine, in der Menschen dicht an dicht auf dem Boden kauern, und, ja, auch das grausame Bild von Menschen, die aus dem Radkasten eines Flugzeuges fallen.
In Deutschland haben sich Zehntausende für die Aufnahme dieser Menschen eingesetzt mit Rettungsaktionen, Demos und hektisch geführten Listen gefährdeter Menschen, die evakuiert werden sollen und von denen bis heute viele in Afghanistan um ihr Leben bangen. Elf Tage dauerte die deutsche Mission, um Menschen auszufliegen. Dann war die Evakuierung beendet. Viele, viele Menschen bleiben verzweifelt zurück und damit auch viele Fragen: Warum hat die Bundesregierung der letzten Koalition dieses Versagen nicht verhindert? Warum wurde nicht früher gehandelt? Wieso wurden die zivilen Rettungsaktionen vielleicht nicht ausreichend unterstützt?
Dieses historische Versagen wird ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss aufarbeiten, und es ist eine besondere Größe, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dieses Anliegen teilen. Wir sind uns einig, dass wir aus den Fehlern der gescheiterten Evakuierungsmission lernen müssen; denn vielen gefährdeten Menschen, die die deutsche Regierung in Afghanistan im Stich gelassen hat, schulden wir nicht nur die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses. Denn wir haben auch eine moralische Verpflichtung, im Rahmen unserer Möglichkeiten den Menschen zu helfen, die sich für ein demokratisches und rechtsstaatliches Afghanistan eingesetzt haben und jetzt genau deswegen akut gefährdet sind.
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, ein humanitäres Aufnahmeprogramm einzusetzen. Dieses Aufnahmeprogramm muss der Situation in Afghanistan gerecht werden; denn dort verstecken sich seit Monaten weiterhin Männer, Frauen und Kinder vor der Gewalt der Taliban, um dem Tod zu entgehen. Und diese Menschen können – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht mehr länger warten.
Und während diese Bundesregierung daran arbeitet, akut gefährdete Menschen aus Afghanistan aufzunehmen, fantasiert die AfD, wie möglichst schnell wieder Menschen in die Gewaltherrschaft der Taliban abgeschoben werden können. Wir lesen doch täglich neue Berichte über Anschläge, Hinrichtungen und die hasserfüllte Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Die AfD aber fordert im Ernst, dieses Regime der Taliban anzuerkennen. Das ist der wahre Geist dieser Partei, die zur Erfüllung ihrer rassistischen Fantasien selbst mit den Taliban kooperieren würde.
({1})
Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, und diese Gesellschaft ist es auch. Wir stehen zur Verantwortung um die Aufklärung genauso wie der zur Aufnahme.
({2})
Unsere Gesellschaft ist bereit, ein sicherer Hafen für gefährdete Afghanen zu sein; denn die Menschen in Afghanistan haben ein Recht auf ein Leben in Würde, in Freiheit und in Selbstbestimmung.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Ann-Veruschka Jurisch, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie sind jetzt auf uns angewiesen, so wie wir damals auf sie angewiesen waren. Die zahlreichen Ortskräfte in Afghanistan haben Großes geleistet – für unser Land, für unsere Freiheit und Sicherheit und ganz besonders für unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Sie haben ihr Leben riskiert, um die Mitarbeitenden unserer Streitkräfte, unseres diplomatischen Dienstes und unserer Entwicklungshilfeorganisationen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Dafür schulden wir unseren Partnerinnen und Partnern in Afghanistan, den Ortskräften, unseren Dank.
({0})
Wir werden den Ortskräften, die an unserer Seite standen, und auch ihren gefährdeten Familien ermöglichen, in Sicherheit in Deutschland zu leben. Das sollte – nein, das muss – eine Selbstverständlichkeit sein, auch wenn damit große logistische Herausforderungen für uns verbunden sind. Als Fortschrittskoalition sind wir angetreten, um mutige Entscheidungen zu treffen, um den Stillstand und das Zögern hinter uns zu lassen. Wir sind auch angetreten mit einem klaren Bekenntnis für unsere Ortskräfte.
Dass wir heute diese Diskussion führen, haben wir einer offensichtlich überstürzten und mutmaßlich unkoordinierten Evakuierungsmission zu verdanken. Die deutsche Botschaft wurde offensichtlich sehr spät evakuiert. Gerade einmal 138 afghanische Ortskräfte mit 496 Angehörigen konnten damals direkt ausgeflogen werden. Bis heute sind etwa 3 500 Ortskräfte in Deutschland angekommen. Noch immer warten viele Ortskräfte und ihre Angehörigen in Todesangst auf unsere Unterstützung. Ihre Ausreise ist aber jetzt ungleich schwerer, als sie es im letzten Frühjahr gewesen wäre.
Zusammen mit unseren jetzigen Koalitionspartnern von den Grünen haben wir uns schon in der vergangenen Wahlperiode dafür starkgemacht, die Evakuierungsmission in allen Facetten lückenlos aufzuklären. Wir werden unser Versprechen halten und möglichst noch vor der Sommerpause einen Untersuchungsausschuss einsetzen.
({1})
Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass wir aufklären, welche potenziellen Versäumnisse und Fehleinschätzungen und welches mutmaßlich ausgebliebene Handeln – zum Beispiel im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern – zur aktuellen Lage geführt haben. Wir werden uns dabei die Abstimmungsprozesse innerhalb der damaligen Bundesregierung und die Sachverhalte rund um Visa- und Aufnahmezusagen anschauen. Insbesondere gilt es aber, zu beurteilen, welche Rolle womöglich falsche oder unzureichende Informationen des Bundesnachrichtendienstes bei den Fehleinschätzungen und Versäumnissen gespielt haben, sodass damals ganz offensichtlich kein geordneter Abzug mehr möglich war.
Ein Untersuchungsausschuss aber, wie Sie ihn hier vorschlagen, einer, bei dem es nur darum geht, jemanden anzuschwärzen, ist doch nicht zielführend.
({2})
Entscheidend wird am Ende doch sein, dass wir konkrete Lehren aus diesem Abzugsgeschehen vom letzten Sommer ziehen. Wir wollen doch sicherstellen, dass solche Fehler in Zukunft nicht mehr gemacht werden. Wir sind gewählt worden, um die Zukunft zu gestalten, um sicherzustellen, dass sich so etwas nicht wiederholt, um mutiger zu sein und Fortschritt zu erzeugen. Das geht nur mit dem Blick nach vorne.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Jurisch. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Hakan Demir, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Eine kurze Vorbemerkung in Richtung AfD-Fraktion: Sie haben dafür geworben, dass Deutschland schnellstmöglich die Taliban anerkennt, um wieder nach Afghanistan abschieben zu können. Darum geht es Ihnen, nicht um Verantwortung und Menschen- oder Frauenrechte, wie Sie es hier am Anfang gesagt haben. Damit ist auch genug über die AfD und ihre Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung gesagt. Ich will heute über Verantwortung sprechen, Verantwortung, zu der die SPD-Fraktion, zu der die Regierung steht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind im August gegangen, doch geblieben sind Millionen von Menschen. Darunter sind Zehntausende, die in Gefahr sind. Sie sind in Gefahr, weil sie ein offenes und solidarisches Leben führen wollen. Sie wurden nun den Taliban überlassen; einige von ihnen haben die Taliban nicht überlebt. Ich erinnere an die Frauenrechtlerin und Ökonomin Frozan Safi. Sie wollte in Deutschland Asyl beantragen. Doch während sie bei ihrer Familie in Afghanistan Schutz suchte und ihre Ausreise vorbereitete, wurde sie in einen Hinterhalt gelockt und erschossen – weil sie eine Frau war und nicht hinnehmen wollte, dass Frauen nicht die gleichen Rechte haben.
Doch wir haben auch Menschen retten können, bis April allein 15 800 Ortskräfte und ihre Familien. An dieser Stelle danke ich dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt für ihre Bemühungen, Menschen rauszuholen, Aufnahmezusagen zu erteilen. Vielen Dank auch an die Soldatinnen und Soldaten, die evakuiert haben.
({1})
Ich danke auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der GIZ und all der beteiligten NGOs. Ohne sie wäre eine Rettung oft nicht möglich gewesen, wie im Fall von Hamed Valmy, der in Kabul seine eigene Modeagentur betrieb. Er arbeitete mit männlichen und weiblichen Models, experimentierte mit verschiedenen Stilen. Dafür wurde er von den Taliban bedroht. Mit einer Aufnahmezusage aus Deutschland konnte er aus Afghanistan evakuiert werden und fängt in Berlin jetzt ein neues Leben an. Organisationen wie die Kabul Luftbrücke haben nicht nur Hamed Valmy gerettet, sondern sie bringen immer noch täglich Menschen aus Afghanistan heraus und damit in Sicherheit. Gestern beispielsweise haben sie einen Bus über die Grenze bringen können.
Es ist klar: Unsere Verantwortung endete nicht im August letzten Jahres, unsere Verantwortung geht weiter, solange Menschen in Gefahr sind. Sie endet auch nicht, wenn andere Krisen unsere Aufmerksamkeit einnehmen. So wie wir heute solidarisch mit den Geflüchteten aus der Ukraine sind, so müssen wir es auch mit den Geflüchteten aus Afghanistan bleiben.
({2})
Deshalb werden wir sowohl für Ortskräfte als auch für andere gefährdete Personen die Aufnahme fortsetzen. Das ist unsere Verantwortung.
Und es ist auch unsere Verantwortung, zu untersuchen, was bei der Evakuierung gut und schlecht gelaufen ist. Dafür richten wir den Untersuchungsausschuss zur Evakuierung und die Enquete-Kommission zum gesamten Einsatz ein. Wir werden auch Lehren für das Ortskräfteverfahren ziehen; denn auch das ist unsere Verantwortung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind im August gegangen, doch geblieben sind Millionen von Menschen – darunter Zehntausende, die in Gefahr sind. Sie sprechen vielleicht nicht unsere Sprache, sie haben vielleicht nicht unseren Pass, aber ihre Gedanken und Wünsche sind die unseren. Sie wollen in Freiheit leben, Bücher lesen, arbeiten, zur Schule gehen. Anders gesagt: Sie sind in Gefahr, weil sie wie wir sind. Deshalb gilt: Wir haben eine Verantwortung, sie nicht im Stich zu lassen. Und das werden wir auch nicht.
Danke schön.
({3})
Einen schönen guten Tag auch von meiner Seite! – Der nächste Redner in dieser Debatte ist Paul Ziemiak, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, zunächst einmal gute Besserung!
({0})
– Ein starkes interfraktionelles Zeichen an dieser Stelle.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zum Antrag der AfD-Fraktion komme, möchte ich auf eine Aussage in dieser Debatte am heutigen Tag eingehen, die wir, wie ich finde, nicht so stehen lassen können. Herr Dr. Gysi, Sie haben hier die einzelnen Einsätze der Bundeswehr im Ausland aufgezählt und haben von Fehlern gesprochen. Unter anderem haben Sie den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo angesprochen und es als Fehler bezeichnet, dass die Bundeswehr in den Kosovo gegangen ist.
({1})
- „Recht hat er!“, wird hier von den Linken gerufen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir müssen uns – Herr Dr. Gysi, das habe ich zumindest gedacht – doch in diesem Punkt eigentlich nicht streiten. Es geschah im Kosovo ein Völkermord, es gab unglaubliche Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Die rot-grüne Regierung hat damals die Initiative ergriffen, und der Deutsche Bundestag hat auch mit Stimmen der Union zugestimmt. Ich finde, wir können unseren Soldatinnen und Soldaten dankbar sein, dass sie das Leben so vieler Menschen, so vieler Kosovo-Albaner 1999 und danach gerettet haben.
({3})
Es ist übrigens ein Zeichen an alle, wenn einem Menschen im Ausland sagen, dass sie Dankbarkeit gegenüber den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr verspüren. Und ich denke, der Respekt vor unseren Streitkräften muss für jeden Abgeordneten des Deutschen Bundestages selbstverständlich sein.
Jetzt zu Ihrem Antrag. Es wurde mehrfach gesagt, was er ist: Er ist natürlich ein Showantrag, weil Sie das vorwegnehmen, was vielleicht Bestandteil einer Untersuchung sein könnte. Er ist ein populistischer Showantrag, weil darin gar nicht der Untersuchungsgegenstand bestimmt wird, sondern weil Sie versuchen, aus der Tatsache des Abzuges – da gibt es, wie das hier schon angesprochen worden ist, vieles, was wir aufarbeiten müssen – Parteipolitik zu machen. Ihnen geht es um Selbstprofilierung, Ihnen geht es um Parteipolitik, Ihnen geht es um Show und in Wirklichkeit nicht um die Frage, wie wir in anderen Zusammenhängen bessere Arbeit leisten können.
({4})
Sie, meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, zeigen auch immer wieder, dass es Ihnen weder um die Bundeswehr noch um Afghanistan geht. Ihnen geht es auch nicht um nachhaltige Entwicklungshilfepolitik; das erleben wir jede Woche im Entwicklungshilfeausschuss. Wir wissen doch beide – Sie gucken mich jetzt so an –,
({5})
dass Ihnen die Menschen in Afghanistan völlig egal sind. Das wissen Sie, und das wissen das ganze Haus und auch die Öffentlichkeit.
({6})
Das ist nun einmal so. Deswegen ist die Frage doch, wo Sie eigentlich einen Beitrag dazu leisten können, einen Untersuchungsausschuss einzurichten; denn dieser Antrag erledigt sich eigentlich von selbst. Es wurde schon so viel dazu gesagt.
Ich würde vorschlagen, dass wir im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine einen Untersuchungsausschuss einrichten, um Ihre Verbindungen in den Kreml einmal genauer zu untersuchen.
({7})
Es gibt Strategiepapiere aus Moskau, die besagen: Ihre Abgeordneten stehen unter absoluter Kontrolle.
({8})
Sie kennen ja die Berichte, die es dazu gibt.
({9})
– Danke. Ihre Nervosität zeigt mir, dass diese Berichte zutreffend sind. Lassen Sie uns das mal machen! Wenn Sie einen Antrag stellen, die Verbindungen der AfD nach Moskau genauer unter die Lupe zu nehmen, dann werde ich mich dafür einsetzen, dass es der erste gemeinsame Antrag von meiner und Ihrer Fraktion wird.
({10})
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Der nächste Redner ist Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn in Afghanistan jetzt wieder Burkazwang herrscht, wenn Mädchen daran gehindert werden, höhere Schulen zu besuchen, dann ist das kein Ergebnis feministischer Außenpolitik, wie Sie behauptet haben, sondern eine bittere Niederlage in unserem Streit für universelle Menschenrechte.
({0})
Aber es ist ja noch viel schlimmer.
({1})
Sie haben hier gesagt, mit dem Einsatz in Afghanistan habe man diesem Land eine andere Kultur aufzwingen wollen.
({2})
Ihre Vorstellung von Kultur beinhaltet also Burkazwang und Verweigerung von Schulbildung.
({3})
In dieses Land wollen Sie Menschen abschieben! Ich weiß nicht, was ekelhafter ist, Ihre unchristliche antimuslimische Haltung oder Ihre offenkundige Frauenfeindlichkeit in diesem Haus.
({4})
Meine Damen und Herren, ich glaube, das demokratische Spektrum dieses Hauses tut gut daran, sich den Fragen hinsichtlich Afghanistan mit Ernsthaftigkeit zu nähern,
({5})
Ernsthaftigkeit unter anderem auch deswegen, weil wir der Auffassung sind bzw. erleben müssen, dass militärische Interventionen häufig gescheitert sind oder Probleme hinterlassen haben. Das gilt für Missionen, an denen wir uns beteiligt haben wie in Afghanistan, das gilt für Interventionen, an denen sich der Bundestag mit gutem Grund nicht beteiligt hat, wie zum Beispiel in Libyen. Deswegen ist es wichtig, die Geschichte des Afghanistan-Krieges und der Intervention aufzuarbeiten.
Dabei müssen wir uns alle auch selber infrage stellen. Ich selber bin der Auffassung: Ja, es war richtig, 2001 dafür zu sorgen, dass von Afghanistan aus und vom Regime von Osama Bin Laden keine terroristische Bedrohung für die Welt mehr ausging. Deswegen war dieser Einsatz in dem Sinne richtig und übrigens auch erfolgreich.
({6})
Ich muss mich aber auch fragen lassen: War der militärisch-zivile Ansatz, den wir gewählt haben, auf ziviler Ebene eigentlich so ausgestattet, dass er funktionieren konnte? Konnte eine Stabilisierungsmission eigentlich funktionieren mit vielen Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern, mit Polizeibeamten, mit Richterinnen und Richtern, die versucht haben, Good Governance beizubringen, wenn parallel dazu jede Nacht ein War on Terror stattgefunden hat? Das sind Fragen, denen wir uns auch hinsichtlich künftiger Einsätze stellen müssen.
Es ist richtig, dass es einen komplett überstürzten, verantwortungslosen Abzug gegeben hat. Aber wir werden uns gemeinsam der unbequemen Frage stellen müssen –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss –: War dieses Überstürztsein vielleicht Ergebnis dessen, dass man nicht vor Beginn von RSM unter ISAF in vernünftiger Zeit abgezogen ist?
({0})
Herr Trittin, letzter Satz bitte.
Um diese Frage zu klären, dafür werden wir einen Untersuchungsausschuss auf den Weg bringen und eine Enquete-Kommission. Ich finde, das spiegelt die Ernsthaftigkeit wider, mit der man sich diesem Thema widmen muss.
({0})
Die letzte Rednerin in der Debatte: Derya Türk-Nachbaur, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Reisender will mit dem Flugzeug nach Rom zu einer Show, steht aber am Fernbahnhof mit einem Busticket in der Hosentasche und landet dann irgendwie mit der U‑Bahn unterirdisch in Braunschweig.
({0})
Genau so verhält es sich mit diesem von der AfD gestellten Antrag: planlos, unkoordiniert, ein Sammelsurium an wild zusammengestellten Fragen. – Wir haben einen Plan, einen koordinierten. Wir haben uns nämlich in unserem Koalitionsvertrag klar dazu bekannt, dass wir die vergangenen Geschehnisse rund um den Afghanistan-Einsatz aufarbeiten wollen, vor allem diesen unrühmlichen Abzug.
Wir wollen einen Untersuchungsausschuss. Dafür brauchen wir alle Demokratinnen und Demokraten, aber keine Hilfe von rechts außen,
({1})
vor allem nicht von einer Fraktion, die an Herzlosigkeit kaum zu überbieten ist. Wenn Ihnen die Lage in Afghanistan ein Anliegen ist, warum lesen wir kein einziges Wort zu Hunger und Armut, Dürre und fehlender medizinischer Versorgung?
({2})
Kein Wort dazu, dass Menschenrechtsverstöße und Unsicherheit inzwischen den Alltag der Menschen in Afghanistan prägen. Landesweit haben 18,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen nicht genug zu essen.
({3})
– Reden Sie mit Ihrem Kaktus.
({4})
Besonders dramatisch ist die Lage für 4,7 Millionen Kinder sowie stillende und schwangere Frauen.
Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass etwa 98 Prozent der Bevölkerung in den nächsten Monaten unter die Armutsgrenze fallen werden. Von der Situation der Mädchen will ich gar nicht erst reden. Sie wollen kein Wort darüber reden, uns treibt es um.
Wir sind uns all dieser Tatsachen schmerzlich bewusst. Wenn es nun um die Frage der Aufarbeitung geht, haben wir als SPD und als Koalition eine klare Zielsetzung: Es geht um die Schaffung eines Gesamtbildes in einem ganz bestimmten und klar definierten Zeitraum der Afghanistan-Mission. Wir wollen fragen: Wie haben sich die Verantwortlichen in der ehemaligen Bundesregierung in bestimmten Entscheidungssituationen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr und der Ortskräfte aus Afghanistan, verhalten? Wurden die richtigen Entscheidungen getroffen? Wurden alle verfügbaren Informationen genutzt? Gab es Verletzungen der Sorgfaltspflicht? All diese Fragen sollten sich auf einen abgrenzbaren Zeitraum beziehen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
({0})
Nein.
({0})
– Nee, von mir aus können Sie auch mit der Parkuhr reden; das ist mir egal.
({1})
Wir wollen aber auch Lehren für die Zukunft ziehen; deswegen werden wir nicht nur einen Untersuchungsausschuss einsetzen, sondern ebenfalls eine Enquete-Kommission. Allerdings kennen wir den Unterschied dieser beiden parlamentarischen Formate. Offenbar ist Ihnen dieser Unterschied nicht bekannt, da Sie die einzelnen Inhalte im Antrag völlig durcheinanderwürfeln.
Der Untersuchungsausschuss ist nicht dazu da, künftiges politisches Handeln zu beeinflussen, oder dafür, Empfehlungen abzugeben, wie Sie es am Ende Ihres Antrags fordern. Es werden darin ausschließlich in der Vergangenheit liegende, abgeschlossene Sachverhalte untersucht. Er ist ein Kontrollinstrument des Bundestages gegenüber der Regierung, ein Hilfsorgan des Parlaments und kein darüber hinausgehend ermächtigtes Organ der Strafverfolgung.
Ich möchte noch auf das im Antrag enthaltene Zitat des Politologen Münkler eingehen, der von einem Ende der „Ära des humanitären Interventionismus“ spricht. Ich empfinde es als zutiefst menschenverachtend, wenn man einzelne Vorgänge dazu instrumentalisiert, alle humanitär geleiteten Projekte der Entwicklungszusammenarbeit pauschal zu verdammen.
Liebe Soldatinnen und Soldaten, liebe Ortskräfte, lassen Sie sich Ihren wichtigen Einsatz nicht mit populistischen Parolen schlechtreden! Wir sind Ihnen alle dankbar dafür.
({2})
– Haben Sie nicht zugehört? – Die Menschen in Afghanistan und wir sind und bleiben diesen Soldatinnen und Soldaten dankbar. Dank ihnen konnte zumindest 20 Jahre lang –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– eine ganze Generation junger Frauen heranwachsen, die entschlossen ist, für ihre Rechte zu kämpfen.
({0})
An die Menschen in Afghanistan: Auch wenn euer Leid in der Berichterstattung kaum mehr vorkommt: Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Ihr seid nicht vergessen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Geschätzte Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Als Erstes möchte ich der lieben Frau Präsidentin die Rückgewinnung ihrer Stimme wünschen, ich glaube, im Namen des gesamten Hauses.
({0})
Ich bewundere, dass sie trotz der schwächer gewordenen Stimme so durchsetzungsstark agiert.
Es gibt neben dem Ukrainekrieg ein Thema, das, glaube ich, die Menschen in Deutschland am meisten und am intensivsten beschäftigt. Das sind die hohen und anhaltenden Preissteigerungen. 7,5 Prozent sind es aktuell. Es können sich wahrscheinlich nur noch wenige hier im Haus daran erinnern, dass sie so hohe Preissteigerungsraten erlebt haben. Das ist wirklich die höchste Preissteigerung seit 40 Jahren.
Es sind schon längst nicht mehr nur Geringverdiener, sondern es ist mittlerweile die Breite der Gesellschaft, die Durchschnittsverdiener und weit darüber hinaus, die von diesen hohen Preisen massiv betroffen sind: Menschen, die auf dem Lande wohnen, Pendler, Gewerbetreibende, die auf das Automobil angewiesen sind, aber gerade auch Sparer, die für das Alter angespart und vorgesorgt haben und die jetzt erleben, wie ihre Alterssicherung im Rekordtempo dahinschmilzt.
Inflation ist – kurz gesagt – das Unsozialste, was in einer Gesellschaft stattfinden kann, was uns passieren kann.
({1})
Deswegen ist es so entscheidend, dass wir diese Inflation jetzt zügig und entschieden bekämpfen. Die Inflation ist nicht nur das Resultat der Auseinandersetzung in der Ukraine. Wir hatten in Deutschland auch schon im letzten Dezember Inflationsraten von über 5 Prozent. Die Ursachen liegen tiefer. Die Geldpolitik der EZB spielt eine ganz wesentliche Rolle.
Aber es gibt auch eine Verantwortung der Finanzpolitik: der Finanzpolitik in Europa, aber auch der Finanzpolitik hier bei uns. Hohe Staatsverschuldung und hohe Inflation sind ein toxisches Gemisch. Die Schulden steigen durch immer höhere Zinsen, das heißt, das Schuldenmachen wird immer teurer werden. Das schnürt einem dann die Luft ab, um noch Investitionen zu tätigen. Es ist also wirklich ein toxisches Gemisch. Deswegen ist die Rückkehr zur Schuldenbremse auch keine Symbolik und kein Fetisch; vielmehr ist die Rückkehr zur Schuldenbremse ein grundlegendes Signal solider Finanz- und Haushaltspolitik und ein ganz wichtiges Element der Inflationsbekämpfung.
({2})
Die Schuldenbremse wird in Teilen Ihrer Ampel sowieso infrage gestellt. Das gilt nicht für die Kollegen von der FDP, die noch freundlich lächeln, aber von Ihren Ampelpartnern kommt nach unserer Erinnerung kein klares Bekenntnis zur Schuldenbremse.
({3})
Wenn wir uns die reale Politik der Ampel angucken, dann stellen wir fest: Sie leisten keinen Beitrag zu solider Haushaltsführung. Sie haben in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, dass Sie die Ausgaben auf den Prüfstand stellen und Neupriorisierungen vornehmen wollen. Das alles stellen wir nicht fest.
Im Gegenteil: Hier finden überhaupt gar keine Priorisierungen und Ausgabenkürzungen statt. Wir reden jetzt über insgesamt vier Haushalte in diesem Jahr: den Kernhaushalt mit 100 Milliarden Euro Neuverschuldung, das Sondervermögen mit 100 Milliarden Euro, den Ergänzungshaushalt für die Ukraine mit 40 Milliarden Euro und die 60 Milliarden Euro, die Sie noch aus dem letzten Jahr per Nachtrag herübergeholt haben. Ihr Finanzminister Christian Lindner ist der Rekordneuverschuldungsminister,
({4})
mit wahrscheinlich 300 Milliarden Euro in diesem Jahr. Das ist leider die Wirklichkeit.
Jetzt sprechen Sie häufig von Ihren Entlastungspaketen
({5})
und betonen, wie toll das laufe. Dazu sage ich Ihnen ganz ehrlich: Diese Entlastungspakete werden bei Ihnen nicht nach dem Maßstab „Wir entlasten da, wo es wirklich nötig und zielgenau erforderlich ist“ ausgerichtet, sondern Sie entlasten so, dass für jeden Ampelpartner in den jeweiligen Paketen etwas dabei ist. Und das ist der problematische Unterschied.
({6})
Sie agieren so, als ob Sie hier gewissermaßen gönnerhaft Wohltaten ausgeben würden. Das ist aber nicht der Fall. Sie haben, diese Regierung hat im Moment massive Mehreinnahmen, auch durch die Inflationsentwicklung. Die Steuerschätzung belegt das: Sie haben Mehreinnahmen wegen der Umsatzsteuer. Sie haben Mehreinnahmen durch die kalte Progression, und Sie haben massive Mehreinnahmen über den CO2-Emissionshandel. – Wenn es also darum geht, die Bürger jetzt zu entlasten, erwarten wir nicht, dass alles ausgeglichen wird. Aber was die Menschen in diesem Land von Ihnen, von dieser Ampelregierung, erwarten können, ist, dass sie mindestens das zurückbekommen, was Sie ihnen vorher durch gestiegene Steuereinnahmen und zusätzliche Abgaben aus der Tasche gezogen haben. Das ist der Punkt.
({7})
Frauke Heiligenstadt, SPD-Fraktion, ist die nächste Rednerin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hand aufs Herz! Wann waren Sie das letzte Mal im Supermarkt einkaufen?
({0})
Und wissen Sie, wie viel ein Stück Markenbutter heutzutage kostet?
({1})
Der Preis für ein Stück Markenbutter liegt mittlerweile bei über 3 Euro.
({2})
Der Preis lag vor einem Jahr noch unter der Hälfte von 3 Euro.
Es bleibt aber nicht bei der Preissteigerung für Butter. Auch Brot, Speiseöl, Milchprodukte und viele weitere Dinge des täglichen Bedarfs sind teurer geworden. Preissteigerungen gibt es also nicht nur an der Zapfsäule.
Den Kaufkraftverlust spüren die Menschen spätestens am Ende des Monats in ihrem Portemonnaie, wenn das Geld überhaupt so lange reicht. Da ist es gut, wenn bei einer Tarifrunde eine Lohnerhöhung herausgekommen ist. Aber wenn die Lohnerhöhung nach Lohnsteuerabzug am Ende des Monats leider nicht die Preissteigerungen abdeckt, hat man ein Problem, insbesondere dann, wenn man durch die Lohnerhöhung in einen anderen Steuertarif gekommen ist.
Daher ist es richtig – ich bin davon ausgegangen, sehr geehrter Herr Dr. Middelberg, dass Sie das auch ansprechen werden –, dass wir die sogenannte kalte Progression ernst nehmen.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, dazu bedarf es keiner Aktuellen Stunde auf Verlangen der Union im Deutschen Bundestag.
({4})
Denn die Koalition und die Bundesregierung sehen die Auswirkungen der kalten Progression, nehmen sie in den Blick
({5})
und handeln in Bezug auf die Entlastungspakete und die Belastung der Menschen, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, sehr zügig und sehr konsequent.
({6})
Wir handeln zum Beispiel mit verschiedenen Maßnahmen zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Heute Mittag haben wir das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz verabschiedet. Wir haben weitere Entlastungspakete auf den Weg gebracht,
({7})
unter anderem mit der Senkung der Energiesteuer, mit der Senkung der EEG-Umlage, mit den entsprechenden Zuschüssen bei den Heizkosten.
({8})
Wir haben das Energiegeld eingeführt sowie erhöhte Steuerfreibeträge im Rahmen des Entlastungspakets, das bereits im letzten Plenum verabschiedet worden ist. Damit gibt es eine ganze Menge Maßnahmen, die diese Bundesregierung und dieses Parlament schon auf den Weg gebracht und die die Menschen in unserem Land entlastet haben.
({9})
Daran kann auch die Union nicht so viel aussetzen. Dass Sie dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz heute Mittag zugestimmt haben, ist gut. Dafür danken wir auch sehr herzlich. Ich denke, es ist ein gutes und wichtiges Zeichen, dass es eine gemeinsame breite Mehrheit in diesem Hause dafür gibt.
({10})
Natürlich sehen auch wir die Auswirkungen der kalten Progression auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({11})
Bundesfinanzminister Lindner hat im „Spiegel“-Interview vom 13. März dieses Jahres gesagt:
Der Staat darf sich an der kalten Progression nicht bereichern. Das wären Steuererhöhungen durch Unterlassung,
({12})
die auch dem Koalitionsvertrag der Ampel widersprechen.
Er sagte aber auch in diesem Interview:
Fair wäre, wenn es für das kommende Jahr höhere Regelsätze bei der Grundsicherung gibt, einen höheren Grundfreibetrag und einen neuen Tarif der Einkommensteuer. Dazu werde ich im Herbst Vorschläge machen.
So der Bundesfinanzminister.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Herbst ist auch der richtige Zeitpunkt dafür; denn im Herbst gibt es den entsprechenden Bericht zur Wirkung der kalten Progression,
({14})
dessen Erstellung dieses Haus der Regierung ins Stammbuch geschrieben hat.
({15})
Dann können wir beim Thema „kalte Progression“ mit diesem eigenen Instrument des Progressionsberichts auch auf Basis fundierter Daten, auf fundierter Sachgrundlage Entscheidungen treffen. Der Progressionsbericht wird uns klar aufzeigen, wie hoch die Progression ist, wo man eventuell Stellschrauben bewegen muss und in welchem Umfang welche Einkommen tatsächlich belastet werden.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade durch die hohe Inflationsrate, die wir derzeit beklagen müssen, macht uns die Entwicklung der unteren und mittleren Einkommen große Sorgen. Insbesondere diejenigen, die nahezu keine Steuern bezahlen, haben natürlich auch nichts von dem Thema „kalte Progression“. Ihnen hilft im Übrigen, Herr Dr. Middelberg, auch nicht, wenn wir das Thema Schuldenbremse diskutieren, weil sie auch dann nicht mehr im Portemonnaie haben.
({17})
Frau Heiligenstadt, kommen Sie bitte zum Schluss. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, das mache ich. – Deshalb: Uns ist absolut wichtig bei dieser Betrachtung, die kleinen und mittleren Einkommen in den Blick zu nehmen, und das geschieht besser durch direkte Zuschüsse als durch Veränderungen im Steuerrecht. Ich bin gespannt auf die Diskussion im Herbst dazu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Kay Gottschalk, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Man könnte sagen: „Und täglich grüßt das Murmeltier“, werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU. Seit Wochen kann man ja nun fast täglich Hiobsbotschaften zum Thema Inflation lesen. Eine Umfrage von McKinsey hat nun auch festgestellt, dass mehr als der Ukrainekrieg und die Coronakrise die Menschen – Sie dort auf den Tribünen – das Thema Inflation bewegt. Dazu räumen wir mal mit einer der Hauslügen hier im Hause auf. Das Thema Inflation ist nicht erst durch den Ukrainekrieg auf den Tagesplan getreten, sondern vom Bund der Steuerzahler – die meisten Kollegen hier wissen das – wurde es schon im Januar des Jahres thematisiert. Also, hören Sie mit dem Märchen auf, es wäre der Ukrainekrieg. Es ist Ihre ideologische Inflation. Das habe ich bereits in der Debatte zu den Energiekosten gesagt. Das Thema Inflation haben wir seit 2009 durch eine verfehlte EZB-Politik, meine Damen und Herren. Das ist ziemlich heuchlerisch, was Sie hier abgeben.
({0})
Ich frage mich: Wo war die CDU/CSU hier im Deutschen Bundestag, als wir bereits im Dezember 2021 als AfD-Fraktion Sofortmaßnahmen, weil es damals schon bekannt war, gegen die Inflation vorgeschlagen haben? Insoweit: Das war sehr schwach, Herr Middelberg.
Ich versuche es aber auch mal für die Kollegen der SPD und der Grünen im Wege des zweiten Bildungsweges. Das kann ja vielleicht manchmal fruchten. Ich möchte gern mal das Problem der Inflation Ihnen, aber auch Ihnen, liebe Bürger dort auf der Tribüne,
({1})
erläutern und erklären, was das bedeutet. Eine Inflation in Höhe von nur 4 Prozent bedeutet, dass Sie in etwa 17 Jahren Ihr Vermögen halbieren, eine Inflationsrate von 5 Prozent macht das nach 13,5 Jahren, und bei 7 Prozent passiert das mit diesem 100-Euro-Schein – ich zerreiße ihn in der Mitte – bereits nach neun Jahren. Sie haben nur noch die Hälfte Wert auf Ihrem Konto, meine Damen und Herren. Und da sitzen die Schuldigen für diese miserable Politik.
({2})
Frau Präsidentin, diese Veranschaulichung war notwendig. Ich hoffe, Sie nehmen da auch was mit.
Ich zitiere nämlich jetzt noch mal mit Ihrer Erlaubnis aus dem „Focus“:
Quittung für Scholz! Kanzler übersieht in Berliner Blase
– das geht, glaube ich, vielen hier so –
den Teuer-Schock im Land.
In diesem Artikel bezeichnet der Autor – ich zitiere noch einmal mit Ihrer Genehmigung – das, was diese Ampelmännchen abliefern, „angesichts einer Inflation von mehr als 7 Prozent als einen Tropfen auf den heißen Stein“. Und so ist es. Dass Sie sich hier selbst feiern, Frau Kollegin, schlägt dem Fass wieder einmal den Boden aus.
({3})
Allerdings wundert mich das bei diesem Kanzler nicht. Er hat ja auch bei anderen Themen die Bodenhaftung verloren.
Frau Kiziltepe – sie ist jetzt leider, glaube ich, nicht zugegen, auch nicht als Staatssekretärin; das ist schade – führte im Dezember 2021 tatsächlich aus – Herr Rosemann beeindruckte mich da auch –, dass die steigende Geldmenge mit der Inflation nun gar nichts zu tun habe. Auch hier versuche ich es noch einmal mit dem zweiten Bildungsweg. Ich zitiere aus dem Heft der Bundeszentrale für politische Bildung:
Beim Entstehen einer Inflation
– das lernen sogar schon die Kinder –
spielt … die Geldmenge in der Volkswirtschaft eine große Rolle.
Wenn Sie dazu ein Vertiefungsseminar belegen wollen, empfehle ich Ihnen: Volkswirtschaftstheorie und Politik zur Quantitätstheorie.
({4})
Dann lernen Sie noch mehr. Ich hoffe, Sie können es dann auch intellektuell umsetzen.
({5})
Und wenn ich dann noch höre, meine Damen und Herren – das wird kommen; ich höre das schon in linken Kreisen –, um die Inflation zu bekämpfen, müsste man die Löhne erhöhen, dann sei anempfohlen, etwas zur Lohn-Preis-Spirale zu lernen. Die einzige Partei, meine Damen und Herren auf der Tribüne, die schon sehr frühzeitig hier im Hohen Hause klare und deutliche Maßnahmen vorgelegt hat, ist die AfD. Wir haben einen Tarif auf Rädern vorgeschlagen; dem haben Sie sich verweigert, mit sehr merkwürdigen Ausreden. Der Tarif auf Rädern soll die kalte Progression beseitigen.
Wir haben für Sie da draußen, meine Damen und Herren, eine Entfernungspauschale von 40 Cent ab dem ersten Kilometer vorgeschlagen und nicht erst ab dem 21. Kilometer, was Sie von der Regierung jetzt als große Mehrung für viele Pendler feiern. Die meisten kommen gar nicht in den Genuss dieser Erleichterung. Und unsere Fraktion hat vorgeschlagen, den Grundfreibetrag – das haben übrigens alle Sachverständigen in der Anhörung gesagt – auf 12 600 Euro zu erhöhen. Das sind konkrete Maßnahmen, die die Menschen entsprechend entlasten, und nicht dieses sehr unkonkrete bla, bla, bla, das ich von den anderen Fraktion hier höre.
({6})
Hören Sie mit dem Märchen der braunen oder fossilen Inflation auf. Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Tribüne, schauen Sie einfach auf die geplante Inflation durch die CO2-Preissteigerung. Wir haben schon sehr früh – viel früher als die Kollegen – vorgeschlagen: Weg mit der EEG-Umlage. Wir haben das Aufheben der unsinnigen CO2-Bepreisung und die vorübergehende Herabsetzung der Umsatzsteuer auf Treibstoffe und Energie vorgeschlagen. Was macht eigentlich der Finanzminister? Immerhin sind Sie, Herr Toncar, als Staatssekretär da. Herr Dürr scheint das Problem laut eines Interviews mit dem RND zumindest erkannt zu haben; aber auch da kam nicht viel Konkretes. Was schwierig ist, ist, dass Sie entgegen Ihrem eigenen Wahlprogramm –
Herr Gottschalk, kommen Sie bitte zum Ende.
– hier in der Regierung handeln. Da haben Sie noch viel vor sich, meine Damen und Herren. Insoweit: Hören Sie bitte auf mit dem Katzenjammer.
Herr Gottschalk, letzter Satz.
Ja, ich komme sofort zum Schluss. Ich habe 13 Sekunden überzogen.
In einer Aktuellen Stunde.
Bei der Inflation sind Sie die Schuldigen. Wir tun etwas dagegen.
({0})
Ich bedanke mich, Frau Präsidentin, für die Fairness.
({1})
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass wir uns hier auf die Auseinandersetzung mit dem Wort beschränken wollen. Ich bitte darum, zusätzliche Hilfsmittel wie Zeitungen während der Rede eher sparsamer anzuwenden, als Sie es getan haben.
({0})
Die Auseinandersetzung mit dem Wort ist hier unser Credo.
Ich erteile jetzt das Wort der nächsten Rednerin, Katharina Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Geschätzte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Wir debattieren hier ein Thema, das jeden Einzelnen in diesem Land betrifft, zum Teil extrem hart. Wenn man sieht, dass eine Gurke bis zu 40, 50 Prozent mehr kostet, dass die Energiekosten, die im nächsten Jahr auf die Haushalte zukommen, sehr viel höher sein werden, dann merken wir: Das Problem ist akut, und es ist strukturell. Wir als Koalition arbeiten unfassbar energisch und vehement an diesem Problem. Wir stellen – ich habe es mir aufgeschrieben – über 30 Milliarden Euro für Entlastungsmaßnahmen zur Verfügung.
Ich habe gerade gesagt: Das Problem ist akut und strukturell. Auf beides gehe ich ein. Was tun wir akut? Wir heben den Freibetrag an; wir heben den Pauschbetrag an; wir erhöhen den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer; wir haben den Heizkostenzuschuss verabschiedet. Wir haben auch das BAföG angehoben. Heute Morgen haben Sie uns unterstellt, wir würden die Studentinnen und Studenten nicht sehen. Nein, wir haben die größte BAföG-Reform, die es in den letzten Jahrzehnten gab, überhaupt erst auf den Weg gebracht.
({0})
Wir haben heute Morgen über den Pflegebonus gesprochen. Es gibt die Energiepreispauschale, Energiesteuersenkung, das ÖPNV-Ticket. Das sind Entlastungsmaßnahmen von über 30 Milliarden Euro. Ich bitte Sie alle, auch die Zuschauerinnen und Zuschauer: Gehen Sie bitte nicht der Behauptung auf den Leim, wir würden nichts tun. Wir tun gezielt etwas – zum Beispiel mit dem Kindersofortzuschlag – gerade für diejenigen, die es brauchen, die besonders arm sind.
({1})
Das ist der Ansatz dieser Ampelkoalition, und der ist gut so.
({2})
Liebe CDU/CSU-Fraktion, Sie hatten im Titel der Aktuellen Stunde von Widersprüchen gesprochen. Es ist schon sehr widersprüchlich, dass Sie uns das vorwerfen. Sie haben die letzten 16 Jahre regiert; Sie haben uns dysfunktionale Märkte hinterlassen, die einer freien Preisbildung entgegenstehen. Sie haben dazu beigetragen, dass wir zu über 50 Prozent von einem einzigen Gaslieferanten abhängig waren. Das ist wirklich problematisch.
({3})
Ich bin aus dem Finanzbereich. Wenn ich dort ein Anlageprodukt mit einem Risikotitel von 55 Prozent hätte, dann würde niemand mein Produkt kaufen, weil es nicht risikodiversifiziert ist. Wir als Regierung handeln zum Teil extrem, zum Beispiel, indem ein grüner Wirtschaftsminister nach Katar reist
({4})
und dort Energie einkauft – das wäre mir vorher widersprüchlich erschienen –; aber wir lösen die Widersprüche auf. Wir adressieren sie, dann treffen wir klare Entscheidungen. Das müssen wir tun, das ist im Interesse des Volkes, um die Energieversorgung sicherzustellen. Ihre unverantwortliche Energiepolitik der letzten Jahre fällt uns jetzt auf die Füße.
({5})
Leider merken wir das auch bei den Lebensmitteln. Wenn man sich den Grund für die Preissteigerungen ganz genau anschaut, dann stellt man fest, dass es nicht nur an der Produktion und unterbrochenen Lieferketten liegt; vielmehr sind die Energiepreise der größte Preistreiber, auch für Lebensmittel. Da muss ich ausnahmsweise einmal einem Vorredner von der AfD recht geben:
({6})
Die Inflation wurde nämlich schon vorher angeheizt. Es war schon vorher genau dieser undiversifizierte, dieser dysfunktionale Markt, den Sie, CDU/CSU, uns hinterlassen haben, der Russland die Möglichkeit gegeben hat, Gasspeicher zu leeren und Preisdruck schon vor dem Ausbruch des Krieges auszuüben. Das ist unverantwortlich. So können Angebot und Nachfrage nicht zu fairen Preisen im Energiesektor führen.
({7})
Ihre Anträge enthalten ein Sammelsurium an Forderungen; das ist fast eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die uns abhalten soll, gute Politik zu machen.
({8})
Ich lese Ihre Anträge, jeden einzelnen Punkt. Manchmal sind bis zu 70 Forderungen zusammengewürfelt. Ein weiterer Widerspruch: Sie schreiben in Ihrer Begründung, Sie wollen solide Finanzpolitik und die Schuldenbremse einhalten, aber berechnen überhaupt nicht, was Ihre 70‑plus-Forderungen kosten. Das ist wirklich nicht solide. Das ist ein sehr großer Widerspruch, auf der einen Seite Entlastungen zu fordern, den Staatshaushalt durch Mindereinnahmen zu minimieren und auf der anderen Seite die Schuldenbremse einhalten zu wollen und dann von solider Finanzpolitik zu sprechen.
Ich freue mich sehr, dass ich einer dieser vernünftigen und klugen Regierungsfraktionen angehöre. Wir entlasten gezielt und reparieren jetzt auch endlich die Märkte, zum Beispiel im Energiebereich, –
Frau Beck, kommen Sie zum Schluss bitte.
– die Sie uns leider dysfunktional hinterlassen haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Janine Wissler, Fraktion Die Linke, ist die nächste Rednerin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! CDU/CSU haben diese Aktuelle Stunde beantragt, um einen klaren Kurs in der Finanzpolitik und eine gerechte Entlastung der Menschen einzufordern. Nun ja, ich sage mal so: Gerechtigkeit und seriöse Finanzpolitik sind jetzt nicht gerade Kernkompetenzen der Union,
({0})
wenn man sich überlegt, wie die Kinderarmut in Ihrer Regierungszeit zugenommen hat oder welche Auswirkungen ein Andreas Scheuer alleine auf die Finanzen unseres Staates hatte.
({1})
Immer mehr Menschen wissen nicht, wie sie angesichts der steigenden Preise ihre Einkäufe bezahlen sollen, wie sie ihre Gasrechnungen bezahlen sollen. Und auf Twitter schildern gerade viele Menschen unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen mutig und offen, wie Armut in diesem reichen Land aussieht, wie es sich anfühlt, wenn man sich elementare Dinge des täglichen Lebens nicht mehr leisten kann. Sie berichten von Scham und Ausgrenzung, von dem Gefühl, seinen Kindern nichts bieten zu können, und von der Wut über diese Zustände. Hören wir diesen Menschen zu!
({2})
Eine Nutzerin schreibt zum Beispiel:
Ich bin 67 Jahre alt, Rentnerin …, 90 Prozent schwerbehindert. Ohne Rollator geht nichts mehr, jeder Schritt tut weh. Jeden Donnerstag gehe ich zur Tafel (2 Kilometer entfernt). Ich habe 32 Jahre lang gearbeitet, davon 22 Jahre in Vollzeit. Meine Rente beträgt 770,00 Euro. Ich werde nicht mehr still dulden, ich will, dass ihr uns seht.
({3})
Und eine andere Nutzerin schreibt:
#IchBinArmutsbetroffen hieß für mich heute, im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste sie wieder enttäuschen.
Meine Damen und Herren, wenn Menschen ihren Kindern erklären müssen, dass ein Kinobesuch, ein Ausflug oder gar eine Wassermelone nicht drin ist, wenn Alleinerziehende Einladungen zu Kindergeburtstagen unter einem Vorwand ausschlagen, weil sie sich das Geschenk nicht leisten können, wenn Rentnerinnen ihre Wohnungen kaum noch heizen, dann sind das doch Zustände, mit denen man sich in einem so reichen Land niemals abfinden darf.
({4})
Die Teuerung liegt bei über 7 Prozent. Die Hartz-IV-Regelsätze wurden um 0,7 Prozent in diesem Jahr erhöht. Was hat denn das mit dem versprochenen Respekt zu tun, wenn fast 2 Millionen Menschen in diesem Land auf Tafeln angewiesen sind?
Im Koalitionsvertrag wurde die Einführung der Kindergrundsicherung zugesagt. Ja, wo bleibt denn die? Der Kampf gegen Kinderarmut ist aufgeschoben. Aber Kinder haben nur eine Kindheit, und Menschen, die in Armut leben, haben keine Zeit, zu warten. Und deshalb muss jetzt gehandelt werden, meine Damen und Herren.
({5})
Die steigenden Preise treffen ja nicht nur Menschen mit sehr niedrigen Einkommen, sondern auch die Normalverdiener, die Durchschnittsverdiener. Die Gehälter und die Löhne werden doch von immer weiter steigenden Kosten aufgefressen.
Und schon lange vor Corona und vor dem Ukrainekrieg hat es in diesem Land eine der schlimmsten Teuerungswellen der jüngeren Geschichte gegeben, nämlich die Inflation der Mieten. Wenn man sich nämlich anschaut, wie die Mieten in den letzten zehn Jahren in den Ballungsgebieten gestiegen sind, teilweise um 50 Prozent und mehr, dass der Großteil der monatlichen Ausgaben in vielen Haushalten die Miete ist, dann frage ich Sie: Wo bleiben denn da endlich mal Maßnahmen zur Entlastung? Wo bleibt denn der bundesweite Mietendeckel, um diesem Mietenwahnsinn endlich ein Ende zu bereiten?
({6})
Nun ist die CDU sicher die Letzte, die da zu einer Linderung beiträgt. Aber da frage ich auch die Ampelkoalition: Wann machen Sie endlich etwas Wirksames gegen die explodierenden Mieten? Das wäre doch eine gerechte Entlastung für die Menschen, die zur Miete leben?
({7})
Und es wäre ja gut, wenn es endlich Einsicht gäbe, dass die Menschen, die am härtesten betroffen sind, schnelle, nachhaltige und gerechte Entlastung haben müssen. Für die Beschäftigten gibt es jetzt einmalig die Energiepauschale. Aber was ist denn mit den Rentnerinnen und Rentnern, die leer ausgehen, oder mit den Studierenden, bei denen beim Thema Energie auch nichts gemacht wird? Ein Drittel der Studierenden – das wissen wir – leben in Armut,
({8})
und bei den Rentnerinnen und Rentnern ist es ein Fünftel. Auch sie brauchen Entlastung. Deshalb ist Ihr Entlastungspaket sozial unausgewogen.
({9})
Wir machen Vorschläge für eine gerechte Finanzpolitik und für eine gerechte Entlastung; denn es ist ja nicht so, dass alle in diesem Land ärmer werden würden. So ist es nicht.
({10})
Die Zahl der Vermögensmillionäre ist nämlich gestiegen, und auch Energie- und Mineralölkonzerne verdienen gut an steigenden Preisen. Wer an der sozialen Ungleichheit in diesem Land etwas ändern will, der muss umverteilen.
({11})
Wir wollen die Übergewinne der Krisenprofiteure steuerlich abschöpfen, und wir wollen die staatliche Strompreisaufsicht wieder einführen, damit Energiekonzerne sich nicht auf Kosten der Verbraucher bereichern.
({12})
Frau Wissler, kommen Sie zum Schluss.
Letzter Satz, Frau Präsidentin. – Statt 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr brauchen wir Investitionen in Schulen, in Klimaschutz, in den Ausbau des ÖPNV und in eine gute Infrastruktur auch im ländlichen Raum, damit alle Menschen in diesem Land gut und in Würde leben können.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der Unionsfraktion! Was ist das eigentlich für ein Zirkus, den Sie hier wieder aufführen?
({0})
Es ist wirklich nicht zu fassen, so zu tun, als täten wir nichts.
({1})
Der Finanzminister sitzt bei den G 7 und kämpft genau darum, dieses Problem möglichst einzuhegen, möglichst zu begrenzen. Ihre Haushaltspolitiker sitzen gerade fast alle in der Bereinigungssitzung. Hätten Sie mal lieber mit denen gesprochen, bevor Sie hier wieder Anträge vorlegen, wie Sie es in den letzten Wochen gemacht haben, die nicht im Ansatz finanzierbar sind, die nicht gegenfinanziert sind und bei denen Sie dann auch noch extra dazuschreiben: alles unter Haushaltsvorbehalt.
({2})
Das kauft Ihnen keiner ab. Sie sollten es lieber seriös machen. So, wie Sie es gemacht haben, funktioniert es nicht.
({3})
Und dann müssen wir uns auch mal von einer Mär verabschieden: Sie erwecken hier immer wieder den Eindruck, als könnte der Staat auf Dauer das wirtschaftliche System irgendwie anheizen, als könnten wir einen Subventionsapparat dauerhaft aufrechterhalten, als könnten wir alles sogar durch steuerliche Entlastungen eingrenzen.
Das ist nicht der Fall. Eine vernünftige Antwort auf diese Inflation kann neben den Entlastungen, die wir beschlossen haben – Kollegin Beck hat es vorgestellt; 37 Milliarden, wenn man noch ein bisschen mehr dazurechnet, 51 Milliarden –, nur eine gute Wirtschaftspolitik, eine seriöse, ausgeglichene Haushaltspolitik sein, und deswegen werden wir zur Schuldenbremse zurückkehren. Das sage ich Ihnen ganz klar.
({4})
– Vielen Dank für den Applaus. – Dass die Ampelkoalition wirklich mal in die Verlegenheit gerät, der Partei Ludwig Erhards Marktwirtschaft zu erklären, das hätte ich auch nicht gedacht.
({5})
Aber ich bin froh, dass wir das jetzt machen können.
({6})
Wir haben uns leider in Abhängigkeiten begeben: bei der Energiepolitik von Russland, industriell von China. 16 Jahre lang sind wir da nicht rausgekommen und haben keine Antworten.
({7})
Und Sie können ruhig bei all den Versäumnissen der Vergangenheit mit dem Finger irgendwohin zeigen. Aber wenn der eine Finger auf andere zeigt, dann zeigen drei gleichzeitig auf Sie selbst.
({8})
Sie haben selbst die Bundeskanzlerin gestellt. Sie haben selbst die Versäumnisse in Gang gebracht. Und hier jetzt eine Aktuelle Stunde aufzusetzen, während die Haushälter fast alle nicht da sind, während der Finanzminister leider nicht da sein kann, weil er genau daran arbeitet, dieses Problem konkret zu lösen,
({9})
das wird den Menschen nicht gerecht, und das ist keine vernünftige Wirtschafts- und Haushaltspolitik.
({10})
Ich bin überzeugt, dass wir daran arbeiten können, diese Inflation zu bekämpfen.
({11})
Wir haben eine Menge Entlastungen auf den Weg gebracht, die Sie auch teilweise unterstützen. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung heute Morgen beim Vierten Corona-Steuerhilfegesetz!
({12})
Sie sehen es doch selbst: Wir schreiben teilweise die Ansätze fort, die in der vergangenen Legislaturperiode schon von Ihnen gekommen sind. Also, Zusammenarbeit bei diesem Thema würde ich mir wünschen und keine Aktuelle Stunde, sodass wir hier noch bis 1.00 Uhr nachts sitzen, nur um über das zu diskutieren, was wir längst vernünftig in Angriff genommen haben.
Stattdessen kommen nicht gegenfinanzierte Vorschläge. Sie haben sogar zunächst davon gesprochen – ich weiß nicht, ob der Titel der Aktuellen Stunde noch so lautet; eben hieß er noch so –, die Haushalts- und Finanzpolitik von Widersprüchen zu befreien. Das sollte man der Unionsfraktion raten; denn so, wie Sie es aktuell machen und wie Sie es den Leuten verkaufen wollen, wird es nicht funktionieren.
Wir haben immer mehr Inflation in Deutschland – ein Riesenproblem, eine große soziale Frage. Wir haben auch bei den vergangenen Wahlen sehen müssen, dass es das Thema ist, das die Menschen am meisten bewegt. Deswegen kann ich nur dafür streiten und Sie alle einladen, für eine gute Wirtschaftspolitik, für eine seriöse Haushaltspolitik zu arbeiten, bei der wir im nächsten Jahr, wie es im Koalitionsvertrag steht, zur Schuldenbremse zurückkehren werden, weil es Normalität ist, weil es geboten ist.
Wir werden die kalte Progression im Herbst ausgleichen. Sie erzählen seit Langem, wir müssten die kalte Progression jetzt ausgleichen, aber wir bekommen erst im Herbst einen Progressionsbericht, aufgrund dessen wir wissen, was wir genau wie ausgleichen werden. Was verkaufen Sie da den Menschen? Das ist nicht seriös.
({13})
Wir werden den eingeschlagenen Weg weiter beschreiten. Große Entlastungen sind auf dem Weg. Die Haushaltspolitik bleibt seriös, und Sie können so viel dazwischenschreien, wie Sie wollen. Wir werden diesen Weg weiter beschreiten, und die Menschen werden es uns mit Vertrauen in unsere Glaubwürdigkeit zurückzahlen.
({14})
Ich erteile das Wort Jens Spahn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Mordhorst, ich schreibe Ihren engagierten Vortrag einfach mal den letzten zwei Sonntagen zu.
({0})
Ansonsten will ich einfach noch mal aufgreifen, was der Bundeskanzler zur Inflation gesagt oder besser nicht gesagt hat: Er hat sich über Wochen zu dem Thema gar nicht verhalten – übrigens bemerkenswerterweise auch heute Morgen einmal mehr hier im Deutschen Bundestag nicht. Aber immerhin hat er sein Schweigen dann im Fernsehen – da ist er ja jetzt öfter – gebrochen. Bei RTL hat er gesagt: Ich mache mir wirklich Sorgen.
Ja, so geht es zahllosen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland auch. Familien sorgen sich, wie sie den Urlaub bezahlen sollen. Pendler sorgen sich, wie sie die Fahrtkosten bezahlen sollen. Unternehmer sorgen sich, wie sie die hohen Energiepreise bezahlen sollen. Rentner und Studenten sorgen sich, wo sie für den Wocheneinkauf sparen müssen. Liebe Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, Ihr Job ist nicht, sich zu sorgen. Ihr Job ist, zu handeln. Werden Sie vom Sorgen-Kanzler endlich zum Macher-Kanzler! Machen Sie was gegen die Inflation, anstatt nur Sorgen zu äußern!
({1})
Die Handlungsoptionen liegen auf dem Tisch. Wir haben vergangene Woche hier Vorschläge gemacht. Und ja, Herr Kollege Mordhorst, solange die Bundesregierung nicht tut, was angesichts dieser hohen Inflation nötig ist, so lange werden wir jede Woche hier im Deutschen Bundestag über dieses Thema reden. Tun Sie endlich was! Dann brauchen wir auch diese Debatten nicht mehr, wie wir sie hier führen.
({2})
Ich will auf drei Punkte eingehen:
Der erste Punkt ist die Entlastungspolitik. Es holpert ja bei den Entlastungen; das sehen wir beim 9‑Euro-Ticket.
({3})
Sie erwähnen ja immer die 300 Euro. Die Rentnerinnen und Rentner haben von den 300 Euro gar nichts. Die haben auch hohe Energiepreise. Die Wahrheit ist: Kaum einer in Deutschland wird die 300 Euro überhaupt bekommen, weil Sie sie auch noch besteuern. 300 Euro kommen nirgendwo an.
({4})
Was Sie gemacht haben, um die Ampel zusammenzuhalten, ist ein buntes Potpourri von Symbolpolitik,
({5})
und dann beschweren Sie sich. Lars Klingbeil sagte am Sonntag, die Bürgerinnen und Bürger würden nichts davon merken. Haben Sie mal darüber nachgedacht, warum? Weil Sie versucht haben, es allen recht zu machen, kommt am Ende bei allen zu wenig an, und das ist der falsche Ansatz.
({6})
Steuern senken auf die Energie und kalte Progression angehen – das sind die Wege, um in der Breite und in der Tiefe zu entlasten.
Dann noch ein Wort zur Energiepolitik. Um die Energiepreise zu senken, muss man auch auf die Gasnachfrage schauen. Dann geht es auch um die Frage, wie es gerade bei der Stromerzeugung ist. Wer die Gaspreise für den Winter stabilisieren möchte, muss jetzt die Gasspeicher vollmachen.
({7})
Dann müssen aber jetzt mehr Kohlekraftwerke laufen, um Gaskraftwerke zu ersetzen. Dann müssen Kernkraftwerke länger am Netz bleiben, um Gaskraftwerke zu ersetzen und die Speicher vollzumachen. Gehen Sie endlich diesen Weg,
({8})
um tatsächlich Gas in Deutschland zu sparen, die Gasnachfrage und damit auch die Energiepreise zu stabilisieren.
