Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/8/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Putins Krieg gegen die Ukraine erschüttert unseren gesamten Kontinent, und die Folgen sind unabsehbares Leid. Die Menschen in der Ukraine, das ukrainische Volk, verteidigen ihre Souveränität und ihre Freiheit. Das sind auch die Werte, die sie mit uns verbinden, europäische Werte, nämlich dafür zu sorgen, dass auf unserem Kontinent die Stärke des Rechts, auch des Völkerrechts, gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Ich erwähne das deshalb, weil ich Ihnen in meinen einleitenden Worten über die Schwerpunkte berichten will, die wir uns im Ministerium für Arbeit und Soziales beim Krisenmanagement angesichts dieses furchtbaren Krieges vorgenommen haben. Seit dem 24. Februar haben wir uns drei Dinge vorgenommen: Zum einen gilt es – das ist meine Amtsverantwortung –, mitzuhelfen bei dem Versuch, nach zwei Jahren Coronakrise nun auch in dieser Krise den Arbeitsmarkt in Deutschland robust und intakt zu halten. Wir erleben, dass das in der Coronazeit gelungen ist. Trotz der tiefsten Wirtschaftskrise unserer Generation konnten wir mit Instrumenten wie der Kurzarbeit Millionen von Arbeitsplätzen sichern. Das ist keine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber es war ein richtiger Weg, damit Unternehmen Fachkräfte an Bord halten konnten, Arbeitsplätze für Beschäftigte gesichert werden konnten und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert werden konnte. Nach dem 24. Februar haben wir weitere Maßnahmen ergriffen. Wir haben jetzt nicht mehr damit zu tun, dass Arbeitsplätze so sehr gefährdet sind in Bereichen, die durch Coronamaßnahmen eingeschränkt waren, sondern wir haben jetzt vor allen Dingen im industriellen Bereich damit zu tun, dass es wiederum zu Störungen von Lieferketten kommt. Da fehlen Kabelbäume aus der Ukraine für die Automobilproduktion oder Rohstoffe aus Russland. Deshalb haben wir Maßnahmen zur Kurzarbeit verlängert, um Beschäftigung zu sichern, und die Zahlen am Arbeitsmarkt geben uns recht: Der deutsche Arbeitsmarkt ist sehr, sehr intakt und robust. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wächst sogar wieder. Der zweite Schwerpunkt, meine Damen und Herren, ist hier in der letzten Sitzungswoche sehr intensiv debattiert worden, nämlich die Tatsache, dass dieser Krieg die ohnehin schon steigende Preisentwicklung massiv geboostert hat. Wir haben erlebt, dass durch diesen Krieg vor allen Dingen Energieimporte teurer geworden sind, und das schlägt sich in den Lebenshaltungskosten der Bürgerinnen und Bürger nieder. Deshalb war und ist es das Ziel der Bundesregierung, gezielt Menschen mit unteren und mittleren Einkommen zu entlasten, und das haben wir auch weiterhin im Blick. Ich will an dieser Stelle sagen, dass es aber auch wichtig ist, dass wir was für Geringverdiener tun. Ich bin dem Deutschen Bundestag deshalb sehr, sehr dankbar, dass der Ausschuss für Arbeit und Soziales am heutigen Tag dafür gesorgt hat, dass der Mindestlohn ab 1. Oktober auf 12 Euro steigen wird. Das ist eine Lohnerhöhung von 22 Prozent für viele Menschen, für 6,5 Millionen Menschen, in Deutschland. Das ist ohnehin sinnvoll; aber es hilft sehr fleißigen Menschen auch, in Zeiten gestiegener Preise besser über die Runden zu kommen. ({0}) Das Dritte, was ich ansprechen möchte – neben den Fragen, wie wir den Arbeitsmarkt intakt halten, was wir tun, um vor allen Dingen untere und mittlere Einkommen zu entlasten –, ist die große Aufgabe, mit der großen Zahl von Geflüchteten, die aus der Ukraine zu uns gekommen sind, anständig umzugehen. Auch da ist Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik sehr stark gefragt. Wir hier im Deutschen Bundestag haben beschlossen, dass die Geflüchteten aus der Ukraine, weil sie einen unmittelbaren Schutzstatus haben, ab 1. Juni mit anerkannten Asylbewerbern gleichgestellt werden und damit von den Grundsicherungssystemen betreut werden. Das entlastet Länder und Kommunen milliardenschwer – wir als Bund lassen sie nicht im Regen stehen –, aber es hilft vor allen Dingen den Geflüchteten unmittelbar, weil sie jetzt den vollen Schutz beispielsweise der Krankenversicherung haben. Es hilft auch, meine Damen und Herren, Geflüchtete besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir haben die rechtlichen Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt unmittelbar geschaffen, und wir werden jetzt praktische Hürden beiseiteräumen. Ich war gestern im Welcome Center der Deutschen Bahn AG unmittelbar vor dem Hauptbahnhof in Berlin. Die Deutsche Bahn AG engagiert sich zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit dafür, dass Geflüchtete hier Arbeit finden können. Ich habe zwei Frauen kennengelernt, denen das geholfen hat. Eine von ihnen hatte bei der ukrainischen Bahn gearbeitet und hat jetzt als Elektrikerin bei der Deutschen Bahn AG eine Arbeit gefunden. Die andere hatte als Juristin in ihrer Heimat gearbeitet und hilft jetzt bei der Deutschen Bahn AG mit, Fachkräfte anzuwerben. Das sind zwei kleine Beispiele. Es wird eine große Anstrengung, bei der wir vor allen Dingen dafür sorgen müssen, dass die Menschen Zugang zu Sprache haben, dass wir Berufsanerkennung beschleunigen, dass Kinderbetreuung gewährleistet ist und dass wir den Menschen tatsächlich eine ordentliche Perspektive auch auf dem Arbeitsmarkt geben. Zusammenfassend also: Wir als Arbeitsministerium sind stark im Krisenmanagement involviert. Wir versuchen aber, aus der Krise auch immer Fortschritt zu machen. Denn das, was wir zum Beispiel bei der beschleunigten Berufsanerkennung für den Arbeitsmarkt jetzt gut hinkriegen, brauchen wir übrigens auch dauerhaft für die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Also: Krise meistern und Fortschritt machen – das ist unser Motto. Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank, Herr Minister. – Wir beginnen die Regierungsbefragung zu den einleitenden Ausführungen des Ministers und zum Geschäftsbereich sowie zu den vorangegangenen Kabinettssitzungen und mit allgemeinen Fragen. Das Wort hat zuerst aus der CDU/CSU-Fraktion Kai Whittaker.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, bei der Anhörung zum Sanktionsmoratorium am vergangenen Montag hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, gesagt, dass es weiterhin Sanktionen braucht, um – Zitat von ihm – mit besonders schweren Fällen weiterhin in Kontakt zu sein. Ich kann mich auch gut erinnern, dass Sie damals vor dem Bundesverfassungsgericht ähnlich argumentiert haben. Ich durfte damals dabei sein. Jetzt führen Sie ein Sanktionsmoratorium ein, wo Sie die Sanktionen de facto weitestgehend abschaffen. Haben Sie Ihre Meinung zu Sanktionen geändert?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Abgeordneter Whittaker, ich habe meine Meinung nicht geändert, und ich teile die Haltung, dass wir vor allen Dingen auch Mitwirkungspflichten brauchen. Ihre Darstellung ist ja nicht ganz richtig. Die Koalition hat auf den Weg gebracht – die Parlamentarier werden es diese Woche, glaube ich, im Bundestag beschließen –, dass wir für ein Jahr ein sogenanntes Sanktionsmoratorium haben werden. Das heißt, Mitwirkungspflichten werden in vielen Bereichen tatsächlich anders gehandhabt. Es gibt aber immer noch beispielsweise bei wiederholten Meldeversäumnissen auch die Möglichkeit einer Leistungsminderung von bis zu 10 Prozent. Die große Reform steht vor uns: das Bürgergeld. Da ist es tatsächlich so, dass wir nicht nur das Urteil des Verfassungsgerichts, das wir uns ja alle miteinander eingefangen haben, Sie ja auch, umsetzen müssen, sondern dass wir ein neues System schaffen, ein System, in dem wir auf mehr Vertrauen setzen. Aber ich bleibe dabei: In extremen Fällen wird es auch Mitwirkungspflichten geben und auch die Möglichkeit zur Leistungsminderung. Ich glaube, die Koalitionsabgeordneten haben sich verständigt, dass das bis zu 30 Prozent entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts möglich sein wird. Über die Ausgestaltung ist zu reden. Insofern: Nein, ich habe meine Meinung nicht geändert, Herr Whittaker, aber wir werden das System grundlegend verändern, entbürokratisieren und den Menschen mehr zutrauen. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie haben das Recht zu einer Nachfrage.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, wenn Sie dankenswerterweise hier klarstellen, dass Sie weiterhin für Sanktionen sind, dann möchte ich noch mal die Frage stellen, warum Sie jetzt aber für zwölf Monate die Sanktionen de facto aussetzen, nur um sie dann wieder einzuführen. Welche Logik steht denn da bitte schön dahinter? Sie verwirren damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern. Sie lasten ihnen jetzt unnötig etwas auf. Und Sie stören auch das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger, weil jetzt Sanktionen ausgesetzt werden, obwohl es eigentlich Konsequenzen für Fehlverhalten bedürfte, und in zwölf Monaten wollen Sie sie wieder einführen. Welche Logik steht dahinter?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage, weil ich glaube, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern nicht sehr verwirrt sind, aber ich zu Ihrer Aufklärung beitragen kann. ({0}) Ich glaube, dass es ganz klug ist, dass diese Koalition sich im Vorfeld der Einführung des Bürgergeldes – was ja nicht einfach die Fortführung des bisherigen Systems ist, sondern in vielerlei Hinsicht eine grundlegende Reform sein wird – vorgenommen hat, anders mit diesem Thema umzugehen. Ich will es an einem Beispiel deutlich machen; denn das ist Teil des Vorhabens der Einführung des Bürgergeldes. Wir werden die bisherige Eingliederungsvereinbarung reformieren. Sie war gut gemeint, aber Praktiker aus den Jobcentern sagen: Sie ist ein bisschen zu einem Textbausteinkasten geworden, und es ist wahnsinnig verrechtlicht. – Ich glaube, Herr Whittaker, dass, wenn wir gemeinsam als Fachpolitiker gut darüber reden, diese Bürgergeldreform eine Chance ist, die polarisierte Debatte über Sanktionen und Mitwirkungspflichten in Deutschland endlich zu entgiften. Es ist genauso falsch, alle Langzeitarbeitslosen unter den Verdacht zu stellen, sie seien zu faul, zu arbeiten – dieses Signal darf der Sozialstaat nicht geben; das war schon immer nicht richtig –, wie es auf der anderen Seite auch nicht unstatthaft ist, wenn ein Sozialstaat Mitwirkungspflichten aufgibt und die Nichtmitwirkung auch Rechtsfolgen hat. Das werden wir genau so umsetzen, wie ich es beschrieben habe. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Gibt es zum gleichen Thema Nachfragen? – Aus der CDU/CSU-Fraktion. Herr Kollege!

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister, lieber Hubertus Heil, ich fand Ihre Erklärungen sehr spannend. Denn ich glaube, wir müssen der Bevölkerung erklären, wie es möglich sein kann, dass der eine hart arbeitet – wir alle und auch Sie reden im Parlament oft von der Altenpflegerin, die einen wirklich wichtigen Job für die Gesellschaft macht – und der andere eine zumutbare Arbeit nicht annimmt und aus welchen Gründen auch immer sagt: Ich mache diesen Job nicht. – Wie erklären Sie, dass bei den Sanktionen jetzt eben nicht mehr so gehandelt wird, wie wir als CDU/CSU-Fraktion weiter handeln würden? Deswegen: Können Sie es mir, aber können Sie es vor allem auch der Altenpflegerin erklären?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Das kann ich, Herr Kollege. – Ich finde es wichtig, dass wir nicht Gruppen am Arbeitsmarkt gegeneinander ausspielen. ({0}) Denn in der Realität geht es nicht darum, dass Menschen nicht mitwirken müssen. Ich habe ja vorhin beschrieben: Wir werden das Thema Eingliederung ganz neu aufstellen. Mein Ziel bleibt es, nicht Menschen in der Grundsicherung oder dann im Bürgergeld zu verwalten, sondern sie, wo immer es geht, von dort rauszubringen. Aber wenn ich mit den Praktikern in den Jobcentern rede, dann sagen sie mir zwei Sachen: Wir bringen nicht mit Sanktionen die Leute raus, sondern mit Brücken auf den Arbeitsmarkt, und zwar richtigen Brücken. ({1}) Zum Beispiel haben zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keinen Berufsabschluss. An dieser Stelle werden wir etwas Neues einführen, weil wir sie nicht in irgendwelche Arbeit, sondern weil wir sie nachhaltig in ordentliche Arbeit bringen wollen. ({2}) Das Zweite ist: Ja, wir brauchen für ganz, ganz harte Fälle – das sind übrigens die seltensten – auch Möglichkeiten, dass Mitwirkungspflichten bleiben und dass die Nichtmitwirkung Rechtsfolgen hat, auch Leistungsminderungen. Das habe ich eben beschrieben; das werden Sie sehen. Aber bitte nicht die Altenpflegerin gegen den Langzeitarbeitslosen ausspielen. Die meisten Langzeitarbeitslosen, die ich kenne, wollen arbeiten und sind keine faulen Menschen. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürften noch eine Nachfrage stellen, aber Sie müssen nicht.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Aber ich freue mich.

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, das mache ich natürlich gerne. – Lieber Herr Minister, ich glaube, in diesem Hohen Haus geht es keinem darum, Berufsgruppen gegeneinander auszuspielen. Trotzdem frage ich Sie noch mal: Empfinden Sie das, was Sie vorhaben, als gerecht? Ich empfinde Sanktionen nicht als ungerecht, sondern ich empfinde sie als leistungsfördernd. Ich möchte Sie doch noch mal sehr offen und auch sehr klar um eine Antwort bitten: Bleiben Sie weiterhin bei dem Prinzip „Fordern und Fördern“? Glauben Sie, dass mit dem Ansatz, den Sie gerade noch mal versucht haben zu erklären, jetzt eher nur noch das Fördern bei Ihnen in der Ampelkoalition auf der Tagesordnung steht, oder glauben Sie immer noch, dass auch der Aspekt des Forderns wichtig ist?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich kann Ihnen mein Prinzip nennen: Ich möchte Menschen ermutigen und unterstützen, aus der Situation rauszukommen. Es wird bei Mitwirkungspflichten bleiben. Aber wenn Sie eine Formel haben wollen, die schön griffig ist, dann würde ich sagen: Diese Fortschrittskoalition wagt mehr Ermutigung und Unterstützung, um Menschen rauszuführen aus dem System. Das wollen wir: Wir wollen, dass Menschen selbstbestimmt leben und am Arbeitsmarkt teilhaben können, weil Arbeit für die meisten Menschen mehr ist als Broterwerb. Ich habe einen langzeitarbeitslosen Menschen in Heidelberg kennengelernt, der 26 Jahre arbeitslos war, und zwar nicht, weil er faul war, sondern weil er einen Schicksalsschlag erlitten hatte, der ihn psychisch aus der Bahn geschmissen hat – 26 Jahre! Er hat auf der Straße gelebt, und er hat jetzt über den Sozialen Arbeitsmarkt, den wir ja gemeinsam geschaffen haben, eine Arbeit als Hausmeister in einer Schule gefunden. Für ihn ist das Leben besser und anders. Das ermutigt mich, diesen Weg weiterzugehen. Wir werden übrigens den Sozialen Arbeitsmarkt, der auf Druck der CDU ja nur befristet war, im Zuge der Bürgergeldreform dauerhaft entfristen. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Fragestellerin zum gleichen Thema: Annika Klose aus der SPD-Fraktion.

Annika Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister, vielen herzlichen Dank für Ihre Ausführungen zu diesem Thema. Das Sanktionsmoratorium, zu dem gefragt wurde, ist ja der erste Schritt hin zu unserer Bürgergeldreform. Daher möchte ich nachfragen: Welche Priorität messen Sie denn der Einführung des Bürgergeldes zu? Was ist dabei besonders zu beachten, und worauf kommt es besonders an?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Klose, ich danke Ihnen für die Frage, weil mir das die Gelegenheit gibt, dem Kollegen vielleicht noch einmal zu sagen: Wir führen kein bedingungsloses Grundeinkommen ein, sondern wir führen ein soziales Bürgergeld ein. ({0}) – Nein, das ist das, was wir machen. Das ist eine große Reform mit sehr, sehr großen Elementen. Insgesamt enthält der Koalitionsvertrag über 33 größere und kleinere Schritte zur Entbürokratisierung des Systems, zur grundlegenden Veränderung des Sozialstaates. Deshalb hat dieses Thema für mich sehr, sehr große Priorität. Ich werde noch in diesem Sommer dafür einen Gesetzentwurf vorlegen. Und wir haben dann in der zweiten Jahreshälfte die Gelegenheit, wenn das Kabinett es beschließt, es hier im Parlament zu debattieren und zu beschließen. Mir geht es um Folgendes: Wir müssen aus den Schützengräben der letzten 16 Jahre in der Debatte um Hartz IV rauskommen. Wir wollen Hartz IV überwinden. ({1}) Das ist unser Ziel miteinander. Denn ich muss feststellen, dass das Gesetz, das da ist, das SGB II – das sagen uns alle Praktiker –, wahrscheinlich eines der bürokratischsten Gesetze ist, die es gibt. Das liegt nicht an den fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter, die übrigens eine hervorragende Arbeit machen. ({2}) Aber die sagen mir aus der Praxis: Wir wollen Menschen helfen. Wir brauchen ein besseres Gesetz. Wir kennen zig kleine Sachen, die man entbürokratisieren kann, von Bescheiden bis hin zu vielem anderen mehr. Wir setzen auch größere Elemente mit dieser Reform um, um dafür zu sorgen, dass der Sozialstaat im Tun und im Ton besser wird. Denn in der Coronazeit haben wir erlebt, dass ganz, ganz viele Menschen in die Grundsicherung gekommen sind, die nie gedacht haben, dass sie darauf angewiesen sein würden. Sie haben erlebt, dass es gut ist, dass es eine Grundsicherung gibt, aber dass es zu bürokratisch ist. Es ist auch eine Konsequenz der letzten Jahre, dass wir das vom Kopf auf die Füße stellen und dass wir aus dieser polarisierten gesellschaftlichen Debatte endlich rauskommen mit einem zukunftsorientierten Sozialstaat, der den Menschen nicht vor der Nase steht, sondern im Fall von Notlagen zur Seite steht und ihnen möglichst hilft, aus der Situation wieder rauszukommen. Das ist mein Prinzip. Insofern: Ja, das hat hohe Priorität für den Bundesarbeitsminister. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können noch eine kurze Nachfrage stellen.

Annika Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, das möchte ich gerne tun. – Wenn wir über Grundsicherung reden, dann gibt es noch ein zweites Programm, das wir auflegen wollen: Das ist die Kindergrundsicherung. Mit dem Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz haben wir bereits einen ersten Schritt dorthin getan. Sehr geehrter Herr Minister, wie bewerten Sie dieses Vorhaben der Koalition vor dem Hintergrund der insgesamt veränderten Rahmenbedingungen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, das ist ein wichtiger, notwendiger Schritt, aber – Sie haben es eben beschrieben – es ist nur im Vorgriff auf das, was wir eigentlich wollen, nämlich zusätzlich eine eigenständige Kindergrundsicherung in Deutschland einführen. Wir haben beim Kindersofortzuschlag verabredet, dass die Federführung beim Bundesarbeitsminister liegt, die Ko-Federführung bei der Bundesfamilienministerin. Das wird jetzt bei der Kindergrundsicherung andersherum sein; die Kollegin Paus wird nämlich federführend sein. Wir haben eine Arbeitsgruppe gegründet, um in dieser Legislaturperiode eine Kindergrundsicherung einzuführen, weil diese Bundesregierung der Überzeugung ist, dass Kinder und Jugendliche in der Grundsicherung eben keine kleinen Langzeitarbeitslosen sind, sondern eben Kinder und Jugendliche. Mit der Kindergrundsicherung werden sie deshalb materiell bessergestellt und haben vor allen Dingen – Herr Kollege Teutrine hat das in der letzten Debatte, wie ich finde, sehr gut ausgeführt – bessere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Soziale Herkunft darf kein dauerhaftes Schicksal für Kinder sein. Jeder und jede muss die Chance haben, zu einem selbstbestimmten Leben zu kommen. Das ist das Prinzip dieser Koalition bei der Einführung der Kindergrundsicherung. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich habe jetzt zum gleichen Thema noch drei Fragestellerinnen und Fragesteller. Die würde ich jetzt auch noch drannehmen – alle haben ja auch noch die Chance, eine Nachfrage zu stellen –, aber dann würde ich wieder in die reguläre Reihenfolge der Fragesteller gehen; denn sonst schaffen wir es in einer Stunde nicht, dass alle Fraktionen einmal eine reguläre Frage, die angemeldet ist, stellen können. – Es sind natürlich alle Fragen reguläre Fragen; Entschuldigung. Aber Sie wissen, was ich meine. Jetzt fragt als Nächstes die Kollegin Dr. Ottilie Klein aus der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ottilie Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Bundesminister! Ich wollte noch mal kurz auf das Thema Sanktionsmoratorium zurückkommen. Es wurde jetzt bereits deutlich, dass Sie Sanktionen für zwölf Monate aussetzen wollen. Da würde mich interessieren, ob Sie dann Betroffene nachträglich sanktionieren wollen und, falls nein, wie Sie diese Form der Ungleichbehandlung begründen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, ich würde anregen – das ist ja im Rahmen des Bürgergeldes auch möglich –, dass wir vielleicht den Begriff „Sanktionen“ weglassen ({0}) und von Mitwirkungspflichten und Leistungsminderungen sprechen, weil in diesen Zeiten der Begriff „Sanktion“ ein bisschen anders belegt ist. Deshalb muss man mit Sprache vorsichtig sein. ({1}) – Ich meine das ganz ernst. ({2}) Wenn Sie das schon unterschätzen, dann unterschätzen Sie auch, dass manches aus fachpolitischen Debatten bei Bürgerinnen und Bürgern ganz anders ankommt. Also: Da müssen wir auch mit Sprache ein bisschen aufpassen. Aber ich will das in der Sache beantworten. Wir haben tatsächlich gesagt: Die Aussetzung soll zwölf Monate andauern. – Das ist das, was jetzt im Parlament verhandelt wird und hier beschlossen werden soll. Das ist jetzt im parlamentarischen Verfahren. Mitwirkungspflichten soll es nach wie vor geben. Meldeversäumnisse können im wiederholten Falle auch zu Leistungsminderungen führen. Es gibt also keine vollständige Abschaffung der Mitwirkungspflichten und der Rechtsfolgen an dieser Stelle. Wir werden mit dem Bürgergeld ein neues System aufstellen, wie ich das Ihrem Kollegen vorhin beschrieben habe.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Dr. Ottilie Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte meine Frage nochmals wiederholen: Werden Betroffene nach diesen zwölf Monaten nachträglich sanktioniert, und, falls nein, womit begründen Sie diese Ungleichbehandlung?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, ich werde einen Gesetzentwurf zum Bürgergeld vorlegen, und das wird dann Ihre Frage beantworten. ({0}) Ich kann jetzt dem Gesetzgeber mit Blick auf das, was an zukünftiger Gesetzgebung stattfindet, auch nicht vorgreifen; aber ich weiß, was ich will. ({1}) – Ja, für das eine Gesetz. – Das Bürgergeld kommt, und das wird Ihre Frage auch beantworten. Ich sage mal: Zukunftsfragen kann ich an dieser Stelle beantworten, wenn der Gesetzentwurf vorliegt. ({2}) Dann, glaube ich, ist das auch vernünftig. Wir haben eine Einigung über das Sanktionsmoratorium, wie es heißt, erzielt. ({3}) – Sie haben jetzt nicht das Wort, glaube ich. Das erteilt Ihnen die Präsidentin. ({4}) – Das brauchen Sie gar nicht. Ich wollte die Frage beantworten. Wir haben in der Koalition jetzt offensichtlich eine Einigung im Rahmen des Gesetzesvorhabens erzielt, das in diesen Tagen im Bundestag debattiert und auch abgeschlossen wird, wenn ich es richtig weiß. Sie betrifft die Rechtslage der Geltungsdauer von einem Jahr. Was die Frage betrifft, wie es dann weitergeht: Das Bürgergeld wird eingeführt, und das wird Ihre Frage beantworten. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Kleinwächter von der AfD-Fraktion.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister, wir beobachten hier mit großer Aufmerksamkeit Ihren Transformationsprozess und die Verwandlung von Sanktionen in Mitwirkungspflichten. Deswegen die sehr klare Frage an Sie: Welchen Stellenwert hat der Nachranggrundsatz, den wir bislang in den Sozialsystemen hatten, tatsächlich noch in Ihrer Konzeption des Bürgergeldes? Sie sprechen ja eben nicht mehr von Sanktionen, die zum Beispiel erfolgen, wenn man eine durchaus zumutbare Stelle nicht annimmt, sondern Sie sprechen jetzt nur noch von Mitwirkungspflichten. Das klingt erst mal so, gerade weil Sie die Vermögensprüfung ausgesetzt haben, weil die Sanktionen ausgesetzt werden sollen, weil Sie zum Beispiel ukrainische Flüchtlinge direkt ins SGB‑II-System eingliedern, nach einer deutlich gestiegenen Zahl an Leistungsberechtigten, aber auch nach deutlich ansteigenden Kosten für Sozialleistungen, die insgesamt ausgezahlt werden müssen. Was sagen Ihre Kalkulationen? Was kostet Ihre Planung den Steuerzahler zusätzlich?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, das waren eine ganze Menge Fragen. Ich versuche, einzelne zu beantworten; aber ich schaffe das nicht ganz in der Kürze der Zeit. Das können wir aber, glaube ich, noch debattieren. Zum einen will ich Ihnen erklären, was damit gemeint ist, dass wir im Bürgergeld dafür sorgen werden, dass zwei Jahre lang die Größe des Wohnraums nicht überprüft und ein nicht erhebliches Vermögen nicht angefasst wird. Das haben wir in der Coronazeit auch gemacht. Hintergrund ist, dass, wenn Menschen in die Grundsicherung kommen, sie sich nicht gleichzeitig noch um ihren Wohnraum Gedanken und Sorgen machen müssen. Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die in eine existenzielle Not und in die Grundsicherung kommen – und das ist immer Ausdruck einer existenziellen Not –, sich darauf konzentrieren können, mit Unterstützung des Staates wieder aus dieser Not zu kommen, ohne sich in Zeiten von steigenden Mieten nicht gleichzeitig noch um Wohnraum Gedanken machen zu müssen. Ich finde das einen richtigen Weg. Das soll zeitlich begrenzt werden; es gibt also eine Karenz. Aber das ist auch das, was die Praktiker in den Jobcentern uns geraten haben: dass wir damit anders umgehen sollen. Das Zweite, was Sie angesprochen haben, nämlich zum Thema der ukrainischen Geflüchteten, habe ich schon mal versucht Ihnen in der Plenardebatte zum Sonderzuschlag zu vermitteln. Es stimmt nicht, was Sie sagen. Wir stellen sie nicht besser, wir stellen sie gleich mit anerkannten Asylbewerbern, weil die Geflüchteten aus der Ukraine, die vor Putins Krieg geflohen sind, hier nicht ein Asylverfahren durchlaufen wie andere Menschen, die um politisches Asyl nachsuchen und deshalb gar nicht aus dem Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes rauskommen können. Das ist richtig, und meine herzliche Bitte gerade an Ihre Fraktion, in der es ja eine große Unterstützung für Herrn Putin gibt, ist, die Geflüchteten an diesem Punkt nicht gegen die einheimischen Bedürftigen auszuspielen. Das wäre unanständig. Darum bitte ich Sie einfach ganz herzlich. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Minister, bei uns gibt es eine große Unterstützung für die deutschen Interessen, aber nicht für Putin. Meine Nachfrage bezieht sich auf die erste Frage, die ich gestellt hatte, nach dem Nachranggrundsatz. Welchen Stellenwert hat der in Ihren Planungen, also die Tatsache, dass das Sozialsystem nur für diejenigen, und zwar wirklich ausschließlich für diejenigen, zugänglich sein sollte, die im Endeffekt keine Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt durch eine zumutbare Stelle oder durch vorhandenes Vermögen selbst zu bestreiten?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Es ist – übrigens ist das nach wie vor nicht nur meine Auffassung, sondern auch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einem einschlägigen Urteil zur Frage, was Grundsicherung und dann auch Bürgergeld sein soll – dem Grunde nach ein nachrangiges System, das das soziokulturelle und sozioökonomische Existenzminimum von Menschen, die sich nicht anders helfen können, abdecken soll. Davor gibt es für viele Beschäftigte Gott sei Dank die Arbeitslosenversicherung, die vielen hilft, wenn sie arbeitslos werden, nicht gleich in Grundsicherung kommen zu müssen. Das ist ein System, das stark ist und das uns gerade in der Coronapandemie zusammen mit der Kurzarbeit Möglichkeiten gegeben hat. Insofern ist auch das Bürgergeld eine Grundsicherung, eine existenzsichernde Leistung, die Menschen, die sich sonst nicht helfen können, weiterhelfen wird. Ich glaube, das beantwortet Ihre Frage. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die letzte Nachfragerin zu diesem Komplex ist jetzt aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister, ich möchte noch einen anderen Aspekt beim Thema Bürgergeld ansprechen. Der Haushalt 2023 steht ja vor der Tür. In diesem Haushalt müssen wir natürlich alle Vorhaben der Ampel abbilden. Ein zentrales Vorhaben ist das Bürgergeld, über das wir gerade hier diskutieren. Wir wollen einen Perspektivwechsel bei der Arbeitsförderung. Wir wollen Beratung auf Augenhöhe. Wir wollen individuelle Angebote, die zu den Menschen passen; ein Fokus liegt auf Weiterbildung und Qualifizierung. Wir wollen den Menschen neue Chancen und Perspektiven ermöglichen. Ich wiederhole das noch mal – auch in Richtung Union –; denn es geht nicht nur um Sanktionen, sondern es geht um den Perspektivwechsel, den wir mit dem Bürgergeld vorhaben. Für Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, braucht es vor allem soziale Teilhabe, und da geht es um den sogenannten Sozialen Arbeitsmarkt, um den § 16e SGB II. Sie haben gesagt, er wird entfristet. Wir wollen ihn auch ein bisschen anders ausgestalten. Meine Frage ist: Werden Sie sich in den Haushaltsberatungen dafür einsetzen, dass der Soziale Arbeitsmarkt wirklich ausreichend finanziert wird? Und damit meine ich: besser als heute.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, der Haushaltsaufstellung für 2023 kann ich nicht vorweggreifen; die läuft. Wir haben Donnerstagnacht die Bereinigungssitzung für den 2022er-Haushalt, sind mit dem Bundesfinanzminister aber auch schon im Aufstellungsverfahren für den Haushalt 2023. Da Sie mich nach meiner fachlichen Meinung fragen: Der Soziale Arbeitsmarkt zeigt, dass das richtig gut investiertes Geld ist. Wir haben über 50 000 Menschen nicht in irgendwelche Maßnahmen, sondern in sozialversicherungspflichtige Arbeit gebracht. Es geht um Menschen, die ganz lange raus aus dem Arbeitsmarkt waren, die trotz der guten Lage am Arbeitsmarkt über viele Jahre von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen waren und die sonst keine Chance gehabt hätten, wieder in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu kommen. Ich habe vorhin versucht, das am Beispiel eines Menschen aus Heidelberg zu beschreiben. Man muss, glaube ich, in der Arbeitsmarktpolitik berücksichtigen: Die meisten Menschen, die arbeitslos werden, brauchen keine aktive Arbeitsmarktpolitik; denn der Arbeitsmarkt ist gut. Es gibt welche, die aktive Arbeitsmarktpolitik brauchen, um Arbeitsplätze zu sichern, Stichwort „Kurzarbeit“. Aber Menschen, die drei, vier, fünf, sechs oder zehn Jahre arbeitslos sind, haben meistens begleitende Probleme; da fehlt nicht nur Arbeit. Und da müssen wir Brücken bauen. Deshalb: Ja, ich werde mich dafür einsetzen, dass wir den Arbeitsmarkt entfristen und auch Mittel im Eingliederungstitel bekommen, um dafür zu sorgen, dass wir den sozialen Arbeitsmarkt verstetigen und möglichst auch ausbauen können, um Langzeitarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. ({0}) Aber am Ende entscheidet dieser Bundestag über das Geld; denn das ist Ihr Recht.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Das ist auch gut so. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Genau.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber es ist auch gut, dass wir uns alle unterhaken und im Voraus für die richtigen Aspekte kämpfen. Meine Nachfrage zielt darauf ab, was darüber hinaus beim Thema Bürgergeld zentral ist. Unser Fokus liegt ganz klar bei jungen Menschen. Es geht darum, ihnen Perspektiven zu eröffnen. Ein wichtiges Instrument dafür ist die Assistierte Ausbildung, von der ich glaube, dass wir sie stärken und finanziell besser ausstatten müssen. Von daher frage ich an dieser Stelle nach: Werden Sie sich zusammen mit uns dafür einsetzen, dass wir das Instrument der Assistierten Ausbildung zum einen etwas verändern und passgenauer machen, zum anderen aber auch genügend finanzielle Mittel dafür und für die Ausbildung der jungen Menschen insgesamt im SGB II bereitstellen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, Ja ist die Antwort. Aber das ist nicht der wichtigste Punkt. Es ist ganz zentral, dass wir die Assistierte Ausbildung für die jungen Leute besser organisieren und sie vermehrt anbieten, da es wirklich die Chance bietet, wieder eine Ausbildung zu bekommen. Aber als größeren Rahmen – das kann ich, glaube ich, an dieser Stelle sagen – muss man sich die Struktur der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland einmal genauer angucken. Leute, die sich nicht mit Arbeitsmarktpolitik beschäftigen, stehen vor einem Rätsel, das da lautet: Der Arbeitsmarkt ist super; trotzdem haben wir einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit. Wie passt das zusammen? Sind die alle zu faul, oder was ist los? – Das ist die Unterstellung, die manchmal mitschwingt. Das ist gesellschaftliches Gift, und deshalb muss man sich die Realität anschauen. Und die Realität zeigt, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, dass Jahr für Jahr 50 000 junge Menschen die Schule ohne Schulabschluss verlassen und dass wir in Zeiten des Fachkräftemangels 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Berufsausbildung in Deutschland haben. Denen müssen wir eine zweite und eine dritte Chance geben. Am besten ist es übrigens, dieser Entwicklung den Nachwuchs abzugraben. Deshalb ist ein Element, das ich zusätzlich zur Assistierten Ausbildung kurz erwähnen will, die Tatsache, dass wir mit dem Vermittlungsvorrang im SGB II anders umgehen werden. Im Moment steht im Gesetz – ich übersetze das mal –: Man muss die Leute in irgendwelche Arbeit bringen. Das führt dazu, dass viele ohne Ausbildung mal kurz in Arbeit kommen, manchmal auch in prekäre Arbeit, und das Jobcenter sie dann wiedersieht. Das ist keine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Mit dem Bürgergeld werden wir einführen, dass das Nachholen eines Berufsabschlusses im Zweifelsfall Vorrang vor der Vermittlung in irgendwelche Arbeit hat, wenn Sie so wollen nach dem Motto „ordentliche Arbeit statt Hilfskräfte produzieren“. Das ist übrigens auch gut für die Fachkräftesicherung in diesem Land. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich gehe jetzt wieder zur Liste der angemeldeten Fragestellerinnen und Fragesteller über. Als Nächstes ist Andreas Audretsch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dran.