({9})
Neben dem Sparen und dem Stabilisieren der Preise komme ich zum zweiten Punkt: der Angebotspolitik. Da gibt es viele Themen: Bürokratieabbau, Flexibilisierung, Investitionsanreize. Es geht auch um das Planungs- und Genehmigungsrecht. Wir diskutieren ja heute noch den Entwurf zum LNG-Beschleunigungsgesetz, dem wir ausdrücklich zustimmen. Wir finden es gut, wenn Planungsbeschleunigungen, etwa für Flüssiggasterminals, stattfinden. Das Problem ist: Sie machen es nur an der einen Stelle,
({10})
und Sie rudern sogar noch zurück bei den stationären LNG-Terminals, indem Sie die Umweltverträglichkeitsprüfung – jetzt durch einen Änderungsantrag – doch nicht mehr beschleunigen wollen. Der Weg, den Sie da gehen, ist der richtige. Sie müssen ihn nur auch für die Energietrassen gehen. Sie müssen ihn auch für die Bahntrassen gehen. Sie müssen ihn auch für Industriebauten in Deutschland gehen. Ja, der Weg, Planungsbeschleunigung zu machen, ist richtig. Aber Sie müssen sie umfassend machen, um einen Unterschied für das Wirtschaftswachstum in Deutschland zu erreichen. Da reicht das, was Sie hier vorlegen, bei Weitem nicht.
({11})
Bei Angebotserweiterungen geht es auch um Handelspolitik. Auch das werden wir hier jede Woche, ob es Ihnen gefällt oder nicht, zum Thema machen. Ich zitiere nur immer wieder Winfried Kretschmann. Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat gesagt: Wenn wir Gas in Katar kaufen, sollte es kein Problem sein, einem Handelsabkommen mit Kanada zuzustimmen. – Ja, da hat er recht. Also tun Sie es endlich! Setzen Sie ein Signal für Freihandel mit den westlichen Demokratien! Bringen Sie endlich CETA zur Abstimmung hier im Deutschen Bundestag!
({12})
Der dritte Punkt ist die Fiskalpolitik. Da hat Finanzminister Lindner letzte Woche – da würde ich jeden Satz unterschreiben – ein gutes Konzept zur Finanz- und Haushaltspolitik vorgelegt. Die Frage ist nur: Was folgt jetzt daraus? Wird das wie Plisch und Plum, wie Schiller und Strauß? Werden Habeck und Lindner jetzt das Dream-Team und werden das, was Christian Lindner aufgeschrieben hat, was für angebotsseitige Reformen notwendig ist, umsetzen? Im Moment sehen wir aus dem Wirtschaftsministerium das Gegenteil von dem, was im Finanzministerium aufgeschrieben wird. Deswegen: Bringen Sie endlich tatsächlich auch Ordnung in Ihre Finanz- und Haushalts- und in Ihre Wachstumspolitik!
({13})
Wenn der eine Minister das Richtige aufschreibt, der andere zuständige Minister aber das Gegenteil tut, dann kann man Inflation nicht bekämpfen, und dann steigt sie eben weiter – auch in den nächsten Jahren.
({14})
Deswegen: Weniger sich Sorgen machen, mehr handeln! Das ist der entscheidende Unterschied.
({15})
Der Kollege Marvi von der SPD-Fraktion ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Tat: Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land treibt das Thema unserer Aktuellen Stunde um: die Inflation. Lange Zeit haben wir uns in Deutschland an ein niedriges und moderates Inflationsniveau gewöhnt. Vorhin wurde erstaunlicherweise gesagt, wir hätten seit 2009, also seit dem vergangenen Jahrzehnt, eine hohe Inflation gehabt. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben allein im vergangenen Jahrzehnt vier Jahre mit fast 0 Prozent Inflation gehabt.
({0})
Fakten statt Mythen, liebe Kolleginnen und Kollegen – dabei sollten wir bleiben.
Ich greife auch das auf, was Herr Spahn in Richtung Olaf Scholz gesagt hat. Sie können natürlich leicht und bequem darüber reden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eben dieses goldene wirtschaftliche Jahrzehnt der 2010er-Jahre vorgefunden mit vergleichsweise hohem Wirtschaftswachstum und niedriger Inflation
({1})
und musste sich bis zur Spätphase ihrer Kanzlerschaft zu diesem Thema kaum verhalten. Diese Ampelkoalition ist aber in einer Lage von mannigfachen Krisen ins Amt gekommen, und wir handeln gegen diese Krisen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Auf Dauer sind hohe Inflationsraten nicht gut für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land; das ist richtig. Hohe Inflation schmälert Wohlstand. Sie erzeugt Realeinkommensverluste. Sie trifft Menschen, die ohnehin am wenigsten haben, am härtesten. Noch schlimmer wird der Zustand, wenn zusätzlich die Wachstumserwartungen im Gleichklang auf absehbare Zeit abkühlen. An diesen Zustand können und wollen wir uns als Ampelkoalition nicht gewöhnen. Deshalb steuern wir aktiv gegen Inflation und Stagflation. Wir wollen die Haushalte entlasten und die Volkswirtschaft in Deutschland stabilisieren.
Aber wir wollen in der Kommunikation auch ehrlich sein. Wir werden nicht jeden Einkommensverlust, jeden Wohlstandsverlust, jeden Verlust an Wertschöpfung eins zu eins ausgleichen können, zumal mit dem Blick auf fossile Inflation strukturelle Anpassungen notwendig sind, die wir jetzt sehr beherzt angehen. Aber wir sind gewillt, starke Schutzschirme zu spannen, um die Bürgerinnen und Bürger zielgerichtet und wirksam zu entlasten, damit der Ausgleich genau dort ankommt, wo er auch dringend gebraucht wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Dabei gibt es nicht die eine Geheimformel, die eine Zauberformel, über die natürlich auch die CDU und CSU nicht verfügen Es ist vielmehr eine multivariable Strategie erforderlich, der wir als Ampelkoalition seit Monaten beharrlich und konsequent nachgehen. In diesem Feuerlöschmodus muss geklotzt und nicht gekleckert werden, und so darf ich erneut die Gelegenheit einer Debatte – wieder einmal an einem Donnerstag – nutzen, die Sie als Union dankenswerterweise ermöglichen, um für unsere Entlastungspakete mit einem Gesamtvolumen von über 30 Milliarden Euro zu werben und den Bürgerinnen und Bürgern in unseren Wahlkreisen, die berechtigte Sorgen haben, aufzuzeigen: Diese Ampelregierung handelt mutig und entschlossen, im Gegensatz zu Ihnen sogar konsequent, mit einem Plan und nicht widersprüchlich.
({4})
Wir machen das mit einem sozial gerechten Mix aus Steuersenkungen, zum Beispiel durch die Erhöhung des Grundfreibetrags, durch Direktzahlungen – Stichwort „Energiekostenpauschale“ – und durch Subventionierung von Energie und Mobilität. Alles ist direkt und spürbar wirkend gegen Inflation. Alle diejenigen, die Steuern zahlen, die an der Zapfsäule tanken, die Bus und Bahn fahren, die Strom- und Heizkosten tragen, die Familie haben, werden entlastet. Auszubildende, Studierende, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentner: Die gesamte Breite und Mitte unserer Gesellschaft profitiert stark von den Ampelentlastungen. Ich habe Ihnen schon am letzten Donnerstag die wissenschaftlichen Studien zu den Familien mit zwei Kindern, die einen Entlastungsgrad von 90 Prozent bei den gestiegenen Energiekosten ergeben haben, vorgetragen. Das zeigt ganz akkurat den hohen Wirkungsgrad unserer Maßnahmen.
Zusätzlich machen wir unsere Wirtschaft zukunftsfest durch strukturelle Veränderungen, durch das Vorantreiben der Unabhängigkeit von fossiler Energie, durch Investitionsimpulse, die wir heute gemeinsam mit dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz verabschiedet haben, in Zukunft durch die Investitionsprämie oder auch Superabschreibung. Nicht alles ist perfekt. Auf nicht alles haben wir sofort eine Antwort. Aber wir übernehmen Verantwortung und handeln für bessere Zeiten, für Licht am Horizont. Wenn diese vielen Maßnahmen wirken, schauen wir, wie wir im Herbst gegebenenfalls mit weiteren strukturellen Hilfen weitermachen. Wir sind gewillt, alles zu tun gegen Inflation in unserem Land.
Vielen Dank.
({5})
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange mal mit Analyse und dem Punkt „Inflation bekämpfen“ an. Dazu muss man erst mal gucken: Was ist die Ursache der Inflation? Ökonomische Lehrbücher unterscheiden zwischen unterschiedlichen Varianten von Inflation: Nachfragesoginflation, Kostendruckinflation. Nachfragesog ist es in dem Fall nicht.
({0})
Deswegen sind manche Vorschläge, die so im Raum stehen – Geldpolitik, Zinsen erhöhen –, nicht der richtige Weg; denn es darf nicht darum gehen, die Nachfrage zu reduzieren, sondern wir bewegen uns ja in Richtung Stagflation. Daher müssen wir die Nachfrage insgesamt stärken.
({1})
Das ist schon mal ein Weg, der falsch ist.
({2})
Die andere Variante ist Kostendruckinflation oder starker Rückgang des Angebots. Das ist es, was jetzt eine große Rolle spielt. Wenn immer gesagt wird: „Preise entstehen durch Angebot und Nachfrage“, ist das richtig; aber das ist nicht das Einzige. Was auch eine wichtige Rolle spielt, sind die Erwartungen, die berücksichtigt werden müssen. Und was auch wichtig ist, sind die Machtstrukturen. Gerade bei den Machtstrukturen haben wir Ihnen unglaublich viel zu verdanken; denn Sie haben uns in der Energiepolitik von Russland abhängig gemacht,
({3})
und das ist eine Macht, die Putin schon vor dem Ukrainekrieg ausgenutzt hat, und er macht es immer noch. Deswegen müssen wir diese Machtstrukturen reduzieren, und deswegen ist die Diversifikation, die wir anstreben, an dieser Stelle genau der richtige Weg.
({4})
Diese Machtstrukturen gibt es auch innerhalb unseres Landes, wenn man sich die Ölraffinerien anguckt, die Machtstrukturen im Ölmarkt. Da geht die Bundesregierung auch dran, indem sie
({5})
das Kartellrecht verändert. Deswegen sind Maßnahmen, die von Ihnen vorgeschlagen werden – dauerhafte Energiesteuersenkungen, Mehrwertsteuersenkungen –, auch nicht zureichend; denn in oligopolisierten Märkten führen Steuersenkungen nicht unbedingt dazu, dass Preise sinken, und dann hat man keinen Effekt. Auch ein falscher Weg!
({6})
Wenn ich über die Erwartungen rede, dann ist es wichtig, die Erwartungen auch zu erfüllen, umzusteuern zu geringeren Energiepreisen. Deswegen müssen wir hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien umbauen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, um die Erwartung zu erfüllen, dass die Energiepreise sinken, und das geht nicht, indem man auf fossile Energien oder gar Atom setzt, wodurch die Energiepreise steigen. Wir müssen mittelfristig auf sinkende Energiepreise setzen.
({7})
Ich komme noch mal auf die Nachfrage zu sprechen. Zur Nachfrage habe ich eben gesagt: Die Nachfrage insgesamt zu drosseln, wäre völlig verquer. – Aber gezielt bei Energie die Nachfrage zu reduzieren, ist genau richtig. Und genau das ist diese Woche passiert, als Robert Habeck ein Energiesparpaket vorgestellt hat.
({8})
Wir müssen jetzt Energie einsparen und dürfen nicht die Steuern senken, womit die Energienachfrage auch noch erhöht wird. Wir müssen die Nachfrage senken und auch damit den Druck aus dem Kessel nehmen gegen diese Inflation.
({9})
So viel zum Thema Inflation.
Jetzt zu dem Punkt Entlastung. Da sind Sie völlig widersprüchlich. Einerseits sagen Sie: „Ja, ihr entlastet ganz breit“, und dann kritisieren Sie das. Und dann kritisieren Sie, dass wir nicht gezielt nur bei den Ärmsten entlasten. Da müssen Sie sich, glaube ich, intern einigen, was Sie für das Richtige halten. Wir haben uns dazu entschieden, dass wir breit entlasten. Ich glaube, das ist an dieser Stelle auch der richtige Weg. Wir Grünen hätten gerne ein Energiegeld gezahlt, das wirklich an alle geht. Das geht aber rein technisch noch nicht. Deswegen ist ein zentraler und aus meiner Sicht ganz wichtiger Punkt bei den Entlastungspaketen, dass wir vereinbart haben, dass das Bundesfinanzministerium bis zum Ende des Jahres ein Konzept vorlegt, wie es gelingen kann, dass wir mit solchen Entlastungspaketen tatsächlich alle Menschen erreichen können
({10})
und dass wir damit perspektivisch auch ein Klimageld auszahlen können, um die CO2-Ausstöße tatsächlich teurer zu machen; denn Preise haben auch wichtige Lenkungseffekte. Aber dieses Geld geben wir den Leuten über das Klimageld komplett wieder zurück. Das ist genau der richtige Weg.
({11})
Wir haben sehr breit entlastet – über 30 Milliarden Euro; das ist schon gesagt worden –, und zwar genau an den richtigen Stellen. Wir haben in der Grundsicherung entlastet, wir haben die Erwerbstätigen entlastet – alle Erwerbstätigen! Und dass wir gesagt haben: „Die Energiepreispauschale wird besteuert“, ist ja genau richtig, weil sie dadurch zielgenau ist und genau da entlastet, wo es notwendig ist. Wir brauchen die 300 Euro nicht komplett, sondern es ist richtig, dass diese bei uns besteuert werden.
({12})
Das ist ein Einstieg in das Energiegeld. Da, wo es möglich war, haben wir das gezahlt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Und was noch wichtig ist: Perspektivisch wollen wir noch viel mehr machen. Wir wollen zum 1. Januar 2023 das Bürgergeld einführen. Die Kindergrundsicherung kommt 2024; diese ist ein bisschen komplizierter.
Herr Strengmann-Kuhn, letzter Satz bitte. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Und wir machen die Geschichte mit dem Klimageld, das auch genau der richtige Weg ist, um die Menschen zielgenau zu entlasten.
Vielen Dank.
({0})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir in zehn Minuten die Wahlen schließen. Wer die Stimme noch nicht abgegeben hat, hat jetzt noch zehn Minuten Zeit. – Die nächste Rednerin ist Anja Schulz, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Irgendwie habe ich hier heute ein Déjà-vu und frage mich: Hatten wir das Thema nicht genau vor einer Woche auf der Agenda?
({0})
Hatte die Union nicht in der letzten Woche einen Antrag zur Inflation gestellt? Hatten wir nicht bereits über das Steuerentlastungsgesetz debattiert oder Anträge zum Thema „Energie- und Kraftstoffpreise“ besprochen?
({1})
Heute diskutieren wir nicht über einen Antrag der Union, sondern zu einem Thema von besonderer Relevanz. Daher auch die Aktuelle Stunde. Und da bin ich ganz bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Menschen in Deutschland ächzen unter der anhaltenden Inflation. Alleine das Wort „Inflation“ macht den Menschen Angst.
({2})
Wahr ist, dass wir der Inflation nicht tatenlos zusehen dürfen, und das machen wir auch nicht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir das Thema regelmäßig im Plenum aufgreifen.
({3})
Noch wichtiger ist allerdings, dass wir den Menschen einmal aufzeigen, welche Maßnahmen wir bereits beschlossen haben, welche wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen wir getroffen haben und welche wir in der Zukunft noch treffen werden. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass es dazu da wäre, dass sich die Union im Wochentakt versucht daran hochzuziehen.
({4})
Wie wichtig das Thema ist, zeigt sich mit Blick auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen.
({5})
Für knapp ein Fünftel der Wählerinnen und Wähler haben die Preissteigerungen die größte Rolle bei ihrer persönlichen Wahlentscheidung gespielt.
({6})
Das ist auch verständlich: Im Vergleich zum Vorjahresmonat lag die Inflationsrate im April bei 7,4 Prozent. Energiepreisschocks und gestörte Lieferketten fordern ihren Tribut. Neben steigenden Energiekosten verteuern sie zusehends auch die Preise für Nahrungsmittel; denn wenn Sprit, Strom und Mehl teurer werden, wird zwangsläufig auch das Brot beim Bäcker teurer. Daher sind Entlastungen geboten, und für Entlastungen sorgen wir mit einem klaren Kompass und durchdachten Maßnahmen und nicht dadurch, dass wir das Thema im Wochentakt missbrauchen, um den Teufel an die Wand zu malen.
({7})
Wir haben die Abschaffung der EEG-Umlage auf den Weg gebracht, den Arbeitnehmerpauschbetrag rückwirkend angehoben, ebenso wie den Grundfreibetrag und die Pendlerpauschale. Wir helfen mit der Energiepreispauschale, dem 9‑Euro-Ticket im ÖPNV und der Energiesteuersenkung bei den Kraftstoffen. Dabei sorgen wir für eine gerechte Entlastung, weil unsere Pakete gerade die Haushalte erreichen, die nur über geringe und mittlere Einkommen verfügen. Und: Wir werden auch weiterhin gegen den Inflationsdruck ankämpfen und uns im Herbst mit dem Thema „kalte Progression“ beschäftigen. Damit schafft die Ampel in unter 16 Monaten eine Sache, die Sie 16 Jahre nicht geschafft haben.
({8})
Das ist eine Botschaft, die Sie sich vielleicht mal auf Ihrem Bierdeckel notieren können.
({9})
Damit befinden wir uns im Übrigen auch beim Thema, nämlich dem klaren Kurs unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik. Finanzminister Christian Lindner hat vergangene Woche seine Leitlinien der Finanzpolitik vorgestellt. Die eben aufgezählten Maßnahmen stellen dabei einen wesentlichen Pfeiler dar, indem sie für Halt sorgen und einen wesentlichen Impuls zur Stabilisierung in der Krise leisten; denn wir entlasten Haushalte gezielt und federn wirtschaftliche Härten ab. Wir verhindern Strukturbrüche in der Wirtschaft, indem wir Unternehmen kurzfristig Liquidität zur Verfügung stellen und befristet mit zinsgünstigen Krediten und Bürgschaftsprogrammen unterstützen. Klar ist allerdings auch: Wir befinden uns in einem durchaus anspruchsvollen wirtschaftlichen Umfeld, das noch einige Zeit anhalten wird.
Daher ist es ebenso wichtig, nach vorne zu blicken und einen klaren Kurs zu halten. Mit wachstumsorientierter Politik wollen wir unternehmerische Kapazitäten fördern und damit die Produktivität und letztendlich das Wirtschaftswachstum in unserem Staat stärken. Wir fangen direkt beim Staat an; denn nicht ohne Grund steht die Modernisierung des Staates an erster Stelle in unserem Koalitionsvertrag.
({10})
Daher werden wir Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, Bürokratie abbauen und die Verwaltung digitaler und agiler machen.
({11})
Zu guter Letzt wollen wir so bald wie möglich finanzpolitisch vom Krisenmodus wieder in den normalen Modus umschalten, um Krisenpuffer für die Zukunft schaffen zu können; denn solide Staatsfinanzen sind wichtig. Wir sorgen für unsere finanzpolitische Handlungsfähigkeit in der Zukunft. Das ist meines Erachtens eine klare Leitlinie in der Finanzpolitik. Widersprüche sehe ich da eher bei der Union, die letzte Woche einen Antrag gestellt hat mit allerlei Maßnahmen, wie wir die Menschen entlasten können, die allerdings nicht gesagt hat, wie das Ganze am Ende finanziert werden soll.
({12})
Für uns ist deswegen klar: Mit uns soll es keine Angstpolitik geben, sondern wir werden Ausgaben konsequent priorisieren und die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft prüfen.
Vielen Dank.
({13})
Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, ist der nächste Redner.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle Stunde steht unter dem Zeichen anhaltender wirtschaftlicher und finanzieller Belastungen der Bürgerinnen und Bürger, der Industrie und des Mittelstands. Es gibt wirklich viele Aufgaben, und eine der großen Aufgaben aktuell ist die hohe Inflation. Wenn Sie auf die 16 Jahre rekurrieren: Da war die Inflation nahezu bei 0 Prozent, und jetzt sind wir bei 7,4 Prozent, Tendenz steigend.
({0})
Das liegt in Ihrer Regierungsverantwortung, und das müssen Sie auch lösen. Sie tun da leider gar nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Sie kommen hier mit Analysen und machen traurige Gesichter und sagen: Ja, wir wissen schon. – Aber Sie tun es nicht! Die Entlastungen, die Sie machen, sind in weiten Teilen steuerpflichtig, wie wir gehört haben, und führen zu mehr Steuern bei den Bürgern und zu mehr Belastungen.
({2})
In der letzten Woche musste ich schon wirklich staunen. Bundesfinanzminister Lindner legt ein Strategiepapier vor; das nennt sich „Finanzpolitik in der Zeitenwende – Wachstum stärken und inflationäre Impulse vermeiden“.
({3})
Gestern habe ich im Finanzausschuss mal so rumgefragt in der Regierungskoalition: Ist das eigentlich ein abgestimmtes Papier? Ist das eigentlich abgestimmt mit Rot-Grün, mit dem Kanzler? Dann war so die Antwort: Nee, also das ist jetzt ein Vorschlag, man müsste sich mal Gedanken machen.
({4})
Letztlich hat man auch heute in der Debatte gesehen, dass hier in der Koalition eine große Uneinigkeit besteht.
({5})
Und in bester FDP-Manier, so wie damals in Oppositionszeiten, kommt Lindner und zeichnet da ein euphoristisches Luftschlösschen Freiburger ordoliberaler, angebotsorientierter Wirtschafts- und Finanzpolitik. So wie Sie das formulieren, hätte Friedrich Hayek seine Freude daran gehabt. Aber die Wahrheit ist eine ganz andere. Sie müssen sich schon ehrlich machen bei dem Thema.
({6})
Das haben wir heute auch beim Kollegen Strengmann-Kuhn gehört. In dem Papier heißt es:
Eine regelgebundene und an fiskalischer Tragfähigkeit orientierte Finanzpolitik trägt entscheidend zu Preisstabilität bei. …
Ansonsten verhielte es sich,
– wenn man dies nicht machte –
als hätten zwei Parteien zugleich die Hand am Steuer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schlimmer noch: Es haben drei Parteien die Hand am Steuer,
({7})
und alle drei Parteien arbeiten diametral gegeneinander, wenn es um die Frage angebotsorientierter Wirtschaftspolitik oder nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik geht. Besser hätte man das heute nicht dokumentieren können. Sie müssen sich einigen, was Sie wollen; ansonsten ist das Papier, das Lindner vorgelegt hat, nicht das wert, worauf es geschrieben ist, weil Sie es nicht umsetzen, weil Sie in Streit verharren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({8})
Lieber Kollege Mordhorst, Sie haben vorhin gesagt: Sie führen da Zirkus auf. – Also, mir kommt das bei Ihnen so vor: Wenn man in den Zirkus geht, dann zaubert einer in der Manege, hält irgendein Papier hoch und sagt: „Das könnten wir machen“, und wenn die Menschen dann aus dem Zirkus rausgehen, bleibt nichts als heiße Luft. Das ist Ihr Zirkus, den Sie hier aufführen.
({9})
Sie müssen die Maßnahmen umsetzen!
Jetzt komme ich mal zur Maßnahmenfinanzierung. Sie sagen, wir würden kein Konzept vorlegen, wie wir die Maßnahmen zur Entlastung von Bürgerinnen und Bürgern finanzieren wollen. Übrigens sind da auch zu nennen: die Unternehmensteuerreform und die ganzen Punkte, die wir gefordert haben, die aber gescheitert sind an der SPD.
({10})
Sie schauen immer zu und sagen: Ja, die 16 Jahre. – Sie waren aber auch in der Regierung, und Sie haben die Sachen nicht umgesetzt, die wir für eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gewollt haben.
({11})
Insofern müssen Sie jetzt die Hand ans Steuer legen.
({12})
Ich sage Ihnen zur Finanzierung: Wir haben 40 Milliarden Euro Mehreinnahmen laut der aktuellen Steuerschätzung. Übrigens: Die ganzen Schulden, die Sie aufnehmen, führen ja auch noch zu weiterer Inflation. Die Steuereinnahmen betragen 40 Milliarden Euro, und Sie geben jetzt 22 Milliarden Euro weiter. Jetzt rechnen wir mal ein bisschen: Da bleibt ordentlich was übrig.
({13})
Und was machen Sie? Sie sacken dieses Geld ein und verwenden es für Ihre Maßnahmen: 3 433 Stellen in der Verwaltung haben Sie neu geschaffen.
({14})
Sie geben nichts an die Bürger; Sie geben an die Bürger nichts zurück.
({15})
Ich sage Ihnen – das Ergebnis vom Wochenende hat es ja auch gezeigt –: 300 Euro versprechen Sie. Das ist aber brutto, und diejenigen, die es wirklich brauchen – Rentnerinnen und Rentner bräuchten es –, die bekommen es nicht. Studentinnen und Studenten bräuchten es, die bekommen es nicht. Junge Familien bekommen es nicht.
({16})
Und wenn man es bekommt, wird es versteuert und führt zu höheren Steuereinnahmen beim Staat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden dieses Thema so lange auf die Tagesordnung nehmen, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
– bis Sie endlich handeln. Handeln Sie, und streiten Sie nicht nur rum!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme kurz zurück zu den Wahlen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich jetzt die Wahlen und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Wahl werden wir später bekannt geben.
Der nächste Redner der Debatte, zugleich der letzte Redner in der Debatte, ist Michael Schrodi, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU und gerade auch der CSU! Herr Brehm, es ist doch klar, dass es sich hier um eine importierte Inflation handelt. Die Energiepreise steigen, Lieferketten sind durch die Pandemie unterbrochen. Es ist erschreckend, wie schnell solide volkswirtschaftliche Grundkenntnisse und das Grundwissen von Ihnen gegen die Populismusplatte eingetauscht werden.
({0})
Das ist unwürdig in dieser Situation; das muss man deutlich sagen.
({1})
Das wird auch nicht dem gerecht, was die Menschen, die auch hier oben sitzen, erwarten, nämlich solide Vorschläge für das Problem.
({2})
Der Dreiklang unseres klaren finanzpolitischen Kurses in der Ampelkoalition heißt: sozialen Zusammenhalt stärken, Investitionen anpacken und dabei das Ganze solide finanzieren.
({3})
Herr Brehm, Sie haben mal über die „stille Erotik des Steuerrechts“ gesprochen. Bei Ihren Anträgen muss man eher von Illusionsprosa sprechen, die Sie in den letzten Wochen und Monaten vorgelegt haben – ein Sammelsurium von Anträgen. Übrigens hat Herr Spahn die Forderung, Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. Alles ist mit milliardenschweren Belastungen und Mindereinnahmen verbunden, ohne dass Sie jemals gesagt haben, wie Sie es finanzieren wollen. Sie stellen das immer unter Finanzierungsvorbehalt und fordern gleichzeitig dazu auf, zur Schuldenbremse zurückzukehren.
Selbst größte Illusionskünstler schauen gespannt darauf, wie Friedrich Houdini Merz dies schaffen will und wie er diese Widersprüche auflösen will. Wir sind gespannt.
({4})
Denn wenn jemand Widersprüche auflösen muss, dann sind Sie es. Sie müssen mal solide finanzierte Vorschläge vorlegen. Wir warten gerne darauf und diskutieren darüber.
({5})
So viele Widersprüche wie die CDU/CSU können wir uns gar nicht leisten; denn wir müssen regieren.
({6})
Wir müssen den Menschen helfen und können nicht darauf warten, dass Sie hier mit Ihrem Quatsch kommen. Wir müssen und werden als Fortschrittskoalition auch Investitionen anpacken: in die Bahn, in den Wohnungsbau, in die Digitalisierung, in den Klimaschutz. Dafür stellen wir beispielsweise mit dem Klima- und Transformationsfonds über diese Legislatur 200 Milliarden Euro zur Verfügung.
({7})
Das ist die Voraussetzung für eine moderne Infrastruktur, für die Unternehmen und die Arbeitsplätze der Zukunft und damit übrigens auch für die Steuereinnahmen der Zukunft. Das ist solide Finanzpolitik, die weiter denkt.
({8})
Sie aber klagen gegen den Klima- und Transformationsfonds. Ich erinnere Sie an das Bundesverfassungsgerichtsurteil, das besagt: Wer heute nicht investiert, der schränkt die Freiheitsrechte kommender Generationen ein. – Sie klagen in Karlsruhe gegen die Zukunft Deutschlands und gegen die nächsten Generationen. Und das ist falsch, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({9})
Und eines noch: Friedrich Merz hat gesagt, und zwar schon in der Pandemie, wir müssten uns auf erhebliche Wohlstandsverluste einstellen.
({10})
Wir haben auch schon besprochen, dass wir nicht alles werden ausgleichen können.
Aber wer ist dieses „wir“, Herr Spahn? Wer kann denn Wohlstandsverluste verkraften?
({11})
Derjenige mit einem Privatflugzeug sicher! Herr Spahn, Sie sorgen sich an der Stelle um die Falschen. Es geht um diejenigen, die bei hohen Energie- und Lebensmittelpreisen in finanzielle Schwierigkeiten geraten und nunmehr an den Rand gedrängt werden.
({12})
Und die adressieren wir, Herr Frei, mit unseren Entlastungspaketen über 30 Milliarden Euro.
({13})
Ein paar Maßnahmen sind schon genannt worden. So entlasten wir die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen im Einkommensteuertarif zum Beispiel durch die Anhebung des Grundfreibetrags und des Arbeitnehmerpauschbetrags.
Sie müssen schon die richtigen Instrumente verwenden. Wenn wir in Ihre Anträge schauen, dann stellen wir fest – lesen Sie das gerne nach –: Es ist kein einziges Mal auch nur eine Maßnahme für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu finden.
({14})
– Ganz im Gegenteil, Herr Güntzler. Was Sie zur Bekämpfung der kalten Progression vorschlagen, das hilft am allermeisten den Beziehern höchster Einkommen. Das verschärft soziale Ungleichheit und ist falsch an dieser Stelle. Das müssten Sie eigentlich wissen.
({15})
Wohlstandsverluste wird es geben; eine Armutsausweitung darf es aber nicht geben. Wir müssen die Richtigen treffen.
({16})
Olaf Scholz hat heute ganz richtig gesagt: Wir werden die Menschen nicht alleine lassen. Der Dreiklang bleibt bestehen – sozialer Zusammenhalt, Investitionen, solide Finanzen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das bringen wir als Ampelkoalition gemeinsam auf den Weg.
Danke schön.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer/‑innen! Das von der Ampelkoalition angekündigte Bürgergeld ist die größte sozialpolitische Reform der vergangenen 20 Jahre. Und diese Reform, mit der wir Hartz IV endlich hinter uns lassen werden, ist dringend nötig.
({0})
Wir wollen einen Sozialstaat gestalten, der allen Menschen in diesem Land zu jedem Zeitpunkt mit Respekt und Würde begegnet, einen Sozialstaat als soziales Netz, auf das man sich verlassen kann, einen Sozialstaat, in dem unsere Bürger/‑innen keine Bittsteller/‑innen sind, sondern Inhaber/‑innen sozialer Rechte.
Ich selbst bin nicht mal 30 Jahre alt. Damit gehöre ich zu einer Generation, die mit Hartz IV aufgewachsen ist. Selbst wer das Glück hatte, nicht selbst direkt davon betroffen zu sein: Wir alle wissen, was es bedeutet, mit Hartz IV zu leben, weil es jeder von uns über Freundinnen und Freunde, Bekannte oder Familie miterlebt hat. Mit Hartz IV zu leben, bedeutet eben nicht, jederzeit mit Respekt und Würde zu leben.
Bevor die Kolleginnen und Kollegen der Union gleich wieder anfangen, Gespenster zu sehen: Ich meine damit natürlich nicht die Arbeit der Mitarbeiter/‑innen im Jobcenter; die leisten gute Arbeit.
({1})
Ich meine die Vorgaben, nach denen sie arbeiten müssen, und da müssen wir als Gesetzgeber unsere Arbeit machen. Wir müssen endlich die Rahmenbedingungen schaffen, damit individuelle Unterstützung möglich ist und eine Kultur des Umgangs auf Augenhöhe überhaupt entstehen kann. Ich bin der Überzeugung: Eine grundlegende Neuregelung von Mitwirkungspflichten und Sanktionen ist dafür unabdingbar. Und deswegen brauchen wir einen Cut der bisherigen Regelungen und einen Wechsel in ein neues System. Das Sanktionsmoratorium, das wir heute beschließen werden, ist dafür genau der richtige Schritt.
({2})
Wenn wir über das Thema Mitwirkungspflichten sprechen, wird ja häufig argumentiert – auch Montag in der öffentlichen Anhörung war das wieder zu hören –, dass Sanktionen eh nur wenige treffen und kaum verhängt werden. Das stimmt auf dem Papier.
({3})
Nur 3 Prozent der SGB-II-Bezieher/‑innen sind überhaupt von Sanktionen betroffen. Aber was auch zur Wahrheit gehört: Sanktionen werden deutlich häufiger angedroht, als sie verhängt werden. Unter fast jedem Brief vom Jobcenter, sei es eine Termineinladung oder eine Stellenausschreibung, ist der Hinweis zu finden, dass ein verpasster Termin oder eine fehlende Bewerbung sanktioniert werden können.
({4})
Wer Hartz IV bezieht, lebt aber bereits am Existenzminimum. Da schürt allein die Androhung weiterer Kürzungen existenzielle Ängste.
({5})
Und es ist ebendiese ständig präsente Drohkulisse, welche das Machtgefälle zwischen Jobcenter und der Person im SGB‑II-Bezug immer wieder in Erinnerung ruft. Es ist die ständige Drohung, die den Menschen ihre Abhängigkeit fortwährend vor Augen führt.
({6})
Also: Wenn wir über ein Bürgergeld sprechen und eine neue Kultur des Umgangs auf Augenhöhe mit Würde und Respekt, dann müssen wir genau dieses Problem angehen.
({7})
Das heißt übrigens nicht, dass wir Mitwirkungspflichten aufgeben.
({8})
Und das heißt übrigens auch nicht, dass zukünftig Leistungskürzungen gar nicht mehr möglich sind. Aber es heißt, dass sie zukünftig unserer Vorstellung nach das letzte Mittel sein werden – nach einer mindestens sechsmonatigen Vertrauenszeit ohne Sanktionen, auf Grundlage einer im Konsens erarbeiteten Teilhabevereinbarung, mit aufsuchender Sozialarbeit als vorgeschaltetem Regelinstrument und ohne Vermittlungsvorrang, der einen zur Aufnahme eines x-beliebigen Jobs nötigt. Das Bürger/‑innengeld macht Schluss mit der ständigen Drohkulisse.
Das einjährige Sanktionsmoratorium, das wir heute beschließen, ist der erste Schritt auf diesem Weg, und es ist ein großer Schritt. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, und freue mich auf das, was noch kommt.
Vielen Dank.
({9})
Der nächste Redner ist Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sie schaffen heute mit diesem Gesetz die Hartz-IV-Sanktionen fast vollständig ab. Um das gleich zu Beginn dieser Debatte klipp und klar zu sagen: Damit beerdigen Sie ein für alle Mal das Prinzip „Fördern und Fordern“.
({0})
Wie wollen Sie erklären, dass ein Arbeitsuchender, der sich weigert, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, von der Gesellschaft weiterhin bezahlt wird, während die Lidl-Kassiererin weiterhin arbeiten und Steuern zahlen muss?
({1})
Und was sollen eigentlich die vielen Arbeitsuchenden denken, die sich an Recht und Gesetz halten? Nein, Herr Minister Heil, damit spielen wir nicht die gesellschaftlichen Gruppen in diesem Land gegeneinander aus.
({2})
Das sind ganz normale Fragen, die jeden interessieren, weil es hier um Gerechtigkeit geht.
({3})
Sie legen mit diesem Gesetz die Axt an die Grundlage unseres Sozialstaats,
({4})
an das Solidaritätsprinzip. Solidarität heißt, dass man Hilfe bekommt, wenn man in Not ist und sie braucht. Aber es bedeutet auch, dass man die Pflicht hat, so schnell wie möglich alles zu tun, um dort wieder herauszukommen. Und diese Pflicht schaffen Sie heute ab.
({5})
Dass Sie von der SPD und den Grünen dieses Gesetz gut finden,
({6})
wundert mich nicht. Aber dass Sie von der FDP dafür die Hand reichen, das hätte ich wirklich nicht gedacht.
({7})
Wenn die FDP in dieser Ampelkoalition noch nicht einmal als liberales Korrektiv taugt, dann frage ich mich: Wofür taugt die FDP überhaupt in dieser Koalition?
({8})
Mit diesem Gesetz hat der Anspruch „Leistung muss sich lohnen“ ausgedient.
({9})
Ab sofort gilt: Nichtleistung lohnt sich mehr. So zerstören Sie das Vertrauen in unseren Sozialstaat.
({10})
Sie legen auch die Axt an die Grundlage unseres Rechtsstaats. Was wir hier machen, ist die Aufstellung von Regeln, und es ist immer auch geregelt, was passiert, wenn man sich nicht daran hält.
({11})
Aber wenn es nach einem Regelverstoß keine Konsequenzen gibt, dann gibt es auch keinen Grund, sich an Gesetze zu halten.
({12})
Wie wollen Sie erklären, dass es für einen Arbeitnehmer zumutbar ist, ihn abzumahnen und ihm zu kündigen, wenn er nicht zur Arbeit kommt, es aber für einen Arbeitsuchenden Gängelei sein soll, wenn er sich beim Jobcenter melden muss?
({13})
Sie treten das Gerechtigkeitsempfinden der übergroßen Mehrheit der Menschen in diesem Land mit Füßen.
({14})
Und warum tun Sie das? Die Wahrheit ist: Es geht Ihnen nicht um die arbeitsuchenden Menschen in diesem Land,
({15})
sondern um sich in der SPD und den Grünen.
({16})
Sie wollen Ihr Trauma der Hartz-Reformen ein für alle Mal hinter sich lassen. Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben da was missverstanden: Sie sollen sich von Gerhard Schröder trennen, nicht von seinen Arbeitsmarktreformen.
({17})
Sie sind ja nicht einmal mehr bereit, auf Ihren Genossen und Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, zu hören. Er hat bei der Anhörung ausdrücklich gesagt, dass es Sanktionen braucht, weil man nur so mit den schweren Fällen in Kontakt bleiben kann.
Ich sage für die Union: Langzeitarbeitslose Menschen befinden sich in einer schwierigen Lage mit teils fürchterlichen Schicksalsschlägen.
({18})
Diesen Menschen zu helfen, ist unser aller Verantwortung. Aber Sie helfen diesen Menschen nicht, indem Sie die Sanktionen abschaffen; kein einziger findet dadurch einen neuen Job. Sie müssen sich aktiv um die Leute kümmern.
({19})
Sie müssen mehr tun beim Coaching. Sie müssen mehr tun bei der kommunalen Sozialhilfeberatung. Sie müssen mehr tun beim Thema Weiterbildung. Nichts davon machen Sie mit diesem Gesetz.
({20})
Stattdessen machen Sie ein Gesetz für eine winzige Minderheit, die sich nicht an Gesetze halten will, und kümmern sich nicht um die riesengroße Mehrheit, die dringend auf bessere Hilfe wartet. Wir werden diesem Gesetz nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({21})
Frank Bsirske, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Abgeordnete! Rückwirkende Sanktionen nach Ablauf des zwölfmonatigen Moratoriums sind nicht beabsichtigt und werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ausgeschlossen. Ich hatte letzte Woche an dieser Stelle unterstrichen, dass bis heute kein Nachweis vorliegt, dass die bisherige Sanktionspraxis einen Beitrag zur nachhaltigen und langfristigen Eingliederung in den Arbeitsmarkt leistet,
({0})
und darauf hingewiesen, dass viele Sanktionen dagegen nachweislich zu Unrecht ausgesprochen und von den Sozialgerichten zurückgewiesen werden.
Zur Erinnerung: Im Jahr vor Corona waren 30 Prozent der Widersprüche und 36 Prozent der Klagen erfolgreich. Die vielen und offenbar ja auch gerechtfertigten Rechtsstreitigkeiten binden jede Menge Personal, Personal, das dann für Beratung und Vermittlung nicht zur Verfügung steht. Eine Erfolgsbilanz sieht, weiß Gott, anders aus.
({1})
Die Ampelfraktionen haben sich daher in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf verständigt, den Sozialstaat bürgerfreundlicher machen zu wollen, bei der Ausgestaltung des Bürgergeldes die Würde des Einzelnen zu achten, eine Beratung auf Augenhöhe zu gewährleisten und durch die Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu ermöglichen, dass eine Vertrauensbeziehung entstehen kann.
An diesen Zielsetzungen muss sich die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten orientieren. Sanktionsregelungen dürfen diese Ziele nicht konterkarieren.
({2})
In jedem Schriftstück direkt Sanktionen anzudrohen und eine für viele unverständliche Rechtsfolgebelehrung sind für eine Vertrauensbildung, ein Agieren auf Augenhöhe nicht dienlich.
({3})
Terminvorladungen der Jobcenter sollten deshalb durch Terminvereinbarungen ersetzt werden.
({4})
Vorgeschlagene Termine müssen angenommen, bestätigt oder verschoben werden. Wird auf zwei Aufforderungen nicht reagiert, kann eine Vorladung mit Rechtsfolgehinweis verschickt werden. Bei den Sanktionen sollte von einer Muss- zu einer Kannregelung im Gesetz übergegangen werden. Das stärkt die individuelle Arbeit der Fallmanager/-innen.
({5})
Sanktionen sollten in kleineren Sprüngen gestaffelt erfolgen können; auch sollte die starre Dauer von drei Monaten aufgehoben werden. Wer seinen Mitwirkungspflichten nachkommt, sollte wieder den vollen Regelsatz bekommen.
({6})
Schließlich sollte die Höhe der finanziellen Leistungsminderungen begrenzt und sollten ersatzweise Gutscheine ausgegeben werden.
Zusammenfassend, Abgeordnete: Wir wollen mit dem Bürgergeld das Hartz-IV-System überwinden. Ich habe einige Punkte angesprochen, die dabei eine wichtige Rolle spielen könnten. Ich kann Ihnen heute versichern: Die Ampel wird die vor uns liegenden Sommermonate nutzen, um ein Bürgergeldkonzept zu konkretisieren, das den Zielsetzungen unseres Koalitionsvertrages gerecht wird.
({7})
Hannes Gnauck, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Sozialstaat ist eine der größten Errungenschaften der deutschen Staatsgeschichte. Er bestraft unsittliches Verhalten, sichert Existenzen vor dem Extremfall, dämmt die Polarisierung zwischen Arm und Reich ein und bietet jedem Bürger die Chance, sich selbst im Dienst der Allgemeinheit zu verwirklichen. Der Sozialstaat ist deshalb ein begrenzter Raum, dessen Leistungen an Bedingungen geknüpft sind. Er gibt den Bürgern einen Sinn für Verantwortung und Gemeinschaft; er ist das zur modernen Verwaltungstechnik herangereifte Prinzip der nationalen Solidarität, die über die Familie oder Region hinausreichende Bindung der Gesellschaft.
Genau dieser Sozialstaat, dieses deutsche Erfolgsmodell, meine Damen und Herren, wird von Ihnen nun zu Grabe getragen, und das passiert nicht erst seit gestern. Die Alimentierung von potenziellen Wählern und vor allem bestimmten migrantischen Gruppen,
({0})
die dafür notwendige Umverteilung von Einzahlenden zu unrechtmäßigen Empfängern sowie die Beschneidung von Hilfsmitteln für tatsächlich Bedürftige – all das ist schon sehr lange etablierte linke Politik, auch zu Zeiten einer CDU-Bundeskanzlerin.
({1})
Und nun wollen Sie von der selbsternannten Fortschrittskoalition eines der wenigen verbliebenen Mittel, um dieser Zerstörung des Sozialstaates Einhalt zu gebieten, streichen. Keine Sanktionen mehr bei der Verweigerung einer zumutbaren Arbeit! Sie nehmen den Mitarbeitern im Jobcenter das letzte Mittel, um tatsächlich Arbeitsunwillige zu sanktionieren und damit das Grundprinzip der gesellschaftlichen Solidarität und Fairness zu erhalten,
({2})
ganz im Sinne des Zeitgeistes: keine Pflichten oder Grenzen, nur Rechte und Entfaltung. Der Mitarbeiter im Jobcenter wird damit komplett zum Therapeuten degradiert. Er begleitet im schlimmsten Fall die Launen eines Arbeitsverweigerers, ohne im Dienst der Allgemeinheit, der Steuerzahler und vor allem der wirklich hilfsbedürftigen Leistungsempfänger etwas dagegen unternehmen zu können.
({3})
Und mit dem Änderungsantrag sollen auch noch die letzten Sanktionen beim Meldeversäumnis aufgeweicht werden; diese sollen dann erst beim zweiten Versäumnis anfallen. Meine Damen und Herren, wohin soll das alles noch führen?
Hinzu kommt Ihre wahnwitzige Migrationspolitik. Herr Audretsch von den Grünen hat ja bereits offen verkündet, was die GroKo noch bestritt, nämlich die politisch gewollte, direkte Migration in unsere Sozialsysteme, also, kurz gesagt, die von oben abgesegnete Alimentierung von mittellosen Ausländern durch deutsche Steuerzahler. Das ist kein Populismus oder Ausspielen von inländischen gegen ausländische Benachteiligte. Das ist Ihre unsoziale Politik.
({4})
Hier hat vor allem die deutsche Linke historisch versagt. Geblendet von Ihrem dogmatischen Internationalismus haben Sie dieser Ungerechtigkeit von Lohndumping bis hin zur leistungsfremden Umverteilung den Weg geebnet. Es ist kein Geheimnis, und selbst Frau Wagenknecht mahnt an: Ein funktionierender, gerechter Sozialstaat und offene Grenzen samt uneingeschränkter Freizügigkeit sind miteinander unvereinbar. – Ein funktionierender Sozialstaat benötigt generationenübergreifende Solidarität und Leistungsbereitschaft, und dafür, meine Damen und Herren, zerstören Sie jeden Anreiz.
Was wir heutzutage in der Verteidigungs- sowie in der Sozialpolitik sehen, ist die Konsequenz jahre- und jahrzehntelanger linksliberaler Dekadenz: Post-68er, antiautoritäre Erziehung hin zum reinen Therapieindividuum, von dem man keine Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber mehr verlangen dürfe
({5})
und für dessen Entfaltung und Rundumversorgung andere geschröpft werden müssen.
({6})
Dieses Sanktionsmoratorium ist ein weiterer Schritt in Richtung des sozialen Unfriedens in unserem Land.
({7})
Wir rollen unter Regenbogenfahnen auf die Katastrophe zu, ökonomisch, energiepolitisch, sozialpolitisch, und am Ende will es dann wieder keiner gewesen sein. Doch zum Glück gibt es in diesem Parlament eine echte soziale Alternative,
({8})
die für die notwendige Politikwende in diesem Land bereitsteht.
Vielen Dank.
({9})
Jens Teutrine, FDP-Fraktion, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Debatte geht es – das wurde von Kai Whittaker ja schon angesprochen – um das Grundprinzip des Förderns und Forderns. Das ist der Ausgangspunkt, über den wir heute debattieren, über den wir im Zusammenhang mit dem Bürgergeld erneut debattieren wollen. Unser Ansatz ist, mit dem Bürgergeld Hartz IV zu reformieren, es auf die Höhe der Zeit zu bringen und den Instrumentenkasten des Sozialstaates mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen, neu auszustatten.
({0})
Sprechen wir doch mal über eine Herausforderung, die wir auf der Seite des Förderns haben: Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.
({1})
Wenn Sie fragen: „Wofür taugt die FDP?“, dann sage ich Ihnen: Die FDP taugt dafür, dass im Koalitionsvertrag steht, dass diese in Zukunft nicht in unnütze Maßnahmen verschoben werden, sondern eine wirkliche Perspektive für Weiterbildung haben, um sich aus dem Bezug von Sozialleistungen herauszuarbeiten. Das ist das Ziel der Bürgergeldreform.
({2})
Die FDP taugt dafür, dass es für diejenigen ein Weiterbildungsgeld von 150 Euro gibt. Die FDP und die Ampel insgesamt taugen dafür, dass wir den Vermittlungsvorrang abschaffen, damit Menschen nicht in unnütze, kurzfristige Aushilfsjobs gedrängt werden und im Jobcenter quasi hin- und herwackeln, sondern der Grundsatz „Weiterbildung statt Aushilfsjob“ gilt. So schaffen wir es, dass ein großer Teil, zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen ohne einen Berufsabschluss, aus Hartz IV herauskommen.
({3})
Das ist die Seite des Förderns, und die justieren wir neu. Hätten Sie den Koalitionsvertrag gelesen, dann wüssten Sie das auch.
({4})
Bis wir die Seite des Förderns neu justieren, werden wir auch über die Seite des Forderns sprechen. Darum geht es bei den Sanktionen. Die politische Linke und die Grünen sagen, Sanktionen seien per se, grundsätzlich menschenunwürdig. Ich möchte für die Freien Demokraten klarstellen, dass wir das nicht so sehen.
({5})
Nicht nur wir sehen das nicht so, auch das Bundesverfassungsgericht sieht das anders. In Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Menschenwürde gesichert. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass Sanktionen möglich sind: bis zu 30 Prozent. Deswegen sind sie auch nicht per se menschenunwürdig.
Es gibt ein zweites Argument. Wir sind solidarisch mit allen, die in Not sind, die bedürftig sind. Denen greifen wir unter die Arme, denen wollen wir Aufstiegschancen geben. Auf der anderen Seite wird der Sozialstaat aber von denen erwirtschaftet, die jeden Tag morgens aufstehen. Das ist die andere Seite der Medaille.
Herr Treutrine, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Whittaker?
Ich lasse eine Zwischenfrage zu.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege Teutrine, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe gerade vernommen, dass Sie als FDP Sanktionen grundsätzlich für richtig erachten. In diesem Gesetz aber setzen Sie die Sanktionen für ein Jahr vollständig aus mit einer Ausnahme bei Meldeversäumnissen.
({0})
Wenn man das zweite Mal seinen Termin nicht wahrnimmt, beträgt die Leistungsminderung weiterhin 10 Prozent, einmalig. Wenn Sie also der Ansicht sind, dass Sanktionen richtig sind, warum heben Sie dann heute die Hand, um für ein Jahr die Sanktionen auszusetzen, nur um sie dann wieder einzuführen?
({1})
Lieber Kollege Whittaker, zu genau dem Punkt wäre ich jetzt gekommen. Ihr Kollege Hermann Gröhe, stellvertretender Fraktionsvorsitzender – ich habe mir das noch mal rausgesucht –, hat heute behauptet: Die komplette Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen ist ein Schlag ins Gesicht. – Sie wiederholen das immer wieder. Gucken wir in den Gesetzestext – ich habe ihn mitgebracht –: Meldeversäumnisse, also wenn Leute einen Termin nicht wahrnehmen, werden weiter sanktioniert. – Sie sagen, der allergrößte Teil würde nicht mehr sanktioniert werden. Gucken wir in die Statistik: 75 Prozent der Sanktionen beziehen sich auf Meldeversäumnisse. – Der allergrößte Teil an Pflichtverletzungen, Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten wird auch im Sanktionsmoratorium weiter sanktioniert. Sie kennen die Zahlen, Sie können die Zahlen auch anfragen, Sie machen aber seit Tagen eine politische Kampagne daraus. Sie sagen, wir würden ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen,
({0})
ohne selbst einen Vorschlag zu machen. Was ist Ihre Perspektive für die Sanktionen? Was ist Ihre Perspektive für Hartz IV? Was sind Ihre Vorschläge? Das ist eine schlechte Oppositionsarbeit.
({1})
Ich habe jetzt klargestellt: Meldeversäumnisse werden im Sanktionsmoratorium weiter sanktioniert. Meldeversäumisse machen den allergrößten Teil, den Löwenanteil der Pflichtverletzungen aus, nämlich 75 Prozent, und sie werden auch in Zukunft sanktioniert. Sie werden nicht vollständig abgeschafft, wie Sie in der Öffentlichkeit und in den Medien immer wieder fälschlicherweise behaupten.
Ich möchte noch etwas hinzufügen. Bei den Sanktionen erlebe ich eine erhitzte und polarisierte Debatte.
({2})
Ich glaube, die demokratischen Fraktionen dieses Hauses sind in der Pflicht, diese erhitzte Debatte sachlich zu führen,
({3})
sie auf Basis von Zahlen zu führen. Ich habe Ihnen gerade Zahlen genannt. Und ich glaube, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Jobcenter es verdient haben, nicht als Hartz-IV-Sanktionsstelle dargestellt zu werden.
({4})
Die Wahrheit ist: 97 Prozent der Menschen im Leistungsbezug kommen nie mit Sanktionen in Berührung, nur der allerkleinste Teil, und sie sind die Ultima Ratio. Ich habe Ihnen erklärt, was wir im Sanktionsmoratorium machen; es gibt also weiterhin Sanktionen.
Hätten Sie den Gesetzestext gelesen – ich habe ihn Ihnen extra mitgebracht; ich zitiere Absatz 1 – –
Herr Kollege Teutrine, bevor Sie zitieren, frage ich: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ich hab schon eine Zwischenfrage zugelassen. Ich würde jetzt gerne fortfahren.
Gut.
Sie sagen immer wieder, Sanktionsmoratorium bedeute Sanktionsfreiheit. Das ist falsch. Sie behaupten immer wieder, das Bürgergeld sei ein bedingungsloses Grundeinkommen. Auch das ist falsch. Lesen Sie den Text!
({0})
Hier steht: Die Neuregelung soll beinhalten, dass Leistungsminderungen bis zu 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs möglich sind, bei Härtefällen sollen Sachleistungen bis zu einem bestimmten Anteil gewährt werden. – Das ist der Kompromiss der Koalitionsfraktionen. Sie kennen diesen Kompromiss. Er steht nämlich im Gesetzestext.
({1})
Das ist das Maximum, was das Bundesverfassungsgericht erlaubt.
Wenn Sie sagen, wir würden das Prinzip des Förderns und Forderns nicht ernst nehmen, dann machen Sie doch bitte mal konstruktive Oppositionsarbeit. Legen Sie Vorschläge vor, aus denen hervorgeht, was Sie sich für Hartz IV vorstellen! Ich bin sehr gespannt, was kommt. Sie können uns für das, was wir machen, kritisieren; aber kritisieren Sie uns nicht für das, was wir nicht machen, von dem Sie nur behaupten, dass wir es machen würden. Das ist nämlich unlautere Politik. Und das ist einer demokratischen Partei nicht würdig.
({2})
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich freue mich auf die Bürgergeldreform. Ich würde mich freuen, wenn die Union konstruktiv-kritisch mitarbeiten würde, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– diese polarisierte Debatte nicht weiterführen und aufhören würde, Falschbehauptungen in den Medien zu verbreiten.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Teutrine. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Jessica Tatti, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die Sanktionen für Menschen in Hartz IV für ein Jahr auszusetzen. Genau das machen Sie nicht in Gänze, egal was für ein Stuss dazu aus der Union verbreitet wird. Von der Linken erhalten Sie Kritik dafür, dass Sie das nicht einhalten.
({0})
Aber zum Glück haben Sie Ihre Mogelpackung Sanktionsmoratorium nun doch noch zugunsten der Betroffenen nachgebessert. Es ist eine Verbesserung, dass Sie bei verpassten Terminen jetzt maximal 10 Prozent Sanktionen zulassen. Das sind aber immer noch 45 Euro, die die Betroffenen dann im Monat weniger haben. Das ist eine Menge Geld bei einem kleingerechneten Regelsatz und der krassen Inflation, die wir haben. Jeder Euro, der im Geldbeutel fehlt, tut wirklich weh, auch wenn sich das viele Politikerinnen und Politiker hier wohl nicht mehr vorstellen können.
({1})
Was ich absolut nicht verstehe, ist Folgendes: Warum schließen Sie nicht klipp und klar aus, dass Menschen nachträglich, noch nach Ende des Moratoriums, bestraft werden können? Ja, Sie haben dazu mittlerweile einen banalen Absatz in der Begründung des Gesetzentwurfs aufgenommen.
({2})
Aber ich kaufe Ihnen nicht ab, dass Sie damit die Betroffenen wirklich rechtssicher vor diesem Risiko schützen können.
({3})
Erklären Sie doch mal, warum Sie so sehr auf Sanktionen stehen, dass Sie die nicht für ein Jahr aussetzen können, wie es versprochen war. Welche segensreichen Wirkungen erhoffen Sie sich denn davon, dass Sie so verzweifelt an den Strafen festhalten? Ich sage Ihnen, wie Sanktionen wirken: Sie führen zu Schulden, sie führen zu Zahlungsrückständen bei Stromanbietern, zu Stromsperren, zu kalten Wohnungen und zu leeren Kühlschränken. Sie führen dazu, dass Menschen permanent Angst haben und sich fragen, wie sie über den Monat kommen sollen, und sie führen zu Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden. Strafen helfen auch nicht bei der Integration in den Arbeitsmarkt, auch wenn das manche immer noch behaupten.
({4})
Vielleicht kann man den einen oder anderen durch eine Sanktion kurzfristig in einen miesen Job zwingen – in Befristungen, in Leiharbeit, in Minijobs und Niedriglöhne –, aber das führt nicht zur Überwindung von Armut. Genau das sollte doch die Aufgabe der Bundesregierung sein.
({5})
Bekämpfen Sie endlich konsequent prekäre Arbeit! Sorgen Sie dafür, dass es den Leuten nach Aufnahme einer Arbeit besser geht als vorher! Das ist doch der Ansporn, um eine Arbeit aufzunehmen, und ein größerer Ansporn, als es eine Sanktion je sein könnte.
({6})
Gute Löhne und Arbeitsbedingungen helfen nicht nur den Menschen in Hartz IV, sie kommen den Millionen Menschen zugute, die jeden Tag hart arbeiten und trotzdem immer knapp bei Kasse sind. Das System Hartz IV ist eine Geisel für den Arbeitsmarkt, für Erwerbslose genauso wie für Beschäftigte.
({7})
Es ist die Angst vor Arbeitsplatzverlust, die Angst vor Hartz IV, die dafür sorgt, dass die Menschen schlechte Jobs zu schlechten Löhnen annehmen. Also, anstatt weiter die Arbeitgeber mit billigen Arbeitskräften zu beglücken: Nehmen Sie die Menschen in der Grundsicherung endlich einmal ernst! Nehmen Sie ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben ernst! Setzen Sie die Sanktionen vollständig aus!
Frau Kollegin.
Halten Sie sich an Ihren eigenen Koalitionsvertrag! Das kann doch nicht so schwer sein.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Mit diesem Gesetz beschließen wir heute den Einstieg in den Umbau unseres Sozialstaates. Es ist der größte Umbau seit Hartz IV. Das ist vollkommen richtig; denn wir wollen einen anderen Sozialstaat, und wir wollen einen besseren Sozialstaat,
({0})
weil wir wissen, dass unser Land mehr dazu beitragen kann, arbeitsuchende Menschen zu unterstützen, als wir es gerade tun. Die Zeiten ändern sich, und wir passen unsere Politik veränderten Bedingungen an.
({1})
Dieser Staat wird Menschen, die arbeitslos werden und Hilfe benötigen, auf Augenhöhe begegnen, und dazu gehört, dass wir Sanktionen grundsätzlich kritisch überprüfen und neu ordnen werden. Deswegen ist es auch richtig, dass wir heute dieses Sanktionsmoratorium beschließen, weil es bei den Menschen Vertrauen in diese neue Ordnung schafft und zeigt, dass wir das Problem angehen.
({2})
Genau darum geht es im Kern. Wer 10, 20, 30 oder 40 Jahre hart gearbeitet hat und dann, aus welchen Gründen auch immer, arbeitslos wird, braucht ein Sozialsystem, auf das er sich verlassen kann. Deswegen geht es um nicht weniger – das wurde heute schon gesagt – als einen Kulturwandel. Wer ins Jobcenter geht, der soll und darf sich dafür nicht schämen, sich in dieser Lage zu befinden. Aber wir wissen doch heutzutage auch: Bei Menschen im Arbeitslosengeld-II-Bezug schlafen oft die Kontakte zu Familie und Freunden ein, weil man nicht darüber reden will, wenn man gerade wegen eines Fehlers sanktioniert wurde, während andere von einer Beförderung oder einer Weiterbildung erzählen.
Deshalb haben wir nach diesem Einstieg mit dem Bürgergeld viele weitere Änderungen geplant: die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs, längere Übergangsfristen für die Prüfung der Angemessenheit der Wohnung, des Vermögens, ein höheres Schonvermögen. Wir werden eine andere Kultur entwickeln mit dem Ziel, dass sich niemand dafür schämen muss, Hilfe zu beanspruchen, wenn er sie benötigt.
({3})
Wir wollen, dass die Jobcenter als das wahrgenommen werden, was sie sind: Einrichtungen, die den Menschen in einer der schwersten Phasen ihres Lebens helfen.
Deswegen sage ich an dieser Stelle auch ganz klar – eingehend auf das, was hier heute auch gesagt wurde –: Das ist nicht nur eine Botschaft an all diejenigen, die gerade Leistungen beziehen. Das ist auch eine Botschaft an alle hart arbeitenden Menschen in diesem Land: Wenn ihr arbeitslos werden solltet und Hilfe braucht, dann sind wir für euch da – dieser Staat ist für euch da.
({4})
Wir geben euch auch die Zeit, mit dieser schweren und neuen Situation zurechtzukommen und schnell wieder Arbeit zu finden.
Diese Unterstützung drückt sich auch darin aus, dass wir auf Sanktionen verzichten. Was ist denn gerade in dieser Gesellschaft los? Wir reden immer von Transformationen. Das sind große Veränderungen und Umbrüche: die Transformation der Wirtschaft zur Bekämpfung des Klimawandels, die Digitalisierung. Aber das sorgt auch bei Menschen für Verunsicherung; denn für die meisten Menschen – wenn wir von Veränderung reden – bedeutet das nicht, dass man mal eben ein cooles, hippes Start-up gründet, sondern Veränderung und Wandel ist immer auch mit der Sorge um den Arbeitsplatz verbunden.
({5})
Deswegen ist die Behauptung der Union falsch, dass wir die Gesellschaft spalten würden. Wir tun genau das Gegenteil. Wir spielen nicht die arbeitenden gegen die arbeitsuchenden Menschen aus.
({6})
Dieses Wording wird deswegen auch nicht verfangen. Wir geben auch arbeitenden Menschen Sicherheit. Wer unverschuldet arbeitslos wird, trifft zukünftig auf einen Sozialstaat, der ihn noch stärker unterstützt als bisher. Genau dafür haben wir einen Regierungsauftrag erhalten.
({7})
Eine persönliche Anmerkung zum Schluss; Kollegin Klose hat das in ihrer Rede schon erwähnt, aber weil das öfter von der Union kommt und vielleicht heute auch noch einmal kommt.
({8})
– Ja, weil ich Ihnen ja sonst zuhöre. Wir haben diese Debatte am Freitag schon in der ersten Lesung geführt.
({9})
Da haben Sie zum Beispiel auch gesagt, dass wir die Arbeit der Menschen in den Jobcentern nicht wertschätzen würden. Ich habe bis zuletzt in der Kommunalverwaltung gearbeitet und war selbst Arbeitsvermittler. Ich sage Ihnen eines: Wir wissen sehr wohl, dass dort gute und engagierte Arbeit geleistet wird, aber natürlich immer im Rahmen der Gesetze, die wir hier machen und setzen. Ich weiß von ganz vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie sich andere Gesetze wünschen würden, und dafür werden wir sorgen.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Peick. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ottilie Klein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns Christdemokraten bedeutet sozialstaatliches Handeln seit jeher, die Würde eines jeden Menschen zu achten und zu wahren, ihn nicht als passiven Hilfsempfänger zu sehen, sondern als jemanden, der frei und selbstbestimmt nach einem guten Leben für sich und seine Familie strebt. Es bedeutet auch, jene nicht zu überfordern, die Hilfe leisten oder dazu beitragen. Es bedeutet, Grenzen aufzuzeigen und klare Regeln des Zusammenlebens zu definieren.
Der Staat ist dann gefragt, wenn Menschen in Not geraten, wenn Schicksalsschläge sie davon abhalten, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Leitidee unseres Sozialstaates ist aber auch Befähigung und nicht Abhängigkeit vom Staat.
Das Ampelgesetz, das wir hier heute diskutieren, kehrt sich ohne Not ab von diesem grundlegenden Pfeiler unseres Sozialstaates, und es schadet auch den Betroffenen selbst mehr, als es hilft. Das bestätigen sämtliche Experten, darunter auch die Bundesagentur für Arbeit.
({0})
Warum ist das so? Das ist so, weil vor allem jene sanktionsgefährdet sind, die besondere Hilfe brauchen. Mit dem Sanktionsmoratorium werden bestehende Unterstützungsmöglichkeiten sogar geschwächt, weil der verbindliche Kontakt zwischen Jobcentern und Empfängern abreißt. Das möchte ich hier auch noch einmal sagen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern leisten nicht nur gute Arbeit, sie leisten eine großartige Arbeit.
({1})
Sie sagen immer und liefern das Bild ab: Wir müssen den Empfängern auf Augenhöhe begegnen. – Ja, glauben Sie denn, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern begegnen den Hartz‑IV-Empfängern nicht auf Augenhöhe?
({2})
Das ist ein ganz komisches Bild, das Sie hier kreieren.
({3})
Gerade für die Menschen in den Jobcentern ist es schwierig, wenn Versäumnisse von Leistungsbeziehern ohne Konsequenzen bleiben; denn es ist ihre Aufgabe, den Menschen zu helfen, ihnen eine Perspektive zu geben.
({4})
Das muss ich auch ganz klar sagen: Mit der Aussetzung der Mitwirkungspflichten geben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Ampelfraktionen, die Menschen auf.
({5})
Deutlich sinnvoller wäre es, die bestehende Beratungspraxis zu stärken. Das Ziel muss doch der Weg in Arbeit sein und nicht Abhängigkeit vom Staat.
({6})
– Ganz genau. – Das sind wir jenen schuldig, die ihren Pflichten nachkommen. Das sind wir jenen schuldig, die sonst unter dem Radar der Sozialsysteme bleiben, und ja, das sind wir auch jenen schuldig, die hart arbeiten und jeden Monat Steuern zahlen.
({7})
Dazu zählt auch, dass jeder seinen Beitrag in unserer Solidargemeinschaft leistet. Das bedeutet: zumutbare Arbeit annehmen, Fortbildungen durchführen und Termine einhalten.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Alles andere ist schlicht und ergreifend nicht sozial. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. – Wenn Sie mir noch einen letzten Satz erlauben?
Aber wirklich nur einen.
Wir Christdemokraten glauben an einen Staat, der die Menschen befähigt, der sie nicht aufgibt und, ja, der sie auch fordert.
({0})
Auch das, meine Damen und Herren, hat etwas mit Würde zu tun.
Vielen Dank.
({1})
Ich hatte es mir schon gedacht: Die Unionsfraktion hat nicht nur keine Disziplin, die können nicht einmal zählen. Das waren jetzt drei Sätze – aber egal.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Menschen sind aus ganz unterschiedlichen Gründen langzeitarbeitslos. Manche haben keine Ausbildung, andere haben gesundheitliche Probleme, manchmal ist es einfach nur das Alter. Sie haben dann kaum Chancen, weil unsere Arbeitswelt nicht inklusiv ist. Langzeitarbeitslosigkeit ist also kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem, und weil niemand freiwillig vom Existenzminimum lebt, geht es beim Thema Sanktionen natürlich auch um die Würde der Menschen. Da ist das Bundesverfassungsgericht sehr klar – ich zitiere –:
Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu.
({0})
Genau deshalb ist uns Grünen ein Sanktionsmoratorium ein besonderes Anliegen. Auf dem Weg hin zum Bürgergeld klären wir gerade den Übergang. Dazu gehört natürlich auch das Thema Sanktionen. Das ist nicht immer einfach; aber wir sind uns in der Ampel sehr einig, dass beim Bürgergeld natürlich die Menschen im Mittelpunkt stehen. Zentral ist dabei, dass wir eine Teilhabevereinbarung einführen werden, und zwar als echten kooperativen Prozess und nicht einfach per Verwaltungsakt. Die Beschäftigten in den Jobcentern sollen mit den Erwerbslosen realistische Ziele, Teilziele vereinbaren, und zwar gemeinsam auf Augenhöhe; denn nur, wenn die Menschen die Angebote nachvollziehen können, wenn sie auch davon überzeugt sind, nur dann entsteht Motivation für den schwierigen Weg zurück in die Arbeitswelt. Genau das wollen wir mit dem Bürgergeld erreichen.
({1})
Sanktionen treiben die Menschen häufig in prekäre Jobs, häufig befristet, nur für kurze Zeit. Das ist nicht nachhaltig, und auch das werden wir mit dem Bürgergeld verändern. Nicht alle langzeitarbeitslosen Menschen können direkt in Arbeit vermittelt werden. Viele brauchen erst einmal soziale Teilhabe. Sie brauchen Zwischenschritte, sie brauchen geschützte Räume, in denen sie sich ausprobieren und auch gute Erfahrungen sammeln können. Andere wiederum brauchen echte Qualifizierung. Die Angebote müssen also zu den Menschen passen. Es geht nicht nur um Vermittlung, sondern eben auch um Qualifizierung und um soziale Teilhabe. Deshalb werden wir den Vermittlungsvorrang abschaffen.
({2})
Zurück zu den Sanktionen. Ja, es wird weiterhin Sanktionen geben, Herr Whittaker; aber wenn wir mit dem Bürgergeld den Perspektivwechsel schaffen, mit Beratung auf Augenhöhe, mit individueller Unterstützung, und das alles mit Respekt und Verantwortung, dann braucht es keine sogenannten Aktivierungsmaßnahmen, und dann braucht es auch keine Sanktionen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Aus reiner Ideologie, ohne Notwendigkeit schaffen Sie, die Ampelkoalition, einen wesentlichen Grundsatz der deutschen Sozialpolitik ab: „Fordern und Fördern“.
({0})
– Ich habe Ihren Gesetzentwurf dabei; der ist so schmal, Frau Müller-Gemmeke, dass es da nicht viel zu lesen gibt. Das können Sie zehnmal in die Welt setzen. Da gibt es nicht viel zu lesen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie stellen mit der Entscheidung heute eine wesentliche Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft und, damit verknüpft, des Sozialstaates in Deutschland infrage.
({2})
Denn soziale Sicherheit – das können auch die Linken lernen – bedeutet nach Ludwig Erhard, aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben in die – –
({3})
Das ist einfach die Grundlage unseres Sozialstaates in Deutschland in den letzten Jahrzehnten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist auch der Duktus des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Ich zitiere, Frau Müller-Gemmeke, zwei Punkte aus dem Urteil:
({4})
Der Gesetzgeber verfolgt mit den Mitwirkungspflichten „legitime Ziele“; denn sie sollen „Menschen wieder in Arbeit“ bringen. – Sie haben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert, ich tue es auch.
Der zweite Punkt aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist: Legitime Pflichten „mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich … nicht zu beanstanden“.
({5})
Das haben Sie in Ihrem Zitat anders dargestellt; das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist wichtig.
({6})
Herr Teutrine, auch wenn Sie jetzt in epischer Breite versucht haben, etwas darzustellen: Ich habe keinen Ansatz der FDP entdeckt, wie Ihre Antwort auf das Bürgergeld der Zukunft lautet. Wir sagen: Wir wollen eine Politik der Befähigung. Wir wollen, dass die Menschen ihre Potenziale nutzen können und dementsprechend auch wieder in den Arbeitsmarkt geführt werden.
Was mich in der ganzen Debatte wundert: Wenn man auf die drei Ampelkoalitionäre schaut, dann wird das Bürgergeld aus drei verschiedenen Perspektiven gesehen. Die FDP möchte Hartz IV reformieren, die SPD möchte Hartz IV überwinden, und bei den Grünen weiß man nicht so genau, wie der Hartz‑IV-Ansatz gesehen wird.
({7})
Das wird sicherlich eine spannende Diskussion in den nächsten Wochen und Monaten. Ich freue mich darauf.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist selbstverständlich auch in dieser Debatte wichtig, dass wir einen Blick auf die Lebenssituation der betroffenen Menschen richten. Auch das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es wichtig ist, in konkrete Einzelfälle zu gehen und außergewöhnliche Härten anzuschauen. Die BA sagt ganz klar, dass man Sanktionen bei psychischen Problemen und vielen anderen Dingen nicht aussprechen darf. Das, meine Damen und Herren, haben Sie hier auch verschwiegen.
Herr Kollege Aumer, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Bsirske?
Ja, gerne.
Das verlängert Ihre Redezeit auch deutlich; das kann ich Ihnen sicher sagen.
({0})
Okay, dann ist es gut.
Wir haben mit Blick auf das Bürgergeld, das wir entwickeln wollen, deutlich gemacht, dass es Eckpunkte braucht für die Neu- und Ausgestaltung der Leistungsminderungssituation, also der Ausgestaltung der Sanktionspraxis. Meine Frage: Warum meinen Sie, es nicht nötig zu haben, zuzuhören?
Also, ich weiß jetzt nicht, was Sie mit der Frage wollen. Ich habe in der Debatte sehr genau zugehört. Ich habe aber keine einheitliche Meinung gefunden. Die FDP sagt: Wir brauchen weiterhin Sanktionen. Sie sagen: Wir können die Sanktionen überwinden. – Wenn man alles so macht, wie Sie sich das vorstellen – –
({0})
– Sie haben gerade gesagt: Vielleicht brauchen wir gar keine Sanktionen. – Ich habe sehr genau in der Debatte aufgepasst.
Darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass es nur eine Diskussion zwischen dem Fragesteller und dem Antwortenden gibt und nicht eine allgemeine?
Das macht es, glaube ich, grundsätzlich schwierig, wenn Sie in dieser Koalition keine einheitliche Antwort geben. Wo wollen die Menschen dann das Vertrauen hernehmen? Wir wollen, dass die Menschen in Arbeit kommen. Das ist unser Punkt; das haben die Kollegen vorher auch besprochen.
({0})
Denn Arbeit befähigt die Menschen, für gutes Geld ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist sicherlich ein ganz wesentlicher Punkt.
Was mich in der Debatte ärgert – das hat mich gestern schon bei Ihnen geärgert, Herr Heil –, ist, wenn Sie sagen, wir würden Menschen gegeneinander ausspielen. Das machen wir nicht.
({1})
– Sie denken so, wenn Sie das sagen. Ja, da können Sie jetzt abwinken. Aber es ist so. – Wir wollen, dass Menschen gute Arbeit haben – das sollte unser gemeinsames Ziel sein –, und wir wollen denen mit befähigenden Maßnahmen helfen, die es nicht aus eigener Kraft schaffen. Da spielen wir keine Menschen gegeneinander aus; das macht keiner bei uns.
Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum Schluss kommen.
Wir wollen eine Sozialpolitik, die angemessen ist. Ich habe noch einen Artikel dabei, aber leider ist meine Zeit abgelaufen; Herr Präsident, ich sehe es.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Mitarbeiter der Bundesagentur sagen: Das ist eine Katastrophe. – Ich glaube, daran sollten Sie arbeiten. Sie sollen einmal bitte in die Praxis gehen und mit den Menschen reden.
({0})
Dann sehen Sie, was Sie mit Ihrer Entscheidung heute anrichten.
Herzlichen Dank.
({1})
Frau Kollegin Glöckner, bevor Sie dran sind, hat mich die FDP-Fraktion um eine Kurzintervention gebeten. Wer möchte Sie halten? – Der Kollege Teutrine.
Lieber Kollege! Erstens. Sie haben gesagt, Sie wüssten gar nicht, was die Ampel macht. Ich wiederhole meine Empfehlung: Lesen Sie den Gesetzentwurf!
({0})
Darin steht, was passieren wird. Darin steht, dass es keine Sanktionsfreiheit gibt, sondern Meldeversäumnisse weiter sanktioniert werden; anders als Sie behauptet haben. Darin steht – Absatz 1 der Erläuterung zum Bürgergeld –, dass es beim Bürgergeld weiterhin Sanktionen in Höhe von 30 Prozent gibt.
({1})
Das ist das Erste.
Zweitens haben Sie behauptet, dass ich in meiner Rede nicht gesagt hätte, welche Vorstellungen die FDP grundsätzlich beim Bürgergeld gehabt hat. Die habe ich natürlich genannt, beispielsweise das Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro. Ich habe ebenfalls schon mehrmals erläutert, dass die FDP die Zuverdienstregelungen ändern will. Ihr ehemaliger Generalsekretär Paul Ziemiak ist bei Markus Lanz durch die Talkshow getingelt und hat gesagt: Es ist eine Leistungsfeindlichkeit, dass Kinder und Jugendliche von ihrem 450-Euro-Nebenjob nur 170 Euro behalten dürfen und der Rest angerechnet wird. – Sie in der Bundesregierung haben diese Leistungsungerechtigkeit – wenn wir über Leistungsgerechtigkeit und Wohlstand für alle sprechen – nie angepasst. Jetzt steht sie im Koalitionsvertrag. Unterstützen Sie diese Initiative!
({2})
Herr Kollege Aumer, Sie dürfen antworten.
Ich antworte natürlich sehr gerne. – Ich habe schon einmal gesagt: Ich habe den Gesetzentwurf angeschaut.
({0})
– Angeschaut oder gelesen; in beide Richtungen. Ohne es anzuschauen, kann man es auch nicht lesen. – Da steht nicht sehr viel drin. Sie wissen ja nicht einmal, was Sie mit dem Sanktionsmoratorium erreichen wollen. Das ist Ihr Grundproblem. Sie sagen, Sie wollen analysieren, was sich ergibt, und daraus Schlüsse ziehen, wie das Bürgergeld in Zukunft ausschauen soll – mit Sanktionen, die es eigentlich nicht mehr gibt, sondern nur noch eine Erinnerung sind. Das ist auch ein kleines bisschen schizophren.
Die BA hat mit ihrer Weisung ein sehr differenziertes System auf den Weg gebracht. Wenn Sie das umgesetzt hätten, dann, glaube ich, hätten wir wirklich daraus lernen können und schauen können, ob der Weg, den das Verfassungsgericht genannt hat, hilft, Menschen stärker zu aktivieren und sie in Arbeit zu bringen.
({1})
– Das war der erste Teil der Frage, Frau Müller-Gemmeke.
Die Antwort auf den zweiten Teil lautet: Ich habe gerade auch gesagt, was unser Ansatz ist: Wir wollen eine befähigende Politik. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten und gutes Geld zu verdienen. – Da kann man über Anrechnung, über Bildung und viele Dinge reden; aber darüber muss man reden. In der heutigen Zeit als sozialpolitische Maßnahme damit anzufangen, ein Sanktionsmoratorium einzuführen, statt beispielsweise auf die Inflation zu schauen – was eigentlich das wichtigste Thema der Sozialpolitik wäre –, ist ein Armutszeugnis Ihrer Politik.
({2})
Letzte Rednerin dieser Debatte ist die Kollegin Angelika Glöckner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Mut steht am Anfang …, Glück am Ende.“ Dieses Sprichwort ist mir eingefallen; denn, Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihnen fehlt tatsächlich der Mut, neue Wege zu gehen.
({0})
Das haben Sie in Ihren Reden gerade wieder mehrfach gezeigt.
Fakt ist doch aber: Menschen in sozialen Schieflagen, die Hilfe vom Amt benötigen, versuchen vielfach, schnell wieder auf eigene Füße zu kommen. Je länger sie draußen sind – das ist auch eine Wahrheit –, desto schwieriger ist die Integration am Arbeitsmarkt. Genau an diesem Punkt müssen wir, muss der Staat diesen Menschen Unterstützung gewähren, und die Menschen müssen an diesem Punkt auf den Staat vertrauen können. Dafür wollen wir sorgen.
({1})
Es braucht finanzielle Unterstützung. Es gehört aber auch dazu, alle Möglichkeiten – die Betonung liegt auf „alle Möglichkeiten“ – auszuschöpfen, um langzeitarbeitslosen Menschen wieder eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen.
({2})
Genau darum geht es.
({3})
Wir sind der Meinung, dass wir mehr tun können und mehr tun müssen, als das bisher der Fall war. Es reicht nicht, alles zu lassen, wie es ist, so wie Sie von der Union das immer propagieren.
({4})
Das, was wir tun, hat auch etwas mit Respekt und Würde gegenüber allen Menschen zu tun. Dafür stehen wir von der SPD.
({5})
Mit dem Bürgergeld wollen wir weitere Möglichkeiten schaffen, auch einmal neue Wege gehen. Wichtige Punkte – das haben die Kolleginnen und Kollegen von meiner Fraktion und von anderen Fraktionen schon genannt – wollen wir auf den Weg bringen; Stichworte „Augenhöhe“, „Eingliederungsvereinbarung austauschen durch Teilhabevereinbarung“, „Vorrang von qualifizierten Arbeiten“ und vieles mehr.
Das ist der richtige Weg, den wir gehen wollen. Wir verzetteln uns nicht, wenn wir über das Sanktionsmoratorium sprechen, wie Sie es fälschlicherweise behaupten. Vielmehr geht es darum, dass wir Motivation und Vertrauen statt Frustration schaffen.
({6})
Wenn Menschen nicht mitwirken, dann geht es auch darum, zu fragen: Was sind die Ursachen dafür, dass sie nicht mitwirken?
({7})
Wir wollen die Ursachen beseitigen, anstatt durch Regelsatzkürzungen ihre Situation weiter zu verschlechtern und damit auch ihre Perspektiven für den Arbeitsmarkt zu verschlechtern.
({8})
Ich danke ganz herzlich unserem Arbeitsminister Hubertus Heil und dem BMAS für diesen Gesetzentwurf. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die mitverhandelt haben. Wir werden heute beschließen, dass Sanktionen für ein Jahr ausgesetzt werden. Wir schaffen damit Raum für neue, für moderne Regelungen.
({9})
Und wir gehen hin zu einem modernen Bürgergeld: nach 17 Jahren weg von Hartz IV. Wir sind auf der Höhe der Zeit. Wir wagen Fortschritt. Kommen Sie gerne mit. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Glöckner. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag, wenn wir die Nachrichten verfolgen, sehen wir unfassbares Leid: Familien weinen um ihre Kinder, um Angehörige, um ihre Heimat. Viele wissen nicht, wann und ob sie wieder zu essen bekommen – in der Ukraine, in den Kriegsgebieten, aber auch weltweit.
Wir sehen brennende ukrainische Weizenfelder, zerstörte Lagerhallen, bombardierte Transportwege. Genauso sehen wir aber auch in Indien, im zweitgrößten Anbauland für Weizen, unfassbare Hitzen und Überschwemmungen. Und wir sehen Menschen, die sich am Horn von Afrika auf den Weg in eine neue Heimat machen, weil sie in ihrem Land aufgrund von Dürren sonst verhungern würden. Gleichzeitig sehen wir Börsenpreise für Weizen, die auf den höchsten Stand der Geschichte schnellen.
All diese Bilder sind kaum zu ertragen, und sie lähmen fast meinen Verstand. Aber wir dürfen uns nicht lähmen lassen und einseitig Schnellschüsse machen. Wir müssen alle Krisen zusammendenken – das ist jetzt unsere Verantwortung –, das heißt auch frei von allen fossilen Energieträgern.
({0})
Wir müssen jetzt den Mut haben, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, wie es schon Immanuel Kant anmahnte. Sie aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, schlagen mit der kompletten Aufhebung der Pflicht zur 4-prozentigen Stilllegung eine Rolle rückwärts vor – als gäbe es keine Biodiversitäts- und keine Klimakrise.
({1})
Sie wollen ernsthaft alte Brachen wieder umbrechen, was wiederum einen erheblichen CO2-Ausstoß nach sich ziehen würde?
({2})
Und Sie wollen ernsthaft auf ertragsschwacher Biodiversität massenhaft teuren Dünger verwenden, damit dort minimal Weizen wächst?
({3})
Und Sie wollen ernsthaft die für die Biodiversität so wichtigen Hecken und Landschaftselemente roden lassen,
({4})
den Boden beackern und dann Weizen anbauen? Nein, das würde nicht viel helfen, sondern mehr schaden. Darin waren sich die Experten in der Anhörung auch einig.
({5})
Es gibt ja klügere Lösungen, und die gehen wir bereits an; da bin ich unserer Ministerin auch sehr, sehr dankbar. Wir wollen den Einsatz von Nahrungs- und Futtermitteln für Biokraftstoffe schnell senken, bis 2030 auf null. Bereits 2023 sollen so 1,1 Millionen Hektar Anbauflächen frei werden. Das entspricht 4,2 Millionen Tonnen Weizen.
({6})
Wir haben das Fruchtwechselgebot um ein Jahr verschoben, was wieder mehrere Millionen Tonnen Weizen möglich macht. Und vor allem leiten wir mit der Ernährungsstrategie und dem Umbau der Tierhaltung Langfristmaßnahmen ein; denn wenn wir weniger Fleisch essen, brauchen wir viel weniger Futteranbauflächen. Dazu ist es noch erheblich gesünder.
In Ihrem Antrag lese ich darüber gar nichts.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Fakt ist: Es gab doch vor der Ukrainekrise schon Hungernde: 800 Millionen!
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Lassen Sie uns doch besser jetzt gemeinsam an klugen, integrierten und differenzierten Lösungen arbeiten,
({0})
die die Resilienzfähigkeit der Agrarsysteme insgesamt und auch die Selbstversorgungsquote in den Regionen erhöhen. Dazu lade ich Sie ein.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Spallek. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag der Unionsfraktion, welcher zügiges Handeln und kluge und vorausschauende Überlegungen eng miteinander verbindet, um einer sehr schwierigen Lage gerecht zu werden.
({0})
Der Krieg in der Ukraine, in der Kornkammer Europas, verursacht nicht nur ein Vielfaches an menschlichem Leid, sondern er gefährdet auch die ukrainische Landwirtschaft, und er hat international erhebliche Auswirkungen auf unsere Agrarmärkte. Die bitteren Folgen – darin sind sich alle Beobachter einig – werden wir erst in den nächsten Monaten noch deutlich zu spüren bekommen: blockierte Häfen, Knappheit bei Diesel und Düngemitteln, zerstörte Technik. Die kriegsbedingten Schäden allein im ukrainischen Agrarsektor belaufen sich gegenwärtig bereits auf 6,4 Milliarden US-Dollar, so die Berechnungen der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen.
Die Folgen für die importabhängigen Länder sind noch nicht bezifferbar. Das Getreidedefizit auf den Weltmärkten trifft die Abnehmer im Nahen Osten sowie in Nord- und Ostafrika besonders hart. Libanon, Mauretanien, Tunesien, Dschibuti hängen fast vollständig von den Einfuhren aus der Ukraine ab, Somalia und Eritrea immerhin noch zur Hälfte. Nur wer jetzt sofort entschieden handelt, meine Damen und Herren, der kann der drohenden Hungerkatastrophe noch etwas Substanzielles entgegensetzen.
({1})
Jeder Beitrag zählt. Die Zeit läuft, und sie läuft gegen uns. Die Versorgungskrise kann jedoch durch eine einfache Weichenstellung recht schnell zumindest abgemildert werden. Die Lösung liegt auf der Hand: der sofortige Stopp der Zwangsstilllegung von 4 Prozent unserer Agrarflächen.
({2})
Diese Stilllegungspflicht, meine Damen und Herren, muss überdacht, sie muss aufgehoben werden. Ich sage Ihnen: Sie wird sonst 2023 zur großen Ampelhypothek, zum ideologischen Hemmnis bei der Bekämpfung der Hungerkrise. Eine Flächenfreigabe bedeutet zuallererst, die Versorgung zu stabilisieren, bedeutet zusätzlich, bis zu 1 Million Tonnen Weizen verfügbar zu machen, allein in Deutschland; Europa noch nicht mitgerechnet.
Ja, ich kenne auch Ihre Kritik, der Ertrag – das haben wir gerade gehört – sei doch viel zu gering; ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht würden es nur 600 000 Tonnen sein. – Nein, in der aktuellen Situation müssen wir für jeden Ertrag, jeden Zentner, den wir oben draufsatteln können, dankbar sein,
({3})
gerade wenn er durch eine schnelle Entscheidung erreicht werden kann.
Es geht auch um neue Züchtungsmethoden. Der von der FDP benannte Sachverständige Professor Qaim hat sich in der öffentlichen Anhörung am Montag nach meiner Wahrnehmung nachdrücklich dafür ausgesprochen. Hören Sie einfach auf ihn.
({4})
Doch anstatt alles zu mobilisieren, was machbar ist, um diese Chance zu nutzen, verharrt die Ampelregierung bockig und ignorant in ihrer Schmollecke und will davon nichts wissen. Ihre Verweigerung, Frau Staatssekretärin – der Minister ist ja leider nicht da –, ist falsch. Ungenutzte, zwangsstillgelegte Flächen, also Brachflächen, bei einer Hungerkatastrophe als nicht verhandelbar zu deklarieren, ist nicht nur zynisch gegenüber den Betroffenen in den Entwicklungsländern. Es ist auch ein Angriff auf die humanitären Grundsätze unserer modernen Gesellschaft.
({5})
Uns dann in dieser Sache Unaufrichtigkeit vorzuwerfen, nur weil wir Ihren Job machen und echte Lösungen aufzeigen,
({6})
das verdeutlicht das Ausmaß Ihrer Verzweiflung, mit Ihrem selbstgeschaffenen Dilemma anständig umzugehen. An der Stilllegung in dieser aktuellen Notlage festzuhalten, ist und bleibt unverantwortlich. Andere hungern, Sie legen still, nur um fern vom Hungeralltag in Afrika Ihre abstrakten ökologischen und ideologischen Fantasien zu befriedigen.
({7})
Das kann in unserer aktuellen Situation doch nicht richtig sein, und das wissen Sie auch genau.
Meine Damen und Herren, ich stelle heute hier an diesem Pult abschließend fest: Sie wollen keinen verantwortungsvollen Beitrag leisten; wir schon. Sie wollen ausbremsen; wir wollen beschleunigen.
({8})
Und weil wir jetzt jedes Potenzial nutzen müssen, haben wir Ihnen den passgenauen Antrag hier mitgebracht.
Abschließend noch ein Wort zu Ihrer Moral, zur Weltmoral der Grünen – ich finde, das ist ein ernstes Thema –: Es ist traurig, dass Sie die hungernden Menschen offenbar schon aufgegeben haben. Sie sagen: „Die Freigabe der Flächen bringt sowieso nichts; lassen wir das einfach“ – getreu dem Motto: Die paar Leute, die wir satt machen können, fallen doch nicht ins Gewicht. – Was ist das für ein Menschenbild, meine Damen und Herren?
({9})
Das ist für mich vollkommen unverständlich und offensichtlich auch für Ihre eigenen Wählerinnen und Wähler nicht immer zu ertragen. Bei den Rettungsaktionen im Mittelmeer legen Sie selbst stets allergrößten Wert auf jedes Einzelschicksal. Bei der Hungerkrise dagegen ist es Ihnen vollkommen egal, ob auch nur ein einziger Mensch mehr satt werden kann.
({10})
Kommen Sie zum Schluss bitte.
Diese Doppelmoral, diese boshafte Missachtung Ihrer eigenen Maßstäbe könnte nicht schlimmer sein.
({0})
Sie werden die Verantwortung, meine Damen und Herren, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– für Ihr Unterlassen übernehmen müssen. Wir stimmen heute namentlich ab. Sie können sich alle bekennen, in welches Lager Sie gehören.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Hagl-Kehl, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Putin führt einen Krieg in Europa und verstößt damit nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, sondern er setzt auch Hunger gezielt als Waffe ein und trifft damit die Ärmsten dieser Welt.
Das Welternährungsprogramm schätzt die erhöhte Zahl der Hungernden auf circa 47 Millionen Menschen. Der Antrag der CDU/CSU versucht, das aufzugreifen. Sie fordern unter anderem Maßnahmen im Bereich der Entwicklungshilfe. Ein entsprechendes Sofortprogramm ist bereits auf den Weg gebracht. Sie kommen damit also etwas zu spät. Wir haben ja heute auch die Parlamentarische Staatssekretärin aus dem BMZ hier sitzen; sie kann Ihnen das alles noch mal erklären.
Ich versuche es jetzt auch: Auf dem G-7-Treffen, das gestern gestartet ist, soll der Startschuss für ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit gegeben werden. Außerdem hat die Bundesregierung bereits ein 430-Millionen-Euro-Sofortpaket geschnürt, unter anderem mit dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme, mit Basisdienstleistungen im Bereich Gesundheit und Bildung, Wasserversorgung, Förderung klimaangepasster Landwirtschaft und Ernährungssicherung am Horn von Afrika. Damit verfolgen wir ein Ziel, nämlich nicht dass Deutschland die Welt ernähren muss, sondern dass wir die Welt befähigen, sich selbst zu ernähren.
({0})
In dieses Konzept passt auch die Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“, ausgestattet mit 150 Millionen Euro; damit werden zum Beispiel die Bereitstellung von Betriebsmitteln wie Saatgut und Dünger und die Beratung von Landwirtinnen und Landwirten gefördert. Das Kabinett hat außerdem am 27. April beschlossen, zusätzliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit in Höhe von 1 Milliarde Euro zu bewilligen. Das Parlament berät gerade darüber.
({1})
Aber lassen Sie mich noch auf ein paar Punkte Ihres Antrags eingehen, die Herr Stier gerade so ausführlich erklärt hat, zum Beispiel auf Punkt 13: mehr Pflanzenschutzmittel auf ökologischen Vorrangflächen. Sie glauben anscheinend, die Landwirte wollen das. Dazu nur ein Beispiel: Ich kenne eine ostbayerische Molkerei, die sehr gut exportiert, zum Beispiel einen tollen Mozzarella, und ihren Milchbauern den Einsatz von Glyphosat vor Jahren verboten hat. Vor vier Wochen wurde beschlossen, den Einsatz wieder zu erlauben. Was glauben Sie, was passiert ist? Das führte zu einem Aufschrei unserer Milchbauern und ‑bäuerinnen. Die wollen Glyphosat nicht mehr verwenden. Sie verstehen, welche Motivation hinter dem Vorschlag steckt, nämlich den Milchpreis wieder zu senken. Gleichzeitig kostet Glyphosat zusätzlich Geld, so entstehen Anschaffungskosten.
({2})
Hinzu kommt: Es geht hauptsächlich um Grünland. Der Einsatz von Glyphosat macht also gar keinen Sinn.
In Punkt 18 Ihres Antrags wird – das hat auch Herr Stier genannt – auf moderne Züchtungsmethoden verwiesen. Nennen Sie das Kind doch beim Namen! Es geht um Gentechnik. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland wollen keine Gentechnik. Auch unsere Landwirte lehnen das ab.
({3})
Punkt 20: Ausweitung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung für Saisonarbeitskräfte. Damit kommen Sie jedes Jahr an. Die letzten zwei Jahre war Corona der Grund. Jetzt lautet der Grund: Sonst können die Ernten von Obst, Gemüse und Sonderkulturen nicht eingebracht werden. – Also, Sie wollen mir ernsthaft erklären: Wenn die Saisonarbeitskräfte nach 70 Tagen sozialversicherungspflichtig werden, dann kann man von der Ernte nichts mehr einbringen. – Sie unterstellen den Landwirten, sie hätten zu viel angebaut und dann könne es nicht mehr eingebracht werden. Jedes Jahr kommt eine neue, fadenscheinige Begründung.
Punkt 21 Ihres Antrags. Für Strecken bis 150 Kilometer sollen jetzt Fahrten mit einem Gesamtgewicht von 44 Tonnen erlaubt sein. Dass man sehr viel Diesel braucht, um 44 Tonnen zu bewegen, das weiß ich aus der eigenen Familie, und der Diesel ist ja gerade auch so günstig. Das heißt höhere Energiekosten für die Landwirtinnen und Landwirte. – Dafür haben Sie unter Punkt 22 dann die Lösung: Sie fordern finanzielle Entlastung mit Blick auf die Verteuerung. Dass man damit auch den CO2-Ausstoß fördert, ist Ihnen eigentlich ganz egal. Wir heizen den Klimawandel damit noch einmal an. Nachdem die Erde leider keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, trifft das wieder die Ärmsten der Armen.
({4})
Damit haben Sie das Ziel, das wir alle zusammen eigentlich verfolgen müssten, nämlich die globale Ernährungssicherheit mit Klimaschutz und Biodiversität unter einen Hut zu bringen, total verfehlt. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Frank Rinck, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Wir stehen vor der nächsten großen Krise, einer Krise, bei der die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln auch in Deutschland auf dem Spiel steht und es keinen Platz mehr für ideologische oder weltfremde Fantasien geben kann. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln in unserem Land muss sichergestellt sein.
({0})
Die AfD fordert eine pflanzengerechte Düngung, um möglichst hohe Erträge von guter Qualität auf unseren heimischen Feldern zu erzeugen.
Meine Damen und Herren, dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber leider war die Politik in diesem Hohen Haus in den letzten Jahren und besonders seit der Bildung der Ampelregierung eher darauf bedacht, unsere Bauern zur Aufgabe ihrer Betriebe und Höfe zu bewegen und unsere Landwirtschaft abzubauen.
({1})
Damit muss nun Schluss sein! Wir können uns so eine verantwortungslose Politik nicht länger leisten. Wir müssen die Versorgung unserer Bevölkerung sicherstellen, und darüber hinaus müssen wir auch in der Lage sein, wirtschaftlich schwächere Länder mit Nahrungsmittelexporten zu unterstützen, um Fluchtbewegungen nach Europa vorzubeugen.
({2})
Dies erfordert, wie in unserem Antrag beschrieben, eine intensive Landwirtschaft mit pflanzengerechtem Düngereinsatz – und keine Mangel- und Unterversorgung, wie es die Regierung anstrebt. Eine weitere Verringerung unserer Produktion würde zudem die Preise zulasten der Bevölkerung weiter ansteigen lassen. Bei der derzeitigen Inflation ist dies kaum noch tragbar für die Menschen in unserer Heimat.
Zum Antrag der CDU/CSU sei gesagt, dass wir bei diesem mitgehen können. Es wäre schön gewesen, liebe Kollegen, wenn Sie mehr auf solche Punkte wie beispielsweise Punkt 11 eingegangen wären, wo Sie fordern, dass die Stilllegung von 4 Prozent der Agrarflächen, die ab 2023 gelten soll, aufzuheben ist. Dies haben Sie jetzt leider nicht getan. Aber in Anbetracht der Lage ist dieser Punkt genau richtig, und darum unterstützen wir Ihren Antrag.
Das Thema Dünger ist bei Ihnen leider ein bisschen untergegangen. Darum haben wir einen Antrag beigestellt. Zum Glück sind wir in diesem Haus vertreten. Vergangenen Montag wurde in der öffentlichen Anhörung ganz klar, dass wir im Bereich der Düngerversorgung ein großes Defizit zu erwarten haben und dass die Bundesregierung ihre Hausaufgaben auch dort wieder einmal nicht macht. Der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands Herr Hemmerling legte sehr eindrucksvoll dar, dass die Nährstoffversorgung in Deutschland nicht allein mit organischem Dünger gewährleistet ist und dass die Mineraldüngerversorgung kritisch sei. Es ist völlig klar, dass wir auf die Experten hören sollten und unmittelbar die Versorgung mit Dünger sicherstellen müssen, so wie in unserem Antrag gefordert.
({3})
Werte Kollegen aus der Regierung, kümmern Sie sich um die Düngerversorgung und um zuverlässige Lieferanten, da aus Russland und der Ukraine nicht mit Mineraldünger zu rechnen ist. Wir müssen unsere Landwirtschaft krisenfest machen, und das nicht irgendwann, sondern jetzt.
({4})
Herr Minister – Sie sind leider nicht anwesend; aber ich gehe einmal davon aus, dass Sie dieser Debatte aus der Ferne folgen –, überdenken Sie außerdem bitte, wie Sie mit unseren Landwirten umgehen. Unsere Bauern sind keine radikalen Ränder, sondern die Mitte der Gesellschaft und garantieren unsere Versorgung mit Lebensmitteln. Die deutschen Landwirte haben die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen, sondern haben eine fundierte, praxisbezogene Ausbildung gemacht. Ich fordere unseren Bundeslandwirtschaftsminister hier und heute auch auf, sich bei den Landwirten, die er da beschimpft hat,
({5})
zu entschuldigen und sich in Zukunft lieber mit den wirklichen Problemen der deutschen Landwirtschaft zu beschäftigen, anstatt unsere Landwirte zu beschimpfen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ingo Bodtke, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Krieg in der Ukraine hat uns schlagartig die Schwachstellen und Abhängigkeiten bei der Lebensmittelversorgung vor Augen geführt: Ertragsausfälle in der Kornkammer Ukraine, explodierende Lebensmittel- und Düngerpreise, ausufernde Energiekosten, der Flaschenhals Transportweg. In der öffentlichen Anhörung des Agrarausschusses am Montag haben uns die Experten die dramatischen Folgen dieser Krise sehr deutlich vor Augen geführt. Das Ergebnis der Anhörung war unstreitig: Wir brauchen mittel- und langfristig höhere Erträge auf den nur begrenzt verfügbaren Ackerflächen.
({0})
Aber Ertragssteigerungen dürfen nicht zulasten der Umwelt – durch den Einsatz von mehr Dünger und mehr Pflanzenschutzmitteln – erfolgen. Wir müssen Produktivität, Versorgungssicherheit und Umweltfreundlichkeit zusammenbringen.
({1})
Dieser Spagat gelingt nur dann, wenn wir auch unsere technischen Errungenschaften sinnvoll nutzen.
Als FDP stehen wir für Technologieoffenheit und Innovationen. Deshalb setzen wir auch auf grüne Biotechnologie in der Landwirtschaft. Mithilfe von neuen Züchtungsmethoden können wir die Landwirtschaft deutlich ertragreicher und umweltfreundlicher machen. Wir müssen die Potenziale der Gentechnik für eine effiziente Produktion mit weniger Einsatz von Chemie nutzen.
({2})
Deutschland als einer der wichtigsten Industrie- und Biotechnologiestandorte könnte damit einen wichtigen Beitrag zu einer effizienten und gleichzeitig nachhaltigen Lebensmittelproduktion leisten. Diese Technologieoffenheit und Weitsicht in Bezug auf zukunftsweisende Innovationen vermisse ich im vorliegenden Unionsantrag.
({3})
Erlauben Sie mir noch einen Hinweis: Die gängige Bezeichnung „Genmanipulation“ wird dieser zukunftsweisenden Technologie nicht gerecht.
({4})
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Vielmehr sollten wir von „Genoptimierung“ reden.
Den Unionsantrag lehnen wir ab.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Bodtke. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Latendorf, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Welthungerhilfe sagt:
Bis zum Jahr 2030 kann und soll der Hunger weltweit beendet werden. … Eine ungerechte Verteilung von Ressourcen steht diesem Ziel bisher im Wege. … Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen ihr Zusammenspiel verbessern … Bis zu 811 Millionen hungernde Menschen haben ein Recht darauf.
({0})
Davon sagt der Antrag der Unionsfraktion nichts.
Klar ist: Die unzureichende weltweite Nahrungsmittelversorgung wird sich durch den Krieg in der Ukraine weiter dramatisch verschärfen. Aber die generelle Krise der Welternährung ist nicht neu. Regionale Struktur und damit die regionale Versorgung sind in vielen Bereichen zerstört worden. Deutlich sichtbar ist das dort, wo Menschen hungern, aber auf den Feldern statt Hirse und Mais Rosen für die Supermärkte in Europa wachsen. Und was ist die Ursache? Profitgier. Das haben die Regierungen der letzten Jahrzehnte mitgemacht und zu verantworten.
({1})
Die Sachverständigen haben dies in der Anhörung am Montag aus meiner Sicht ganz deutlich bestätigt. Es wurde nach der Krise 2008 so weitergemacht wie zuvor und nichts geändert.
Fakt ist: Vor der Pandemie war die Zahl hungernder Menschen laut FAO anhaltend hoch. Die Hauptursachen hierfür sind Armut, soziale Ungleichheit, Kriege, gewaltsame Konflikte sowie die Klimakrise. Schon vor Ausbruch des Krieges waren 10 Prozent der Weltbevölkerung unterernährt. Jeder dritte Mensch hatte keinen Zugang zu gesunder Ernährung. Schuld daran ist, global gesehen, aber nicht eine zu niedrige Produktion, sondern der mangelnde Zugang. Die Einkommen sind einfach zu niedrig, und es gibt große Einkommensunterschiede. Es fehlt also soziale Gerechtigkeit.
({2})
Der börsengetriebene erhebliche Preisanstieg bei Lebensmitteln wird den Hunger in den ärmsten Regionen der Welt verschärfen. Die durchschnittliche Verteuerung von Lebensmitteln lag von März zu April 2022 bereits bei 30 Prozent. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat aber nichts mit Angebot und Nachfrage zu tun; denn noch ist das Angebot da.
({3})
Die hungernden und von Hunger bedrohten Menschen in dieser Welt werden gewiss nie verstehen, wie man auf eventuelle Preisentwicklungen von Lebensmitteln Wetten abschließen kann, um Gewinn zu erzielen. Das ist eine perverse Form der Spekulation.
({4})
Maßnahmen zur Eindämmung der aktuellen Preis- sowie der Ernährungskrise dürfen nicht gegen Klimakrise und soziale Ungleichheit ausgespielt werden. Aber gerade das lese ich im vorliegenden Antrag. Es geht um die Welternährung, aber Sie blicken nur auf die europäische und die deutsche Landwirtschaft, ohne wirklich nachhaltige globale Lösungen anzubieten. Das ist kurzsichtig.
({5})
Die Stärkung von regionalen Wirtschaftskreisläufen in den von Hunger betroffenen Regionen ist notwendig, um das Ziel zu erreichen: 2030 darf es keinen Hunger auf der Welt mehr geben.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Latendorf. – Als Nächstes erhält das Wort die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich, obwohl ich gar nicht vorhatte, so richtig auf einzelne Redebeiträge einzugehen, auf Herrn Stier konzentrieren, sozusagen den Stier bei den Hörnern packen.
({0})
Sie haben ja in einem sehr emotionalen, empathischen Ton über Moral geredet. Aber mir hat etwas gefehlt. Warum ist in Ihrem Redebeitrag, Herr Stier, mit keinem Wort die zweite Enzyklika des Papstes Franziskus von 2015, „Laudato si“, erwähnt worden?
({1})
Das „gemeinsame Haus“, warum haben Sie darüber nicht geredet?
({2})
Ich sage Ihnen, warum: weil Sie, wenn Sie 2015 erwähnt hätten, hier sofort an dieser Stelle hätten erklären müssen, was Sie aus diesem gemeinsamen Haus, diesem „Laudato si“ nicht gemacht haben. Sorry!
({3})
2021 hatten fast 200 Millionen Menschen akuten Hunger. Das ist Krisenniveau! Was haben Sie 2021 gemacht? Wo waren Sie? Wo waren Ihre Aktivitäten? Im Zuge der Coronakrise haben zusätzlich 320 Millionen Menschen kein gesundes Essen gehabt. 163 Millionen Menschen haben weniger als 5 Dollar am Tag verdient; durch den Krieg sind noch mal 47 Millionen dazugekommen. Ich habe vermisst, dass Sie gesagt haben, was Sie getan haben; dann hätten Sie uns vorschlagen können, Ihre gute Arbeit fortzusetzen. Aber da ist nichts fortzusetzen, Herr Stier.
({4})
Ja, wir wissen seit Langem – das muss man sagen –: Durch Konflikte, Wetterextreme, Klima- und Wirtschaftskrisen wird Hunger ausgelöst, und er bleibt nachhaltig bestehen. – Hätten Sie doch mal was gemacht! Stattdessen reden Sie hier am Ende unter dem Vorwand, sich um die Welternährung von vielen Millionen Menschen zu sorgen, über ein Belastungsmoratorium, benennen die ökologischen Vorrangflächen, deren Klima- und Biodiversitätsauswirkungen Betriebsgrundlagen der Bauern sind – ich erkläre das insbesondere für die Jüngeren –, in „Stilllegungsflächen“ um und behaupten dann noch, dass das bisschen Bewirtschaftung von Gewässerrandstreifen den Welthunger beseitigen würde. Absurd!
({5})
Warum hat denn Ihre Ministerin Klöckner den Strategieplan für die nächste GAP genau so verabschiedet? Fragen Sie doch Frau Klöckner, warum da 4 Prozent ökologische Vorrangflächen vorgesehen sind! Und das war auch noch ein fauler Kompromiss, Herr Stier.
({6})
Ich will Ihnen sagen: Wir haben nichts zu verschenken. Ich weiß, dass der DBV gesagt hat, der Vorschlag von Cem Özdemir zum Thema Weizenfruchtwechsel bringe viel mehr. Lassen Sie uns den globalen Hunger wirklich bekämpfen! Es gibt dazu Krisenreaktionspläne; das AA, das BMZ und das Landwirtschaftsministerium arbeiten zusammen. Wir geben 430 Millionen Euro an der Stelle aus.
Auch wenn Sie manches schlechtreden und am Ende den Einsatz von noch mehr Chemie fordern, sage ich Ihnen: Sie haben in diesem Haus für Ihren Herrn Minister Müller einen großen Antrag eingebracht, der fordert, Hunger und Armut weltweit durch Agrarökologie zu bekämpfen. Warum reden Sie dann heute vom Gegenteil?
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Künast. – Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Mein Herr Lieblingspräsident! – Ja, wir haben nur einen; das stimmt schon.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute wieder eine erhitzte Debatte; denn der Hunger in der Welt rückt mehr ins Blickfeld der Bürgerinnen und Bürger. Frau Kollegin Künast, da Sie ausgeführt haben, dass es nicht mehr Produktion geben soll, frage ich Sie: Wie wollen Sie den heraufziehenden zusätzlichen Hunger in der Welt aufgrund des Krieges in der Ukraine bekämpfen?
({1})
Den bekämpfen wir nicht mit zusätzlichem Geld für die Welthungerhilfe, sondern den Hunger in der Welt bekämpfen wir dadurch, dass wir das Angebot erhöhen, indem wir die Weizenerzeugung steigern.
({2})
Nur Weizen beinhaltet Kilokalorien zur Ernährung – und nicht das Geld. Das muss man mit betrachten.
({3})
Von daher gilt es, die Produktion anzukurbeln. Aber das ist bei Ihnen ständig in der Kritik.
Die ganze Europäische Union ist hier in der Verantwortung; denn aufgrund des Krieges in der Ukraine und weil die Häfen durch Russland blockiert werden, kann die Ukraine Weizen nicht mehr nach Nordafrika exportieren. Es hat sich jetzt herausgestellt, dass möglicherweise 10 bis 12 Millionen Tonnen weniger Weizen in die armen Länder zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung angelandet werden können.
({4})
Das bedeutet, dass die Europäische Union hier einen Ausgleich schaffen muss.
Und: Die Europäische Union ist bereit. Sie hat die ökologischen Vorrangflächen für den Anbau von Getreide und Weizen freigegeben. Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, das sich hier verweigert hat. Das ist unverschämt gegenüber den hungernden Menschen in der Welt.
({5})
Dasselbe, Frau Künast, gilt auch für die 4 Prozent Flächenstilllegung. Wir arbeiten daran – und es muss daran gearbeitet werden –, dass diese 4 Prozent Flächenstilllegung nächstes Jahr nicht ermöglicht wird, und die Europäische Union – davon bin ich überzeugt – ist dazu auch bereit. Deutschland ist hier aber der große Hemmschuh, weil Sie letztendlich einer verkehrten Ideologie nachhängen und dementsprechend nicht bereit sind, den Hunger in der Welt und im Nahen Osten zu bekämpfen.
Wir wollen diese Flächen in Deutschland freigeben. Sie verniedlichen ständig, was dadurch produziert werden kann. Es können dann 1 Million Tonnen Weizen produziert werden, nur von Deutschland; das sind 10 Prozent des Ausfalls. Das bedeutet Ernährung für 5 Millionen Menschen. Die sind Ihnen wohl gleich. Ich sage es ganz offen: Das, was Sie hiermit betreiben, ist unverschämt, unethisch und unmoralisch.
({6})
Deshalb plädieren wir dafür, dass dieser Anbau getätigt wird, weil es wichtig ist, den Hunger in der Welt zu bekämpfen.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Wunderbar.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Kollege Straubinger, danke, dass Sie die Frage zulassen. Sie haben gerade von Verniedlichung und von den Hungernden der Welt gesprochen. Beim Zweiten sind wir bei Ihnen.
Aber jetzt frage ich Sie: Warum um alles in der Welt reden Sie dann nicht über die Flächen, die heute genutzt werden, um Agrosprit herstellen zu können – 8 bis 9 Prozent unserer Erzeugung –, und die wir für den Anbau von Lebensmitteln freigeben könnten? Und warum reden Sie nicht über die Flächen für die Erzeugung von Getreide, das in den Futtertrog geht – 60 Prozent unserer Getreideerzeugung –, die wir für die Erzeugung von Lebensmitteln freigeben könnten? Es kann doch nicht angehen, dass wir gutes Getreide in den Futtertrog kippen, statt es den Hungernden dieser Welt zu geben.
({0})
Lieber Herr Kollege Ebner, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Fragen, weil ich dazu jetzt auch noch einige Ausführungen tätigen kann. – Ihre Kollegin Frau Spallek hat mit ihren einführenden Worten gesagt: Wir wollen frei sein von fossilen Energieträgern.
({0})
Gleichzeitig wollen Sie jetzt den Biosprit verbieten, nachdem die frühere Landwirtschaftsministerin Künast mal dargelegt hat, dass die Bauern die zukünftigen Ölscheichs sein werden. Also, was wollen Sie? Was wollen Sie?
({1})
Ich glaube, die Beimischung ist ein wichtiges Element, um die Fahrzeuge CO2-sparsam zu betreiben. Abgesehen davon hat dies einen wesentlich höheren CO2-Einspareffekt als Ihr vielgepriesenes Tempolimit auf den Autobahnen. Das muss man dabei auch sehen. Wir haben hier also beste Chancen, und es ist auch weiterhin wichtig, die Beimischung zu tätigen.
Abgesehen davon: Sie können nicht behaupten, dass alle Pflanzen für die Ernährung wichtig sind. 4,9 Millionen Hektar Wiese und Grasland in unserem Land ermöglichen Fleischproduktion durch Rinderhaltung.
({2})
Für die zusätzliche Ernährung der Rinder braucht man auch Getreide, Herr Kollege Ebner. Darum: Hören Sie deshalb auf mit der unnützen Diskussion „Teller oder Tanke?“ bzw. „Teller oder Trog?“. Das kann es doch wirklich nicht sein, sondern es ist wichtig, dass hier die landwirtschaftliche Produktion auf einen hohen Level gehoben wird. Das trägt dazu bei, den Hunger in der Welt zu bekämpfen.
({3})
Deshalb fordern wir, dass zukünftig auch die angedachten Stilllegungsflächen bewirtschaftet werden können.
Frau Spallek, das, was Sie ausgeführt haben, finde ich, gelinde gesagt, wirklich einfach eine Falschdarstellung.
({4})
Sie haben dafür plädiert, dass diese Flächen nicht freigegeben werden. Das sind aber keine Flächen mit Hecken und Sonstigem, sondern das sind Flächen, die derzeit in der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung sind.
({5})
Sie zeichnen ein falsches Bild gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, und das ist infam. Mit dieser Darstellung geht es nicht weiter.
({6})
Deshalb empfehle ich Ihnen, viele Mittel, aber gleichzeitig auch die entsprechende Ware, die damit gekauft werden kann, dem Welternährungsprogramm zu geben, um den Hunger in der Welt tatsächlich zu bekämpfen.
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Straubinger. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sylvia Lehmann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, letzte Woche habe ich – ich gebe das zu – mit ein wenig Bedauern Ihren Antrag zur zusätzlichen Aufstockung des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt abgelehnt. Nun legen Sie uns einen Antrag zur Ernährungssicherheit vor. Ihr Antrag trägt die Sorge der Nahrungsmittelversorgung. Wir alle teilen diese Sorge.
Beim flüssigen Lesen des Antrages beschleicht mich allerdings die Sorge – eben auch eine Sorge –, dass Sie vieles wollen, nur keine Entwicklung. Mein Eindruck ist, mit dem Antrag benutzen Sie die Krise, um Transformationsprozesse rückgängig zu machen – genau die Prozesse, die Ihre Fraktion auch in den letzten Jahrzehnten ausgebremst hat. Insofern klingt es schon mutig, wenn Sie nun von der jetzigen Bundesregierung eine krisenfeste europäische und deutsche Landwirtschaft fordern.
Am Montag gab es zu diesem Antrag eine Anhörung mit Experten im Fachausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Bis auf einen waren sich alle einig, dass die meisten Ihrer Forderungen zu kurz greifen. Anschließend haben Sie uns in Ihrer Pressemitteilung vorgeworfen, ausgerechnet die Ampelregierung würde die agrarpolitische Zeitenwende verhindern. Entweder waren Sie auf einer anderen Veranstaltung, oder die Anhörung lag und liegt Ihnen schwer im Magen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Sachverständigen stimmten darin überein, dass die globale Ernährungskrise bereits lange vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine bestand, dass die Ursachen für Hunger in der Welt nicht zu geringe Agrarerträge, sondern bewaffnete Kriege, Klimawandel, Armut und Ungleichheit sind, dass der Ukrainekrieg vor allem ein Preiskrieg mit Profiteuren ist, gegen den eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion rein gar nichts ausrichten kann, dass wir die Nutzung von Getreide als Biotreibstoff und Futtermittel reduzieren müssen, dass wir Spekulationen auf Lebensmittelpreise durch Sanktionen, Strafen und Transparenz entgegenwirken müssen, dass wir die Abhängigkeit ärmerer Länder von unseren Exporten reduzieren und ihnen einen höheren Selbstversorgungsgrad ermöglichen müssen und dass wir vor allem die Biodiversität weltweit steigern müssen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhörung hat uns eines gelehrt: Die Debatte zur Welternährung müssen wir viel breiter führen. Hierbei geht es nicht nur um den Anbau von Weizen oder Roggen, und angesichts der Komplexität erscheint mir die Diskussion des Ja oder Nein zur Freigabe der 4 Prozent Brachflächen für das Thema einfach verfehlt. Da Brachflächen wichtige Funktionen für den Wasserhaushalt sowie für Flora und Fauna erfüllen, wäre der biologische Schaden hier größer als der agrarökonomische Nutzen, so die Experten.
({2})
Selbstverständlich nehmen wir in der Koalition die weltweite Lage infolge des Angriffskrieges gegen die Ukraine sehr ernst. Neben direkten Hilfen für alle vom Krieg betroffenen Menschen setzen wir uns auch für eine wirksame Sicherung der globalen Nahrungsmittelversorgung ein.
Die Bundesregierung hat bereits auf die Verknappung von Futtermitteln, insbesondere im ökologischen Bereich, reagiert. Dieses Jahr darf der Aufwuchs auf ökologischen Vorrangflächen für Futterzwecke genutzt werden. Sogar der Deutsche Bauernverband lobte zudem die Aussetzung der Pflicht zum Fruchtwechsel für ein Jahr. Es sei die entscheidende, weil schnell wirkende große Maßnahme zur globalen Versorgungssicherung, da auf guten Standorten die Bodenqualität nicht leidet, wenn Weizen zweimal nacheinander angebaut wird. Ich empfehle Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, einfach noch mal in die Anhörung reinzuschauen. Der Bundestag bietet das an.
({3})
Die Beschlüsse der G 7 vom 14. Mai sind in ihrer Konsequenz wesentlich weitreichender als Ihre Forderung im Antrag,
({4})
und die Debatte hat das – mir jedenfalls – wieder mal sehr deutlich gemacht.
Wir lehnen Ihren Antrag ab, und wir werden unseren Transformationsprozess fortsetzen, weil wir das tun müssen.