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Minister, wir haben große Transformationen in dieser Gesellschaft vor uns. Das bezieht sich auf die Digitalisierung, das bezieht sich natürlich auf den demografischen Wandel, aber ganz besonders auch darauf, dass wir unsere Wirtschaft klimaneutral gestalten wollen. Wir haben eine Menge an Instrumenten im Koalitionsvertrag vereinbart, nämlich eine ganze Weiterbildungsstrategie vom Lebenschancen-BAföG über die Weiterentwicklung zum – in Anlehnung an das Kurzarbeitergeld – Qualifizierungsgeld. Dazu würde ich Sie gerne fragen: Was ist Ihre zeitliche Perspektive, und wie würden Sie diese Instrumente einordnen? In dem Zusammenhang vielleicht auch: Die BA plant Weiterbildungsverbünde, um regional agieren zu können. Wie sehen Sie das innerhalb des Konzepts, das wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Kollege Audretsch, ganz herzlichen Dank für diese Frage. – Das ist mir ein großes Anliegen; denn neben dem aktuellen Krisenmanagement macht die Transformation, die geprägt ist durch Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie, vor dem Arbeitsmarkt ja keinen Halt. Im Gegenteil: Es gibt bestimmte Entwicklungen, die schneller vorangehen werden. Das haben wir im Zusammenhang mit Corona bei der Digitalisierung erlebt, und das erleben wir jetzt bei der Notwendigkeit, von fossilen Importen unabhängiger zu werden. Das hat auch Folgen für den Arbeitsmarkt. Wenn wir wollen, dass die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen, und wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Arbeitskräfte, die 2030 mehrheitlich am Arbeitsmarkt tätig sind, ihre Ausbildung meist schon hinter sich haben, dann kommen wir zum Thema „Qualifizierung und Weiterbildung“. Wir haben eine Nationale Weiterbildungsstrategie, die federführend von der Bundesbildungsministerin und mir betreut wird, und wir werden dafür sorgen, dass es neue Instrumente gibt. Ich bin sehr froh, dass der Koalitionsvertrag viele gute neue Instrumente nennt, zum Beispiel die Einführung der Bildungszeit nach österreichischem Vorbild; dort heißt das „Bildungskarenz“. Das gibt Menschen die Chance, ihre Arbeit zu unterbrechen, wenn es eine Vereinbarung mit den Arbeitgebern gibt, und sich beruflich weiterzubilden unter Absicherung des Lebensstandards. Das hat in Österreich dazu geführt, dass die berufliche Weiterbildung geboostert wurde. Wir haben Instrumente wie das Lebenschancen-BAföG unter Federführung der Kollegin Stark-Watzinger, das ich sehr interessant finde. Wir haben beispielsweise das Instrument des Transformationszuschusses, wenn Unternehmen mehr in Weiterbildung investieren; das habe ich in der letzten Legislaturperiode mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz durchgesetzt. Und wir werden analog zu der Idee des Transformationskurzarbeitergeldes die stärkere Verbindung von Kurzarbeit mit Qualifizierung einführen. Ich sage das so ausführlich, weil wir für den aktuellen Transformationswandel nicht nur einen Schraubenschlüssel brauchen. Wir brauchen einen ganzen Werkzeugkasten, damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen. Daran arbeite ich mit Hochdruck. Ich rechne mit der Gesetzgebung für das nächste Jahr.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen. Der Minister antwortet dann hoffentlich etwas kürzer.

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Minister hat die Zeit quasi für die Beantwortung von zwei Fragen verwendet. Insofern ist es in Ordnung.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Danke, Herr Audretsch.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Ich habe gesehen, dass es zum gleichen Thema zwei Nachfragen aus der CDU/CSU-Fraktion gibt. Ich würde die zwei Fragen zulassen und dann, wenn nichts dagegenspricht, gerne wieder zur Reihenfolge übergehen; sonst kommen wir in der Stunde nicht mit den Fraktionen durch. – Sie haben das Wort, Kollegin.

Mareike Lotte Wulf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben jetzt beschrieben, was Sie im nächsten Jahr tun wollen. Ich frage mich natürlich: Was haben Sie schon getan? In Bezug auf die Weiterbildung haben wir ganz akut die Situation: Wir haben eine Zuwanderung von geflüchteten Menschen. Sie kommen mit Qualifikationen, aber häufig ohne Sprachkenntnisse. Deshalb frage ich Sie: Was haben Sie getan, um die Anerkennung von Abschlüssen von ukrainischen Flüchtlingen zu verbessern? Welche Qualifizierungsmaßnahmen haben Sie auf den Weg gebracht, um diese „on the Job“ zu qualifizieren? Und was tun Sie, damit diese Geflüchteten nicht in geringqualifizierten Tätigkeiten landen? Denn sie brauchen ja meistens dringend Geld.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Das kann ich Ihnen sagen: Wir haben, nachdem diese Menschen ihren Schutzstatus und gleichzeitig übrigens eine Arbeitserlaubnis bekommen haben, als Allererstes dafür gesorgt, dass Sprachkurse für sie geöffnet wurden. Das betrifft die Sprachkurse des BAMF im Verantwortungsbereich von Nancy Faeser und die arbeitsmarktbezogenen Sprachkurse in meinem Verantwortungsbereich. Und ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem Ergänzungshaushalt für 2022 dafür noch zusätzliche Mittel von Ihnen bekommen werden. Zweitens hatten wir gestern eine weitere Schalte einer Taskforce, bestehend aus Frau Stark-Watzinger und mir, also Bildungsministerin und Arbeitsminister, mit Karl-Josef Laumann, dem Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen, und dem für die Kultusministerkonferenz zuständigen Bildungssenator Ties Rabe aus Hamburg, um ganz konkret die Berufsanerkennung sowohl für die geschützten Berufe als auch für die nicht geschützten Berufe voranzubringen. Denn Sie haben vollkommen recht: Die Menschen aus der Ukraine, die jetzt zu uns flüchten, haben im Schnitt ein sehr hohes Ausbildungsniveau. Und wir müssen im Bereich der Berufsanerkennung ohnehin besser werden als in der Vergangenheit, damit diese Menschen nicht alle zu Hilfskräften gemacht werden. Das ist es, was wir tun. Und das ist eine gute Übung für die Erweiterung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, für die wir das ohnehin brauchen. Ich bin froh, dass das in dieser Koalition besser gelingt als in der Vorgängerregierung mit Ihnen. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Mareike Lotte Wulf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war jetzt noch eine kleine Stichelei. – Es ist eine gute Entscheidung von Ihnen, dass Sie Karl-Josef Laumann in diesen Prozess einbinden. Dann sind wir hoffnungsvoll, dass was Gutes dabei herauskommt. ({0}) Ich möchte Sie an meine Frage erinnern. Die Erfahrung aus dem vorangegangenen Zuwanderungsgeschehen zeigt, dass die Betroffenen mit den Sprachkursen erst einmal nicht viel anfangen können. Sie brauchen zwei, drei Jahre, bis sie die Sprache erlernt haben, und dann sagt man ihnen: Jetzt kannst du dich noch zwei Jahre qualifizieren, und dann darfst du in den Job gehen. – Wir brauchen doch Maßnahmen, um die Menschen „on the Job“ zu qualifizieren und ihnen gleichzeitig die Sprache zu vermitteln. Ich weiß, viele Arbeitgeber wären dazu auch bereit. Was haben Sie getan, Herr Minister, um solche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die wir jetzt dringend brauchen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Wir haben bestehende Maßnahmen aktiviert, gerade für diesen Bereich. Ich konnte mich gestern bei der Bahn AG – ich habe das vorhin beschrieben – davon in Kenntnis setzen, dass an dieser Stelle Wirtschaft und die Bundesagentur für Arbeit gut zusammenarbeiten mit den Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen, übrigens sehr unbürokratisch. Ich habe am Beispiel dieser beiden Frauen, von denen ich vorhin gesprochen habe, erlebt, dass wir beides machen: Sie konnten beide noch nicht richtig gut Deutsch, finden jetzt trotzdem einen Job und bekommen durch die Unterstützung der Bundesagentur für Arbeit – Stichwort „Training on the Job“ – die Möglichkeit, die Sprache dabei zu erlernen. Denn Sie haben vollkommen recht: Wir dürfen keine Zeit verlieren. Zu Ihrer Frage, warum Karl-Josef Laumann dabei ist: nicht nur, weil er davon Ahnung hat, sondern weil er zurzeit Vorsitzender der Arbeits- und Sozialministerkonferenz ist. Ich kann das nicht ohne die Länder hinbekommen. Die Kompetenzen im Bereich Berufsanerkennung sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt: Die geschützten Berufe fallen oft in Länderkompetenz, die sozialen Berufe sind in Länderkompetenz, die berufliche Bildung sowie die akademische Bildung sind in Bundeskompetenz. Es gibt in Deutschland 1 400 Stellen, die für Berufsanerkennung zuständig sind. – Ich will, dass wir da schneller vorankommen, und das geht nur gemeinsam und auch parteiübergreifend. Deshalb danke ich Ihnen für Ihr Interesse und Ihr Engagement bei diesem Thema. Das unterstützt die Politik der Bundesregierung. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Zum gleichen Thema hat noch eine Nachfrage Dr. Reichel aus der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Markus Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005185, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben in Ihren Einführungen auf die Weiterbildungsstrategie verwiesen und auf die hervorragenden Abstimmungen mit dem BMBF. Ein Teil dieser Weiterbildungsstrategie ist die Erstellung eines entsprechenden Portals für Weiterbildungsplattformen. Nun hat die Hochschulrektorenkonferenz in Abstimmung mit dem BMBF im April eine eigene Plattform in Gang gesetzt: „hoch & weit“. Gleichzeitig sind im Haushalt des BMAS mit, ich glaube, 18 Millionen Euro sehr große Mittel eingestellt für die Nationale Weiterbildungsplattform, die über die Bundesagentur für Arbeit betrieben werden soll. Meine Frage ist nun: In welcher Form stimmen sich diese beiden Plattformen ab? Was ist der Vorteil dieser Doppelstruktur, und inwieweit vermeiden Sie hier Ineffizienzen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ganz herzlichen Dank für diese Frage. – Diese Diskussion habe ich bereits in der letzten Regierung, weil ich die Ehre hatte, dieser schon anzugehören, mit der damaligen Bundesbildungsministerin Frau Karliczek – Sie können sie dazu auch fragen – geführt. Es ist richtig, dass wir beides aufbauen, aber nicht sozusagen als unabhängige Röhren. Vielmehr wollen wir das gut miteinander vernetzen und verlinken. Es ist richtig, dass die Bundesagentur nach dem, was ich weiß, im Aufbau ein bisschen weiter ist als die Plattform, die Sie beschrieben haben. Aber beides wird vor allen Dingen für eines sorgen: dass die passgenauen Weiterbildungsangebote, die in Deutschland sehr vielfältig sind, transparenter werden für die Menschen, die sie brauchen. Das werden wir gut miteinander verbinden. Deshalb ist das kein Widerspruch; vielmehr decken wir die gesamte Bandbreite ab. Wir haben in Deutschland doch das Problem, dass die vorhandenen Weiterbildungsangebote für viele Beschäftigte sehr unübersichtlich sind, übrigens genauso unübersichtlich wie die Vielzahl von Berufsbildern, die es in Deutschland gibt. Deshalb ist es vernünftig, dass wir digitale Systeme schaffen und den Menschen damit passgenaue Angebote machen. Das machen wir gemeinsam. In der Fortschreibung der Nationalen Weiterbildungsstrategie, die wir mit dem Bundesbildungsministerium abstimmen werden, wird das auch berücksichtigt. Die letzte Nationale Weiterbildungsstrategie habe ich mit Anja Karliczek und den Sozialpartnern sowie der Wissenschaft aufgestellt. Die nächste wird jetzt mit der neuen Kollegin fortgeschrieben, und sie wird ambitionierter sein. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Dr. Markus Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005185, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch einmal nachfragen. – Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der, ich sage mal, Markt für Weiterbildung unübersichtlich ist. Sie haben mir jetzt aber nicht erklärt, inwieweit Sie zur Übersichtlichkeit beitragen, wenn die Bundesregierung nun anstelle von einer einzigen Weiterbildungsplattform zwei parallel erstellen will. Wo ist hier exakt die Abgrenzung?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, dann habe ich eben nicht deutlich genug formuliert, was ich sagen wollte; ich bitte um Entschuldigung. Es geht um zwei unterschiedliche Segmente, und wir werden dafür sorgen, dass diese Dinge miteinander vernetzt sind. Die simple Vorstellung, die in Ihrer Fraktion einmal vorhanden war, man brauche nur so eine Art Netflix, lässt sich an dieser Stelle nicht umsetzen. Vielmehr haben wir unterschiedliche Segmente und Ansätze, weil wir auch unterschiedliche Zielgruppen haben. Aber wir werden dafür sorgen, dass sich diese beiden Systeme nicht sozusagen digital auseinanderentwickeln, sondern gut miteinander verzahnt werden. Das ist, glaube ich, ein guter Schritt. Ich kann Ihnen das in der Kürze der Zeit nicht ausführlich erläutern; möglicherweise kann ich Ihnen schriftlich antworten oder in einem Gespräch bei einem Kaffee, wenn Sie den Kaffee zahlen. ({0}) – Ich muss ja bei den Haushaltsmitteln für mein Haus sparen.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Wir gehen weiter in der Liste der angemeldeten Fragesteller. Der Nächste ist René Springer aus der AfD-Fraktion.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, zunächst möchte ich Kritik üben; denn es wurden jetzt zweimal Problembereiche angesprochen, die von Ungerechtigkeiten geprägt sind, und Ihre Reaktion war jeweils, man solle Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. ({0}) Ich denke, dass das ein Totschlagargument ist und ein Versuch, eine Debatte abzuwürgen. Aber das hier ist ein Haus, in dem Debatten geführt werden müssen, auch wenn das manchmal unangenehm ist. Deswegen kritisiere ich Sie dafür, dass Sie hier versuchen, Debatten abzuwürgen. Zu meiner Frage. Laut Zahlen Ihres Ministeriums hatten Mütter, die drei Kinder zur Welt gebracht haben, zuletzt einen durchschnittlichen Rentenzahlbetrag von 751 Euro im Monat. Ein Hartz‑IV-Empfänger, sagen wir: hier in Berlin, hat einen Regelsatzanspruch von 449 Euro, hinzu kommen 426 Euro für Kosten der Unterkunft – das ist der Richtwert –, macht 880 Euro. Eine Frau, die drei Kinder zur Welt gebracht hat, die eine Lebensleistung erbracht hat, erhält also 130 Euro weniger als eine Person, die unter Umständen noch nie einen Cent ins Sozialsystem eingezahlt hat. ({1}) Jetzt haben Sie ein Entlastungspaket eingebracht, das beschlossen wurde, das 200 Euro für Hartz-IV-Empfänger vorsieht. Rentner gehen leer aus. Wir als AfD-Fraktion verurteilen Sie ganz klar dafür, dass Sie Rentner hiervon ausnehmen, ignorieren, fallen lassen. Wir werden einen Antrag einbringen – er ist vorbereitet –, in dem wir 300 Euro für Rentner fordern. Das ist nämlich der Betrag, den Arbeitnehmer als Entlastung erhalten. Meine Frage ist: Können Sie sich dieser Forderung in der Sache anschließen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Kollege Springer, das ist ein freies Land, und hier im Parlament kann jeder eine Meinung vertreten; aber Sie müssen auch damit rechnen, dass Ihnen widersprochen wird. Deshalb bleibe ich bei der Haltung der Bundesregierung: Wir werden Menschen in Not, die aus unterschiedlichen Gründen in Not sind, in dieser Gesellschaft nicht gegeneinander ausspielen. Das will ich Ihnen auch auf diese Frage sagen. ({0}) Warum haben Menschen im Alter niedrige Renten? Die Antwort ist doch klar: Armut oder Armutsgefährdung im Alter ist meistens das Ergebnis von Armut im Erwerbsverlauf, das heißt von Langzeitarbeitslosigkeit zum Beispiel oder von viel zu niedrigen Renten aufgrund von viel zu schlechter Bezahlung. Deshalb führen wir beispielsweise den Mindestlohn ein; das wird übrigens vor allen Dingen Frauen helfen. Zu Ihrer Bemerkung zu den Entlastungspaketen möchte ich Sie auf die Debatte verweisen. Wir können uns gerne darüber unterhalten, ob für Rentnerinnen und Rentner genug dabei war. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber Ihre Behauptung, dass in den Entlastungspaketen nichts für Rentnerinnen und Rentner dabei ist, ist schlichtweg falsch. Ich will Ihnen kurz sagen, warum: Es gibt allgemeine Maßnahmen, von denen auch Rentnerinnen und Rentner profitiert haben. Die Abschaffung der EEG-Umlage ist Teil des Entlastungspakets. Der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger gehört dazu, von dem zu 50 Prozent Rentnerinnen und Rentner profitieren werden; von den Zuschüssen für die Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung im Alter mal ganz abgesehen. Noch einmal: Eine Debatte darüber, ob das genug ist, kann man gerne führen, auch mit mir. Ich sage sehr deutlich: Die Entlastungspakete im Wert von 30 Milliarden Euro, die wir jetzt beschließen, helfen, das Leben für viele ein bisschen einfacher zu machen. Bei dauerhaften Preissteigerungen werden wir weitere strukturelle Maßnahmen ergreifen müssen. Aber Ihre Behauptung, da sei für Rentner nichts dabei, ist, auch wenn Sie sie zehnmal wiederholen, schlicht wahrheitswidrig. Das müssen Sie sich gefallen lassen. Im Übrigen: Sie können mich politisch verurteilen, rechtlich können Sie es nicht. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen. – Aber, lieber Minister, Sie haben jetzt fast eine Minute überzogen. Bitte die Antwort und auch die Fragestellung kürzer halten!

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister, ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt. Hartz‑IV-Empfänger bekommen 200 Euro mehr, Arbeitnehmer bekommen 200 Euro mehr, Kinder bekommen mehr, nur Rentner bekommen keinen Einmalzuschlag. Noch einmal die Frage: Schließen Sie sich in der Sache der Forderung der AfD an, 300 Euro Einmalzuschlag für Rentner, wie Sie es auch bei den Arbeitnehmern getan haben?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sie haben, glaube ich, vorhin nicht zugehört. An dieser Stelle habe ich gesagt: In der Grundsicherung im Alter – und davon habe ich gesprochen – bekommen Rentnerinnen und Rentner die 200 Euro Zuschlag genauso wie diejenigen in anderen Grundsicherungssystemen. Insofern werden Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung nicht anders behandelt als andere Menschen in der Grundsicherung. Und ich habe vorhin beschrieben, welche weiteren Entlastungsmaßnahmen wir haben. Insofern, glaube ich, ist Ihre erste Frage beantwortet gewesen, und zwar ziemlich präzise, Herr Kollege.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich lasse auch jetzt wieder zwei Nachfragen zu diesem Thema zu. Dann gehe ich in der Liste der Fragesteller/-innen weiter; denn die Zeit ist fortgeschritten, und wir kommen sonst nicht durch. Die nächste Frage stellt Frau Gerrit Huy aus der AfD-Fraktion.

Gerrit Huy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005091, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, dass ich nachfragen darf. – Herr Minister, Sie haben darauf hingewiesen, dass niedrige Renten niedrige Löhne zur Ursache haben. Das ist im Prinzip auch korrekt. Sie müssen sich aber trotzdem vorwerfen lassen, dass Bezieher niedriger Einkommen in anderen Ländern weit höhere Renten haben, weil das Rentenniveau gerade für die Niedriglöhner in den meisten anderen Ländern eben höher liegt. Sie haben das ein bisschen kompensiert. 1,3 Millionen Grundrentenempfänger erhalten eine gewisse Verbesserung. Aber wir haben viel mehr arme Rentner, und für die muss auch etwas getan werden. – Danke. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, Sie werden erstaunt sein, aber ich bin Ihrer Meinung, dass wir viel, viel mehr tun müssen, um Altersarmut in Deutschland zu bekämpfen und zu vermeiden. Wir haben erste Schritte gemacht. Danke, dass Sie die Grundrente gelobt haben; die hilft nämlich sehr vielen Menschen. Wir werden – als Regierung haben wir das vorgeschlagen – übrigens in Kürze, glaube ich, in diesem Bundestag beschließen, dass wir bei den Erwerbsgeminderten Leistungen verbessern. Das sind Rentnerinnen und Rentner, die ihr Lebtag gearbeitet haben, aber aufgrund von Erkrankungen, von Behinderung oder von Arbeitsunfällen tatsächlich niedrige Leistungen im Alter haben. Jetzt endlich gelingt es – das ist überfällig, das gebe ich zu; das war in der letzten Regierung nicht möglich, aber in dieser Regierung ist es möglich –, bei den Erwerbsgeminderten im Bestand zu Verbesserungen zu kommen. Ich sage Ihnen: Wir haben – erstaunlicherweise – eine ähnliche Analyse der Lage, aber unterschiedliche Instrumente im Sinn, über die wir an dieser Stelle streiten können. Dieses Thema bewegt mich sehr. Ich bleibe aber bei dem Prinzip: Das, was im Erwerbsleben schiefgeht aufgrund von viel zu niedrigen Löhnen oder der Unterbrechung von Erwerbstätigkeit, schlägt sich im Alter in niedrigen Renten nieder. Da müssen wir an die Wurzel heran – durch Gleichstellung von Männern und Frauen am Arbeitsmarkt beispielweise, ({0}) durch anständige Löhne auch für soziale Berufe. Da ist die Anhebung des Mindestlohns ein wichtiger Schritt, aber das Beste sind ordentliche Tarifverträge in diesem Bereich, ({1}) und auch dafür werden wir kämpfen. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Gerrit Huy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005091, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Ich kenne die Maßnahme und begrüße sie auch. Aber ich möchte trotzdem noch einmal darauf hinweisen, dass es bei vielen Millionen armen Rentnern bleibt. Das liegt an unserem niedrigen Rentenniveau und auch an der Unfähigkeit der vergangenen Regierungen, für Geringverdiener das Rentenniveau zu erhöhen. Meine Frage ganz konkret: Haben Sie das noch vor?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Wir werden in dieser Regierung vor allen Dingen dafür sorgen, dass das bestehende Rentenniveau dauerhaft gesichert wird. Das ist angesichts der Demografie schon eine sehr heftige Aufgabe, weil ab 2025 sehr geburtenstarke Jahrgänge – das ist die große Zahl derjenigen, die vor 1964 geboren sind – in wohlverdiente Rente gehen werden. Davon sind nicht alle arm; es gibt auch Rentnerinnen und Rentner mit einer ordentlichen Absicherung. Aber wir haben Rentnerinnen und Rentner – und das ist der größte Teil –, die nicht in Saus und Braus leben, und einige sind armutsgefährdet. Deshalb bleibe ich dabei: Die Sicherung des Rentenniveaus ist eine große Aufgabe. Und ich bin froh, dass diese Regierung sich vorgenommen hat, das Rentenniveau auch über 2025 hinaus dauerhaft zu sichern. Das ist das, was wir tun.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die nächste Nachfrage stellt Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Die Renten sind unterschiedlich. Sie sind letztendlich dem Erwerbsleben und der damit verbundenen Beitragszahlungen nachvollzogen. Wenn man das Entlastungspaket der Bundesregierung betrachtet, wäre es daher folgerichtig, den Heizkostenzuschlag, der ja an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gebunden ist, Rentnerinnen und Rentnern ebenso zu gewähren wie denjenigen, die in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind; denn es gibt ja einen inneren Zusammenhang zwischen der vorhergehenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und der Rente. Ich würde damit untermauern, dass den Rentnerinnen und Rentnern diese 300 Euro zustehen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Herr Kollege, den Heizkostenzuschuss, den Sie angesprochen haben, bekommen alle Wohngeldempfängerinnen und Wohngeldempfänger, und das sind zu 50 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Der Heizkostenzuschuss ist nicht an eine Erwerbstätigkeit, sondern an den Bezug von Wohngeld gekoppelt, und das kriegen alle in Deutschland, die des Wohngeldes bedürfen. Noch einmal: Das sind zu 50 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Deshalb ist es falsch, dass die Rentnerinnen und Rentner nicht vom Heizkostenzuschuss profitieren würden.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie dürfen eine Nachfrage stellen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine zweite Frage. Es wird immer wieder dargelegt, dass die Durchschnittsrenten zu niedrig seien. Kann ich Ihre Aussage dahin gehend deuten, dass Sie eine Abkehr vom Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung wollen? ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, das Äquivalenzprinzip gilt. Aber wir haben, wenn wir es genauer betrachten, jetzt schon Abweichungen im System. Beispielsweise haben Ihre und unsere Partei gemeinsam Verbesserungen bei der Mütterrente beschlossen – Andrea Nahles und ich haben sie dann umgesetzt –, obwohl dies nicht ganz dem Äquivalenzprinzip entspricht, was die Einzahlungen betrifft. Aber es ist sozialpolitisch richtig, dass die Rentenversicherung das macht. Das betrifft auch die Einführung der Grundrente – die haben wir auch gemeinsam beschlossen –, weil wir hier über fleißige Menschen reden, vor allem über Frauen, die ihr Lebtag gearbeitet haben, aber viel zu niedrige Löhne hatten. Auch das entspricht nicht der reinen Lehre des Äquivalenzprinzips, aber das ist die Solidarität der Rentenversicherung, die in Ordnung ist. Aber ich bleibe beim Äquivalenzprinzip. Ihre Frage ist berechtigt, nämlich ob die Durchschnittsbetrachtung der gesetzlichen Rente allein ein genaues Bild macht. Das macht sie nicht. Wir haben – ich habe es vorhin beschrieben – Menschen in Altersarmut, oder sie sind armutsgefährdet. Wir haben Menschen, die eine mittlere Rente haben, die kein Leben in Saus und Braus ermöglicht. Und wir haben Menschen mit ganz ordentlicher Altersabsicherung, wenn man alles zusammenrechnet. Der Median dieser Betrachtung kann ein bisschen verzerren, weil es auch Leute gibt, die zum Beispiel kurz in die Rentenversicherung einbezahlt haben, dann aber Beamtinnen oder Beamte geworden sind. Die Statistik weist entsprechend aus, dass sie nur ganz niedrige Rentenanwartschaften haben, und das sieht dann wie ein niedriger Durchschnitt für alle aus. Ich glaube, wir haben gemeinsam die Aufgabe, für mehr Transparenz zu sorgen, was den Menschen zusteht, ohne irgendetwas am deutschen System zu beschönigen. Aber wir sollten vor allem eines tun, Herr Straubinger: dafür sorgen, dass die gesetzliche Rente die tragende Säule der Alterssicherung bleibt. Und dafür werde ich arbeiten. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich fahre jetzt fort mit der Liste der Fragesteller. Nächste Fragestellerin ist für die SPD-Fraktion Rasha Nasr.

Rasha Nasr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werter Minister Heil, Sie haben in Ihren einleitenden Worten uns Parlamentarier/-innen für die konstruktive Zusammenarbeit gedankt. Deswegen möchte ich gern im Namen der SPD-Fraktion, eben weil wir so große Themen auf dem Tableau haben, diesen Dank an Sie und das BMAS zurückgeben. Vielen Dank für die konstruktive Zusammenarbeit! Sie haben schon davon gesprochen. Den schnellen Wechsel von Ukrainerinnen und Ukrainern ins SGB II haben wir hier vollzogen. Ich würde gern den Blick auf den Bereich Arbeitsmarktintegration etwas weiten wollen. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Wo setzen Sie im BMAS die Prioritäten? Was ist jetzt noch zu tun?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin Nasr, ganz herzlichen Dank für die Frage. – Wir haben vorhin – ich glaube, da gibt es kaum Unterschiede hier im Bundestag – parteiübergreifend festgestellt, dass das Thema der Fachkräftesicherung eine entscheidende Frage nicht nur für den sozialen Zusammenhalt dieser Gesellschaft, sondern auch für die wirtschaftliche Zukunft des Landes ist. Die Fachkräfteklemmen, die wir jetzt schon in einzelnen Bereichen haben, drohen zu einer dauerhaften Wachstumsbremse zu werden. Daher ist es im Sinne der Integration notwendig, alle inländischen Potenziale, die wir ja haben, zu heben, beispielsweise durch eine höhere Frauenerwerbsbeteiligung, indem wir dafür sorgen, dass Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit kommen, dass Menschen ohne Berufsabschluss diesen nachholen können, dass jeder junge Mensch durch eine ordentliche Ausbildung einen Einstieg ins Arbeitsleben bekommt – Stichwort „Ausbildungsgarantie“, die wir organisieren wollen –, wie auch durch das Thema Weiterbildung. Wir werden alle Register für eine Fachkräftesicherung ziehen. Gleichwohl brauchen wir ergänzende Fachkräfteeinwanderung aus dem Ausland. Ich war froh, dass ich in der letzten Legislaturperiode mit dem Kollegen Seehofer einen ersten Schritt mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz machen konnte. Wer hätte gedacht, dass Horst Seehofer und ich das gemeinsam zustande bringen! Aber wir müssen weitergehen. Das hat sich diese Koalition vorgenommen. Wir werden das Einwanderungsgesetz grundlegend erneuern. Wir werden gezielt dafür sorgen, dass wir kluge Köpfe und helfende Hände in Deutschland bekommen. Wir müssen aber auch mit denen besser umgehen, die aus anderen Gründen, aus humanitären Gründen hier Aufnahme gefunden haben, die sehr lange geblieben sind, die mittlerweile auch Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben. Deshalb war die Beschäftigungsduldung ein wichtiger Schritt. Viele Handwerksmeister vor allen Dingen aus Süddeutschland haben mir gesagt: Leute, schiebt nicht die Falschen ab! Die können wir hier echt gut gebrauchen. – Ich finde, das ist ein vernünftiger Geist, und in dem werden wir auch weiter in dieser Regierung arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Zeiten des Wandels der Demografie am Arbeitsmarkt allen inländischen Potenzialen helfen und die Leute, die wir noch gebrauchen können, auch aus anderen Ländern, dazu bewegen, möglichst nach Deutschland zu kommen, um hier zu leben und zu arbeiten. Wir werden einen Fehler der Vergangenheit – Frau Nasr, ich weiß, dass Sie sich dafür sehr interessieren – nicht machen. Wir werden beachten: Da kommen nicht nur Arbeitskräfte, sondern es kommen Menschen. Das heißt, wir müssen Integration dann auch mitdenken. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Minister, ich höre Ihnen wirklich gerne zu; aber es ist sehr lang. ({0}) Wir kommen sonst nicht weiter.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Entschuldigung. Mein Herz ist voll, und mein Mund ist übergelaufen. Ich werde es kürzer machen. – Sie hören auch gerne zu; das ist nett, Herr Kollege.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie haben sich hingesetzt, also keine Nachfrage. – Es gibt Nachfragen. Ich lasse wieder nur zwei Nachfragen zu, wie gerade eben, weil wir immer noch zwei Fraktionen haben, die mit ihrer Frage noch nicht drangekommen sind. Als Erster: Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, Sie wollen bei der Fachkräftesicherung alle Hebel ziehen, und haben dann viel über Frauenerwerbsbeteiligung gesprochen; Sie haben über Integration, über Migration gesprochen. Sie haben aber einen Aspekt ausgelassen. Das sind die über 100 000 Fachkräfte, die fleißigen Hände, die durchaus intelligenten Personen, die unser Land jedes Jahr verlassen. Sie tun das zum Teil wegen einer sehr hohen Belastung mit Steuern und Sozialabgaben; sie tun das zum Teil, weil die Veränderungen, die diese Bundesregierung, aber auch die Vorgängerbundesregierung unter Ihrer Beteiligung in diesem Land erreicht haben, oder auch die Geldpolitik ihnen zutiefst missfallen. Welche Hebel wollen Sie denn zur Sicherung der bereits vorhandenen Fachkräfte ziehen, die im Begriff sind, unser Land zu verlassen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, Demografie besteht, wenn man das entschlüsselt, aus Lebenserwartung, Geburtenrate und Zu- und Abwanderung. Das prägt die Demografie am Arbeitsmarkt und übrigens auch die Renten. Ich glaube, dass Deutschland für Fachkräfte durchaus ein attraktives Land ist, auch für Leute, die sehr viel verdienen. Ich kenne übrigens viele davon, die in diesem Land gerne sind und Steuern zahlen, weil unsere Infrastruktur im Vergleich zu manchen anderen Ländern, etwa Teilen Amerikas, die viel niedrigere Steuern haben, dann doch mitunter besser ist. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die zweite Nachfrage stellt der Kollege Carl-Julius Cronenberg.

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister, vielen Dank, dass Sie die Fachkräftesicherung hier ansprechen. Sie ist in der Tat eine der ganz großen Herausforderungen für die Wirtschaft; in vielen Regionen und Branchen haben wir Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel. Die Koalition hat sich da so einiges vorgenommen, unter anderem die Entfristung der Westbalkanregelung. Ich höre allerdings aus der Praxis, dass es da immer wieder wegen komplizierter Terminvergaben und auch wegen der sehr strengen Kontingentierung zu Problemen kommt, sodass die Fachkräfte erst viele Monate später tatsächlich ihren Dienst hier in Deutschland antreten können. Daher meine Frage: Kann das BMAS diesen Eindruck bestätigen, und, wenn ja, ist das BMAS im Austausch mit dem Auswärtigen Amt, um die Visavergabe zu beschleunigen und auch den Einsatz von ausländischen Fachkräften in der Praxis für die Unternehmen planbarer zu machen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Cronenberg, der Begriff „Fachkräfte“ ist weit gefasst. In diesem Bereich sind wir im Grenzbereich von „Arbeitskräften“ und „Fachkräften“, um das einmal ganz offen zu sagen. Es ist trotzdem eine richtige Regelung, die wir verlängern werden; das haben wir in der Koalition vereinbart. Übrigens: Für richtige Fachkräfte brauchen wir drei Ts – das habe ich vorhin vergessen –: Toleranz, Technologie und Talente. An dieser Stelle: Toleranz, Herr Kleinwächter, gehört auch dazu. Ich wollte das nur nachtragen. Wir müssen ein Land sein, das Menschen, die zu uns kommen, dann auch eine Chance gibt. Zu Ihrer Frage. Wir sind im Gespräch mit dem Auswärtigen Amt, nicht nur, was die Westbalkanregelung betrifft; denn wir müssen feststellen, dass viele konsularische Abteilungen des Auswärtigen Amts in den Botschaften überlaufen sind. Deshalb kann nur eines helfen: die Einführung des Bundesamts für Auswärtige Angelegenheiten in Brandenburg an der Havel als Backoffice, um das zu beschleunigen. Das hat mir die Außenministerin auch so gesagt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es gibt keine Nachfrage. – Sie sehen: Das Präsidium hat gewechselt. Ich werde aber die Praxis der Präsidentin fortsetzen. Das heißt: Ich werde beide Fraktionen, die noch nicht zum Zuge gekommen sind, mit ihrer Frage aufrufen. Der Fragesteller oder die Fragestellerin hat die Möglichkeit zu einer Nachfrage, und ich lasse maximal zwei weitere Nachfragen hier aus dem Rund zu. Wenn wir das geschafft haben, endet dann auch die Regierungsbefragung, und wir gehen in die entsprechend verkürzte Fragestunde über. Die nächste Frage stellt der Kollege Jens Teutrine für die FDP.