Ich danke.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lehmann. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Gero Hocker, FDP-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage hier an dieser Stelle für meine Fraktion ganz unumwunden, dass wir es für falsch halten, an dem festzuhalten, was unter anderem auch die von der CDU/CSU getragene Bundesregierung der letzten Legislaturperiode mitverhandelt hat, nämlich 4 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen stillzulegen.
({0})
Das halte ich in Friedenszeiten für falsch. Das halte ich in Kriegszeiten erst recht für falsch.
Deswegen sage ich Ihnen auch erstens ganz ausdrücklich, dass sich die Koalitionäre in dieser Frage nicht einig sind und dass wir als Freie Demokraten noch Überzeugungsarbeit leisten müssen. Aber mir ist es deutlich lieber, wenn die Menschen da draußen erkennen, wo die einzelnen Schwerpunkte und vielleicht auch manchmal die Meinungsunterschiede liegen. Das ist besser als ein Wischiwaschi, wo man meint, über alles sozusagen den Deckmantel des Schweigens auszubreiten. Es ist richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass hier an dieser Stelle auch einmal Unterschiede deutlich werden, damit die Menschen wissen, bei wem sie bei welcher Position sind.
({1})
Zweitens will ich an dieser Stelle eins mal ganz deutlich sagen: Es hat in den letzten sechs Monaten seit Bestehen dieser Bundesregierung nicht einen einzigen gesetzgeberischen nationalstaatlichen Alleingang gegeben, und das ist ein wohltuender Kontrast zu Insektenschutzpaketen, zu Nutztierhaltungsverordnungen und zu vielen anderen Initiativen der letzten Wahlperiode,
({2})
die immer nur einen Effekt hatten, und zwar, die Produktionsstandards innerhalb Europas zulasten der Landwirte in Deutschland zu verschieben. Es ist gut und es ist richtig, dass diese Politik endlich ein Ende hat, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Drittens. Wir werden in den kommenden dreieinhalb Jahren das Baugesetzbuch endlich überarbeiten, weil es doch nicht sein kann, dass es Betriebe da draußen gibt, die gerne investieren möchten, Kommunen aber überhaupt nicht in der Lage sind, eine Genehmigung zu erteilen. Auch das ist das Ergebnis der letzten 16 Jahre.
Meine Damen und Herren, wir werden Planungs- und Investitionssicherheit schaffen. Wir werden endlich eine europaweite Haltungs- und Herkunftskennzeichnung einführen, weil es doch nicht sein kann, dass sich der Verbraucher immer wieder so gerne hinter dem Argument versteckt, er könne ja nicht erkennen, wo das Tier gehalten worden sei, wo es geschlachtet worden sei und wie es verarbeitet worden sei. Zur Wahrheit und Klarheit gehört auch dazu, dass hierüber endlich Transparenz hergestellt wird und dass der Verbraucher, der die Hauptverantwortung trägt, sich nicht mehr hinter dem Argument verstecken kann, er wüsste gar nicht, wo das Lebewesen gelebt habe und wo es geschlachtet worden sei.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist in diesem Hause und auch draußen, glaube ich, niemandem verborgen geblieben – auch die heutige Debatte zeigt das sehr deutlich –, dass die Union – das meine ich jetzt wirklich konstruktiv in Ihre Richtung – noch mit sich ringt, welche Rolle sie in der Landwirtschaftspolitik in der Opposition einnehmen soll. Das meine ich jetzt nicht despektierlich. Aber Sie müssen für sich die Entscheidung treffen, ob Sie konstruktiv bestimmte Dinge, die ich eben vielleicht ausgeführt habe, begleiten wollen, ob Sie im Interesse unserer Landwirtschaft konstruktiv mitarbeiten wollen, oder ob Sie weiterhin mit verschränkten Armen in der Ecke sitzen und darüber frustriert sein wollen, dass Sie das, was ich eben aufgezählt habe, in 16 Jahren nicht hinbekommen haben.
Vielen Dank.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 Milliarde Euro für die Pflege, dieser Bonus ist ein starkes Zeichen der Anerkennung für alle, die in den letzten zwei Jahren in Krankenhäusern, in Altenheimen und in der ambulanten Pflege Außerordentliches geleistet haben.
({0})
Es ist bereits der dritte Pflegebonus, den wir in dieser langen und harten Pandemiezeit beschließen. Ganz besonders geht diesmal das Zeichen des Dankes an die Intensivpflegekräfte, die uns erneut durch einen harten Coronawinter gebracht haben und nun einen Bonus von bis zu 2 500 Euro erhalten werden. Ich freue mich, dass diese Initiative der Ampelkoalition, dass dieses starke Zeichen der Anerkennung heute von einer breiten Mehrheit mitgetragen wird.
({1})
1 Milliarde Euro – das ist viel Geld, aber doch nicht so viel, um über die Pflege hinaus auch anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen einen öffentlichen Bonus zahlen zu können. Umso mehr freuen wir uns als SPD, dass es im parlamentarischen Verfahren gelungen ist, die Steuerbefreiung auch auf Bonuszahlungen an andere Berufsgruppen auszuweiten. Das gilt allen voran für die Beschäftigten in der Eingliederungshilfe. Ihre Arbeitgeber und auch Ärzte und Rettungsdienste sind jetzt gefragt, den großen Einsatz ihrer Beschäftigten unter Coronabedingungen mit einer Prämie zu belohnen. Wir haben dafür gesorgt, dass solche Prämien sogar bis zu 4 500 Euro steuerfrei ausgezahlt werden können; denn das haben Rettungssanitäter, die Medizinischen Fachangestellten und viele andere Beschäftigte im Gesundheitswesen verdient.
({2})
Was wir heute zusätzlich regeln: Wir sorgen für die rechtssichere Umsetzung eines echten Meilensteins in der Pflege; denn ab Herbst werden Tarifverträge zum Standard für die Entlohnung in der Langzeitpflege.
({3})
Wie dringend notwendig dafür ein politischer Impuls ist, das zeigt die erste Auswertung der bisher gemeldeten Vergütungen: Nur 32 Prozent der Pflegeheime und ambulanten Dienste zahlen nach Tarif. Unser politischer Wille ist es, eine Aufwärtsspirale in der Bezahlung der Altenpflege anzustoßen. Und darum gilt mit dem heutigen Beschluss: Einrichtungen, die weiterhin keinen eigenen Tarifvertrag abschließen, müssen sich stattdessen an der durchschnittlichen tariflichen Bezahlung der Region orientieren, müssen pflegetypische Zulagen zahlen und auch alle künftigen Steigerungen der Tariflöhne mitgehen. Damit sorgen wir für die notwendige Aufwärtsentwicklung bei den Löhnen und Gehältern in der Altenpflege. Das ist dringend nötig,
({4})
um die Lohnlücke zwischen der Langzeitpflege und der Krankenhauspflege zu schließen, und das ist dringend nötig, um mehr Menschen für diese so wichtigen Berufe zu gewinnen.
Ja, gute Bezahlung, die verdient die Pflege. Aber Geld ist nicht alles. Alle, die in der Pflege arbeiten, haben es vor allem verdient, dass wir alles dafür tun, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.
({5})
Deshalb werden wir für ordentliche Personalschlüssel in den Krankenhäusern und in der Altenpflege sorgen. Darum werden wir ein Brückenbauprogramm entwickeln, um diejenigen zurückzugewinnen, die der Pflege wegen schlechter Arbeitsbedingungen den Rücken gekehrt haben.
Und ja, Pflege hat es auch verdient, endlich mit ihrer ganzen Erfahrung und Expertise ernst genommen zu werden.
({6})
Eine gute Gesundheitsversorgung geht nicht ohne die Profession Pflege, und deshalb ist es an der Zeit, dass ihre Vertreter in den Gremien der Selbstverwaltung endlich voll anerkannt mitreden, mitwirken und mitbestimmen können.
({7})
Dafür brauchen sie natürlich auch die finanzielle Ausstattung. Dafür werden wir sorgen.
Nicht zuletzt: Pflege verdient eine gute, solide und solidarische Finanzierung. Diese Anliegen haben wir uns als Ampel im Koalitionsvertrag vorgenommen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir als SPD alles tun werden, um diese Vorhaben mit Nachdruck voranzubringen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD, Sie erinnern sich doch sicherlich noch an die großen Lettern auf den Wahlplakaten der Bundestagswahl 2021, auf denen immer das Wort „Respekt“ prangte. Sie erinnern sich mit Sicherheit auch an die zahlreichen Erwähnungen des Wortes „Gerechtigkeit“ in Ihrem Wahlprogramm. Bei der Gesetzesvorlage, mit der wir uns heute beschäftigen, will ich gerne mal diese beiden Aspekte beleuchten und fragen, ob sie diesen Anforderungen gerecht wird. Mein Urteil lautet bereits an dieser Stelle: Nein – jedenfalls nicht für beide Aspekte.
Sie heben maßgeblich darauf ab, dass der Pflegebonus mit einem Geldbetrag von 1 Milliarde Euro ausgestattet wird. Aber der Geldbetrag alleine macht weder den Respekt noch die Gerechtigkeit aus. Wir haben in den letzten zwei Jahren von dieser Stelle immer wieder und vollkommen zu Recht den Pflegekräften in Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen unseren Respekt und unseren Dank gezollt. Das war richtig, das war wichtig, und das ist unverändert fortzusetzen.
({0})
Es hat aber auch zu Recht die Überlegung eingesetzt, dass alleine immaterielle Güter zum Zwecke des Dankes nicht ausreichen, sondern dass auch eine materielle Kompensation, ein Bonus, erforderlich ist, um dieser Wertschätzung Ausdruck zu verleihen. Es ist aus unserer Sicht richtig und wichtig gewesen, grundsätzlich über einen Pflegebonus nachzudenken.
Was aber nicht richtig ist, weil es unvollständig ist, ist die Tatsache, dass in diesem Pflegebonusgesetz wesentliche Gruppen überhaupt keine Erwähnung gefunden haben und jetzt einige nicht berücksichtigt werden, die es verdient hätten. Auf unsere Intervention hin sind neben den fest beschäftigten Pflegekräften auch die Leiharbeitnehmer und die Rotes-Kreuz-Schwestern berücksichtigt worden. Da haben Sie gerade noch die Kurve gekriegt. Aber bei den ebenfalls im Gesundheitssystem so wichtigen Hilfskräften, nämlich den Medizinischen Fachangestellten, den Zahnmedizinischen Fachangestellten und den Beschäftigten im Rettungsdienst, kommt eine gleichermaßen wichtige Aufgabenstellung in der Pandemie zu,
({1})
und die Gerechtigkeit gebietet es, die ebenfalls mit einem staatlichen Bonus und nicht nur mit einem Steuerfreibetrag zu belohnen und so unseren Respekt zu zollen.
({2})
Wir werden selbstverständlich dennoch diesem Pflegebonusgesetz zustimmen. Aber wir sind unverändert der Meinung, dass es unvollständig ist. Sie haben heute Nachmittag durchaus die Gelegenheit, Ihren Fehler zu korrigieren. Zeigen Sie Größe und keine Kleingeistigkeit, nur weil dieser gute Ergänzungsvorschlag von der Opposition kommt.
Auf einen Punkt aus unserem Antrag will ich an dieser Stelle noch hinweisen: Wir haben angeregt, dass die Berufsausbildung der Medizinischen Fachangestellten novelliert, reformiert und weiter qualifiziert werden soll. Auch das ist ein Zeichen des Respektes gegenüber dieser Berufsgruppe: ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Einkommens- und Aufstiegschancen zu verbessern und auf diese Art und Weise mehr Erfüllung und auch Systemrelevanz in ihrem Tätigkeitsbereich zu erwirtschaften, zu erringen und auf diese Art und Weise weiterhin zur Stärkung unseres Gesundheits- und Versorgungssystems beizutragen. Auch das ist leider mit nur einem Federstrich vom Tisch gewischt worden. Deshalb noch mal unser ausdrücklicher Aufruf: Zeigen Sie Respekt und Gerechtigkeit in dieser Maßnahme! – Dafür müssen diese Berufsgruppen auch entsprechend gewürdigt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kippels. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute den Pflegebonus als Anerkennung für besondere Leistungen in der Covid‑19-Pandemie für alle Pflegekräfte, besonders für die Intensivpflegekräfte, aber auch für diejenigen, die in Leiharbeit arbeiten oder in Krankenhäusern in den letzten Jahren eine unglaubliche Arbeit im Interesse der Patientinnen und Patienten in den Pflegeheimen geleistet haben.
Uns ist aber auch klar, dass ein einmaliger Bonus nicht die Lösung ist. Deswegen sorgen wir dafür, dass die Bezahlung entsprechend Tarif endlich auch in der Langzeitpflege zu Gehaltssteigerungen führen wird, und wir gehen damit auch den ersten Schritt zur Erfüllung des Versprechens der Anpassung der Gehälter in der Altenpflege an die Gehälter in der Krankenpflege.
({0})
Wir kümmern uns mit diesem Gesetz auch um die pflegenden Angehörigen. Die pandemiebedingten Sonderregelungen werden bis Ende des Jahres verlängert. Besonders möchte ich hier die 20 Pflegetage, die Angehörige nehmen können, und die flexiblen Arbeitszeiten hervorheben, die gerade für berufstätige pflegende Angehörige von großer Bedeutung sind. Die Sonderregelung zu Beratungsbesuchen wird sogar ins Dauerrecht überführt. Meine Damen und Herren, damit erleichtern und entlasten wir sowohl die Fachpflege als auch die pflegenden Angehörigen.
({1})
Aber all das ist noch nicht genug, meine Damen und Herren. Das ist erst der Anfang. In einer älter werdenden Gesellschaft ist die Pflege ein, wenn nicht sogar der zentrale Beruf. Deswegen freue ich mich, dass das Bundesverfassungsgericht heute mit seinem Urteil zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht die besondere Bedeutung und die Verantwortung dieser Berufsgruppe unterstrichen hat.
({2})
Wir haben es in der Pflege mit einem ganzheitlichen Beruf zu tun: von der Gesundheitsförderung über die Prävention – auch über die Prävention von Pflegebedürftigkeit –, über gute Pflege bis zur Unterstützung von Pflegebedürftigen und ihren Familien. All das ist ein großes Paket ganzheitlicher Pflege, und das wollen wir durch die Aufwertung von Aus-, Fort- und Weiterbildung in dieser Koalition vorantreiben.
({3})
Wir müssen die Menschen im Beruf halten. Wir müssen mehr junge Menschen für diesen Beruf begeistern, indem wir den Beruf aufwerten. Wir wollen, dass gute Pflege überall stattfindet, im Stadtteil und im Dorf, und zwar für die nächsten Jahrzehnte.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es bedauerlich, dass der Bundesgesundheitsminister heute bei dieser wichtigen Debatte fehlt wie leider auch so oft im Ausschuss. Ich hoffe, das steht nicht dafür, welchen Stellenwert die Beschäftigten im Gesundheitswesen für die Bundesregierung haben.
({0})
Der Pflegebonus ist natürlich schön für diejenigen, die ihn bekommen. Wer hätte nicht gerne einen Bonus? Aber wir sind uns hier sicherlich einig, dass wir dadurch keine neuen Beschäftigten in der Pflege bekommen werden. Indem Sie den Bonus Ungeimpften verwehren, spalten Sie obendrein.
({1})
Es ist das altbekannte Muster: Sie spalten mit Ihren Maßnahmen die Gesellschaft immer tiefer, während wir von der AfD versuchen, die Gräben zuzuschütten.
({2})
Dazu dient auch unser heute vorgelegter Antrag zur Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht.
({3})
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist nicht nur eine massive Belastung für die bestehenden Pflegekräfte, sondern sie verhindert auch, dass Ungeimpfte einen medizinischen Beruf ergreifen können. Tausenden dringend benötigten Fachkräften wird die Aufnahme des Jobs verwehrt, und zugleich werden Zehntausende dringend benötigte Mitarbeiter im Gesundheitswesen aus ihrem Beruf gedrängt,
({4})
nur weil sie nicht bereit sind, an einem medizinischen Experiment teilzunehmen.
({5})
Dabei sieht inzwischen jeder, der mit wachen Augen durch die Welt geht, dass dieses Experiment gescheitert ist. Es gibt wohl nicht ohne Grund keine einzige Studie, die untersucht, ob geimpfte oder ungeimpfte Pflegekräfte Patienten wahrscheinlicher anstecken.
({6})
Fremdschutz und Eigenschutz sind seit Omikron praktisch nicht mehr vorhanden. Allerdings ruft die Impfung viel häufiger als andere Impfungen schwere Nebenwirkungen hervor.
({7})
Das zeigen die Daten des Paul-Ehrlich-Instituts, der WHO, der Berliner Charité.
Der Umgang der Bundesregierung mit den Nebenwirkungen zeigt aber auch, dass sie offenbar jede Aufklärung fürchtet wie der Teufel das Weihwasser.
({8})
Die Bundesregierung ignoriert sogar, ihrer gesetzlichen Pflicht nachzukommen, zum Beispiel § 13 Absatz 5 Infektionsschutzgesetz umzusetzen und die Daten über Nebenwirkungen von den Kassenärztlichen Vereinigungen einzuholen – wahrscheinlich weil der Bundesgesundheitsminister der Pharmalobby dann nicht mehr ständig Abermillionen für Impfstoffe in den Rachen werfen könnte wie heute früh wieder 830 Millionen Euro.
Zahllose Milliarden sind in den letzten zweieinhalb Jahren an Testcenterbetreiber, Ärzte, Kliniken und die Pharmaindustrie geflossen. Währenddessen wurden die Wartezeiten bei Fachärzten immer länger und die medizinische Versorgung der Patienten schlechter. Herr Lauterbach ist weder ein Angestellter der Pharmaindustrie,
({9})
noch ist er ein Coronaminister, sondern er ist ein Gesundheitsminister. Er hat einen Eid geschworen, Schaden vom Volk abzuwenden. Auch als Arzt sollte er eigentlich nach dem hippokratischen Eid handeln,
({10})
der besagt, dass er keine Verordnungen treffen darf, die zu verderblichem Schaden oder zu Unrecht führen. Er sollte sich endlich dieser Eide besinnen.
({11})
Mit Omikron gibt es praktisch keine schweren Verläufe mehr. Wer wie der Bundesgesundheitsminister davon fantasiert, dass Delta wiederkommen könnte, hat schlicht in Biologie nicht aufgepasst. Schon ein Neuntklässler aus Bayern weiß, dass eine Variante, die aufgrund eines genetischen Nachteils komplett verdrängt wurde, nicht wieder einfach so aufersteht.
({12})
Dass Omikron wieder von Delta verdrängt wird, wie Lauterbach behauptet, ist ungefähr so wahrscheinlich, wie dass sich zwei Wölfe paaren und dabei ein Tyrannosaurus Rex als Kind herauskommt.
({13})
Das Einzige, was man an der Verbreitung dieser Aussage von Lauterbach feststellen kann, ist, dass die Medien total versagen, indem sie solch einen Unsinn unkommentiert verbreiten.
({14})
Ich weiß und habe es jetzt auch schon wieder an den Zwischenrufen gehört, dass Sie nicht auf uns von der AfD hören wollen. Aber dann respektieren Sie doch wenigstens das Votum von Experten. Unter den zahlreichen Verbänden, die einen Stopp der einrichtungsbezogenen Impfpflicht fordern, sind so renommierte Verbände wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft oder der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste. Es reicht! Es ist höchste Zeit, zur Normalität zurückzukehren. Tun wir das Beste, was wir können, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Beenden wir die einrichtungsbezogene Impfpflicht!
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir zurück zu den Fakten, kommen wir zurück zum Pflegebonus.
({0})
Denn den setzen wir mit der heutigen Debatte um. Damit zollen wir den Pflegenden, die in der Pandemie unter enormem Druck und hoher Belastung standen, Dank und Anerkennung. Es war der Wunsch der Gesellschaft, Pflegenden dafür mehr als nur Applaus zu bieten.
({1})
Natürlich gibt es außer den Pflegenden in den Kliniken und den Pflegeeinrichtungen noch mehr Menschen, die in der Pandemie Großartiges geleistet haben. So haben zum Beispiel die Beschäftigten in den Arztpraxen mit einem tollen Einsatz dafür gesorgt, dass das Impfen in Gang kommt, teils mit Wochenendschichten und vielem mehr. Deshalb bin ich froh, dass uns hier der Schulterschluss mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss gelungen ist. Gemeinsam haben wir erreicht, dass Arbeitgeberboni von bis zu 4 500 Euro für Medizinische Fachangestellte und weitere Berufsgruppen steuerfrei sind.
({2})
Die Bonusgesetzgebung beinhaltet auch die Umsetzung der Tariftreueregelung aus der letzten Legislaturperiode. Positiv daran ist, dass statt des kompletten Tarifzwangs, den wir als FDP immer sehr kritisch gesehen haben, nun die Möglichkeit besteht, tarifliche Durchschnittslöhne zu zahlen. Auch so steigern wir die Löhne. Allerdings sehen wir mit Sorge, dass durch das Bestehen auf der Frist zum 1. September vermeidbare Bürokratie auf die Pflegeunternehmen zukommt.
({3})
Dadurch müssen sie mit den Kassen mehrfach neu verhandeln. Leidtragende sind die Bewohnerinnen und Bewohner, die sich dabei immer wieder auf neue Kosten einstellen müssen. Wir Freie Demokraten missbilligen das.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Pflegebonus ist gut und richtig. Er ist Ausdruck von Solidarität mit den Pflegenden, aber er löst nicht ihre strukturellen Probleme. Pflegende leisten nicht nur in der Krise Herausragendes, sondern jeden Tag und jede Nacht, in jeder Schicht.
({5})
Jede unterbesetzte Schicht schultern sie, jede Aufnahme arbeiten sie ab, auch dann, wenn sie längst an ihrer Belastungsgrenze sind.
Aus vielen Gesprächen mit Pflegenden weiß ich, dass ihr größter Wunsch darin besteht, endlich vernünftig ihrer Arbeit nachgehen zu können und nicht ständig das Gefühl haben zu müssen, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Das war lange schon vor der Pandemie so. Und wenn wir nicht schnell gegensteuern, laufen wir Gefahr, jetzt noch mehr Pflegekräfte zu verlieren. Wir müssen ran an die Arbeitsbedingungen, und deshalb darf der Fokus unserer Gesundheitspolitik nicht länger allein auf der Pandemiebekämpfung liegen.
({6})
Ich bin froh, dass Minister Lauterbach jetzt schnell die Umsetzung der PPR 2.0 und damit eine ausgewogene Personalbemessung auf den Weg bringen wird. Uns Freien Demokraten ist wichtig, dabei auch die Pflegewissenschaft und das Pflegemanagement mit ins Boot zu holen; denn sie geben uns die entscheidenden Hinweise dafür, wie der Qualifikationsmix für eine bedarfsgerechte Patientenversorgung aussehen soll.
Ebenso schnell müssen wir die Ausbildungsbedingungen verbessern. Die Pflegeassistenz und die Pflegefachassistenz brauchen dringend einheitliche Qualitätsstandards und ebenso Aufstiegsmöglichkeiten. Ja, meine Damen und Herren, auch in der Pflege sollen Menschen Karriere machen können. Schließlich handelt es sich um einen anspruchsvollen und hochkomplexen Beruf.
({7})
Es kann nicht sein, dass die akademische Laufbahn in der Pflege an der fehlenden Finanzierung scheitert. Analog zur klassischen Pflegeausbildung sollten wir stärker auf das duale Pflegestudium setzen und dieses auskömmlich finanzieren. Denn Pflegestudierende, die in den Semesterferien ihre Praxiszeit absolvieren, können nicht gleichzeitig einem Nebenjob nachgehen, um sich das Studium zu finanzieren.
({8})
Als Gesellschaft können wir es uns aber nicht leisten, auf auch nur einen Menschen zu verzichten, der seinen Platz in der Pflege sieht, auch mit akademischem Werdegang. Im Gegenteil: Wir brauchen diese Menschen nötiger denn je, zum Beispiel für das neue Berufsbild der Community Health Nurse, die einen wertvollen Beitrag für die Versorgung im ländlichen Raum leisten kann.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Pflegebonus kommt. Viele Maßnahmen werden folgen. Setzen wir sie beherzt um!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. – Nächster Redner ist der Kollege Ates Gürpinar, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele Versprechen werden noch folgen. Ich habe gestern in Vorbereitung auf die Rede Ihren Koalitionsvertrag durchgelesen.
({0})
Das ist heute tatsächlich das erste Versprechen zur Pflege, das Sie einführen. Dazu herzlichen Glückwunsch!
Ich finde es ein bisschen spannend, dass Herr Lauterbach schon vor drei Wochen davon geredet hat, er lege einen Zwischenspurt hin. Ich weiß nicht, wer von Ihnen früher mal Sport gemacht hat.
({1})
Man sieht es mir nicht mehr an, aber ich habe das mal gemacht. Wenn ich vor der Startlinie gesagt hätte: „Ich mache jetzt gleich einen Zwischenspurt“, dann wäre das ein kleiner Lacher für die Konkurrentinnen und Konkurrenten gewesen und auch für die Zuschauenden. Ich hoffe, dass Herr Lauterbach seine Versprechen endlich mal wahr macht und er nicht wieder ein halbes Jahr wartet, bis das nächste Gesetz folgt.
({2})
Dieses Gesetz, sehr geehrte Damen und Herren, ist allerdings nicht nur ein Witz für die Zuschauer, in dem irgendwas angekündigt wird, sondern es ist auch ein Witz, allerdings ein schlechter Witz, für die meisten Beschäftigten in der Pflege. Die Medizinischen Fachangestellten, die Zahnmedizinischen Fachangestellten, die Medizinisch-technischen Assistenten, die Kolleginnen und Kollegen aus dem Rettungsdienst sind nicht berücksichtigt. Wenn man sich das anschaut, dann merkt man, dass eine gewisse Zufälligkeit in den Gesetzen vorhanden ist: In den Krankenhäusern berücksichtigen Sie nach wie vor die Reinigungskräfte und die Pflegehilfskräfte aber nicht. In der Langzeitpflege werden sie berücksichtigt mit 550 Euro. Das ist tatsächlich ein Witz.
({3})
Gleichzeitig müssen Sie sich doch ein bisschen wundern, wenn selbst die CDU/CSU es schafft, Sie mit einem einfachen Antrag links zu überholen.
({4})
Das kann Sie doch nicht erfreuen! Da müssen Sie doch was ändern, vor allem die Kolleginnen und Kollegen von der SPD!
({5})
Wir haben bereits vor fünf Monaten einen Antrag eingebracht, von dem Sie sich etwas hätten abschauen können. Darin waren sämtliche Kolleginnen und Kollegen in der Pflege, die von der Pandemie betroffen waren, berücksichtigt. Es wäre ein Leichtes gewesen, das zu kopieren. Leider haben Sie das nicht gemacht. Fünf Monate später kommen Sie mit dem ersten Gesetz. Das ist ein Witz, und für manche ein Trauerspiel. Das Problem ist aber mittlerweile: Es geht den Leuten einfach nicht mehr weit genug. Es geht nicht mehr um den Pflegebonus allein. Zwei Jahre lang war es Klatschen, zwei Jahre lang war es Danke sagen. Und jetzt bringt es der Pflegebonus? Das glauben Sie doch selber nicht!
({6})
Um was geht es? Vor dem Bundesministerium für Gesundheit sollten heute 52 000 Unterschriften überreicht werden. Gregor Gysi und ich waren da, ebenso Attac, Marburger Bund, Walk of Care, Bunte Kittel. Und was fordern sie? Sie fordern, endlich abzurücken von der Profitorientierung in der Gesellschaft, von der Profitorientierung in den Krankenhäusern.
({7})
Schauen Sie sich doch an, was die Pflegekräfte selbst sagen, was die Ärztinnen und Ärzte sagen, und lernen Sie von denen!
({8})
Das größte Problem ist gewesen, dass das Bundesministerium für Gesundheit es noch nicht mal geschafft hat, jemanden rauszuschicken, um sich diese Unterschriften abzuholen.
({9})
Lernen Sie von den Menschen! Ignorieren Sie sie nicht! Lernen Sie, verbessern Sie Ihre Gesetze!
Vielen, vielen Dank.
({10})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Beschäftigten in der Pflege um 40 Prozent gestiegen. Auch die Löhne in der Pflege sind um knapp 30 Prozent und damit stärker als in anderen Branchen gestiegen. Der Trend stimmt. Ich werde aber nicht müde, zu sagen: Geld alleine hält niemanden im Beruf.
({0})
Unser mit dem Pflegebonus verfolgtes Ziel ist der Ausdruck von Wertschätzung. 1 Milliarde Euro nehmen wir in die Hand, um erneut die enormen Leistungen von Pflegekräften in der Coronapandemie zu honorieren. 1 Milliarde Euro, mit der die Beschäftigten wirklich spürbar einen Bonus auf ihr Konto bekommen und sich etwas Besonderes davon leisten können. Wie immer, hätte man auch mit mehr Geld noch mehr anfangen können. 1 Milliarde Euro ist aber eine beachtliche Summe, die wir versucht haben so gerecht wie möglich zu verteilen.
({1})
Politik bedeutet immer, Kompromisse einzugehen. Und das Wesen eines Kompromisses ist es, dass nicht alle Beteiligten vollständig zufrieden sind.
Ich möchte aber auf eine bestimmte Gruppe eingehen: die Beschäftigten in der Eingliederungshilfe. Sie wurden bisher nicht berücksichtigt. Das wird zu Recht kritisiert. Hier sind nun die Länder gefragt, da die Finanzierung bei ihnen liegt. Finanz- und Aufgabenverantwortung gehören zusammen. Das können wir nicht durch ein Bundesgesetz regeln.
({2})
Aber gute Pflege geht uns alle an, und wir müssen auf allen Ebenen die Bedingungen gemeinsam dafür schaffen. Durch die SPD wird die Steuerfreipauschale auf 4 500 Euro erhöht. So können Boni, die beispielsweise im Rahmen von Tarifverhandlungen arbeitgeberindividuell ausgezahlt werden, jetzt ohne Abzüge aufs Konto kommen.
({3})
Selbstverständlich ersetzt eine zweite Bonusrunde nicht die Aufgabe, die Rahmenbedingungen in der Pflege zu verändern. Die Tariflöhne werden ab September zur Voraussetzung für die Zulassung und Abrechnung von Leistungen – ein Meilenstein.
({4})
Auch das begleiten wir in diesem Gesetz weiter, damit es leichter vor Ort umgesetzt werden kann. Gleichzeitig werden einzelne pandemiebedingte Sonderregelungen bis zum Jahresende verlängert und der digitale Beratungsbesuch bei Pflegegeldempfängern ins Dauerrecht überführt. Ebenso wird die Liquidität für die Krankenhäuser verbessert, die für die Jahre 2020 und 2021 noch kein Pflegebudget vereinbart haben.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag viel vorgenommen, was wir jetzt angehen werden.
Zum Abschluss möchte ich mich hier mit den streikenden Pflegekräften in NRW solidarisieren und mit ihrem Motto schließen: „Wir für euch, ihr für uns“.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Moll. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Simone Borchardt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die finanzielle Wertschätzung gegenüber den Pflegenden und Beschäftigten im Gesundheitswesen ist wichtig und vor allem richtig. Darüber, denke ich, herrscht hier große Einigkeit. Wir haben im Plenum und in den Ausschüssen in den letzten Wochen viel darüber gesprochen und diskutiert, wem der Bonus zusteht und wie er am besten ankommt. Sie haben uns jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Der vorliegende Gesetzentwurf für diesen Bonus geht uns aber nicht weit genug. Der Gesetzentwurf greift zu kurz, er ist bürokratisch viel zu überladen, und das Verfahren zur Auszahlung ist sehr langwierig und umständlich. Und nach wie vor haben Sie eine wichtige Gruppe der Akteure außen vor gelassen – auch das wurde heute schon gesagt –: Uns fehlen die Medizinischen Fachangestellten und auch die Beschäftigten in der Notfallversorgung, um hier nur einige zu nennen.
({0})
Hier – gestatten Sie mir diese Erwähnung – möchte ich auf den Antrag der CDU/CSU verweisen, in dem wir genau diesen Personenkreis berücksichtigen.
({1})
– Weil wir jetzt nach vorne schauen und nicht zurück.
({2})
Im Grundsatz befürworten wir die Stoßrichtung dieses neuen Gesetzentwurfes und damit auch die Inhalte. Aber Geld allein schafft keine attraktiven Arbeitsbedingungen. In den letzten Jahren gab es viele Verbesserungen, und hier betone ich: in den letzten Jahren. Es gab bei der Vergütung Verbesserungen und bei den Arbeitsbedingungen.
({3})
Zum Beispiel hat die Generalisierung der Pflegeausbildung dazu geführt, dass sich viel mehr junge Leute für diese Ausbildung entscheiden und die Ausbildungsvergütung mittlerweile bei über 1 000 Euro liegt, was richtig, richtig gut ist.
({4})
Was ganz wichtig ist – ich werde auch nicht müde, das zu sagen –: Wir müssen Pflege neu denken; wir müssen aus alten, verkrusteten Strukturen heraus. Das heißt auch: Wir brauchen weniger Bürokratie, die Abschaffung der Fachkraftquote in dem Bereich; denn eine Regulierung und Ergebnisprüfung kann durchaus über die Qualitätsstandards stattfinden. Wir müssen die Pflegenden respektieren und damit mehr Eigenverantwortung ermöglichen.
Wer einmal in die Praxis schaut und mit den Beschäftigten und mit den Bedürftigen spricht, der erkennt: Die Pflegenden wissen am besten, was Bewohner und Patienten brauchen.
({5})
Das lässt sich in keine Pflegeplanung pressen; das lässt sich auch nicht abhaken. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir berücksichtigen und respektieren, dass jeder seinen eigenen Weg dabei geht.
Trotz dieser Verbesserungsmöglichkeiten werden wir Ihrem Antrag zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Borchardt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Janosch Dahmen, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn jetzt nach acht Jahren unionsgeführtem Bundesgesundheitsministerium große dozierende Vorträge gehalten werden, was alles hätte getan werden können,
({0})
was alles hätte getan werden müssen, wir aber vor der Situation stehen, dass alles, was wichtig gewesen wäre, um die Berufssituation in den letzten acht Jahren in den Bereichen der Pflege zu verbessern, die Sie jetzt hier vortragen, nicht angegangen wurde.
({1})
Im Gegenteil: Sie versteigen sich sogar noch zu der Aussage, dass das entscheidende Problem der Pflege die Fachpflegestandards seien, die wir abschaffen oder aufweichen sollen, das sie sonst die Situation sogar noch verschärfen würden. Ich glaube, damit würden wir der Pflege einen Bärendienst erweisen.
({2})
Ich kann nur sagen: Es ist gut, dass das Bundesgesundheitsministerium nicht mehr unionsgeführt ist, sondern dass wir jetzt nach vorne schauen und dringend notwendige Gesetzesreformen auf den Weg bringen.
Vom Pflegebonusgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen drei wichtige Botschaften aus.
Erstens – das ist das Entscheidende –: Wir sagen Danke. Wir sprechen Anerkennung eben nicht nur mit warmen Worten aus, sondern wir nehmen 1 Milliarde Euro in die Hand und zahlen einen Bonus aus – gestaffelt und insbesondere dort, wo wie beispielsweise in der Intensivmedizin in den letzten Monaten in weiteren Wellen noch einmal Herausragendes geleistet wurde, oft auch unter Einsatz der eigenen Gesundheit und Inkaufnahme von Risiken.
({3})
Deshalb ist es richtig, hier mit einer Bonuszahlung Anerkennung auszusprechen.
({4})
Gleichwohl: Niemand sitzt der irrigen Annahme auf, dass das allein reicht.
Deshalb ist die zweite Botschaft: Dieses Gesetz ist ein Startschuss für eine Serie an Reformen, die wir auf den Weg bringen werden, die ganz gezielt die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen und insbesondere im Bereich der Pflege verbessern werden:
({5})
durch eine verbindliche Personalbemessung, die wir auf den Weg bringen werden, durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen, beispielsweise durch Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten,
({6})
durch eine Stärkung der Mitspracheberechtigung im Bereich der Selbstverwaltung und auch, indem wir ein Heilberufsgesetz auf den Weg bringen, das gerade die eigenständige Heilkunde für viele Gesundheitsberufe regeln wird. Das macht Arbeitsbedingungen besser. Das stärkt den Berufsstand. Das ist Politik, die nach vorne gerichtet ist und die sich nicht im Gestern zu Hause findet.
({7})
Wir werden uns darüber hinaus – das ist die dritte Botschaft – mit diesem Gesetz vorbereiten. Wir schaffen heute mit dem Beschluss die Voraussetzungen, dass in den Impfzentren das Personal, das dort eingesetzt ist – Apothekerinnen und Apotheker, Ärztinnen und Ärzte –, weiter eingesetzt werden kann, indem wir dort die geltende Beitragsfreiheit der Sozialversicherung fortsetzen und dafür sorgen, dass die Impfzentren entsprechend weiter betrieben werden können.
Und auch das ist wichtig: Nicht nur Covid-19 – wir sehen es gerade auf der Südhalbkugel –, sondern auch Grippeerreger werden uns in der kommenden Herbst/Winter-Saison beschäftigen. Deshalb schaffen wir die gesetzlichen Voraussetzungen, damit auch in Apotheken gegen Grippe geimpft werden kann.
Herr Kollege.
Das ist ein wichtiger Meilenstein, auf den ich arg stolz bin und von dem ich glaube, dass er ein entscheidender Schritt für niedrigschwellige Impfangebote ist.
({0})
In diesem Sinne: Es geht nach vorne, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. Hören Sie also auf, im Gestern zu suchen, sondern schaffen Sie mit uns die Voraussetzungen, damit die Versorgung besser wird.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Dahmen. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Union unterstützen wir natürlich, dass die herausragenden Leistungen der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen mit einer erneuten Bonuszahlung gewürdigt werden. Diese ist, wenn auch nur punktuell, Wertschätzung und Anerkennung für ihr großartiges Engagement in den vergangenen Jahren während der anhaltenden Coronapandemie.
({0})
Aber gut gemeint bedeutet nicht immer gut gemacht, und das beweist die Ampel mit ihrem Pflegebonusgesetz erneut. Warum die komplizierte Unterscheidung in der Berechnung? Warum bekommen Azubis und Pflegekräfte in der Langzeitpflege einen Bonus, die in den Krankenhäusern aber nicht? Ja, man muss irgendwo eine Grenze ziehen, aber eine solche? So sorgt das Gesetz zu Recht für Kopfschütteln.
({1})
Als Union sind wir überzeugt, dass der Personenkreis, der eine Prämie erhalten soll, größer gefasst werden muss, und das hat gute Gründe. Gerade was die vergangenen Jahre angeht, waren es maßgeblich die Pflegekräfte in den ambulanten Praxen, die Medizinischen und Zahnmedizinischen Fachangestellten, die die Gesundheitsversorgung aufrechterhalten haben. Wie die Rettungsdienstmitarbeiter haben sie nicht selten unter enormem persönlichen Ansteckungsrisiko mit ihrer Expertise und ihrem aufopferungsvollen Einsatz die Notaufnahmen der Krankenhäuser vor der Überlastung bewahrt.
({2})
Sie alle waren für die Patienten, ob mit oder ohne Coronainfektion, oft auch so etwas wie Seelsorger. Sie haben zusätzlich neben dem sowieso schon hektischen regulären Praxisbetrieb Impfstoff bestellt und die Impfungen in Sonderschichten, teilweise auch am Wochenende oder abends, organisiert und durchgeführt. Dass die Coronaimpfkampagnen und die Boosterimpfungen so erfolgreich waren, ist vor allem ihnen anzurechnen und ihr großes Verdienst. Deshalb sind wir überzeugt, dass es richtig gewesen wäre, den Bonus für Medizinische und Zahnmedizinische Fachangestellte sowie für die Rettungsdienstleister gleichzeitig mit diesem Bonus auf den Weg zu bringen. Das wäre ein richtiges Zeichen der Wertschätzung dieser herausragenden Leistung, ein Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung gewesen.
({3})
Gleichzeitig wissen wir aber, dass höfliches Klatschen und eine Bonuszahlung zu wenig sind. Wir fordern eine umfassende Reform des Berufsbildes der MFA, damit die – –
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dahmen von den Grünen?
Ach, Herr Dahmen, Sie haben ja heute den Herrn Lauterbach, der leider nicht anwesend sein kann, –
Also: Ja oder nein?
– erwähnt, und deswegen beantworte ich Ihnen die Frage, weil der Herr Lanz das ja nicht tun kann.
({0})
– G 7! Oh!
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Geben Sie mir nicht recht, dass Ärztinnen und Ärzte, also unsere Kollegen in den Praxen, durch die heute beschlossene Steuerfreiheit und gerade mit den Geldern, die sie erhalten haben, ein ganz entscheidendes Instrumentarium in die Hand bekommen haben, jetzt entsprechende Boni an die Medizinischen Fachangestellten auszuzahlen, eine Forderung, die ja die Kassenärztlichen Vereinigungen so erhoben haben?
Und geben Sie mir nicht recht, dass mit der beschlossenen Steuerfreiheit entsprechender Boni für den Rettungsdienst jetzt auch Kommunen, die ja in der Regel Träger sind, also die öffentliche Hand, die Möglichkeit haben, entsprechende Boni auszuzahlen, und genau dieses Ziel damit verfolgt werden kann, das Sie hier ansprechen?
({0})
Im Übrigen, letzter Teil meiner Frage, würde mich noch interessieren, wie viele Milliarden die Union denn an Medizinische Fachangestellte in den vergangenen zwei Jahren ausgezahlt hat.
({1})
Herr Dahmen, auf andere mit dem Finger zu zeigen, halte ich doch immer für reichlich vermessen.
({0})
Ich glaube, dass es eine staatliche Aufgabe gewesen wäre, diese Boni auszuzahlen. Den Ärzten, die massive Belastungen durch die Coronakrise haben, den niedergelassenen Hausärzten, die enormste Belastungen hatten, nun diese Aufgabe aufzubürden, das halte ich für nicht angemessen.
({1})
Zum Zweiten haben Sie gefragt, ob die Kommunen das zahlen sollten. Ich glaube, der Bund ist da in der Verantwortung. Das andauernde Wegdelegieren der Verantwortlichkeit halte ich ebenfalls für nicht sinnvoll. Ich glaube, der Bund sollte sich der Zahlung annehmen,
({2})
und wir als Union fordern dies schon sehr nachdrücklich. Wenn wir noch in der Regierung wären, würden wir das selbstverständlich machen.
({3})
Daher appelliere ich an den Gesundheitsminister Lauterbach: Anstatt bei Lanz oder auf Twitter immer wieder wie Kai aus der Kiste ein neues Coronahorrorszenario an die Wand zu malen: Legen Sie endlich mal eine durchdachte Strategie für den Herbst vor, und packen Sie vor allem endlich mal die Themen im Gesundheitswesen an, die Sie seit über einem halben Jahr anpreisen, statt jede Woche immer neue Ankündigungen über angebliche Vorhaben des Ministeriums in der Presse zu machen!
Das Universalthema unserer Zeit ist die Pflege. Wir alle müssen uns dem stellen. Nehmen Sie sich endlich dieser Aufgabe an, und entlasten und stärken Sie die Pflegenden und die pflegenden Angehörigen in ihrer täglichen Fürsorge!
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie, sehe Sie guter Dinge, noch ganz frisch und gut gelaunt.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Pilsinger – das muss man sagen –, Humor haben Sie ja.
({0})
Ich überlege gerade, wer noch beim ersten Pflegebonus in der Regierung war und wer da über Rettungssanitäter, Rettungsassistenten, Notfallsanitäter oder die anderen Kräfte gesprochen hat. Ich glaube, das waren Sie, nicht wahr? Und da hatten Sie auch das Gesundheitsministerium. Also insofern: Angesichts Ihres Antrags hier, sorry, ist das ja nun ein bisschen Heuchelei, wenn Sie das plötzlich für sich entdecken.
({1})
Ich kann nur sagen: Wir heucheln nicht. Denn anders als Sie hier und Sie dort halten wir es nicht für kleingeistig, den Pflegekräften hier einen Bonus zu geben. Und wir halten es auch nicht für einen Witz, den wir mit unserem Gesetz machen, sondern wir zahlen einen Pflegebonus an die, die es in der Pandemie geschafft haben, viele Menschen vor dem Sterben zu retten und dafür zu sorgen, sie auf den Intensivstationen durchzubringen. Es ist ein richtiger und ein vernünftiger Schritt, das so zu machen.
({2})
Ein Zweites – das ist uns trotz allem Drängen bei Ihnen nicht gelungen; das ist uns jetzt mit den neuen Partnern gelungen –: Mit den fast 4 500 Euro geben wir den Arbeitgebern und, richtig, den Kommunen und, richtig, den Ärztinnen und Ärzten etwas in die Hand, womit sie auch einen vernünftigen Bonus zahlen können. Das ist ebenfalls Wertschätzung und eine vernünftige Sache.
({3})
Ich möchte jetzt aber auch noch mal das aufgreifen, was der Herr Kollege Dahmen gesagt hat. Wir haben ja mit dem Gesetz den Pflegebonus gemacht – wichtig, richtig. Aber wir haben mit dem Gesetz eben gerade auch im Bereich der Impfungen aus dem gelernt, was bei Corona passiert ist. Eins, was da positiv passiert ist, ist nämlich, dass, als wir die Apotheken gebeten haben, zu unterstützen, sie das gemacht haben. Und sie haben das gut gemacht. Wir haben festgestellt, dass die Menschen das auch annehmen.
Da ist es doch folgerichtig, dass wir die Modellprojekte jetzt in der Realität ankommen lassen und dass wir dafür sorgen, dass die nächste Grippewelle auch dadurch abgehalten wird, dass wir den Apothekerinnen und Apothekern die Möglichkeit geben, hier mitzumachen. Ich hoffe, sie werden das in breiter Zahl tun; denn sie können das, und es wird angenommen.
Die AOK im Rheinland hat gerade erst deutlich gemacht: Diese Impfung wird gerade von Menschen angenommen, die sich sonst nicht impfen lassen. – Das ist doch wichtig. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot und eine tolle Sache, dass wir das gemeinsam hingekriegt haben!
({4})
Das darf man nicht unerwähnt lassen.
Ich habe lange überlegt, ob ich noch ein Wort zu diesem Antrag sagen möchte, der sich wieder darauf richtet, dass wir die Impfpflicht bezogen auf die Einrichtungen abschaffen sollen.
({5})
Abgesehen davon, dass die Begründung hier wieder sozusagen eine Fake-News-Begründung war – mir hat noch gefehlt, dass der Redner erklärt hat, dass er auch weiß, dass die Erde eine Scheibe ist –, kann ich nur deutlich sagen: Das Verfassungsgericht hat heute klargemacht, dass es eine vernünftige Abwägung ist.
({6})
Wir haben sie richtig getroffen. Insofern gibt es überhaupt keinen Grund, das abzuschaffen.
Vielen Dank.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz vor Ostern berichtete mir ein Freund, dass er seinen Autoantrieb jetzt auf Hybrid umstellen möchte. Er fährt jeden Tag 50 Kilometer zur Arbeit und zurück. Er wolle sich jetzt eine Wallbox anschaffen und dann täglich den Weg zur Arbeit elektrisch zurücklegen. Er will sich ein neues Fahrzeug kaufen. Wenn das Fahrzeug dann sogar 60 bis 70 Kilometer elektrisch schafft, dann schafft er es anschließend sogar noch zum Fußballtraining – rein elektrisch. Er haderte etwas mit den Lieferschwierigkeiten, freute sich aber über die Bezahlbarkeit des Autos, sodass es für ihn jetzt wirklich Sinn machen würde, elektrisch zu fahren. Und wenn er am Wochenende zu seiner Freundin müsse, dann würde er auf den Benzinantrieb umsteigen können.
Doch dann kam Minister Habeck ins Spiel. Nach dem KfW-Bauförderstopp verkündete er plötzlich den nächsten abrupten Förderstopp. Plug-in-Hybridfahrzeuge sollen nämlich ab nächstem Jahr nicht mehr gefördert werden. Noch am gleichen Tag erwiderte der Koalitionspartner FDP, es gebe gar keinen Grund, vom Koalitionsvertrag abzurücken. Dieser sieht nämlich vor, dass im nächsten Jahr nicht mehr Plug-in-Hybridfahrzeuge mit 60 Kilometer Reichweite, sondern nur noch Plug-in-Hybridfahrzeuge mit 80 Kilometer Reichweite gefördert werden. Und wieder einmal verunsichern Sie, liebe Ampelkoalitionäre, Verbraucher, Händler und Hersteller, die sich fragen: Was gilt denn nun eigentlich?
({0})
Steht Ihre Ampel bei der Hybridförderung auf Grün, also für die Förderung? Steht sie auf Rot, für den Stopp? Oder steht sie auf Gelb, sodass man gerade noch rüberkommt? Es ist wie im Straßenverkehr: Wenn die Ampel von allen Seiten durchgängig blinkt, dann herrscht Chaos. Dieses haben Sie im April geschaffen.
({1})
Dabei wäre es gerade jetzt notwendig, ein klares Ja zur Hybridförderung zu geben; denn so wie meinem Freund geht es vielen Deutschen. Sie fahren durchschnittlich 40 bis 50 Kilometer am Tag, sie wollen bezahlbare und klimafreundliche Elektroautos für den Umstieg. Aber sie wollen eben auch am Wochenende für längere Ausflüge, für den Weg zu den Großeltern ins Pflegeheim oder auch für den Urlaub genug Reichweite haben. Das zeigt am Ende auch die große Nachfrage; denn von den 1,2 Millionen geförderten Elektroautos sind 43 Prozent Hybridfahrzeuge. Deshalb sage ich Ihnen: Geben Sie diesen Menschen Planungssicherheit, verunsichern Sie nicht ständig. Denn am Ende ist es so: Die allermeisten Familien legen das Geld für diese große Investition, für einen Autokauf, nur alle paar Jahre auf den Tisch.
Dass Wirtschaftsminister Habeck dieser Debatte nicht folgt, zeigt, dass sich diese Bundesregierung nach den Wohnungsbauzielen nun auch die Elektromobilitätsziele abgeschminkt hat.
({2})
Lassen Sie mich abschließend noch auf einen Punkt hinweisen. Ich habe in den letzten Tagen eine große Einigkeit vernommen, dass wir mehr Elektromobilität wollen. Gleichzeitig sehen wir auf dem Weltmarkt Lieferschwierigkeiten und eine große Anspannung, sodass wir mit Lieferzeiten von bis zu einem Dreivierteljahr rechnen müssen.
Erlauben Sie noch auf den letzten Metern eine Zwischenfrage des Abgeordneten Habeck?
Nein.
({0})
– Wo ist er? – Ach da. Oh, Herr Minister. Gut.
Also doch?
Ja, natürlich.
({0})
Okay. – Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kuban. – Ich wollte fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass Minister Anwesenheitspflicht im Haushaltsausschuss haben, wenn ihr Etat beraten wird.
Gut. Ich freue mich, dass Sie da sind – vielen herzlichen Dank – und dieser Debatte folgen.
({0})
Ich komme zum Schluss. Auch wenn ich nur noch eine halbe Minute habe, möchte ich trotzdem noch den wesentlichen Punkt ansprechen: Wer heute ein Auto bestellt, der kann sich nicht sicher sein, dass sein Fahrzeug bis Ende des Jahres zugelassen wird und er die zugesagte Förderung bekommt. Deswegen bitte ich Sie: Geben Sie den Menschen die Sicherheit, sich auch in der zweiten Jahreshälfte ein Auto kaufen zu können und dieses auch zulassen zu können.
({1})
Machen Sie klar, dass ab jetzt das Bestelldatum und nicht mehr das Zulassungsdatum gilt. In unsicheren Zeiten muss der Staat Planungssicherheit geben und nicht Unsicherheit schüren. Daher bitte ich um Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Und als Nächstes erteile ich das Wort der Kollegin Isabel Cademartori für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, dass es auch bei der Union angekommen ist: Elektroautoförderung ist eine Erfolgsgeschichte. Wer hätte vor drei Jahren gedacht, dass wir in wenigen Jahren so einen Hochlauf erleben würden? 12 Prozent der neu zugelassenen Pkws sind vollelektrisch. Es wären noch mehr, wenn die Automobilhersteller aktuell nicht mit Lieferschwierigkeiten zu kämpfen hätten.
Nur zur Erinnerung: Die Innovationsprämie für E‑Autos war Teil des Coronamaßnahmenpakets 2019 – auch als „Bazooka“ bekannt –, mit dem der damalige Finanzminister Olaf Scholz in der drohenden Wirtschaftskrise Konjunkturimpulse für die für unsere Wirtschaft so immanent wichtige Automobilindustrie setzen wollte, aber gleichzeitig die Grundlage für die beschleunigte Transformation dieser Branche legen und in eine klimaneutrale Mobilität investieren wollte.
Frau Abgeordnete, warten Sie mal eben. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe wirklich für ganz viele Dinge Verständnis, wie Sie wissen, auch für das Austeilen von Bonbons um diese Zeit. Das ist sehr nett; aber hören Sie doch dabei bitte zu. Es ist ein bisschen unfair, gegen diese Mauer ansprechen zu müssen. Danke.
({0})
Danke schön. – Man kann drei Jahre später konstatieren, dass dieses Förderprogramm außerordentlich erfolgreich war und es somit ein großer Erfolg kluger und vorausschauender Politik ist, dass der erste Durchbruch für die Elektromobilität im Autoland Deutschland gelungen ist.
Der Hochlauf ist in vollem Gange, und das nicht nur im Privat-Pkw-Bereich, auch bei E‑Bussen und E‑Lkws sind die Förderprogramme extrem nachgefragt. Deshalb werden wir den Umweltbonus für E‑Autos jetzt neu auflegen. Mit diesem Förderprogramm für Verbraucher verfolgen wir mehrere politische Ziele. Zunächst wollen wir die CO2-Reduktionsziele im Verkehr erreichen, indem wir klimaneutrale Antriebe fördern. Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher entlasten; denn die Preise für fossile Kraftstoffe werden durch die weltweite Knappheit, die Unsicherheit, aber auch durch den CO2-Preis perspektivisch steigen, während Strom aus Sonne und Wind vergleichsweise günstig und eben erneuerbar ist. Wir wollen die Automobilindustrie und die Zulieferindustrie darin unterstützen, die Transformation ihrer Produktlinie auf E‑Mobilität weiter fortzusetzen und somit viele hochqualifizierte und tariflich abgesicherte Arbeitsplätze in Deutschland erhalten.
({0})
Gerade bei dieser Transformation spielen Hybridantriebe sowohl für Verbraucherinnen und Verbraucher als auch für die Industrie eine wichtige Rolle, weil sie insbesondere den Automobilzulieferern die Möglichkeit geben, einseitige Abhängigkeiten vom Verbrennungsmotor schrittweise abzubauen sowie in die Innovationen ihrer Produktpalette und die Weiterbildung ihrer Belegschaft zu investieren.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Christoph Ploß von der Union?
Sehr gerne.
Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie die Bonuszahlungen für den Kauf von Elektroautos verlängern wollen und dass das ein wichtiges Vorhaben der Koalition ist. Beziehen Sie hierbei auch Hybridfahrzeuge ein, oder bezieht sich das nur auf rein elektrische Antriebe? Das ist eine ganz wichtige Frage. Gestern gab es im Verkehrsausschuss unterschiedliche Äußerungen aus den Koalitionsfraktionen. Deswegen würde uns interessieren, ob Sie bei dem Vorhaben auch die Hybridfahrzeuge berücksichtigen wollen.
Danke, Herr Ploß. – Wenn Sie meiner Rede noch weiter lauschen, dann komme ich zu dem Punkt noch. Insgesamt muss ich sagen: Es ist bei einem Förderprogramm wie bei der Autoauswahl oder bei der Partnerwahl: Es kommt auf das Gesamtpaket an.
({0})
Für viele Verbraucherinnen und Verbraucher ist der Hybrid tatsächlich eine Möglichkeit, die Elektromobilität auszuprobieren und sich von dieser Technologie zu überzeugen. Jetzt gilt es, genau zu schauen, welche Form und welches Ausmaß staatlicher Förderung für den Absatz der Hybridfahrzeuge notwendig und sinnvoll ist. Das werden wir uns in den nächsten Tagen und Wochen genau anschauen.
Wichtig ist außerdem, dass wir uns auf eine Förderung verständigen, die Planungssicherheit für alle Beteiligten schafft. Deshalb halten wir es als SPD tatsächlich für enorm wichtig, die verbindliche Zusage der Prämie zum Zeitpunkt des Kaufs und nicht erst bei Auslieferung des Autos zu erteilen.
({1})
Weil es aufgrund der aktuellen Lage immer wieder zu erheblichen Lieferverzögerungen kommt, wollen wir, dass Verbraucher ihre Kaufentscheidung treffen, ohne Sorge zu haben, dass sie nur eine reduzierte oder vielleicht gar keine Prämie mehr bekommen. Das ist insbesondere für diejenigen, die wir im Blick haben, wichtig: Menschen, die knapp kalkulieren, einen Kauf lange überlegen und ohne Prämie den Kauf gar nicht tätigen würden. Unser Ziel ist es, klimaneutrale Mobilität für alle erschwinglich zu halten.
({2})
Insofern könnten wir Ihren Antrag auch als Ansporn nehmen, unseren sehr erfolgreichen Weg hin zu mehr Elektromobilität weiter energisch zu beschreiten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, um E‑Mobilität so zu fördern, wie Sie es fordern und wie wir es wollen, braucht es auch Geld im Haushalt, in diesem Fall den Klima- und Transformationsfonds. Aber gerade gegen den wollen Sie ja klagen.
({3})
Wie passt das zusammen?
({4})
Wer einen Umweltbonus für E-Autos fordert, muss auch dem Klimafonds zustimmen. Nur so wird ein Schuh daraus und auch eine glaubwürdige Forderung.
Bis Ihr Erkenntnisweg Sie zu dieser Einsicht führt, brauchen wir Ihren Antrag nicht, um als Fortschrittskoalition unseren extrem erfolgreichen Kurs zur Transformation von Mobilität weiterzuführen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält für die AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Also, jetzt bin ich nach der Rede von Ihnen, Frau Cademartori, etwas verwirrt. Ich frage mich, ob Sie eigentlich das, was die CDU/CSU in ihrem Antrag fordert, vorweggenommen haben. Sie bestätigen im Grunde genommen die Forderung der CDU/CSU. Jetzt bin ich einmal gespannt, ob sich die Politik dann auch in der Realität so widerspiegelt und ob Sie dem Antrag zustimmen. Das würde mich jetzt an der Stelle interessieren; denn es war ja eine identische Forderung, die Sie in Ihrer Rede vorgebracht haben.
Ich komme jetzt aber zu dem eigentlichen Thema, das uns an dieser ganzen Diskussion stört. Sie haben viele Milliarden Euro Steuergeld in die Hand genommen, um Plug-in-Hybride zu fördern, und Sie argumentieren jetzt in der Öffentlichkeit, dass man aufgrund der Marktdurchdringung diese Subventionen nun auslaufen lassen, reduzieren oder beenden kann. Wenn man aber dieses Steuergeld in die Hand genommen hat, dann muss man ja auch ein Ergebnis haben. Was mich an der ganzen Diskussion jetzt interessieren würde: Wie sieht denn das Ergebnis aus?
Ich will die Antwort mal kurz vorwegnehmen: Ich habe eine Anfrage beim Wissenschaftlichen Dienst gestellt und bis zum heutigen Zeitpunkt leider noch keine exakte Antwort erhalten. Sie wollen durch die Förderung der Plug-in-Hybride CO2-Emissionen reduzieren. Wir wissen auch: Auf dem Papier sind die zertifiziert mit ungefähr einem Viertel der Emissionen wie bei teilelektrischen, ähnlich motorisierten SUVs beispielsweise. Ich sage das hier einmal in die Runde: Ein solcher Plug-in-SUV soll einen Verbrauch von um die 2 Litern haben. Ja, wer glaubt denn so etwas? Hat das denn etwas mit der Realität zu tun?
Wir haben heute bei den Erstzulassungen einen Anteil – das haben Sie gesagt – von ungefähr 12 Prozent. Diese riesige Diskrepanz müsste man ja an der reduzierten CO2-Emission sehen. Ich habe mir die Daten vom UBA besorgt, und da steht: Man kann gar nichts erkennen. Bezogen auf die Laufleistung kann man gar nichts erkennen. – Das heißt, Ihre ganze Milliardenförderung für Plug-in-Hybride hat sich zum einen für den Steuerzahler nicht gelohnt, wir haben auch insgesamt weniger Geld, und zum anderen sehen wir es nicht an den CO2-Emissionen.
({0})
Jetzt kann man sich natürlich fragen: Wie kann es sein, dass überhaupt 12 Prozent der Leute ein Produkt kaufen, wenn das Produkt das eigentliche Ziel, die Reduktion der CO2-Emissionen, gar nicht erfüllt? Die Antwort ist ganz einfach: Immer dann, wenn staatliche Subventionen und Regulierungen die Marktwirtschaft außer Kraft setzen, können sich auch völlig unsinnige Lösungen durchsetzen.
Plug-in-Hybrid-Fahrer sind ja keineswegs unterbelichtet. Ganz im Gegenteil: Sie sind äußerst gewiefte Rechner. Das haben wir ja von Ihnen gehört, Herr Kuban. Ihr Freund hat sicherlich auch gut gerechnet. Plug-in-Hybride rechnen sich als Geschäftswagen, weil sie nämlich, bedingt durch die Besteuerung bei Privatnutzung, im Vergleich zu ähnlich motorisierten Fahrzeugen ungefähr die Hälfte kosten. Jeder Dienstwagenfahrer wählt deshalb einen Plug-in – ist doch logisch. Darüber hinaus hat der Autohersteller eine tolle Möglichkeit, seine Flottenverbrauchswerte zu halbieren oder zu reduzieren. Natürlich reden wir über den Zuschuss, den jeder privat gekaufte Plug-in-Hybrid aus Steuermitteln kriegt.
Zusammengefasst: Die sogenannte Marktdurchdringung, von der Sie hier reden – die 12 Prozent –, hat sehr wenig mit dem Produkt oder der Kundenakzeptanz zu tun. Das hat ausschließlich mit Ihren finanziellen Anreizen aus Steuermitteln zu tun.
({1})
Wir sind natürlich dagegen, und trotzdem ist es falsch, diese Regelung jetzt hier abrupt zu kippen; denn viele Kunden und Unternehmen haben mit den von Ihnen gemachten Regeln geplant, haben investiert, haben sich für Jahre festgelegt. Dieses Vertrauen der Menschen in Investitionen und Rechtssicherheit zerstören Sie mit Ihren permanenten Änderungen, die Sie hier zum Thema Plug-in einbringen. Man weiß ja heute gar nicht mehr, welches Auto man in drei bis vier Jahren fahren soll. Ich bekomme viele solcher Anfragen, deshalb kann ich das auch nachvollziehen.
({2})
Aus diesem Grund unterstützen wir den Antrag der Union. Wir möchten noch einmal betonen, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn Politiker über Technologien entscheiden, bei denen – das sage ich mal – die allermeisten, die hier in diesem Parlament sitzen, nicht so tief drinstecken wie die Unternehmen, die Produkte entwickeln. Deshalb sollten politische Entscheidungen immer technologieoffen sein und nicht in einem Desaster enden.
({3})
Wir haben hier Steuermittel verschwendet für ein Nullergebnis. Das ist der eigentliche Kritikpunkt.
Vielen Dank.
({4})
Als Nächstes erhält das Wort Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Tilman Kuban, ich glaube, Sie müssen als Union ein bisschen aufpassen, dass Sie in der Wirtschafts- und Förderpolitik nicht hinter die Automobilindustrie selber zurückfallen; denn die hat einen sehr klaren Investitionspfad, und der geht ausschließlich in Richtung Elektromobilität.
({0})
Das verstehen die Unternehmen. Reden Sie mal mit VW über die große Investition, die jetzt in Wolfsburg stattfinden wird, und reden Sie auch mal mit dem Daimler-Chef oder mit dem Porsche-Chef.
Ich war vor Kurzem bei ZF Getriebe, und die bauen noch – und das ist auch wertzuschätzen – Hybridantriebe, Doppelkupplungsanlagen. Aber die wissen ganz genau, dass die auslaufen, und zwar in wenigen Jahren.
({1})
Das ist dort Unternehmenspolitik. Denen ist klar, dass die Hybridtechnologie in diesen Übergangszeiträumen noch eine Rolle spielt. Aber wir müssen uns natürlich als Staat die Frage stellen: Was wollen wir denn fördern, wenn wir im Koalitionsvertrag versprochen haben, dass die Klimaneutralität das Kriterium der Förderung ist und nicht die Förderung von einzelnen Segmenten der Automobilindustrie?
({2})
Das haben wir vereinbart. Deswegen gibt es jetzt die Diskussion – völlig zu Recht – über die Vorlage des BMWK. Es ist eine Diskussion, die noch nicht zu Ende geführt ist, wenn wir sehr viel Geld ausgeben.
Ein Hybridwagen-Käufer erhält in der Regel im Schnitt eine Förderung von 5 500 Euro – das ist eine Menge Geld. Macht es dann Sinn, dieses Geld ab dem Jahr 2023 auch weiter zu investieren, oder macht es nicht vielmehr Sinn, in eine moderne Verkehrspolitik, in Elektromobilität, in Infrastruktur zu investieren?
Ich sage übrigens, auch bei der Elektromobilität werden diese Fördersätze, die wir heute haben und die sehr hoch sind, nicht dauerhaft so bleiben können. Auch dieser Markt muss in naher Zukunft von alleine fliegen. Da wollen wir hin. Wir wollen, dass sich Elektromobilität durchsetzt, weil das auch der Weltmarkt so will. – Herr Ploß will eine Zwischenfrage stellen.
Herr Abgeordneter, Sie holen so gar keine Luft. Da kann ich dann auch so schlecht fragen. – Aber es hat sich jetzt zunächst einmal Herr Kuban von der CDU/CSU gemeldet. Erlauben Sie die Zwischenfrage?
Ja, das mache ich natürlich sehr gerne.
({0})
– Ein Ja hätte gereicht.
Sehr geehrter Herr Kollege Janecek, ich habe eine Frage. Sie haben vor nicht einmal einem Dreivierteljahr einem Koalitionsvertrag zugestimmt.
({0})
In diesem Koalitionsvertrag steht – das versichern Sie damit ja auch den Menschen in diesem Land –, dass man ab dem nächsten Jahr auch Hybridautos mit 80 Kilometern Mindestreichweite weiter fördern will. Gilt dieser Koalitionsvertrag noch? Fühlen Sie sich daran noch gebunden, oder tun Sie das nicht mehr?
({1})
Der Koalitionsvertrag beschreibt, dass Fahrzeuge dann förderwürdig sind, wenn wir feststellen, dass die Klimaneutralität gewährleistet ist. Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie gesagt haben. Das Bundeswirtschaftsministerium hat geprüft, ob das bei der Hybridtechnologie mit einem vertretbaren bürokratischen Aufwand messbar ist. Sie haben festgestellt, dass das nicht der Fall ist. Daher können wir bei Hybridfahrzeugen schlichtweg nicht davon ausgehen, dass das in der Summe klimafreundliche und damit förderwürdige Fahrzeuge sind; Sie wissen ganz genau, dass ganz viele Ladekabel immer noch im Kofferraum landen und nicht genutzt werden. Deswegen ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zu der Vorlage gekommen, die wir diskutieren und zu der wir sagen: Unsere Einschätzung ist, das funktioniert so nicht. Deswegen empfiehlt das Ministerium, die Förderung zu beenden. – Das ist die sachliche Antwort.
({0})
Es gibt gleich noch eine zweite Zwischenfrage von Herrn Spaniel von der AfD.
Nein, danke schön; eine reicht. – Die Frage, die wir uns also weiterhin stellen müssen, ist eine haushalterische. Sie von der Union – ich verstehe Ihre Politik sowieso seit Wochen nicht mehr so ganz – betonen ja immer eine strenge Haushaltsführung, haben aber die größten Wünsche bei den Ausgabenprogrammen. Da überholen Sie die Linken zum Teil schon ganz schön.
({0})
Das ist jetzt bei der Energiesteuer so gewesen.
Bei der Hybridförderung stellen wir uns die Frage, ob sie vielleicht nicht mehr der Bereich ist, für den wir in Zukunft noch ein paar Milliarden Euro brauchen, sondern ob die Elektromobilität der Pfad ist, der beschritten wird. Das wird ja von der Industrie selber und von den Kunden gewünscht. Auch die Anzahl der Neuwagenzulassungen war eindeutig. Das Hauptproblem, das wir im Moment auf dem Markt haben, ist die Ladeinfrastruktur. Momentan haben wir auch Probleme in der Lieferkette, sodass Menschen, die heute Elektrofahrzeuge kaufen wollen, sie leider nicht mehr kurzfristig kriegen. Da haben wir ein großes Problem.
Womit wir kein Problem haben, ist, dass Menschen Autos kaufen. Als Politiker in diesem Bundestag darf ich aber doch mal ganz grundsätzlich die Frage stellen – ich würde schon sagen, wir sollten diese Frage immer stellen –, ob das Geld, das wir hier ausgeben, dafür genutzt werden soll, um Anreize zu schaffen, Automobile zu kaufen.
({1})
Ich meine, der Markt muss am Ende ja selbst funktionieren. Die Elektromobilität wird von selbst funktionieren. Wir brauchten die Übergangszeit, um das zu intensivieren, aber jetzt sind wir auf dem Weg, das zu schaffen. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir einen Weg finden, Hybrid- und Elektromobilität anders zu gewichten, als wir es in der Vergangenheit getan haben.
Vielen Dank.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU geht an der Realität vorbei. Wir haben kein Nachfrageproblem bei Elektro- oder Hybridautos, sondern einen Mangel an Angeboten vor allem von kleineren und preiswerten Autos. Den Verkauf relativ teurer und PS-starker Autos zu fördern, hilft vielleicht den Aktionären der Automobilkonzerne und den Käuferschichten, die es nicht benötigen; es hilft aber nicht dem Klima und nicht denen, die dringend Förderung brauchen.
({0})
Diesen Antrag jedoch unter die Überschrift „Nachhaltige Mobilität“ zu stellen, ist ein schlechter Witz. Wie oft muss es noch gesagt werden? Nachhaltige Mobilität heißt: Städte und Kommunen der kurzen Wege, Ausbau des ÖPNV und der Bahn, günstige Ticketpreise, weniger Pkw- und Lkw-Verkehr.
Sollte es der Union in erster Linie gar nicht um die Käufer, sondern um die Umsätze der Automobilkonzerne und Zulieferer und vielleicht sogar um Arbeitsplätze gehen, ist der Antrag ebenfalls wenig hilfreich. Die großen Automobilkonzerne machen gerade Rekordgewinne. Ihre Strategie, besonders im Premiumbereich immer noch größere und teurere Autos zu bauen – jetzt eben mit Elektromotor – und die vermeintlich weltweit wachsenden einkommensstarken Mittel- und Oberschichten zu bedienen, sichert zwar hohe Profite, aber keinesfalls längerfristig die Arbeitsplätze – von wirklichem Klimaschutz ganz zu schweigen.
Schon heute werden massenhaft Arbeitsplätze abgebaut. Dabei trifft es am härtesten die Zulieferer. Ich wohne in einer Automobilregion. Namhafte Zulieferer haben ihre Produktionsstandorte bereits nach Osteuropa verlagert und Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet. Ich habe übrigens noch nie einen Bundes- oder Landespolitiker der CDU bei den Kundgebungen der IG Metall gesehen.
({1})
Vielleicht wäre das höchste Zeit.
({2})
Wer ernsthaft etwas gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen tun will, der darf nicht die Falschen subventionieren, sondern muss staatliche Gelder grundsätzlich an den Erhalt von Arbeitsplätzen und Standorten knüpfen
({3})
und die betriebliche Mitbestimmung erweitern. Allein die Elektromotorisierung wird bis zu 200 000 Arbeitsplätze kosten. Deshalb müssen nicht nur bestehende Arbeitsplätze geschützt, sondern neue geschaffen werden. Die Verdoppelung beim ÖPNV und der Bahn würde im Übrigen 400 000 zusätzliche Arbeitsplätze im industriellen Bereich schaffen.
Machen wir endlich eine Verkehrs- und Industriepolitik, die zukunftsorientiert ist, unter Beteiligung von Belegschaften, Gewerkschaften und Betriebsräten, eine Politik, die Klimaschutz und Arbeitsplatzsicherheit zusammenbringt!
Dafür stehen wir.
({4})
Vielen Dank. – Als Nächstes erhält das Wort für die FDP-Fraktion Reinhard Houben.
({0})
Frau Präsidentin! In acht Jahren sollen 15 Millionen vollelektrische Fahrzeuge auf unseren Straßen unterwegs sein; das ist unser nicht unambitioniertes Ziel im Koalitionsvertrag. Der Hochlauf der E‑Mobilität in den vergangenen Jahren gibt uns recht: Der Anteil der vollelektrischen und hybriden Pkw an den gesamten Neuzulassungen verdoppelte sich von 2020 zu 2021 von 13 auf 26 Prozent. Auch in diesem Jahr ist mit Wachstum zu rechnen. Die Transformation ist also im Gange.
({0})
Ein Baustein des Hochlaufs ist die Prämie für E-Autos und Hybride. Dazu ist im Koalitionsvertrag eigentlich alles gesagt worden, und ich kann für die FDP hier erklären: Wir stehen zu diesem Koalitionsvertrag, und er gilt. Da kann man interpretieren, wie man möchte, aber der Vertrag ist der Vertrag.
({1})
Die Förderrichtlinie wird gerade durch die Bundesregierung in enger Ressortabstimmung novelliert. Da verwundert es ein wenig, dass die Union nun einen gewissen Phantomschmerz hinsichtlich der Teilhabe auf Regierungsebene verspürt und ebenfalls einen Vorschlag präsentiert.
({2})
Eine eigene Positionierung, liebe Frau Klöckner, haben Sie in der Frage nicht. Sie beziehen sich nur auf unseren Koalitionsvertrag und orientieren Ihren Antrag daran. Sie selbst haben auch im Wahlprogramm zu Hybriden nichts gesagt.
Sie fordern in Ihrem Antrag, die Förderpraxis einmal komplett umzukrempeln und den Bonus auszuzahlen, bevor das Auto überhaupt gebaut ist.
({3})
Gleichzeitig soll das Verfahren missbrauchssicher und bürokratiearm sein, und es soll auch noch schnell gehen. Das, meine Damen und Herren, klingt eher nach dem Weihnachtswunschzettel eines Verwaltungsbeamten als nach einem realistischen Konzept.
({4})
Durch die von Ihnen vorgeschlagene Änderung der Fördersystematik wäre das Programm hochgradig missbrauchsanfällig. Unterbinden ließe sich das nur durch überbordende Bürokratie. Der Antrag kommt wie ein Verbrenner mit leerem Tank daher. Deswegen setzen wir ja auch auf E‑Mobilität, meine Damen und Herren.
({5})
Blickt man auf die Industrie, hat man nicht das Gefühl, dass dort vor Unsicherheit die Knie schlottern. Als Reaktion auf den ersten Entwurf einer neuen Förderrichtlinie durch das BMWK kündigte Hyundai an, Liefergarantien auszusprechen, damit die Plug-in-Hybride rechtzeitig ausgeliefert werden. Toyota will rasche Lieferzeiten in das Zentrum einer Marketingkampagne stellen. Ford kündigt an, falls ein Modell doch erst in 2023 geliefert werden kann, als Hersteller den möglicherweise entfallenden Teil der Bundesförderung selbst zu tragen. Das sind doch gute Signale.
Unser Ziel muss es sein, die Marktdynamik so zu verstärken, dass die Subventionen schnellstmöglich obsolet werden. Die Anreize müssen dort gesetzt werden, wo sie benötigt werden. Gerade bei angespannter Haushaltslage gilt es, mit jedem Förder-Euro das Maximum an Nutzen zu erzielen.
Aktuell fahren auf unseren Straßen knapp 800 000 Elektroautos. Das entspricht etwa 1,3 Prozent der zugelassenen Pkw in Deutschland. Wir haben also noch einen langen Weg zur nachhaltigen Mobilität hinter uns zu bringen.
Unser Ziel muss es sein, dass wir Verbesserungen auf der Angebotsseite erzielen. Durch die kraftvollen Impulse der Hersteller und die Entwicklung immer günstigerer Batterien und Bauteile werden auch die Herstellungskosten für E-Autos sinken. Die Schweizer Bank UBS geht von einer Angleichung der Produktionskosten von Elektro- und Verbrennerfahrzeugen bis 2024 aus. Das verdeutlicht: Die novellierte Förderung muss degressiv sein und dem Marktgeschehen Rechnung tragen.
Mit der geeinten neuen Förderrichtlinie der Bundesregierung werden wir genau das erreichen und uns mit einer ausgewogenen Förderung gemäß dem Koalitionsvertrag, der weiterhin gilt, unserem Ziel für 2030 in großen Schritten nähern.
Vielen Dank.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum etwas ist im Wirtschaftsleben so wichtig wie Planungssicherheit. Sind Rahmenbedingungen unsicher, dann werden Käufe nicht getätigt, und Projekte werden schlicht nicht realisiert. Deshalb ist es auch so schädlich, dass Fördervorhaben der Bundesregierung ausgesprochen schwankungsanfällig sind. Die Kapriolen in der KfW-Förderung für energetisches Bauen sind hierfür wohl nur das traurigste Beispiel der noch jungen Ampel; aber Fortsetzung folgt.
War im Koalitionsvertrag noch zu lesen, dass alle E-Automobile gefördert werden sollen, also auch Plug-in-Hybride, soll dies nun plötzlich nicht mehr der Fall sein. Begründung: Plug-in-Hybride sind jetzt marktgängig. – Hier staunt der Leser, und der Autokäufer wundert sich.
({0})
Was heißt denn „marktgängig“? Woran machen Sie das fest? Gibt es hierzu belastbare empirische Analysen, oder ist das nur so ein Gefühl? Oder – ich glaube, hier kommen wir der eigentlichen Sache viel näher – sind schlicht die finanziellen Mittel knapp? Sie erkennen, dass Sie vieles von dem, was Sie im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben, gar nicht bezahlen können. Ich hatte schon beim Lesen des Koalitionsvertrags das Gefühl: Da wird unglaublich viel versprochen, alles ohne erkennbare Gegenfinanzierung.
({1})
Das rächt sich jetzt.
({2})
Zugegeben, die Zeiten haben sich geändert, und zu viele Subventionen sind ohnehin immer schädlich. Aber Sie werden beim Schreiben des Koalitionsvertrages doch nicht allen Ernstes geglaubt haben, dass Sie ohne Krise durch diese Legislaturperiode kommen? Da hätte schon ein Blick in den Rückspiegel gereicht: Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Coronakrise – irgendwoher kommt immer eine unerwartete Belastung. Solche Ereignisse gilt es zu berücksichtigen, entweder indem Versprechen weniger vollmundig sind oder indem finanzielle Reserven eingeplant werden.
({3})
Beides war augenscheinlich nicht der Fall.
Was die Marktgängigkeit von Plug-in-Hybriden angeht, wage ich die Behauptung, dass die noch nicht gegeben ist. Warum? Weil Ladestationen noch nicht im erforderlichen Umfang vorhanden sind und weil die elektrische Reichweite noch gering ist. Diese Nachteile gilt es auszugleichen, und zwar finanziell.
({4})
Was wir aber wissen: Mit der Förderung ist es gelungen, den Anteil von Elektroautos am Gesamtmarkt deutlich zu erhöhen. Diesen Erfolg dürfen wir nicht gefährden. Soll also die Mobilitätswende gelingen und das Vertrauen der Verbraucher und der Händler und Hersteller nicht beschädigt werden, dann gibt es nur eine Lösung: Halten Sie an dem Versprechen fest, das Sie selbst im Koalitionsvertrag gegeben haben! Orientieren Sie sich am Bestelldatum und nicht am Auslieferungsdatum!
Vielen Dank.
({5})
Und es folgt in der Debatte Andreas Mehltretter für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben unsere Klimaziele für den Verkehrsbereich verfehlt. Das ist das eindeutige Ergebnis des zweiten Prüfberichts des Expertenrates für Klimafragen. Wir haben die Klimaziele verfehlt, weil sie dem ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer schlicht egal waren. Wir haben unsere Ziele auch deshalb nicht erreicht, weil wir bei der Elektromobilität noch nicht ausreichend vorangekommen sind.
({0})
Peter Altmaier hatte als Wirtschaftsminister eine Förderrichtlinie zu verantworten, aufgrund derer manche alle paar Monate ein neues Auto bekamen und ihr altes mit Gewinn ins Ausland verkauft haben. Elektroautos sind so noch zu wenige auf unsere Straßen gekommen.
In der Ampel sind wir uns einig: Wir wollen unsere Klimaziele erreichen, und darauf werden wir auch die Förderung der E‑Mobilität ausrichten.
({1})
„Wir brauchen ein Kraftpaket für Energieeffizienz.“ Das hat die CDU/CSU-Fraktion am 21. April in einer Pressemitteilung zur Gebäudesanierung gefordert. Ja, genau! Ein Kraftpaket brauchen wir aber auch beim Verkehr.
({2})
Das haben Sie bisher blockiert. Wir packen es jetzt an.
({3})
Um die Klimaziele zu erreichen, brauchen wir vor allem vollelektrische Autos auf unseren Straßen. Das ist unstrittig. Trotzdem schreiben Sie ausgerechnet dazu fast nichts in Ihrem Antrag. Mehr noch: Sie zitieren unseren Koalitionsvertrag, lassen aber das Entscheidende weg: Unser Ziel sind 15 Millionen vollelektrische Pkw bis 2030. – Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Das werden wir auch erreichen, weil wir wissen, dass wir nur mit der E‑Mobilität unsere Klimaziele beim Straßenverkehr einhalten können, und vor allem, weil uns diese Klimaziele eben nicht egal sind.
({4})
Meine Damen und Herren, Plug-in-Hybride können ein sinnvoller Einstieg in die Elektromobilität sein; da sind wir uns einig. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, diese weiter zu fördern, aber mit strengeren Vorgaben.
Es geht aber nicht mehr nur um einen Einstieg in die Elektromobilität. Wir brauchen einen substanziellen Beitrag des Verkehrssektors für unseren Weg zur Klimaneutralität. Der Prüfbericht des Expertenrates sagt ganz klar: Diesen Beitrag brauchen wir schnell. – Wir wissen, dass kleinere Elektrofahrzeuge einen größeren Beitrag leisten; sie vermeiden deutlich mehr Treibhausgase als große Plug-in-Hybride. Das müssen wir anerkennen, und das muss sich auch in der Förderung widerspiegeln.
Dass der Weg zur Elektromobilität und gerade der Weg zu den kleinen vollelektrischen Fahrzeugen eine Herausforderung für unsere Autobauer ist, wissen wir. Dass wir die Transformation der Automobilindustrie unterstützen müssen, steht für uns fest. Genau deshalb ist die Förderung der E‑Mobilität so wichtig; denn damit helfen wir den Beschäftigten und Unternehmen in der Automobilbranche beim Übergang in die klimaneutrale Mobilität.
Damit das funktioniert, brauchen wir aber Klarheit und Zuverlässigkeit, auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Es ist selbstverständlich, dass sie beim Kauf wissen wollen, wie viel das Auto am Ende kosten wird. Eine Förderung zeigt nur dann Wirkung, wenn sie kein Glücksspiel ist. Sie zeigt dann Wirkung, wenn die Käuferinnen oder Käufer beim Kauf wissen, welche Förderung sie bekommen, ganz gleich, wie lange sie auf die Auslieferung ihres Autos warten müssen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt ein wirkliches Kraftpaket für Energieeffizienz im Verkehrssektor. Wir brauchen E-Autos auf unseren Straßen. Daran arbeiten wir als Ampelkoalition. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie von der Union daran konstruktiv mitarbeiten.
({6})
Es folgt Stefan Gelbhaar für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Die letzten drei Redner haben sich perfekt an die Redezeit gehalten.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich versuche das natürlich auch. – Vorweg: Kurze präzise Anträge finde ich gut. Im vorliegenden Antrag geht es um die weitere Subventionierung von Hybridautos. Die Union stellt hier genau zwei Forderungen.
Die erste Forderung ist eigentlich eine Frage. Sie wollen wissen, ob die Hybridförderung fortgeführt wird oder eben nicht. Okay, Sie fordern in Ihrem Antrag nicht, eine Hybridförderung über das Jahr 2022 hinaus zu etablieren, aber Sie positionieren sich, ehrlich gesagt, in Ihrem Antrag auch nicht dagegen. Das finde ich bemerkenswert. Was denn nun? Sei es drum.
Um was für Fahrzeuge geht es? Laut ADAC gibt es derzeit 172 Plug-in-Hybrid-Modelle, davon nur ein einziges Modell mit unter 150 PS, die meisten zwischen 200 und 400 PS mit entsprechender Größe und entsprechendem Gewicht. Das ist ineffizient und verkehrssicherheitstechnisch problematisch.
({0})
Plug-in-Hybride tragen nicht in der notwendigen Weise zur Einhaltung der Klimaziele bei. Sie machen uns auch nicht unabhängiger vom Öl. Zudem sind sie bereits marktgängig, hundertausendfach verkauft, die Nachfrage ist hoch. Die Förderbürokratie ist schwierig. Damit macht es, ehrlich gesagt, wenig Sinn, diese Hybride weiter zu fördern.
({1})
Was sagt nun der Koalitionsvertrag? Die Förderung von Plug-in-Hybriden ist dort sehr präzise geregelt. Im Kern sind zwei Dinge vereinbart: Zum einen wollen wir aus den beschriebenen Gründen die Förderung umbauen und auslaufen lassen. Zum anderen soll die steuerliche Besserstellung von Hybriden als Dienstwagen konditioniert und eingehegt werden. Beide Punkte bedingen einander.
Einen Vorschlag für die Neufassung der steuerlichen Behandlung kenne ich bislang nicht. Daher ist es nur konsequent, an dieser Stelle die Förderung schnellstmöglich auslaufen zu lassen, um den Schaden, der da droht, möglichst gering zu halten.
({2})
Dann noch zwei, drei Worte zu Ihrer zweiten Forderung. Sie schreiben, dass die Förderung bei der Fahrzeugbestellung und eben nicht bei der Fahrzeugzulassung ausgezahlt werden soll. Sie schreiben weiter, das solle missbrauchssicher und unbürokratisch erfolgen. Das ist ein bisschen nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. – Sie wissen doch ganz genau – Herr Houben hat das schon thematisiert –: Bei der Auszahlung gab es Betrugsfälle, und zwar nicht zu knapp, etwa aufgrund der vorgeschriebenen nur recht kurzen Haltedauer der Fahrzeuge. Deswegen wollen wir diese Haltedauer auf zwölf Monate verlängern, und das ist auch richtig.
Ihr Vorschlag hingegen vergrößert die Betrugsanfälligkeit sogar nochmals. Diesen Antrag im Wissen um den Missbrauch ohne den Ansatz einer Lösung zu stellen – der Antrag bietet hier nichts –, das ist, mit Verlaub, vielleicht nicht unredlich, aber auf jeden Fall null hilfreich. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({3})
Perfekt in der Zeit! – Dr. Christoph Ploß – die Latte liegt hoch – für die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit welchen Technologien erreichen wir die Klimaschutzziele im Pkw-Sektor? Dazu haben wir gerade heute von der Ampelkoalition unterschiedliche Antworten gehört. Es ist immer wieder erstaunlich, zu sehen, wie viele Meinungen es dazu in der Koalition gibt.
({0})
Die einen sagen, man solle nur auf Batterieantriebe setzen, die anderen erklären: „Wir müssen auch Hybridfahrzeuge fördern“, und andere denken auch an Wasserstoff und E‑Fuels.
Ich will Ihnen eines gleich zu Beginn sagen: Das ist gar keine Frage des Entweder-oder. Fördern wir nur Batteriefahrzeuge? Oder fördern wir Hybridfahrzeuge? Oder fördern wir Wasserstoffantriebe? Oder fördern wir klimaneutrale Kraftstoffe wie E‑Fuels? Wenn wir die Klimaschutzziele im Verkehrssektor erreichen wollen, dann muss das eine Frage des Sowohl-als-auch sein. Da müssen wir alle klimafreundlichen Technologien gleichberechtigt fördern. Das ist der Auftrag, den Sie als Ampelkoalition haben.
({1})
Daher ist es auch so verwunderlich, dass sich leider die vernünftigen Stimmen in der Ampelkoalition nicht durchsetzen, mit der Folge, dass die Verbraucher, die Autofahrer in Deutschland, die sich klimafreundliche Autos zulegen wollen, total verwirrt sind.
Tilman Kuban hat in der Debatte ein sehr schönes Beispiel von seinem Freund gebracht und anschaulich erklärt, dass sein Freund und noch viele andere in seinem Wahlkreis darauf warten, dass Sie als Regierung Klarheit schaffen und dass Sie als Regierung endlich sagen, welche Autos gefördert werden.
({2})
Solange das nicht der Fall ist, werden ganz viele Menschen in Deutschland nicht auf Batterieantriebe umsteigen, nicht auf Hybridfahrzeuge und viele andere Fahrzeuge, die wir dringend brauchen, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
({3})
Deswegen müssen Sie als Regierung endlich die Frage beantworten: Wie sieht denn die Förderung von klimafreundlichen Autos in Zukunft aus?
({4})
Welchen Ansatz haben Sie? Stimmt noch das, was Sie im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben? Setzen sich jetzt vielleicht doch die Grünen mit Herrn Janecek und Herrn Gelbhaar durch? Überstimmen sie die FDP? Wie verhält sich überhaupt die SPD bei der Frage? Auch darauf haben wir heute unterschiedliche Antworten gehört.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Janecek?
Sehr gerne.
({0})
Vielen Dank, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. – Herr Ploß, sind Sie denn nicht wie ich der Meinung, dass nicht die Politik die Entscheidungen treffen sollte, wie das Automobil der Zukunft ausschaut, sondern die Industrie selber? Warum sprechen Sie nur mit dem Freund von Herrn Kuban und nicht auch mal mit dem Vorstandschef von VW, von Porsche, von Daimler, auch von BMW oder von allen Weltkonzernen der Automobilindustrie, die einen Trend gesetzt haben? Der lautet Elektromobilität.
({0})
Wo sind denn die E‑Fuels auf den Straßen im Pkw-Segment? Ich frage mich langsam, was das für ein Technologiekauderwelsch ist, das uns die Union seit vielen Jahren hier im Bundestag als Technologieoffenheit verkaufen will.
({1})
Lieber Herr Kollege Janecek, wenn Sie sich mit der Thematik tiefer beschäftigen, dann werden Sie feststellen, dass die Bundesimmissionsschutzverordnung derzeit den Verkauf von E‑Fuels an Tankstellen gar nicht zulässt. Dafür müssten wir die Bundesimmissionsschutzverordnung ändern. Das war im Übrigen Inhalt eines Antrages der CDU/CSU-Fraktion vor einigen Wochen, den Sie abgelehnt haben.
({0})
Das ist genau der Punkt, nach dem Sie eben gefragt haben, den wir ja mit diesem Antrag zum Ausdruck bringen wollen. Für uns liegt die Zuständigkeit für die Antwort darauf, welche klimafreundlichen Technologien wo zum Einsatz kommen, nicht bei der Politik. Deswegen sagen wir ja: Wir wollen gleichberechtigte Förderung von Batterie-, von Hybrid- und von Wasserstofffahrzeugen sowie von E‑Fuels. Auf welchem Wege die Autobauer, die Industrie, die Verbraucher die Klimaschutzziele erreichen, das ist uns völlig egal. Aber wir wollen, dass alle klimafreundlichen Technologien zum Einsatz kommen können. Das ist bei der bestehenden Rechtsordnung nicht möglich.
({1})
Ich kann Sie nur noch mal auffordern: Wenn Sie diesen Wettbewerb zulassen wollen, dann müssen Sie die Anträge der CDU/CSU-Fraktion annehmen. Ansonsten bestimmen Sie nämlich von oben, dass man nur auf Batterieantriebe in Deutschland setzt, um die CO2-Ziele zu erreichen. Damit würden wir viele Pfade abschneiden, die wir dringend brauchen, um die CO2-Ziele zu erreichen.
({2})
Deswegen kann ich Ihnen nur noch mal zurufen: Technologieoffenheit statt Planwirtschaft von oben! Das sollte der Maßstab sein. Ich hoffe, dass die Kollegen von der FDP in der Ampel auf den Pfad der Tugend zurückfinden. Von Ihnen hören wir leider nicht so eindeutige Aussagen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Klimaschutzziele erreichen will, der sollte auf soziale Marktwirtschaft setzen, der sollte auf alle klimafreundlichen Technologien setzen, der sollte das Henne-Ei-Problem lösen, also in Ladesäuleninfrastruktur investieren und gleichzeitig auch Hybridfahrzeuge fördern.
({4})
Das alles sind die Ansätze von CDU/CSU. Die werden zum Erfolg führen. Ich kann Sie nur noch mal auffordern: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Die Debatte beschließt Falko Mohrs für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland ist Industrieland, Deutschland ist Autoindustrieland, und Deutschland muss genau das bleiben.
Es ist aber völlig klar, dass sich die Industrie, dass sich die Mobilität, dass sich die Autoindustrie verändert, verändern muss. Das ist doch völlig klar vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Klimawandel. Der Weg hin zu einer klimaneutralen Mobilität ist unausweichlich und vorgezeichnet, meine Damen und Herren.
Deswegen ist es die Aufgabe der Politik, des Deutschen Bundestages, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die Entscheidungen, die die Industrie längst getroffen hat, Herr Ploß, auch abgesichert sind, im Interesse vieler Millionen Arbeitsplätze in diesem Land, die genau davon abhängen, dass Deutschland auf der Welt Leitmarkt für Elektromobilität wird. Das ist die Industriestrategie, mit der wir Arbeitsplätze sichern, mit der wir Wertschöpfung sichern und mit der wir auch den Wohlstand unseres Landes sichern, meine Damen und Herren.
({0})
Die Förderung der Elektromobilität in den letzten Jahren hat sich als Erfolg dargestellt, weil wir es geschafft haben, den Umstieg auf alternative Antriebe zu unterstützen, gerade auch für Familien, die sehr genau rechnen müssen, weil neue Technologien gerade am Anfang oft teurer sind. Deswegen hat die Elektromobilität in den letzten Jahren in Deutschland ein rasantes Wachstum hingelegt. Das ist eine gute Entwicklung, eine Entwicklung, die wir brauchten.
Wenn Sie sich mit der von Ihnen geforderten Offenheit mit den verschiedenen Technologien auseinandersetzen würden, Herr Ploß, dann würden Sie völlig klar feststellen, dass allein aus Fragen der Energieeffizienz am Ende die elektrische Mobilität auf Grundlage von Batterien die Mobilitätsform ist, die einen besonders hohen Wirkungsgrad hat, während die Formen, die Sie hier propagieren, am Ende völlig ineffizient daherkommen, noch dazu vor dem Hintergrund eines Mangels an erneuerbaren Energien, der im Wesentlichen an Ihrer Politik der letzten Jahre liegt, Herr Ploß. Das ist doch die Wahrheit.
({1})
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Herr Mohrs, des Abgeordneten Dr. Spaniel?
Um Gottes willen, nein.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns als Koalition jetzt auf Grundlage unseres Koalitionsvertrages genau damit auseinandersetzen, wie wir die Förderung für hybride und für Elektrofahrzeuge in den nächsten Jahren gestalten. Für uns ist dabei maßgeblich, dass wir im Bereich der Mobilität positive Auswirkungen im Hinblick auf die Klimaziele erreichen, zweitens, dass wir dafür sorgen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher klare Rahmenbedingungen als Grundlage für ihre Entscheidungen bekommen und dass der Industriestandort Deutschland als Leitmarkt für Elektromobilität so in die Zukunft gehen kann, dass wir Industrieland bleiben. Das ist kein Selbstzweck, sondern im Sinne von 4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land. Sie können sich darauf verlassen, dass wir klare Rahmenbedingungen für die Zukunft setzen, damit sie in Zukunft klare Jobperspektiven haben.
Vielen Dank.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! „Sanktionsdurchsetzungsgesetz“, das ist ein Wortungetüm; das kann man nicht anders sagen. Aber die grausamen Bilder der russischen Aggression in der Ukraine bestimmen unsere Gedanken jetzt seit Wochen, und sie erfordern konsequente Taten, meine Damen und Herren.
Mit diesem Gesetzentwurf legt die Ampelkoalition entschlossene Maßnahmen vor, mit denen wir die Oligarchen und Sanktionsverweigerer weiter austrocknen. Für Unterstützer des Systems Putin wird die Luft dann immer dünner. Dieses Gesetz, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist an Wichtigkeit kaum zu übertreffen.
Es gehört zur Wahrheit, dass der brutale Angriff auf die Ukraine massive Sanktionen heraufbeschworen hat, auf die viele Stellen in Deutschland bislang nicht genügend ausgelegt sind. Viele unserer Institutionen haben zuvor mit solchen Sanktionen nichts oder nicht sehr viel zu tun gehabt. Deswegen justieren wir das deutsche Sanktionsregime neu. Das Gesetz ist ein erster und ein entscheidender Schritt, um Putins Netzwerk zu zerstören und Löcher in seine Kriegskasse zu stanzen. Es sieht einige bemerkenswerte und vor allem kurzfristig realisierbare Umsetzungen von Sanktionen vor:
Erstens regeln wir die Zuständigkeiten. Essenziell für das Funktionieren von Maßnahmen ist immer eine klare Regelung, wer für was zuständig ist.
Zweitens stellen wir sicher, dass Vermögenswerte besser aufgeklärt und sichergestellt werden. Da haben wir auch im Gesetzgebungsprozess noch rechtsstaatlich nachgeschärft.
Und drittens werden Anzeigepflichten eingeführt, die es sanktionierten Personen, Unternehmen und Institutionen sehr ungemütlich machen werden, wenn sie ihr Vermögen vor dem Staat verheimlichen und verschleiern wollen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch viele weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Sanktionsdurchsetzung im Blick. Jetzt aber geht es darum, die Änderungen und Ergänzungen unserer Gesetze durchzuführen, die ganz schnell und rechtssicher zu maximaler Wirksamkeit und Durchschlagskraft führen.
Es werden noch weitere Gesetze dieser Art folgen; denn wir werden in der kommenden Zeit vermutlich immer wieder auf neue Situationen gesetzgeberisch reagieren müssen, um den sanktionierten Personen Herr zu werden und deren – ja, oft – inkriminierte Gelder auch zu identifizieren. Ein Sanktionsdurchsetzungsgesetz II ist dabei schon avisiert und in Vorbereitung.
Ich will auch auf die Vorschläge der Union eingehen. Viele Ihrer Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen in die richtige Richtung. Allerdings sind sie wegen ihrer Komplexität eben nicht schnell und rechtssicher umsetzbar.
({0})
Jetzt ist in einem ersten Schritt allerdings schneller Pragmatismus an der Zeit und nicht theoretische Grundsatzdebatten; das sind wir der Ukraine schuldig.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte den Partnern in der Ampel, den Grünen und der SPD, herzlich danken. Wir haben in Rekordzeit weitreichende rechtsstaatliche Änderungen erarbeitet, unter Zeitdruck hocheffizient zusammengearbeitet und treffen damit gezielt Putins Netzwerk; die Ampel hat da sehr gut funktioniert.
Ich finde, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten der Öffentlichkeit nicht vorenthalten, wer aus diesem Hause sich dem Beratungsprozess regelrecht entzogen hat. Als einzige Fraktion hat die AfD weder an den internen Beratungen teilgenommen, noch hat sie erkennbar versucht, konstruktiv am Inhalt mitzuwirken. Zu dem anberaumten Termin ist sie als einzige Fraktion nicht erschienen. Alle anderen Fraktionen haben sich dafür die Zeit genommen – die AfD hatte wohl wichtigere Termine.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die heute zu beschließenden Regelungen werden uns nicht nur bei den Sanktionen gegen die russische Aggression in der Ukraine nützen, sie werden uns auch bei anderen Sanktionen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen gute Dienste erweisen. Wir leisten mit diesem Gesetz einen entscheidenden, schnell durchsetzbaren und pragmatischen Schritt für schlagkräftige Sanktionen. Lassen Sie uns das gemeinsam umsetzen! Stimmen Sie für dieses wichtige Gesetz!
Herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Matthias Hauer spricht zu uns für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Erstes Gesetz zur effektiveren Durchsetzung von Sanktionen“ – das klingt auf den ersten Blick erst mal gut.
({0})
Denn es ist notwendig, dass die aktuell gegen Russland verhängten EU-Sanktionen auch in Deutschland konsequent durchgesetzt werden.
Der russische Kriegstreiber Putin hat sich ein Netzwerk geschaffen – aus seinem persönlichen Umfeld und aus befreundeten Oligarchen. Diese Profiteure unterstützen den russischen Überfall auf die freie Ukraine, sie stützen Putins Macht, und sie haben sich den russischen Staat zur Beute gemacht.
Dieses Netzwerk von Putins Kriegsprofiteuren sollen die Sanktionen der Europäischen Union treffen. Über dieses Ziel sind sich die demokratischen Fraktionen in diesem Hohen Hause einig. Leider wird dieses Ziel mit dem vorliegenden Gesetz der Ampel gerade nicht erreicht. Es geht in Teilen in eine richtige Richtung; in anderen Teilen ist es jedoch ein Placebogesetz und in Teilen leider auch schwerwiegend falsch. Das weiß auch die Ampel, und deswegen hat sie – wir haben es gerade gehört – bereits ein Folgegesetz angekündigt.
Was leistet Deutschland bei der Durchsetzung der Sanktionen? Weniger als 1,5 Prozent der in der EU eingefrorenen Gelder sind in Deutschland festgesetzt, in der größten europäischen Volkswirtschaft. Das ist kein Ruhmesblatt.
({1})
Wir brauchen sofort die Werkzeuge, um Putins Profiteure wirksam zu sanktionieren, und nicht erst ein Folgesetz in einigen Monaten. Lösen Sie jetzt die Handbremse bei den Sanktionen!
({2})
Die Ampel will erst mal Eigentumsverhältnisse klären, Anzeigepflichten einführen, Informationen austauschen und die Behördenkooperation verbessern.
({3})
Das ist alles sinnvoll, aber es löst eben die Handbremse nicht. Nutzungsverbote: Fehlanzeige! Verwertungsverbote: Fehlanzeige! Erlöse für den Aufbau der Ukraine verwenden: Fehlanzeige! Nichts davon sieht das Gesetz vor. Die Oligarchen dürfen weiterhin in ihren Luxusautos fahren, in ihren Luxusvillen wohnen, anders als zum Beispiel in Italien oder in Frankreich; das hat die Anhörung der Sachverständigen klar bestätigt. Das Ampelgesetz bleibt ein Placebo. Sanktionswirkung: Fehlanzeige!
({4})
Auch beim deutschen Putin-Lobbyisten Gerhard Schröder ist selbst das Europäische Parlament weiter als die deutsche Bundesregierung.
({5})
Heute hat das EU-Parlament per Resolution gefordert, unter anderem den SPD-Altkanzler in die Sanktionsliste aufzunehmen.
({6})
Das ist auch richtig so.
Es ist noch keine zwei Wochen her, da hat die Ampel auf meine ausdrückliche Frage, ob die Ampel die Aufnahme von Gerhard Schröder in die Sanktionsliste anstrebt, nur ausweichend geantwortet.
({7})
Es ist gut, dass der Haushaltsausschuss heute das Büro von Herrn Schröder schon mal ruhend gestellt hat. Aber warum nur ruhend gestellt? Leider war die Ampel nicht zu mehr bereit. Warum nicht die ganze Amtsausstattung streichen? Und wieso, liebe Ampel, so zaghaft mit der Sanktionsliste? Warum setzen Sie ihn nicht auf die Sanktionsliste? Das Europäische Parlament ist da weiter – vor allem als die deutschen Sozialdemokraten. Wer einen Kriegstreiber unterstützt, den müssen die Sanktionen auch hart treffen.
({8})
Das Gesetz hat einen weiteren schwerwiegenden Fehler: Die Bundesländer sollen für die Sanktionsdurchsetzung zuständig bleiben. Wir als Union wollen, dass der Bund für die Durchsetzung der Sanktionen zuständig ist. Es geht um sensible außenpolitische Sachverhalte; daher gehört das auf die Bundesebene. Dafür brauchen wir sofort schlagkräftige Strukturen aus einer Hand. „Die Durchsetzung von Sanktionen wird in Deutschland völlig irre organisiert.“ Das ist ein Zitat des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft GdP beim Zoll. Es ist nämlich nicht zielführend, dass jetzt 16 Bundesländer behördliche Parallelstrukturen aufbauen und für diese aktuelle Ausnahmesituation viele Stellen neu schaffen. Wir sollten jetzt die Zuständigkeit auf den Bund übertragen und nicht erst irgendwann mit einem Folgegesetz. Damit macht die Ampel einen schwerwiegenden Fehler.
({9})
Wir hätten dem Gesetz gerne zugestimmt, wenn Sie diese Fehler korrigiert hätten,
({10})
zumindest in Bezug auf ein Nutzungsverbot, ein Verwertungsverbot für Vermögensgegenstände und die schnelle Bundeszuständigkeit. Wir haben das vorgeschlagen. Auch das wollte die Ampel nicht. Die Ampel hat alle Verschärfungen des Gesetzes abgelehnt. Einem Placebogesetz mit sachwidrigen Zuständigkeiten können wir nicht zustimmen.
({11})
Die Ampel verweist auf das zweite Sanktionsdurchsetzungsgesetz. Damit will man dann irgendwann alles besser machen. Lassen Sie nicht wieder zu viel Zeit unnütz verstreichen! Für das Placebogesetz haben Sie zwölf Wochen gebraucht. Die Sanktionen müssen aber jetzt wirken –
Herr Kollege.
– und nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Wir sind ja hier ganz vorbildlich, habe ich inzwischen gelernt. – Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Jens Zimmermann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Russland führt einen barbarischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, und deswegen beschäftigen wir uns auch in dieser Sitzungswoche in vielen Debatten mit vielen Gesetzen zu diesem Thema und mit der Frage, wie wir der Ukraine beistehen können. Mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz machen wir genau das. Wir üben damit Druck auf das Regime in Moskau aus, und wir setzen auch ein klares Zeichen an alle, die in Zukunft Ähnliches planen. Man muss und man wird dann mit einer entschiedenen wirtschaftlichen Reaktion aus Deutschland, aus Europa und aus dem Westen rechnen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir haben auch in Bayern, beispielsweise in München, die Situation, dass es dort Villen gibt, von denen jeder weiß oder jeder ahnt, dass sie russischen Oligarchen gehören, die auf der Sanktionsliste stehen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir an diese Immobilien, an diese Vermögensgegenstände, an das Geld herankommen. Deswegen hat die Bundesregierung eine Taskforce eingesetzt, die daran arbeitet. Mit den Ergebnissen haben wir Rückmeldungen bekommen, wo es mehr Unterstützung braucht.
Mit diesem ersten Sanktionsdurchsetzungsgesetz ziehen wir die Lehren daraus. Wir sehen ja weltweit, dass Sanktionen Effekte haben. Wir haben zum Beispiel gesehen, wie in Großbritannien versucht wurde, Fußballklubs, die Oligarchen dort besitzen, noch kurzfristig zu verkaufen. Die gute Nachricht ist: Das ist ein Modell, das wir in Deutschland, in Hessen, in Frankfurt zum Glück nicht haben.
({1})
Es ist aber ein Thema, das man sehr gut versteht; denn in Russland sind Oligarchen die größten Geldgeber, beispielsweise auch im Fußball. Ich finde es eine gute Sache, dass das bei uns nicht der Fall ist. Aber wir müssen klarmachen, dass alle, die vielleicht nicht in Fußballklubs, sondern in Jachten, in Immobilien investiert haben, sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können.
({2})
Die Union macht es sich an der Stelle sehr, sehr einfach. Es ist im Ausschuss vollkommen klar geworden – die Ampel hat es ganz klar gesagt –: Wir wollen eine starke Bundeszuständigkeit,
({3})
und wir werden sie auch schaffen.
({4})
– Herr Kollege, wenn wir heute Ihren Antrag hier beschließen, dann passiert gar nichts. Wissen Sie, woran das liegt? Sie haben sich ja nicht mal die Mühe gemacht, zu skizzieren, wie eine Bundeszuständigkeit aussehen könnte.
({5})
Der Antrag der Union besteht einfach nur aus: „Wir fordern die Bundesregierung auf …“, „Man müsste mal …“
({6})
Das ist Ihre Arbeit. Setzen, sechs! Das ist nicht mal versetzungsfähig, würde ich sagen.
({7})
Deswegen ist es gut, dass wir mit einem schnell erarbeiteten ersten Sanktionsdurchsetzungsgesetz jetzt genau die Dinge umsetzen, die eben auch schnell umsetzbar sind.
({8})
Denn wenn wir hier etwas vorgelegt hätten, was mit heißer Nadel gestrickt worden wäre, dann wären es wieder die Bundesländer, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, gewesen, die gesagt hätten: Dem können wir nicht zustimmen, weil es einfach zu schnell ging.
({9})
Das ist doch die Realität. Wir haben es doch erlebt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es gut, dass wir mit dem ersten Sanktionsdurchsetzungsgesetz klare Zuständigkeiten schaffen,
({11})
dass wir den Datenaustausch zwischen Institutionen verbessern, dass wir die Möglichkeit zur Vermögensermittlung stärken und dass wir – das ist neu – auch eine strafbewehrte Anzeigepflicht einführen. All das schaffen wir mit diesem ersten Sanktionsdurchsetzungsgesetz.
({12})
Ich will mich explizit bei den Bundesländern für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Wir haben nämlich explizit über die Frage der Zuständigkeiten diskutiert, und auch dort hat man eingesehen, dass die Zuständigkeit aktuell schon bei den Ländern liegt; die Länder sind momentan zuständig. Wir werden – das ist auch klar –, wenn wir eine Bundeszuständigkeit eingeführt haben, auch weiter die Unterstützung der Länder brauchen, und das ist auch gut so, meine Damen und Herren.
({13})
Es gibt noch einiges zu tun; dieses Thema wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Aber wir sehen auch: Die Wirtschaftssanktionen zeigen Wirkung. Die Menschen in Russland können die Augen vor dem Krieg gegen die Ukraine nicht verschließen, weil sie auch in ihrem Alltag mehr und mehr mitbekommen, dass ein großer Teil der Welt ganz klar sagt: Nein, so kann es nicht weitergehen.
Man sieht doch, dass sich selbst in diesen kontrollierten russischen Staatsmedien Generäle jetzt hinstellen und sagen: O mein Gott, wir sind weltweit komplett isoliert. Was haben wir hier eigentlich gemacht? – Das zeigt für mich ganz klar: Wirtschaftliche Sanktionen sind ein ganz wichtiger Baustein, und Deutschland und Europa leisten hier einen wichtigen Beitrag.
Herzlichen Dank.
({14})
Jörn König spricht jetzt für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Erst mal vorab: Glückwunsch an die Eintracht! – Dann, Herr Herbrand, zu Ihnen: Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Wir waren bei der Anhörung dabei, wir waren im Ausschuss dabei, wir sind jetzt hier dabei. Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, uns anzuzählen.
({0})
Und jetzt halte ich hier eine Rede dazu. Wir hatten einen Berichterstatterwechsel; das ist das Einzige, was Sie vielleicht monieren können.
({1})
Die Ampelfraktionen haben einen Gesetzentwurf für die bessere Durchsetzung von Sanktionen gegen Einzelpersonen vorgelegt. Diese Einzelpersonen sollen sanktioniert werden, um Druck auf Russland auszuüben, damit Putin seinen verbrecherischen Krieg in der Ukraine beendet. Diese Absicht ist inhaltlich natürlich zu begrüßen und maßvoll – der Unionsantrag eher nicht. Leider ist der Gesetzentwurf wegen handwerklicher Mängel aber auch nicht zustimmungsfähig. Wir werden uns enthalten, und den Unionsantrag werden wir ablehnen.
Beispielhaft ein Mangel: In der Anhörung zum Gesetzentwurf sagte der Datenschutzbeauftragte – ich zitiere –: Es handelt sich deshalb um einen neuen Grundrechtseingriff. Die genaue Ausgestaltung wird im Gesetzentwurf nicht geregelt, und auch aus der Begründung ergibt sich nichts.
Neues Zitat: Die Sanktionen sprechen nur von einem Einfrieren von Vermögensgegenständen. Diesen Begriff kennen wir aber in Deutschland gar nicht, weder im Strafrecht noch im Verwaltungsrecht.
Ich kann die Ampel nur bitten: Arbeiten Sie professionell, rechtlich sauber und mit genau definierten Begriffen.
({2})
Das Gesetz – so wie es ist – führt dazu, dass die eingefrorene Immobilie weitergenutzt werden kann, das Guthaben auf dem eingefrorenen Bankkonto aber quasi schon enteignet ist, weil niemand mehr über das Guthaben verfügen kann.
Für uns ergibt sich auch die grundsätzliche Frage in Deutschland und in der gesamten EU, ob Personen, die keinerlei Straftaten begangen haben und auch nicht mit internationalem Haftbefehl gesucht werden, überhaupt sanktioniert werden sollten. Denn Folgendes ist ja wohl Fakt: Eigentumsrechte zu schützen, ist einer der wichtigsten Vorteile des Westens.
({3})
Diese Rechte gelten für uns als universell, also allumfassend.
Man konnte bisher darauf vertrauen, dass man als Individuum beurteilt würde, egal woher man kam. Denn einer der wichtigsten Grundsätze der westlichen Staaten ist, dass es so etwas wie ein kollektives Verbrechen oder auch eine kollektive Bestrafung eben nicht gibt.
({4})
Sie können nur für das verantwortlich gemacht und bestraft werden, was Sie als Einzelperson getan haben, es sei denn, Sie sind plötzlich ein russischer Oligarch.
({5})
Das ist eine dramatische Entwicklung, schon allein deshalb, weil sich jetzt jeder chinesische Tycoon, jeder indische Stahlmilliardär und auch jeder Kleinvermögende weltweit fragen wird, ob er als Nächstes dran ist.
({6})
Schon musste Kanzler Scholz nach Indien und 10 Milliarden Euro deutsches Steuergeld auf den Tisch legen, damit Indien dem Westen vielleicht – aber auch nur vielleicht – gewogen bleibt.
Wenn Vermögen ohne Gerichtsverfahren, nur aufgrund von kollektiver Mitschuld beschlagnahmt werden kann, können westliche Regierungen in nicht allzu ferner Zukunft das Vermögen von jedem konfiszieren, der in den Augen der Regierung irgendetwas falsch macht:
({7})
jemand, der partout auf seinen Diesel nicht verzichten will, jemand, der weiter fünfmal im Jahr das Flugzeug für Kurzreisen nimmt. Achtung, Ironie: Hat er Blut an seinen Händen, weil er die Klimakrise mit verursacht?
({8})
Meine Damen und Herren, ab jetzt wird sich immer ein Grund finden, Vermögen zu beschlagnahmen, und damit ist die Glaubwürdigkeit des Westens ein für alle Mal dahin. Die Anhängerschaft des Westens wird sich bei dieser Heuchelei und Doppelmoral deutlich verkleinern.
Der dritte Irakkrieg im Jahr 2003 war nach herrschender Meinung völkerrechtswidrig. Es starben mehr als 500 000 Kinder. Warum hat der Wertewesten Colin Powell nicht sanktioniert? Denn er hat mit seinen Falschaussagen vor der UNO zu den Massenvernichtungswaffen maßgeblich zu dem Krieg beigetragen.
({9})
Warum nicht gegen Tony Blair? Der ist mitmarschiert.
Herr Kollege, Sie kommen zum Ende, bitte.
Doppelmoral, wohin man nur schaut!
({0})
Merken Sie was? Sie müssten die halbe westliche Welt sanktionieren.
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Falls Sie aber vorhaben, die Sanktionen auf Russen zu beschränken, kommt die Rassismuskeule – und das mit Recht.
({0})
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Die Sanktionen werden langfristig ein Bumerang.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Sabine Grützmacher hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich sehe eine Korrelation zwischen „Irgendetwas falsch machen“ und einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Ansonsten spare ich mir jetzt den Kommentar dazu.
({0})
Langsam nähern wir uns ja doch dem Feierabend und freuen uns wahrscheinlich auf das sichere Zuhause.
({1})
– Ich weiß, es dauert noch ein bisschen. – Für viele Menschen aus der Ukraine heißt es aber, ausharren in U‑Bahn-Schächten und Furcht um das eigene Leben, während Russland einen entsetzlichen Angriffskrieg führt.
Völlig zu Recht erwartet nicht nur die Ukraine, sondern auch die gesamte EU eine aktive Rolle Deutschlands, und gemeinsam müssen wir durch Sanktionen den Druck auf Putin und auf das ihn unterstützende System deswegen deutlich erhöhen. Damit Sanktionen spürbarer auch gegen Oligarchen wirken, schnüren wir mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz I ein Maßnahmenpaket zur schnellen und pragmatischen Durchsetzung von Sanktionen. Und es ist wirklich pragmatischer, als es der Name vermuten lässt.
Druck kann nur ausgeübt werden, wenn wir die Sanktionsbehörden quasi sanktionsfit machen. Und an dieser Stelle möchte ich mich auch an die Taskforce wenden und mich bedanken, weil wir wirklich wertvolle Hinweise in der Kürze der Zeit bekommen haben.
({2})
Es ist wichtig, dass wir beides leisten müssen: Wir müssen einen Marathon und einen Sprint leisten.
Der Sprint braucht einen Rechtsrahmen, der die Ermittlung von Vermögen und die Sicherstellung bis zur Aufklärung von Vermögensverhältnissen ermöglicht. Wir schaffen die rechtlichen Grundlagen für eine verbesserte Umsetzung von Sanktionen durch Behörden, Aufgaben- und Befugniserweiterungen, und wir schließen Zuständigkeitslücken.
Nach dem Sprint kommt aber der Marathon; denn natürlich gibt es strukturellen Reformbedarf. Und hier müssen wir berücksichtigen, dass Sanktionsdurchsetzung und Geldwäschebekämpfung oft große Überschneidungen haben.
Es gab eine Reihe guter Vorschläge zur effektiven Umsetzung von Sanktionen und zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche. Ich muss allerdings sagen: Diese 100 Milliarden Euro, die uns durch Geldwäsche pro Jahr verloren gehen, gehen uns schon seit mehreren Jahren verloren. Von daher: Es gab auch vor Jahren schon Gründe, sein Herz für die italienische Finanzpolizei zu öffnen. Und wenn wir so was Ähnliches jetzt schon gehabt hätten, wären wir natürlich auch schon Schritte weiter.
Wir nehmen das jetzt mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz II aber auch in den Blick, und wir werden ein Verbot von Immobilienkäufen mit Bargeld, die Verbesserung der Datengewinnung durch Transparenzregister, Regelungen, die über das Einfrieren von sanktionierten Vermögenswerten hinausgehen und auch die Sicherstellung und die Nutzungsuntersagung ermöglichen, die Evaluierung eingeführter Maßnahmen und die Schaffung einer Bundeszuständigkeit in den Blick nehmen.
Der russische Angriffskrieg hat die EU und uns, Deutschland, entsetzt, aber er hat uns nicht gelähmt. Im Gegenteil! Wir werden, wie heute, in den nächsten Wochen weiterhin gemeinsam an effektiven Maßnahmen und Sanktionen arbeiten. Das Sanktionsdurchsetzungsgesetz I ist dabei nur der Auftakt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für Die Linke spricht der Kollege Pascal Meiser.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist mehr als überfällig, dass die Sanktionen gegen russische Oligarchen und gegen die Stützen des Systems Putin auch in Deutschland konsequent umgesetzt werden. Aber es bleibt äußerst blamabel, dass Deutschland bei der Umsetzung dieser Sanktionen weit hinter anderen europäischen Ländern wie Belgien, Frankreich und Italien hinterherhinkt. Das alles ist letztlich ein großer Offenbarungseid für die Politik der Großen Koalition in den vergangenen Jahren. Weder Wolfgang Schäuble noch Olaf Scholz haben als Finanzminister den Kampf gegen Geldwäsche und Finanzkriminalität, die jetzt eng mit den Problemen bei der Durchsetzung der Sanktionen zusammenhängen, jemals ernsthaft aufgenommen. Hier würde ich mir durchaus mal ein wenig mehr Selbstkritik wünschen, meine Damen und Herren.