Jens Teutrine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005238, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Minister, in der Coronapandemie gab es einen deutlichen Rückgang an neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen. Wenn wir die Jahre 2020 und 2021 zusammennehmen, dann sind die Ausbildungsverträge um fast 100 000 zurückgegangen. Gleichzeitig konnten Schülerinnen und Schüler schwerer ein Praktikum machen. Die berufliche Orientierung hat ebenfalls in der Pandemie gelitten. Und wir haben ein Phänomen, das wir jedes Jahr beobachten können, auch im letzten Jahr: 63 000 Unternehmen sind am Ende übrig geblieben, die noch einen Auszubildenden suchen, und 25 000 junge Menschen, die noch einen Ausbildungsplatz gesucht haben, also ein Mismatching. Ich würde Sie fragen: Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, um diesem Mismatching entgegenzuwirken und die berufliche Ausbildung weiter zu stärken?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Teutrine, ganz herzlichen Dank für die Frage. – Es geht um kurzfristige Dinge, die wir nachholen müssen, weil Corona da war und zum Beispiel Berufsorientierung in der Form, die es sonst gegeben hat, nicht stattgefunden hat aufgrund der Tatsache, dass es kaum Betriebspraktika gegeben hat und auch viele Instrumente der Bundesagentur für Arbeit, die sonst physisch stattgefunden hätten, digital gemacht werden mussten. Damit kann man viele erreichen, aber eben nicht alle. Deshalb haben wir uns mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft, der Bundesagentur und auch mit den Gewerkschaften in der Allianz für Aus- und Weiterbildung vorgenommen, in diesem Sommer als Sommer der Ausbildung noch mal kräftig nachzulegen und, wo immer es geht, dieses Mismatch zu überwinden. Aber es geht auch um strukturelle Maßnahmen, und das geht über diesen Sommer hinaus. Es geht darum, dass genug betriebliche Ausbildungsplätze auch angeboten werden – das ist regional unterschiedlich in Deutschland, je nach wirtschaftlicher Lage –; denn wir müssen feststellen, dass viele Unternehmen betriebliche Ausbildungsplätze abgebaut haben. Andere finden händeringend keine. Das müssen wir besser hinkriegen. Ich glaube, ein Schlüssel von vielen dazu ist bessere Berufsorientierung möglichst an allen Schulen, übrigens auch an Gymnasien, und, wenn es nach mir geht, ab der siebten Klasse. Das kann ich nicht allein verfügen. Wir werden das mit der Bundesagentur unterstützen; aber ich würde mir das von allen Bundesländern wünschen: ab der siebten Klasse Arbeit, Technik, Wirtschaft an jeder Schule. Das hilft, mehr Berufsbilder kennenzulernen und junge Menschen frühzeitiger aufs Leben vorzubereiten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Jens Teutrine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005238, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine Nachfrage. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass wir auch die Jugendberufsagenturen weiter ausbauen wollen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ja.

Jens Teutrine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005238, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Welchen Mehrwert sehen Sie in den Jugendberufsagenturen, um das Thema Ausbildung zu stärken?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Das ist ein hervorragendes Beispiel; das ist in Hamburg entstanden, als der Arbeitssenator Detlef Scheele hieß, der jetzt noch Chef der Bundesagentur für Arbeit ist, und der Bürgermeister hieß, glaube ich, Olaf Scholz. Die Idee war, dass in Hamburg – und die Idee versuchen wir in ganz Deutschland umzusetzen – junge Menschen im Übergang von Schule und Beruf nicht in irgendwelche behördlichen Lücken fallen, sondern dass Behörden so zusammenarbeiten, dass junge Menschen eine Chance auf Ausbildung bekommen, wo immer es geht, und, wo das nicht gelingt, auf Qualifizierung und späte Ausbildung, um Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Das ist regional unterschiedlich. Hamburg hat den Vorteil, dass sie Kommune und Land sind, dass das gut zusammengeht, dass es ein Stadtstaat ist. Es gibt andere Modelle von Jugend- und Berufsagenturen; aber wir werden unterstützen, dass das flächendeckend – es gibt inzwischen sehr viele – in Deutschland ausgerollt wird. Es ist vernünftig, Hilfe aus einer Hand mit den verschiedenen Systemen über die Jugendberufsagenturen zu organisieren, damit junge Menschen nicht in irgendwelche behördlichen Lücken fallen, sondern möglichst jeder und jede eine Chance auf eine Ausbildung und ein selbstbestimmtes Leben bekommt. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Nachfrage hat der Herr Kollege Jens Peick das Wort.

Jens Peick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005178, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, der Kollege Teutrine hat ja die Coronakrise angesprochen, und Sie haben in Ihrem Eingangsstatement auch noch einmal erwähnt, dass wir mit einem starken und verlässlichen Sozialstaat, unter anderem mit dem Kurzarbeitergeld, da durchgekommen sind. Mich würde Ihre vertiefte Einschätzung interessieren, wie wichtig das Kurzarbeitergeld war, auch um Ausbildungsplätze zu sichern, weil wir Liquidität von Betrieben sichergestellt haben. Und gab es eigentlich aus dem Ausland Rückmeldungen zu diesem Modell?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, das kann ich bestätigen. Ich glaube, das ist eine grundlegende Lektion, die man über die Coronakrise und Wirtschaftskrisen, die kommen und gehen, hinaus lernen sollte. Es gab einmal eine politische Debatte: Wie viel Sozialstaat kann sich eine erfolgreiche Marktwirtschaft leisten? Wir haben jetzt erlebt, dass es ausgerechnet der Sozialstaat war, der in Krisenzeiten nicht nur den Beschäftigten sozial geholfen hat, sondern den Unternehmen geholfen hat. Nach allen internationalen Studien oder Kommentaren, die ich von Arbeitsministern aus anderen Ländern bekomme, kann ich sagen: Die haben versucht, in Europa unser Instrument zu kopieren – das Instrument der Kurzarbeit! Das hat auch eine ökonomische Funktion. Ökonomen sprechen von automatischen Stabilisatoren, die ein Sozialstaat in schlechten Zeiten parat hat, auch um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage abzufedern. Das hat Unternehmen geholfen, Fachkräfte an Bord zu behalten und nach der Krise mit denen wieder durchstarten zu können. Sie haben recht – ich habe das hier in diesem Hause auch schon einmal gesagt –: Ich habe vor Kurzem in einer Schalte mit Amerika – ich war in Harvard; aber nicht wie Karl Lauterbach, ich habe dort nicht studiert, sondern es war nur eine digitale Schalte mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – gelernt, dass der Begriff „the kurzarbeit“ in Amerika mittlerweile ein Lehnwort geworden ist wie das gute deutsche Wort „the kindergarten“. Er ist eine Chiffre für gutes Krisenmanagement. Die Lektion dürfen wir nicht vergessen: Es geht nicht um „Sozialstaat gegen erfolgreiche Wirtschaft“, sondern beides muss gut miteinander funktionieren. Es ist eine Lektion aus der Coronapandemie für mich als Bundesarbeitsminister, dass es durchaus nicht nur eine soziale, sondern eine ökonomisch stabilisierende Wirkung hatte, dass wir einen starken Sozialstaat haben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Mareike Wulf hat das Wort zu einer Nachfrage.

Mareike Lotte Wulf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben jetzt sehr lange über Berufsausbildung geredet. Sie haben eine Maßnahme genannt, die im Koalitionsvertrag verankert ist; das sind die Jugendberufsagenturen. Die Berufsorientierung ab Klasse 7 findet man nicht im Koalitionsvertrag; das scheint mir eher ihr persönlicher Wunsch zu sein.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Stimmt.

Mareike Lotte Wulf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine andere Maßnahme steht aber im Koalitionsvertrag – die haben Sie jetzt gar nicht genannt –, und zwar die so genannte Ausbildungsgarantie. Ich habe mich schon häufig gefragt – angesichts der Tatsache, dass wir nunmehr seit über zehn Jahren mehr Ausbildungsplätze als Nachfrage nach Ausbildungsplätzen haben –: Ist das die richtige Maßnahme? Wie konkret ist der Planungsstand? Wann werden Sie die Ausbildungsgarantie umsetzen, oder ist das Thema – weil Sie es gerade gar nicht genannt haben – vom Tisch?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Kollegin, ich habe vorhin – Frau Klose ist meine Zeugin, weil sie sich sehr für das Thema interessiert – die Ausbildungsgarantie einmal erwähnt. Sie haben aber recht: Die Berufsorientierung, die ich angesprochen habe, ist deshalb nicht im Koalitionsvertrag, weil es nur meine Meinung ist, sondern weil es in der Kompetenz der Bundesländer liegt, an ihren Schulen ab der 7. Klasse ein entsprechendes Angebot zu machen. Ich finde es als Arbeitsminister total richtig, das zu machen. Vielleicht können wir gemeinsam in diese Richtung wirken. Die Ausbildungsgarantie wird kommen. Aber Sie können sich das nicht als eine Maßnahme, als einen Hebel vorstellen, sondern das ist ein Setting von Maßnahmen, das wir mit dem Ziel einsetzen wollen, dass wir möglichst jedem jungen Menschen die Chance auf Ausbildung geben, und, wo das nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass sie erst einmal nicht ins Bergfreie fallen und dann auch in Ausbildung kommen können. Dazu werden ich in diesem Jahr Vorschläge machen. Die werden wir dann Stück für Stück umsetzen. Ich wollte nur aufklärend sagen, dass es nicht der eine Hebel ist, weil wir auf dem Ausbildungsmarkt zum Beispiel regional sehr unterschiedliche Situationen haben. In einigen Bereichen in Deutschland finden sie als mittelständisches Unternehmen keinen Auszubildenden mehr. Es gibt Bereiche, in denen sich junge Leute händeringend einen Ausbildungsplatz suchen und sich die Finger wundschreiben, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Deshalb gilt es, für diese Ausbildungsgarantie nicht nur einen Schalter zu haben, sondern ein Setting von Instrumenten und dafür zu sorgen, dass das auch umgesetzt werden kann. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste und auch letzte Frage in der Regierungsbefragung stellt der Kollege Matthias W. Birkwald.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr verehrter Herr Bundesminister Heil, lieber Hubertus, Sie haben eben gesagt, dass Sie bereit sind, bei den Verbesserungen darüber zu diskutieren, ob sie reichen oder ob sie nicht reichen. In Ihrem Rentenpaket I haben Sie nunmehr vor, Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentnern, also Menschen, die wegen chronischer Krankheiten nicht arbeiten können, höhere Erwerbsminderungsrenten in Form eines Zuschlages zu gewähren. Das ist notwendig, weil SPD und Grüne im Jahr 2001 eine Rentenreform gemacht haben, die dafür gesorgt hat, dass chronisch kranke Menschen deutlich niedrigere Ansprüche haben. Nun haben Sie einen Zuschlag von 7,5 Prozent bzw. 4,5 Prozent vorgeschlagen für alle, die zwischen 2001 und 2018 in Rente gehen mussten. Ich frage Sie: Wie begründet bzw. wie berechnet sich der Ausgabendeckel von 2,6 Milliarden Euro für diese viel zu niedrigen Zuschläge? Zudem erwecken Sie den Eindruck, dass diese jahrelang vergessene Gruppe mit einer sehr hohen Armutsgefährdung und – so traurig das ist – einer sehr kurzen Lebenserwartung hinsichtlich der Leistungsverbesserung gleichgestellt würde. Sie wollen sie aber bis 2024 im Regen stehen lassen. Warum 2024? Und vor allen Dingen: Wie berechnet sich der Zuschlag?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Abgeordneter Birkwald, ich habe Ihrer Rede zur ersten Lesung sehr aufmerksam gelauscht. Ich finde es schade, dass Sie den positiven Teil aufgrund der Kürze der Zeit heute weglassen mussten; denn wir sind uns im Kern einig, dass diese längst überfällige Verbesserung der Leistungen für Erwerbsgeminderte im Bestand etwas ist, das Fortschritt im Lebensalter von Menschen bedeuten wird. Sie haben die Punkte angesprochen, die im parlamentarischen Verfahren diskutiert werden. Da geht es um die Frage: Wann kann das technisch umgesetzt werden, zu welchem Zeitpunkt? Die zweite ist: Wie ist die Höhe? Da kann ich dem Bundestag nicht vorgreifen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Begründung der Bundesregierung können Sie der Begründung des Gesetzestextes sehr wohl entnehmen. Das parlamentarische Verfahren läuft; ich hoffe, es wird bald abgeschlossen. Wie immer das ausgeht: Das wird der Bundestag entscheiden. Ich glaube, es gibt am Montag der nächsten Sitzungswoche, der Haushaltswoche, dazu eine Anhörung Ihres Ausschusses. Ich gehe davon aus, dass wir dann schnell eine Einigung herbeiführen werden. Ich will an dieser Stelle sagen: Im Grundsatz, Herr Birkwald – über die Höhe kann man immer streiten; dass Sie immer mehr wollen als andere Parteien, ist hinlänglich bekannt, das ist klar: noch einen druff –, ist das ein Riesenfortschritt für 3 Millionen Menschen in Deutschland, die endlich, nach einem Leben von Arbeit, das unterbrochen wurde durch Krankheit, durch Unfälle oder weil man eine Behinderung bekommen hat, tatsächlich bessergestellt werden. Das ist, glaube ich, ein großer sozialer Fortschritt – das hatten Sie ja auch in der letzten Rede gesagt –, bei allen Wünschen, die Sie eben noch einmal unterstrichen haben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zu einer Nachfrage, die dann aber so kurz ist, wie wir uns das vorgenommen haben. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Dann kommt wieder nur der negative Teil; schade eigentlich.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, bei 886 Euro Durchschnittserwerbsminderungsrente sind die Zuschläge von 66 oder 40 Euro wirklich zu wenig. Deswegen frage ich Sie noch einmal: Werden Sie dem Hohen Hause eine transparente und fachlich nachvollziehbare Vergleichsberechnung für die Zuschläge, die auf 2,6 Milliarden Euro Finanzvolumen begrenzt sind, vorlegen? Falls ja, wann wird das der Fall sein, und, falls nein, warum nicht?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Birkwald, da muss ich das Prinzip deutlich machen, für das ich kämpfe. Ich kämpfe für jeden sozialen Fortschritt. Aber bevor ich keinen bekomme, hole ich raus, was ich rausholen kann. Deshalb: Es gibt ein laufendes Verfahren. Wir haben unseren Gesetzentwurf, glaube ich, gut begründet. Es liegt jetzt in der Hand des Deutschen Bundestages, und ich hoffe, dass zeitnah entschieden wird. Das ist auch notwendig, weil in dem Rentenpaket die Rentenerhöhung von 5,3 Prozent im Westen und 6,1 Prozent im Osten, die zum 1. Juli kommen soll, enthalten ist, weil systemische Fragen und die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente enthalten sind. Das ist meine Antwort. Wenn Sie es ehrlich betrachten: Wir haben jahrelang in diesem Parlament die Debatte über dieses Thema gemeinsam gefordert. Auch Sie sind überrascht, dass diese Koalition es als eines der ersten Pakete angeht. Das ist auch gut so. Der Bundestag wird darüber entscheiden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Kai Whittaker.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundesminister, ich möchte anknüpfen an das, was der Kollege Birkwald gesagt hat. Sie schlagen jetzt einen Zuschlag von 4,5 Prozent bzw. von 7, 5 Prozent vor. Das entspricht ungefähr der Hälfte dessen, was eigentlich gemacht werden müsste, um den vollen Ausgleich zu erreichen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie nur die Hälfte ausgleichen wollen und warum Sie nicht wenigstens dazu bereit sind, beim Übergang in die reguläre Altersrente jeden Rentenbescheid noch einmal anzufassen, um die Differenz voll auszugleichen. Zudem stelle ich die Frage, warum Sie nicht auch die Erwerbsminderungsrentner, die vor 2001 in die Erwerbsminderungsrente gegangen sind, berücksichtigen. Sie haben zwar keine Abschläge hinnehmen müssen, aber Sie haben ein geringeres Bezugsalter gehabt, nämlich 55 Jahre statt des aktuellen regulären Renteneintrittsalters. In Summe frage ich mich, warum Sie für die Schwächsten unserer Gesellschaft keinen Extrasteuerzuschuss machen, sondern das auf dem Rücken der Beitragszahler finanzieren. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Whittaker, Ihr Engagement für Steuerzuschläge hätte ich mir bei der Verbesserung der Mütterrente das letzte Mal sehr gewünscht; das will ich sagen. ({0}) Aber es ist ein Fortschritt, dass wir endlich etwas hinbekommen, was mit Ihrer Partei in der letzten Legislaturperiode längst noch nicht möglich war. Wir haben damals – ich kann mich an die Koalitionsverhandlungen erinnern – gesagt: Wir müssen im Bestand der Erwerbsgeminderten etwas tun. – Das hat Ihre Partei abgelehnt. Jetzt haben Sie dazugelernt. Wir machen das jetzt, und jetzt wollen Sie mehr machen. Mehr geht immer. Aber ich bin der festen Überzeugung: Man muss immer für viel kämpfen, man muss den Menschen aber auch sagen, was man an dieser Stelle erreichen kann. Was an dieser Stelle nicht geht, ist, dass Sie sagen: Das darf nicht aus Beiträgen sein, das darf aber auch nicht aus Steuern sein. Dann wollen Sie Steuern senken, dann sollen keine Schulden gemacht werden. – Ich sage noch einmal: Das, was wir machen – und das sollten Sie nicht kleinreden –, hilft Menschen, die es schwer haben im Bestand. Die Frage zu den Erwerbsminderungsrenten bei einem Eintritt vor 2001 haben Sie selbst beantwortet: Das ist eine andere Systematik gewesen. Aber Sie können nicht verkennen, dass das ein großer sozialer Fortschritt für 3 Millionen Menschen ist. Der ist überfällig. Meine Bitte ist – Sie können immer mehr fordern; das darf eine Opposition –: Wenn Sie jemals wieder regieren sollten, dann machen Sie es bitte nicht wieder andersrum; das habe ich letztes Mal erlebt. Ich bin froh, dass hier mehr Fortschritt möglich ist, als das mit Ihnen möglich war. ({1}) Ich kann mich noch an die Nachtsitzung zur Grundrente erinnern. Da haben Sie alles versucht kleinzuhäckseln.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Bundesminister, das müssen Sie jetzt verschieben. Wir sind in der Regierungsbefragung.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich schaue auch nach vorne, versprochen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die letzte Nachfrage stellt der Kollege Pascal Meiser.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Heil, wir wissen es sehr wohl zu würdigen, wenn Sie unsere langjährigen Forderungen umsetzen, vor allem, wenn Sie sie komplett und konsequent umsetzen. Aber dann müssen Sie uns natürlich auch zubilligen, dass wir dort, wo noch Leerstellen sind, auch weiterhin darauf hinweisen, –

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Absolut.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– damit Sie auch dort unseren Vorschlägen folgen können und das dann auch korrekt umsetzen können. Deswegen möchte ich auf das eingehen, was Sie in Ihrer Antwort auf Herrn Birkwald schon gesagt haben. Sie haben gesagt, dass nach Ihrer Einschätzung diese Zuschläge, die für diese spezielle Gruppe der Erwerbsminderungsrentner jetzt kommen sollen, was wir im Grunde begrüßen, auch wenn wir sie für zu niedrig halten, wohl erst 2024 kommen können, weil es technisch nicht anders möglich ist. Das mag so sein. Aber wenn im Gesetzgebungsverfahren, auf das Sie verwiesen haben, daran nichts mehr geändert wird, ist es aus Ihrer Sicht dann nicht notwendig, dass für die Jahre 2022 und 2023, so wie DGB, Sozialverbände und wir Linke das fordern, eine Einmalzahlung erfolgt? Denn für die Probleme bei der organisatorischen Umsetzung können die Betroffenen nichts. Wäre es nicht gut, wenn da mit einer Einmalzahlung für einen Ausgleich gesorgt würde?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Meiser, so sympathisch ich Ihre Forderung finde und so gut ich es finde, dass jetzt auch der Kollege Whittaker der Meinung ist, dass wir das längst hätten machen sollen, ich sage Ihnen trotzdem: Ich will keinem Menschen etwas versprechen, was man nicht halten kann; das führt nur zu bitteren Enttäuschungen. Ja, ich hätte mir gewünscht, dass wir das schon vor vielen Jahren gemacht hätten. Ja, ich wünschte, wir könnten jetzt sagen: Das kommt im nächsten Monat. – Ich kann es nur nicht versprechen, weil ich es persönlich nicht für realistisch halte. Was im parlamentarischen Verfahren diskutiert wird, ist möglicherweise die Frage des Inkrafttretens. Das überlasse ich diesem Bundestag, weil ich es ihm überlassen muss. Ich habe dazu eine Meinung. Natürlich wünsche auch ich mir immer mehr und schneller; aber wichtig ist, was ich vorhin gesagt habe, dass es kommt. Deshalb werbe ich dafür, dass dieser Bundestag das zügig beschließt. Noch einmal: Wir kämpfen an dieser Stelle für sozialen Fortschritt, für Verbesserungen, die den Menschen helfen. Mehr ist immer wünschenswert; aber man sollte nie Dinge versprechen, die man nicht halten kann. Deshalb bitte ich, meine Zurückhaltung zu verstehen. Ich vertrete hier den Kabinettsbeschluss. Der ist natürlich das Ergebnis von Ressortabstimmungen. Ich habe eine persönliche Meinung; aber als Mitglied der Bundesregierung werde ich versuchen, in meinem Bereich, wo immer es geht, nicht Dinge zu versprechen, von denen ich jetzt schon weiß: Die gehen nicht. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es nächsten Monat etwas gibt, dass es zwischendurch etwas gibt. Je früher, desto besser, gar keine Frage. Aber der Gesetzentwurf ist, glaube ich, so vorbereitet, dass es eine realistische Erwartung gibt, wann Menschen wirklich damit zu rechnen haben. Er ist sowohl in finanzieller Hinsicht realistisch, weil es für die Rentenversicherung finanziell darstellbar ist, als auch in organisatorischer Hinsicht. Das wird, glaube ich, oft unterschätzt: Gut gemeint ist nicht schnell umgesetzt. – Wir müssen bei der Gesetzgebung, glaube ich, in Zukunft viel stärker auch an die administrative Umsetzung denken. In der Krise haben wir ja erlebt, wo das funktioniert hat und wo nicht. Das ist meine Amtsverantwortung. Deshalb werde ich nicht immer allen alles versprechen, nur weil sich das gut anhört. Das ist vielleicht eine Nuance, aber deshalb ist man in der Regierung: Damit man das macht, was man kann. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich beende die Befragung. Ich danke allen Fragenden und natürlich dem Bundesminister, der die Fragen beantwortet hat.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die autonom gebildete Entscheidung eines Menschen, sich das Leben zu nehmen, dafür vielleicht auch Hilfe zu beanspruchen, ist eine Zumutung für uns alle und eine Zumutung für die Gesellschaft. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts, diesem autonom gebildeten Willen in ganz besonderer Weise gerecht zu werden und auch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung als verfassungswidrig zu erklären, ist auch eine solche Zumutung für die Gesellschaft und für uns alle. Das kann man nicht kleinreden. Gerade weil das aber so ist, sind wir, die wir für den Antrag „Helling-Plahr, Lindh, Steffen, Sitte, Fricke“ stehen, der Überzeugung, dass wir aus dieser Zumutung keine Zumutung für den Betroffenen und potenzielle Helferinnen und Helfer werden lassen dürfen, sondern dass wir diese Zumutung ertragen müssen. Daher ist auch das Strafrecht nach unserer tiefsten Überzeugung der falsche Weg, um Suizide zu verhindern, und wir sollten nicht wieder den Weg des Strafrechts und der Strafbarkeit beschreiten. ({0}) Wir sehen an dieser Situation zugleich, dass wir uns in einem Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft befinden. Die Gesellschaft muss in so einer Ausnahmesituation, in der oft auch nicht klar ist, wie die Person sich entscheidet, aber dem Individuum dienend sein. Wenn diese Entscheidung letztlich fällt, und zwar frei – nicht unter Druck, nicht unter Zwang, nicht in der Situation einer akuten psychischen Störung –, dann müssen wir auch die Bedingungen dafür schaffen, sie zu ermöglichen, auch wenn wir sie rational für falsch halten und religiös, ethisch und moralisch nicht richtig finden. Das müssen wir uns zumuten. Deshalb halte ich es für wichtig, zu sehen, von welcher Perspektive aus wir die Frage Suizidhilfe denken. Wir versuchen, sie aus der Situation des Betroffenen heraus und aus der Perspektive desjenigen, der helfen will, zu denken. Deshalb brauchen wir auch eine Assistenz beim assistierten Suizid, also eine Unterstützung für denjenigen, der sterbenswillig ist oder noch ringt, aber auch für diejenigen, die helfen wollen und denen das nicht verunmöglicht werden darf, ohne sie dazu zu zwingen. Von dieser Perspektive aus wollen wir denken und nicht von der Perspektive fragwürdiger Sterbehilfevereine und einer Sterbehilfeinfrastruktur aus. Denn machen wir uns klar: Wenn wir von dieser Perspektive aus denken, vergessen wir, dass diese Vereine und diese Situation letztlich nur entstanden sind, weil es gegenwärtig keine andere Möglichkeit gibt, rechtssicher und tatsächlich zu helfen. Und der einzig richtige Weg ist derjenige über das Vertrauensverhältnis zwischen dem betroffenen Sterbewilligen und dem Arzt bzw. der Ärztin – kein anderer. ({1}) Dabei ist immer zu beachten, dass der Arzt bzw. die Ärztin die Möglichkeit, das Recht, die Freiheit hat, zu helfen; es ist kein Zwang. Daher legen wir auch entschieden Wert darauf, dass der Einzelne oder die Einzelne nach einer umfassenden Beratung entscheiden kann und auch über die Konsequenzen eines möglicherweise fehlschlagenden, nicht funktionierenden Suizids sowie über die Auswirkungen auf die Angehörigen wirklich vollumfänglich informiert wird – nicht in Richtung Suizid, sondern ergebnisoffen. Denn nur informierte, gut aufgeklärte, beratene Individuen und Personen können wirklich autonom und frei entscheiden, und das ist das, was wir wollen und was wir unterstützen wollen, ja müssen. Es ist sogar ethisch geboten, dies zu tun. In diesem Sinne kann eine solche Form der Assistenz sogar suizidpräventiv sein; denn viele befreit das Wissen, dass sie irgendwann die Möglichkeit haben, unterstützt aus dem Leben zu scheiden, wenn sie dieses Leben nicht mehr als erträglich erachten. Es nimmt ihnen auch manchmal – nicht selten, wie Ärztinnen und Ärzte berichten – einen aktiven Sterbewunsch, entlastet sie und bringt sie dazu, gegenwärtig noch aktiver um das Leben kämpfen zu wollen und zu kämpfen. Insofern ist auch diese Möglichkeit präventiv. Daher bitten wir Sie: Unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wollen Anwälte der betroffenen Sterbewilligen wie auch der Helfenden und auch des Lebens sein – nicht des abstrakten, sondern ihres konkreten –, aber wir wollen nicht Richter über den Einzelnen und seine autonom getroffene Entscheidung sein. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor etwas über siebeneinhalb Jahren, im November 2014, haben wir hier im Plenum schon einmal über Suizidassistenz und Sterbebegleitung debattiert. Der seinerzeitige Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach von dem „vielleicht anspruchsvollsten Gesetzgebungsprojekt“ der damaligen Wahlperiode. Argumente und Emotionen prallten aufeinander, die wie nur wenige andere als existenziell bezeichnet werden können. Die intensive Diskussion und der anschließend gefundene Kompromiss führten zu einer der vielgerühmten Sternstunden des Parlaments. Nun befinden wir uns nach siebeneinhalb Jahren wieder hier im Plenarsaal des Bundestages, um über Suizidassistenz zu debattieren. Aber wie heißt es bereits bei Heraklit: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Auch wenn wir heute wieder über die Suizidassistenz sprechen, führen wir nicht die Diskussion des Jahres 2014 fort, sondern wir sind mit der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus 2020 in einer neuen Situation. Dort hat das Gericht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck persönlicher Autonomie anerkannt, und dieses Recht, so das Bundesverfassungsgericht, „umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“. Aber schon dieser verfassungsrechtlich eindeutige Ausgangspunkt wirft in der Praxis komplexe Fragen auf: Wann ist der Wunsch, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, Ausdruck persönlicher Autonomie? Wie soll man herausfinden, ob die Entscheidung eines Sterbewilligen vielleicht gar nicht selbstgesetzten Gründen entspringt, sondern er sich sozialem Druck ausgesetzt sieht oder an einer Krankheit leidet, die es ihm unmöglich macht, seinen Wunsch, zu sterben, selbstbestimmt zu reflektieren? Diese Situationen voneinander abzugrenzen, ist keineswegs trivial. Denn das Bundesverfassungsgericht hat auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Staat dafür Sorge zu tragen hat, dass der Entschluss, bergleiteten Suizid zu begehen, tatsächlich auf freiem Willen beruht: Angesichts der Unumkehrbarkeit des Vollzugs einer Suizidentscheidung … – so das Bundesverfassungsgericht – gebietet die Bedeutung des Lebens als ein Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung …, Selbsttötungen entgegenzuwirken, die nicht von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier liegt die zentrale Aufgabe jeder zukünftigen Regelung, die den verfassungsgerichtlichen Vorgaben gerecht werden will. ({0}) Die Autonomie des Einzelnen und sein daraus resultierendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben müssen ebenso geschützt werden wie das Leben. Das ist kein Paradox, sondern zeigt, dass Leben und Sterben nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. Über seinen Tod frei entscheiden kann nur, wer lebt. Wer einmal die Grenze zum Tod überschritten hat, kann seine Entscheidung nicht revidieren. Deshalb ist es so wichtig, dass sich der Staat schützend vor das Leben des Einzelnen stellt, weil nur so auch die Autonomie des Einzelnen geschützt werden kann. ({1}) Ein effektiver Schutz der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung verlangt, die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung grundsätzlich unter Strafe zu stellen. Dabei geht es nicht um die Suizidassistenz als solche, sondern es richtet sich gegen die Förderung von Geschäftsmodellen, die dazu führen, dass die Selbsttötung als Normalfall der Lebensbeendigung gehandelt wird. Es ist bekannt, dass in Ländern, in denen die geschäftsmäßige Suizidassistenz weitgehend schrankenlos angeboten wird, die Selbsttötungsraten ausgesprochen hoch sind. Wichtig ist es vielmehr, im Rahmen eines klaren Schutzkonzeptes Ausnahmen für Menschen zu schaffen, die frei und ernsthaft den Entschluss gefasst haben, aus dem Leben scheiden zu wollen. Dazu bedarf es erstens der Feststellung der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung durch Fachärzte für Psychiatrie und zweitens einer umfassenden, ergebnisoffenen Beratung. In Sondersituationen, etwa bei einer fortgeschrittenen unheilbaren Erkrankung und einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, kann die Feststellung schneller getroffen werden. Nur so, durch eine strafrechtliche Regelung und ein Schutzkonzept als Ausnahme, schützen wir wirksam die Selbstbestimmung und das Leben. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir über assistierten Suizid reden, geht es im wahrsten Sinne um Leben und Tod. Diese Orientierungsdebatte gibt uns die Gelegenheit, Argumente noch einmal abzuwägen und eigene Gewissheiten zu überprüfen. Suizidalität ist häufig. In der Regel haben Menschen im Laufe ihres Lebens auch mal suizidale Gedanken. Darum ist es so wichtig, dass wir das Tabu brechen und Suizidalität entstigmatisieren. Es fördert nämlich nicht etwa Suizidalität, darüber zu reden, sondern es hilft dabei, andere Wege zu finden. ({0}) Die Vorstellung, die häufig auch als Argument angeführt wird, dass mit der Förderung des assistierten Suizids die Zahl der sogenannten harten Suizide reduziert würde, ist leider ein Trugschluss. Suizidalität entsteht immer im Kontext der Lebenssituation. Suizidwünsche sind in der Regel nicht der Wunsch nach dem Tod, sondern der Wunsch nach einer Pause von einer als unerträglich empfundenen Lebenssituation. Über mehr als zwei Jahrzehnte habe ich als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie viele Menschen in suizidalen Krisen begleitet, und ich finde, es ist entscheidend, dass wir hier die Prävention an erste Stelle setzen. Dafür hat die Gruppe, der ich angehöre, bereits einen Vorschlag erarbeitet: einen Antrag zur Stärkung der Suizidprävention. Wir legen zudem mit dieser interfraktionellen Gruppe von Abgeordneten aller demokratischen Fraktionen einen Gesetzentwurf zur Regulierung der Suizidbeihilfe vor, der das Angebot von assistiertem Suizid, also den Zugang, unter klare Regeln stellt. Eine Gesellschaft, in der es schwierig ist, an gute Pflege, an Krisenhilfe, an einen Psychotherapieplatz zu kommen, in der es aber womöglich an jeder Ecke oder auch in jedem Pflegeheim eine Infrastruktur für den assistierten Suizid gibt – das wäre für mich ein Horrorszenario. ({1}) Wir dürfen doch Menschen in Not mit ihren Problemen nicht alleine lassen! Stattdessen muss es buchstäblich an jeder Brücke Hinweise für eine jederzeit erreichbare Suizidhotline geben, auch online, auch anonym. Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun aufgetragen, die Suizidassistenz zu regeln; mein Kollege Heveling ist schon darauf eingegangen. Der Regelungsbedarf ist virulent; denn zurzeit findet Suizidassistenz statt, aber ohne eine gesetzliche Rahmung. Das Gericht hat auch klargestellt, dass besonders gefahrenträchtige Angebote der Suizidbeihilfe verboten werden können und dass ein Schutzkonzept sinnvoll ist, gerade um die Autonomie abzusichern. ({2}) Meine Gruppe setzt sich für eine Verankerung im Strafrecht ein, um eine möglichst widerspruchsfreie Gesetzgebung umzusetzen. Wer Suizidassistenz anbietet, zum Beispiel Sterbehilfevereine, muss sich an ein Mehraugenprinzip und an Wartefristen halten, andernfalls macht er sich strafbar. Es wäre der Tragweite der Entscheidung keinesfalls angemessen, wenn ein Beamter am Schreibtisch in der Arzneimittelbehörde mit einem Stempel einen Suizid quasi staatlich absegnete. Im Gegenteil: Wer Suizidassistenz anbietet, muss sicherstellen, dass der Suizidwunsch freiverantwortlich entstanden ist. ({3}) Denn darum geht es, liebe Kolleginnen und Kollegen: um Selbstbestimmung. Warum nun setzen Autonomie und Selbstbestimmung ein gutes Schutzkonzept voraus? Das klingt für einige vielleicht erst mal kontraintuitiv. Eine selbstbestimmte Entscheidung setzt voraus, dass diese frei von inneren und äußeren Drucksituationen getroffen wurde. Selbstbestimmung bedeutet eben, die Wahl zu haben. Die Selbstbestimmung aber ist gefährdet, wo der Suizidwunsch durch Drucksituationen wie seelische Krisen, Armut, aber auch das Gefühl, anderen zur Last zu fallen oder sich überflüssig zu fühlen, entsteht. Es braucht also sinnvolle prozedurale Regelungen, gerade um die Autonomie sicherzustellen. Für Kinder – davon bin ich fest überzeugt – sollte der assistierte Suizid klipp und klar ausgeschlossen werden. ({4}) Denn Sterbewünsche sind eben volatil, und das gilt ganz besonders für Kinder und Jugendliche. Wir in unserer Gruppe sagen: Regeln wir den assistierten Suizid, aber fördern ihn nicht! Stellen wir sicher, dass die Autonomie gewahrt wird, und flankieren wir eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid mit einer guten Suizidprävention! Danke sehr. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Katrin Helling-Plahr aus der FDP-Fraktion. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahren streite ich gemeinsam mit Dr. Petra Sitte, Helge Lindh, Dr. Till Steffen, Otto Fricke und vielen anderen für eine liberale Sterbehilferegelung für die Menschen in unserem Land. Seit Jahren erreichen mich tagtäglich Nachrichten von Menschen, die mir ihre Lebensumstände, ihre Schicksale schildern, die Schmerzen haben, die Angst haben. Ich kann es gut verstehen, wenn man selbst bestimmen möchte, wann und wie das eigene Leben endet. Und ich kann gut verstehen, dass man emotional die Sicherheit haben möchte, gehen zu dürfen, wenn es für einen selbst so weit ist. ({0}) Den Menschen in ihren Bedürfnissen zur Seite zu stehen, ist meine Motivation. Ich streite für eine liberale Sterbehilferegelung, weil ich den Menschen die Sicherheit geben möchte, dass sie ihr im Grundgesetz verankertes Recht auf selbstbestimmtes Sterben ausüben können, wenn sie es für geboten halten. Deshalb ist es für mich indiskutabel, eine neue Regelung der Sterbehilfe im Strafrecht überhaupt nur anzudenken. Ich finde, wir sollten denjenigen, die bereit sind, Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten und ihnen zu helfen, mit Respekt begegnen, statt ihnen mit Strafen zu drohen. ({1}) Schaffen wir für die Menschen stattdessen mit einem liberalen Sterbehilfegesetz Rechtsklarheit, ohne uns noch einmal moralisch über sie zu erheben! Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar gesagt: Einen gegen die Autonomie gerichteten Lebensschutz kann und darf es nicht geben. – Stehen wir Menschen, die über einen Suizid nachdenken, zur Seite, indem wir flächendeckend und bundesweit niederschwellige Beratungsmöglichkeiten schaffen! Etablieren wir echte Anlaufstellen, und bieten wir dort auch konkrete Hilfe, zum Beispiel auf dem Weg ins Pflegeheim, an! ({2}) Seien wir schließlich aber auch so ehrlich und eröffnen denjenigen, die sich entscheiden, gehen zu wollen, die Möglichkeit, nach Beratung und ärztlicher Verschreibung ein Medikament wie Natrium-Pentobarbital, das ja auch in der Schweiz Anwendung findet, zu erhalten. Denn: Ich finde, es gebietet die Menschlichkeit, Betroffene mit ihrem Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht mehr alleine zu lassen und sie nicht weiter auf risikoreichere Methoden oder gar auf Brutalsuizide zu verweisen. Aber: Lassen wir vertraute Ärzte über Verschreibungen entscheiden, nicht anonyme Behörden! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war bei der Entscheidung zu § 217 Strafgesetzbuch in Karlsruhe. Das Urteil, das das Bundesverfassungsgericht vor inzwischen gut zwei Jahren gesprochen hat, war unmissverständlich und ist wegweisend. Ich möchte uns alle aufrufen, das Urteil und seine Erwägungen zu achten. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben braucht ausreichend Raum. Es darf nicht noch einmal wegen zu hoher gesetzlicher Hürden faktisch leerlaufen. Das sind wir den Menschen in unserem Land schuldig. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Seitz aus der AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Selbsttötung ist in Deutschland straflos, weil kein fremdes Rechtsgut verletzt wird. Damit ist grundsätzlich auch die Förderung der Selbsttötung straflos. Im Jahr 2015 wurde deshalb mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung eine Beihilfehandlung zum eigenständigen Delikt erhoben. Seit das Bundesverfassungsgericht 2020 diese Vorschrift für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat, fehlt es jenseits des ärztlichen Standesrechts wieder an einer Regelung. Dies bedeutet Rechtsunsicherheit und die Gefahr von Auswüchsen. Der Gesetzgeber ist also gefordert, den assistierten Suizid zu regeln. Die Vorgaben haben Gesetzeskraft und sind eindeutig – Zitat –: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Und weiter: ... Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist ... nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände beschränkt. … Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Nach der Entscheidung darf der Einzelne selbst entscheiden, was sein Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit seiner Existenz ausmacht. Staat und Gesellschaft haben diese Entscheidung als Akt autonomer Selbstbestimmung zu respektieren. Mit diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss die zu schaffende Regelung einen zumutbaren Weg zu einem selbstbestimmten Freitod eröffnen, was einen legalen Zugang zum Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital erfordert. Festzuhalten ist aber auch, dass kein Arzt oder Apotheker verpflichtet ist, an der Selbsttötung eines anderen mitzuwirken. Gleichzeitig gebietet die Schutzpflicht für das Leben ein tragfähiges Schutzkonzept. Für einen freien Suizid bedarf es zunächst der Fähigkeit der freien Willensbildung und der Fähigkeit, auch nach dieser Einsicht zu handeln. Die Willensbildung muss frei von Beeinträchtigung durch Krankheit sein, vor allem durch akute psychische Störungen. Das ist gerade bei betagten und schwerkranken Menschen ein Problem, die oft unter Suizidgedanken infolge einer Depression leiden. Weiter muss der Betroffene gut informiert sein, um auf einer soliden Beurteilungsgrundlage das Für und Wider realistisch abzuwägen. Dazu gehört insbesondere, dass er Handlungsalternativen zum Suizid erkennt, ihre jeweiligen Folgen bewertet und sich in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen entscheidet. Ebenso muss gewährleistet sein, dass sich der Betroffene frei von Zwang, Drohung, Täuschung oder sonstigen Formen der Beeinflussung für den Suizid entscheidet. Die Regelung muss auch sicherstellen, dass der Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen ist. Da nach den gerichtlichen Vorgaben je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden können, darf hier differenziert werden zwischen Menschen mit schweren oder fortgeschrittenen Erkrankungen einerseits und völlig gesunden Menschen andererseits. Alle diese Voraussetzungen sind selbstredend bei Kindern und Jugendlichen nicht gegeben. Mit der Regelung des Suizids ist es aber nicht getan; denn je niederschwelliger der Zugang zu Palliativmedizin und Hospizdiensten ist, umso eher ist der Betroffene bereit, seine Situation auch ohne Suizid zu ertragen. Und vor allem bedarf die Suizidprävention ganz allgemein einer massiven Förderung. Denn eines darf nicht vergessen werden: Auch wenn der Suizid nicht strafbar ist, so hat doch jeder Suizid schwere Auswirkungen auf das gesamte Umfeld und ist immer auch eine Tragödie. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte aus der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie steht im Zentrum und am Anfang des Grundgesetzes. Aus ihr leitet sich das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen ab. Zur Würde und Selbstbestimmung gehört das Recht, das eigene Leben zu beenden. ({0}) Diese Entscheidung, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil, „dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen“, haben wir zu respektieren. Damit hat das Gericht vor allem die Perspektive der Betroffenen aufgenommen. Es steht somit niemandem zu, zu bewerten, aus welcher Lebenssituation heraus der Wunsch auf Suizidhilfe entstanden ist. Hier war das Bundesverfassungsgericht für viele überraschend klar: Würde und Selbstbestimmung müssen Ansatzpunkt jeder gesetzlichen Regelung sein. Der selbstbestimmte Tod ist in den Worten des Bundesverfassungsgerichts ein „wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“. Dieses Recht, meine Damen und Herren, muss aber auch praktisch wahrnehmbar sein. Daraus ergibt sich, dass die Hilfe durch Dritte straffrei sein muss. Wir tragen hier gemeinsam Verantwortung dafür, dass Betroffene die Möglichkeit finden, umfassend zu den Konsequenzen ihrer Entscheidung aufgeklärt und beraten zu werden – sowohl zu rechtlichen als auch zu medizinischen Fragen und schließlich auch zu Hilfsangeboten und Alternativen. Diese Beratung muss fachlich kompetent sein. Sie darf keinen Druck aufbauen, weder in die eine noch in die andere Richtung. ({1}) Vor allem muss sie zugänglich für alle sein. Das bedeutet: Vor diesem Hintergrund soll dann der Zugang zu einem humanen Vollzug des Suizids auch tatsächlich ermöglicht werden. Denn ein Recht, das sich in der Praxis nicht ausüben lässt, ist kein Recht. Meine Damen und Herren, niemand hier möchte, dass Suizidhilfe in einem kommerziellen Rahmen erfolgt. Aber Hilfe zur Wahrnehmung eines Rechts darf nicht unter Strafe gestellt werden. Es geht schließlich um mehr Fürsorge statt mehr Strafrecht; es geht um mehr Schutz statt Bevormundung. Wir können kommerziellen Angeboten den Boden entziehen, indem Beratungsangebote unentgeltlich gestaltet werden und allen zugänglich sind. ({2}) Das heißt, statt sozialem und ökonomischem Druck sollen auch in dieser letzten Phase des Lebens Solidarität und Achtung geboten werden. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich aus der SPD-Fraktion. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Bürgerinnen und Bürger! Wenn wir über das Thema Suizidhilfe sprechen, dann tun wir dies oft mit einem ganz bestimmten Bild vor Augen. Wir stellen uns dann todkranke Menschen vor, die durch unendliches Leid und kaum aushaltbare Schmerzen schwer gezeichnet sind, Menschen, die einfach nicht mehr weiterleben wollen oder können, Menschen, die ihr Leben nur noch als Belastung und den eigenen Tod als Erlösung empfinden. In seinem Urteil zur Suizidhilfe hat das Bundesverfassungsgericht die Rechte dieser Menschen gestärkt. Es hat klipp und klar deutlich gemacht, dass jeder Mensch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben hat. Das hat auch dieses Haus zu respektieren, und deshalb stehen und sitzen wir heute hier. Gleichzeitig hat das Gericht aber betont, dass sich das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben eben gerade nicht auf unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Nein, es gilt für uns alle, egal ob alt oder jung, krank oder gesund. Das Beispiel des unheilbar Kranken ist deshalb nur ein kleiner Ausschnitt aus der Realität, mit der wir jetzt umgehen müssen. Diese Realität kennt keine vorgefertigten Denkschablonen, und diese Realität umfasst Menschen, die aus den verschiedensten persönlichen Gründen ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Werturteile darüber zu fällen, weshalb jemand sein Leben beenden möchte. Es ist auch nicht die Aufgabe dieses Hauses, festzulegen, wann es „akzeptabel“ ist, dass jemand sich das Leben nehmen möchte. ({0}) Ich warne deshalb entschieden davor, dass sich dieses Haus eine Bewertung der individuellen Gründe für diese Entscheidung anmaßt und so bestimmten Menschen ihre Rechte vorenthält. Wichtig ist vor allem das Folgende: Wir müssen Vorsorge dafür treffen, dass die Freiverantwortlichkeit und die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches zu jeder Zeit sichergestellt sind. Menschen, die sich den Tod wünschen, müssen besonders gut vor Zwang und Manipulation geschützt werden. ({1}) Es liegt in unserer Verantwortung, einen rechtssicheren Rahmen hierfür zu schaffen. Wir müssen durch entsprechende Schutzbestimmungen verhindern, dass die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung durch psychischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Druck infrage gestellt wird. ({2}) Gleichzeitig müssen wir aber auch sicherstellen, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht durch blockierendes Verwaltungshandeln eingeschränkt wird. Es braucht also einen geregelten Prozess, der den Menschen die Wahrnehmung ihres Rechtes erlaubt. Diejenigen Einrichtungen, in denen künftig Suizidhilfe geleistet werden wird, brauchen von uns die entsprechende Unterstützung, um diese neue Herausforderung gut zu bewältigen. Das sind unsere Aufgaben – nicht mehr und nicht weniger. Klar ist für mich auch, dass es dort, wo die Freiverantwortlichkeit regelhaft nicht gewährleistet ist, etwa bei Kindern oder bei Menschen mit rechtlicher Betreuung, keine Suizidhilfe geben darf. ({3}) Genauso wenig kommt die Suizidhilfe per Patientenverfügung infrage, weil die Kontinuität des Sterbewunsches so nicht sichergestellt werden kann. ({4}) Ich will am Ende meiner Rede noch zwei ganz wichtige Punkte ansprechen, die wir im Rahmen dieses Verfahrens ebenfalls unbedingt adressieren sollten; Kollegin Kappert-Gonther hat das schon getan. Zum einen geht es um die Stärkung der Suizidprävention und zum anderen um die Stärkung der palliativmedizinischen Versorgung. Eine Neuregelung der Suizidhilfe sollte beide Punkte mit aufnehmen, um von vornherein die Zahl der suizidwilligen Personen zu senken. Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sehr kritisch sehen. Dennoch rufe ich Sie heute dazu auf: Begreifen wir dieses Urteil als Chance! Begreifen wir dieses Urteil als Chance dafür, einen Rahmen zu schaffen, der es Menschen mit freiverantwortlichem und dauerhaftem Sterbewunsch ermöglicht, mit Würde aus dem Leben zu scheiden! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marc Biadacz aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat uns einen Auftrag gegeben, nämlich die Frage nach den gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren. Diese Grundfrage des menschlichen Daseins berührt mehr als jede andere die Identität und die Individualität. In dieser Orientierungsdebatte gibt es kein Richtig und kein Falsch; es gibt kein Schwarz, es gibt kein Weiß; es gibt kein Oben, es gibt kein Unten. Das heißt aber nicht, dass diese Entscheidung keine Auswirkungen hat. Unser Grundgesetz baut auf der Würde des Menschen auf, die in unserem christlichen Menschenbild fest verankert ist. Dazu gehört auch, dass die freie Entscheidung für selbstbestimmtes Sterben von jedem Einzelnen getroffen werden kann. Bei den gesetzlichen Regelungen kann es aber nicht alleine um die Entscheidung des Einzelnen gehen. Der gesellschaftliche und der kulturelle Umgang mit dem Tod ist prägend für eine soziale Gemeinschaft. Sterben und Tod sind nicht nur eine Privatangelegenheit; sie berühren auch die Gesellschaft als Ganzes. Richtig ist: In dieser Debatte geht es um die zentralen ethischen Fragen für unsere Gesellschaft, um Fragen über den Umgang mit dem Leben und dem Tod. Daher müssen wir als Gesellschaft die notwendigen ethischen Leitplanken diskutieren und setzen. Papst Johannes Paul II. hat einmal geschrieben – ich zitiere –: „Der Tod zwingt den Menschen, sich die radikalen Fragen nach dem eigentlichen Sinn des Lebens zu stellen“. Das habe ich ganz persönlich erlebt, als mein Vater im Jahr 2004, als ich 25 Jahre alt war, unheilbar an Darmkrebs erkrankte und zwei Jahre später an den Lebermetastasen verstorben ist. Zeitweise waren die Schmerzen für ihn fast nicht zu ertragen. Vielleicht hat er sich manchmal auch gedacht, es wäre besser, wenn er seinem Leben und dem Leid ein Ende setzen würde. Vielleicht hat er sich gedacht, er könnte seiner Familie so das Miterleben des Leids ersparen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat es nicht getan, und er hat mir etwas Wichtiges mitgegeben: Es gibt nicht nur Schatten und Licht, nicht nur Leid und Glückseligkeit; das Leben ist viel facettenreicher. Nach der ambulanten Chemotherapie ging mein Vater in die Kirche in meiner Heimatstadt Böblingen und zündete eine Kerze an; danach ging er in die Kneipe und hat ein Bier getrunken. Das hat mir gezeigt: Er war geprägt vom Leid; aber er hatte trotzdem noch so viel Leben in sich. Viele Erfahrungen, die er mir und meiner Familie mitgegeben hat, haben mich sehr stark und tief geprägt. Unser Entwurf, den wir heute hier diskutieren, möchte diese freie Entscheidung über das Leben und Sterben schützen. Der Staat muss sicherstellen, dass die unumkehrbare Entscheidung zum Sterben frei und ohne jeden Druck getroffen wird. Wir brauchen in Deutschland daher einen klar definierten gesetzlichen Rahmen – nicht für das selbstbestimmte Sterben, sondern zum Schutz der selbstständigen Entscheidung über das eigene Leben. Alte und kranke Menschen dürfen nicht das Gefühl haben, dass Druck auf sie ausgeübt wird. Dies zu verhindern, ist die oberste Pflicht des Staates. Er schützt damit das Recht auf ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben. Ich bin davon überzeugt, dass es richtig ist, so paradox es auch klingen mag, dass bei der Frage des selbstbestimmten Sterbens immer der Schutz des Lebens und die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen sind. Das haben wir in unserem Gruppenantrag getan. Der assistierte Selbstmord darf niemals die normale Form der Lebensbeendigung werden, insbesondere nicht für alte und kranke Menschen. Wir haben daher in unserem Gesetzentwurf klar die Regelung vorgesehen, dass die im Strafgesetzbuch erwähnte geschäftsmäßige Förderung von Selbsttötung strafbar bleibt. Den Menschen sollen nach unserem Entwurf weitreichende Hilfsangebote gemacht werden, und Werbung für attestierten Selbstmord soll strafrechtlich verboten werden. Ich weiß, darüber kann man viel diskutieren, und darüber kann man hier in diesem Hohen Haus auch viel streiten. Aber mir geht es darum, gute Rahmenbedingungen mit diesem von uns vorgelegten Gesetzentwurf, den ich hier vertreten möchte, zu schaffen. Deswegen: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Mensch steht im Mittelpunkt bei dieser Frage. Daher würde ich mich freuen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf unterstützen würden. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Renate Künast aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Kern geht es um Selbstbestimmung. Das ist das, was uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes mitgegeben hat. Es hat im Februar 2020 klargestellt, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht – quasi als Ausdruck persönlicher Autonomie – das Recht auf selbstbestimmtes Sterben folgt und deshalb auch das Recht, sich dazu einer Hilfe zu bedienen. Deshalb hat es den damaligen § 217 StGB für nichtig erklärt, den wir hier intensiv diskutiert haben. Einige haben gesagt: Das Bundesverfassungsgericht hat uns einen Auftrag gegeben. – Nein, das hat es nicht. ({0}) Wir als Bundestag könnten die Situation jetzt einfach so lassen. Denn der § 217 StGB ist nichtig, andere Dinge sind geregelt; die Tötung auf Verlangen ist strafbar. Nein, meine Damen und Herren. Die Frage ist, ob wir das wollen, ob wir als Bundestag uns mühen wollen, dazu einen Rahmen zu setzen, Schutzregeln einzusetzen. Denn Tatsache ist: Nach dieser Entscheidung findet Beihilfe zur Sterbehilfe statt: Vereine beraten, Ärztinnen und Ärzte leisten Beihilfe. – Wir fragen uns aber an dieser Stelle: Gibt es eigentlich die notwendige Transparenz? Welche Mittel verschreiben die eigentlich? – Die Gruppe um mich, Katja Keul, Herrn Franke, Frau Scheer, Frau Bayram, Herrn Benner und andere sagt: Wir brauchen eine rechtseinheitliche Regelung, die im ganzen Bundesgebiet gilt. Wir brauchen Schutzmechanismen, Beratungen, Zuverlässigkeitsprüfungen und eine Transparenz. Deshalb sagen wir: Nein, wir können jetzt nicht sagen: „Wir regeln es nicht.“ Wir brauchen eine Regelung. Es ist unsere Aufgabe, und wir dürfen uns nicht davor drücken. Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens auch immer klar gesagt: Man darf nicht verhindern, dass es einen Weg gibt, in zumutbarer Weise sein Leben zu beenden. – Deshalb, meine Damen und Herren, geht es hier um die Fragen: Kriegt man gute Beratung durch Vereine – nicht irgendwelche, sondern zuverlässige? Hat man den Zugang zu Betäubungsmitteln, zum Beispiel zu Pentobarbital, zu dem auch Palliativmedizinerinnen und ‑mediziner sagen: „Das ist der zumutbare und geeignete Weg“, und der ist besser, als ein Mittel zu nehmen, bei dem Sie sich möglicherweise reflexartig erbrechen, obwohl Sie sterben wollen, und am Ende mit schweren Behinderungen daliegen? Das ist nicht würdevoll. Wir alle haben gemeinsam eine Aufgabe. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu respektieren: Jeder Mensch hat dieses Recht in jeder Lebensphase. ({1}) Zur Frage, wie man das regelt. Wir meinen, man sollte es nicht zu schwer machen. Deshalb gilt es, einen kritischen Blick auf das Vorhaben zu werfen, mit einer Strafvorschrift zu beginnen, die als Erstes beinhaltet: drei Jahre Freiheitsstrafe. – Wir meinen aber auch, man sollte es nicht zu leicht machen; denn in manchen Bereichen ist die Umsetzung schwierig. Vielleicht können wir auch nicht alles millimetergenau regeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. In manchen Bereichen ist es schwierig. Wir haben zum Beispiel gesagt, Volljährige sollen den Zugang haben. Warum? Wir diskutieren gerne im Ausschuss noch darüber, ab welchem Alter. Aber: Ab welchem Alter ist jemand in der Pubertät trotzdem vom freien Willen beseelt und kann danach handeln? Was ist mit der Entscheidung der Eltern oder des Familiengerichts? Wie stehen die drei zueinander? Das ist schwierig, meine Damen und Herren. Auf alle Fälle sollte es nicht zu schwer durch das Strafgesetzbuch werden; man sollte es aber auch nicht zu einfach machen. Und natürlich haben wir nicht das Recht, materielle Kriterien aufzustellen. Wir können Verfahrensvorschriften machen und sagen: Wir müssen sehen, dass es freiwillig ist, dass ein freier Wille besteht und dass die Fähigkeit gegeben ist, danach zu handeln. – Dann müssen wir den Weg zumutbar eröffnen, meine Damen und Herren. Dieser Weg muss heißen: Schutzvorschriften, Transparenzvorschriften, Zuverlässigkeit in den Vereinen, Fristen zwischen zwei Beratungen und Aufklärung über Wirkungsweisen. Das ethische Dach für uns – wir haben es in § 4 unseres Gesetzentwurfs formuliert – ist ausdrücklich der „Grundwert jedes Menschenlebens“. Das ist der sozusagen ethische Punkt. Ich will an dieser Stelle einmal konkret werden, wie wir es regeln möchten, meine Damen und Herren. Wir wollen, dass Volljährige Zugang haben; das habe ich gesagt. Unser Vorschlag umfasst zwei Wege, die wir für adäquat halten. Weg eins: die Voraussetzung für den Zugang zu Betäubungsmitteln für Sterbewillige in medizinischer Notlage schaffen. Wir stellen uns vor, dass jemand in existenzieller Luftnot ist. Den kann ich nicht noch irgendwohin schicken. Vielmehr wollen wir der Person ermöglichen, mit den behandelnden Ärztinnen oder Ärzten das Gespräch zu führen – mit Regeln, wie das schriftlich darzulegen ist, mit Aufklärungs- und Dokumentationspflichten, mit einem zweiten Arzt oder einer zweiten Ärztin, der oder die unabhängig davon bestätigen muss, dass dieser freie Wille vorliegt und dass aufgeklärt wurde, meine Damen und Herren. Ich glaube, dass das angemessen ist, zumal wir in diesem Punkt beides haben, nämlich auch die Beratung über eine mögliche Schmerztherapie. Der andere Weg umfasst bei uns den Zugang in allen anderen Fällen. Wir sagen: Es muss eine Behörde geben, gegenüber der man seinen Sterbewunsch glaubhaft darlegt, die Dauer darlegt und ein, zwei Fragen beantwortet. Das Fazit, meine Damen und Herren, ist: Wir wissen, wir müssen nicht, aber wir können eine Schutzvorschrift schaffen. Dann sollten wir das auch tun. Für meine Begriffe ist es so, dass wir den Weg gehen sollten, dass die einen die Ärzte des Vertrauens kontaktieren können und dass die anderen einen offenen Zugang haben. Neben alldem würde ich sagen: Was wir wirklich sträflich vernachlässigt haben, ist der gesamte Bereich der flächendeckenden guten Versorgung mit Palliativ- und Hospizmedizin. Auch das sollten wir bei dieser Gelegenheit verändern. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Benjamin Strasser aus der FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil aus dem Februar 2020 für Klarheit gesorgt. Klar ist, dass eine jahrelange Debatte um das Ob des assistierten Suizids beendet ist. Wir diskutieren jetzt über das Wie. Klar ist auch, dass das Urteil einen regelungslosen Zustand hinterlassen hat, mit dem viele – abgesehen von manchen Sterbehilfevereinen – unzufrieden sind. Und ja, das ist eine schwierige Aufgabe für uns als Gesetzgeber, die sich sicher keiner leicht macht. Für mich ist aber auch klar: Nichtstun kann keine Option sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat aber auch den Rahmen des Diskurses verschoben. Im Kern steht jetzt die Frage: Wie sichern wir tatsächlich Selbstbestimmung für alle Menschen in allen Lebenslagen? – Es geht eben nicht mehr nur um schwerstkranke Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Es geht auch um Menschen mit einer Suchterkrankung, mit psychischen Erkrankungen. Es geht um Menschen mit Behinderungen. Es geht um Menschen, die in Armut leben. Und ja, es geht auch um Menschen, die pflegebedürftig werden und die sich die Frage stellen: Investiere ich mein Geld oder Teile meines Geldes in einen Pflegeplatz, oder gebe ich es meinen Kindern und Enkelkindern? Gerade dieses Beispiel ist nicht konstruiert, sondern die Ängste, die Befürchtungen sind messbar. So wollen laut einer Studie mit dem Titel „55plus – Pflege im Alter“ 74 Prozent der Bürgerinnen und Bürger im Pflegefall ihren Kindern nicht zur Last fallen. Die Gespräche, die wir in den letzten zwei Jahren mit Ärztinnen und Ärzten, mit Sterbebegleiterinnen und ‑begleitern geführt haben, decken sich mit dieser Studienlage. Insofern müssen wir auch anerkennen, dass nicht jeder Sterbewunsch ein Suizidwunsch ist. Die Äußerung von Betroffenen „Ich will nicht mehr leben“ ist, wenn man sich mit diesem Wunsch auseinandersetzt und mit ihnen spricht, oftmals eben eigentlich als „Ich will so nicht mehr leben“ gemeint. ({1}) Wenn wir Selbstbestimmung ernst nehmen, dann müssen wir diese schwierige Entscheidung absichern. Wir müssen sie absichern durch eine umfassende Beratung über die Alternativen des assistierten Suizids. Wir müssen sie dadurch absichern, dass die Alternativen zum Suizid auch zeitnah verfügbar sind. Und ja, wir müssen sie auch dadurch absichern, dass eine unzulässige Beeinflussung durch Dritte in dieser heiklen Phase bestmöglich ausgeschlossen ist. ({2}) Dazu hat uns das Bundesverfassungsgericht den Weg der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts weiterhin offengelassen. Es geht hier nicht um Bevormundung, es geht nicht um Kriminalisierung, sondern es geht darum, dass das Schutzkonzept über die Selbstbestimmung nicht nur im Bundesgesetzblatt steht, sondern in der Praxis tatsächlich gelebt wird. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Sichert aus der AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten zwei Jahren wurde beinahe in jeder gesundheitspolitischen Debatte so getan, als gelte es, jedes Leben um jeden Preis zu erhalten. Heute nun diskutieren wir darüber, wie der Staat Menschen dabei helfen sollte, ihr Leben zu beenden. Obwohl es 2020 eine deutliche Untersterblichkeit gab, wurden Millionen psychisch Kranke, Zehntausende Krebskranke und Zehntausende Menschen mit schweren Impfnebenwirkungen in Kauf genommen, um zu versuchen, zu verhindern, dass auch nur ein weiterer Mensch als Coronatoter mehr stirbt. Nun also diskutieren wir hier über Sterbehilfe. Ich fand sehr, sehr interessant, zu beobachten, dass einige der Befürworter schärfster Coronamaßnahmen mit all den damit verbundenen Gesundheitsschäden sich nun für weitreichende Sterbehilfe aussprechen. Zwei Jahre wurden Würde und Selbstbestimmung mit Füßen getreten. Es freut mich sehr, dass hier und heute nun viele Würde und Selbstbestimmung in den Vordergrund stellen. Ich wünsche mir, dass das künftig auch bei allen anderen Themen so sein wird. ({0}) Es muss klar sein, dass Sterbehilfe – anders als Corona – nicht zum Geschäftsmodell mit Milliardengewinnen für Pharmaindustrie und Ärzte werden darf. Es muss sichergestellt werden, dass niemand mehr daran verdient, wenn sich am Ende einer Beratung jemand für den Tod entscheidet, als wenn sich derjenige für das Leben entscheidet. Die Entscheidung über Sterbehilfe sollte nur derjenige selbst treffen können. Aber man sollte eine Möglichkeit einräumen, durch die der Mensch in einer Patientenverfügung bestimmte Parameter festlegen kann, wann er Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte. Wenn jemand bei vollem Bewusstsein eine Verfügung formuliert, dass er, wenn er massive Schmerzen hat und beispielsweise nach einem Schlaganfall nicht mehr seinen Willen klar formulieren kann, Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte, warum sollte man es ihm verwehren? ({1}) Grundsätzlich sollte Sterbehilfe aber eng begrenzt sein. Wer unheilbar krank ist, wer starke Schmerzen hat und leidet, der sollte das Recht haben, sein Leiden zu beenden und dabei auch Unterstützung finden. Das ist menschlich. Bei schweren Leiden muss das auch ohne lange Wartezeiten möglich sein. Und bei Menschen, bei denen man weiß, dass die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen mit Leid verbunden ist, weil die Menschen Schmerzen haben oder das Sterben sich tagelang hinzieht, bis der Mensch elendig erstickt oder verdurstet ist, sollte es die Möglichkeit geben, mit der Spritze dem Leid ein schnelles Ende zu setzen. Aber gesunden Menschen dabei zu helfen, sich aus dem Leben zu befördern, nur weil diese lebensmüde sind, das ist nicht Aufgabe des Staates. Das hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 12. April dieses Jahres festgestellt, in dem erklärt wurde, dass es kein grundsätzliches Recht auf Beihilfe zum Suizid gibt. Das sollten wir alle auch bedenken, wenn wir uns um die entsprechenden Anträge bemühen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, zu hören, dass es zumindest in den demokratischen Parteien noch den Konsens gibt, dass es Grenzen gibt: Zum Beispiel wird in keinem der bisher vorliegenden Gesetzentwürfe gefordert, dass die Tötung auf Verlangen legalisiert werden soll. Denn ich finde, gerade wenn wir über dieses sensible Thema reden, müssen wir darauf achten, dass wir Grenzen wahren ({0}) und dass wir auch nicht unterscheiden zwischen Menschen, die krank sind, die psychisch krank sind, die behindert sind, und Menschen, die gesund sind. Das würde doch ganz schlimme Erinnerungen an die Geschichte dieses Landes wecken. Und auch da bin ich froh, dass wir uns darüber hier in diesem Hause, auf der demokratischen Seite, auch weitgehend einig sind. Wir reden heute darüber, wie wir verhindern können, dass Menschen, die sich entschieden haben, ihr Leben zu beenden, durch ein angebotsgetriebenes Marktsystem dazu gedrängt werden könnten, und wie sie angemessen Unterstützung und Beratung und damit einen Weg aus ihrer Lebenskrise finden können. Wenn wir darüber sprechen, dann müssen wir uns auch über die Realität der mangelhaften Suizidprävention in diesem Land unterhalten, ({1}) in dem sich jeden Tag etwa 25 Menschen das Leben nehmen. Deshalb schlägt die Gruppe, die ich unterstütze – mit Frau Kappert-Gonther, Herrn Castellucci, Herrn Heveling und anderen –, auch vor, dass wir ein Gesetz zur Suizidprävention schaffen. Das fordern auch viele Verbände und Institutionen, die Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit Behinderung oder Pflegebedarf vertreten und die sich mit den sozialen Nöten von Menschen in Zeiten immer ungleicherer Lebensverhältnisse und zunehmender Existenzsorgen beschäftigen. Ich lade Sie ein: Beteiligen Sie sich daran, und lassen Sie uns, egal welchen Gesetzentwurf Sie bevorzugen, dieses Thema in den Mittelpunkt stellen und mehr tun für Suizidprävention in diesem Land. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Warum ist der Suizid oder der assistierte Suizid eigentlich ganz klar die Ausnahme in unserer Gesellschaft? Hat das etwas mit Tradition zu tun oder mit Tabus oder mit mangelndem Zugang? Ich glaube, ganz entscheidend für die allermeisten Menschen ist ihr Lebenswille: Lebenswille, gerade wenn es auf das Sterben zugeht, Hoffnung, es könnte noch Rettung geben, noch zu erleben, dass der Enkel zur Welt kommt. Und deshalb: Ja, ich bin der Meinung, dass wir den Sterbewillen und in dieser Konsequenz auch den Suizidwillen von Menschen anerkennen müssen; aber viel mehr bin ich der Meinung, dass wir ihren Lebenswillen unterstützen müssen, so lange es möglich ist, und mit allem, was möglich ist. ({0}) Es kann in unserem Leben immer wieder Situationen geben, in denen unser Lebenswille wie verschüttet ist: Krisen, gesundheitlich, Zeiten der Trauer, depressive Phasen. Und dann können auch Suizidgedanken kommen. Diese Suizidgedanken – und das hat Kirsten Kappert-Gonther gesagt, ebenso Benjamin Strasser – sind in den allermeisten Fällen nicht mit einem Sterbewunsch verbunden, sondern mit dem Wunsch, nicht so leben zu müssen, wie es sich aktuell darstellt. Wir geben viel Geld für Forschung aus in diesem Bereich. Die Ergebnisse dieser Forschung sind eindeutig. Wir sollten sie in diesem Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen. ({1}) Deswegen müsste unsere Debatte korrekterweise mit „Suizidhilfe“ überschrieben sein und nicht mit „Sterbehilfe“. Denn ein Suizidwunsch ist eben nicht automatisch mit einem Sterbewunsch gleichzusetzen. Also geht es in den allermeisten Fällen auch nicht vorschnell darum, Möglichkeiten des Sterbens aufzuzeigen, sondern Hilfe und Unterstützung im Leben anzubieten. ({2}) Ich will, dass diese Hilfe und Unterstützung zum und im Leben auch künftig die Chance haben, die Menschen eher zu erreichen als Organisationen, die sich vielleicht eine momentane Schwäche eines Menschen zunutze machen und einen Weg zum schnellen Tod versprechen. Wie wir das sicherstellen, darum geht es in den kommenden Beratungen. Eines ist für mich klar, Frau Helling-Plahr: Mit flächendeckenden, staatlich finanzierten Suizidberatungsstellen erreichen wir das genaue Gegenteil. ({3}) Was es dagegen braucht, sind flächendeckende Beratungsangebote zur gesamten Vielfalt menschlicher Problemlagen, ausreichende Therapieplätze, Arbeitsbedingungen in Heimen, in Krankenhäusern, die den Beschäftigten Zeit für die Menschen lassen. Wir dürfen nicht nachlassen, daran zu arbeiten. ({4}) Und ja, es bleiben die Fälle, in denen jemand, ob schwer erkrankt oder nicht, jung oder alt, für sich selber entscheidet: „Das war es jetzt“, und für die Selbsttötung die Hilfe anderer Menschen erbittet. Diese freie Entscheidung steht den Menschen zu. Sie kann bedauert werden; aber sie muss auch respektiert werden. Dafür müssen wir Regelungen schaffen. Die Ärzteschaft hat das mit ihrem Standesrecht bereits getan. Jetzt sind wir als Gesetzgeber gefordert und müssen regeln, unter welchen Umständen die Abgabe eines todbringenden Medikamentes nach dem Betäubungsmittelgesetz erlaubt werden kann. So richtig es ist, diesen assistierten Suizid zu ermöglichen, so richtig ist es allerdings, einer Normalisierung des Suizids entgegenzuwirken. ({5}) Warum eigentlich? Weil dann auch Gefahr für die Selbstbestimmung von Menschen droht, weil dann der Druck steigt, dass sich Menschen zu fragen beginnen: Lohnt sich das noch? Falle ich nicht nur zur Last? Was koste ich? – Diese Fragen verlangen nach der Gegenrede. Denn niemand in diesem Land soll sich überflüssig fühlen. ({6}) Wir wollen ein gutes Land für alle sein. Deswegen bitte ich Sie: Gehen Sie unseren Weg mit, den assistierten Suizid zu ermöglichen, ohne ihn zu fördern! Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen werden älter; das ist eine gute Nachricht. Aber zugleich wächst bei vielen von ihnen die Angst, dass sie im Alter oder bei Krankheit allein sind oder leiden. Viele von ihnen wollen niemandem zur Last fallen. Meine Damen und Herren, es ist nicht die erste Debatte, die wir zur Frage der Sterbehilfe führen; und das ist gut so. Denn es lenkt unseren Blick auf den Menschen, und zwar gerade auf den Menschen in seiner Verletzlichkeit, vielleicht sogar in seiner vermeintlichen Ausweglosigkeit. Das macht mich zuallererst und vor allem demütig. Daher steht im Zentrum unserer Bemühungen der schwerstleidende Mensch selbst. Suizidales Handeln ist aus Sicht des christlichen Menschenbildes immer zutiefst zu bedauern und tragisch. Aus guten ethischen Gründen haben wir uns 2014 zusammen mit den beiden großen christlichen Kirchen gegen die organisierte und geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid ausgesprochen. Der Suizid ist ein ethisch wie auch politisch letztlich nicht vollständig regulierbarer Grenzfall menschlicher Existenz. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber allerdings aufgefordert, eine gesetzliche Neuregelung für den assistierten Suizid zu schaffen. Die Sorgen vieler nehme ich sehr ernst, denen dieses Urteil zu weit geht, besonders hinsichtlich der schrankenlosen Möglichkeit zum assistierten Suizid auch in Fällen ohne schwere oder lebensbedrohliche Krankheitslage. Dennoch: Wir müssen die Grundvorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachten. Dabei gibt es Ermessensspielräume, die wir als wertegebundener Gesetzgeber ausfüllen sollten. Es darf gesellschaftlich nicht zur Normalität werden, sich das Leben zu nehmen oder anderen dabei zu helfen. ({0}) Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir bei der anstehenden Gesetzgebung zwingend berücksichtigen müssen. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen nicht unter einen zusätzlichen Druck geraten. Jede Form der Kommerzialisierung der Suizidbeihilfe muss ausgeschlossen werden – genauso wie jede Werbung. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, ein ermutigendes Zeichen im Sinne der Ökumene ist die gemeinsame Stellungnahme der katholischen Bischöfe und evangelischen Leitenden Geistlichen in Niedersachsen und Bremen zur Suizidbeihilfe. Sie erinnert daran, dass „gesetzliche Regelungen für einen angemessenen Umgang mit konkreten Grenzsituationen zwischen Leben und Tod letztlich nicht ausreichen“, sondern „jeder Einzelfall … multiperspektivisch betrachtet werden“ muss. Die Unterstützung eines Suizids ist und bleibt eine Gewissensentscheidung in einer Grenz- und in einer Notsituation. Insofern kann auch weder eine Person noch eine Institution zur Suizidbeihilfe verpflichtet werden. Ob Beihilfe zum Suizid in Grenz- und Notsituationen in kirchlichen Häusern geduldet werden solle, sei nicht pauschal zu beantworten, sondern müsse im Einzelfall geklärt werden, schreiben zum Beispiel die christlichen Kirchen in Niedersachsen. Neben der Selbstbestimmung des Suizidwilligen müsse auch die Verantwortung für die Angehörigen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen mit bedacht werden. Diesen Einzelabwägungen wollen und sollten wir ebenfalls ausreichend Raum geben. Unser ganzes Bemühen sollte sich aber vornehmlich auf das eigentliche Ziel konzentrieren, nämlich Leiden und Schmerzen nach Menschenmöglichkeit zu mindern, persönliche Fürsorge, Seelsorge und Begleitung zu leisten und die beste palliativmedizinische und hospizliche Versorgung für alle sicherzustellen. Daher brauchen wir als Erstes ein Gesetz zum massiven Ausbau von niedrigschwelligen Angeboten zur Suizidprävention. ({2}) Wir brauchen fachlich kompetente und menschlich zugewandte Hospizarbeit und Palliativversorgung für schwerkranke Patientinnen und Patienten. Entscheidend ist es, ein menschenwürdiges Leben auch in der letzten Lebensphase sicherzustellen. Denn wir möchten erreichen, dass ein Mensch nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines anderen verstirbt. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rachel. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Till Steffen, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Till Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005228, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind heute hier, weil das Bundesverfassungsgericht vor gut zwei Jahren eine richtungsweisende Entscheidung getroffen hat, und zwar: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst eben auch das Recht, zu entscheiden, wann das Leben zu Ende sein soll. Es erklärte das im Strafgesetzbuch normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung als nichtig, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleerte. Daraus ergibt sich jetzt für uns als Gesetzgeber die Aufgabe, sicherzustellen, dass ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real gegeben ist. Dies ist eine schwierige Aufgabe, da sie auf höchstpersönliche Erfahrungen, Ansichten und Wertvorstellungen trifft. Ich denke jedoch, dass die meisten von uns – wir haben es eben gesehen – in wesentlichen Punkten übereinstimmen. Bei dem Gedanken an eine geschäftsmäßig betriebene Suizidhilfe beschleicht uns alle ein ungutes Gefühl. Wir haben die – sicherlich nicht unberechtigte – Sorge, dass die Selbsttötung normalisiert wird und es daher zu einem Anstieg kommt. Und ganz besonders besorgt es uns, dass sich ältere und vulnerablere Menschen auch von ihrem engsten Umfeld zu einer Beendigung ihres Lebens gedrängt fühlen könnten. Es stellt sich daher die Frage, wie wir diese sich widersprechenden Interessen am besten zum Ausgleich bringen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass der wichtigste Baustein auf diesem Weg eine neutrale und ergebnisoffene Beratung ist. Dies ist der Weg, den unser Gesetzentwurf – Katrin Helling-Plahr, Petra Sitte, Helge Lindh haben hier für ihn gesprochen – beschreitet. Wir wollen, dass jeder Mensch, der sich mit dem Gedanken an eine Selbsttötung trägt, umfassend informiert wird: über die Bedeutung und Folgen für ihn und sein persönliches Umfeld, über die Voraussetzungen und – am wichtigsten – über Alternativen. Hierzu ist die Schaffung einer Beratungsinfrastruktur nötig, die für alle leicht zugänglich ist. Diese Beratung muss ergebnisoffen erfolgen. Die Beratung soll aber auch sicherstellen, dass Betroffenen, etwa bei Vorliegen von akuten psychischen Störungen, die Möglichkeit zur Inanspruchnahme weiterer Hilfsangebote eröffnet wird. Die Beratung ist nach unserem Entwurf die notwendige Voraussetzung, um eine ärztliche Verschreibung eines Medikaments zur Selbsttötung zu erhalten. Ein Arzt darf einer Person, die aus autonom und frei gebildetem Willen ihr Leben beenden möchte, dann ein Arzneimittel zum Zweck der Selbsttötung verschreiben, wobei er dann auch noch zu umfassender Aufklärung verpflichtet ist. Dieses Verfahren soll eine geschäftsmäßige Suizidhilfe eben nicht fördern, sondern sie überflüssig machen. ({0}) Das ist das Ziel dieses Gesetzentwurfs. Tatsächlich ist es so, dass allein die Möglichkeit, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, bei nicht wenigen Suizidwilligen den Effekt hat, von einem solchen abzusehen. Ich möchte nicht, dass, wie es ein anderer Entwurf vorsieht, Ärzte letztlich entscheiden, ob ein absehbar nicht mehr veränderlicher Sterbewunsch vorliegt oder nicht. Auch könnte die Auswahl von Ärzten durch Angehörige manipuliert werden. Und können wir es Ärzten zumuten, diese Entscheidung zu treffen? Ich habe da Sorgen. Zudem differenziert dieser Entwurf zwischen Sterbewilligen in einer gegenwärtigen medizinischen Notlage und anderen Sterbewilligen. Ich halte diese Abgrenzung für ausgesprochen schwierig. Worauf soll abgestellt werden? Etwa auf starke Schmerzen? Das ist weitgehend überholt, weil diese heutzutage praktisch alle behandelbar sind. Dann ist die Frage: Was ist mit den nicht Schwerkranken? Da soll eine staatliche Stelle eine Prüfung vornehmen. Was hat der Staat eigentlich an der Stelle zu suchen? Ich finde, da gehört er nicht hin. Deswegen möchte ich auch nicht, dass Menschen in dieser Situation einer solchen Prüfung ausgesetzt sind. Der dritte Entwurf möchte den Weg über das Strafgesetzbuch gehen. Das ist nach meiner ganz festen Überzeugung nicht die richtige Stelle für dieses Thema. Die Suizidhilfe hier umfassend zu regeln, enthält eine sehr klare Wertung, die nach meiner Überzeugung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eben nicht in Einklang steht. Sie sagt: Diese Entscheidung stört mich; ich bin mit der Entscheidung nicht einverstanden. Deswegen gehen wir trotzdem im Grunde den gleichen Weg, den das Bundesverfassungsgericht verworfen hat. ({1}) Wir müssen uns der Aufgabe stellen, dass dieser Weg durch das Gericht verbaut worden ist. ({2}) Meine Damen und Herren, das Grundgesetz garantiert ein Recht auf Leben, es begründet aber keine Pflicht, zu leben. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht umfasst, zu entscheiden, wann das Leben zu Ende sein soll. An diesem Anspruch orientiert sich unser Gesetzentwurf. Wir möchten sicherstellen, dass der Mensch bei aller notwendigen Unterstützung seinen nachhaltig und autonom gebildeten freien Willen, nicht mehr leben zu wollen, umsetzen kann. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steffen. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Michael Kruse, FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005117, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst mal: Wir führen ja eine Debatte unter Aufhebung des Fraktionszwangs. Für ein Thema wie die Sterbehilfe ist das sehr angemessen. Dieses Verfahren zwingt jeden Einzelnen und jede Einzelne in diesem Raum, sich selbst eine eigene Meinung zu diesem Thema zu bilden, und das ist aus meiner Sicht der entscheidende Vorteil des Formats der heutigen Debatte. Deswegen begrüße ich das sehr. Wir haben heute viele rechtliche und moralische Aspekte zur korrekten Ausgestaltung der Sterbehilfe gehört. Ich persönlich habe mich für den Antrag der Kollegen Katrin Helling-Plahr, Dr. Till Steffen, Otto Fricke und vieler weiterer entschieden, weil ich meine, dass der Antrag einer ist, der der Zielstellung, die hier schon oft rezitiert worden ist, am nächsten kommt, nämlich der Freiheit zu einem selbstbestimmten Tod – Freiheit in allen Lebenslagen, aber eben auch Freiheit und Selbstbestimmung für das Ende des eigenen Lebens. Ich möchte nicht all die Argumente wiederholen, die jetzt schon mehrfach vorgetragen worden sind, sondern von der Person erzählen, mit der ich die meisten Gespräche über dieses Thema geführt habe. Das ist meine Großmutter. Meine Großmutter wird am Sonntag 100 Jahre alt. ({0}) Sie lebt selbstständig. Sie lebt allein. Sie schreibt mit mir über Whatsapp, noch kurz vor der Sitzung, zu diesem Thema. ({1}) Und sie ist die Person, der ich mich bei diesem Thema besonders verpflichtet fühle, weil wir seit vielen Jahren darüber sprechen, weil wir über hohes Alter sprechen, weil wir darüber sprechen, was es bedeutet, wenn der eigene Lebenswille langsam schwindet. Ein Satz, den sie sehr häufig zu mir gesagt hat, ist: Ich habe mein Leben gelebt, und wenn ich einmal weggetreten bin, dann helft mir bitte beim Sterben. – Deswegen weiß ich, dass für diejenigen, die Angehörige sind, die sich im Umfeld einer Person befinden, die sich in diese Richtung entscheidet, eine hohe Verantwortung besteht. Dieser hohen Verantwortung versuchen wir mit diesem Vorschlag gerecht zu werden. Ich habe sie auch gefragt: Was wären eigentlich deine Wünsche, wenn es denn mal so weit ist? – Sie hat mir gesagt, dass sie sich vor allem wünscht, dass es wenig Bürokratie in diesem Bereich gibt, dass es einen niedrigschwelligen Zugang gibt, dass es keinen Missbrauch geben soll und dass ihr Hilfe zuteilwird, wenn der Lebenswille erlischt. Wir werden am Sonntag ihren 100. Geburtstag feiern. Allerdings weiß ich, dass, wenn es einmal so weit sein sollte, dass ihr Lebenswille erlischt, ich eine hohe Verantwortung dafür trage, ihrem Willen nachzukommen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kruse. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir alt und krank sind, unsere geistigen und körperlichen Kräfte schwinden, verliert unser Leben nicht Sinn und Würde. Der Schriftsteller Walter Jens war ein vehementer Kämpfer für die aktive Sterbehilfe und litt später an schwerer Demenz. Der gesunde Walter Jens konnte sich nicht vorstellen, dass ein solches Leben für ihn noch lebenswert sein könnte. Der an schwerer Demenz erkrankte Walter Jens wollte dann nicht mehr sterben, sondern leben, trotz seiner Patientenverfügung. Das bezeugten die Menschen, die ihn am meisten liebten und am besten kannten: seine Frau und sein Sohn. Und sie ließen ihn leben. Das Urteil des Verfassungsgerichtes, den § 217 StGB, das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe, abzuschaffen, hat uns auf eine schiefe Bahn gebracht. Minderjährige, also unter 18 Jahre, dürfen keine Zigaretten kaufen, weil gesundheitsgefährdend; aber – nach dem Diskussionspapier des BMG, Seite 17, zu Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a – 15‑Jährige sollen einen selbstbestimmten Entschluss zur Selbsttötung treffen können, wenn ein Familiengericht die Einsichts- und Urteilsfähigkeit feststellt. Wirklich? Zigaretten gefährlich, aber Selbsttötung möglich? Die Forderung nach aktiver Sterbehilfe wird lauter, und ich fürchte: Wo nach Suizidbeihilfe Sterbehilfe zur Normalität wird, da verfließen dann auch irgendwann die Grenzen zwischen Tötung auf Verlangen und Tötung ohne Verlangen. Die Niederlande sind ein warnendes Beispiel. Der Medizinethiker Theo Boer hat festgestellt, dass sich dort seit der Legalisierung der Sterbehilfe der extreme Ausnahmefall zum Normalfall entwickelt hat. 4 Prozent aller Sterbefälle dort sind Fälle von Sterbehilfe, ein Drittel so viel wie Coronatote, an und mit Corona Verstorbene, und zehnmal mehr als Verkehrstote, 2020 in den Niederlanden 7 000 Menschen. In Deutschland wären das 30 000. In 235 Fällen waren die Gründe Altersbeschwerden, das Nachlassen der Sehkraft, des Gehörs, Arthritis, Gehbeschwerden, und in 170 Fällen war der Grund Demenz. Meine Damen und Herren, in den Niederlanden ist es zulässig, schwer demenzkranke Patienten auch dann zu töten, wenn sie sich nonverbal heftig dagegen zu wehren versuchen. Stärken wir die Palliativmedizin – das wurde schon oft gesagt –, helfen wir, dass Menschen an der Hand eines Menschen, aber nicht durch die Hand eines Menschen sterben! Ich darf zum Schluss die Deutsche Bischofskonferenz von 1999 zitieren; sie schrieb dazu: Jeder Mensch hat seine Würde, seinen Wert und sein Lebensrecht von Gott her. ... Weil Gott allein Herr über Leben und Tod ist, sind Menschenwürde und Leben geschützt. Daran glaube ich. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Das Wort erhält nunmehr Dr. Nina Scheer, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich hat jetzt doch noch mal der Satz aufgeschreckt: „Es darf nicht zur Normalität werden“, den Herr Thomas Rachel gerade gesagt hat. Man ist vielleicht geneigt, zunächst zu sagen: Okay, Normalität und Sterben, das wollen wir nicht zusammendenken. – Aber in „Normalität“ steckt auch Norm; es steckt auch Geregeltheit, es steckt auch etwas, das wir als Selbstverständnis in unserer Gesellschaft haben. Und der Tod und auch das selbstbestimmte Ausscheiden aus dem Leben gehören zur Normalität; das ist Norm. Das hat das Bundesverfassungsgericht letztendlich auch normiert, indem es unser Grundgesetz ausgelegt hat in der Frage, was Selbstbestimmtheit in der Frage des Aus-dem-Leben-Scheidens heißt. Es hat mit klaren Kriterien formuliert, wann ein Recht zum selbstbestimmten Sterben und damit natürlich implizit auch Sterbehilfe zuzubilligen ist, ({0}) nämlich wenn es sich um einen autonomen, dauerhaften und ernsthaften Willen handelt. Das sind die festen Kriterien, an denen wir uns zu orientieren haben. Ich habe große Demut und auch Ehrfurcht vor der Aufgabe, dass wir uns hier einer Normgebung auf dieser Basis, anhand dieser Kriterien neu widmen, und zwar insofern, als dass es natürlich immer um ganz existenzielle individuelle Situationen geht, bei denen dieses Recht, das wir dann neu zu schaffen hätten, zur Anwendung käme. Es geht um Entscheidungen, die wir nicht zu entscheiden haben; diese sind individuell zu entscheiden. Wir können nur den Rahmen setzen, um diesem Recht, das das Verfassungsgericht verbrieft hat, Geltung zu verleihen. Wenn wir jetzt eine weitere Runde hier im Bundestag drehen, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Gesetzgebung für nichtig erklärte, ihr also den Boden entzog, bei der zuvor eine Kriminalisierung von Sterbehilfe stattgefunden hatte – sie war im Gesetz –, dann ist das eine Ausgangslage, vor der ich Respekt habe, weil ich eines vermeiden möchte: dass wir erneut in eine Situation kommen, einen Rahmen zu schaffen, der wieder Rechtsunsicherheit bringen könnte, wenn er für nichtig erklärt wird, der wieder Kriminalisierung schaffen könnte; denn das könnte eben in der Diskussion darüber, was denn eigentlich an legalisierter Sterbehilfe existiert und was nicht, bedeuten, dass sich die Menschen dem wieder nicht widmen möchten und alles in die Tabuzone schieben. Es darf dann eben nicht als Norm gelten, was aber doch Normalität ist. Es ist Normalität – wir können das nicht leugnen –, dass es Menschen gibt, die selbstbestimmt sterben wollen. Dem müssen wir uns solidarisch mit diesen Menschen stellen; diesen Umständen müssen wir uns stellen. Insofern ist es konsequent, dass wir, wenn wir uns als Gesetzgeber dieser Frage widmen, uns ihr in dieser Einzelfallorientierung widmen. Das heißt also auch, dass ein Straftatbestand nicht in Betracht kommen kann; denn das Bundesverfassungsgericht hat den Regelfall definiert. Der Regelfall ist die Erlaubnis. Wenn wir einen Straftatbestand mit dem Ausnahmefall der Erlaubnis schaffen würden, würden wir die Aussage des Bundesverfassungsgerichts auf den Kopf stellen. Der Regelfall ist nach dem Bundesverfassungsgericht die Erlaubnis. Insofern ist es wichtig – das ist auch in dem Antrag der Abgeordneten Keul, Künast, dem ich mich angeschlossen habe, verbrieft –, dass man im Beratungsrahmen herausfindet: Welche individuellen Fälle werden mit den Kriterien „autonom“, „ernsthaft“ und „dauerhaft“ angesprochen? Das müssen wir identifizieren. Ich hoffe, wir kommen zu einer guten Lösung. In diesem Sinne – meine Redezeit ist abgelaufen –: Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Scheer. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerade nach dieser Rede muss ich sagen, dass es mir noch nie so schwergefallen ist, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wie diese zu akzeptieren. Ich will es begründen: Sie zwingt mich, an einer Regelung mitzuwirken, die ich aus Gewissensgründen grundsätzlich ablehnen muss. Nicht, dass ich es nicht verstehen kann, wenn Menschen sich das Leben nehmen wollen – ich schließe übrigens auch für mich nicht aus, dass ich jemals in eine solche Situation kommen könnte –, aber ich möchte einfach nicht, dass es eine Regelung gibt, die die Beihilfe zur Selbsttötung sozusagen als therapeutische Alternative sieht. Das möchte ich verhindern. Meine Damen und Herren, die meisten Menschen, die sich selbst töten, sind depressiv, alt oder behindert, chronisch krank, pflegebedürftig, verwitwet, arbeitslos oder einsam. Die Suizidforschung weist darauf hin, dass hinter vielen Suizidversuchen eine psychische Erkrankung oder soziale Probleme stehen. Die wenigsten Menschen, die nach einem Suizidversuch professionelle Hilfe erhalten, unternehmen jemals wieder einen Suizidversuch. Wir beobachten, dass sich die Debatte um die Beihilfe zur Selbsttötung verschärft hat, seit unsere Gesellschaft älter wird. Wir führen sie auch vor dem Hintergrund, dass wir überall über Pflegenotstand, über Pflegende und fehlende Hilfe, insbesondere in Einrichtungen, reden. Die Entscheidung von Menschen, die in Einrichtungen gepflegt werden müssen, kann sehr wohl durch die Umstände in einer Einrichtung beeinflusst werden. ({0}) Wenn es ein gesetzlich garantiertes Recht auf assistierten Suizid gibt, dann ist auch klar, dass nicht mehr das Schicksal dafür verantwortlich ist, wenn ich als kranker, alter oder pflegebedürftiger Mensch die Gesellschaft, insbesondere auch meine Verwandten, belaste, sondern dass ich es selber bin, der sie belastet. Wenn assistierter Suizid gesellschaftlich einmal akzeptiert wird, dann trage ich schließlich die Verantwortung dafür, dass ich weiterlebe, die Ressourcen der Allgemeinheit in Anspruch nehmen will und – was wahrscheinlich viel entscheidender ist – meinen Angehörigen zur Last falle. Selbst wenn das objektiv nicht stimmt, reicht allein schon das Empfinden, anderen zur Last zu fallen, um sich moralisch verpflichtet zu fühlen, sich für den Suizid zu entscheiden. Das, meine Damen und Herren, ist keine Spekulation, sondern die Erfahrung aus Ländern, in denen der ärztlich assistierte Suizid schon länger legal praktiziert wird. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht hervor, dass in Oregon, wo es eine solche Regelung schon seit über 20 Jahren gibt, 54 Prozent derjenigen, die sich unter ärztlicher Assistenz das Leben genommen haben, angegeben haben, dass sie Sorge haben, ihrer Familie, Freunden, Pflegenden zur Last zu fallen; so sagt es zumindest der offizielle Jahresbericht zu Oregon aus dem Jahr 2021. Das war dem Bundesverfassungsgericht bekannt. Und es trifft eben die sozial Schwachen. In Oregon handelte es sich in 80 Prozent der Fälle von assistiertem Suizid um Menschen, die nur die Mindestkrankenversorgung wie Medicaid und Medicare hatten. 2008 waren es unter 10 Prozent. Das zeigt den Trend. In dieser Diskussion ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass dieser gesellschaftliche Druck möglicherweise auch auf andere übergreift. Wir haben eben die Diskussion über Menschen mit Demenz geführt. Was ist eigentlich mit Menschen mit Behinderung, die bereits ab Geburt als nicht einwilligungsfähig gelten? Haben die auch ein Recht auf Selbsttötung? Wie wird das umgesetzt? Und wie sieht es aus: Werden wir diese hauchdünne Unterscheidung zwischen der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zur Selbsttötung wirklich beibehalten können? ({1}) Wie will ich jemandem erklären, dass er zwar das Recht auf Selbsttötung hat, aber dass ihm, wenn er nicht in der Lage ist, das Glas zu nehmen, kein anderer dieses Glas geben kann. Ich komme zum Schluss. Ich hoffe, dass wir wenigstens zu einer Regelung kommen, die die Suizidprävention stärkt und die die Schwachen vor vermeintlichem Druck schützt. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hüppe. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Jens Beeck, FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will fast am Ende dieser Debatte daran erinnern, dass wir uns darüber einig sind, dass jeder der Entwürfe, über die wir heute diskutieren, besser ist als der aktuelle Rechtszustand, der nämlich sehr ungeregelt ist, was viele Einzelfragen angeht. Ich glaube, wir sind uns in dieser Debatte auch einig darüber, dass am Ende des gesetzgeberischen Prozesses das klare Votum dieses Hauses steht: Ja, die autonome Selbsttötung mit Assistenz ist zulässig, sie ist dein Recht. – Aber wir müssen genauso klar die Botschaft dagegen- und mit dazustellen: Kein Leben ist eine Last in dieser Gesellschaft. ({0}) Menschliches Leben ist immer ein Wert an sich. Das ändert sich nicht durch Alter und Gebrechlichkeit, das ändert sich nicht durch Behinderung, das ändert sich nicht durch eine Suchtproblematik oder durch die vielen anderen Dinge, die jeden zweifeln lassen können, ob man sich in einer Situation befindet, aus der man noch herausfindet, oder ob man nicht tatsächlich für andere zu einer Last wird. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die wir mit diesem Gesetzentwurf nicht werden lösen können, nämlich diesen Staat weiter so auszubauen, dass wir stärker zu einer integrativen, inklusiven Gesellschaft kommen, die Menschen in solchen Situationen abholt und ihnen klar signalisiert: Du bist uns wertvoll. – Denn jedes menschliche Leben ist wertvoll, und es ist keiner Wertung durch andere zugänglich, ({1}) niemals wieder in diesem Land. An dieser Stelle ist die zivilisatorische Decke manchmal dünn. Die Diskussion um Pränataldiagnostik und viele andere Dinge haben uns das immer wieder gezeigt. Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, zu ermöglichen, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben hat, aber auch zu sagen: Menschliches Leben ist in Deutschland im Jahr 2022 immer wertvoll, und wir werden alles tun, um dich dabei zu unterstützen, es zu erhalten. – Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ich hoffe, daran arbeiten wir auch zusammen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese, SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daran kann ich sehr gut anknüpfen. Auch ich sage als Erstes: In dieser Debatte steht im Mittelpunkt der Mensch, jeder Mensch, die Würde jedes Menschen. Die Würde jedes Menschen ist gleich viel wert, unabhängig davon, ob er alt, krank, leidend, behindert ist. Der Respekt vor der Würde des Menschen, vor der Würde des Lebens leitet mich in dieser Debatte. ({0}) Dabei geht es mir um zwei Dinge: erstens um die Selbstbestimmung, um den freien Willen, und zweitens – das gehört zusammen – um ein Schutzkonzept, das diese Selbstbestimmung sichert. Gerade der Schutz von vulnerablen Gruppen, von Menschen, die in Notsituationen sind, die leiden, ist wichtig. Jedes Leben hat die gleiche Würde, und niemand hat darüber zu urteilen, ob ein Leben weniger oder mehr lebenswert ist. ({1}) Deshalb unterstütze ich den Gesetzentwurf von Lars Castellucci und anderen. Wir wollen, wie das Bundesverfassungsgericht es vorgibt, einen assistierten Suizid nach engen Regeln ermöglichen; aber wir wollen ihn nicht fördern. Wir wollen ihn doch nicht bewerben, wir finden ihn doch nicht gut, sondern wir wollen ihn, wenn Menschen es wünschen, nach bestimmten Regeln – zweimaliges Arztgespräch mit Zeit dazwischen zum Nachdenken – ermöglichen. Aber wir wollen ihn nicht fördern, sondern wir wollen Menschen unterstützen, wenn sie leben wollen. ({2}) Ich war bei der Verkündung des Urteils durch das Bundesverfassungsgericht selbst dabei. Das Bundesverfassungsgericht hat selbstverständlich klar erklärt, dass es auch die Anwendung der Mittel des Strafrechts für möglich hält. Es hat das Strafrecht nicht ausgeschlossen; das klang hier eben so an. ({3}) Deshalb: Ja, wir wollen mit diesem Gesetz Sterbehilfevereine regulieren. Wir wollen nicht, dass es bleibt, wie es jetzt ist, dass sie unbegrenzt machen können, was sie wollen, sondern wir wollen Regeln schaffen, nach denen der assistierte Suizid möglich ist. ({4}) Selbstbestimmung kann nicht ohne den Schutz der Schwachen funktionieren. Die Achtung vor dem Leben gebietet das. Ich will nicht, dass Menschen in Pflegeheimen unter Druck geraten – jeder, der das mal erlebt hat, weiß, wie das ist –, ihr Leben zu beenden, weil dieser Druck, dass der assistierte Suizid doch eine vermeintlich einfache, gute, schmerzfreie, schnelle Lösung wäre, da ist. Ich will, dass sie in diesen Situationen allen Schutz und alle Hilfe bekommen. Selbstverständlich ist Sterbehilfe in Deutschland möglich. Deshalb ist der Titel der Debatte in der Tat falsch. Es geht hier um den assistierten Suizid. Hilfe beim Sterben ist in Deutschland in verschiedenen Formen möglich: palliative Sedierung, Abbruch von Behandlungen. Alles, was in Patientenverfügungen steht, ist natürlich möglich, damit Menschen frei und selbstbestimmt so leben und sterben können, wie sie wollen. Hilfe beim Sterben ist möglich. Es geht darum, wie wir die Hilfe zum Sterben so begrenzt wie möglich regeln. ({5}) Ich befürchte, dass Druck entstünde, wenn der assistierte Suizid ein Normalfall wäre. Und ich will nicht, dass wir bundesweit Suizidberatungsstellen haben, die den assistierten Suizid befördern. Stattdessen brauchen wir bundesweit Suizidprävention. ({6}) Wir brauchen Unterstützung für Menschen in diesen Notsituationen. Kollegin Kappert-Gonther hat es schon gesagt: Erwiesenermaßen – dazu gibt es wirklich viel Forschung; das hat auch Herr Castellucci gesagt – ist der Suizidwunsch ein volatiler. Der Satz „Ich will nicht mehr leben“ bedeutet so oft: Ich will so nicht leben. – Gerade dann kann man so viel Hilfe anbieten. Ich danke allen, die sich in Hospizvereinen engagieren, die sich in der Palliativmedizin engagieren. Davon brauchen wir noch viel mehr: mehr Hilfe, mehr Begleitung, mehr Unterstützung. Niemand muss qualvoll sterben, und vor allem soll niemand alleine sterben müssen. ({7}) Ich will auch deutlich sagen: Gar keine Regelung ist keine Lösung. ({8}) Gar keine Regelung würde Sterbehilfevereinen wie dem von Herrn Kusch Tür und Tor weit öffnen. Diese Situation haben wir jetzt. Das halte ich für ethisch nicht tragbar. Wir müssen uns als Gesetzgeber dieser schwierigen Aufgabe stellen, dafür Regeln zu finden und ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, das die Unterstützung von Menschen gerade in Notsituationen in den Mittelpunkt stellt. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf entwickelt, der den assistierten Suizid nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zwar möglich macht, dafür aber ärztliche Beratung in einem zeitlichen Abstand vorsieht. Und wir haben das verbunden mit einem Antrag, der zum Ziel hat, die Suizidprävention in Deutschland zu verbessern. Wir haben außerdem ausdrücklich gesagt: Für unter 18‑Jährige geht das nicht. Wir reden hier darüber, wie wir leben und wie wir sterben. Das hat viel damit zu tun, welches Bild wir von der Gesellschaft haben. Gerade bei diesem Thema zeigt sich, wie wir die Würde jedes Einzelnen wahrnehmen. Ich freue mich auf gute Beratungen und hoffe auf ein gutes, gemeinschaftliches Ergebnis. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Griese. – Nunmehr hat das Wort der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Der Tod gehört zum Leben, und jedes Leben hat einen Wert. Doch durch ein Leben in Frieden, in Wohlstand und Luxus haben wir dieses ungeliebte Thema „Sterben und Tod“ aus der gesellschaftlichen Mitte irgendwie an den Rand unseres Denkens und Handelns verbannt. Es ist eher die Ausnahme, dass die letzten Stunden und Minuten in der gewohnten Häuslichkeit erlebt werden dürfen, weil wir – Gott sei Dank, sage ich – Senioreneinrichtungen, Krankenhäuser und eine äußerst fähige Hospizinfrastruktur haben. Das hilft uns Angehörigen. Das hilft uns dabei, diese schwersten Stunden durchzustehen. Deshalb geht an dieser Stelle ein herzliches „Vergelts Gott!“ an alle, die hier einen Dienst am Menschen leisten. ({0}) Diese Orientierungsdebatte ist wichtig. Es gibt hier die Gruppe um den Kollegen Pilsinger, die den Vorschlag erarbeitet hat, dass man mit Fachpersonal aus der Psychiatrie Menschen, die den Wunsch des Sterbens in sich tragen, über Alternativen informieren soll. Sie sagt auch, dass assistierter Suizid ermöglicht werden soll, aber nicht gefördert werden darf. 90 Prozent der Suizidfälle entstehen durch und in Ausnahmesituationen. Auch das müssen wir uns vor Augen halten. Ein Missbrauch soll natürlich geahndet und bestraft werden. Es ist klar – darüber sind wir uns einig –, dass Kinder und Jugendliche von der Sterbehilfe ausgeschlossen sind. Ich lege besonderen Wert darauf, dass wir hier gemeinsam darauf bauen, dass die Palliativmedizin und die Hospizbewegung nicht nur Grandioses leisten, sondern auch ein Schlüssel zu einem besseren Leben sein können. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Hand zur Hilfe reichen und in meinen Augen nicht zum Töten. Natürlich muss kein Mensch Schmerzen ertragen. Wir sind medizinisch so weit und können wirklich helfen. Das sollten wir auch tun. Das Erleben des Sterbens meines Vaters hat mich wirklich sehr geprägt. Er sagte: Wer ordentlich gelebt hat, darf auch ordentlich sterben. – Ich habe dies interpretieren lassen. Sein Wunsch war, daheim zu sterben, in seinem Umfeld. Ich glaube, dass es die Chance und auch die Kernaufgabe von Familie ist, aber auch von Kirchen und Glaubensgemeinschaften, das Thema Seelsorge hier in den Mittelpunkt zu stellen. Mich leitet immer noch dieser Satz, den Kardinal Höffner von sich gegeben hat, als er sagte: Der Mensch stirbt nicht an einer Krankheit, sondern dann, wenn Gott ein Leben vollendet hat. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Herbert Wollmann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Herbert Wollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als letzter Redner ist es natürlich nicht so leicht, hier noch Neuigkeiten zu verbreiten; aber ich versuche es am Ende meiner Rede dann doch. Wir wissen, dass im Februar 2020 das Bundesverfassungsgericht den Strafrechtsparagrafen 217 für nichtig erklärt hat, und das mit einer Begründung auf 115 Seiten. Das Gericht hat eindeutig klargemacht, dass die Autonomie des einzelnen Menschen ihn befähigt, über sein Leben und seinen Tod selbst zu bestimmen. Das heißt, die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Rein formal ist die Suizidabsicht nicht nur zu dulden, sondern der Suizid ist auf humane Weise sogar zu ermöglichen. Darüber hinaus ist die Suizidabsicht laut diesem Urteil weder zu begründen noch zu rechtfertigen. Dabei sind weder Alter noch Krankheit eine Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Suizidhilfe. Ich betone, dass dadurch umgekehrt niemand verpflichtet werden kann, Suizidhilfe zu leisten. Warum kommen wir überhaupt zusammen, wenn die Fakten so eindeutig sind? Ist der Suizidhilfe damit jede Beschränkung genommen worden? Nein. Da muss ich Frau Künast widersprechen. Aber wir müssen zusammenkommen. Das Gericht hat den Gesetzgeber ausdrücklich mit einer detaillierten Regulierung der Suizidhilfe beauftragt. Dabei haben höchste Priorität: der Nachweis der Freiverantwortlichkeit, die Wohlerwogenheit und die Nachhaltigkeit des Entschlusses der Suizidwilligen. Außerdem – das wurde auch schon mehrmals betont – darf der Suizidwunsch nicht auf äußeren Druck geäußert werden. Daher kommt der Suizidprävention natürlich mehr denn je eine enorme Bedeutung zu. Soziale Notsituationen, akute Belastungsstörungen und behandelbare Krankheiten, insbesondere aus dem Bereich der Psychiatrie, müssen sicher ausgeschlossen sein bzw. behandelt werden, um einen Suizid zu verhindern. Allein diese Beispiele zeigen, dass es einen vulnerablen Personenkreis gibt, der vor dem Entschluss, sich das Leben zu nehmen, unbedingt geschützt werden muss. ({0}) Wer meine Rede verfolgt hat, dem wird aufgefallen sein, dass ich das Wort „Sterbehilfe“ bis jetzt nicht in den Mund genommen habe. Der Titel – das wurde auch schon gesagt – „Orientierungsdebatte zur Sterbehilfe“ ist im Grunde völlig falsch. ({1}) Wir reden hier über Suizidhilfe. Suizidhilfe und Sterbehilfe sind verschiedene Themenkreise. So ehrenwert ein 100. Geburtstag ist – ich bewundere das –: Das ist nicht der Kern dessen, was wir heute besprechen und demnächst beschließen müssen. ({2}) Das muss ich ganz klar so sagen. Seit jeher leisten Fachkräfte, die sich mit der Medizin am Lebensende beruflich beschäftigen, Sterbehilfe. Auch mir, muss ich allerdings ehrlich sagen, wurden die fundamentalen Unterschiede zwischen Sterbehilfe und Suizidbeihilfe erst im Laufe der Zeit klar. Und damit wurde mir bewusst, dass es eines sehr sensiblen Regelwerkes bedarf, um Missbrauch zu verhindern. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf zwei ganz wesentliche Aspekte eingehen: Mir ist überhaupt nicht klar, wie die Suizidhilfe bei Nichtvolljährigen zu regeln ist. Ich kenne auch keine Positionspapiere, die für eine Gesetzesvorlage tauglich wären, durch die Kinder und Jugendliche ausreichend gewürdigt werden. Ich möchte darauf hinweisen, dass es vor Kurzem mit dem Deutschen Ethikrat ein Onlineformat dazu gab. Gerade dieses Thema wurde sehr ausführlich diskutiert; es ist nicht abschließend zu beurteilen. Wir können uns diesem hochsensiblen Problem nicht verschließen; denn laut Bundesverfassungsgericht – das muss ich betonen – gilt das Urteil in jeder Phase der menschlichen Existenz – ich wiederhole: in jeder Phase der menschlichen Existenz –, was auch immer das zu bedeuten hat. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates ist erst im September zu erwarten; das haben uns Mitglieder dieses Rates am vorigen Mittwoch mitgeteilt. Das heißt, wir sollten jetzt nicht versuchen, vorschnell Dinge umzusetzen, die in der vorherigen Legislaturperiode versäumt wurden. Danke. ({3})