({0})
Wenn Sie von der Ampelkoalition sich jetzt dafür feiern, dass es alles schnell gegangen ist, dann finde ich das doch äußerst gewagt. Die Probleme bei der Durchsetzung der Sanktionen sind ja schon mindestens seit 2014 bekannt. Sie sind natürlich jetzt, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar, prominenter geworden. Aber seitdem sind auch schon drei Monate vergangen.
Als Linke begrüßen wir natürlich jeden noch so kleinen Schritt, der endlich in die richtige Richtung geht. Deshalb werden wir heute auch dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz I zustimmen. Aber auch hier sind Fragen offen geblieben:
Erstens. Weshalb untersagen Sie nicht auch die private Nutzung von eingefrorenem Vermögen,
({1})
wie es beispielsweise Italien tut, meine Damen und Herren? Es ist doch niemandem zu vermitteln, dass einem Oligarchen in Deutschland zwar untersagt ist, seine Viertvilla in Berlin-Zehlendorf oder am Starnberger See zu vermieten,
({2})
aber dass er sie weiterhin privat ungestört nutzen darf.
Und Sie von der AfD sind am besten mal ruhig: Sie sind die Einzigen, die sich hier schützend vor die Oligarchen werfen. Sie sollten sich umbenennen in „Alternative für Oligarchen“, meine Damen und Herren!
({3})
Zweitens. Mit dem neuen Gesetz werden sanktionierte Personen verpflichtet, ihre Vermögenswerte in Deutschland von sich aus offenzulegen. Wer sich nicht daran hält, macht sich künftig strafbar; gut so! Aber wieso weiten Sie diese strafbewehrte Anzeigepflicht nicht auch auf diejenigen aus, die zum Beispiel als Strohmänner oder Geschäftspartner ebenfalls Kenntnis von sanktioniertem Vermögen haben? Hier bleiben Sie leider auf halbem Wege stehen.
({4})
Drittens. Warum begrenzen Sie die umfassenden Ermittlungsbefugnisse der zuständigen Behörden auf Vermögen, bei denen Tatsachen bereits die Annahme begründen, dass es sich um sanktioniertes Vermögen handeln könnte,
({5})
statt die Befugnisse generell auch auf Vermögen auszudehnen, bei denen die tatsächlich wirtschaftlich Berechtigten dahinter bisher unbekannt geblieben sind?
Das alles wäre auch schon in einem ersten Schritt in einem Sanktionsdurchsetzungsgesetz I möglich gewesen, und das müssen Sie jetzt schnell in Ihrem angekündigten Sanktionsdurchsetzungsgesetz II nachholen.
Aber nicht nur das. Wir werden Sie daran messen, ob Sie dieses Sanktionsdurchsetzungsgesetz II auch dafür nutzen, endlich an die Wurzeln des Übels zu gehen, daran, dass Deutschland bisher ein Paradies für Geldwäsche ist, ein Paradies für schmutziges Geld aus aller Welt.
Sorgen Sie für Transparenz! Sorgen Sie dafür, dass endlich Schluss gemacht wird mit Geldwäsche in Deutschland, dafür, dass wir nicht länger ein Paradies für schmutziges Geld sind! Wir als Linke werden in diese Richtung weiter Druck machen.
Vielen Dank.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine wurden Sanktionen gegen Russland verhängt. Bereits seit 2014 gibt es Sanktionen gegen die Russische Föderation, weil auch bereits damals Russland völkerrechtswidrig handelte und die Krim annektierte.
Warum reden wir aber jetzt erst über ein Sanktionsdurchsetzungsgesetz? Vorher lag der Fokus der Sanktionen größtenteils auf Wirtschaftsgütern. Neu ist jetzt, dass auf internationaler Ebene beschlossen wurde, dass wir auch verstärkt gegen Personen dieses russischen Regimes Sanktionen verhängen. Waren es 2014 noch 21 Personen, die auf der Sanktionsliste standen, sind es jetzt bereits über 1 000.
Die aktuelle Situation zeigt uns, dass wir gut darin sind, Wirtschaftsgüter zu sanktionieren. Wenn es aber darum geht, das Vermögen von sanktionierten Personen zu ermitteln und einzufrieren, haben wir noch Nachholbedarf.
({0})
Deswegen haben das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirtschaftsministerium eine Taskforce zur besseren Durchführung der Sanktionen eingesetzt. Diese Taskforce hat Vorschläge erarbeitet, die wir nun heute in Gesetzesform gießen. Dabei war es uns als Ampelkoalition besonders wichtig, alles Mögliche zu tun, um in notwendiger Eile erste Schritte auf den Weg zu bringen. Mit diesem Gesetz verbessern wir schnell und tatsächlich die Durchsetzung der Sanktionen.
({1})
In diesem ersten Gesetz zu einer besseren Sanktionsdurchsetzung setzen wir kurzfristige Maßnahmen um. Beispielsweise schaffen wir im Außenwirtschaftsgesetz Regelungen, die es den Polizeien der Länder ermöglichen, Vermögen zu ermitteln, festzusetzen und sicherzustellen. Künftig können beispielsweise Wertgegenstände für sechs Monate sichergestellt werden, bis die Eigentumsverhältnisse lückenlos aufgeklärt sind. Außerdem unterliegen sanktionierte Personen einer Anzeigepflicht über ihr in Deutschland befindliches Vermögen. Kommt die Person dieser Anzeige nicht nach, droht ihr eine Freiheitsstrafe. Darüber hinaus verbessern wir die Datenübermittlung zwischen den Behörden und verschaffen ihnen einen Zugang zum Transparenzregister. So kann die Herkunft von Vermögen künftig leichter ermittelt werden.
Diese Aufzählungen zeigen, dass es ein wichtiges Gesetz ist, und sie zeigen, dass es wichtig ist, dass wir es jetzt und heute umsetzen.
({2})
Das alles kann aber nur ein erster Schritt sein. Wir haben in der Koalition deswegen vereinbart, dass wir ein zweites Sanktionsdurchsetzungsgesetz noch vor der Sommerpause angehen werden. Darin schaffen wir eine Bundeszuständigkeit, die die Befugnisse der Länder übernimmt und eigenständig gegen sanktionierte Personen ermittelt.
Das fordert heute auch die Unionsfraktion. Aber wer das heute schon fordert, muss auch sagen, wer diese Bundeszuständigkeit übernehmen und umsetzen soll, und das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, sagen Sie eben nicht.
({3})
Deswegen können wir Ihrem Antrag eben nicht zustimmen.
({4})
Natürlich haben wir bereits jetzt sehr gute Behörden auch auf Bundesebene, zum Beispiel das Bundeskriminalamt, welches durch Auswertung der Panama Papers über weitreichende Informationen über russische Oligarchen verfügt. Dem Bundeskriminalamt fehlt es aber flächendeckend an Präsenz im Bundesgebiet. Und da haben wir auch das Zollkriminalamt, das in der Fläche gut aufgestellt ist und sich hervorragend in Ermittlungen auskennt.
({5})
Aber dieses Gesetz, das wir heute beschließen, hat den Bundestag innerhalb von zehn Tagen durchlaufen. In dieser Zeit war es nicht möglich – weder beim Zoll noch beim BKA –, Gesetze so anzupassen, dass es zu einer besseren und schlagkräftigeren Durchsetzung der Sanktionen beigetragen hätte.
({6})
Wir werden also im Sanktionsdurchsetzungsgesetz II nicht nur eine Bundeszuständigkeit schaffen, sondern gleichzeitig auch ein geeignetes Verwaltungsverfahren festlegen, um Vermögen unklarer Herkunft noch besser aufspüren zu können.
({7})
Und ich sage es ganz deutlich: Es muss möglich sein, wenn die rechtliche Herkunft von Vermögen nicht ermittelt werden kann, dass dieses Vermögen auch zugunsten der öffentlichen Hand verwertet wird.
({8})
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Sanktionen haben uns schonungslos gezeigt, wo Deutschland noch Nachholbedarf hat: bei der effektiven Verfolgung von schmutzigem Geld und bei der Ermittlung von tatsächlichen Vermögensverhältnissen. Wir werden daher auch das Transparenzregister noch besser machen und Immobilienkäufe in bar verbieten. So nehmen wir den Schwung des Kampfes gegen sanktioniertes Geld auf und bekämpfen gleichzeitig auch Geldwäsche und Organisierte Kriminalität.
({9})
Um es zum Schluss noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir stehen an der Seite der Ukraine, und auch das Durchsetzen der Sanktionen hilft der Ukraine, den Angriffskrieg Russlands zu stoppen.
({10})
Andrea Lindholz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr zwölf langen Wochen bringen Präsident Putin und seine Armee Tod und unermessliches Leid über die Ukraine. Auf vielen Ebenen wird versucht, die russische Führung zu einer Änderung ihrer brutalen Kriegspolitik zu bewegen, und dazu gehören auch die EU-Sanktionen, um die es hier heute geht.
Die Sanktionen gegen die politische und wirtschaftliche Führungsschicht Russlands müssen endlich auch in Deutschland wirksam und effektiv durchgesetzt werden.
({0})
Man kann es auch anders ausdrücken: Die Sanktionen müssen russische Oligarchen auch in Deutschland wirksam spüren. Das ist bislang nicht der Fall. Frankreich hatte bis Anfang April Vermögenswerte russischer Oligarchen in Höhe von 23,5 Milliarden Euro eingefroren, wir in Deutschland nur Werte in Höhe von 341 Millionen Euro. Deswegen sind wir uns auch einig in diesem Haus, dass wir etwas ändern müssen. Aber bei der Frage, wie wir zügig eine wirksame Sanktionsdurchsetzung in Deutschland erreichen, haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, zwar einige Gemeinsamkeiten, aber eben auch erhebliche Unterschiede, und deshalb liegen heute auch zwei Vorschläge zur abschließenden Beratung vor.
Wir von der Union fordern ein schnelleres und effektiveres Vorgehen gegen die von der EU sanktionierten Personen und Einrichtungen. Wir wollen insbesondere, dass mit dem Einfrieren von Vermögenswerten auch ein Nutzungsverbot verbunden ist und da, wo es möglich ist, auch eine Verwertung zugunsten des Aufbaus der Ukraine erfolgt. Wenn ich das heute von der SPD höre, dann muss ich mir die Frage stellen, warum Sie einen entsprechenden Antrag im Finanzausschuss abgelehnt haben.
({1})
Wir wollen, dass der Bund die Befugnis zum Aufspüren und zur Beschlagnahme von Vermögen verdächtiger Herkunft hat. Wir haben dafür natürlich sofort einsetzbare, leistungsfähige Bundesbehörden und unter anderem auch den Zoll. Wir wollen auch, dass Immobiliengeschäfte strenger kontrolliert werden, unter anderem durch ein Barzahlungsverbot.
Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, springt viel zu kurz, und er droht vor allen Dingen in der Sache leerzulaufen. Die Anhörung dazu am Montag war eindeutig. Justizminister Buschmann hat am 11. Mai hier auf meine Frage noch geantwortet, man wolle alles tun, was möglich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das tun Sie leider nicht, und das werde ich Ihnen an drei Punkten auch aufzeigen:
Erstens. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt gerade das von uns geforderte Verbot der Nutzung eingefrorener Immobilien und Sachgüter. Das gibt es in Italien bereits.
({2})
Sie wollen nach wie vor, dass russische Oligarchen, die Putin unterstützen, in Deutschland ihre Häuser, Jachten und Luxusautos zwar nicht verkaufen und vermieten, aber weiterhin privat gebrauchen dürfen. Eine solche Rechtslage, liebe Kolleginnen und Kollegen, beeindruckt die russische Führungselite wahrlich nicht.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, suggerieren Sie bitte nicht, das könnte hier jeden Bürger betreffen. Es geht um Personen, die auf der EU-Sanktionsliste stehen, die einen völkerrechtswidrigen Angriff unterstützen, bei dem täglich Menschen sterben. Wenn Sie da mit Artikel 14 Grundgesetz, der Eigentumsgarantie, kommen, dann kann ich wirklich nur den Kopf schütteln. Das ist echt unterirdisch.
({4})
Zweitens. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, wollen, dass vorläufig – bitte: vorläufig – die Länder mit den Ordnungsbehörden für die neuen Maßnahmen zuständig sein sollen. Um das mal in Zahlen auszudrücken: In Bayern sind das allein 2 056 Gemeinden und 71 Landratsämter.
({5})
– Das ist im Übrigen falsch: Für das Außenwirtschaftsgesetz sind nicht die Länder zuständig, sondern der Bund ist zuständig, und es fehlt bei diesen Behörden ganz klar an Erfahrung mit der rechtssicheren Ermittlung und Beschlagnahme von Vermögenswerten oder auch der Durchsuchung von Wohnungen. Das Vermögen der Personen, um die es hier geht, liegt nicht nur in Deutschland; das ist auch in Europa und weltweit verstreut. Unsere Ordnungsbehörden sind hier nicht vernetzt.
Sie selbst haben festgestellt, dass das ein nicht tauglicher Vorschlag ist, den Sie beim zweiten Mal offensichtlich ändern wollen. Sie geben selbst zu Protokoll: Ein bundesweit einheitlicher Vollzug und eine bundesweit einheitliche Koordinierung der Maßnahmen kann nur durch eine Bundesbehörde auf Bundesebene gewährleistet werden.
({6})
Sie machen also etwas, von dem Sie jetzt schon wissen, dass es ohnehin keinen Erfolg haben kann. Sie machen es also halbherzig.
({7})
Drittens. Wir haben heute zur Kenntnis genommen, dass Gott sei Dank der Haushaltsausschuss dem ehemaligen SPD-Bundeskanzler Schröder das Büro im Bundestag ruhend gestellt hat. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, das ist wahrlich zu wenig. Schröder verteidigt Putin. Er wird nach wie vor von Russland alimentiert. Eine Person, die ihrem Amt und dem Ansehen Deutschlands so gravierend schadet, darf kein Geld mehr vom deutschen Staat erhalten, und ihre Ausstattung muss unverzüglich beendet werden.
({8})
Das fordern wir mit unserem Antrag.
Frau Kollegin.
Selbst das EU-Parlament ist weiter als Sie, liebe Ampelkolleginnen und ‑kollegen, und will ihn auf die EU-Sanktionsliste setzen.
Frau Kollegin?
Ihr Gesetzentwurf ist halbherzig, und genau deshalb werden wir ihm nicht zustimmen.
Frau Kollegin!
Er wird nicht die richtige Richtung haben. Er wird sein Ziel verfehlen.
Frau Kollegin!
Deswegen bitte ich auch darum, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Hallo!
({0})
Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag.
({0})
Das ist schön. Ich war unsicher, ob Sie mich hören. – Ich gebe Marcel Emmerich das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sanktionen sind eine der zentralen Maßnahmen, eine der zentralen Antworten auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Deswegen ist es natürlich fundamental wichtig, dass diese Putin und sein System empfindlich treffen und richtig wehtun. Wir sorgen jetzt mit dem ersten Teil des Sanktionsdurchsetzungsgesetzespakets dafür, dass sie dann wirklich konsequent und vollumfänglich wirken.
({0})
Das heißt im Konkreten, dass Putins Clique nicht weiterhin unbehelligt ihren schmutzigen Geschäften nachgehen kann, dass die Oligarchen ihre Konten, Villen und Jachten nicht mehr vor den Augen unseres Rechtsstaates verschleiern können und dass wir auch das letzte Gemälde in der Ferienvilla aufspüren werden und dingfest machen. Dafür schaffen wir jetzt eine effektive und rechtssichere gesetzliche Grundlage.
({1})
Das ist in die Richtung der Union gesagt auch bitter notwendig, wenn man sich anschaut, wie in den vergangenen acht Jahren mit den Krimsanktionen umgegangen worden ist. 2014 sind die in Kraft getreten. Damals war, glaube ich, ein gewisser Wolfgang Schäuble Bundesfinanzminister. Wenn man sich jetzt anschaut, wie viele Sanktionen es in den letzten Jahren gab, und sieht, dass dabei lediglich knapp 350 000 Euro bis zu diesem Februar festgestellt und eingefroren worden sind,
({2})
dann sieht man, dass dieses Sanktionsdurchsetzungsgesetz jetzt notwendig ist, weil in den letzten Jahren viel zu wenig gemacht wurde.
({3})
Wir schaffen hier eine gute Rechtsgrundlage, die adäquat ist.
({4})
Da braucht es auch keine rechtlich wackligen Krücken mehr. Damit sind die Behörden in der Lage, hart durchzugreifen, und bekommen dabei unsere volle Unterstützung.
({5})
– Beruhigen Sie sich mal. Es gibt auch weiteren Handlungsbedarf. Da sind wir uns doch gar nicht uneinig. Wir sagen nur, dass man das alles in der gewissen Ruhe und auch mit Gründlichkeit machen muss.
({6})
Wir sagen ganz klar – das erfahre ich auch, wenn ich mit denen spreche, die alltäglich damit beschäftigt sind, dem System Putin und seiner Clique das Geld abzugraben –, dass der Wirrwarr der Zuständigkeiten ein großes Problem ist. Da gehen wir auch noch ran. Das steht auch noch an. Das haben wir schon angekündigt, und das wird auch noch kommen.
({7})
Da sind wir mit Nachdruck hinterher. Wir haben zum Beispiel den Zoll, der mit seinen Strukturen, Ressourcen und Fähigkeiten hier einen ganz zentralen Beitrag leisten kann. Da gehen wir gemeinsam ran.
({8})
– Ich bin verwundert, dass sie hier ständig reinschreien; denn im Kern haben wir die gleiche Stoßrichtung.
({9})
Wir wollen hier ran. Wir wollen die Sanktionen durchsetzen.
({10})
Unser gemeinsames Motto ist: Putin nerven, Putin stören, Sanktionen knallhart durchsetzen.
Vielen Dank.
({11})
Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Volksvertreter! Was bedeutet eigentlich Demokratie? Demokratie bedeutet Volksherrschaft, bedeutet, dass das Volk was zu entscheiden hat und über die Zukunft des Landes weiter mitentscheidet.
({0})
In Bezug auf die Demokratie gab es in den letzten zehn Tagen wahrlich Bemerkenswertes: Am 15. Mai stimmten die Schweizer in einem Referendum – in einer direkten Volksabstimmung mit Ja, Nein – über eine weitere Frontex-Beteiligung ab, übrigens positiv, aber alle waren sie informiert.
({1})
Die Zeitungen berichteten. Plakate hingen überall. Die Leute gingen zu den Urnen, und sie entschieden mit.
Sechs Tage zuvor, am Europatag, verspürte Emmanuel Macron den nie dagewesenen Atem der Demokratie, und zwar bei der Schlusstagung der Konferenz zur Zukunft Europas, jener Veranstaltung, die gleich am selben Tag eine Reaktion von 13 Mitgliedstaaten hervorrief, die in einer Erklärung in einem Non-Paper sagten: Die Schlussfolgerungen der Konferenz sind zwar ganz nett. Aber bitte: Wir wollen keine Vertragsänderungen, und wir wollen auch keine EU-Verfassung. – Das ist nämlich das eigentliche Ziel dieser Konferenz zur Zukunft Europas.
({2})
Man kann diese Reaktion durchaus verstehen; denn die Schlussfolgerungen haben es absolut in sich. Da geht es darum, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen. Das bedeutet: Wenn ein Land gegen etwas ist, wenn ein Land sagt: „Wir möchten das nicht auf europäischer Ebene haben“, dann hat das genau null Wirkung nach diesen neuen Vorstellungen.
Auch die Demokratie selbst soll kahlgeschlagen werden. Die Menschen sollen gar nicht mehr direkt Abgeordnete wählen, die sie kennen, sondern in transnationalen Listen sollen in quotierten Systemen nach Länderkategorien und Geschlechterquotierungen irgendwelche Leute einsortiert werden, und dann werden den Menschen diese Einheitslisten präsentiert. Die sollen dann eine Wahl treffen, die keine Wahl mehr ist. Das ist eine Verhöhnung der Demokratie.
({3})
Diese dann nicht mehr ordentlich gewählten Abgeordneten sollen mit viel mehr Kompetenzen entscheiden; denn Brüssel will viel mehr Kompetenzen haben: Sozialpolitik, Bildungspolitik, Verteidigungspolitik, sie wollen gemeinsame Schulden aufnehmen, sie wollen gemeinsam Steuern verhängen und das alles in einer EU-Verfassung verankern – einer EU-Verfassung, die diese Koalition – und das muss man an dieser Stelle noch mal betonen – eindeutig für gut heißt. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag stehen, Sie wollen einen föderalen europäischen Bundesstaat. Das bedeutet im Umkehrschluss: Sie wollen keine demokratischen Entscheidungen mehr auf nationaler Ebene. Sie wollen nicht, dass die Bürger in diesem Land noch etwas zu sagen haben, wie es die Schweizer zum Beispiel in ihrem Land zu sagen haben.
({4})
Ein solches Projekt gab es hier schon mal. Das gab es 2005, und es ist damals – zum Beispiel in Frankreich – krachend gescheitert an, ja, just der direkten Demokratie.
({5})
Deswegen gibt es auch das Konstrukt der Konferenz zur Zukunft Europas. Ursula von der Leyen hat in ihrer Agenda bereits damals ausgeführt, dass es eine Konferenz sein sollte, in der die – Zitat – eindeutigen Ziele, „die vorab von Parlament, Rat und Kommission vereinbart wurden“, umgesetzt werden sollten. Eindeutige Ziele, die vorab vereinbart worden sind, werden von der Konferenz abgestimmt, die aus – wen wundert es? – nicht ganz repräsentativen Teilnehmern besteht. Es wurden 800 Teilnehmer für die Bürgerforen ausgewählt von einer Institution, die „Kantar“ heißt, und die hat angeblich zufällig Mobilfunknummern angerufen.
({6})
Daraus entstanden dann die Teilnehmer, die übrigens ein Emmanuel Macron als „Vertreter“ bezeichnet hat; aber sie vertreten ja niemanden, außer vielleicht ihre eigene Meinung.
({7})
Diese Leute traten dann in Bürgerforen zusammen, wurden sofort in Ausschüsse eingeteilt, wurden vom Altiero-Spinelli-Institut für Föderalismusstudien dazu gebrieft, was denn so wünschenswert wäre, hatten schöne Thesenpapiere vor sich auf dem Tisch liegen und wurden dann direkt nach dem Briefing zu den Thesen befragt.
({8})
– Das haben Teilnehmer in Ausschüssen berichtet, zum Beispiel in unserem EU-Ausschuss, wie Sie sich erinnern, Herr Kollege,
({9})
und sie haben es in anderen Ausschüssen berichtet, zum Beispiel im EP oder in den Landtagen.
({10})
Diese Meinungen gibt es mehrfach, werter Herr Kollege. – Die hatten dann diese Thesenpapiere und sollten daraus plötzlich unter deutlichem Einwirken auch ihrer Ausschussvorsitzenden auswählen. Daraus wurden dann Schlussfolgerungen gezogen.
({11})
Es gab natürlich auch dieses Onlineforum, wo angeblich Millionen Bürger sich beteiligen konnten. 53 000 registrierte Teilnehmer waren es letztendlich. Im Migrationsbereich waren mit die häufigsten Forderungen – an zweiter Stelle beispielsweise –, dass man endlich mal keine neuen Migranten ins Land lassen sollte, und an vierter Stelle, dass man straffällig gewordene Asylbewerber endlich abschieben sollte. Aber keine dieser Forderungen fand sich in den Abschlussschlussfolgerungen. Klar, sie hätten ja nicht gepasst.
Meine Damen und Herren, diese Konferenz zur Zukunft Europas hat einen wahrlich schlechten Atem; denn sie ist eine Perversion dessen, was Demokratie bedeutet.
({12})
Sie ist eine Perversion dessen, was direkte oder repräsentative Demokratie sein sollte. Deswegen haben wir vier Forderungen:
({13})
Erstens. Die Regierung sollte diese Forderungen ganz klar ablehnen und auch die Schlussfolgerungen.
Zweitens. Wir müssen diese Finanzierung, die Kosten, offenlegen, die in Verbindung damit entstanden sind.
Herr Kollege.
Drittens. Auch die Liste der Teilnehmer gehört offengelegt; denn ganz viele von denen waren rein zufällig Mitglieder entsprechender NGOs.
Haben Sie herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Axel Schäfer spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das gerade war die Geschichte der Zukunftskonferenz vom Hörensagen. Jetzt möchte ich als einer der von Ihnen gewählten beiden Teilnehmer dieses Parlaments – zusammen mit Gunther Krichbaum – berichten, wie es tatsächlich war.
({0})
Wir haben hier nämlich zum ersten Mal den Versuch unternommen, europäische Demokratie anders zu gestalten als bisher. Bisher hieß europäische Demokratie: die Dominanz von Regierung und ein Europäisches Parlament, das um seine Rechte kämpft. Wir haben gesagt: Es ist notwendig, dass wir zwischen den Mitgliedern des Europäischen Parlaments und den Mitgliedern der nationalen Parlamente eine Balance schaffen, wenn wir über die Zukunft Europas reden. Und mehr noch: Wir müssen neue Formen entwickeln, wie wir Bürgerinnen und Bürger beteiligen, ohne dass wir die repräsentative Demokratie quasi komplett durch eine direkte Demokratie ersetzen.
Das war ein neues Verfahren. Dieses neue Verfahren hat gezeigt, dass viele Bürgerinnen und Bürger, die gefragt wurden – das Verfahren wurde ja, Herr Kleinwächter, im Ausschuss erklärt –, gesagt haben: Wir machen da mit. Einige, die gefragt wurden, haben allerdings gesagt: Wir machen nicht mit. – Dann haben wir einen Prozess gestartet. Dieser Prozess zeigte, dass es zwischen denen, die als Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal mit bestimmten institutionellen Fragen befasst waren, und denen, die das qua Wahlamt schon gemacht haben, Spannungen gibt. Deshalb war es notwendig, diese Spannungen offen auszutragen, auch auszuhalten und – Demokratie ist eine Frage der Beteiligung und der Zeit – dass man das, was man diskutiert, fixiert und ändert und Vorschläge macht, vielleicht auch wieder verwirft und zum Schluss fragt: Können wir manchmal bei allgemeinen, manchmal auch bei sehr konkreten Punkten eine Übereinstimmung erreichen?
Weil der Weg in einer Demokratie das Ziel ist, haben wir tatsächlich am 9. Mai ein Ziel erreicht. Dieses Ziel war das Dokument, das Ihnen jetzt vorliegt, das für uns – darauf möchte ich mich vor allen Dingen kaprizieren – im Parlament – hier auf nationaler Ebene wie im Europäischen Parlament – tiefgreifende Änderungen haben könnte.
Der erste Punkt ist dabei: Wir wollen – auch wir als Abgeordnete der nationalen Parlamente –, dass das Europäische Parlament durch ein Initiativrecht gestärkt wird. Es ist eine ganz wichtige Sache, dass das Europäische Parlament gleichberechtigt ist.
({1})
Wir wollen zweitens, dass die Möglichkeiten bei der Wahl – angefangen bei der Briefwahl bis hin zu dem, was die Digitalisierung ermöglicht – verbessert werden, damit mehr Bürgerinnen und Bürger die Chance wahrnehmen können, tatsächlich zu wählen.
Wir wollen auch die Absenkung des Wahlalters, die sich von 25 auf 21 und jetzt auf 18 Jahre langsam entwickelt hat, dahin gehend ausweiten, dass noch jüngere Menschen, und zwar bereits im Alter von 16 Jahren, zur Wahl gehen können. Das wäre aus unserer Sicht ein großer Fortschritt für die Weiterentwicklung der Demokratie; denn sie sind die Zukunft dieser Demokratie.
({2})
Und wir wollen noch etwas anderes. Das Europäische Parlament wird an zwei, drei gemeinsamen Tagen auf nationaler Ebene gewählt. Es wird aber hinterher nicht national konstituiert durch eine Fraktion Deutschland oder Frankreich oder Italien; es wird konstituiert in politischen Fraktionen. Das wollen wir beim Wahlrecht – Stichwort „transnationale Listen“ – auch zum Ausdruck bringen, damit klar ist: Wer in Deutschland SPD wählt, der kriegt auch die Partito Democratico in Italien, und wer in Deutschland CDU wählt, der bekommt andere christdemokratische Parteien. Das Gleiche gilt dann für vielfältige grüne, liberale oder linke Parteien. Das muss an der Stelle deutlich werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um Bürgerbeteiligung. Ja, wir wollen die Möglichkeit eines europaweiten Referendums. Das Schweizer Beispiel ist angesprochen worden. Aber wenn man schon Beispiele anspricht, dann muss man sie auch kennen.
({3})
Wir wollen das in Europa so handhaben: Ein europaweites Referendum würde bedeuten, dass am selben Tag in allen Ländern alle Bürgerinnen und Bürger gefragt werden, und dann wird getrennt und gemeinsam ausgezählt. Es wird natürlich erst einmal getrennt nach Staaten ausgezählt, und dann werden wir schauen, ob die Addition bei diesen Staaten auch eine Mehrheit ergibt. In der Schweiz ist das ganz einfach: Wenn es eine Mehrheit auf Bundesstaatsebene gibt und eine Mehrheit in allen Kantonen, dann ist das Referendum angenommen. Ich finde, das ist auch gut so.
Wir haben gelernt aus dem, was beim Verfassungsvertrag eben nicht gelungen ist. Beim Verfassungsvertrag haben zwei Länder dafürgestimmt, nämlich Spanien und Luxemburg, und zwei Länder dagegengestimmt, nämlich Frankreich und die Niederlande.
({4})
Nimmt man die Stimmen zusammen, wird man feststellen: Die Jastimmen für die europäische Verfassung in den vier Ländern waren mehr als die Neinstimmen – ein Punkt, den mein Vorredner einfach verschwiegen hat.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen Europa für 2024 demokratisch weiterentwickeln, so wie es uns unsere Verfassung vorgegeben hat, indem wir als Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Das ist heute wichtiger denn je. Im AfD-Wahlprogramm steht:
({6})
Wir wollen den Austritt aus der EU. – Genau das wollen weder Christdemokraten noch Liberale noch Grüne noch Linke noch Sozialdemokraten, und das eint uns in diesem Hause.
({7})
Das Wort hat der Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Titel des Antrags geht es um die Konferenz zur Zukunft Europas, über die sich Herr Kleinwächter so echauffiert hat. Das ist aber nur für seine Aufzeichnungen, die für ihn wichtig sind.
({0})
– Auf was soll man denn da neidisch sein?
Letztendlich muss man da weitermachen, wo der Kollege Schäfer aufgehört hat. Worum geht es Ihnen? In Ihrem Wahlprogramm steht: Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union. – Ihnen geht es gar nicht um die Zukunft Europas, und wie die Konferenz abgelaufen ist, ist Ihnen doch völlig wurscht.
({1})
Ihr Ziel ist der Nationalismus in Europa.
({2})
Herr Kleinwächter, Sie haben im Januar, als absehbar war, was in der Ukraine passieren würde, hier gesagt:
Europas Zukunft wird nur dann blühend sein, wenn diese Europäische Union keine Zukunft hat.
Da wollen Sie hin. Sie wollen in den Nationalismus Ihrer politischen Vorbilder zurück.
({3})
Sie wollen in die Zeit zurück, die Europa in Schutt und Asche gelegt hat. Sie wollen in die Zeit zurück, wo die Völker Europas aufeinander losgegangen sind. Das ist Ihre Politik, und nichts anderes. Und das müssen wir den Leuten sagen.
({4})
Sie machen ja nur Riesenklamauk hier. Darum werde ich jetzt auf das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben – das meinen Sie ja selber gar nicht ernst, was da steht –, auch gar nicht eingehen.
({5})
Meine Damen und Herren, das ist nach der Regierungserklärung die zweite europapolitische Debatte, die wir heute haben. In diesen Tagen, wo wir wieder Krieg in Europa haben, geht es nun darum, wie es mit der Europäischen Union weitergeht. Ich hätte eigentlich vom Herrn Bundeskanzler heute Vormittag erwartet, dass er ein paar mehr Antworten gibt zu den drängenden Fragen, die wir gerade haben. Die ist er leider schuldig geblieben. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeitenwende jetzt nach 81 Tagen beendet ist.
({6})
Das wäre sehr, sehr schade.
Wir haben auf der einen Seite die Erweiterung. Da haben wir die sechs Staaten auf dem Westbalkan und die drei Staaten Ukraine, Georgien, Moldawien. Aber das, was heute hängen geblieben ist – ich habe mir das vorhin in den Nachrichten angeschaut –, war die deutsche Absage an eine Mitgliedschaft. Meine Damen und Herren, was wir nicht brauchen, ist ein Fast Track, ein schneller Beitritt. Was wir aber brauchen, ist, dass diese Staaten zukünftig im Kreise der Demokratien – dort, wo Staaten Menschenrechte haben, wo der Frieden herrscht – ein Stück weit eine Perspektive bekommen. Da müssen wir über Modelle nachdenken, die wir gemeinsam entwickeln. Die Antwort darauf ist der Kanzler heute schuldig geblieben.
({7})
Wir brauchen möglicherweise auch eine Antwort für die Türkei oder vielleicht auch für die Rückkehr Großbritanniens, wenn man dort sagt: Ein Weniger von dem, was wir hatten, ist auch eine Perspektive.
Auf der anderen Seite – das hat Macron angesprochen, und auch darauf fehlt eine Antwort – geht es um die Handlungsfähigkeit Europas. Scholz hat heute zwar die deutsch-französische Partnerschaft angesprochen, und zwar sehr positiv; ich hatte allerdings nicht das Gefühl, dass es eine eigene deutsche Position daneben gab. Die Struktur der Europäischen Union in der jetzigen Form ist schon mit den 27 Staaten überfordert. Wir merken das bei den Sanktionen, und wir merken das beim Thema Flüchtlinge, wo alleine ein Staat auf der Bremserrolle stehen kann. Wir brauchen – das war Inhalt des Schäuble-Lamers-Papiers – ein Europa der konzentrischen Kreise, wonach Staaten, die der Meinung sind, ein Stück weiter voranschreiten zu wollen, diese Möglichkeit auch bekommen und nicht vom Langsamsten im Bunde gebremst werden. Wenn das, was an Erweiterung vor der Tür steht, tatsächlich kommt, reden wir nicht von 27 Staaten, sondern von 36 Staaten. Dafür ist die Europäische Union nicht strukturiert. Dafür brauchen wir eine entsprechend veränderte Basis, um sie handlungsfähig zu machen.
Ein dritter Punkt: Europa ist die Antwort auf die globalen Herausforderungen. Wir erleben gerade in der Ukrainekrise, in dem Krieg, den wir jetzt haben: Ohne Amerika wäre Europa überfordert. Wir brauchen hier eine gemeinsame Stoßrichtung, eine gemeinsame Antwort, damit wir selber für die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent sorgen können, damit wir im Welthandel diversifizieren können. Es wäre schön, wenn man schon auf der einen Seite mit Katar verhandelt, dann auf der anderen Seite endlich auch mit CETA vorankommen zu können. Wir wissen: Die internationalen Herausforderungen betreffend Klima, Energie, Technologie und Innovation der Wirtschaft können wir nur europäisch beantworten. Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Dafür brauchen wir eine europäische Antwort – im Gegensatz zur AfD, die keine Europäische Union will, die den Kontinent in die Bedeutungslosigkeit führen würde, bis wieder hinein in den Krieg. Wir brauchen aber einen Kanzler, der auf europäischer Ebene führt, eine entsprechende Perspektive gibt und dafür sorgt, dass diese Europäische Union sich zeitnah gut entwickelt.
Besten Dank für die Möglichkeit, das aufgrund dieses Antrages einmal sagen zu können.
({8})
Das Wort geht an Dr. Anton Hofreiter für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den man sich anschauen kann, und die Rede, die man sich anhören konnte, sind ein typisches Beispiel dafür: Wenn einem die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung aus inhaltlichen Gründen nicht passen, dann erfindet man irgendwelche Verschwörungsmythen, warum diese Bürgerinnen und Bürger jetzt nicht die richtigen Bürgerinnen und Bürger sind.
({0})
Dann überlegt man sich was, schreibt irgendwas zusammen, anstatt einfach mal zu akzeptieren, dass die Bürgerinnen und Bürger, die große Mehrheit unserer Bevölkerung, schlicht anders denkt als Sie. Akzeptieren Sie das! Nehmen Sie es an! Denken Sie darüber nach, und ändern Sie endlich Ihre Meinung!
({1})
Aber wir wollen hier nicht weiter über die Verschwörungsmythen einer kleinen Gruppe und zum Glück immer kleiner werdenden Gruppe sprechen, sondern über die Zukunft Europas.
({2})
Das Schöne an den Ergebnissen dieser Konferenz ist, dass die Bürgerinnen und Bürger sich richtig kluge Gedanken gemacht haben: Wie können wir Europa souveräner gestalten? Wie können wir Europa handlungsfähiger gestalten? Wie können wir dafür sorgen, dass die Europäische Union die großen Zukunftsaufgaben angehen kann? Und da gibt es ja viel zu tun,
({3})
wenn man sich anschaut, welche Herausforderungen allein durch den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auf uns zukommen
({4})
und wie schwer wir uns gerade damit tun, ein sechstes Sanktionspaket auf den Weg zu bringen. Und warum tun wir uns schwer? Weil Ungarn blockiert,
({5})
Ungarn, das große Schwierigkeiten mit der Rechtsstaatlichkeit und mit der Freiheit der Meinungsäußerung hat und Putin arg nah ist. Europa wäre viel handlungsfähiger, wenn das, was die Bürgerinnen und Bürger uns ins Stammbuch geschrieben haben,
({6})
bereits umgesetzt wäre, nämlich Mehrheitsentscheidungen. Nur mit Stärke, Klarheit und Handlungsfähigkeit beeindruckt man einen Diktator wie Putin. Das würde uns in der aktuellen Krise helfen, und deshalb setzen wir alle Kraft daran, die Ideen umzusetzen.
({7})
Das Allerabsurdeste ist ja, wenn es heißt: Es ist keine Demokratie mehr, wenn auf europäischer Ebene direkt gewählte Abgeordnete das Initiativrecht bekommen und das direkt gewählte europäische Parlament etwas entscheidet.
({8})
Wissen Sie, ich war mal in einem kleinen Ort mit 6 000 Einwohnern in einem Gemeinderat. Und dieser Gemeinderat konnte völlig demokratisch abstimmen, obwohl wir Teil eines Landes sind, obwohl wir Teil eines Bundes sind und obwohl wir Teil der europäischen Ebene sind. Also, die Behauptung, nur weil es eine Ebene darüber gebe, sei in der Ebene darunter die Demokratie verschwunden, ist doch völlig absurd. Es müsste selbst so jemandem wie Ihnen einleuchten, dass das absurd ist.
({9})
In der Europäischen Union gibt es aber – ich finde, dieses Bonmot ist sehr treffend – nur kleine Länder und Länder, die noch nicht verstanden haben, dass sie angesichts der Herausforderungen kleine Länder sind. Ich glaube, langsam begreifen alle europäischen Länder, dass sie angesichts der Herausforderungen kleine Länder sind, der Herausforderung der Klimakrise, der Herausforderungen für die Demokratie durch autokratische, aber ökonomisch erfolgreiche Staaten wie zum Beispiel China oder der Herausforderung aufgrund dessen, was Russland gerade treibt. Russland hat ja nicht nur die Ukraine angegriffen. Russland stiftet Unruhe in Georgien, Russland stiftet Unruhe in der Republik Moldau, Russland stiftet Unruhe in ganz Südosteuropa. Deshalb werden die Vorschläge der Zukunftskonferenz, je mehr wir davon umsetzen, nicht nur Europa stärker machen, sondern es uns auch leichter machen, die Europäische Union zu erweitern.
({10})
Manche hier bei uns sind nicht ganz zufrieden mit dem Zustand der Europäischen Union, und man kann auch noch vieles verbessern. Dazu gibt es, wie gesagt, sehr viele Vorschläge von der Zukunftskonferenz Europa. Aber man schaue sich mal unsere Nachbarstaaten an. Für sie ist die größte Hoffnung, dass sie endlich Mitglied der Europäischen Union werden können. Wenn man sich anschaut, was sich die Menschen in Albanien wünschen, was sich die Menschen in Nordmazedonien wünschen, was sich die Menschen in Georgien wünschen, was sich die Menschen in der Republik Moldau wünschen, was sich die Menschen in der Ukraine wünschen, dann stellt man fest: Die wollen alle Mitglied der Europäischen Union werden.
({11})
Das zeigt uns doch, wie attraktiv diese Europäische Union ist und was wir da geschaffen haben.
({12})
Selbstverständlich dürfen wir uns auf dem, was wir geschaffen haben, nicht ausruhen, und deshalb gibt es Hunderte von Verbesserungsvorschlägen. Einer der wichtigsten wurde schon angesprochen: die Einführung des Mehrheitsprinzips. Es gibt immer Geschrei, dass, wenn es eine qualifizierte Mehrheit gibt, das nicht mehr demokratisch sei. Also, ich weiß nicht: Wir stimmen hier auch selten komplett einstimmig ab. Das Mehrheitsprinzip ist doch gar nichts Ungewöhnliches. Auch im Bundesrat, wo 16 Bundesländer vertreten sind, stimmen wir nach dem Mehrheitsprinzip ab. Auch ich habe manche Kritik am Bundesrat. Aber die stimmen nach dem Mehrheitsprinzip ab, und der Europäischen Union würde es auch guttun, wenn wir dort mehr nach dem Mehrheitsprinzip abstimmen würden. Ich sehe da wirklich kein Problem für die Demokratie. Ich sehe eher ein Problem, wenn wir die Europäische Union nicht fortentwickeln. Aber wir werden sie fortentwickeln.
Herr Kollege.
Wir werden sie stärker machen.
({0})
Und wir können uns darauf verlassen, dass die Europäische Union einer der Garanten für Frieden, Fortschritt und Zukunft ist.
Vielen Dank.
({1})
Unser Kollege Alexander Ulrich spricht zu uns für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum x-ten Mal in den letzten fast fünf Jahren erleben wir hier Anträge der AfD zur Europäischen Union, die man eigentlich so umschreiben kann: Es wird der Dexit gefordert.
({0})
Sie wollen raus aus der Europäischen Union. Das unterscheidet Sie wirklich fundamental von allen anderen Fraktionen hier im Haus.
({1})
Ja, Europa hat Verbesserungspotenzial. Wir sind seit fast 17 Jahren gemeinsam im Europaausschuss des Bundestages, Axel. Auch wir haben sehr viel Kritik am Zustand der Europäischen Union geübt, aber Deutschland nie als Mitglied der Europäischen Union infrage gestellt wie die AfD, sondern gesagt, dass wir Verbesserungen brauchen
({2})
bei der Wirksamkeit und der Politik der Europäischen Union. Die AfD würde, wenn sie sich mit ihrem Programm durchsetzt, was nicht der Fall sein wird, Millionen Arbeitsplätze in Deutschland gefährden. Noch einmal: Die AfD ist eine Schande für Deutschland, aber keine Alternative.
({3})
Man kann sich immer darüber Gedanken machen, wie die Personen ausgewählt worden sind. Aber entscheidend sind doch die Vorschläge, die gemacht worden sind.
({4})
Und wir als Linke haben uns diese genau angeschaut.
Einer unserer Kritikpunkte in der Vergangenheit war, dass wir als Linke gesagt haben: Europa ist zu wenig sozial. Wirtschaftsinteressen, Bankeninteressen, Finanzinteressen haben zu viel Vorrang, und das soziale Europa kommt zu schwach vor. Wenn man sich jetzt die Vorschläge, die gemacht worden sind, anschaut, stellt man fest: Es sind viele gute Vorschläge dabei, zum Beispiel die vollständige Umsetzung der sozialen Säule, europäische Mindestlöhne, ein einheitliches und verbessertes Gesundheitssystem, bessere Bildungschancen für die Jugend usw. usf., alles Vorschläge, die wir als Linke unterschreiben würden.
({5})
Deshalb sagen wir: Entscheidend ist nicht, wie der Rat zusammengesetzt ist. Entscheidend ist für uns, was von diesen Vorschlägen jetzt umgesetzt wird.
({6})
Und da haben wir große Bedenken.
Herr Radwan, wenn schon Herr Krichbaum nicht reden soll oder nicht reden darf,
({7})
obwohl er von uns als Vertreter für die Zukunftskonferenz bestimmt wurde, dann hätten wenigstens Sie die Chance gehabt, darüber zu reden, wie die Union bei der Umsetzung unterstützen will. Aber Sie haben hier nur eine Verlängerung der Regierungserklärung von heute Morgen vorgenommen. Das ist ein bisschen zu wenig.
({8})
Ich will auch sagen: Europa hat viel Porzellan zerschlagen. Was nie mehr passieren darf, ist, dass wir in eine Europawahl gehen mit der Überzeugung, dass die stärkste Partei den EU-Kommissionspräsidenten oder die ‑präsidentin stellt, und am Schluss etwas ganz anderes herauskommt. Wenn wir das Wahlrecht in Richtung Spitzenkandidaten verändern, dann muss klar sein, dass die stärkste Fraktion den Kommissionspräsidenten stellt.
({9})
So etwas wie bei der letzten Europawahl darf nie mehr passieren, und daran hatten auch die Union und Kanzlerin Merkel ihren Anteil.
({10})
Was wir brauchen, ist eine bessere Umsetzung dieser Vorschläge. Wir brauchen auch einen Ausbau der Europäischen Bürgerinitiative. Und – auch wir sind dafür, Axel – wir brauchen mehr europäische Volksentscheide.
({11})
Herr Kollege.
Die müssen umgesetzt werden. Das wäre eine Konsequenz dieser Konferenz; da macht Die Linke gerne mit.
Vielen Dank.
({0})
Dr. Ann-Veruschka Jurisch hat das Wort für die FDP.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Mutter von drei Söhnen – sie sind 8, 14 und 18 Jahre alt –, und ich liebe sie sehr. Wir sind eine ganz normale Familie, die im ganz normalen Wahnsinn eines Familienalltags lebt, und Sie wissen wahrscheinlich, was ich damit meine. Wir verhandeln und streiten immer wieder über dieselben Themen: Wer hilft wann und wie im Haushalt mit? Wie viel Bildschirmzeit am Tag ist vertretbar? Wie viel Taschengeld ist für beide Seiten akzeptabel? – Wir ringen um gemeinsame Lösungen, wie wir unsere Zukunft gestalten und weiterentwickeln wollen. Das ist mühsam, das ist nervig, aber nötig und für uns als Familie am Ende lohnend.
So ist es auch mit der Europäischen Union. Im Fall der Europäischen Union sind diese Diskussionen zur inneren Weiterentwicklung auch existenziell. Gerne möchte ich mit Erlaubnis der Präsidentin Robert Schuman, den Gründungsvater des vereinten Europas, zitieren:
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.
Schuman fühlte in den Jahren nach dem Krieg das Trauma der deutsch-französischen Feindschaft im Nacken und sah das Auseinanderfallen Europas in West und Ost vor sich.
Heute herrscht auf dem europäischen Boden Krieg, der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, gegen unsere freiheitlichen europäischen Werte. Wir können die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht nationalstaatlich isoliert bewältigen. Verteidigungsfähigkeit, Dekarbonisierung der Wirtschaft, Sicherung von Lieferketten, Rohstoff- und Energiesicherheit – um diese Herausforderungen zu bewältigen, muss die Europäische Union immer besser werden, effektiver, transparenter, bürgernäher.
({0})
Anfang dieses Jahres durfte ich meine erste Rede im Deutschen Bundestag zur Konferenz zur Zukunft Europas halten. Bürgerinnen und Bürger haben sich mit viel persönlichem Engagement mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union eingebracht. Der Abschlussbericht der Konferenz atmet den großen Wunsch der Menschen, die Europäische Union noch effektiver, transparenter und bürgernäher zu machen. In Richtung der AfD will ich hier sagen: Wer einerseits das Europaparlament wegen eines angeblichen Demokratiedefizits abschaffen will, andererseits aber die direkte Demokratie bei uns einführen will, dem müsste doch eigentlich bei diesem extrem bürgernahen Ansatz wenigstens ein bisschen das Herz aufgehen. Aber selbst das schaffen Sie nicht.
({1})
Stattdessen setzen Sie hier in maximal gehässiger Weise Verschwörungstheorien in die Welt. Ihr Antrag ist scheinheilig und zynisch.
({2})
Lassen Sie mich hiermit auf das Abschlussdokument der Konferenz zurückkommen. Die Fülle der Vorschläge zeigt: Die EU ist noch nicht perfekt. Wie in einer Familie sollten wir uns deshalb der Debatte stellen und die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger mehr als dankbar aufgreifen, und zwar ohne Schere im Kopf. Deswegen darf auch die Einberufung eines Verfassungskonvents kein Tabu sein. Als Freie Demokratin setze ich mich dafür ein, dass der von der Konferenz zur Zukunft Europas ausgelöste Prozess auch in Richtung eines Verfassungskonvents weitergeht. Und ich bin unserem Bundeskanzler Olaf Scholz sehr dankbar, dass er sich heute Morgen hier in diesem Haus mit allem politischen Gewicht für eine europäische Reform zusammen mit Frankreich ausgesprochen hat.
({3})
Ich bitte Sie und uns alle hier im Bundestag: Lassen Sie uns europapolitische Vorhaben sehr aktiv und aufmerksam begleiten, jetzt ganz besonders auch die Ergebnisse der Konferenz! Denn es geht um unsere Zukunft. Die Europäische Union ist unsere strategische Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Die Europäische Union ist unser gegenseitiges Versprechen für Frieden und unsere Hoffnung auf Frieden in ganz Europa. Die Europäische Union ist unsere Freiheit. Lassen Sie uns daher mit aller Kraft und Überzeugung den jetzt angestoßenen Reformprozess der Europäischen Union unterstützen.
Herzlichen Dank.
({4})
Matthias Helferich hat jetzt das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 800 Dunkelmänner, intransparente Entscheidungsprozesse, gelenkte Willensbildung – wenn die Europäische Union zur Konferenz zur Zukunft Europas einlädt, dann betreibt sie Demokratiesimulation zulasten der Souveränität europäischer Völker. Die EU institutionalisiert ihr Grundverständnis, die Entrechtung und Abwehr echter demokratischer Mitsprache, echter demokratischer Teilhabe. Ihr Ziel ist es letztlich, ungehemmten Machtzuwachs zu generieren, der euphemistisch dann auch von Ihnen allen als Integration definiert wird. Zu ihrer Legitimation dienen diesmal die postdemokratischen Pappkameraden als Konferenzteilnehmer.
({0})
Postdemokratie beschrieb der linke Kapitalismuskritiker – das war noch ein richtiger Linker – Jacques Rancière als formelle Demokratie ohne Demos.
({1})
Die Völker übernehmen keine Verantwortung mehr; sie werden geführt, dürfen sich aber frei fühlen.
Doch es gibt den Widerspruch zu Postdemokratie, zu Entmündigung und auch zur Vermassung, den Widerspruch zu Multikultur und Vereinheitlichung. Es gibt diesen Widerspruch, und das sind wir: Europas Patrioten und Souveränisten. Wir stehen für das, was Sie und die EU-Eliten durch die Konferenz verstummen lassen wollen: die Liebe zum Eigenen und zur Vielfalt der europäischen Lebensordnung, die Souveränität und Selbstbestimmung der Völker unseres Kontinents, echte Freiheit.
Wenn ich höre, dass die Nation, Nationalstaatlichkeit als Hort der Unfreiheit diffamiert wird, muss ich sagen: Das ist Quatsch. Ohne Nation keine Freiheit und auch keine Demokratie!
({2})
Und selbst wenn Sie sich das herbeisehnen und Ihre Satrapen in den Medienhäusern dies herbeischreiben: Der Geist unserer europäischen freiheitlichen Sammlungsbewegung und der Wille unserer europäischen Gegenkultur werden nicht verstummen. Dies wird keine postdemokratische Konferenz schaffen, keine EU, kein Medienkonzern. Souveränisten und Patrioten in Europa verlieren vielleicht zusammen, wie in Frankreich, aber sie werden auch wieder gewinnen; da bin ich mir sicher.
Vielen Dank.
({3})
Tilman Kuban spricht jetzt zu uns für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass sich ausgerechnet die AfD Sorgen um die Transparenz in politischen Prozessen macht, hat mich ehrlicherweise überrascht.
({0})
Ausgerechnet eine Partei, die die Zivilbevölkerung und die freie Presse gerne regelmäßig von ihren Parteitagen ausschließt, möchte uns eine Nachhilfestunde in Demokratie geben. Das kann man sich nicht ausdenken, das muss man live erleben.
({1})
Dass Sie als Partei von gestern, die im Gestern lebt, im Gestern denkt und Meinungen von gestern vertritt, nichts mit einer Zukunftskonferenz anfangen kann, hat mich durchaus nicht überrascht.
({2})
Allerdings, Herr Kollege Ulrich, spielten Sie sich ja gerade noch als Verfechter des großen europäischen Parlamentarismus auf. Ich möchte Sie kurz erinnern, dass es doch Ihre Parteifreunde gewesen sind, die damals im Europäischen Parlament verhindert haben, dass der Wahlsieger Manfred Weber Präsident der Europäischen Kommission wird. Das Europäische Parlament hat sich an diesem Tage selbst besiegt. Das war kein Ruhmesblatt für die europäische Parteiendemokratie.
({3})
Weil es in dieser Debatte relativ wenig um die Zukunft Europas ging, will ich zum Abschluss gerne noch zwei, drei Punkte nennen, wie für mich die Zukunft Europas aussieht.
Seit dem 24. Februar ist unsere Welt eine andere. Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist für uns alle klar: Auch Europa muss sich im Kampf der Systeme zwischen Demokratie und Diktatur verändern, um zu bestehen. Dabei darf sich Europa nicht länger mit dem Klein-Klein beschäftigen. Vielmehr muss unser Motto lauten: „Make Europe bigger on big things and smaller on small things“; denn nur wenn wir uns in den nächsten Jahren weniger um Dämmstoffverordnungen und viel mehr um geopolitische Einflusssphären kümmern, wird sich die weitreichende Frage „Sind wir Spielball zwischen den Mächten oder selbstbewusster Akteur auf dem Spielfeld?“ am Ende zu unseren Gunsten entscheiden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein klarer Spielfeldplayer sein sollten.
({4})
Ich glaube auch, dass die Europäische Union größer werden muss,
({5})
dass wir den Staaten des westlichen Balkans, Moldau, den Georgiern, aber eben auch der Ukraine einen Kandidatenstatus und eine Beitrittsperspektive aufzeigen sollten. Gerade für die Ukrainer gilt, dass wir den tapferen Soldatinnen und Soldaten, den tapferen Kämpfern vor Ort, genauso wie den Menschen, die zu uns geflüchtet sind, das klare Signal senden: Wir werden dieses Land wieder aufbauen, und wir wollen, dass die Ukraine in Zukunft ein freier, ein unabhängiger, ein europäischer Staat ist. Deswegen haben sie eine Zukunft in der Europäischen Union verdient.
({6})
Dafür braucht es am Ende Reformen innerhalb der Europäischen Union, um klarzumachen, dass wir im Zweifel unterschiedliche Stufen der EU-Integration mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten haben.
Zum Abschluss möchte ich gerne noch auf die Geowirtschaftspolitik eingehen; denn ausgerechnet die Exportnation Deutschland ist zum Bremser des freien Welthandels geworden. Während wir uns noch als starke Industrie- und Handelsmacht feiern, sind es längst andere, die die Standards setzen, weil wir diejenigen sind, die Angst vor einem Chlorhühnchen gehabt haben und deswegen nicht mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen die größte Weltwirtschaftszone geschaffen haben. Stattdessen sind uns die Chinesen mit dem pazifischen Freihandelsabkommen zuvorgekommen. Deswegen sage ich Ihnen auch mit Blick auf die Zukunft: Lassen Sie uns einen neuen Vorstoß wagen. Lassen Sie uns einen Vorstoß für ein Freihandelsabkommen mit den Demokratien der Welt wagen, das auch ein Angebot an die Staaten in Afrika und die Staaten in Lateinamerika ist. Unsere Blaupause dafür wäre das CETA-Abkommen mit dem liberalen und diversen Kanada. Das liegt zur Ratifizierung vor. Das sollten wir gemeinsam nutzen und gemeinsam den Blick nach vorne richten.
Das wären Themen gewesen, über die man heute hätte diskutieren können. Sie haben uns einen Antrag vorgelegt, der das Papier, auf dem er steht, nicht wert ist. Wir brauchen diese Debatten im Parlament, aber nicht Ihre wilden Verschwörungstheorien.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Monate für jeweils 9 Euro in ganz Deutschland einfach den ÖPNV nutzen – mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland will dieses Angebot ausprobieren. Das hat gerade eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergeben.
Dieses gigantische Interesse zeigt: Unser 9‑Euro-Ticket ist bereits jetzt ein Erfolg. Ganz Deutschland spricht vom öffentlichen Personennahverkehr. Das ist eine Riesenchance. Das ist eine Riesenchance für die Verkehrsverbünde, viele Neukundinnen und Neukunden von ihrem Angebot zu begeistern und zu zeigen, was der ÖPNV alles kann, eine Riesenchance für Länder und Kommunen, herauszufinden, ob und wie viele Fahrgäste bei einem preisgünstigen ÖPNV-Angebot tatsächlich umsteigen, eine Riesenchance für die Bürgerinnen und Bürger, ihre bisherigen Mobilitätsgewohnheiten zu überdenken und einmal etwas Neues auszuprobieren, und eine Riesenchance, diese drei Monate einen neuen denkbaren Weg zu gehen und klimafreundliche Mobilität praktisch zu testen.
Eigentlich sollte das Ticket in erster Linie dazu dienen, die Bürgerinnen und Bürger von den gestiegenen Energiepreisen zu entlasten. Aber jetzt sehen wir, dass wir damit noch viel mehr erreichen können. Im Idealfall gewinnen wir wertvolle Erkenntnisse, wie wir den öffentlichen Personennahverkehr für die Zukunft aufstellen müssen, damit mehr Menschen Lust bekommen, regelmäßig in Bus oder Bahn zu steigen.
({0})
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das 9‑Euro-Ticket zugleich ein einmaliger bundesweiter Test. Deshalb ist es auch so wichtig, dass es nicht als Nulltariflösung angeboten wird, sondern dass ein Ticket ausgestellt wird. Nur so sind die Verkehrsunternehmen in der Lage, Marktforschung zu betreiben und anschließend neue Kunden anzusprechen. Wäre das Ticket kostenlos, bekämen wir keinen Überblick darüber, wie viele es wo genutzt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir starten hier ein Projekt,
({1})
das schon jetzt international wahrgenommen wird. Vor ein paar Tagen habe ich ein Gespräch mit dem litauischen Verkehrsminister geführt. Unser 9‑Euro-Ticket hat ihn regelrecht elektrisiert. Er war fasziniert, fand das Projekt hochspannend, gerade weil wir als bevölkerungsreichstes Land der Europäischen Union damit ein völlig neues Angebot schaffen, bundesweit Bus und Bahn zu nutzen.
({2})
Er bat mich, ihn auf dem Laufenden zu halten, wie das Projekt bei den Menschen ankommt und welche Erkenntnisse wir daraus gewinnen. Auch heute bin ich auf dem International Transport Forum in Leipzig von Kollegen gezielt darauf angesprochen worden.
Sie sehen: Mit dem 9‑Euro-Ticket setzen wir Maßstäbe. Unser Modellvorhaben hat Strahlkraft, weit über die Landesgrenze hinaus. Genau solche Initiativen brauchen wir. Bis zum Jahr 2030 muss der Verkehrssektor seine Emissionen drastisch reduzieren. Das schaffen wir nur mit einem starken ÖPNV.