Bernhard Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005083, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie bitten, einmal kurz innezuhalten und an das Jahr 2020 zurückzudenken, genau genommen an den Herbst. Unter dem Motto „30 Jahre. 30 Tage“ feierten wir ein Fest zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam – ein Jubiläum, das daran erinnert hat, wie sich drei Jahrzehnte zuvor mutige Frauen und Männer in der DDR friedlich gegen die SED-Diktatur aufgelehnt haben. Wir haben uns getraut und haben Widerstand in einer Diktatur geleistet. Unser Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung war ungebrochen. Als wir im Jahr 2020 unser Jubiläum feierten, blendeten wir viel aus, zum Beispiel den bereits seit Jahren andauernden Krieg in der Ostukraine. Wir ahnten nicht, welche Konsequenzen das haben würde – auch für uns. Während sich für viele Menschen im westlichen Teil unseres Landes infolge der Wiedervereinigung kaum etwas veränderte, außer, überspitzt gesagt, ein paar Zahlen auf dem Lohnzettel – durch den Soli, den ja alle zahlten –, wurden im anderen Teil unseres Landes ganze Leben auf den Kopf gestellt. Während die einen wie gewohnt in ihren Sommerurlaub fuhren, wurden die anderen über Nacht arbeitslos. Während die einen in ihrem gewohnten Umfeld wohnen blieben, als wäre nichts gewesen, mussten die anderen ihre Familien verlassen und Arbeit in anderen Teilen der Republik suchen. Von einem Tag auf den anderen mussten sich Ostdeutsche in einem völlig fremden System zurechtfinden. Sicherlich, all das geschah aufgrund des Wunsches nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch solche Umbrüche gehen auch an einem nach Freiheit strebenden Menschen nicht spurlos vorbei. Mit diesen Schilderungen geht es mir ausdrücklich nicht darum, Wunden und Gräben zwischen Ost und West aufzureißen, sondern darum, gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Auch wenn die Transformation seit der Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Aufgabe ist: Die starken politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einschnitte erfuhren die Menschen in Ostdeutschland. Den Westdeutschen blieben sie überwiegend unbekannt. Wenn wir von Transformation sprechen, sollten wir also immer beachten, dass dahinter ganz konkrete Biografien, ganz reale Menschen mit beachtlichen Lebensleistungen stehen. ({0}) Das Zukunftszentrum kann mit einer wissenschaftlichen und kulturellen Aufarbeitung im Dialog dies aufzeigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Während wir in den vergangenen Jahrzehnten den Blick stark nach innen richteten und eine eher innerdeutsche Perspektive auf den Transformationsprozesses einnahmen, klammerten viele die historische europäische Perspektive aus. Dabei gab es bereits in den 70er- und 80er-Jahren in Polen, in Ungarn, in der ČSSR und auch in der DDR zivilgesellschaftliche Bestrebungen nach demokratischer Selbstbestimmung und der Wahrung der Menschenrechte. Doch das – und nicht nur das – wissen hierzulande viele nicht. Möglicherweise waren fehlendes Wissen oder die fehlende Sensibilität die Gründe auch dafür, dass die Maidan-Proteste in der Ukraine Ende 2013, Anfang 2014 bei vielen schnell in Vergessenheit gerieten. Unsere Erinnerungskultur bot für die demokratischen Bestrebungen in Ost- und Mitteleuropa, weder vor dem Zerfall der Sowjetunion noch danach, jenseits von Sonntagsreden nicht viel Platz – und das trotz durchaus ähnlicher Erfahrungen zumindest der Ostdeutschen. Die Frage nach dem Warum müssen wir uns alle stellen. Und so mahnen uns die Ereignisse in der Ukraine und der seit dem 24. Februar andauernde Angriffskrieg Russlands, den Blick nicht nur auf uns selbst zu richten. Vielmehr sollten wir den Betrachtungsradius auf die Transformation in Europa erweitern. So kann ich persönlich die Unterzeichner/-innen des offenen Briefes, darunter über 95 Wissenschaftler/-innen, an der Stelle gut verstehen. Denn um die Transformation der 90er-Jahre zu verstehen und einzuordnen, muss deren Vorgeschichte seit den 1970er-Jahren ebenso einbezogen werden wie ihr gesamteuropäischer Rahmen. Das Zukunftszentrum sollte als Brückenbauer zwischen Ost- und Westeuropa fungieren, um die Geschichte der postkommunistischen Regionen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa bekannter zu machen und den Einsatz der Zivilgesellschaft für Demokratie in diesen Ländern zu würdigen. Denn eine nationale Betrachtung der Geschichte greift zu kurz. Nur wenn wir auch an dieser Stelle gegenseitiges Verständnis aufbringen, kann Europa zusammenwachsen. ({1}) Nach mehr als drei Jahrzehnten im vereinigten Deutschland ist es wichtig, dass unser Land weiterhin eng mit seinen Nachbarn zusammenarbeitet und wir gemeinsam die Demokratie in Deutschland und in ganz Europa stärken. Nun geht es darum, den Standort in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Thüringen in einem Standortwettbewerb auszuloten und die Gestaltung des Zentrums mit einem gesamteuropäischen Blick auf die Geschichte Deutschlands und Ost- und Mitteleuropas zügig und transparent voranzubringen. Eine breite gesellschaftliche Debatte zur Stärkung des Profils des Zukunftszentrums wäre sehr wünschenswert. Ich bin davon überzeugt, dass das Zukunftszentrum als Begegnungsort einen wichtigen Beitrag zum Diskurs zwischen Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft leisten wird und so für die Folgen der Transformationserfahrungen Deutschlands und seiner Nachbarn gegenseitiges Verständnis schaffen und den europäischen Zusammenhalt fördern wird. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herrmann. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 7. Oktober 1989 feierte die greise Regierung der DDR in Ostberlin pompös den 40. Jahrestag der Staatsgründung. An diesem Tag gingen in Plauen, meiner Heimat, rund 15 000 mutige Menschen auf die Straße. Sie protestierten gemeinsam gegen die Zustände im Land. Jörg Schneider, ein ehemaliger Wehrpflichtiger bei den Grenztruppen, hatte zuvor heimlich Flugblätter verteilt und zu dieser Demonstration aufgerufen. Wie von Geisterhand setzte sich damals der Demonstrationszug ohne erkennbare Führung in Bewegung. Erste Sprechchöre wurden laut. Die ersten Transparente für Reformen, Reisefreiheit und Frieden erschienen. Die Staatsmacht setzte Wasserwerfer ein, doch es gelang nicht, die Menge aufzulösen. Das war der Beginn der Großdemonstrationen in der DDR. Der Wille zur Veränderung und das Verlangen nach Freiheit waren stärker als die Angst vor dem Sicherheitsapparat, vor Maschinenpistolen und Wasserwerfern. In Plauen nahm die Friedliche Revolution ihren Anfang. Ohne diese Friedliche Revolution hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Die Wiedervereinigung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das große deutsche Glücksereignis unserer jüngeren Geschichte. Aus „Wir sind das Volk“ wurde auch damals schnell „Wir sind ein Volk“. Und es folgten beispiellose Transformationsentwicklungen in den neuen Bundesländern, ebenso wie in allen Ländern Mittel- und Osteuropas. Schmerzhaft waren sie gleichwohl. Sie haben Narben hinterlassen. Aber wenn man heute durch unsere Städte und Gemeinden geht, sieht man auch, was alles entstanden und gelungen ist. ({0}) Auch die europäische Einheit, meine Damen und Herren, ist damit fest verbunden; ein weiterer großer Glücksfall, auch und gerade für uns Deutsche. Meine Fraktion unterstützt die gute Idee eines Zentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit. Diese wurde von der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ der letzten Bundesregierung erarbeitet. Wir danken allen Mitgliedern für die Arbeit, und wir begrüßen auch das erarbeitete Konzept, welches auf drei Säulen fußt: Wissenschaft, Kultur sowie Dialog und Begegnung. Die staatlichen, wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Veränderungen seit 1989 und 1990 und ihre Auswirkungen auf die Menschen sind bisher sehr wenig systematisch erforscht. Aus diesen Erfahrungen und mit dem europäischen Blick können wir für die kommenden Transformationen auch wertvolle Schlüsse ziehen. Wir sollten auch heute schon definieren, wie wir diese wissenschaftlichen Erkenntnisse für nachfolgende Generationen nutzbar machen. Wie finden sie zum Beispiel ihren Weg in die Schulbücher? Für ebenso wichtig halte ich das geplante Vorhaben, neue Formate des Gesprächs zwischen Bürgerschaft, Fachleuten und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern zu finden. „Wir müssen reden“ trifft es ziemlich gut. Es besteht innerdeutscher und grenzüberschreitender Gesprächsbedarf, immer noch und immer wieder. Dem sollten wir Raum geben. Jetzt gibt es eine Vielzahl von guten Ideen, Bewerbungen, und vor allem gibt es eine breite Debatte. Die sehen wir aber noch am Beginn. Wir plädieren also dafür, jetzt nichts zu überstürzen, uns eher ein paar Monate mehr Zeit zu nehmen und die Fenster und Türen der Diskussion weit offenzuhalten, natürlich dann mit einem Ergebnis zum Standort, vor allem aber zum Konzept. Der Deutsche Bundestag, wir als Abgeordnete, sollten dabei ein sehr zentraler Akteur sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns unbedingt mit einem Impuls aus der Zivilgesellschaft – getragen unter anderem auch von fünf ehemaligen Kommissionsmitgliedern – befassen. Sie fordern – ich zitiere – eine Weiterentwicklung zu einem Europäischen Freiheits- und Zukunftszentrum, „das die politischen und kulturellen Bündnisse zwischen der deutschen Zivilgesellschaft und den europäischen Nachbarn stärkt, um gemeinsam Freiheit und Demokratie gegen autoritäre Herrschaft zu verteidigen.“ Im Angesicht der aggressiv-imperialistischen Politik des autokratischen Putin-Russlands spricht vieles dafür, dies einzubinden. ({1}) Es gibt auch schon Vorbilder in den Europaregionen, beispielsweise in der Euregio Egrensis. Hier haben Bayern, Sachsen, Thüringen und Tschechien gemeinsam schon viel Erfahrung mit großen wie kleinen grenzüberschreitenden Projekten. An dieser Nahtstelle zwischen Mittelosteuropa, Ost- und Westdeutschland werden Transformationsprozesse gemeinsam erlebt und bewältigt, und diese gilt es wissenschaftlich mehr zu nutzen. Zum Schluss, lieber Herr Präsident: Auch die weiteren guten Empfehlungen der Regierungskommission sollten umgesetzt werden, beispielsweise das angedachte ostdeutsche Begabtenförderungswerk. Nun, liebe Bundesregierung, lieber Carsten Schneider, seid ihr gefragt und gefordert. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Magwas. – Sie haben gesehen, dass mein schleswig-holsteinisches Herz den Sachsen gegenüber sehr, sehr großzügig war. Nächster Redner ist der Herr Staatsminister Carsten Schneider für die Bundesregierung. ({0})

Carsten Schneider (Gast)

Politiker ID: 11003218

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren an den Bildschirmen! Liebe Kollegin Magwas, vielen Dank für Ihre Rede – er gilt auch den Kolleginnen und Kollegen, die noch folgen oder bereits gesprochen haben – und auch für die Unterstützung des Zentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Es ist – wie bereits ausgeführt wurde – ein Auftrag aus der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, die vor drei Jahren eingesetzt wurde. Leider haben bisher insbesondere die Begegnungen zwischen Menschen aus Ost und West, Nord und Süd, aber auch aus Groß- und Kleinstädten oder auch die Begegnungen von Leuten, die vor 1990 geboren wurden oder die nach 1990 geboren wurden, maximal an der Bildschirmkachel stattfinden können. Das ist bedauerlich, weil es Zeit gewesen wäre, nach diesen aufregenden, spannenden, umwälzenden 30 Jahren einmal kurz innezuhalten und sich zu fragen, was es mit unserer Gesellschaft gemacht hat, ob wir eng beieinander sind oder ob wir uns vielleicht mental auseinanderbewegen oder ‑bewegt haben oder ob zwischen Stadt und Land die Unterschiede eigentlich viel größer sind, als sie zwischen Ost und West sind. Das alles sind spannende Fragen, die in diesem Zukunftszentrum besprochen werden sollen, wie auch die Frage der Transformation – das klingt sehr technisch –, also die komplette Umwälzung einer Gesellschaft von der totalen Sicherheit im Sinne von „Dein Arbeitsplatz ist sicher, dein Leben wird gesteuert“ zu „Du kannst alles selbst in die Hand nehmen und bist frei“. Diese Freiheit ist für viele in Erfüllung gegangen. Für mich, der ich zur Wende 14 Jahre alt war, und für meine Familie kann ich das sagen. Ich kenne aber auch andere, bei denen das nicht der Fall war. Was wir vor allem mit diesem Zentrum machen wollen, ist, wieder Interesse füreinander zu wecken, also für die unterschiedlichen Begegnungen zwischen Ost und West. Ich kann nur sagen: In meiner Zeit in Erfurt hatten wir den ersten Austausch mit einem katholischen Mädchengymnasium in Limburg. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, als wir dort als 14-jährige Plattenbaukinder aufschlugen. Es war ein Kulturschock, der da stattgefunden hat, aber es war ein spannender und ein interessanter. So viel kann ich verraten, und meine Freunde von damals wissen noch genau, was ich meine. Solche Begegnungen haben allerdings weniger in den letzten Jahren stattgefunden, um ehrlich zu sein. Ich finde, dass diese Begegnungen nicht nur notwendig sind, sondern dass es eine Gesellschaft auch ausmacht, zu reflektieren und neugierig zu bleiben. Wir starten diesen Standortwettbewerb so, wie Sie ihn mit uns beauftragt haben – vielen Dank für diese Unterstützung. Wir starten ihn ergebnisoffen und auch ortschaftsoffen, um das ganz klar zu sagen. Wir legen die Kriterien an, die die Einheitskommission und auch die letzte Bundesregierung in ihrem Beschluss im Juni gefasst haben und die Sie auch im Antrag wiederfinden. Ich möchte Sie auch herzlich dazu einladen, dass wir diese Entscheidung durch eine Konsultation mit den Fraktionen in einer Jury treffen. In dieser Jury möchte ich – das will ich klar sagen – gar kein Stimmrecht haben, weil ich nicht möchte, dass es so aussieht, als sei das Ergebnis vorgegeben. Es ist offen, und ich bin wirklich sehr begeistert, wie viele Städte in Ostdeutschland Interesse daran zeigen, dass es diesen bundespolitischen Leuchtturm geben soll. Ich hatte Gelegenheit, mir das bei Frau Kollegin Magwas in Plauen anzugucken; es gab aber auch Einladungen aus Jena, aus Frankfurt/Oder, denen ich – wie auch die Kommission – nachkomme. Der zweite Punkt, den ich noch ansprechen will: Es geht nicht darum, dass wir eine „Nabelschau Ost und West“ machen, sondern darum, dass wir den europäischen Blick weiten. Deswegen habe ich meine erste Dienstreise ins Ausland in meiner Funktion als Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland auch ganz bewusst nach Prag gemacht. Ich kann Ihnen berichten, dass die tschechische Regierung klar gesagt hat, dass sie sich an diesem Projekt beteiligen, sich mit einbringen will. Ich werde mit ihrer Unterstützung im Juni nach Polen reisen, um auch dort dafür zu werben, dass wir die mittel- und osteuropäischen Länder als Bestandteil der neuen Europäischen Union, aber eben auch als früherer Bestandteil der anderen Seite des Eisernen Vorhangs sehen. Wir Ostdeutsche sind sehr froh und dankbar für die Solidarnosc-Bewegung in Polen, aber auch für die Unterstützung aus Ungarn oder durch die Prager Botschaft. Wir sind dankbar, dass dort die Bewegungen hin zur Freiheit stattfanden, die uns die Möglichkeit gegeben haben, die Mauer einzureißen. ({0}) Zu oft habe ich – das will ich selbstkritisch sagen – den politischen Blick nach Westen gerichtet – damit meine ich nicht Koblenz, sondern Paris, London, Washington – und zu wenig und zu selten nach Vilnius, Bukarest oder Prag. Ich finde, dass dieser Blick uns als Bundesrepublik Deutschland guttut, und ich lade Sie herzlich dazu ein. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Unser Problem mit dem Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit ist nicht, dass die Lebensleistung der Ostdeutschen gewürdigt und wissenschaftlich erforscht werden soll, dass Ausstellungen und Bürgerdialoge dazu stattfinden. Wir sind die Letzten, die das nicht unterstützen würden. Unser Problem ist, dass dieser Aspekt zugunsten der sogenannten Europäischen Transformation immer weiter in den Hintergrund tritt. Auf den letzten Metern haben Sie auch den Titel geändert: Die „Deutsche Einheit“ steht jetzt nur noch an zweiter Stelle; das lässt tief blicken. Sie versuchen hier, das historische Narrativ zu etablieren, die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit seien quasi nichts anderes gewesen als eine Art Durchgangsstadium zu einem bunten und vielfältigen EU-Europa; aber die Bürger der DDR, meine Damen und Herren, sind 1989 unter Einsatz ihres Lebens für ihre Freiheit in einem geeinten und souveränen Deutschland auf die Straße gegangen und nicht dafür, dass unsere Souveränität an einen europäischen Superstaat mit Sitz in Brüssel verscherbelt wird. ({0}) Ihr Antrag spricht ja nur sehr abstrakt und verwaschen von Transformation. Der Klartext findet sich in den Vorschlägen der sogenannten Konferenz zur Zukunft Europas, die das EU-Parlament in seiner letzten Sitzungswoche quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt hat. ({1}) Was kommt da alles auf uns zu? – Eine gemeinsame europäische Armee, vereinheitlichte Steuerpolitik, verschärfte Sanktionsmöglichkeiten gegen einzelne Mitgliedstaaten, Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips sowie gesamteuropäische Volksabstimmungen – mit anderen Worten: Die Südländer werden demnächst mit ihrer Mehrheit über die Zahlungsverpflichtungen Deutschlands entscheiden. Ganz wichtig ist Ihr Lieblingsprojekt: die Umsetzung einer gemeinsamen und kollektiven Migrationspolitik inklusive Aufklärung von Kindern ab Beginn der Grundschule über Migration und Integration. ({2}) Meine Damen und Herren, ein amerikanischer Bundesstaat wird mehr nationale Souveränität besitzen als Deutschland nach diesen Reformen. ({3}) Wir werden zu einer tributpflichtigen Provinz Brüssels herabgestuft, und Sie alle, die sich demokratisch nennenden Parteien, haben dem in Straßburg zugestimmt. Das ist das Gegenteil von demokratisch; denn ohne das deutsche Staatsvolk als Souverän hört die Demokratie in Deutschland zu existieren auf. ({4}) Das sollten Sie dem Volk zumindest auch offen sagen. Vor diesem Hintergrund weist all die plakative Bürgerbeteiligung in der Zukunftskonferenz, wie jetzt auch in dem Zukunftszentrum, doch einen deutlichen Alibicharakter auf. Man kann sich des Eindrucks einer Demokratiesimulation nicht erwehren, zumal Sie ja vor allem die sogenannte Zivilgesellschaft einbeziehen wollen, also regierungskonforme NGOs, die Sie sich mit Steuermitteln zuvor selbst herangezogen haben. Und wenn wir dann noch lesen, im Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, es gebe – ich zitiere – „noch immer ein signifikant höheres Niveau an Rassismus, Fremden- und Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland“, daher solle sich „das zu gründende Zukunftszentrum … der Frage nach den Bedingungen weltoffener und damit zukunftsfähiger Verhältnisse in Ostdeutschland mit besonderer Vordringlichkeit widmen“ – in großen Lettern geschrieben! ({5}) Da wird doch die arrogante Attitüde offenbar, die Sie den Ostdeutschen in Wahrheit immer noch entgegenbringen. ({6}) Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass man in Dresden oder Rostock keine Verhältnisse wie in Frankfurt-Bahnhofsviertel oder in Duisburg-Marxloh haben will. Das ist absolut legitim, und es ist infam, das als Rassismus zu diffamieren, meine Damen und Herren. ({7}) Ich komme zum Schluss. Wir stimmen dennoch nicht gegen ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit“, sondern wir werden uns enthalten, vor allem wegen der positiven Potenziale. Wenn Sie mit der ost- und mitteleuropäischen Vernetzung wirklich Ernst machen und wirklich Vertreter der Mehrheitsmeinung – etwa aus Polen oder aus Ungarn – zu Wort kommen lassen, dann könnte hierzulande sogar manche Verirrung in Sachen Migration oder europäische Zentralisierung heilsam korrigiert werden. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Jongen. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen zurück zum Thema. ({0}) Die Bilder prägten sich ein: Am 27. Juni 1989 durchschnitten der Außenminister Ungarns, Gyula Horn, und sein österreichischer Kollege Alois Mock bei Sopron den Grenzzaun zwischen beiden Ländern. Der erste Zaun zwischen Ost und West öffnete sich, die Grenzen im Herzen Europas folgten. Die Mauer wurde eingedrückt, der Eiserne Vorhang war Vergangenheit. Das waren die sichtbaren Zeichen einer Bewegung der Menschen, ihres Kampfes für Freiheit und Demokratie. Die Friedliche Revolution erfasste die DDR, die Samtene die Tschechoslowakei und die Singende das Baltikum. Die in Polen losgetretenen Wellen setzten sich fort und erfassten die Menschen in der Sowjetunion, in den Ländern des Warschauer Paktes bis weit an die bulgarische Schwarzmeerküste mit einer unvergleichlichen Dynamik. Die Freiheit hatte gesiegt. Aus sozialistisch geprägten Gesellschaften entstanden marktwirtschaftlich orientierte Demokratien. Aus den gelebten Utopien des real existierenden Sozialismus wurden mit einem Schlag Transformationsgesellschaften, in denen die Menschen ihren Platz neu finden mussten. Der Systemwechsel traf die Menschen unvorbereitet und mit allen Konsequenzen für ihr Leben – ihr berufliches und vor allem ihr privates Leben. Ja, es gab gesellschaftliche Brüche, die bis heute nicht geheilt sind, und große Enttäuschungen, die bis heute nicht überwunden sind. Das lässt sich nicht beschönigen und auch nicht leugnen, und doch: Ostdeutsche Städte und Gemeinden haben sich zu Boom-Regionen mit hoher Wirtschaftsdynamik, hervorragender Lebensqualität, einer exzellenten Hochschullandschaft und großer Innovationskraft entwickelt. ({1}) Zukunftsweisende Unternehmen schaffen neue Arbeitsplätze, gerade auch in letzter Zeit. Heute ist der Lebensstandard der Menschen in Ostdeutschland deutlich gewachsen. Natürlich gibt es weiter Aufholbedarf. So unvorbereitet der Systemwechsel kam – die danach gemachten Erfahrungen bei uns und unseren Nachbarn scheinen auch vieles gemeinsam zu haben. Von diesen Erfahrungen zu lernen, ist der Weg, den wir mit dem Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit beschreiten wollen. Mit diesem Zukunftszentrum bekommen wir eine Einrichtung, einen Thinktank von gesamteuropäischer Bedeutung, eine Bedeutung, die das Europäische Zentrum der Solidarnosc in Danzig bereits hat. Es erinnert an die Geschichte und behauptet sich auch in Zeiten nationalkonservativen Gegenwinds. ({2}) – Ihren Gegenwind ertragen wir auch. ({3}) Es arbeitet für unsere gemeinsame europäische Identität. Es mahnt an die Bedeutung von Frieden, Demokratie und Freiheit, und daran werden wir auch Sie immer erinnern. ({4}) Heute ist das wichtiger denn je. Das Gemeinsame ist das zentrale Element, das das Zukunftszentrum künftig in den Mittelpunkt stellen soll. Wir wünschen uns, dass die Erfahrungen so vieler Menschen, die glücklichen und die bitteren, die Lebensleistungen eine größere Würdigung erfahren, damit gesellschaftliche Brüche geheilt und Enttäuschungen überwunden werden. Wir wollen, dass das Zukunftszentrum ein Ort wird, der breit getragen wird und zeigt, dass die deutsche Einheit immer ein Teil einer europäischen Einigung war. Daran wollen wir arbeiten, gemeinsam, für die Menschen in Deutschland, für die Menschen in Europa. Danke. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin eine große Freundin der Wissenschaft, doch was in diesem Zentrum untersucht werden soll, das kann Ihnen jeder Ostdeutsche auf der Straße erzählen. Wenn Sie untersuchen wollen, warum viele Menschen in Ostdeutschland die deutsche Einheit als fremdgesteuert wahrnehmen, schauen Sie doch einfach mal, wer in den Chefetagen in Ostdeutschland und in der Bundesregierung sitzt. Da kann man die Ostdeutschen mit der Lupe suchen, und das ist für viele Fremdbestimmung. Das ist doch wohl klar. ({0}) Oder schauen Sie sich die Geschichte der Treuhand an. Das war eine Industrievernichtungsmaschine. Sie hat den maximal möglichen Schaden verursacht. ({1}) Sie hat Ostdeutschland deindustrialisiert, und die Abwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Kultur haben in Ostdeutschland dauerhaften Schaden angerichtet. Und darüber müssen wir reden, meine Damen und Herren. ({2}) Auf unsere Nachfrage hat die Bundesregierung berichtet, dass von 1998 bis heute 90 Prozent aller öffentlichen Bibliotheken und nahezu zwei Drittel der Theater in Ostdeutschland geschlossen wurden. Ebenso verhält es sich mit den Kinos, und selbst jedes zweite Orchester im Osten ist mittlerweile spurlos verschwunden. Das ist der falsche Weg, meine Damen und Herren. ({3}) Darum muss doch die richtige Schlussfolgerung sein: Wir müssen endlich wirksame Dinge für die Menschen in Ostdeutschland tun. ({4}) Wir müssen verhindern, dass ein großer Teil der ostdeutschen Rentner in Altersarmut fällt. ({5}) Tun Sie etwas, damit die Menschen ihre Miete und ihre Heizkosten bezahlen können! Wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen, dann reicht ein Zukunftszentrum nicht aus, sondern wir brauchen in jeder Stadt ein Kulturhaus und einen öffentlichen Sportplatz. ({6}) In den Kommunen fehlen über 159 Milliarden Euro an Investitionen, hat uns die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, vorgerechnet. Allein für Schulen fehlen über 45 Milliarden Euro. Also müssen wir hier mehr Geld reinstecken; denn in Schulen und Universitäten wird gelehrt und geforscht, und dort sollen Jugendliche die Demokratie jeden Tag erleben können. ({7}) Und vor allem – das ist die feste Überzeugung der Linken – sollen die Jugendlichen lernen, dass Krieg kein Mittel der Politik mehr sein darf und dass Aufrüstung keinen Frieden sichert. ({8}) Meine Damen und Herren, eine europäische Zukunft werden wir nur haben, wenn wir sie gemeinsam friedlich gestalten. Und das ist unser Grundanliegen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lötzsch. ({0}) – Der Kollege Birkwald weist darauf hin, dass die Linke die Redezeit nicht ausgeschöpft hat. – Das hilft aber auch nicht weiter, Kollege Birkwald. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Budde, SPD-Fraktion. ({2})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie bei Facebook Werbung bekommen mit der Frage „Sind Sie 1965 geboren oder früher?“ und dann das Angebot für ein superkleines leistungsfähiges Hörgerät kommt oder wenn Sie beim Eintragen des Geburtsjahres im Formular so lange zurückscrollen müssen, dass Sie schon denken: „Kommt das noch?“, dann wissen Sie: Sie haben schon ein ganz schönes Stück Lebenszeit hinter sich gebracht. ({0}) Bei mir ist das jedenfalls so, und ich sage für mich: Es war eine gute Lebenszeit bis hierher, eine Lebenszeit in zwei Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich war Teil einer friedlichen Revolution, ich habe die SPD, eine freie, demokratische Partei, in meiner Region mit gegründet und aufgebaut. Ich war Teil des Aufbaus meines Bundeslandes. Ich habe Strukturbrüche gesehen und Strukturwandel gestaltet, als Landespolitikerin, als Landesministerin, zum Teil erfolgreich; aber oft genug bin ich auch gegen Wände gerannt. Ich habe als junge Diplom-Ingenieurin erlebt, wie mir schlechter qualifizierte Erwachsenenbildner aus dem Westen etwas beibringen wollten und wie Haupttechnologen großer ostdeutscher Betriebe den Kopf eingezogen haben, weil sie nicht wussten, was sie im neuen System sagen dürfen. Ich habe miterlebt, wie meine Eltern mit Ende 50 aus dem Berufsleben ausscheiden und ihr Leben komplett neu sortieren mussten, und ich habe gelackte junge Typen von McKinsey und Arthur D. Little erlebt, die noch nie einen Betrieb von innen gesehen hatten, die uns aber erzählen wollten, wie man die Betriebe umstrukturiert. ({1}) Und ich habe auch miterlebt, wie viel Gestaltungswillen, wie viel Mut und Kraft in einer Gesellschaft steckt, obwohl der Alltag ihrer Menschen von einem Tag auf den anderen komplett anders war. ({2}) Was aber mein persönliches Leben beschreibt, ist, dass ich immer Teil derer war, die gestaltet haben. Für viele Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa war und ist das anders. Sie waren und sind Teil eines Prozesses, aber mit weit weniger aktiven Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Wir wissen heute, dass die Zeit nach 1990 nur sehr wenig mit Strukturwandel, dafür aber umso mehr mit Strukturbrüchen zu tun hatte. Das war in Ostdeutschland so; aber wir wurden durch das wiedervereinte Deutschland in einem gemeinsamen System nicht nur sozial aufgefangen, sondern für uns gab es eine besondere, bessere Situation. Und trotzdem behaupte ich, dass auch heute noch in den Tiefen der weiter westlich liegenden deutschen Bundesländer sehr vielen nicht klar ist, wie groß der Bruch 1990 war, dass er gesellschaftlich viel, viel tiefer ging, als vermutet wird, und daraus auch ein Teil der deutsch-deutschen Missverständnisse resultiert. ({3}) Das ist weder Jammern noch Anklagen. Wer mich kennt, weiß, dass ich weder das eine noch das andere tue. Der Weg aus der Diktatur heraus und hinein in die demokratische Gesellschaft war und ist für mich alternativlos. Aber wenn man selbst nicht Teil einer so tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation ist, hat man ganz andere Alltagssorgen, und die prägen dann eben auch das Verständnis. Um aber zu verstehen und zu lernen, müssen Strukturwandel, Strukturbruch und Transformation mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen stärker noch in den Fokus rücken. Eine Säule des Zukunftszentrums soll diese gigantische Aufgabe übernehmen. Diese Transformationsforschung muss in ständiger Auseinandersetzung mit der Gesellschaft stattfinden, an einem Ort, wo Veränderung auf Veränderung trifft und wo geballte Bevölkerungsmeinung auf Wissenschaft trifft. Meine Damen und Herren, wie viel härter muss der Prozess in den osteuropäischen Nachbarländern gewesen sein? Und das war er auch. Die Entwicklung Ostdeutschlands muss deshalb auch immer im Kontext mit der Entwicklung in Osteuropa gesehen werden. Ivan Krastev schreibt immer wieder sehr deutlich darüber, warum Regionen oder Nationen, die gezwungen werden oder die sich auch selber dazu entscheiden, andere gesellschaftliche Systeme anzunehmen, sie zu imitieren, nicht glücklich werden. Sein Zitat: Das Leben des Imitators wird zunehmend von Gefühlen der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Abhängigkeit und des Verlusts der eigenen Identität beherrscht. Es lohnt sich übrigens, seine Aufsätze in Gänze zu lesen; denn auch wenn er eigentlich über die osteuropäischen Staaten schreibt, so beschreibt er ein Problem, das wir alle gemeinsam auch in Deutschland haben, in dem Prozess, den Willy Brandt mit den Worten beschrieben hat: Es wächst zusammen, was zusammengehört. – Aber es wächst noch. Den Satz „Wir wollen kein Imitat des Westens sein“, den höre ich und hören viele von uns seit über zwei Jahrzehnten auch in Ostdeutschland, und das müssen wir ernst nehmen. ({4}) Deshalb brauchen wir den Dialog miteinander – gesellschaftlichen Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Regionen, zwischen Generationen –, Debattenort und Begegnungszentrum. Das soll die zweite Säule des Zukunftszentrums sein. Wir brauchen in unserer Zeit mit ihren großen globalen neuen Herausforderungen keine Fragmentierung der Gesellschaft, sondern wir brauchen Zusammenhalt, einander Verstehen – im besten Falle Verständnis füreinander – und die aktive Entscheidung dafür, die Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Und was wäre Dialog ohne Kultur? Deshalb steht über der dritten Säule des Zukunftszentrums das Wort „Kulturzentrum“. Wer eine Ahnung davon bekommen will, von welcher Idee wir uns dabei haben leiten lassen, sollte sich das Solidarnosc-Zentrum in Danzig ansehen. Ständige und temporäre Ausstellungen, kulturelle Bildung, künstlerische Auseinandersetzung mit Phänomenen der gesellschaftlichen Transformation, Würdigung gesellschaftlicher und individueller Lebensleistung, Austausch über die geschichtliche Entwicklung bis ins Heute und Ideenentwicklung für das Morgen, Wanderausstellungen in die Republik – das ist nur eine unvollständige und kursorische Beschreibung. Trotz der unterschiedlichen Entwicklungen im neuen, größeren Europa haben wir über die Jahre ein gutes, ein neues Europa, ein stärkeres Europa aufgebaut, das sich in Krisen gegenseitig stützt. Und wir erleben seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, wie stark dieses neue Europa trotz der Unterschiedlichkeiten ist. Wir stehen alle vor großen Herausforderungen. Die nächsten Transformationsprozesse stehen ins Haus. Energie ist dabei ein großes Thema. Die Auswirkungen auf die Automobilindustrie betreffen alle Regionen Europas mit ihren Arbeitsplätzen. Deshalb: Lassen Sie uns gute Ideen für ein gutes gemeinsames Morgen entwickeln! Ein Dank noch zum Schluss an alle, die in der Kommission und an dem Zukunftszentrum mitgearbeitet haben. Als Teil beider Gruppen weiß ich, wie arbeitsaufwendig und intensiv der Prozess war. Eine Entschuldigung an die CDU/CSU-Fraktion! Ich will es hier auch sagen: Sie sind als Koalitionspartner der letzten Legislatur gleichsam mit Geburtshelfer dieses Zentrums. Es ist mein Versäumnis; ich habe Sie einfach zu spät eingebunden, sonst hätte es auch ein gemeinsamer Antrag sein können. Ich würde mich aber freuen, wenn wir den Prozess weiter alle gemeinsam begleiten würden, wenn wir im Plenum und auch im Ausschuss beraten. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Schon wieder hatte ich ein großes Herz. ({0}) – Ich bin gebürtiger Niedersachse; insofern schließt sich der Reigen. ({1}) Nun ist der nächste Redner der Kollege Dr. Jonas Geissler, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Jonas Geissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Budde, wir bedanken uns gleich am Anfang für das Statement am Schluss, weil wir uns die Einbindung natürlich gewünscht hätten, da es ein gemeinsames Projekt ist. Es ist ein gemeinsames Projekt der vergangenen Bundesregierung, das es jetzt gilt in die Zukunft fortzuführen. ({0}) Und ich glaube, es ist auch ein gemeinsames Projekt, das Ost und West miteinander verbindet – genau so, wie Sie das dargestellt haben –, weil es ein Projekt ist, bei dem es einfach um Vertrauen geht. ({1}) Zu meinem Wahlkreis Coburg gehören unter anderem Coburg, Kronach und Geroldsgrün. Er liegt im Norden Bayerns, direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Ich bin ein, sagen wir mal, Kind der Wiedervereinigung – in Anführungszeichen –; als es die deutsche Trennung gab, war ich Kleinkind. Aber ich habe den Einigungsprozess erlebt, und zwar genau mit dem Blickwinkel, der uns in der Grenzregion jeden Tag aufs Neue beschäftigt hat, weil wir erlebt haben, wie die Menschen in Ostdeutschland arbeitslos geworden sind, weil wir erlebt haben, wie Demografie eine Region beeinflusst, weil wir erlebt haben, dass das auch Auswirkungen auf das nördliche Bayern hatte, weil wir erlebt haben, dass Grenzen weggefallen sind und dass Freundschaften auf beiden Seiten der Grenze entstanden sind. Ich war am vergangenen Sonntag beim Oberfränkischen Bezirksschützentag. Er hat das erste Mal nicht in Nordbayern, sondern in Südthüringen stattgefunden, und zwar in Sonneberg, unter dem Motto „Sportschützen überwinden Grenzen“. Das war eine tolle Veranstaltung, die sich in einer Tradition wiedergefunden hat, mit der wir auf fränkischer Seite ein paar Jahre vorher angefangen haben, indem wir den Tag der Franken auch zum ersten Mal in Thüringen veranstaltet haben, in dem Bewusstsein, dass Franken nicht an den bayerischen Landesgrenzen endet, sondern dass es eben auch einen fränkischen Teil Thüringens gibt. Das ist genau das, was uns in der Grenzregion ausmacht: dass man zusammen arbeitet, dass man zusammen lebt und dass man auch gemeinsam Themen setzt. Ich glaube, im Zukunftszentrum ist so etwas auch möglich. Der Titel an sich passt – ich muss ehrlich zugeben: als ich ihn das erste Mal gehört habe, habe ich gedacht: der ist sehr, sehr sperrig –, weil er genau das beschreibt, worauf es ankommt: einen unglaublichen Transformationsprozess, eine Zukunftsperspektive und eine deutsche Einheit, die zugleich europäische Einheit ist. Das muss unser Anspruch für die Zukunft sein, den wir jetzt auch weiterführen. ({2}) Die Unterzeichner des am 11. April 2022 veröffentlichten offenen Briefes, mit dem gefordert wird, die europäische Dimension beim Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation mehr in den Mittelpunkt zu stellen, hatten in vielen Punkten recht, weil wir sehen, dass das, was wir in Deutschland haben und auf das wir im Sinne der Demokratisierung, im Sinne der Einheit, die entstanden ist, und im Sinne der Freiheit so stolz sind, auch rückabgewickelt werden kann. Freiheit – das ist kein Weg, der nur in eine Richtung geht; Freiheit kann sich auch umkehren. Wenn jemand vor 15 Jahren am Roten Platz in Moskau mit einem Schild gestanden und demonstriert hätte, hätte er da den ganzen Tag gestanden. Heute steht er da keine fünf Minuten mehr. Im russischen Parlament wird offen über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. Keiner von uns hätte gedacht, dass ein Land seinen Nachbarn überfällt. Und deswegen ist diese europäische Dimension so zentral und auch so wichtig. ({3}) Deswegen glaube ich, dass es in dem Fall eben genau nicht darum geht, dass wir eine „tributpflichtige Provinz Brüssels“ sind, wie das die AfD gerade formuliert hat, sondern dass es darum geht, dass wir Europa als Einheit denken, dass wir Europa als Einheit sehen, die für die Demokratie aufsteht, die für die Freiheit eintritt. Genau das können wir im Zukunftszentrum formulieren, indem wir die Zivilgesellschaft einbinden, indem wir Menschen in beiden Teilen Deutschlands miteinander verbinden, indem wir Menschen in ganz Europa in den Mittelpunkt stellen, ({4}) indem wir Demokratie stärken, weil das das Zentrale all unseres Gemeinwesens ist. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen den Weg mit Ihnen gemeinsam. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit und darauf, dass wir die Perspektive des Zukunftszentrums ein bisschen erweitern; denn ich glaube, das ist unser gemeinsamer Anspruch. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Friedhelm Boginski, und es ist seine erste Parlamentsrede. ({0})