({3})
Deshalb gleichen wir, Bund und Länder, erneut die pandemiebedingten Einnahmeausfälle aus, und wir starten mit dem 9‑Euro-Ticket eine Initiative, die bei den Menschen auf allergrößtes Interesse stößt und von Fachleuten im In- und Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was Bund und Länder hier innerhalb kürzester Zeit gemeinsam auf die Beine gestellt haben, zeigt, dass wir in der Lage sind, Großes hinzubekommen, und extrem viel bewegen können, wenn alle mitmachen und wir gemeinsam in eine Richtung gehen, an einem Strang ziehen.
Ich danke Ihnen sehr.
({4})
Michael Donth ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, am Dienstag habe ich Ihren Staatssekretär, den Herrn Luksic, im Verkehrsausschuss gefragt, wie es denn weitergeht, sollten die Bundesländer Ihren 9-Euro-Entwurf im Bundesrat blockieren. Seine Antwort war, Ihr Haus hätte keinerlei Hinweise darauf, dass das so kommen könnte. Damals waren die Zeitungen bereits voll mit entsprechenden Meldungen, Tendenz im Laufe der Woche steigend. Dass damit die Einführung des 9‑Euro-Tickets zum 1. Juni 2022 ins Wanken kommen könnte, hat das zuständige Ministerium offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen.
Aber Sie können Ihr Schnäppchenticketprojekt noch retten: mit einer Nachschussverpflichtung gegenüber den Ländern und mit einer Kompensation der seit Februar explodierenden Energiekosten, von Diesel bis Bahnstrom.
({0})
Das wäre eine echte Entlastung für diejenigen, die unter Ihrer nächtlichen Idee im Koalitionsausschuss am meisten leiden werden, nämlich die Bus-, Bahn- und Taxiunternehmen. Sie speisen diese Unternehmen mit 9 Cent Rabatt pro Liter für drei Monate ab und verbrennen stattdessen in einem temporären „Strohfeuer“ – so nennt es Ministerpräsident Kretschmann; das war ein Zitat – 2,5 Milliarden Euro.
Die öffentliche Anhörung hat klar gezeigt: Der Nahverkehr braucht ein besseres Angebot, insbesondere auch dichtere Takte auf dem Land. Stattdessen greift ausgerechnet ein FDP-geführtes Haus zur großen Steuermittelgießkanne, verzerrt mit subventionierten Schnäppchenpreisen den Fernverkehrsmarkt und gefährdet Arbeitsplätze und die Existenz von kleinen und mittelständischen Bus- und Taxiunternehmen. Wo jetzt kaum ein Bus fährt, fährt von Juni bis August kein einziger Bus zusätzlich, trotz der 2,5 Milliarden Euro Steuermehrausgaben. Die Menschen auf dem Land lassen Sie also im Stich. Die Unternehmen, die sich jetzt schon schwertun, bei hohen Spritpreisen ihr Angebot aufrechtzuerhalten, die teilweise kurz vor der Insolvenz stehen, die ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jetzt wegen eines möglichen Fahrgastaufwuchses den Sommerurlaub streichen müssen, auch die werden von Ihnen im Stich gelassen.
Und was kommt nach den drei Monaten 9‑Euro-Ticket? Die Experten sagen uns voraus: deutlich höhere Preise als heute, Notvergaben, weniger Verkehrsangebote im ÖPNV. Nehmen Sie wirklich in Kauf, dass Busse und Bahnen bald stehen bleiben?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie daher dringend auf: Verschließen Sie sich nicht vor lauter Übereifer den Appellen der Experten – auch der von Ihnen – und Ihrer Ländervertreter!
Herr Kollege.
Finanzieren Sie das 9‑Euro-Ticket wenigstens sauber aus, und sorgen Sie dafür, dass die Unternehmen im ÖPNV überleben!
Herr Kollege!
Als letzter Satz: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, der die Bedenken der Fachleute aufgreift. Dann ist es immer noch ein teures Experiment, aber wenigstens reduzieren wir die Kollateralschäden.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Detlef Müller hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Vertreter der Bundesländer! Ich freue mich, dass der öffentliche Personennahverkehr seit Wochen ein prominentes Thema in den Medien ist. Da gehört er auch häufiger hin, was seine Bedeutung für Millionen Pendler täglich und auch für den Klimawandel angeht. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass diese Prominenz weniger aus einem öffentlich ausgetragenen Dissens um eine einzelne Maßnahme kommt, sondern aus dem, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben: den strukturellen Ausbau des ÖPNV als Rückgrat der Verkehrswende, eine Garantie für modernen, bezahlbaren und klimafreundlichen öffentlichen Verkehr für möglichst viele Menschen in diesem Land.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es vorwegzunehmen: Die Idee, dem ÖPNV einen Attraktivitätsschub zu geben und auch den Menschen mit dem 9‑Euro-Ticket eine deutliche Entlastung zu verschaffen, begrüße ich ausdrücklich.
({0})
Herr Minister Wissing, es war eine spontane Nachtgeburt im Koalitionsausschuss, durchaus überraschend und zugleich ein mutiger Vorschlag. Das 9‑Euro-Ticket ist nicht nur eine große und wirkliche soziale Entlastung, sondern zugleich eine große Chance für den ÖPNV. Der Bund hat eine faire Finanzierung angeboten. Die Mehrkosten sind mit 2,5 Milliarden Euro seriös kalkuliert, und auch die im Gesetz geregelte Kompensation für die Coronaschäden beim ÖPNV ist dringend notwendig, um den Unternehmen wieder etwas Luft nach den schwierigen Pandemiezeiten zu verschaffen. Aber – das gehört zur Wahrheit –: Wir wissen, dass mit dem heute zu beschließenden Gesetz die strukturellen Probleme des ÖPNV nicht gelöst werden.
Der ÖPNV ist in Deutschland in einer schwierigen Situation: weggebrochene Fahrgastzahlen, erheblicher Modernisierungsbedarf, steigende Betriebskosten auf der einen Seite und gleichzeitig riesige Erwartungen im Rahmen der Verkehrswende mit Angebotsausweitung und damit weiter steigenden Kosten auf der anderen Seite.
({1})
Wir müssen daher aufpassen, dass das 9‑Euro-Ticket kein Strohfeuer wird. Die Gefahr von künftigen Abbestellungen von Bussen und Bahnen oder von Fahrpreissteigerungen ist real.
Energiepreise und richtigerweise höhere Löhne treiben viele Unternehmen an die Grenze des Leistbaren. Die Situation hat sich durch den Ukrainekrieg noch einmal verschärft, weil die Kosten für Kraftstoffe und für Elektroenergie explodieren. Umso mehr braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt, dazu stehen wir, und das gilt.
({2})
Für die Verkehrswende braucht es mehr Nahverkehr und einen dauerhaft und strukturell stark aufgestellten ÖPNV. Wir wollen nicht nur den Erhalt des Bestehenden, sondern Wachstum, einen besseren Nahverkehr und ein größeres Angebot. Darum haben wir einen Mobilitätspakt vereinbart.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der AfD zulassen?
Nein. – Ich verstehe die Not der Länder bei der Organisation eines leistungsfähigen ÖPNV. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Ländern, den Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen bedanken für die Anstrengungen der letzten Wochen, um die Umsetzung dieses 9‑Euro-Tickets zu gewährleisten. Das war ein Riesenkraftakt.
({0})
Aber, lieber Herr Donth, lieber Michael, ich bin nun auch nicht blauäugig. Klar wird es Probleme geben, es wird überfüllte Züge geben, Regionalexpresse beispielsweise. Es wird ab und an eng auf bestimmten touristischen Relationen. Das ist mir und den Verbündeten und allen Beteiligten völlig klar. Aber vielleicht sollten wir einmal aufhören, immer nur das Negative herauszupicken:
({1})
geht nicht, wird schwierig, die Ressourcen, kein Personal, keine Fahrzeuge. Besser und zielführender finde ich, finden wir, dass die Chancen des Projektes in den Mittelpunkt gerückt werden, die Chance, für wenig Geld den ÖPNV, Busse, Bahnen und Züge bundesweit zu nutzen, die Chance, als Pendler, der schon jahrelang den ÖPNV nutzt, richtig Geld zu sparen, die Chance, dass der Gewohnheitsautofahrer einfach einmal in Bus und Bahn umsteigt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich werden wir dem Gesetz zustimmen. Ich fordere die Länder auf, morgen im Bundesrat Gleiches zu tun; alles andere wäre peinlich.
({3})
Herr Kollege.
Diejenigen, die ablehnen, dürfen das auch den Bürgerinnen und Bürgern erklären, die sich auf das 9‑Euro-Ticket freuen und die es angesichts steigender Preise auch tatsächlich brauchen.
Vielen Dank.
({0})
Wolfgang Wiehle hat das Wort für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wenn es einen Preis dafür gäbe, wer im öffentlichen Verkehr das größte Chaos anrichtet und dabei das meiste Geld vergeudet, dann würde ihn die Bundesregierung jetzt gewinnen.
({0})
Denn mit dem 9‑Euro-Ticket wird in den nächsten drei Monaten eine große Party entfacht, auf die ein heftiger Kater folgen wird. Kopfschmerzen werden nicht nur die Berufspendler haben, die wegen überfüllter Züge zu spät zur Arbeit kommen. Touristisch attraktive Ziele erwarten einen schwerverdaulichen Massenansturm. Der Regierung sage ich: Ihre Partydroge ist zu hoch dosiert. Wenn jedermann einen Monat lang für 9 Euro per Regionalzug mit ein paarmal umsteigen durch ganz Deutschland fahren kann,
({1})
ist das fast wie kostenlos oder – zum Vergleich – wie ein Spritpreis von 9 Cent pro Liter statt 2 Euro pro Liter. Dass Sie damit unerwünschte Nebenwirkungen bekommen, ist sonnenklar.
Sie in der Regierung verderben außerdem noch selbst die Werbung für den Nahverkehr, die Sie mit Ihrem 2,5‑Milliarden-Euro-Vorhaben machen wollen.
({2})
Erstens halten Sie anders als fast alle Nachbarländer Deutschlands an der Maskenpflicht fest,
({3})
die viele Fahrgäste vertrieben hat und bei 25 Grad im Schatten besonders unsinnig ist.
({4})
Zweitens jagt Ihre falsche Energiepolitik die Preise nach oben und die Sanktionen, die uns selbst zuallererst schaden, verstärken das noch. Nach den Partymonaten werden deshalb auch im Nahverkehr die Preise kräftig steigen.
({5})
Drittens kannibalisiert das 9‑Euro-Ticket den Fernverkehr in Bus und Bahn. Die Vertreterin der Busbranche hat das auf der Expertenanhörung am Montag mit deutlichen Worten gesagt und davor gewarnt. Am Ende der Party sind möglicherweise viele Busunternehmen pleite.
Wenn jetzt einzelne Länder ausscheren, wie es die Unionsfraktion mit ihrem Antrag ermöglichen möchte, oder das 9‑Euro-Ticket morgen im Bundesrat scheitert, dann haben wir den Kater sogar schon vor der Party.
Deshalb appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren: Stimmen Sie dem Antrag der AfD-Fraktion zu, und sagen Sie die verunglückte Party ab!
({6})
Wir gönnen jedem eine finanzielle Entlastung, aber diese muss auf anderen Wegen erfolgen. Ich verweise auf die Anträge der AfD-Fraktion zur Reduzierung der extrem hohen Energiepreise.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Stefan Gelbhaar hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90 die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ohne Kater danach war es keine gute Party, und damit auch genug mit diesen Metaphern.
Der Bundestag entscheidet heute über die Verlängerung der Coronahilfen für den ÖPNV und vor allem über das 9‑Euro-Ticket. Drei Monate lang haben alle die Möglichkeit, den ÖPNV zu nutzen,
({0})
und zwar für 9 Euro, und das ist ein Wow!
({1})
Das Vorhaben ist im Kern ein sozialpolitisches; das wissen wir alle. Im Rahmen des zweiten Entlastungspaketes wollen wir als Ampelkoalition sehr zeitnah insbesondere all diejenigen finanziell entlasten, die aufgrund der steigenden Preise an ihre finanziellen Grenzen gekommen sind. Darum geht es. Dabei denken wir nicht nur über ein Verkehrsmittel nach, wie es so häufig passiert ist, sondern wir stellen diesmal den ÖPNV in den Mittelpunkt. Da gehört er auch hin.
({2})
Wer in den nächsten drei Monaten wirklich sparen möchte, der nimmt Bus und Bahn. Gleichzeitig sparen wir als Gesellschaft durch den Umstieg auf den öffentlichen Verkehr zum Beispiel Energie. Vielleicht sparen wir auch den einen oder anderen Taler beim Tankrabatt. Gemeinsam mit diesem Engagement von Bundesländern, von Kommunen, von Verbänden wird dieses Vorhaben organisiert. Das ist eine Anstrengung; dafür schon jetzt herzlichen Dank an alle Beteiligten.
({3})
Denn sie haben gezeigt, was in so kurzer Zeit möglich werden konnte. Das 9‑Euro-Ticket wird es im Rahmen eines vereinheitlichten Ticketsystems geben, und es gilt deutschlandweit. Das ist unzweifelhaft eine Anstrengung, und das ist, wenn es so gelingt, auch unzweifelhaft ein wahnsinniger Erfolg.
Gleichwohl: In der Welt von Bus und Bahn herrscht jetzt nicht plötzlich das Paradies. Wir haben keine paradiesischen Zustände. Da müssen wir uns ehrlich machen; das wissen wir. Die letzten Bundesregierungen haben den öffentlichen Nahverkehr jahrzehntelang vernachlässigt. Während Autobahnen immer mehr ausgebaut und trotzdem zu wenig gewartet wurden, wurden Bus- und Bahnverbindungen ausgedünnt. Bahnhöfe und Haltestellen sind häufig – zu häufig! – in keinem guten Zustand. Das muss sich ändern. Qualität und Angebot müssen her.
({4})
Der Kollege hat es schon angesprochen: Gerade im ländlichen Raum ist es oft noch unmöglich, den Weg zur Ärztin oder zum nächsten Supermarkt mit dem ÖPNV zu machen. Das ist eine Art Mobilitätsarmut, und diese Mobilitätsarmut kann nur durch ein zukunftsfähiges Verkehrsangebot beendet werden. Das gibt es wiederum nur mit einem starken, einem komfortablen ÖPNV, mit öffentlichen Angeboten, mit geteilter Mobilität. Das wiederum ist dann die Verkehrswende und der Weg hin zur Klimaneutralität.
({5})
Wir haben als Koalition eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel vereinbart; das wissen Sie ganz genau. Diese kommt jetzt leider nicht in diesem Haushalt,
({6})
aber wir werden sie im Rahmen der Änderung des Regionalisierungsgesetzes im Haushalt 2023 ganz sicher realisieren.
({7})
Wir werden außerdem mit den Ländern und den Gemeinden einen Modernisierungspakt aushandeln – der ist schon in der Mache – und den öffentlichen Nah- und Fernverkehr für diese klimaneutrale Zukunft bereit machen. Da muss auch der ÖPNV seinen Beitrag leisten; das ist vollkommen klar. Trotzdem geht es jetzt zuerst einmal darum, das 9‑Euro-Ticket zum Erfolg zu führen. Wir wollen die Menschen nicht nur finanziell entlasten. Wir wollen mit dem 9‑Euro-Ticket auch einen Anstoß geben; denn viele Menschen, Herr Donth, denken jetzt zum ersten Mal an den ÖPNV. Es ist auch in Ordnung, dass das bisher nicht so war; aber wenn sie jetzt an den ÖPNV denken, wenn sie ihre täglichen Wege planen, dann ist das gut, das ist richtig. Das öffentliche Interesse ist jetzt schon riesig, und diese Vorfreude aufs Ausprobieren müssen wir doch jetzt ausnutzen.
({8})
Ich sage einmal: Selten war die Resonanz auf eine verkehrspolitische Maßnahme so positiv wie jetzt.
({9})
Herr Donth, noch einen Gedanken: Verstecken Sie sich doch nicht hinter den Bundesländern. Machen Sie sich doch da ehrlich! Sagen Sie es doch: Sie haben da nur das Auto im Kopf. Der Tankrabatt ist vollkommen okay, aber das 9‑Euro-Ticket, das ist irgendwie böse. – Das verstehe ich nicht. Wir freuen uns darüber, dass die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger jetzt schon plant, das 9‑Euro-Ticket drei Monate lang zu nutzen. Wir müssen nur eines klarstellen: dass die Verkehrsunternehmen natürlich informieren, informieren, informieren – auch über Engpässe –, damit die Vorfreude dann auch in ein positives Erleben umschlägt.
Vielen Dank.
({10})
Für Die Linke hat der Kollege Bernd Riexinger das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn die Regionalisierungsmittel nicht deutlich erhöht werden, wird es nichts mit der Mobilitätswende. Wie sollen denn die Kommunen die Coronaausfälle kompensieren, den ÖPNV ausbauen und niedrigere Ticketpreise finanzieren, wenn sie nicht genügend Geld bekommen? Angesichts der Dramatik der Klimakrise ist zu wenig Geld die teuerste Variante.
({0})
Dass AfD und Union das 9‑Euro-Ticket ablehnen, spricht Bände. Sie wollen nicht nur den Menschen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, die dringend nötige Entlastung verweigern; das ist nicht sozial. Sie wollen auch die Chancen verbauen, dass mehr Menschen umsteigen, und das ist nicht klimagerecht.
({1})
Die Regierung geht einen Schritt in die richtige Richtung. Dann verlässt sie aber gleich der Mut. Schon für die klare Übernahme der Kosten des 9‑Euro-Tickets reicht es nicht.
({2})
Lieber gefährden Sie das ganze Projekt im Streit mit den Ländern auf den letzten Metern. Zudem: Zusätzliche Mittel für den ÖPNV – Fehlanzeige! Eine vernünftige Perspektive nach Auslaufen des 9‑Euro-Tickets – Fehlanzeige! Drei Monate sind einfach zu wenig.
({3})
Genauso wichtig ist jedoch, dafür zu sorgen, dass danach die Ticketpreise nicht explodieren und alle positiven Effekte wieder kaputtgemacht werden. Dafür müssen die Mittel erhöht werden. Außerdem brauchen wir endlich ein klares Mobilitätsversprechen. Der ÖPNV und die Bahn müssen so ausgebaut werden, dass jeder und jede auch im ländlichen Bereich bequem und kostengünstig von A nach B kommt, auch ohne eigenes Auto. Dafür müssen Sie klotzen und nicht kleckern.
({4})
Wir werden dem Gesetzentwurf der Koalition heute zustimmen; aber Sie müssen endlich zu Potte kommen – für eine nachhaltige Mobilitätswende, die diesen Namen auch verdient.
Danke schön.
({5})
Dr. Jonas Geissler spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister, nach Ihren Ausführungen könnte man denken, Sie versuchten, den Eindruck zu erwecken, mit dem 9‑Euro-Ticket wird die Welt gerettet.
({0})
Das einfache Problem ist: Wenn man bei uns daheim im ländlichen Raum die Frage nach dem ÖPNV stellt, dann heißt es nicht: „Was kostet der Bus?“, sondern: „Fährt überhaupt ein Bus?“ Ich mache mittlerweile seit 14 Jahren Kommunalpolitik, und mein Heimatlandkreis Kronach hat tatsächlich eines der modernsten Mobilitätskonzepte, die es überhaupt gibt. Bei uns fährt der Bus. Aber überall, wo ich draußen herumschaue, ist genau das nicht der Fall.
({1})
Die Frage, wie ich den ÖPNV im ländlichen Raum stärke, wird einzig und allein über die Taktung, über mehr ÖPNV und über attraktivere Verkehrsmittel beantwortet.
({2})
60 Prozent der Menschen in Deutschland leben im ländlichen Raum. Diese 60 Prozent fahren leider größtenteils mit dem Auto.
({3})
Das sind diejenigen, die auch jeden Tag belastet werden. Jeder, der heute mit dem ÖPNV unterwegs ist, wird nicht belastet, weil er das Gleiche zahlt wie das, was er die ganze Zeit über gezahlt hat. Aber wer mit dem Auto fährt, der fährt mit dem Auto auf die Arbeit, der fährt die Kinder mit dem Auto in die Schule, der fährt mit dem Auto Einkaufen, der fährt mit dem Auto abends weg. Das sind die Kosten, bei denen Menschen auch entlastet werden müssen.
Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage.
Nein, jetzt nicht. – Nicht dass wir uns falsch verstehen. Ich ganz persönlich finde, das 9‑Euro-Ticket ist eine feine Sache, genauso wie es das 365-Euro-Ticket ist oder wie es ein 0-Euro-Ticket wäre. Das große „Aber“ ist: Das kann nur funktionieren, wenn wir besser werden, wenn wir attraktiver werden und wenn wir mehr werden. Das Risiko mit diesem Gesetz ist, dass genau das eben nicht passiert.
({0})
Das Risiko ist, dass wir volle Bahnen ins bayerische Oberland oder nach Sylt haben. Das Risiko ist, dass nachdem das 9‑Euro-Ticket nach den Sommerferien vorbei ist, die Ticketpreise im ÖPNV insgesamt erhöht werden müssen, weil die Länder nicht genügend Regionalisierungsmittel haben.
({1})
Das Risiko ist auch, dass alle, die sich bereit erklärt haben, sich auf dieses Experiment einzulassen, danach bitter enttäuscht worden sind.
({2})
Die Länder klagen zu Recht, dass sie mehr Regionalisierungsmittel brauchen.
({3})
Die Busunternehmen haben zu Recht Angst, dass sie nicht genügend Liquidität haben.
Wir haben uns im Ausschuss ganz lange über das Thema unterhalten. Da ist immer wieder der Satz gefallen: „Wir machen eines der weltweit größten Verkehrsexperimente aller Zeiten.“
({4})
Das Problem ist: Zwischen einem Experiment und dem Chaos ist es ein sehr schmaler Grat, und auf was wir gerade hinauslaufen, ist leider die falsche Seite des schmalen Grates.
({5})
Deswegen lehnen wir Ihr Gesetz ab und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vielen Dank.
({6})
Martin Kröber hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steigende Heizkosten, Lebensmittelpreise, Kraftstoffpreise bereiten vielen Familien Sorgen. Wir nehmen diese Sorgen ernst. Deshalb haben wir ein Entlastungspaket auf den Weg gebracht – Teil davon: das 9‑Euro-Ticket –, um die Löcher in den kleinen Haushaltskassen der Familien und selbstverständlich auch der Rentner zu stopfen.
Am Montag erklärten uns die Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, wir hätten einen Denkfehler:
({0})
Die ÖPNV-Kunden müssten nicht entlastet werden, da die Preise für den ÖPNV nicht gestiegen seien. – Der Denkfehler liegt ganz klar bei der CDU/CSU:
({1})
Erstens sind die Kosten für den ÖPNV in den letzten Jahren, wo Sie das Verkehrsministerium innehatten, massiv gestiegen. Und zweitens geht es bei dieser Maßnahme darum, grundsätzlich die Haushalte zu entlasten. Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren sich in der öffentlichen Anhörung alle Expertinnen und Experten einig. Sozialpolitisch gesehen wird dieses Projekt große Effekte erzielen.
({2})
Letzte Woche habe ich Ihnen bereits erklärt – das mache ich heute gerne noch mal –: Für eine vierköpfige Familie in Leipzig kostet die öffentliche Mobilität 280 Euro. Mit dem 9‑Euro-Ticket werden es 36 Euro sein. Insgesamt spart die Familie in den drei Monaten also 732 Euro. Macht die Familie im Sommer dann vielleicht auch noch Urlaub – beispielsweise auf Usedom –, kämen weitere 270 Euro dazu. Somit entlasten wir diese Familie um 1 000 Euro netto.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion zulassen?
Auf gar keinen Fall.
({0})
In der Plenardebatte letzte Woche sagte ein Kollege von Ihnen – ich zitiere –: „Für einen Marketinggag verpulvern Sie … 2,5 Milliarden Euro“. Für diesen Satz sollten Sie sich wirklich schämen.
({1})
Es erschüttert mich zutiefst, dass Sie eine Entlastung von Familien in Höhe von 1 000 Euro derartig abwerten.
({2})
Daran sieht man, dass Sie völlig den Blick für die Realität der Menschen verloren haben. Gut, dass Sie inzwischen in der Opposition sind und nicht mehr in der Regierung.
({3})
Wir lassen uns von Ihnen nicht von unserem Weg abbringen; das ist unsere Vorstellung von sozialer Verkehrspolitik.
Ich möchte zum Schluss sagen: Ich wünsche allen Rentnerinnen und Rentnern viel Spaß dabei, ihre Familien deutschlandweit zu besuchen.
({4})
Ich wünsche allen Studierenden viel Spaß dabei, das Land zu erkunden. Ich wünsche allen Familien tolle Ausflüge. Und selbstverständlich wünsche ich allen Pendlerinnen und Pendlern einen stressfreien Weg zur Arbeit und möglichst einen Sitzplatz.
({5})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Durch die gesamte Steuergesetzgebung der Bundesregierung in dieser bisherigen Wahlperiode zieht sich ein Dreiklang: zu wenig, zu undifferenziert und vor allem immer zu spät.
Nehmen wir zum Beispiel das Steuerentlastungsgesetz. Es ist schlecht gemacht. Mit einem Volumen von 4,5 Milliarden Euro hätte man durchaus mehr bewirken können als marginale Anpassungen im Steuertarif oder eine einmalige Energiepreispauschale.
Oder nehmen wir – heute Mittag debattiert – das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz: viele kleine, kurzfristige und befristete Wohltaten für Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger; das hat alles keinen nachhaltigen Effekt.
Eine auf die Zukunft verschobene Tarifanpassung – Stichwort „kalte Progression“ – hat zu einer Stauchung und zu erheblichen Verwerfungen innerhalb des Einkommensteuertarifs geführt. Das bedeutet weniger Anreize für Beschäftigte im Niedriglohnbereich.
Und als Höhepunkt das Energiesteuersenkungsgesetz, das wir im Anschluss heute noch debattieren. Pendler sollen für drei Monate über die Senkung der Ökosteuer bei den Spritpreisen entlastet werden. Dazu kommt das 9‑Euro-Ticket für den Nahverkehr. – Und das alles in den Sommerferien.
All diese Ungereimtheiten, die auf den Beschluss des Ausschusses der Ampelkoalition vom 23. März zurückgehen, haben wir in unserer Großen Anfrage an die Bundesregierung thematisiert. Eine Antwort auf die Fragen der CDU/CSU-Fraktion haben wir bis heute nicht erhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist Ignoranz gegenüber diesem Parlament.
({0})
Das zieht sich auch durch die Antworten der Ampelkoalition und der Regierung auf andere Fragen und Anfragen von Abgeordneten unserer Koalition. Da kommen immer die gestanzten Floskeln: „Dazu liegen uns keine Erkenntnisse oder Zahlen vor“ oder: „Ihre Vorschläge sind nicht unionsrechtskonform“.
({1})
Mit diesen Floskeln versucht die Regierung regelmäßig, unsere Kritik und Gegenvorschläge zu ihren Gesetzgebungsvorhaben zu torpedieren. Komisch ist nur, dass bei unseren europäischen Partnern vieles davon funktioniert. Da gibt es den Tankrabatt, da gibt es die dauerhafte Senkung der Strom- und Energiesteuer für Haushalte. Nur bei uns soll das alles nicht funktionieren.
Das ist sehr schade; denn Sie beanspruchen regelmäßig unsere Unterstützung. Sie wollen, dass wir bei Ihnen mitmachen, ignorieren aber alle Verbesserungsvorschläge, die wir auf den Tisch legen. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, ist wirklich sehr schade. So wird das nichts!
({2})
Vielen Dank. – Es folgt Lennard Oehl für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Thematik heute nicht zum ersten Mal; wir hatten dazu eine Aktuelle Stunde, in der wir ausführlich diskutiert haben. Trotzdem setzt die Union noch mal einen drauf und setzt die Große Anfrage auf die Tagesordnung, obwohl uns noch nicht einmal die Antworten aus dem BMF vorliegen.
({0})
Die Union und ihre Argumente klingen wie eine hängende Schallplatte: immer dieselbe Leier.
({1})
Ich möchte noch einmal unterstreichen, aus welcher Krise wir kommen, nämlich der Coronapandemie, in der Haushalte schmerzhafte Einkommensverluste erlitten haben. Hier hat der Gesetzgeber bereits in großem Umfang zielgerichtet geholfen.
({2})
Daran schließt sich eine weitere große Krise unmittelbar an: der Angriffskrieg mitten in Europa. Neben dem menschlichen Leid richtet dieser Krieg aber auch schwere ökonomische Verwerfungen an. Unter anderem hat sich die angespannte Situation auf den Energiemärkten noch weiter verschärft. Die Folge sind Preissteigerungen bei den Energiekosten von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese stellen für die Verbraucherinnen und Verbraucher eine enorme Belastung dar. Die Bundesregierung reagiert darauf mit zwei umfassenden Entlastungspaketen mit einem Volumen von über 30 Milliarden Euro. So kann eine starke und kurzfristige Entlastung erreicht werden.
({3})
Wichtig sind uns als SPD-Fraktion bei den beschlossenen Maßnahmen die zielgerichtete Umsetzung und die soziale Ausgewogenheit. Während wir mit der Senkung der Energiesteuer eine breite Entlastung erreichen, sorgt die Energiepreispauschale durch die progressive Besteuerung vor allem für Menschen mit niedrigerem Einkommen für steuerliche Vorteile.
({4})
Mit dem Kinderbonus von 100 Euro pro Kind entlasten wir Familien, die von den Preissteigerungen besonders betroffen sind. Darüber hinaus erhalten bedürftige Familien eine zusätzliche Unterstützung, bis die Kindergrundsicherung eingeführt ist.
({5})
In der Debatte geht es vielfach aber auch um die Rentnerinnen und Rentner. Wer eine kleine Rente bezieht, kann sich den Belastungen nur sehr schwer entziehen. Deshalb haben wir sie bei einer Vielzahl von Maßnahmen berücksichtigt: beim Heizkostenzuschuss, auf den viele Rentnerinnen und Rentner Anspruch hätten, bei der Senkung der Energiesteuern, beim 9‑Euro-Ticket. Unabhängig davon gab es die höchste Rentenerhöhung seit Jahrzehnten.
({6})
Was wir natürlich nicht vergessen dürfen, ist, dass die beste Absicherung vor hohen Energiekosten ein sicheres Arbeitsverhältnis ist. Das Kurzarbeitergeld hat uns schon in mehreren Krisen geholfen und wird sich auch in dieser Krise bewähren.
({7})
Kurzfristig werden die Entlastungspakete dazu beitragen, dass die gestiegenen Energiepreise abgefedert werden können. Langfristig werden uns vor allem breiter gestreute Bezugsquellen von Energieimporten, eine höhere Energieeffizienz und der massive Ausbau der erneuerbaren Energien vor der Belastung stark schwankender Energiepreise schützen. Bis dahin ist die steuerliche Entlastung der richtige Weg.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist Robert Farle für die AfD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht hier um die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Ich werde dazu einige kurze Anmerkungen machen. Im Einzelnen geht es um das Maßnahmenpaket der derzeitigen Regierungskoalition, das angeblich eine Entlastung bringen soll. Dazu stelle ich fest:
Das 9‑Euro-Ticket für die drei Monate macht den jungen Leuten im Sommer bestimmt eine Menge Spaß, hat aber mit langfristiger, nachhaltiger Förderung des ÖPNV und des strukturellen Ausbaus des ÖPNV, der stattfinden muss, gar nichts zu tun. Das flache Land wird damit nicht erreicht.
Der Kinderbonus von 100 Euro als Einmalzahlung ist zwar positiv. Aber auch nach dieser Einmalzahlung werden die Energiepreise sehr hoch sein, und die Mehrbelastung für die Haushalte durch die Inflation wird weiter vorhanden sein.
Die Senkung der Energiesteuer ist richtig. Aber auch die gilt nur für drei Monate. Ab Herbst werden die Preisexplosionen erst richtig durchschlagen. Das heißt: Das Ganze ist eine Packung, die gut aussieht, die man gut verkaufen kann, die aber an der Realität in unserem Land so gut wie gar nichts ändert.
({0})
Die AfD hat hier eine ausführliche Darstellung dessen gebracht, was notwendig wäre. Für eine echte Entlastung der Bürger – darauf ist schon der Vorredner von der CDU/CSU richtigerweise eingegangen – müsste die Regierung sämtliche Steuern auf Strom, Sprit, Gas und Heizöl sofort senken, darunter auch die Mehrwertsteuer. Die Energiesteuer müsste dauerhaft heruntergesetzt werden, die CO2-Steuer müsste abgeschafft werden,
({1})
und erst recht müsste endlich die kalte Progression aus dem Steuertarif entfernt werden.
Das eigentliche Ziel der Anfrage ist, dass Sie steuerliche Dinge diskutieren wollen. Da kann ich Sie beruhigen: Ich bin selbst Steuerberater und habe mehrere Kanzleien. Ich kann Ihnen eines sagen: Die Mitarbeiter haben den Wirrwarr in der Coronazeit überstanden und die Unternehmer bei ihren Fragen vernünftig beraten können. Das wird auch diesmal so sein. Sie haben viele Fragen bisher noch nicht geklärt. Deshalb ist wahrscheinlich die Große Anfrage, die die CDU/CSU gestellt hat, mit über vier Seiten an Fragen noch gar nicht beantwortet worden. Damit werden die Steuerberater trotzdem fertig.
Ich komme zum Schluss zu einer Kernfrage: Was sind der Bundesregierung eigentlich die Menschen in unserem Land wert? Das kann man an der Ausgabenpolitik sehen. Das, was jetzt als Maßnahmenpaket vorliegt, kostet 17,5 Milliarden Euro und stellt keine Entlastung der Menschen von den wirklich ständig steigenden und unerträglichen Preiserhöhungen dar.
Wofür hat denn die Regierung Geld ausgegeben? – Oh, ich bin fast am Schluss meiner Redezeit.
Sie sind schon über Ihre Redezeit.
200 Millionen Euro für die Taliban, 2 Milliarden Euro Rüstungshilfe für die Ukraine,
({0})
und 100 Milliarden Euro sollen wir jetzt an neuen Schulden für den Wiederaufbau und den Green Deal aufnehmen.
({1})
Vielen Dank.
Dahin fließt das Geld, aber nicht zu den Menschen in unserem Land.
({0})
Wir wollen, dass die Menschen dieses Geld bekommen, dass es zu Steuersenkungen kommt und der Mittelstand entlastet wird –
({1})
Ich möchte, dass Sie jetzt bitte zum Schluss kommen, Herr Abgeordneter.
– und die kleinen Leute keine Probleme und mehr Geld in der Tasche haben. Mehr Netto vom Brutto!
Sie haben Ihre Redezeit überschritten, weit überschritten.
({0})
Wir arbeiten daran.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es gehen wahrscheinlich deswegen die ganzen Reden zu Protokoll, weil die Fragen, die wir in unserer Anfrage stellen, weder von der Bundesregierung noch von Ihnen beantwortet werden können. Es ist Ihnen wahrscheinlich gar nicht möglich, hier zu antworten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dem Maßnahmenpaket der Koalition haben Sie drei Maßnahmen beschlossen: Senkung der Energiesteuern – darüber sprechen wir gleich im Anschluss –, die einmalige Auszahlung von steuerpflichtigen 300 Euro als Energiepreispauschale und das 9‑Euro-Ticket. Was Sie völlig vergessen haben oder gar nicht machen wollten, ist eine Entlastung des Mittelstands und der Industrie. Eine durchschnittliche Familie – zu dem vorigen Tagesordnungspunkt wurde eine Berechnung gemacht, die ich, ehrlich gesagt, wirklich nicht nachvollziehen konnte – wird allein durch die Energiekosten im Jahr mit ungefähr 2 000 Euro zusätzlich belastet. Jetzt fragen wir uns, warum Sie die Entlastung von 300 Euro überhaupt steuerpflichtig machen. Das sind dann mit Progression vielleicht noch 120 Euro.
Warum gilt das 9‑Euro-Ticket nur für drei Monate? Die Erklärung fehlt völlig. Was machen Sie danach? Warum reduzieren Sie die Steuern nur für drei Monate, und das in den Sommermonaten? Auch diese Fragen sind völlig unbeantwortet. Das müssen Sie uns schon irgendwann erklären, vor allem müssen Sie es den Bürgerinnen und Bürgern erklären, wenn diese wieder Auto fahren müssen und es spätestens im Herbst zu höheren Preisen kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen anderen Punkt habe ich Ihnen auch schon genannt: Das Ganze ist unglaublich bürokratisch. Für eine Einmalzahlung von 300 Euro brutto haben sie elf Paragrafen im Einkommensteuergesetz geändert oder neu hinzugefügt. 111 Paragrafen gibt es, jetzt sind elf für eine einmalige Auszahlung dazugekommen.
Dann zahlen Sie das Geld nicht einmal an die Rentner, an die Studentinnen und Studenten, an die jungen Familien. Also ehrlich gesagt: Das ist handwerklich schlecht gemacht. Beim 9‑Euro-Ticket ist es genau dasselbe: Eine Riesenbürokratie!
Ich sage Ihnen: Sie machen hier keinen guten Job; das muss ich wirklich unterstreichen.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger merken das und haben das in den Wahlergebnissen entsprechend ausgedrückt. Ich sage noch etwas: Sie könnten für die Industrie und den Mittelstand die Stromsteuer verändern – Rot-Grün hat mit 20,50 Euro pro Megawattstunde die höchste Stromsteuer in Europa eingeführt – und diese jetzt auf 1 Euro senken.
({3})
Sofort, unbürokratisch und schnell!
Wir haben in der Industrie teilweise eine Steigerung von 500 Prozent der Stromkosten. Wenn Sie hier nichts machen, drehen Sie dem Mittelstand quasi den Strom ab.
({4})
Deswegen bitten wir Sie herzlich, zwei Dinge zu machen: Denken Sie über die Stromsteuer nach, und verlängern Sie den Spitzenausgleich für die energieintensiven Betriebe. Auch da verweigert sich die SPD seit Jahren standhaft. Diese Regelung läuft dieses Jahr aus. Was wollen Sie diesen Betrieben sagen? Das wird Arbeitsplätze kosten.
({5})
Wenn Sie hier nichts tun, kommt es zu Verlagerungen in andere Länder oder zu Schließungen von Produktionen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Das ist das Ergebnis Ihrer handwerklich schlechten Politik.
Herzlichen Dank.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es in den letzten Wochen bisweilen anders dargestellt wurde: Der Blick auf die Preise an den Zapfsäulen ist vor allem für Menschen aus Haushalten mit einem verhältnismäßig geringen Einkommen ein Schock. Besonders betroffen sind auch Menschen auf dem Land, die nicht auf den ÖPNV ausweichen können, und viele Betriebe im Handwerk und in der Logistikbranche.
({0})
Der ganze Mittelstand, die breite Mitte unserer Gesellschaft, ächzt unter diesen Belastungen, die insbesondere infolge des brutalen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine eingetreten sind. Untätig zu sein, kann vor diesem Hintergrund keine Option für uns sein.
({1})
Wer meint, dass der hohe Preis den Verbrauch wohltuend senken werde und das dann gut für die Umwelt oder das Klima sei, hat eine recht brutale und wenig soziale Vorstellung von „Das regelt der Markt“. Gemeinsam mit unseren Ampelpartnern bringen wir heute eine weitere wichtige Maßnahme zur Entlastung der Bürger auf den Weg. Erste wichtige Schritte im Zusammenhang mit den steigenden Preisen der Mobilität sind wir bereits an anderer Stelle gegangen.
Schon in der vergangenen Woche haben wir die Erhöhung der Pendlerpauschale beschlossen. Steuersystematisch ist das ein ganz zentraler Schritt, weil wir damit den grundgesetzlichen Anforderungen gerecht werden, die nicht zuletzt vom Bundesverfassungsgericht betont wurden – Stichwort „objektives Nettoprinzip im Steuerrecht“ –, eine faire Maßnahme, von der viele gerade aus der hart arbeitenden Mittelschicht profitieren werden.
Aber mit der Senkung der Energiesteuer auf Treibstoff ergreifen wir jetzt eine ergänzende und vor allem unmittelbar wirksame Maßnahme. Schon zum Juni entlasten wir damit die Menschen im Land, die auf Mobilität angewiesen sind, um über 1 Milliarde Euro pro Monat. Gemeinsam mit dem Steuerentlastungsgesetz, dem Kinderbonus, der Energiepreispauschale, dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz und der vorgezogenen Abschaffung der EEG-Umlage helfen wir den Menschen mit einer Entlastung im Volumen von über 50 Milliarden Euro.
({2})
Durch diesen breiten Ansatz mit einer vielseitig progressiven Wirkung stellen wir gleichzeitig die soziale Ausgewogenheit sicher. Zeitgleich zur Senkung der Energiesteuer haben wir außerdem das „9 für 90“-Ticket eingeführt. Damit werden die Verbraucher bereits ab dem 1. Juni vom deutlich verbilligten ÖPNV-Ticket profitieren können.
({3})
So erleichtern wir gerade in Metropolregionen den Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr. Beide Initiativen, die Senkung der Energiesteuern und das „9 für 90“-Ticket, sind inhaltlich eng miteinander verbunden.
({4})
Lassen Sie mich noch kurz auf den Entschließungsantrag der Union zu sprechen kommen. Darin darf ich nachlesen, dass auf die geplante Aussetzung der Steuerentlastung für den öffentlichen Personennahverkehr verzichtet werden solle. Wir verstehen, was Sie wollen, aber das geht europarechtlich leider nicht. Artikel 5 der Energiesteuerrichtlinie stellt klar, dass die Mitgliedstaaten den ÖPNV nur begünstigen dürfen, soweit die in der Energiesteuerrichtlinie vorgesehenen Mindeststeuersätze eingehalten werden. Außerdem würden wir damit zusätzlich ein beihilferechtliches Problem bekommen.
Viel wichtiger ist: Sie in der Opposition sollten mal eine Linie finden. Noch im April haben Sie uns im zweiten Nachtragshaushalt eine unzulässige Umgehung der Schuldenbremse vorgeworfen. Gleichzeitig darf ich dann Ihrem Entschließungsantrag ein Potpourri haushälterisch völlig ungedeckter Forderungen entnehmen. Allein die Absenkung der Energiesteuer für zwei Jahre bei gleichzeitiger Absenkung der Stromsteuer dürfte über 30 Milliarden Euro kosten.
Aber was denn nun? Sind Sie die strengen Haushälter, oder wollen Sie Geld breit verteilen? Unsere Linie ist klar: Jetzt, wo die Menschen im Land in wirtschaftlicher Not sind, machen wir Hilfsprogramme, und anschließend kehren wir zur Schuldenbremse zurück.
({5})
Genau das ist in der Formulierung der Schuldengrenze auch vorgesehen. Weil das bei Ihnen alles nicht wirklich zusammenpasst, werden wir Ihren Entschließungsantrag ablehnen.
Für das Energiesteuersenkungsgesetz möchte ich an dieser Stelle aber noch einmal ausdrücklich werben. Lassen Sie uns diese Gesetzesinitiative heute beschließen und die Bürger damit bereits ab Juni deutlich entlasten.
Vielen Dank.
({6})
Als Nächstes erhält Johannes Steiniger für die CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache es vergleichsweise kurz.
({0})
Wir werden uns bei der Abstimmung zu diesem Gesetz enthalten, und zwar weil wir sehen, dass Sie hier ein richtiges Instrument nutzen: Sie senken die Energiesteuer. Das ist etwas, was schnell funktioniert, was unbürokratisch ist und zielgerichtet ankommt. Aber die Umsetzung haben Sie vermurkst.
Wir haben heute schon öfters gehört, warum das so ist. Sie nehmen den falschen Zeitraum: nur drei Monate. Die Ukrainekrise wird leider noch nach dem August andauern und damit wahrscheinlich auch die hohen Benzinpreise. Ich sage für die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis im ländlichen Raum: Bei uns gibt es ganz viele, die auf das Auto angewiesen sind und die eben nicht einfach umsteigen können,
({1})
die sich nicht – wie vielleicht manche Grüne aus den Großstädten – einfach ein anderes Auto kaufen können. Für die brauchen wir diese Energiesteuersenkung auch nach dem August. Deswegen beantragen wir das heute in unseren Entschließungsantrag.
({2})
Der zweite Punkt. Sie schreiben in der Begründung zu Ihrem Gesetz, dass Sie die Absenkung der Steuern auf alle wesentlichen Kraftstoffe auf das europäische Mindestmaß erreichen wollen. Sie haben aber die Bauern und Landwirte vergessen. Wir hätten als Gesetzgeber die Möglichkeit, beim Agrardiesel auf 0 Prozent zu gehen und hier dafür zu sorgen, Landwirte und Bauern in diesem Land weiter zu unterstützen, sodass sie in dieser schlimmen Lage, in der wir weltweit sind – wir steuern auf Hungersnöte zu –, die wichtigen Lebensmittel in unserem Land weiter anbauen können, und das im Übrigen zu günstigen Preisen.
({3})
Wir diskutieren derzeit viel über die Inflation, und das wäre ein gutes Gegenmittel.
({4})
Herr Klingbeil hat vor paar Tagen bei „Markus Lanz“ gesagt: Wir haben als Ampel vielleicht den Fehler gemacht, dass wir alles etwas zu spät durch den Deutschen Bundestag bringen, sodass dies bei den Leuten noch nicht angekommen ist. – Da hat Ihr Parteivorsitzender recht gehabt! Hätten Sie mal lieber unseren Anträgen aus dem Februar zugestimmt, dann wären die Leute jetzt schon entlastet und auf Ihre Regierung vielleicht ein bisschen besser zu sprechen. In diesem Sinne werden wir uns heute enthalten. Ich kann Ihnen unseren Entschließungsantrag nur wärmstens empfehlen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster erhält das Wort Carlos Kasper für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen der Unionsfraktion, Sie können ja immer wieder fordern und fordern – das ist Ihr gutes Recht als Opposition –, Sie müssen dann aber auch sagen, wie es finanziert werden soll. Sie wollen die schwarze Null beibehalten, Sie wollen die Schuldenbremse beibehalten. Aber wie die Finanzierung einer Steuersenkung, die pro Monat 1 Milliarde Euro kostet, erfolgen soll, das sagen Sie eben nicht.
({0})
Klar ist aber: Die steigenden Energiepreise treffen die Bevölkerung hart. Insbesondere die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen stehen jetzt vor einer großen Mehrbelastung.
Deswegen haben wir von der Ampelkoalition mehrere Entlastungspakete auf den Weg gebracht. Diese werden schnell und direkt helfen. Die Energiesteuersenkung, die wir jetzt beschließen wollen, gehört mit zu den Entlastungspaketen. Mit diesem Gesetz senken wir ab dem 1. Juni die Steuern auf Diesel, Benzin und Gaskraftstoffe auf das EU‑Mindestmaß. Diesel wird dadurch um mindestens 14 Cent pro Liter günstiger, Benzin sogar um 30 Cent pro Liter. Damit senken wir die Spritpreise auf das Vorkrisenniveau.
Mir war bei den Verhandlungen besonders wichtig, dass die Steuersenkung auch tatsächlich an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird. Damit dies passiert, wird beim Bundeskartellamt eine Markttransparenzstelle für Kraftstoffe zur Aufsicht geschaffen. Denn uns ist allen klar: Die Preise an den Tankstellen müssen runter; denn wir senken die Steuern für die Bevölkerung und eben nicht für die Raffinierien.
({1})
Diese Steuersenkung kommt insbesondere den Menschen im ländlichen Raum zugute, die nicht so leicht auf den ÖPNV umsteigen können. Mein Wahlkreis ist ebenfalls sehr ländlich geprägt. Viele Menschen dort können nicht Bus und Bahn nutzen, weil diese unregelmäßig oder zu unpassenden Zeiten fahren. Für diese Menschen ist die Steuersenkung eine wichtige Entlastung. Von dieser Steuersenkung profitieren aber auch kleine Betriebe, die auf das Auto angewiesen sind, beispielsweise Handwerksbetriebe und die ambulanten Pflegedienste. Was mich ganz besonders freut: dass – das ist auch in der öffentlichen Anhörung herausgekommen – auch die Landwirte von dieser Steuersenkung profitieren.
({2})
In der öffentlichen Anhörung wurde auch klar, dass wir zukünftig bessere Mittel brauchen, um die Menschen noch zielgenauer zu entlasten. Uns ist bewusst, dass wir von den fossilen Energieträgern, wie Diesel und Benzin, langfristig wegkommen müssen. Deswegen gilt die Steuersenkung nur befristet für drei Monate. Langfristig brauchen wir eine Mobilitätswende hin zu mehr ÖPNV und zu Elektroautos.
({3})
Um diese Transformation bezahlbar zu machen, wollen wir schnellstmöglich das Klimageld auf den Weg bringen.
({4})
Für die jetzige Situation ist aber die Senkung der Energiesteuer auf Diesel, Benzin und Gaskraftstoffe eine wichtige und richtige Maßnahme.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Es folgt Martin Reichardt für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In der ersten Debatte zum vorliegenden Gesetzentwurf sagte ein Vertreter der Regierungsparteien: Damit wollen wir die Bürger zielgenau und bestmöglich entlasten. – Ab Juni soll für drei Monate Benzin um, nach Regierungsberechnungen, 30 Cent pro Liter und Diesel um 14 Cent pro Liter günstiger werden.
Dazu kann ich nur sagen: Gezielt, zielgenau? Ja, aber in Bezug auf den Staatssäckel; besonders günstig in der Haupturlaubsphase, wo wenig Auto gefahren wird. Bestmöglich? Nein; denn es ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
({0})
3,1 Milliarden Euro Entlastung, das klingt viel. Aber allein 2020 spülte die Energiesteuer 40 Milliarden Euro in die Staatskasse. Und ganz anders liest sich die Zahl von 3,1 Milliarden Euro auch, wenn man bedenkt, dass Bundeskanzler Scholz am 2. Mai stolz verkündete, Indien im sogenannten Kampf gegen den Klimawandel mit 10 Milliarden Euro zu unterstützen. Meine Damen und Herren, 10 Milliarden Euro für den Krieg gegen den Klimawandel in Indien und 3 Milliarden für Deutsche in Not – wobei Indien heute noch Öl in Russland kauft, auf das wir verzichten sollen. Meine Damen und Herren, Sie entlarven sich doch selbst!
({1})
Da werden also die deutschen Steuergelder, die hier von armen und fleißigen Menschen erarbeitet werden, nach Indien verschleudert,
({2})
die Steuergelder von Menschen, die unter Ihrer realitätsfernen Energie- und Handelspolitik leiden, meine Damen und Herren.
Da es sonst niemand tut, will ich mal von diesen Menschen reden: von den über 3 Millionen Menschen, die weniger als 2 000 Euro brutto verdienen; von den Durchschnittsverdienern, die 1 800 Euro netto bekommen und die jetzt für die Butter 2,40 Euro zahlen statt wie vorher 1,40 Euro; von den Pendlern, die jeden Morgen zur Arbeit fahren und für den Liter Benzin jetzt 2,30 Euro bezahlen statt 1,30 Euro.
({3})
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und Herren.
({4})
Ich rede auch von den Familien, die ihr Einkommen fast ausschließlich für die Grundversorgung aufwenden. Für Speiseöl zahlen sie jetzt 4,99 Euro – wenn sie es, dank Ihrer Politik, überhaupt noch bekommen.
({5})
Ich spreche auch von den Rentnern, die aus Solidarität frieren sollen. Unsere Rentner sollen frieren – und Indien kauft mit dem Geld, das wir dorthin geben, Öl aus Russland. Das ist ein Skandal und eine Albernheit, die man kaum übertreffen kann.
({6})
Wir als AfD – das will ich Ihnen jetzt zum Abschluss sagen – hätten zielgerichtet und bestmöglich gefördert, nämlich durch die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Kraftstoffe, durch das Ende der CO2-Abgabe und durch die befristete Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel. Das wäre bestmöglich und zielgerichtet gewesen. An uns können Sie sich ein Beispiel nehmen!
({7})
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen Sascha Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Machen wir mal das Gedankenexperiment, Putins Angriffskrieg wäre in Deutschland auf folgende Situation getroffen: Deutschland bezieht seine Energie überwiegend aus erneuerbaren Quellen. Fossile Energieträger spielen bei der Erzeugung von Strom und Wärme in privaten Haushalten und in der Industrie kaum noch eine Rolle. Wir haben in ganz Deutschland einen gut ausgebauten öffentlichen Nah- und Fernverkehr, der genügend Kapazitäten bietet und auch zu Stoßzeiten gut und bequem zu nutzen ist. In ganz Deutschland gibt es gut ausgebaute Radwege und Radschnellwege, die auch für den Weg zur Arbeit, gerade bei überschaubaren Entfernungen, reichlich genutzt werden. Beim motorisierten Individualverkehr, der im ländlichen Raum noch dominiert, ist die Elektrifizierung der Flotte weit fortgeschritten. Die Autos werden somit überwiegend mit Ökostrom betankt.
Was für eine Situation hätten wir also in Deutschland? Die fossil getriebene Inflation spielt praktisch keine Rolle. Die Abhängigkeit von und damit Erpressbarkeit durch Russland ist nicht gegeben. Die Debatten über ein mögliches Ende von Energieimporten werden entspannt geführt, weil es solche Importe kaum noch gibt und wir sie ohne Weiteres von unserer Seite beenden können.
Was für eine herrliche Aussicht! Genau darauf sollten wir hinarbeiten. Ich bin froh, dass die Ampelregierung, die Fortschrittskoalition, genau das tut.
({0})
Nun, wir alle wissen, dass die von mir geschilderte Situation nicht die aktuelle Lage darstellt und dieses Ziel – eine so positive Zukunft – nicht von heute auf morgen erreichbar ist.
Politik beginnt zunächst mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Gegenwärtig belasten die hohen Kosten für Energie viele Menschen. Eine finanzielle Belastung spüren vor allem Menschen, die etwa im ländlichen Raum leben oder einen langen Weg zur Arbeit haben, für die der ÖPNV kaum eine Alternative ist, bei ihnen vielleicht gar nicht vorhanden ist, und für die die Anschaffung eines neuen Autos, das elektrisch angetrieben wird, derzeit einfach nicht ansteht.
Auch diese Menschen dürfen mit den hohen Spritpreisen nicht alleingelassen werden. Wir unterstützen sie finanziell mit diesem Gesetz; es ist Teil unserer beiden großen Entlastungspakete, die wir in der Ampel mit hohem Tempo vereinbart haben und die wir nun in den verschiedenen Gesetzesverfahren beschließen.
Wichtig ist uns bei dem vorliegenden Gesetz, dass die Energiesteuersenkung auch vollständig an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird. Die Erfahrung zeigt leider, dass das nicht immer der Fall ist. Dem Bundeskartellamt stehen mit der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe und der Sektoruntersuchung im Raffineriebereich Instrumente zur Verfügung, die vor allem dann Wirkung entfalten, wenn der öffentliche Druck hoch genug ist; diesen gilt es nun besonders aufrechtzuerhalten.
Die Entlastung, welche wir hier geben und die ab Juni gelten soll, steht für uns in einem sehr engen Zusammenhang mit dem 9‑Euro-Ticket, das, mit Zustimmung des Bundesrates, ebenfalls ab Juni gelten wird. Bereits heute freuen sich sehr viele Menschen auf diese Chance. Das 9‑Euro-Ticket wird, beispielsweise bei mir zu Hause durch den Verkehrsverbund Großraum Nürnberg, schon ab der nächsten Woche verkauft. Und es werden mit diesem 9‑Euro-Ticket auch schon Reisen geplant. Von daher gehe ich davon aus, dass mögliche letzte offene Fragen noch mit den Ländern geklärt werden, damit bei niemandem Enttäuschungen hervorgerufen werden.
Beide Entlastungsmaßnahmen, das 9‑Euro-Ticket ebenso wie die Energiesteuersenkung, sind auf drei Monate befristet. Sie stellen eine schnelle, unbürokratische Entlastung dar und sind wesentliche Elemente unserer Entlastungspakete.
Wir stimmen als grüne Fraktion dieser Entlastung heute zu.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Es folgt für die Fraktion Die Linke der Abgeordnete Thomas Lutze.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahresbeginn sind die Preise für Energie und Kraftstoffe sehr deutlich angestiegen. Gerade für Menschen in den unteren und mittleren Einkommensgruppen, für Familien, aber auch für viele kleine Unternehmen stellt diese Entwicklung eine ernsthafte Bedrohung dar.
Die Koalition will nun unter anderem die Energiesteuer absenken, was auf den ersten Blick auch wie eine sinnvolle Maßnahme aussieht. Nachteil ist aber leider, dass durch eine Steuersenkung nicht garantiert werden kann, dass der Verbraucherpreis auch genau um die Summe, um die die Steuer gesenkt wird, fällt. Wenn das Benzin zum Beispiel gerade 2 Euro pro Liter kostet und die Energiesteuer um 30 Cent gesenkt wird, dann müsste der Kraftstoff statt 2 Euro pro Liter 1,70 Euro pro Liter kosten. Was mathematisch in der Grundschule lösbar ist, wird in der harten Wirklichkeit allerdings keinen Bestand haben. Meine Befürchtung ist: Kurz vor dem Stichtag werden die Preise noch einmal ansteigen – warum, weiß keiner –; dann wird Benzin zum Beispiel 2,10 Euro pro Liter kosten. Jetzt kommt der Stichtag, und an der Zapfsäule steht statt 1,80 Euro – denn der Preis sollte ja um 30 Cent sinken – einfach mal 1,90 Euro. Ursache dafür ist, dass die Tankstellen keinerlei Wettbewerb unterliegen; hier beherrscht ein Oligopol den Markt und bestimmt die Preise allein. Diese Konzerne verdienen sich aktuell dumm und dämlich, während der Staat auf Steuereinnahmen verzichtet und die Verbraucherinnen und Verbraucher die Zeche zahlen.
So kann das nicht funktionieren.
({0})
Dies kann man für meine Begriffe nicht mit mehr Transparenz auflösen. Man muss es so machen – ich habe das bereits in der Vergangenheit gesagt – wie im benachbarten Luxemburg; dort werden die Preise, die an den Zapfsäulen gelten, vom Staat festgelegt.
({1})
Im Übrigen kostet der Liter Benzin dort aktuell 1,70 Euro.
Herzliches Glückauf und schönen Abend noch!
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, die hier oder über die Medien die Debatte verfolgen! Gegenstand der Debatte ist das Energiesteuersenkungsgesetz. Wir haben davon gesprochen: Benzin soll um 30 Cent pro Liter günstiger werden und Diesel um 14 Cent pro Liter, zuzüglich der Umsatzsteuer.
Was gefällt uns als Union an diesem Gesetz, Herr Mansmann? Wir haben lange gefordert – es ist spät vorgelegt worden, wird aber immerhin jetzt kurzfristig umgesetzt –, dass endlich eine Entlastung der Pendler und derjenigen Personen erfolgt, die auf das Auto angewiesen sind und jetzt diesen starken Preisdruck spüren. Wir sehen auch das Signal an die Handwerksbetriebe und an die Logistiker; sie erfahren eine Entlastung von diesem Inflationsdruck.
Was sind die Mängel, was sind die offenen Fragen, die uns nach wie vor beschweren? Da ist zum einen das Chaos an den Tankstellen um die Stichtage herum. Auch darüber haben wir in der öffentlichen Anhörung gestritten, uns beraten lassen. Was ist mit den Belastungen für die Tankstellen, insbesondere die kleinen, mittelständischen, freien Tankstellen? Wie sollen sie diese Umstellung bewerkstelligen?
Warum erfahren Diesel- und Benzinfahrer unterschiedliche Entlastungen, obwohl sie dieselbe Preissteigerung erleiden? Was ist mit den Steuerbegünstigungen für Verkehre im öffentlichen Personennahverkehr? Herr Mansmann, uns liegen andere Informationen vor, was die Möglichkeiten der Unterschreitung dieser Mindestwerte angeht. Ich glaube, wenn die Ampel es gewollt hätte, dann hätten wir das auch umsetzen können.