Friedhelm Boginski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005028, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir nach mehr als 30 Jahren über die deutsche Einheit sprechen, klingt das manchmal so, als ob die Wiedervereinigung nach einem bestimmten Zeitraum erreicht wäre oder erreicht sein muss. Aber dem ist nicht so, sondern die Einheit ist das Ziel eines Prozesses, der in der Friedlichen Revolution durch Millionen Menschen im Ostteil der Republik begonnen wurde und am 3. Oktober 1990 ein Zwischenziel erreichte: die staatliche Einheit. Das war ein Tag der Emotionen, ein Tag der Freude, der Überwindung der SED-Diktatur mit seinem Unterdrückungsapparat, aber es war auch ein Tag der vielen, vielen individuellen Hoffnungen und Wünsche für eine bessere Zukunft. Und dann prallten die Menschen mit ihren Wünschen unvorbereitet auf die wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft. Als ehemaliger Bürgermeister der brandenburgischen Kreisstadt Eberswalde habe ich die Auswirkungen der Einheit selbst erlebt: eine Stadt, die rund 15 000 Arbeitsplätze und große Betriebe verloren hat, eine Stadt, die von 53 000 Einwohner auf 38 000 schrumpfte, weil gut ausgebildete junge Frauen – junge Menschen insgesamt – die Stadt verließen, eine Stadt, die zeitweise in Perspektivlosigkeit abrutschte und rechtsextremistische Gewalttaten zu beklagen hatte. Die Menschen im östlichen Teil der Republik mussten sich den schmerzhaften Entwicklungen und Umbrüchen stellen. Eberswalde hat auf Bildung, Kultur, Zivilgesellschaft und jeden einzelnen Menschen gesetzt, der sich weiterentwickeln wollte und konnte. Bildung, Kultur und Zivilgesellschaft: Das ist das Grundkonzept, wenn wir heute über das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation sprechen. ({0}) Die Schaffung dieses Zentrums ist Ausdruck des Willens, die gesellschaftlichen Entwicklungen vor, während und nach den Systemumbrüchen besser zu verstehen und praxisorientierte Lehren daraus zu ziehen. Was können wir gemeinsam in Deutschland besser machen, während wir gleichzeitig darauf achten, wie es unseren mittelosteuropäischen Nachbarn in der Transformation ergangen ist und wie wir mit gegenseitigem Verständnis die europäische freiheitliche, demokratische Zukunft gestalten können? Ein Schlüssel dabei ist die Anerkennung und Wertschätzung jedes einzelnen Menschen und seiner Biografie, aber auch das Vertrauen darauf, mit Bildung, Kultur, einer starken Zivilgesellschaft und den Erfahrungen der Vergangenheit die Zukunft erfolgreich zu gestalten. Und jetzt der letzte Satz: Mit dem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation schaffen wir hierfür die Grundlage. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Boginski. – Damit schließe ich die Aussprache.

Reem Alabali-Radovan (Gast)

Politiker ID: 11005006

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Ihren Anträgen steht viel Richtiges, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union und der Linken. Aber Bund und Länder haben bereits angepackt. Am Masterplan ist der Haken dran. Wir sind mitten in der Umsetzung, und wir liefern. ({0}) Unser Masterplan heißt: Machen, machen, machen! Das hätten wir auch 2015 und danach gebraucht. Aber in der vergangenen Legislatur gab es einen Innenminister, der einen ganz anderen Masterplan hatte, der gesagt hat: Wir brauchen Obergrenzen. – Er war für irrsinnige Asylverschärfungen und hielt Migration für die Mutter aller Probleme. Das war nicht gut, und heute gibt es eine Koalition, die es besser macht, ({1}) die für mehr Fortschritt und Respekt arbeitet, die Deutschland endlich als modernes Einwanderungsland versteht, die weiß, dass Flüchtling sein kein Beruf ist. Wir gehen einen anderen, einen besseren Weg. Es ist gut, wenn die Union diesen Weg auch in den Ländern mitgehen möchte. Dazu lade ich Sie herzlich ein. ({2}) Heute ist Tag 84 – knapp drei Monate russischer Angriffskrieg. Wir geben allen Schutz, die aus der Ukraine fliehen: Frauen, Kindern, Älteren, Shoah-Überlebenden und Drittstaatsangehörigen. Das geht die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und Kommunen an. Wir sorgen für ein gutes Ankommen und gute Unterbringung. Wir sichern die Verteilung im Bundesgebiet und dass registriert wird, mit Amtshilfe, mit PIK-Stationen und dem neuen FREE-System. Wir schützen Frauen und Mädchen. Hier sind die Sicherheitsbehörden sehr wachsam. Hier ist der Koordinierungskreis gegen Menschenhandel präsent an Bahnhöfen und in den Unterkünften. Wir stellen mit § 24 Aufenthaltsgesetz längst die Weichen auf Integration: mit sicherem Aufenthalt, mit Deutschlernen, mit Zugang zum Arbeitsmarkt ab Tag eins. ({3}) Und das hätten wir 2015 auch gebraucht! ({4}) Wir ermöglichen für Menschen aus der Ukraine ab dem 1. Juni Leistungen nach SGB II und SGB VII statt Asylbewerberleistungsgesetz. Das ist ein Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Uns geht es um Teilhabe von Anfang an: für Kinder in Kita und Schulen, für Jugendliche in Ausbildung und Hochschulen, für Frauen und Männer am Arbeitsmarkt. Klar ist auch: Der Bund muss finanziell unterstützen. Darum haben wir die Länder und Kommunen entlastet bei den Kosten der Unterkunft, der Kinderbetreuung oder der Beschulung mit insgesamt 2 Milliarden Euro. Im November schauen wir, ob das reicht. Das ist gemeinsam mit den Ländern vereinbart. Damit war auch Ministerpräsident Wüst sehr einverstanden, liebe Union, auch beim Round Table Ukraine, den der Bundeskanzler und ich im April ausgerichtet haben. Ebenso klar muss sein: Es darf keine Ungleichbehandlung geben. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass internationale Studierende, die aus derselben Situation aus der Ukraine fliehen, hier zu einem Asylverfahren gezwungen sind. Darum ist es richtig, dass Hamburg ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zur Weiterführung ihres Studiums ausstellt. Wir brauchen genau diese Perspektiven. ({6}) Wir sehen bei den Geflüchteten aus der Ukraine jetzt schon, wie gut Integration von Anfang an funktionieren kann. Deshalb brauchen wir jetzt den verabredeten Neuanfang der Migrations- und Integrationspolitik: keine Arbeitsverbote, Schluss mit Kettenduldung, Integrationskurse für alle und faire Perspektiven für einen Aufenthalt. ({7}) Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt, nicht seinen Status. Wir wollen Menschen fördern, nicht frustrieren, gemeinsam, auf Augenhöhe – das heißt Integration. Das stärkt unser Land und unseren Zusammenhalt. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Silvia Breher, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die Beschlussempfehlung und den Bericht zu dem von uns eingebrachten Masterplan „Hilfe, Sicherheit und Integration für ukrainische Frauen, Kinder und Jugendliche“, der übrigens schon vom 5. April stammt. Seit fast zwölf Wochen haben wir Krieg in der Ukraine. Seit zwölf Wochen sind Frauen, Kinder und Jugendliche auf der Flucht, und seit zwölf Wochen machen, machen, machen vor allen Dingen Ehrenamtliche in ganz Deutschland. Sie engagieren sich und organisieren Hilfstransporte. Sie begleiten Geflüchtete auf ihrem Weg in einen neuen Alltag und helfen vor Ort. Und an allerallererster Stelle möchte ich all diesen Ehrenamtlichen von ganzem Herzen Danke sagen. ({0}) Es braucht deutlich mehr. Was wissen wir, zumindest ungefähr? Laut Angaben der Bundesregierung, dass 400 000 Geflüchtete, vor allen Dingen Frauen, Kinder und Jugendliche, in Deutschland sind. Was wir sicher wissen, weil die KMK mit der Vorsitzenden Karin Prien eine richtig gute Arbeit gemacht hat, ist die genaue Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die wöchentlich aktualisiert wird. Was wir aber gar nicht wissen, ist, wie viele Kinder und Jugendliche sich überhaupt in Deutschland aufhalten, wie viele von denen heute eine Betreuung in Anspruch nehmen und wie viele einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen wollen. Was wir brauchen, ist Folgendes. Das sagen uns die Verbände, und das sagen uns die Ehrenamtlichen; sie kriegen vieles auf den Weg, weil insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe gut aufgestellt, quasi krisenerprobt ist. Aber sie erzählen uns auch, wo noch Handlungsbedarf besteht zwischen Bund, Ländern und Kommunen: Zusätzliches Personal muss gewonnen werden. Ukrainische Frauen müssen eingebunden werden, Abschlüsse und Qualifikationen leichter anerkannt werden. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, finanzielle Unterstützung bei der Kinderbetreuung und einen Ausbau der Sprach-Kitas. Darüber hinaus ist es unsere gemeinsame Aufgabe, mit den Ländern ein bedarfsorientiertes Unterstützungsprogramm für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen, zum Beispiel durch den Ausbau der frühen Hilfen, auf den Weg zu bringen, ({1}) aber auch Integrations- und Sprachkurse auszubauen und das Patenschaftsprogramm „Menschen stärken Menschen“ auszuweiten. Zu diesen Maßnahmen sagen Sie mit der Ablehnung unseres Plans Nein. Wir werden an unseren Forderungen festhalten und sie in die Bereinigungssitzung zum Haushalt morgen einbringen und entsprechend finanziell unterlegen. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, und vor allen Dingen allen Ehrenamtlichen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Breher. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Der Antrag von CDU und CSU war schon bei seiner ersten Lesung überholt. Daran hat sich bis heute nichts geändert – im Gegenteil: Anfang April beklagten Sie hier Stillstand und Planlosigkeit – Frau Breher, Sie haben das jetzt wieder getan – bei der Bewältigung der schrecklichsten Fluchtkrise in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges, und das, wohlgemerkt, wenige Stunden nachdem Bund und Länder – auch Ihre Länder – sich auf ein vorausschauendes und ein pragmatisches Paket zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine verständigt hatten. Nicht auf der Höhe der Zeit sind also Sie, nicht etwa die Bundesregierung oder die Bundesländer und im Übrigen auch nicht die Kommunen, meine Damen und Herren. ({0}) Ihr angestaubter Antrag inklusive eines Dutzends Forderungen und Mängelliste war und ist schon längst in weiten Teilen abgearbeitet; das hat Frau Staatsministerin Alabali-Radovan gerade erläutert. Dabei, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union, geht es nämlich auch anders. Geben Sie nicht nur vor, Sie hätten plötzlich ein Herz für Geflüchtete entdeckt, sondern handeln Sie auch so! ({1}) Nehmen Sie sich gerne ein Beispiel an Ihrem Kieler Parteifreund Daniel Günther, dem Gegenentwurf in der Flüchtlingspolitik zu Ihrem Fraktionschef Merz. Eine fortschrittliche, an den Menschen ausgerichtete Flüchtlingspolitik ist das Leitprinzip dieser Koalition. Und daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, sollten auch Sie sich langsam orientieren. ({2}) Wir brauchen weniger Merz und Dobrindt. Wir brauchen weniger Demokratinnen und Demokraten, die mit ihrer Flüchtlingspolitik Ängste gegenüber Geflüchteten schüren und Einwanderer/-innen als Probleme definieren. ({3}) Überholen Sie mit Ihrer Flüchtlingspolitik die AfD nicht rechts. Damit tun Sie unserer Demokratie keinen Gefallen und sich selbst auch nicht. ({4}) Lassen Sie uns stattdessen gemeinsam Schritte gehen, die uns voranbringen. Nehmen wir einfach die Kernstücke des Bund-Länder-Gipfels vom 7. April – Frau Staatsministerin hat es erwähnt –: Geflüchtete aus der Ukraine werden in die Grundsicherung aufgenommen; das wurde letzte Woche verabschiedet. Damit sind die Menschen in der GKV und krankenversichert. Ich möchte auch noch mal betonen: Ein Meilenstein in der Flüchtlingspolitik in Deutschland sind die 2 Milliarden Euro seitens des Bundes für Länder und Kommunen für die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, Frau Breher; davon sind 1 Milliarde Euro für Unterkunft und Grundsicherung und 1 Milliarde Euro für alle weiteren Aufwendungen wie Kinderbetreuung, Beschulung etc. vorgesehen. ({5}) Den aktuellen dramatischen Herausforderungen begegnen wir gemeinsam, geschlossen, entschlossen. Wir machen, und Sie schreiben Masterpläne von gestern. Seien Sie also nicht immer dagegen! Machen Sie mit! Machen Sie mit bei unserer Integrationsoffensive! ({6}) Machen Sie mit bei einer progressiven menschenrechtsorientierten Politik! Das ständige Schüren von Ängsten, das Sie betreiben, ihre Spalterei unserer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft ist einer christlichen Partei unwürdig, meine Damen und Herren. ({7}) Wir laden Sie dazu ein, bei unserer zukunftsgerichteten und pragmatischen Politik in der Flüchtlingspolitik mitzumachen, die alle Geflüchteten im Blick hat. ({8}) Mit uns gibt es keine zwei Klassen von Geflüchteten. Wir werden das Flüchtlings- und Aufenthaltsrecht dahin gehend auch korrigieren. Wir werden die Kettenduldung abschaffen; das wurde schon gesagt. Wir schaffen Chancen für Menschen, die bereits Teil unserer Gesellschaft geworden sind, durch eine praxis- und lebensnahe Überarbeitung der Bleiberechte und – darauf sind wir sehr stolz – durch die Einführung des Chancenaufenthaltsrechts, meine Damen und Herren. ({9}) Viele Geflüchtete wollen arbeiten, dürfen es aber nicht. ({10}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, schaffen Sie gemeinsam mit uns endlich die Arbeitsverbote im Aufenthaltsrecht ab; es wäre ein Novum. Das muss endlich abgeschafft werden. Warum stimmen Sie dagegen? Sie betonen unablässig die Bedeutung der Familie; wir machen uns konkret stark für deren Schutz. Statt Familien für Jahre zu trennen und ihnen immer weiter Hürden in den Weg zu legen, wollen wir Familien endlich wieder zusammenbringen. Machen Sie ernst, und setzen Sie sich mit uns dafür ein, Geflüchtete beim Familiennachzug endlich gleichzustellen und den Ehegattennachzug zu beschleunigen, ({11}) indem wir den Sprachnachweis vor der Einreise abschaffen, meine Damen und Herren. ({12}) Wir gehen beim Schutz von Frauen und Opfern von Menschenhandel weiter als Sie, Frau Breher, indem wir eigene und unabhängige Aufenthaltsrechte schaffen werden; das haben Sie in den 16 Jahren an der Regierung nie geschafft. ({13}) – Herr Frei, ich merke an Ihrer Reaktion, dass Sie da getroffen sind; es tut mir leid. ({14}) Uns liegt der Schutz von besonders vulnerablen Gruppen am Herzen. Verfolgung und Flucht können schwere psychische Folgen nach sich ziehen. Es ist diese Koalition, die dafür sorgt, dass Betroffene adäquate Hilfe bekommen und die psychosozialen Hilfen zum ersten Mal finanziell massiv aufgestockt werden. Dafür bin ich Ministerin Paus sehr, sehr dankbar. Meine Damen und Herren, der Überfall auf die Ukraine hat unendlich viel Leid, Zerstörung und Traumatisierung gebracht. Wir wissen nicht, wie lange dieses Grauen noch andauern wird; aber wir werden alles tun, um den Verfolgten zu helfen, egal ob hier bei uns oder in der Ukraine. Wir lehnen den Antrag ab, Frau Breher. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Mariana Harder-Kühnel, AfD-Fraktion. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesem Haus herrscht Konsens darüber, dass Frauen und Kindern, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten müssen, geholfen werden muss. Denn schließlich handelt es sich um echte Flüchtlinge, die kulturnah, dankbar und rückkehrwillig sind. ({0}) Etwa 90 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die kulturfremden Migranten aus dem arabischen und afrikanischen Raum sind hingegen zu 70 Prozent Männer. ({1}) Ukrainische Männer stehen an der Front und bringen ihre Frauen und Kinder in Sicherheit. Merkels Migranten stehen vor dem Sozialamt und bringen vor allem sich in Sicherheit, in wirtschaftliche Sicherheit; das ist der Unterschied. ({2}) Richtig ist, dass Sie von der Union eine Registrierung aller ukrainischen Flüchtlinge unmittelbar nach dem Grenzübertritt fordern. Das macht Sinn, gar keine Frage. Aber warum fordern Sie das erst jetzt, warum nicht schon 2015, als Sie selbst regiert haben? Und warum fordern Sie das nur für ukrainische Flüchtlinge, warum nicht für alle Flüchtlinge und Migranten? Und wer soll ausgerechnet Ihnen glauben, dass Sie es jetzt besser machen würden? Wohl nur Menschen mit Stockholm-Syndrom. ({3}) Auch Ihre Forderung nach Schutzzonen an Bahnhöfen, um ukrainische Kinder und Frauen vor Menschenhändlern und anderen Kriminellen zu schützen, ist richtig. Aber wo waren Ihre Schutzzonen bisher bei den vielen sexuellen Übergriffen in Flüchtlingsunterkünften oder in der Kölner Silvesternacht? Es ist ja schön, dass Sie sich hier als Law-and-Order-Partei inszenieren. Nur sollten die Menschen wissen, dass es eben nur eine Inszenierung ist. ({4}) Schmerzlich erfahren musste das eine 18-jährige Ukrainerin. Aus Angst vor dem Krieg flüchtete sie aus der Ukraine nach Deutschland. Und nun? Nun flüchtete sie aus Angst vor erneuter Vergewaltigung von Deutschland nach Polen. In einer Düsseldorfer Flüchtlingsunterkunft wurde sie von zwei Männern aus Nigeria und Tunesien vergewaltigt; bei dem Tunesier hieß es zunächst, er wäre aus dem Irak. Das offenbart das ganze Migrationschaos – ein Chaos, für das Sie von der CDU mitverantwortlich sind. ({5}) In Polen fühlt sich diese junge Frau nun sicher, also dem Land, das Sie Woche für Woche im EU-Parlament wegen angeblich mangelnder Rechtsstaatlichkeit mit Sanktionen drangsalieren wollen. Aber wenn Frauen vor lauter Angst von Deutschland nach Polen flüchten, wo herrscht dann das Unrecht? In Polen oder nicht etwa doch in Deutschland? ({6}) Warum erwähne ich das? Ganz einfach: Wer ukrainischen Frauen und Kindern und anderen echten Flüchtlingen helfen möchte, braucht eine entsprechende Infrastruktur. Doch diese Infrastruktur ist ausgelastet. Warum ist sie ausgelastet? Unter anderem, weil etwa 300 000 ausreisepflichtige Ausländer nicht abgeschoben werden. Und warum werden sie nicht abgeschoben? Weil hierzu jeder politische Wille fehlt. ({7}) Wer ukrainischen Frauen und Kindern und anderen echten Flüchtlingen helfen möchte, muss ausreisepflichtige Ausländer endlich abschieben. So schafft man die erforderlichen Kapazitäten; so sind ukrainische Frauen und Kinder auch in Deutschland sicher. ({8}) Also helfen wir denen, die hilfsbedürftig, dankbar und rückkehrwillig sind, aber nicht jenen, die nur aus wirtschaftlichen Gründen hierhergekommen sind und ihre Frauen und Kinder zurückgelassen haben. Angesichts des seit 2015 angerichteten Schadens reicht der sogenannte Masterplan für ukrainische Frauen und Kinder nicht aus. Was wir brauchen, ist eine echte Kehrtwende in der Asylpolitik: umfassende Kontrollen der deutschen Außengrenze, lückenlose Registrierung und Erfassung der Identität, Zurückweisung von Trittbrettfahrern mit gefälschten ukrainischen Pässen, konsequente Abschiebung aller vollziehbar Ausreisepflichtigen. ({9}) Dann und nur dann haben wir die Kapazitäten, ukrainischen Frauen und Kindern zu helfen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Und dann, auch nur dann werden ukrainische Frauen und Kinder, aber auch deutsche Bürger in Deutschland wieder sicher sein. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Harder-Kühnel. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Krieg in der Ukraine bestimmt weiterhin die Diskussion bei uns in der Öffentlichkeit, in den letzten Wochen vor allem das Thema Waffenlieferungen. Etwas in den Hintergrund in der öffentlichen Diskussion ist getreten, dass im Inland, in ganz Europa viel humanitäre Hilfe für geflüchtete Personen geleistet wird. Ja, natürlich lief da nicht immer alles überall perfekt; das wird auch niemand verlangt und erwartet haben in so einer Situation, die schnell eingetreten ist. Aber ich finde, dass es, verglichen mit früheren Flüchtlingskrisen, innerhalb weniger Wochen funktionierende Abläufe bei uns im Land gegeben hat. Deswegen will auch ich den vielen Ehrenamtlern an dieser Stelle Dank sagen. Das ist nicht nur eine stereotype Pflichtübung, sondern ich empfinde wirklich Dankbarkeit, ({0}) weil wir alle auch aus unseren Wahlkreisen wissen, was vor Ort von vielen freiwillig engagierten, hilfsbereiten Menschen geleistet wird, ({1}) die andere Menschen aus der Ukraine aufnehmen. Aber auch die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Städten, den Gemeinden, den Landkreisen erbringen viel Leistung. Auch ihnen muss man für ihren Einsatz danken. ({2}) Ich will betonen, dass bei uns im Land in den letzten Wochen wirklich viel geschehen ist, und nur ein paar Beispiele erwähnen. Über 113 000 ukrainische Kinder und Jugendliche sind mittlerweile in unseren Schulen eingeschult worden. Das ist immens wichtig, weil die Kinder und Jugendlichen zu den Hauptleidtragenden gehören und wir jetzt alles tun müssen, dass sie nicht auch noch schulisch weit zurückgeworfen werden und den Anschluss verlieren. Deswegen ist es ungeheuer wichtig, dass die Bundesbildungsministerin Frau Stark-Watzinger immer wieder darauf hinweist. Auch die Lehrerinnen und Lehrer, die oft im Zentrum der Kritik stehen, leisten wirklich viel, um diese Kinder und Jugendlichen mitzunehmen. Auch ihnen gilt unser Dank, meine Damen und Herren. ({3}) Ein anderes Thema, das Sie in dem Antrag erwähnen, ist die medizinische Versorgung. Ab dem 1. Juni ist es möglich, dass ukrainische Geflüchtete bei uns Grundsicherung erhalten, was ihre Versorgungsmöglichkeiten erheblich verbessert. Auch da zeigt sich doch, dass sich schon ungeheuer viel getan hat und weiter tut. ({4}) Ein weiterer Punkt: Zugang zum Arbeitsmarkt. Viele Menschen, die aus der Ukraine kommen, hoffen jeden Tag darauf, dass sie bald zurückkehren können. Die werden nicht versuchen, in unserem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aber andere tun es sehr wohl. Ihnen öffnen wir den Weg über den Rechtskreiswechsel, sodass sie durch die Arbeitsvermittlung bei uns im Arbeitsmarkt unterkommen können. Auch das zeigt, dass sich schon ungeheuer viel getan hat und weiterhin tut, meine Damen und Herren. ({5}) Das heißt aber natürlich nicht, dass nicht noch viel zu tun ist; das ist ganz klar. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir vor allem eine gesamteuropäische Bestandsaufnahme brauchen, eine verlässliche, möglichst vollständige Datenbasis, ein Lagebild, um zu wissen, wie es den Ukrainerinnen und Ukrainern bei uns, aber auch in Polen, in Ungarn, in der Slowakei, in Rumänien, in Frankreich, in Spanien, in Portugal geht. Viele von ihnen werden lange Zeit in der Europäischen Union bleiben. Viele haben persönliche Bleibewünsche, weil sie irgendwo in Europa Angehörige, Freunde und Bekannte haben, bei denen sie untergekommen sind. Aber wir müssen auch die Leistungsfähigkeit und die Möglichkeiten dieser Länder in Betracht ziehen. Ein anderer Punkt, den ich für wichtig erachte: In den ersten Tagen und Wochen bestand unser Regierungshandeln in Anbetracht der Situation in Krisenmanagement. Aber wir müssen jetzt gesamteuropäisch mehr und mehr zu vorausschauendem Entwickeln von langfristigen Perspektiven und Langzeitplänen übergehen. Niemand weiß, wie lange dieses Kriegsgeschehen noch andauert. Alles ist schwer berechenbar. Die Katastrophe inmitten Europas dauert weiter an. Aber wir müssen uns auf denkbare Szenarien vorbereiten und uns auch dann, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit nachlässt, Gedanken machen, wie wir den Menschen, die hierbleiben wollen, die hierbleiben werden, Perspektiven und Möglichkeiten bieten können. ({6}) Wir werden aber auf lange Zeit sowohl ukrainischstämmige als auch russischstämmige Menschen bei uns im Land haben. Wir müssen die Gesellschaft und die Behörden darauf vorbereiten, dass daraus auch Konfliktpotenzial erwachsen kann, und insbesondere darauf achten, dass sich russischsprachige Menschen über inländische Medien in russischer Sprache informieren können, um nicht auf Informationen aus Russland angewiesen zu sein. ({7}) So will ich als Fazit festhalten, dass die Herausforderungen vielfältig und dauerhaft bleiben werden und ständige Anpassungen erfordern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Insofern ist der Antrag der Union von Anfang an –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kollege.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– nicht ganz up to date gewesen, und er ist es auch nicht geworden. ({0}) Deswegen werden Sie verstehen, dass wir ihm heute nicht zustimmen können. ({1}) Die Regierung ist up to date und handelt nach einem funktionierenden Masterplan. Ich danke Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe Clara Bünger das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind sehr froh über alle gesetzlichen Erleichterungen, die für Geflüchtete aus der Ukraine auf den Weg gebracht werden. Es bleibt aber die Frage: Warum gelten sie nicht für alle Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg fliehen müssen? ({0}) Es ist nämlich nicht ganz so, wie Frau Staatsministerin Alabali-Radovan gerade gesagt hat. Es werden nicht alle gleich behandelt. Die Bundesregierung schafft ein System von Geflüchteten erster und zweiter Klasse. Für viele Drittstaatler/-innen hat das zur Folge, dass sie momentan nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Sie wollen einfach nur studieren oder arbeiten. Warum wird ihnen das so schwer gemacht? Darin Abdelaziz kommt aus Marokko und hat Medizin in der Ukraine studiert. Sie hat mir berichtet, dass sie nicht versteht, warum sie jetzt nicht, wie andere Geflüchtete aus der Ukraine, einfach weiter studieren kann. Und ich verstehe das, ehrlich gesagt, auch nicht. ({1}) Es macht keinen Sinn, hier eine Unterscheidung zu machen. Dass sich jetzt einige Bundesländer selbst spezifische Lösungen überlegen, hätte vermieden werden können, wenn Sie die internationalen Studierenden einfach in den Schutz nach § 24 AufenthG einbezogen hätten, so wie es Frau Faeser ursprünglich versprochen hatte. Was es braucht, ist eine bundeseinheitliche Lösung. ({2}) Ein anderes Thema, bei dem die Bundesregierung hinter ihren Ankündigungen zurückbleibt, ist der Umgang mit russischen Deserteuren bzw. Kriegsdienstverweigerern. In der Regierungsbefragung vor zwei Monaten hatte Frau Faeser erklärt, sie sei hierzu auf EU-Ebene in Gesprächen, man wolle handeln. Ich habe davon aber nichts mehr gehört. Es fehlen auch klare Signale zur Unterstützung von Oppositionellen aus Russland. Der „Spiegel“ berichtete von etwa 70 Personen, darunter Kultur- und Medienschaffende und ihre Familien, die sich mit einem in wenigen Wochen ablaufenden Touristenvisum in Deutschland aufhalten. Offenbar streiten das Auswärtige Amt und das BMI seit Wochen ergebnislos darüber, wie ihnen der weitere Aufenthalt ermöglicht werden soll. Das kann doch nicht sein. ({3}) Das BMI verweist dazu – auch heute Morgen wieder im Innenausschuss – auf die Möglichkeit eines Asylantrags. Das hätte für die Betroffenen zur Folge, dass sie in Aufnahmelager verteilt und einem Arbeitsverbot unterliegen würden – Zukunft: ungewiss. Das ist doch kein Schutzangebot. Das ist eine bürokratische Verhinderung einer klaren Lösung. Wir machen den Vorschlag, dass Sie auf der Innenministerkonferenz im Juni eine Aufenthaltsregelung nach § 23 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz schaffen, um dieser Gruppe Schutz in Deutschland zu bieten. Weiterhin problematisch ist auch die Lage von Aktivistinnen und Aktivisten, die bislang nicht aus Russland ausreisen konnten oder sich in Drittstaaten aufhalten und dringend einen sicheren Fluchtweg in die EU benötigen. Auch hierzu wird seit Wochen um mögliche Aufnahmeregelungen gerungen; aber nichts passiert. Ich fordere Sie auf: Lassen Sie den Ankündigungen endlich Taten folgen! Handeln Sie hier endlich! Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Helge Lindh hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Harder-Kühnel, Sie haben gerade eine neue Kategorie der Textform etabliert: den rassistischen Slapstick. ({0}) Ich bin dafür nicht dankbar, habe es aber zur Kenntnis genommen. Ich will das nur mal wiederholen – man muss das, glaube ich, deutlich machen, vor allem für diejenigen, die nicht hier im Raum Zeugen gewesen sind oder am Bildschirm zugeschaut haben –: Sie sprachen von – ich zitiere – echten Flüchtlingen, kulturnah und dankbar, und von kulturfremden Migranten. Rassistisch nackter geht es nicht. ({1}) Einen Trost gibt es allerdings: Gerade sitzen hier im Bundestag diverse Schulklassen auf den Tribünen. Ich bin mir absolut sicher, dass sich ein Großteil der dort Anwesenden mit Schaudern innerlich abgewandt hat bei Ihrem Vortrag. ({2}) Diejenigen werden in den nächsten Jahrzehnten mit ihrem Wahlverhalten dafür sorgen, dass die AfD im Orkus der Vergessenheit landen wird. ({3}) Die Realität wird Sie widerlegen. – So viel vorab zu Ihrem unterirdischen Beitrag. Kommen wir jetzt zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich wünschte mir, dass Sie diesen Impetus und diesen Drang, die Vulnerabilität von Geflüchteten anzuerkennen, auch auf andere Gruppen ausweiteten. Da wünschte ich mir ein bisschen historische Redlichkeit; denn in der Vergangenheit habe ich diesen Impetus und diesen Drang bei Ihnen nicht wirklich verspürt. Wir waren zusammen in einer Koalition. Da müssen wir auch mal selbstkritisch gucken: Was ist uns gelungen, und was ist nicht gelungen? ({4}) Ein massiver Vorstoß zum Schutz vulnerabler Personen zum Beispiel in Aufnahmeeinrichtungen ist an Ihrem Widerstand gescheitert. Auf diese Tatsache muss man hinweisen. Das jetzt in Bezug auf die Ukraine zu fordern, ist nicht schlecht, aber nicht hinreichend. Es ist auch deswegen nicht hinreichend, weil Sie sich damit dem Verdacht der Double Standards aussetzen und, wenn man es zuspitzt, auch der Bigotterie und Scheinheiligkeit. ({5}) Wenn wir etwas brauchen, dann sind es solche Schutzkonzepte für alle geflüchteten Personen. Wenn man sich in dieser Republik bewegt, offenbart sich einem doch die Situation – das ist bedauerlich, aber es ist so –, dass viele Geflüchtete aus unterschiedlichen Ländern, die vor der Ukrainekrise zu uns gekommen sind, verbittert sind und sagen: Warum haben wir nicht diese Möglichkeit erhalten? – Dieses Feuer der Unzufriedenheit glüht. Dass Sie noch Öl in dieses Feuer schütten, erachte ich als unredlich. Ich finde das nicht in Ordnung. ({6}) Die Antwort kann natürlich nicht sein, nicht alles Mögliche zu machen, um Verbesserungen des Systems für Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Weg zu bringen. Die Antwort muss vielmehr sein, sich anzugucken, wie die Gesamtsituation ist. Wenn Sie fordern, dass wir uns um psychosoziale Belastungen von Jugendlichen kümmern müssen – Stichwort „frühe Hilfen“ –, dann bitte ich Sie, das zu ergänzen, damit wir endlich mit Ihrer lauten Unterstützung, von der ich jetzt ausgehe, etwas für psychosoziale Zentren und andere Institutionen machen können. Die haben in den letzten Jahren nicht gerade die Rückendeckung der CDU und CSU erfahren, weder bundesrepublikanisch noch in unionsgeführten Ländern. Dann möchte ich noch etwas sagen, weil Sie geradezu fetischartig die Registrierung voranbringen wollen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Rechtslage das gerade nicht zulässt und Sie eigentlich sagen müssten, dass Sie eine neue rechtliche Grundlage wollen, sagen Sie nicht, dass, wenn die Registrierung grenznah erfolgen soll, das heißen würde, dass wir flächendeckende Grenzkontrollen brauchen. Wenn nicht kontrolliert wird, kann auch keine grenznahe Registrierung erfolgen. ({7}) Dann möchte ich noch an die Rede von Herrn Hoffmann am 8. April erinnern; das ist im Protokoll nachzulesen. Er zitierte damals einen Fall aus den Medien und sagte, dass es am Berliner Hauptbahnhof die Situation gebe, dass die Bundespolizei feststellt, dass – ich zitiere – „sich in diesem Zug augenscheinlich Personen befinden, die nicht aus der Ukraine kommen“. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden, wie man augenscheinlich feststellen kann, ob Personen aus der Ukraine kommen oder nicht. ({8}) Das ist dieser dunkle Schatten. Das ist die Problematik des Spiels, das Sie hier mitbetreiben: diese Unterscheidung zwischen guten Ukrainerinnen und Ukrainern und nicht ganz so guten anderen, diesem vermeintlichen Augenschein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das finde ich hoch problematisch. Deshalb bitte ich Sie: Überdenken Sie solche Anträge!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden nicht zustimmen. Entwickeln Sie diese Konzepte für alle Migrantinnen und Migranten und alle Geflüchteten weiter! Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ralph Edelhäußer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Edelhäußer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man über die Situation der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland reden will, ist es von Vorteil, wenn man sich selber ein Bild davon macht. Die Mitglieder der Unterausschüsse Bürgerschaftliches Engagement und Kinderkommission haben sich heute Nachmittag am Berliner Hauptbahnhof selber ein Bild gemacht und sich auch mit den ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern austauschen können. Da ist mir wieder mal bewusst geworden, wie überfordert Deutschland mit über 700 000 Geflüchteten wäre, wenn wir dieses großartige Engagement der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer nicht hätten und darauf nicht zurückgreifen könnten. ({0}) Der Staat wäre überfordert. ({1}) Dazu passt die Nachricht, die ich heute von einem Bürger aus meinem Wahlkreis bekommen habe – Zitat –: Mit staatlicher Unterstützung sieht es eher mau aus. – Er hat selber drei geflüchtete Frauen in seiner Familie aufgenommen. Jetzt könnte man natürlich meinen, dass wir aus dem Jahr 2015, aus der letzten Flüchtlingswelle, eigentlich gelernt haben und Strukturen schneller geschaffen werden, die den Geflüchteten Schutz, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln können. Stattdessen ist es aber so, dass Frauen und Mädchen bisweilen neuen Gefahren ausgesetzt sind und Opfer von zwielichtigen Gestalten werden. Da stellt man sich die Frage: Wie kann das passieren? ({2}) Wie kann es sein, dass irgendwelche nicht registrierten, sogenannten „Helfer“, die Hilflosigkeit dieser geflüchteten Frauen ausnutzen können? Dafür brauchen wir Lösungen. Dafür brauchen wir eine flächendeckende Registrierung. Der Kollege hat ja gerade gesagt, wir würden gebetsmühlenartig darauf herumreiten. Aber scheinbar ist das nötig, damit so etwas nicht passieren kann. Wir brauchen einen starken Staat, damit diese ukrainischen Flüchtlinge hier untergebracht werden können. ({3}) Auf der anderen Seite haben wir die Ehrenamtler. Ich habe einen kennengelernt, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Er kommt aus Kasachstan, arbeitet Vollzeit als Bauingenieur und ist seit Mitte März dreimal die Woche hier. Er opfert seinen Urlaub und verbringt hier seine Stunden. Er bringt sich gerne ein, weil er einfach helfen will. Was wäre, wenn wir diese Hilfe nicht hätten? Man denke an die Belastungen, die diese Ehrenamtler aushalten und tragen. Wir brauchen hier ein staatliches Konzept, entsprechende Unterstützung und einen Plan. Hinzu kommen die vielen Kinder, die in dieser für sie fremden Welt in die Schulen, in die Kitas kommen und die Sprache nicht können und daher gefördert werden müssen. Auch da fehlt ein Konzept für eine schnelle Integration, damit sie hier eine neue Heimat finden. ({4}) Ich habe einfach meine Zweifel, dass diese Lage vollumfänglich von der Regierung umrissen worden ist und die entsprechenden Ressourcen dafür geschaffen werden. Man muss kein Mathegenie sein, um zu erkennen, dass uns hier die entsprechenden Leute fehlen, dass uns die Ressourcen fehlen und dass uns die Persönlichkeiten fehlen. Wir haben eine Reihe von Herausforderungen zu bestehen, die ich gar nicht kleinreden will; das gilt für alle, egal ob man in der Regierung oder in der Opposition ist. Es ist die Aufgabe unseres Staates, dafür zu sorgen, dass es den ukrainischen Flüchtlingen in unserem Land gut geht, und diese an die Hand zu nehmen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Gülistan Yüksel spricht jetzt zu uns für die SPD-Fraktion. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sosehr ich mich über die Gelegenheit freue, über das wichtige Thema der Integration zu sprechen, so sehr bin ich verwundert, dass die Union anscheinend ihr Herz für die zu uns kommenden Menschen entdeckt hat. Lassen Sie mich kurz drei Zitate vorlesen: „Asylurlauber auf Heimattrip können gleich bleiben, wo sie hergekommen sind.“ „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land.“ ({0}) Wir brauchen ein Einwanderungsbegrenzungsgesetz „mit Vorrang für Zuwanderer aus unserem christlich-abendländischen Kulturkreis“. ({1}) Was Sie gerade gehört haben, sind nicht etwa Aussagen der AfD, auch wenn sie klatschen. Nein, es sind Aussagen der letzten Jahre aus den Reihen der Union. ({2}) Auch in meiner mehr als 30‑jährigen Integrationsarbeit habe ich viele Blockaden und Ressentiments der Union miterlebt, sei es beim kommunalen Wahlrecht, sei es bei der doppelten Staatsbürgerschaft und der unsäglichen Unterschriftenkampagne hierzu, sei es bei den Debatten zum Zuwanderungsgesetz oder der immer wiederkehrenden Diskussion über eine Leitkultur. Der rote Faden, der sich bei der Union zu Migrationsthemen durchzieht, ist das Narrativ von „Wir gegen die anderen“. ({3}) Immer wieder wurde die Integrationsarbeit durch die Union blockiert und erschwert, ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene. ({4}) Wenn die Union das jetzt anders sieht, ist das ganz gut. Ich hoffe nur, dass diese Besserung auch nachhaltig ist ({5}) und sich Ihre Solidarität auf alle Geflüchteten und die hier lebenden Menschen erstreckt. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig und richtig, dass wir die zu uns flüchtenden Menschen aus der Ukraine schnell und unbürokratisch aufnehmen und ihnen Zugang zu Sprachkursen und dem Arbeitsmarkt ermöglichen. Es darf aber nicht darum gehen, vor welchem Krieg die Menschen zu uns fliehen. Für alle gilt der Grundsatz: Arbeit, Sprache, Bildung und Begegnung von Anfang an. Wir brauchen daher zum Beispiel auch die Abschaffung von Arbeitsverboten und Kettenduldungen; einige Kollegen sind schon darauf eingegangen. ({7}) Ich kann es nicht oft genug sagen: Es darf keine Menschen erster und zweiter Klasse geben. ({8}) Sehr geehrte Damen und Herren, Integration ist ein Prozess, ein Prozess, bei dem alle beteiligten Seiten aufeinander zugehen müssen. Wenn wir durch unsere Politik Gemeinschaft und Wertschätzung im Alltag fördern, fordern und stärken, dann kann Integration auch nachhaltig gelingen, dann ist Integration eine Bereicherung für unser Land. Da die Union anscheinend ihr Herz für die Integration entdeckt hat, freue ich mich schon, zu sehen, wie Sie zukünftig auf unsere Vorhaben reagieren. Wie ich sehe, sind Sie alle mit Ihren Handys beschäftigt. Ich hoffe, dass Sie zugehört haben. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Lars Rohwer. ({0})