Über Agrardiesel hat mein Kollege Steiniger gesprochen.
Wir haben hohe Kosten zu beklagen: 3 Milliarden Euro für – ich kann es nicht anders sagen – ein Strohfeuer, man könnte auch sagen: für ein gefährliches Experiment. Das jedenfalls waren die Worte des Kollegen Geissler in der Debatte zum vorletzten Tagesordnungspunkt in seiner Bewertung des 9‑Euro-Tickets. Hier wird viel Geld in den Ring geworfen, und die Konsequenzen, die Erfolge sind mehr als unsicher. Der Zeitraum ist einfach zu kurz, um spürbar und nachhaltig zu wirken.
Was kommt eigentlich, meine Damen und Herren, nach der Sommerpause, wenn diese Entlastung ausläuft? Soll die Entlastungsphase verlängert werden? Wie passt das zu einer Strategie, Herr Müller, die über einen stetig steigenden Preis letztlich zu einer Reduzierung des Verbrauchs fossiler Kraftstoffe führen soll? Oder denken Sie gar nicht an eine Verlängerung, nach dem Prinzip Hoffnung, dass in drei Monaten die Kraftstoffpreise wieder auf ein erträgliches Maß gesunken sind? Ist das Ihre Strategie?
Meine Damen und Herren, ich komme zum Fazit. Das Gesetz ist unzureichend – ganz offensichtlich –, was auch die öffentliche Anhörung gezeigt hat. Es ist eine vertane Chance, unsere Anregungen und Verbesserungsvorschläge nicht aufzunehmen. Aber – mein Kollege hatte das bereits ausgeführt – wir werden uns enthalten, weil immerhin etwas auf den richtigen Weg gebracht wird. Das machen wir natürlich auch in der Erwartung, dass Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen, der im Wesentlichen genau diese Mängel beheben kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir fordern in unserem Antrag, die Arbeitgeber dazu zu verpflichten, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit zu erfassen. Nichts anderes hat der Europäische Gerichtshof vor mittlerweile ziemlich genau drei Jahren entschieden. Und was ist seitdem passiert? Ich sage es Ihnen: Nichts!
({0})
Genau das ist das Problem, meine Damen und Herren.
Zwei Gutachten aus der letzten Legislatur haben zwingenden Handlungsbedarf attestiert, eines aus dem Wirtschafts- und eines aus dem Arbeitsministerium. Sie haben aber in Ihrem sogenannten Fortschrittskoalitionsvertrag lediglich einen Prüfauftrag mit den Sozialpartnern festgeschrieben – einen Prüfauftrag! „Na Donnerwetter!“, wie mein Fraktionsvorsitzender sagen würde.
({1})
Was wird dabei wohl herauskommen? Die Gewerkschaften wollen die Arbeitszeiterfassung, die Arbeitgeber wollen die Arbeitszeiterfassung nicht. Kloppen Sie doch diesen Prüfauftrag in die Tonne!
({2})
Ich frage mich: Kann sich eigentlich künftig jeder aussuchen, ob er sich in einem Rechtsstaat an Richtlinien und an Rechtsprechung hält? 1,7 Milliarden Überstunden wurden 2021 geleistet, davon mehr als die Hälfte unbezahlt. Für diesen Lohnraub sind Sie in der Bundesregierung mitverantwortlich.
({3})
Das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat doch gezeigt, dass Beschäftigte nur zu ihrem Recht kommen, wenn der Gesetzgeber für Klarheit sorgt. Ansonsten – den Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen – setzen Sie auch fahrlässig die Gesundheit der Beschäftigten aufs Spiel. Fehlende Arbeitszeiterfassung führt zu entgrenzter Arbeit, zu verkürzten Ruhezeiten, und das macht erwiesenermaßen krank: Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung, Depression, steigende Gefahr von Arbeitsunfällen.
Werden Sie als Bundesregierung endlich aktiv! Das ist doch Ihr Job.
({4})
Aber vielleicht sollte, wenn es um den Schutz der Beschäftigten geht, nicht unbedingt die Arbeitgeberklientelpartei FDP den Ton angeben.
Vielen Dank.
({5})
Es folgt der Kollege Mathias Papendieck für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Wir haben hier einen Antrag der Linksfraktion zum Thema Arbeitszeiterfassung vorliegen. In der Begründung des Antrags steht, dass wir als Ampelkoalition bei der Arbeitszeiterfassung nichts machen wollen. Das stimmt so nicht.
({0})
Sehr wohl wollen wir prüfen
({1})
und überlegen, wie genau man zu einer Lösung kommen kann; das haben Sie gerade selber richtig festgestellt. Dafür braucht man im Parlament am Ende Mehrheiten. Wir werden dem Parlament mit einem Gesetzesvorhaben oder einem Antrag eine Lösung vorlegen und das dann auch umsetzen.
Es ist so, dass der Antrag, so wie er hier vorliegt, zu pauschal ist und nicht zustimmungsfähig ist. Ein System zur Arbeitszeiterfassung muss effektiv, objektiv und verlässlich sein. Es muss elektronisch sein; denn das ist der Stand der Dinge. Es muss einen Rechtsrahmen geben, der die Anwendung verschiedenster Systeme ermöglicht, die an die Arbeitswelten angepasst sind. Ich zum Beispiel komme aus dem Lebensmitteleinzelhandel; 23 Jahre lang habe ich dort gearbeitet. Dort kann es etwa ein Kassensystem sein. Beim Lkw-Fahrer kann es der Fahrtenschreiber sein. Es kann aber genauso eine App sein, die Ende-zu-Ende-verschlüsselt ist und keine biometrischen Daten speichern darf, oder ein ganz klassisches Chipsystem, mit dem man sich an der Arbeitsstätte ein- und auschippt, um die Arbeitszeit zu erfassen.
Es muss aber auch Auffangregeln für die Unternehmer und Unternehmerinnen geben, die das technisch nicht umsetzen können, die möglicherweise keine Zeit oder auch keine finanziellen Mittel dafür haben. Dafür wollen wir ein Portal zur Verfügung stellen, mit dem so etwas ermöglicht werden kann. Etwas Ähnliches haben wir mit dem Elster-Portal für Finanzdienstleistungen geschaffen, über das man seine Steuererklärung abgeben kann. Es muss manipulationssicher sein, und es muss klare Schnittstellen haben, Schnittstellen zu Aufsichtsbehörden, um kontrollieren zu können, wie ein solches System genau funktioniert.
In diesem System dürfen aber keine Daten erhoben werden, die dort nicht reingehören: keine Personendaten, keine Leistungsauswertungsdaten, also Daten darüber, wie schnell der eine oder andere Kollege mit seiner Arbeit gewesen ist. Das gehört dort nicht rein. Es soll kein System zur Überwachung sein; es soll ein System sein, in dem jeder Kollege zu jedem Zeitpunkt sehen kann, wie viele Stunden er geleistet hat. Das muss sichergestellt werden. Es muss ein System sein, das für beide Seiten zur Transparenz beiträgt, für den Arbeitgeber wie auch für den Arbeitnehmer, damit keine Stunden mehr verloren gehen. Das ist wirklich wichtig.
Wenn man so ein System einführt, dann darf man nicht nur an die wirtschaftlichen Aspekte denken. Es muss auch ein System sein, das zu den Arbeitswelten passt; die sind nämlich verschieden. An einem Tag zum Beispiel chippt sich der Kollege in der Arbeitsstätte ein und am nächsten Tag wiederum im Homeoffice. Beides muss technisch ermöglicht werden. Genauso muss das möglich sein für den, der auf Montage ist oder auf einer Baustelle arbeitet.
Daher können wir nur sagen: Es muss lieber richtig statt hastig gemacht werden. Dieser Antrag hat keine konkreten Lösungen, sondern ist nur Stimmungsmache. Daher können wir dem Antrag der Linksfraktion so nicht zustimmen.
Danke.
({2})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das ist jetzt aber echt schade, Frau Müller-Gemmeke, dass Sie Ihre Rede zu Protokoll gegeben haben. Ich meine, die Linken haben ihren Antrag extra von Ihrem Antrag aus der letzten Wahlperiode kopiert, und es wäre schon interessant gewesen, zu erfahren, wie Sie sich jetzt in der Koalition dazu verhalten.
({0})
Die Linke will Arbeitszeit europarechtskonform dokumentieren. Immer wenn das Wort „Europa“ fällt, stellen wir uns erst mal die Frage: Gehört das eigentlich auf die EU-Ebene? Die ganz klare Antwort ist: Nein, die EU hat in dem Bereich absolut nichts zu suchen.
({1})
Das ist einfach nicht ihre Aufgabe. Wie Sie wissen, stehen wir nicht für diesen Single Market und dafür, dass Brüssel alles entscheiden soll, sondern wir sind für einen Wettbewerb der Märkte untereinander, und der wäre auch gut.
Dummerweise ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs Ihr einziges Argument. Ich will darauf eingehen, weil Sie selbst das in Ihrem Antrag ein bisschen falsch verwenden. In dem Urteil steht ja nicht: „Die Mitgliedstaaten müssen jetzt …“, sondern da steht drin, dass die Richtlinien so auszulegen sind, dass es nach der Rechtsprechung der nationalen Gerichte gesichert sein muss, dass ein solches System in irgendeiner Form vorhanden ist.
({2})
Sie haben gerade selber ausgeführt, Frau Ferschl, dass es Gerichtsurteile in Deutschland diesbezüglich gibt und dass auch unsere Arbeitsgerichte im Arbeitnehmersinne urteilen. Also frage ich Sie: Wo ist eigentlich das Problem?
Tatsächlich ist die Rechtslage in Deutschland relativ klar. Wir haben § 16 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz. Dort steht, dass alles, was über die normale Arbeitszeit hinausgeht, als Überstunden dokumentiert werden muss, und das ist auch gut so.
({3})
Es ist übrigens auch egal, wie die Arbeitszeit genau aussieht; sie muss dokumentiert werden. Nach § 17 Absatz 1 Mindestlohngesetz ist es zudem so, dass die Arbeitszeit in den schwarzarbeitsgeneigten Branchen komplett dokumentiert werden muss, also Anfang, Ende und Dauer, so wie Sie sich das wünschen. Und das sind ja fast alles Branchen, in denen eine potenzielle Gefährdung des Gesundheitsschutzes besteht: Bau, Speditionen, Gastronomie und ähnliche Branchen. Also gibt es hier eigentlich keinen Regelungsbedarf.
Wenn Sie sagen: „Die Vorgaben werden nicht eingehalten“, dann muss ich entgegnen: Wenn sie nicht eingehalten werden, brauchen wir aber kein drittes Gesetz, brauchen wir nicht mehr Bürokratie und brauchen wir nicht irgendwelche Systeme, die alle zu irgendetwas verpflichten, was wieder Kosten mit sich bringt, sondern dann brauchen wir einfach mal eine Klage. Darüber muss entschieden werden, und darüber wird im Sinne der Arbeitnehmer entschieden. Wir haben einfach kein Problem, Frau Ferschl.
({4})
Ganz ehrlich: Bevor wir immer nach der europäischen Ebene rufen, bin ich wirklich dafür, dass wir gerade die Frage der Dokumentation von Arbeitszeit dorthin geben, wo sie hingehört, und das ist der Bereich der Tarifautonomie. Lassen Sie doch einfach mal die Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden aushandeln, wie genau die Arbeitszeit dokumentiert werden muss.
({5})
Da brauchen wir doch keine Regelung auf EU-Ebene, und da brauchen wir auch keine deutlich erweiterte gesetzliche Regelung in Deutschland im Vergleich zu dem, was wir schon haben. Es gibt auch viele Sonderfälle – Beschäftigte im Homeoffice, Vertreter, die im Außendienst arbeiten –, die beachtet werden müssen.
Insofern, meine Damen und Herren, ist dieser Antrag, den Sie sich da auf zwei Seiten herausgemurkst haben, leider völlig überflüssig gewesen.
({6})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Krieg in der Ukraine hat in den letzten Monaten alle Koordinaten verändert. Russland nutzt seine Rohstoffe, um benachbarte Länder unter Druck zu setzen. Jetzt rächt sich die Abhängigkeit von Kohle, Öl, Gas und Uran, unter der viele europäische Länder leiden.
Auf den russischen Angriffskrieg reagiert die EU unter anderem mit dem Projekt „REPower EU“. Die Energiewende soll drastisch beschleunigt werden. Deutschland will die Abhängigkeit von russischen Quellen schnell beseitigen.
({0})
Deutschland investiert in Energieeffizienz und Energieeinsparung und in die Diversifizierung der Bezugsquellen. Anders als bisher gehört dazu auch der Direktimport von Flüssiggas. Bislang wurde Flüssiggas lediglich über Häfen in den Niederlanden oder in Belgien importiert. Das vorliegende Gesetz beschleunigt die Inbetriebnahme von schwimmenden Anlagen zur Regasifizierung von Flüssiggas und nimmt auch eine streng limitierte Ausnahme von der UVP-Richtlinie der Europäischen Union in Anspruch.
Das Gesetz beschleunigt auch den Bau von festen Anlagen durch Änderungen bei verschiedenen Fachgesetzen. Erstmals wird im Bundes-Immissionsschutzgesetz ein festes Datum für die Umstellung auf Wasserstoffderivate oder andere klimaneutrale Kraftstoffe vorgesehen. Bis 2035 muss der Antrag vorliegen. Spätestens Anfang der 40er-Jahre muss der Umbau abgeschlossen sein, wenn die jeweilige Anlage weiterbetrieben werden soll.
Trotzdem, meine Damen und Herren, gibt es Sorgen, dass dieses Datum viel zu spät ist, dass wir von einer Abhängigkeit in die nächste rutschen. Fakt ist aber: Die Klimaziele gelten. Deutschland hat sich in Paris verpflichtet. Und auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom März letzten Jahres zeigt, wie konsequent mittlerweile Gerichte diese Rechtslage anwenden.
Entscheidend ist deshalb der schnelle Umbau der Wärmeversorgung in den Privathaushalten und die Transformation der Industrie.
({1})
Schon die Preise werden dafür sorgen, dass die Nachfrage nach Gas deutlich zurückgeht. Flüssiggas ist um ein Mehrfaches teurer als das russische Gas aus alten Verträgen. Viele Geschäftsmodelle der alten Welt werden nicht mehr funktionieren. Die Industrie wird sich künftig deutlich stärker an Standorten mit einer günstigen Versorgung mit Solar- und Windstrom ausrichten. Die Entscheidung von Northvolt für Heide in Schleswig-Holstein zeigt das eindeutig.
Neue Verträge sollten als Energiepartnerschaften angelegt werden. Wer acht Jahre fossile Kraftstoffe liefert, sollte im Anschluss acht Jahre Wasserstoffderivate wie zum Beispiel Ammoniak liefern. Dann hat der Lieferant acht Jahre Zeit, Solar- und Windanlagen aufzubauen oder bzw. und Elektrolyseure zu errichten.
Wir müssen diesen Effekt aber auch aus sozialen Gründen massiv verstärken. Wer jetzt noch mit fossilem Gas heizt, dem droht im kommenden Winter eine deutliche Nachzahlung bei den Nebenkosten. Deswegen brauchen wir starke Modelle für Vermieter und Mieter, um zur Umstellung auf Wärmepumpen, auf Nahwärme und auf Erdwärme zu kommen.
({2})
Das hilft der Umwelt, liebe Kolleginnen und Kollegen, und auch dem Portemonnaie.
Mit diesem Gesetz soll eine Notlage im kommenden Winter vermieden werden, auch im Extremfall und auch dann, wenn andere europäische Länder unter Druck gesetzt werden, die noch abhängiger sind als Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um Unterstützung für dieses Gesetz. Und ich danke noch mal herzlich den Berichterstatterkollegen für die faire Zusammenarbeit.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({3})
Nächster Redner wäre jetzt doch für die SPD-Fraktion Bengt Bergt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Vielleicht kannte Putin Wilhelmshaven, Stade, Brunsbüttel und Rostock bisher nur vom Vorbeifahren, als er seine Jacht aus Hamburg retten musste. Spätestens jetzt aber kennt er diese Orte auf jeden Fall. Dort werden derzeit die Grundlagen für die Unabhängigkeit von Russland und, ja, auch für Deutschlands erneuerbare Energieversorgung von morgen gelegt.
({0})
Allein in Wilhelmshaven werden wir ab Winter voraussichtlich 8 Milliarden Kubikmeter Gas ins Netz einspeisen können. Das bedeutet 8 Milliarden Kubikmeter Gas weniger von Russland oder, beim heutigen Tagespreis, 7,3 Milliarden Euro weniger für Putins Kriegskasse oder 4 080 T‑72-Panzer weniger in seinem Arsenal.
Mit diesem Gesetz legen wir heute die Grundlage für den beschleunigten Bau der neuen Infrastruktur. Während Herr Merz von der CDU Kiew als Wahlkampfbühne benutzt, unterstützt die Ampelkoalition die Ukraine mit Taten und macht Deutschland von Russland unabhängig.
({1})
Ich will aber auch ehrlich sein: LNG ist echt nicht der tollste Energieträger. Die Kühlung ist aufwendig, die Transportwege sind lang, und klimafreundlich ist es auch nicht.
({2})
Der Import ist aus der Not des russischen Angriffs auf die Ukraine geboren. Aber noch viel schlimmer wäre es, wenn Putin Deutschland in Sachen Energieversorgung mit heruntergelassener Hose erwischt und unsere Unterstützung für die Ukraine in die Knie zwingt.
({3})
Klar ist: Flüssiggas kann nur eine Brückenenergie sein. Wir brauchen es jetzt, aber wir denken auch jetzt schon an die Anschlusstechnologie. Ein LNG-Beschleunigungsgesetz muss deshalb auch immer ein Energietransformationsgesetz sein. Das war uns als SPD wichtig.
({4})
Hier schaffen wir die Voraussetzung für die Energiewende, für die Zeit nach Kohle, Öl, Erdgas und auch nach LNG, und damit für eine unabhängige, sichere und klimaschonende Versorgung mit Energie und Wärme, meine Damen und Herren.
Viele Bürgerinnen und Bürger fragen sich aber – und das ist durchaus berechtigt –, wie das zu schaffen ist. Die Zukunftsenergie heißt „Grüner Wasserstoff“, also Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Das Gute an der ganzen Sache ist, dass die LNG-Infrastruktur, die zum Beispiel gerade in Wilhelmshaven entsteht, künftig auch für Wasserstoff genutzt werden kann. Das ist bereits vorgesehen. Das Gute ist: Das passiert in einem Rekordtempo – in fünf Monaten statt wie normalerweise in fünf Jahren. Das ist für deutsche Verhältnisse geradezu Warpgeschwindigkeit.
({5})
Möglich wird das alles durch die Planungssicherheit und durch schlankere Genehmigungsverfahren, die wir heute hier beschließen. Aber die Umweltverträglichkeitsprüfung haben wir gesplittet. Für die schwimmenden LNG-Terminals setzen wir sie aus, weil wir jetzt schnell fit für den Winter werden müssen. Für die künftigen Anlagen an Land allerdings werden wir sie erhalten. Zwölf Standorte sind möglich. Dort schaffen wir dann auch den nötigen Ausgleich zwischen der Dringlichkeit und dem Schutz von Natur und Mensch.
Nach 2043 dürfen die Terminals nur noch für klimaneutrale Energieträger wie Grünen Wasserstoff und die Derivate davon genutzt werden. Grünen Wasserstoff brauchen wir, um die Transformation in die Fläche zu bringen, zum Beispiel in der Industrie. Grüner Stahl, Grundstoffe und Chemieprodukte „made in Germany“: Die Industrie verlangt danach und wird die Transformation nach Kräften unterstützen, meine Damen und Herren.
({6})
Die gute Nachricht ist, dass der Staat zum Beispiel am Bau des LNG-Terminals in Brunsbüttel beteiligt ist. Wir haben es also selbst in der Hand, dass das Terminal schon Wasserstoff-ready gebaut wird und so auch einen früheren Wechsel zu klimaneutralen Gasen ermöglicht.
Im Gegensatz zu Ihnen hier auf der rechten Seite haben wir keinen zu großen Schluck vom Reaktorwasser genommen und suhlen uns nicht in der Vergangenheit. Die Ampelkoalition gestaltet hier die Zukunft, und die SPD wird dafür sorgen, dass Innovation und eine gerechte Lastenverteilung zusammenpassen.
Vielen Dank.
({7})
Mir wurde gesagt: Oliver Grundmann ist jetzt dran für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um die Frage der Versorgungssicherheit Deutschlands in Anbetracht eines unvorstellbaren Angriffskrieges, einer unvorstellbaren Aggression. Dabei zählt für uns jetzt jeder Tag, damit wir unsere Industrie nicht herunterfahren müssen und damit wir den Krieg auch nicht unnötig weiterfinanzieren müssen. Und was macht an dieser Stelle die Koalition? Sie legt mal einen weitgehend vernünftigen Gesetzentwurf auf den Tisch.
({0})
Da ist noch Luft nach oben, aber da sind viele sinnvolle Punkte der Beschleunigung enthalten, Herr Bergt. Und die Energiesicherheit in unserem Land machen wir hier sicherlich nicht zum Spielball parteipolitischer Profilierung. Deswegen stimmen wir dem Gesetzentwurf heute zu.
({1})
Aber was wir als unglücklich empfinden – das muss an dieser Stelle ebenso gesagt werden –, ist:
({2})
Das LNG-Beschleunigungsgesetz verlässt den Bundestag schwächer, als es hereingekommen ist, Stichwort „UVP“. Wenn heute im „ZDF-Morgenmagazin“ der Vorsitzende einer der größten Umweltverbände sagt, er setze nun alle Hoffnungen auf die UVP, dann sind wir uns nicht sicher, ob die Regierungskoalition sich wirklich einen Gefallen damit getan hat, das zu beschleunigen, oder ob hier ein Bremsklotz aus dem BMU angeflogen kam, den man hätte abfangen können, ja abfangen müssen.
({3})
Das Gleiche gilt für das Thema Legalplanung, die wir in unserem Entschließungsantrag klar benannt haben, als bewährtes Instrument gerade bei solchen nationalen Herausforderungen. Da hätte man eben auch Tempo machen können, und das wäre in unseren Augen klar der bessere Weg gewesen.
Vor allen Dingen bei den notwendigen Rahmenbedingungen, bei den Investitions- und Planungssicherheitsthemen sehen wir aber noch großen Nachholbedarf. Wenn wir heute zustimmen, dann erwarten wir ganz klar, dass diese Punkte in unserem Entschließungsantrag jetzt auch im Regierungshandeln der nächsten Wochen und Monate Berücksichtigung finden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, FSRUs zu chartern, war richtig. Das haben wir als Union schon sehr frühzeitig eingefordert, und das hat der Wirtschaftsminister auch ganz klar und entschlossen umgesetzt; er hat schnell gehandelt. Aber FSRUs sollten primär eine Übergangslösung darstellen. Ihr Betrieb verursacht deutlich mehr CO2-Emissionen als gute Landterminals und auch deutlich höhere Betriebskosten, und sie sind vor allen Dingen – das muss man wissen – nicht umrüstbar für die klimaneutralen Energieträger der Zukunft. Deswegen sind landbasierte Terminals die Zukunftslösung für verflüssigte Gase, und deshalb dürfen die FSRUs keine Dauerprovisorien werden und als Dreckschleudern die ganze Zeit in den Häfen liegen.
({5})
Ein zweiter wichtiger Punkt für uns: Staatliche Eingriffe dürfen nicht zu Marktverwerfungen führen. Alle Standorte müssen gleiche Wettbewerbschancen erfahren, und es darf nicht sein, dass ohne Markterkundung und wettbewerbliches Verfahren quasi Staatsterminals aus dem Boden gestampft werden und andere Standorte dagegen nicht mal Zuwendungen für den notwendigen Hafenausbau oder für Gleisanschlüsse erhalten.
Wir werden daher auch ganz genau hinschauen, mit welcher Legitimation und Begründung, auch EU-wettbewerbsrechtlich, hier Steuergelder verteilt werden und ob der Bundeswirtschaftsminister hier rechtmäßig handelt oder ob einseitig begünstigende Entscheidungen getroffen werden. Wir wollen das eigentlich nicht, aber wir werden Ihnen im Zweifel auch unter Einbeziehung aller parlamentarischen Instrumente, Kontrollmöglichkeiten und Gremien da schon genau auf die Finger schauen.
({6})
Ein nächster Punkt: Die LNG-Flüssiggasinfrastruktur von morgen ist die Infrastruktur der klimaneutralen Energieträger von übermorgen. Deshalb müssen wir auch über das Jahr 2043 hinaus den Import von klimaneutralen Gasen technologieoffen zulassen. Ich habe meiner Fraktion versprechen müssen, heute nicht über meine Heimatstadt zu sprechen.
({7})
Aber ich weiß aus eigener Anschauung: Es soll da einen Terminalstandort an der Elbe geben, der bereits ab Inbetriebnahme über 50 Millionen Kubikmeter Bio-LNG monatlich umschlagen wird.
({8})
Das ist dann eben kein fossiler Dinosaurier, sondern von Anfang an ein klimaneutraler Energiehafen der Zukunft mit Zero-Emission-Konzept und sehr niedrigen CO2-Emissionen. Deshalb bitte ich auch, diese unsäglichen Attacken auf die Biokraftstoffe zu unterlassen. Das ist ein Wahnsinn, was da momentan aufgeführt wird.
({9})
Klimaneutral ist Biomethan der zweiten Generation, beispielsweise aus Speiseresten und Pflanzenabfällen. Das wird aus ideologischen Gründen in eine unsägliche Tank-Teller-Diskussion hineingeworfen, weil die Umwelthilfe wieder mal ein Thema hochziehen will. Entweder haben wir jetzt eine Klimakrise und müssen jedes Gramm CO2 einsparen, oder wir fahren mit viel Idealismus unsere Klimaziele an die Wand. Das dürfen und das können wir nicht zulassen.
In diesem Zusammenhang: Es wird auch in den nächsten Monaten sicherlich Themen geben, die hier diskutiert werden. CCU, CCS, das Thema „klimaneutraler Blauer Wasserstoff“: Auch darüber werden wir sprechen müssen, allein schon deshalb, weil ansonsten der Zug abgefahren ist. Die Lagerstätten in Europa werden jetzt verteilt, und so ein ambitioniertes Projekt wie in Wilhelmshaven könnten wir ansonsten zu den Akten legen. Das können und dürfen wir nicht zulassen.
Also, die wichtigsten Punkte sind benannt. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, und jetzt heißt es, Gas geben, damit die Terminals endlich ans Netz gehen.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Alle interessiert jetzt natürlich, was Ihre Heimatstadt ist.
({0})
– Das konnten wir uns nicht denken.
({1})
Der nächste Redner ist Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kollegen! Wir setzen uns gegen den Bau von LNG-Terminals ein: So formulierten die niedersächsischen Grünen ihre bisherige Haltung gegen die Planungen zum Beispiel in Wilhelmshaven. Die dortigen Grünen gingen noch einen Schritt weiter und erklärten in der Vergangenheit über das Projekt, dies wäre das – Zitat –: „devote Einknicken vor der Forderung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der uns sein besonders klimaschädigendes Fracking-Gas verkaufen will. Ein solcher Kuschelkurs ist auch im Hinblick auf … Katar angesichts der dort herrschenden Menschenrechtssituation skandalös“.
Wir sehen also: Die Grünen sabotieren vernünftige Lösungen, solange sie in der Opposition sind, um sich dann, sobald sie in der Regierungsverantwortung sind, als die großen Macher zu gerieren. Die FDP kennt das auch, aber die macht es andersherum.
({0})
Die AfD war und ist übrigens dafür, parallel zur Nord-Stream‑2-Pipeline LNG-Terminals zu bauen, um genau das zu verhindern, was eingetreten ist, dass nämlich eine Abhängigkeit entsteht, die Deutschland bedroht. Und daher sind wir nicht gegen das Gesetz.
Wir lesen aber gleich im ersten Satz des Gesetzentwurfs, dass – Zitat –: „sich die energie- und sicherheitspolitische Bewertung der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen unvorhergesehen kurzfristig und fundamental geändert hat“. Das heißt also, die Regierung hat Deutschland wissentlich und vorsätzlich in diese Abhängigkeit geführt, die jetzt nur neu bewertet wird. Die SPD hat mit nahezu krimineller Energie deutsche Interessen an Russland verkauft. An dieser Stelle einen schönen Gruß an Ministerpräsidentin Schwesig und die Klimastiftung!
({1})
Während also die SPD das Land in die Abhängigkeit von Russland geführt hat, möchten die Grünen uns nun in eine neue Abhängigkeit – diesmal von den USA – führen. Anders ist es nämlich nicht zu erklären, dass Sie exklusiv und ausschließlich amerikanisches LNG als Ersatz für russische Energieimporte forcieren. Deutsche Braunkohle, deutsches Schiefergas, unsere hervorragenden Kohle- und Kernkraftwerke – alles effektive Mittel, um die vielbeschworene Versorgungssicherheit, heimatnahe Produktion und Widerstandsfähigkeit, neudeutsch „Resilienz“ genannt, zu fördern – werden von Ihnen weiterhin verteufelt, während immer mehr Menschen durch Ihre Energiepolitik in die Energiearmut gezwungen werden.
Auch Ihre bekundeten Absichten, das LNG nur übergangsweise zu beziehen, bis es durch sogenannten Grünen Wasserstoff ersetzt wird, sind nur vorgeschoben. Das wird nie passieren. Es existieren weder eine Verteilungsstruktur noch eine Transportstruktur noch die Schiffe oder Pipelines, um den Wasserstoff oder seine Derivate zu transportieren, ganz zu schweigen von der industriellen Infrastruktur oder der Facharbeiterbasis der möglichen Partnerländer, um diese Mengen an Energie oder Wasserstoff jemals zu erzeugen.
Das hält Sie aber nicht davon ab, das Märchen immer weiter zu erzählen und dort Steuermilliarden zu versenken. In Wahrheit wollen Sie, dass Deutschland zu einem großen LNG-Abnehmer wird und es für immer bleibt.
({2})
Der Kollege Michael Kruse spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kraft, manchmal stelle ich mir vor, wie es heute wäre, wenn die Gründerväter unserer Republik sich zusammengesetzt und nicht gesagt hätten: „Wir machen die soziale Marktwirtschaft, wir heben diese Widersprüche auf, wir bringen das Gute von dem und dem zusammen“, sondern wenn sie gesagt hätten: Nein, das gibt es heute noch nicht; ich weiß auch nicht, wie wir das jetzt noch hinkriegen sollen. – Ich stelle mir manchmal vor, was wäre, wenn die Gründerväter dieser Republik immer so argumentiert hätten wie Sie: Ich glaube, in diesem Land würde noch heute gar nichts gehen. Zum Glück haben sie anders gehandelt, weil sie sich damals schon für dieses Land verantwortlich gefühlt haben.
({0})
Und auch wir in der Mitte dieses Hauses fühlen uns für dieses Land verantwortlich, und deswegen handeln wir heute so.
({1})
Dieses Gesetz wird Tatsachen schaffen, und zwar ziemlich schnell. Viele der Schritte, die wir hier jetzt gehen, sind erforderlich, um uns unabhängiger von russischem Erdgas zu machen. Wir haben dieses Gesetz im Turbotempo durch dieses Haus gebracht und haben es damit geschafft, Rechtssicherheit dafür zu erreichen, dass wir schon in diesem Winter einen großen Teil russischen Gases ersetzen können.
Das ist ein großer Erfolg für all diejenigen, die daran mitgewirkt haben, nicht nur für die Ampel; denn wir machen hier im Moment ja wirklich Gesetzgebung im Eiltempo. Deswegen war es sehr wichtig, dass diejenigen, die mit daran beteiligt waren – Verbände aus dem Umweltbereich, auch aus dem Wirtschaftsbereich, natürlich auch die Terminalbetreiber, die sehr schnell zugeliefert haben –, in einem so schnellen Tempo dazu beigetragen haben. Das hat dazu geführt, dass wir in dieser kurzen Zeit ein so gutes Gesetz auf den Weg bringen konnten.
({2})
Herr Grundmann, Sie machen sich Sorgen wegen der Umweltverträglichkeitsprüfung. Wenn wir im Wahlkampf wären, würde ich sagen: Ja, die Umweltverträglichkeitsprüfung kann man auch noch abkürzen. – Aber wir sind ja nicht im Wahlkampf, sondern wir machen ja jetzt hier wichtige Gesetze für dieses Land. Und in dieser Situation muss ich Ihnen sagen: Es war genau richtig, noch mal genau hinzuschauen, wo wir die Umweltverträglichkeitsprüfung machen und wie wir sie machen.
Tatsächlich ist es genau andersherum als Ihre Befürchtung, die Sie hier vorne eben vorgetragen haben. Dadurch, dass wir die Umweltverträglichkeitsprüfung bei den festen Terminals durchführen, während wir sie bei den schwimmenden Terminals so nicht vornehmen, sorgen wir nämlich dafür, dass wir bei den festen Terminals eine höhere Rechtssicherheit bekommen.
({3})
Sie müssen ja schon sehen, dass die festen Terminals nicht nur für diesen Winter errichtet werden. Das wissen Sie sehr gut; Ihre Heimatstadt plant ja auch eines. Genau deswegen ist es eben erforderlich, sehr genau zu schauen, an welcher Stelle man Verfahren verkürzen, verschlanken und beschleunigen kann und an welcher Stelle das eben nicht möglich ist. Es ist sicherer, die Umweltverträglichkeitsprüfung bei den festen Terminals vorzunehmen. Deswegen haben wir das Gesetz an dieser Stelle geändert.
Mit diesem Gesetz schaffen wir im ersten Schritt Versorgungssicherheit und im zweiten Schritt Zukunft; denn wir denken nicht nur bis morgen, wir denken nicht nur an diesen Winter, wir denken nicht nur, für wie lange die schwimmenden Terminals eigentlich Gas liefern oder anlanden sollen, sondern wir denken für die Zukunft gleich mit.
({4})
Wir denken die Brücke in Richtung Wasserstofftechnologie, wir denken die Brücke in Richtung Dekarbonisierung der Energie.
Auch deswegen ist dieses Gesetz so gut geworden, weil es nicht einfach nur versucht, irgendwas schnell zu erledigen, sondern weil wir uns die Zeit genommen haben, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz gleichzeitig den Einstieg in die größte Transformation der Energiewirtschaft in diesem Land bedeuten wird.
({5})
Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der AfD, Herr Kollege.
({0})
Immer.
({0})
– Hallo!
({1})
– Das sehe ich.
({2})
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Meine Frage richtet sich darauf: Wir können in Deutschland ja gerne Terminals brauen. Ich frage die Bundesregierung bzw. Sie, Herr Kruse, hier nur mal: Haben Sie sich mit diesem Gesetzentwurf auch überlegt, wie das funktionieren soll? Wenn die Gaspipelines aus Russland ersetzt werden, brauche ich ja eine bestimmte Kapazität an Schiffen, und da würde mich jetzt interessieren, welches Mengengerüst Sie hier als Information vorliegen haben. Wie viele Schiffe brauchen Sie dafür, und wo sollen diese Schiffe in der Zeit, die wir jetzt dafür zur Verfügung haben – das ist ja ein sehr kurzer Zeitraum –, herkommen? Nach meinen Informationen müssten das Hunderte Schiffe sein. Vielleicht haben Sie aber auch völlig andere Zahlen.
({0})
Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Zunächst mal muss man ja schauen, was hier eigentlich staatliche Aufgabe ist. Ich habe ja schon gestern hier gesprochen und auch aus Ihrem Wahlprogramm zitiert; das hatte Sie sehr beunruhigt. Eine der Formulierungen, die auch in unserem Wahlprogramm häufig steht, ist, dass man immer genau schauen muss, was eigentlich staatliche Aufgabe und was privatwirtschaftliche Aufgabe ist.
In dieser Notsituation, in der wir sind, ist es staatliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir genügend Gas anlanden können. Deswegen ist die Terminalinfrastruktur unter Hochdruck – teilweise mit Beteiligung und natürlich verbunden mit einer maximalen Beschleunigung des Infrastrukturausbaus an vielen Stellen, wie ich gerade ausgeführt habe – erarbeitet worden.
Jetzt kommt die entscheidende Frage: Wer betreibt die Schiffe, die das Gas anlanden? – Ich sage es Ihnen genau; denn ich stamme aus Hamburg: In Hamburg gibt es den einen oder anderen Reeder – übrigens auch Reederinnen.
({0})
Wissen Sie, was diese Damen und Herren machen? Die betreiben Schiffe. Manche chartern die, manche bauen die, manche kaufen die. Und wissen Sie, was sie damit machen? Damit schiffen sie Gas um die ganze Welt. Und deswegen habe ich überhaupt keine Sorge, dass es die Privatwirtschaft regeln wird, genügend Schiffe mit LNG hier vorbeizubringen. Das Entscheidende ist, dass wir jetzt erst mal die Terminalinfrastruktur schaffen.
Wenn Sie mal mit Reedern reden würden – das kann ich Ihnen sehr empfehlen –, dann würden die Ihnen sagen: In den letzten Monaten war noch genügend Schiffskapazität vorhanden. – Das hat einen entscheidenden Grund: Die Preise für LNG sind stark gestiegen, und viele, die in diesem Moment nicht unbedingt transportieren mussten, haben gesagt: Na ja, vielleicht verschiebe ich das auf ein bisschen später.
({1})
Deswegen ist entgegen Ihrer Vermutung und entgegen Ihrer Sorge und Unkenntnis die Lage so, dass wir genügend Schiffe auf dem Weltmarkt zur Verfügung haben, um hier LNG anzulanden. Auch deswegen brauchen wir jetzt schnell diese Terminals.
({2})
Wir nutzen nicht nur die Nordrange-Häfen, sondern legen ebenso ein Schiff in den Osten, damit auch im östlichen Leitungssystem genügend Druck vorhanden ist. Wir haben an alles gedacht. Wir haben noch schnell einen dritten Anbieter mit reingenommen, damit auch gut auf den Wettbewerb geachtet wird, die Preise stabil bleiben. Damit haben wir an alles gedacht, auch an die Zukunft unseres Landes. – Bitte stimmen Sie diesem Gesetz zu.
Vielen Dank.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Rahmede-Talbrücke auf der A 45 bei Lüdenscheid im Sauerland ist jetzt seit über sechs Monaten gesperrt. Die regionalen Logistikketten sind seitdem gestört.
({0})
Einige Unternehmen denken schon über Standortverlagerungen nach. Die ersten Fachkräfte kündigen ihre Arbeitsverhältnisse.
Ein unabhängiges Institut hat ausgerechnet, dass jeden Tag der Sperrung ein volkswirtschaftlicher Schaden von über 1 Million Euro entsteht. Und das ist noch nicht die Bezifferung des menschlichen Leides. Über die Umleitungs- und Ausweichstrecken schlängeln sich jetzt täglich über 20 000 Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange. Allein im Stadtgebiet Lüdenscheid wird die Umleitungsstrecke jeden Tag von 6 000 Lkw genutzt. Als Wahlkreisabgeordneter, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen sagen: Die Nerven der Anwohnerinnen und Anwohner in der Region liegen blank.
({1})
Deshalb ist es notwendig, dass wir uns als Bundestag heute hier im Plenum endlich mit der konkreten Notsituation beschäftigen. Es ist schade, dass dies zu dieser späten Uhrzeit geschieht. Es ist ärgerlich, dass wir uns dafür gemeinsam sechs Monate Zeit gelassen haben. Sie als Koalition haben im Januar zu Recht angekündigt, dass Sie die Finanzierung von passivem Lärmschutz angehen wollen. Das war richtig. Sie haben das als „minimalinvasiv“ angekündigt. Aber diese minimalinvasive Leistung hat fünf Monate gedauert. Diese Region ist in einer Notlage, sie ruft nach Hilfe. Was die Menschen jetzt von uns, aber insbesondere von Ihnen konkret erwarten, das ist beschleunigte Arbeit, das ist beschleunigtes Regierungshandeln. Diesem Anspruch sind Sie bislang nicht gerecht geworden.
({2})
Abseits dessen kratzen Sie mit der Gesetzesänderung an der Oberfläche. Was wird das bedeuten? Das bedeutet, dass Sie am Ende für den Lärmschutz eine Dreifachverglasung finanzieren. Die Leute werden statt zehnmal nur noch achtmal in der Nacht aus dem Bett fallen. Das packt das Problem nicht an der Wurzel.
Wir wollen das Problem an der Wurzel packen, und das Problem ist die gesperrte Brücke. Der bestmögliche Lärmschutz ist, wenn der Verkehr über die neugebaute Brücke wieder rollt. Deswegen legen wir Ihnen heute erneut konkrete Maßnahmen vor, die dafür sorgen werden, dass diese Brücke beschleunigt gebaut werden kann.
Wir bauen auch Ihnen heute eine Brücke. Lassen Sie uns über diese Brücke gemeinsam gehen, die Brücke zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, damit wir den Menschen der Region konkret helfen können.
({3})
Wir haben Ihnen immer zugesichert: In dieser Frage stehen wir kritisch, aber konstruktiv an Ihrer Seite. Deshalb werden wir heute mit einigen kritischen Untertönen Ihrer Gesetzesänderung zustimmen. Wir laden Sie aber dringend ein und fordern Sie auf: Lassen Sie uns endlich die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen!
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat Jürgen Berghahn das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben von der Baustelle an der Talbrücke Rahmede gehört, der Verkehrsader Südwestfalens. Seit Dezember 2021 ist sie, voraussichtlich für mehrere Jahre, gesperrt.
Anfang Mai waren meine Kollegin Dorothee Martin und ich gemeinsam vor Ort in Lüdenscheid, um uns einen persönlichen Eindruck zu verschaffen und mit den Menschen und den Gewerbetreibenden vor Ort zu sprechen. Ich konnte also selbst sehen und vor allem auch hören, was für Folgen diese Brückensperrung und die Umleitung seit nunmehr fast sechs Monaten mit sich bringen. Erstens staut sich in der kompletten Stadt der Verkehr, und zwar durchgehend. Die Leute wären froh, wenn die Fahrzeuge überhaupt mal Tempo 10 oder Tempo 30 erreichen würden. Zweitens fahren täglich nicht nur Tausende Autos, sondern zusätzlich auch 6 000 schwere Lkw durch die Innenstadt. Die Zulieferer sind dabei noch gar nicht eingerechnet; das sind etwa 1 500. Drittens sind Gespräche kaum möglich, da der Lärmpegel unfassbar hoch ist, und das 24 Stunden am Tag. Die Menschen vor Ort berichten, dass sie bereits jetzt vor lauter Lärm krank sind, die Umsätze in ihren Geschäften aufgrund ausbleibender Kundschaft drastisch einbrechen. Viele Leute wollen wegziehen, weil sie es nicht mehr aushalten oder weil sie auf ihrem Arbeitsweg nur noch im Stau stehen.
({0})
Selbstverständlich müssen wir, um die Ursache zu bekämpfen, alles daransetzen, die neue Brücke schnellstmöglich fertigzustellen. Aber wir können mit der Entlastung der Menschen vor Ort nicht warten, bis der Brückenneubau fertiggestellt ist; denn auch eine zügig gebaute Brücke braucht ihre Zeit. Dementsprechend ist der vorliegende Entwurf zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes ein Meilenstein für die Betroffenen an der Umleitungsstraße. Zukünftig werden ihnen passive Lärmschutzmaßnahmen wie zum Beispiel dreifach verglaste Fenster bewilligt werden können.
Wenn wir ehrlich sind: In den kommenden Jahren wird es auch an anderen Orten ähnliche Situationen geben, und leider werden wir die negativen Folgen von Umleitungen nie komplett aufheben können. Wir können die negativen Folgen einer Umleitung aber zumindest deutlich verringern.
Herr Müller, auf eines muss ich natürlich hinweisen: Auch das Land NRW hat natürlich die Möglichkeit, etwas zu tun, zum Beispiel weitere Umleitungsstrecken zu ermöglichen,
({1})
um diese 6 000 Lkw aus der Stadt zu bringen. Das wäre eine deutliche Entlastung.
({2})
Mit der Gesetzesänderung werden wir also die möglichen Lärmschutzmaßnahmen erweitern. Alle zuständigen Stellen können parallel zueinander arbeiten und die Anwohnerinnen und Anwohner durch bau- und verkehrsrechtliche Maßnahmen bestmöglich unterstützen. Das ist wichtig, um die Akzeptanz solcher Baustellen und Umleitungen zu erhöhen und die Region zu stärken. Die Menschen vor Ort werden es Ihnen also danken, wenn Sie heute für diese Änderung des Bundesfernstraßengesetzes stimmen, und verwundert sein, wenn Sie es nicht tun.
Vielen Dank.
({3})
Der nächste Redner ist Dirk Brandes für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kollegen! Herr Müller, Sie haben das ganz richtig gesagt: Der Zustand dieser Talbrücke ist beklagenswert. Aber ich möchte daran erinnern, dass auch ein CDU-Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen dafür Mitverantwortung trägt; denn die Schäden an dieser Brücke, die seit 2011 bekannt sind, haben drei Verkehrsminister in NRW überdauert. Sie sind also für das Katastrophenprojekt A 45 gemeinschaftlich verantwortlich.
({0})
Es fehlt Ihnen offenbar der politische Wille, Investitionen mal über eine Legislaturperiode hinaus zu planen. Langwierige Genehmigungsverfahren und überbordende Auflagen müssen die Lüdenscheider nun teuer bezahlen: Ein großer Teil der europäischen Transitverkehre fährt jetzt direkt durch ihre Stadt. Der Bürgermeister spricht von unhaltbaren Zuständen, und durch die Belastungen sind die Menschen – Zitat – „gesundheitlich am Limit“. Herzlichen Glückwunsch! Während Sie in Ihrem Genehmigungsverfahren den Winterschlaf der Haselmaus bedacht haben, wurden Bedürfnisse von Anwohnern und Mittelstand zumindest fahrlässig ignoriert.
({1})
Meine Damen und Herren, dieser Irrsinn ist aber kein Einzelfall, sondern jede zehnte Autobahnbrücke ist sanierungsbedürftig. Lüdenscheid ist also überall.
({2})
Und was macht unser neuer Verkehrsminister, getrieben von seiner Koalitionsampel, die nur allzu oft auf Dauergrün steht und damit das Land in ein Entwicklungsstoppschild verwandelt?
({3})
Herr Wissing startet nicht etwa die größte Straßen- und Brückenoffensive, nein, er investiert im linksideologischen Zangengriff mehr in die Schiene als in den Straßen- und in den Brückenbau.
({4})
Jetzt präsentieren Sie uns hier einen Gesetzentwurf, der – vielen Pharmaprodukten gleich – nicht die Krankheit heilt, sondern Symptome unterdrückt. Statt jeden Euro in eine schnelle, entbürokratisierte Brückenrettungsaktion zu stecken, halten Sie den lärmgeplagten Bürgern mit Schallschutzmaßnahmen die Ohren zu. Ob das den nur allzu berechtigten Protest unterbindet, bleibt abzuwarten, meine Damen und Herren.
({5})
Anstatt die Punkte im Bundesfernstraßengesetz zu beheben, die uns diese Katastrophe eingebrockt haben, versuchen Sie einmal mehr, die Menschen mit Umverteilung vor den Folgen Ihrer Politik zu schützen. Das ist ein Schildbürgerstreich, wie ihn Brüssel nicht besser hinkriegen könnte.
Ihr Gesetzentwurf wäre es wert, abgelehnt zu werden; allein unsere Solidarität mit den Opfern Ihrer Deindustrialisierungspolitik lässt das nicht zu.
Vielen Dank.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus meiner bisherigen Tätigkeit als Richter weiß ich sehr gut, was auf einer Geschäftsstelle los ist, wenn eine Klage eingeht, die gegen eine Partei mit Wohn- oder Firmensitz im Ausland gerichtet ist: Es herrscht Aufregung! „Wie sollen wir das denn zustellen?“, mit dieser Frage landet die Klage sehr schnell auf dem Tisch des zuständigen Richters. Doch auch der wird, wie ich aus zehnjähriger Berufserfahrung weiß, in der Regel nicht aus dem Kopf heraus beantworten können, was zu tun ist; denn grenzüberschreitende Zustellungen und Beweisaufnahmen sind alles andere als Gerichtsalltag und auch nicht trivial.
Das zeigt auch der Gesetzentwurf, über den wir heute Nacht beraten. Er nimmt zwei EU‑Verordnungen zum Anlass, die Regelungen zur Zustellung und zur Beweisaufnahme im Ausland in der ZPO zu aktualisieren und neu zu strukturieren. Vor allem Letzteres gelingt ihm. Die neuen §§ 183 und 363 ZPO sind viel übersichtlicher gestaltet als zuvor und dadurch für den juristisch geschulten wie ungeschulten Leser deutlich besser zu erfassen. Die Aufregung bei Gericht wird damit bei grenzüberschreitenden Zustellungen und Beweisaufnahmen in Zukunft deutlich geringer ausfallen.
Der Gesetzentwurf beschränkt sich aber nicht auf die ZPO, sondern ändert auch das Gesetz zur Ausführung der Haager Übereinkommen über die Zustellung und die Beweisaufnahme im Ausland. Dass in diesem Zusammenhang die Stellung des Bundesamtes für Justiz im internationalen Zivilrechtsverkehr wie schon bei den Neuregelungen der ZPO gestärkt wird, begrüßen wir ausdrücklich.
Durchaus kritisch sehen wir dagegen den neuen § 14 dieses Gesetzes. Er betrifft Verfahren, die im Common Law unter der Bezeichnung „pre-trial discovery of documents“ bekannt sind, also die vorgerichtliche Dokumentenherausgabe. Rechtshilfeersuchen, die solche Verfahren zum Gegenstand haben, sollen künftig unter engen Voraussetzungen zulässig sein. Das hat der Deutsche Bundestag im Frühjahr 2017 noch fraktionsübergreifend abgelehnt. Im deutschen Zivilprozess gelte der Beibringungsgrundsatz, und Ausforschungsbeweise seien ihm fremd. Die damaligen Bedenken bleiben berechtigt, und zum Glück greift der Gesetzentwurf sie auch auf. Die Ausforschung deutscher Parteien wird danach ausdrücklich verhindert. Ob die engen gesetzlichen Voraussetzungen freilich dafür ausreichen, wird die Praxis zeigen und werden wir genau beobachten müssen.
({0})
Und leider, leider regelt der Gesetzentwurf wichtige Punkte auch nicht. Erstens muss die Beweisaufnahme per Videokonferenz erleichtert werden. Zweitens muss es künftig zulässig sein, dass Zeugen Beweisfragen nicht nur schriftlich, sondern auch per Videoaufnahme beantworten können. Und drittens müssen die fünf klassischen Beweismittel der ZPO um ein sechstes erweitert werden: die elektronische Datei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das ändert nichts daran, dass auch wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen werden. Aber es muss uns auch klar sein: Man mag den digitalen und grenzüberschreitenden Rechtsverkehr für gut oder schlecht halten – aufhalten kann und wird man ihn nicht. Aber man kann und muss ihn gestalten. Und das zu tun, liegt an uns, nicht nur heute Nacht, sondern weit darüber hinaus.
({1})
Sonja Eichwede hat ihre Rede zu Protokoll gegeben; sie hätte für die SPD-Fraktion gesprochen.
({0})
Fabian Jacobi hat das Wort für die AfD.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Mitternacht ein Kessel Buntes, ein Potpourri in Gestalt eines Artikelgesetzes. Was ist drin in diesem Topf? Die Implementierung von geänderten EU‑Verordnungen in unsere Zivilprozessordnung, einige Änderungen von Verfahrensbestimmungen im Betreuungsrecht, ein Strauß Namensänderungen als Folge des geänderten Zuschnittes von Ministerien. Das ist alles nicht irrelevant, aber auch nicht der Stoff großer Kontroversen.
Zwischen all diesem aber ist ein Artikel, der doch Anlass zur Erörterung gibt; das ist der Artikel 3. Er ändert das Gesetz zur Ausführung des Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme. Es geht also um die Rechtshilfe, die Deutschland leistet, wenn ein ausländisches Gericht im Rahmen eines dort anhängigen Rechtsstreits eine Beweisaufnahme in Deutschland durchführen möchte.
Grundsätzlich leistet Deutschland diese Rechtshilfe im Rahmen des Übereinkommens. Davon ausgenommen sind allerdings bisher die Verfahren der sogenannten „pre-trial discovery“. Das ist eine Erscheinung des Prozessrechts im angelsächsischen Rechtskreis, insbesondere in den Vereinigten Staaten, bei der der Kläger die Herausgabe von Dokumenten des Beklagten erwirken kann, auf die der Kläger dann anschließend seine Klage stützen will. Im deutschen Prozessrecht gibt es das in dieser Form nicht, und, wie gesagt, wir unterstützen solche Verfahren vor amerikanischen Gerichten bisher auch nicht im Wege der Rechtshilfe. Das soll der vorliegende Gesetzentwurf ändern, er soll die Rechtshilfe auch insoweit zulassen.
Es hat diesen Vorschlag genau so schon 2017 gegeben; Herr Kollege Dr. Plum sprach das gerade an. Es ist in der Tat derselbe Vorschlag; daran hat sich nichts geändert. Damals hieß es, man könne so amerikanische Gerichte dazu bewegen, anstelle ihres eigenen Prozessrechts das Beweisübereinkommen anzuwenden. Der Deutsche Anwaltverein hat damals in mehreren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass eine solche Wirkung auf amerikanische Gerichte wohl eher nicht anzunehmen sei. Der Rechtsausschuss des Bundestages hat dann 2017 einstimmig Folgendes beschlossen – ich zitiere –:
Eine Öffnung der Zivilrechtshilfe für Verfahren der Dokumentenvorlage („pre-trial discovery of documents“) soll nach Auffassung des Ausschusses nicht vorgenommen werden. Ausforschungsbeweise entsprechend US-amerikanischem Prozessrecht sind nach deutschem Zivilprozessrecht ungeachtet der im Jahr 2001 geänderten Regelungen des § 142 ZPO grundsätzlich unzulässig.
Der Ausschuss … zweifelt … daran, dass die vorgeschlagene Änderung den gewünschten Erfolg herbeiführen würde.
Entsprechend dieser einstimmigen Empfehlung des Rechtsausschusses ist die Gesetzesänderung 2017 dann auch folgerichtig unterblieben. Nun wird sie inhaltlich unverändert erneut vorgelegt. Die Sachlage allerdings ist ebenfalls unverändert; es gibt dazu keine neuen Erkenntnisse. Wir halten die damalige, einhellige Auffassung des Rechtsausschusses weiterhin für zutreffend. Dementsprechend sollte dieser Teil des Gesetzentwurfes gestrichen werden.
({0})
Mit unserem dahin gehenden Änderungsantrag haben Sie sich im Ausschuss leider nicht näher befassen wollen. Deshalb haben wir ihn heute noch einmal mitgebracht. Sie können also gleich Ihren Fehler korrigieren, indem Sie dem Änderungsantrag jetzt zustimmen.
Vielen Dank.
({1})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat Dr. Till Steffen seine Rede zu Protokoll gegeben, für Die Linke Clara Bünger ebenfalls.
({0})
Das Wort hat Awet Tesfaiesus für Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie wir gehört haben, beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf Anpassungen im Zivilprozessrecht, die aufgrund von EU‑Verordnungen notwendig geworden sind.
Ich möchte auf einen anderen Teil eingehen, nämlich die redaktionell-technischen Änderungen im Bereich des Vormundschafts- und Betreuungsrechts, und zwar im Rahmen der bereits in der letzten Wahlperiode beschlossenen Reform.
Für weit über 1 Million Menschen ist in Deutschland eine Betreuung eingerichtet. Die Gründe hierfür sind so vielfältig wie die Menschen und ihre Schicksale. Die Zahl der Betreuungen steigt von Jahr zu Jahr, und sie wird weiter steigen; das spüren nicht zuletzt unsere Amtsgerichte. Auf der anderen Seite haben wir die Beziehung zwischen Betreuerinnen/Betreuern und Betreuten. Das ist eine sehr individuelle, persönliche Beziehung. Sie stellt an die Sachkunde, an die moralische Integrität der Betreuerinnen und Betreuer große Anforderungen und verdient gerade deshalb feste rechtliche Grundlagen; denn die Betreuung kann den Unterschied zwischen Leben und Tod machen.
Wir wollen die Bedarfe der Betreuten konsequent in den Mittelpunkt stellen.
({0})
Die in der letzten Wahlperiode bereits beschlossene Reform geht dabei in die richtige Richtung, wenngleich ich an dieser Stelle keinen Hehl daraus machen möchte, dass wir uns mehr erhofft hätten, insbesondere wenn es darum geht, das Selbstbestimmungsrecht der Betreuten zu stärken. Dennoch wird die Qualität, etwa durch die nun erforderlichen Nachweise der Sachkunde, deutlich verbessert. Wir wollen die Reform zügig umsetzen, damit die positiven Elemente die Situation der Betroffenen verbessern können.
Doch wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen. Daher werden wir dieses Gesetz vor Ablauf der Legislaturperiode evaluieren und uns noch konsequenter für die Bedarfe der Betroffenen einsetzen.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat Susanne Hierl das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Grund, warum wir hier noch zu nächtlicher Stunde zusammensitzen, ist das Gesetz zur Durchführung der EU-Verordnungen über grenzüberschreitende Zustellungen und grenzüberschreitende Beweisaufnahmen in Zivil- oder Handelssachen, zur Änderung der Zivilrechtshilfe, des Vormundschafts- und Betreuungsrechts sowie sonstiger Vorschriften. Als Juristen würden wir sagen: Ein typisches Omnibusgesetz; einem Gesetzesvorhaben zu einem bestimmten Thema werden noch viele weitere Gesetzesänderungen zu nicht verwandten Themen zur Seite gestellt und gemeinsam behandelt. Es wurde vieles eingesammelt, das thematisch in keinem Zusammenhang steht: von Änderungen der Zivilprozessordnung über Änderungen des Vormundschaftsrechts bis hin zu Änderungen des Betreuungsrechts.
Lassen Sie mich die Änderungen des Betreuungsrechts herausgreifen. In der vergangenen Wahlperiode – wir haben es gerade schon gehört – wurde unter der unionsgeführten Bundesregierung das Vormundschafts- und Betreuungsrecht nach 30 Jahren grundlegend reformiert. Das Reformprojekt war wohl das wichtigste in der letzten Legislatur. Vor allem die Stärkung der Rechte der Betroffenen und der Fokus auf die Selbstbestimmung wurden einhellig, durch alle Fraktionen, begrüßt.
Das entsprechende Gesetz selbst tritt jedoch erst Anfang 2023 in Kraft. Die vorliegenden Änderungen am noch nicht in Kraft getretenen Gesetz sind insgesamt gesehen sinnvoll. Zum Beispiel soll den Betreuungsstellen ermöglicht werden, auf vorhandene Kompetenzen von Betreuungsvereinen und Berufsbetreuern auch in gerichtlichen Verfahren zurückzugreifen. Allerdings möchte ich anmerken, dass es doch sehr verwundert, dass ein Gesetz, welches noch nicht einmal in Kraft getreten ist, bereits wieder geändert wird, noch dazu, weil es in den Beratungen in der letzten Legislatur keine Anzeichen dafür gegeben hat.
Eine Anmerkung zum Schluss kann ich mir nicht verkneifen: Ich weiß nicht, ob Sie selbst schon mal versucht haben, die Änderungen am Gesetz nachzuvollziehen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ziemlich mühsam. Wenn Sie dann noch versuchen, es umweltfreundlich zu machen – ohne Ausdruck auf Papier –, dann ist das fast unmöglich. Für solche Fälle wäre es wirklich angebracht, wenn Sie dem Gesetzentwurf eine Synopse beilegen, so wie Sie das in Ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, ich möchte Sie ermuntern, in diesem Punkt die angekündigten einfachen und durchaus sinnvollen Verbesserungen nun auch zügig anzugehen und umzusetzen. Solch eine Gegenüberstellung des geplanten Gesetzestextes würde unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und auch uns viel Zeit ersparen – wertvolle Zeit, die wir für drängendere Aufgaben nutzen könnten.
Herzlichen Dank.
({1})