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Glück auf! Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts des barbarischen Krieges des russischen Diktators Putin sind immer mehr Menschen auf der Flucht. Darüber haben wir in dieser Debatte miteinander gesprochen. Ich möchte auch für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal festhalten: Wir müssen diesen Menschen gute Gastgeber sein. Es sollte unser Ziel sein, dass sie sich in Deutschland wohlfühlen. Wer sich als Gast empfangen fühlt, spricht auch gut über das Gastland, welches eine neue Heimat werden kann. Ich sage das nicht nur als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, sondern auch als jemand, der 2015 Vorsitzender des Roten Kreuzes in Dresden war und Erstaufnahmeeinrichtungen betrieben hat und der das jetzt auch wieder bereit war zu tun. Ich bin ein neues Mitglied des Deutschen Bundestages, und ich bin etwas irritiert über den Tonfall, den ich hier vorfinde. ({0}) Das waren einfach nur Stigmata. Schauen Sie bitte hin, was vor Ort stattfindet! ({1}) Nach meiner Auffassung ruhen wir uns im Moment auf der Hilfsbereitschaft und dem Engagement der Freiwilligen aus. ({2}) Ich vermisse noch immer einen Krisenstab der Bundesregierung, der einen langfristigen Plan für den Schutz und die Integration der Schutzsuchenden koordiniert. Wir schlagen mit unserem Masterplan Maßnahmen vor. Es ist Ihre Aufgabe, diese jetzt umzusetzen. ({3}) Sie sind jetzt in der Verantwortung, den Menschen Schutz zu gewähren und Integration zu ermöglichen. Die Stabilität, die Kinder und Jugendliche durch den Besuch einer Schule erfahren, trägt dazu bei, dass sie die Angst, die Sorgen und das Erlebte besser verarbeiten und für einige Stunden auch vergessen können. Ein strukturierter Tagesablauf, der ihnen die Möglichkeit gibt, Freundschaften zu knüpfen und über das Erlebte zu sprechen, gibt Halt, hilft ihnen bei der Verarbeitung des Fluchttraumas. Deswegen bieten wir den vertriebenen Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine eine starke Bildungsperspektive in Deutschland und geben ihnen Stabilität. Was heißt das für mich ganz konkret? Wenn Israel es geschafft hat – mit einer wesentlich größeren Einwanderungsquote –, dass jede und jeder innerhalb von drei Monaten Hebräisch sprechen und schreiben kann, dann sollte das doch auch das Ziel der Bundesregierung für die Sprache in unserem Land, für Deutsch, sein. Wir brauchen diese Strukturen, wir brauchen die entsprechenden Bildungskurse ganz dringend, an jeder Ecke in diesem Land, um die Menschen zu integrieren. ({4}) Was die Menschen vor Ort nicht brauchen, ist eine Bundespolitik, die ständig in Oberlehrermanier sagt, was sie alles nicht richtig machen und was sie noch besser machen sollen. Die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort gehen an ihre Leistungsgrenzen; nach Corona kommt jetzt der Krieg. Unterstützen wir unsere Lehrerinnen und Lehrer sowie die Menschen, die sich bei der Integration und der Bildungsarbeit engagieren! Sagen wir ihnen nicht ständig, was sie noch alles besser machen sollen und müssen! Fragen wir sie eher, was für eine Unterstützung benötigt wird, um die Situation erfolgreich gestalten zu können, um jedes einzelne Kind zu integrieren und zu fördern! Ich sehe die Schulleiterin, die eine aus der Ukraine vertriebene Frau einstellt, um ein neues Bildungsangebot an ihrer Schule anzubieten. Ich sehe die Grundschullehrerin, die nicht erst fragt: „Wo ist denn der Weiterbildungskurs für Integration?“, sondern einfach loslegt und mithilfe der Sprach-App auf ihrem Telefon versucht, die ukrainischen Kinder zu integrieren. Das alles brauchen wir, und deswegen fordere ich Sie auf, die Länder zu unterstützen und den ewigen Dreisatz von Geld, mehr Personal und guter Lernatmosphäre zu fördern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache.

Ria Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005215, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe durch den Krieg schon so viel verloren, ich will nicht auch noch meine Zukunft verlieren. – Diese Worte einer Studentin aus der Ukraine stehen für das Gefühl einer ganzen Generation junger Menschen, die in den letzten Wochen, Tagen oder gerade erst heute vor dem verbrecherischen Angriffskrieg Russlands geflohen sind. Dieser furchtbare Krieg ist ein Feldzug gegen eine stolze Ukraine, die sich selbstbewusst für freiheitlich-demokratische Werte entschieden hat. Zu diesen Werten gehören auch Wissenschaftsfreiheit und das Recht auf Bildung als Grundsteine einer freien Gesellschaft, auch unserer Gesellschaft. Unsere Antwort muss deshalb die Stärkung der Menschen im Bildungs- und Wissenschaftssystem sein. Wir bieten Ukrainerinnen und Ukrainern an unseren Bildungseinrichtungen einen sicheren Hafen. ({0}) Mit diesem Antrag zeigen wir als Fortschrittskoalition, welchen Beitrag Ministerin Stark-Watzinger, die Länder, Kommunen, Universitäten, Schulen bereits leisten. Mehr als 110 000 Schülerinnen und Schüler besuchen unsere Schulen. Wir öffnen das BAföG für Studierende aus der Ukraine und heißen sie in unseren Hörsälen willkommen. Forschenden öffnen wir die Türen zu unseren Laboren und Wissenschaftszentren. Daran sind viele Menschen im ganzen Land haupt- und ehrenamtlich beteiligt. Ihnen allen dafür herzlichen Dank! ({1}) Ein Schwerpunkt unseres Antrags liegt auf der schnellen und unbürokratischen Anerkennung bereits erworbener Qualifikationen; denn wir sehen nicht nur die Hilfsbedürftigkeit der Menschen, wir sehen auch ihr Potenzial. Die Ministerin hat dies bereits angekündigt: Es ist wichtig, dass die Anerkennungspraxis sobald wie möglich flächendeckend angepasst wird. Wir setzen auf Science Diplomacy. Wir zeigen Flagge für deutsch-ukrainische Forschungskooperationen und für die Unterstützung der Wissenschaftsstrukturen in der Ukraine. Putin wird sie nicht zerstören. Für den Wiederaufbau von Bibliotheken, Universitäten und Forschungslaboren stehen wir bereit. ({2}) Das, meine Damen und Herren, bleibt bei all unseren Anstrengungen das Ziel: dass die Menschen so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren können. Ihre Zukunft ist nicht verloren. Geben wir ihnen etwas mit auf den Weg, woran sie anknüpfen können. Was wäre wertvoller als Bildung? Mit unserem Antrag zeigen wir Putin den Mittelfinger, indem wir Grausamkeit und Krieg mit Hoffnung und Zukunftsperspektive beantworten. Das, meine Damen und Herren, ist die Kraft der freien Gesellschaft. Vielen Dank. ({3})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal sagen: Ich finde es ausgesprochen notwendig, dass wir in zwei aufeinanderfolgenden Debatten über die Frage sprechen, wie wir mit den vielen Menschen, die zu uns kommen, insbesondere Babys, Kinder, Jugendliche und Frauen, gut und erfolgreich umgehen. Diese Frage stellen wir uns aber jetzt schon seit etwas Längerem. Sosehr wir mit Ihnen an einem Strang ziehen wollen, kann ich Sie, ehrlich gesagt, doch nicht so einfach aus der Verantwortung entlassen; denn das, was ich bisher höre, sind nur Ankündigungen, (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! nicht mehr, und das, was ich in diesem Antrag vor allem lese, ist ein Dankeschön an alle anderen, ({0}) die das bisher ganz besonders toll hinbekommen haben – und zwar Gott sei Dank hinbekommen haben –, ohne nennenswerte Hilfe dieser Bundesregierung. Das ist in Wahrheit ein absolutes Armutszeugnis für Sie ({1}) nach all den Sonntagsreden, die Sie uns immer halten und in denen Sie Ihren angeblich so tollen Umgang mit Geflüchteten betonen. Jetzt sage ich Ihnen als Kreisvorsitzende des Roten Kreuzes in Rosenheim einmal eines: Wenn meine Ehrenamtlichen nicht bereit gewesen wären, in den ersten Wochen ihre gesamte Freizeit zu opfern, wenn die Feuerwehren nicht in der Lage gewesen wären, ({2}) ihre Erfahrungen aus 2015/2016/2017 anzuwenden und binnen kürzester Zeit Turnhallen umzurüsten, dann wären diese armen Menschen mit dieser Regierung komplett aufgeschmissen gewesen. Das muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen. ({3}) Darum sage ich Ihnen: Gott sei Dank haben Sie den Antrag geschrieben; denn dieses Dankeschön ist mehr als angebracht. ({4}) Denn von Ihnen kam, ehrlich gesagt, nicht besonders viel. ({5}) Deswegen ist der Antrag richtig. Aber es müssen natürlich Taten folgen. ({6}) Von den Ankündigungen kann sich keiner etwas runterbeißen und schon gar nicht die vielen Menschen vor Ort, die sich immer noch nicht haben entmutigen lassen und trotzdem weitermachen. Wenn wir über die Verteilung sprechen: In Bayern leben mittlerweile 35 Prozent der bis heute angekommenen Flüchtlinge, natürlich mehr in den Ballungsräumen; das ist auch klar. Jeden Tag kommen in Bayern 500 Kinder zusätzlich an die Schulen – jeden Tag! Das ist richtig viel. Da hilft es auch nicht, wenn sich die Bundesministerin hinstellt und sagt: Wir stellen ein paar Stühle dazu. – Das wird am Ende des Tages nicht reichen. Deswegen möchte ich Ihnen ganz klar sagen: Hören Sie auf die Leute, die das vor Ort gerade ehrenamtlich machen! ({7}) Hören Sie auf die Leute, die das im Moment ehrenamtlich machen! ({8}) Die Ehrenamtsstrukturen in Bayern sind übrigens die besten der ganzen Bundesrepublik, und ich weiß, wovon ich rede. ({9}) – Ich weiß, wovon ich rede. – Jetzt müssen leider auch die bayrischen Abgeordneten der Ampel klatschen. Deswegen haben wir Ihnen vor einigen Tagen eine Kleine Anfrage zukommen lassen. ({10}) Keine Sorge, wir haben nicht erwartet, dass Sie die so schnell beantworten. Aber wir stellen natürlich schon Fragen, ({11}) auf die wir – davon gehe ich aus –, hoffentlich zeitnah, eine Antwort bekommen wollen, nämlich: Wie viel Geld gedenkt der Bund auszugeben für die Kinder und Jugendlichen und für deren Beschulung? Es geht nicht darum, dass wir in den Bildungsföderalismus eingreifen wollen, sondern darum, dass wir den Ländern nicht eine Aufgabe überhelfen wollen, die sie allein nicht stemmen können, vor allem finanziell nicht allein stemmen können. ({12}) Diese Frage ist von Ihnen bisher nicht beantwortet worden. ({13}) Denn in Ihrem Antrag schreiben Sie ja selber: vorbehaltlich „der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“. Jetzt würde uns interessieren: Wie viel stellen Sie denn zur Verfügung? Darauf haben wir keine Antwort. Wir haben auch keine Antwort, wie viele Kinder aktuell im gesamten Bundesgebiet schon beschult werden, ob sie regelbeschult werden oder ob sie in Willkommensklassen sind. ({14}) – Ach, wissen Sie was? Wer laut schreit, ist meist getroffen; das ist immer so. Das ist natürlich bitter, wenn man über Jahre etwas über die besonders gute Flüchtlingspolitik erzählt, aber dann, wenn es zur Einlösesituation kommt, total versagt. Das ist das, was bei Ihnen jetzt gerade passiert. ({15}) Ich kann nur sagen: Halten Sie sich an unseren Masterplan, den wir vorgelegt haben! Schauen Sie sich unsere Fragen an, und versuchen Sie, sie zu beantworten! Die Drucksachennummer – kleiner Service von mir – ist 20/1603. Wir sind sehr gespannt, was am Ende herauskommt. Wir werden Sie natürlich am Schluss an Ihren Taten messen. Bis dahin bedanken Sie sich bei denjenigen, die es vor Ort freiwillig und ehrenamtlich in Ihrem Auftrag machen. Danke schön. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ruppert Stüwe hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ruppert Stüwe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005236, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und: Ich finde es großartig, dass auch so viele Schülerinnen und Schüler heute hier sind und der Debatte zuhören. ({0}) Liebe Frau Ludwig, eigentlich will ich nur eine Sache sagen. Ihr Masterplan scheint so wichtig zu sein, dass Sie nicht einmal eine Sekunde Ihrer Redezeit zu den Inhalten Ihres Masterplans verloren haben. Vielleicht sagt das auch einiges. ({1}) Wir machen einfach beides: Wir schreiben die Anträge, und wir handeln ganz konkret, sowohl in der Bundesregierung – die betreffende Bundesministerin ist heute hier – als auch in den Ländern wie in Berlin oder wie in Niedersachsen zum Beispiel, wo Hannover ein Drehkreuz ist, oder wie in Hamburg, wo wir extra einen Schwerpunkt legen auf die Wissenschaft und die Integration von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ich finde es gut, in der Regierungskoalition zu arbeiten, wo wir beides machen: Anträge schreiben und handeln. ({2}) Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch ein Angriff auf Bildung und Wissenschaft. Das Recht auf Bildung und die Wissenschaftsfreiheit sind Grundfesten einer demokratischen Gesellschaft. Viele Kinder und Jugendliche, die vor Kurzem noch ihre Kindergärten und Schulen in der Ukraine besucht haben, können das nicht mehr. Erzieherinnen und Lehrerinnen können nicht mehr ihren Beruf ausüben, Studierende nicht mehr an ihre Hochschule und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich nicht mehr in Lehre und Forschung engagieren. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Russlands Krieg den Menschen in der Ukraine das Recht auf Selbstentfaltung durch Bildung und Forschung versagt. ({3}) Das ist der Kern unseres Antrags. Wenn wir das richtig machen wollen, dann sind die Aufgaben, vor denen wir stehen, tatsächlich groß. Als Folge des Krieges rechnet die Kultusministerkonferenz mit 400 000 Schülerinnen und Schülern, die nach Deutschland flüchten. Die Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen rechnen mit 100 000 Studierenden und Wissenschaftlern, die aus der Ukraine nach Deutschland kommen, darunter übrigens auch Menschen, die keine ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind, unsere Unterstützung aber ganz genauso verdient haben, weil sie vor diesem Krieg ganz genauso fliehen wie alle anderen Ukrainerinnen und Ukrainer. ({4}) Ich möchte mich zuerst bei denen bedanken, die von Beginn an Unterstützung und Hilfe geleistet haben. Diese Unterstützung an unseren Schulen und Hochschulen, bei den Wissenschaftsorganisationen und Forschungseinrichtungen war von Anfang an groß; da haben Sie tatsächlich recht. Jetzt müssen wir diese Unterstützung mit einer langfristigen Perspektive versehen. Ich will das gern an drei Punkten verdeutlichen, die wir in unserem Antrag festgehalten haben und wo die Bundesregierung schon handelt. Erstens. Organisationen wie der Deutsche Akademische Austauschdienst müssen sich auf die finanziellen Hilfen des Bundes verlassen können. Immerhin arbeitet der DAAD als nationale Koordinierungsstelle eng mit den Hochschulen zusammen. Er bietet den Studierenden aus der Ukraine Orientierung, wo sie studieren können, und er bietet auch Stipendien. Das Gleiche gilt für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Mit ihrer Philipp-Schwartz-Initiative bietet sie geflüchteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schnell und unbürokratisch einen sicheren Hafen. Deshalb war es auch gut und richtig, dass wir als Ampel – übrigens zügig – dafür gesorgt haben, dass ukrainische Studierende schon jetzt BAföG beziehen können. Wir helfen schnell, und wir bieten eine langfristige Perspektive. ({5}) Zweitens gilt: Hilfen sind das eine; mit dem Antrag setzen wir uns aber auch dafür ein, dass wir bei den Hilfen für die Menschen in der Ukraine ihre Bildungsabschlüsse und Qualifikationen ernst nehmen. Ich finde es gut, dass sich viele Einrichtungen in Bildung und Forschung flexibel und unbürokratisch für eine Anerkennung von Qualifikationen einsetzen. Das ist notwendig, um den geflüchteten Menschen eine echte Perspektive zu bieten. Hier können wir es jetzt richtig machen. Wir wissen, wie wichtig es ist, vorhandene Qualifikationen ernst zu nehmen. Jetzt können wir einen Maßstab dafür setzen, wie wir das auch in Zukunft bei allen, die zu uns kommen werden, bei der Anerkennung handhaben werden. Drittens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung in der Ukraine ist ungewiss. Klar ist, dass auch die Infrastruktur in Bildung und Wissenschaft zum Ziel von Russlands Krieg geworden ist. Wir lesen Woche für Woche, dass Bildungseinrichtungen bombardiert werden. Deshalb gehört der Wiederaufbau im Bereich von Bildung und Wissenschaft zu unserem Konzept. Denjenigen, die zu uns kommen, müssen wir eine doppelte Perspektive geben, eine Perspektive im deutschen Bildungs- und Wissenschaftssystem und eine Perspektive für Bildung und Wissenschaft in der Ukraine. Wer zurückkehren will, wer zurückkehren kann und wer irgendwann wieder zurückkehren wird, muss zurückkehren können in ein Bildungs- und Wissenschaftssystem in der Ukraine, das von uns unterstützt wird. Auch das halten wir in diesem Antrag fest. ({6}) Der Angriffskrieg Russlands hat noch einmal deutlich gemacht: Auch die Wissenschaft ist kein abgekoppeltes System. Daher wird Wissenschaftsdiplomatie ein stärkerer Teil unserer wertegeleiteten Außenpolitik sein. Wir müssen besser prüfen, wie wir mit internationalen Wissenschaftskooperationen Freiheit und Fortschritt stärken und nicht Autokraten stabilisieren. Im Fall der Ukraine heißt das: Wir müssen eine Perspektive für Bildung, Wissenschaft und Demokratie bieten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können es jetzt richtig machen. Genau das tun wir als Ampelkoalition und mit diesem Antrag. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die AfD-Fraktion hat Dr. Götz Frömming das Wort. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem allgemeinen Kommentar beginnen, der sich auch auf die vorangegangene Debatte bezieht: Wer Ungleiches gleich behandelt, der handelt weder moralischer noch vernünftiger, sondern einfach nur töricht, meine Damen und Herren. ({0}) Den Unterschied zwischen 2015 und heute nicht zu erkennen, dazu gehört schon viel. Jetzt ist der Kollege Lindh leider nicht mehr da. Aber fast hätte ich gesagt: Den muss eigentlich auch ein Blinder mit Krückstock erkennen. ({1}) 2015, meine Damen und Herren, mussten die öffentlich-rechtlichen Medien Frauen und Kinder mit der Lupe suchen, um sie uns anschließend im Fernsehen zu präsentieren. Heute ist es anders: Es kommen überwiegend Frauen und Kinder. Damit kommen wir auch zu unserem Thema: Es kommen überwiegend natürlich auch Schülerinnen und Schüler und auch Studentinnen und Studenten. Die Zahlen sind schon genannt worden: Über 113 000 Schüler sind bereits an den Schulen aufgenommen worden. Bis zu 400 000 – das wurde, glaube ich, noch nicht gesagt – werden erwartet. Hinzu kommen 100 000 Studenten, die an die Hochschulen kommen wollen. Meine Damen und Herren, angesichts dieser Zahlen ist das, was Sie als Ampelkoalition vorgelegt haben, wirklich ein Witz. Es droht eine enorme Belastung, und es ist schon die zweite Belastung, die auf die Schulen innerhalb kürzester Zeit zukommt. Die Schülerinnen und Schüler, die Lehrer und Eltern haben noch gar nicht Ihre Coronamaßnahmen verdaut. Jetzt kommt schon die zweite Krise auf sie zu, und Sie lassen sie ein zweites Mal im Regen stehen. Meine Damen und Herren, das darf nicht sein. Ein zweites Mal darf eine solche Krise nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. ({2}) Die Kollegin von der CDU hat es bereits richtigerweise gesagt: Wenn wir uns Ihren Antrag anschauen, enthält der viele wohlfeile Absichtserklärungen, viel heiße Luft; an konkreten Zahlen findet man äußerst wenig. Eine Zahl wird genannt: Das ist die 1 Milliarde Euro, die sich der Bildungsbereich mit dem Gesundheitsbereich und dem Pflegebereich auch noch teilen soll. Auf der anderen Seite waren Sie doch in der Lage, in aller Kürze 100 Milliarden Euro für Waffen in den Raum zu stellen, das berühmte Sondervermögen. 100 Milliarden Euro für Waffen, 1 Milliarde Euro für Bildung – das ist ein extremes Ungleichgewicht, wenn man einmal bedenkt, dass schon vor der Krise beispielsweise die KfW den Bedarf für die Renovierung unserer Schulen auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt hat. Jetzt kommt diese Belastung noch dazu. Wie soll denn das weitergehen? Das werden Sie vor allen Dingen auch den Eltern in den nächsten Monaten erklären müssen. ({3}) Unser Antrag, den wir Ihnen als kleine Hilfe vorgelegt haben, damit Sie hier möglicherweise auch zusammen mit den Ländern und den Kommunen hoffentlich bald noch zu etwas Konkreterem kommen, enthält hingegen einige konkrete Vorschläge. Wir fordern einerseits, den Finanzbedarf für bis zu 24 000 Lehrer – diese Zahl kommt aus der KMK – wirklich ehrlich zu ermitteln: Was kosten 24 000 Lehrer? Können die Kommunen das selber schultern? Welche Räume werden darüber hinaus gebraucht? Dazu finden wir nichts in Ihrem Antrag. Darüber hinaus schlagen wir Ihnen die Einbindung der ukrainischen Lehrkräfte vor – dazu haben wir auch relativ wenig gehört –; das müsste noch intensiviert werden. Denn, meine Damen und Herren, wichtig ist auch, eines festzuhalten: Die ukrainischen Kinder, die Flüchtlinge wollen ja wieder zurückgehen; sie wollen ihre Identität bewahren. Sie sind nicht gekommen, um die Defizite auf unserem Arbeitsmarkt zu stoppen. Also, kommen Sie gar nicht auf die Idee, damit die Defizite, die in unserem Land durch Ihre Regierung angehäuft worden sind, zu beheben! ({4}) Der letzte Punkt. Wir schlagen auch vor, die Lernplattform in der Ukraine zu nutzen; die hat sich in der Coronapandemie bewährt. Man kann sie hervorragend in den deutschen Unterricht integrieren. Schlusswort: Bildung ist nicht nur eine Ware; aber man braucht für gute Bildung auch Geld. Also, geben Sie sich einen Ruck, meine Damen und Herren! ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Frömming, möglicherweise haben Sie gedacht, das sei eine lustige Bemerkung, die Sie zu Herrn Lindh gemacht haben. Ich will Sie darauf hinweisen, dass das erstens kein Umgang mit einem Kollegen ist, der offensichtlich gerade einen Unfall hatte. Zweitens ist es auch kein Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen, eine solche Bemerkung hier im Parlament zu machen. ({0}) Das Wort geht an den Kollegen Kai Gehring für Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltoffenheit steht Deutschland so viel besser zu Gesicht, als nationale Engstirnigkeit und Menschen gegeneinander auszuspielen. Das meint die demokratische Mehrheit in diesem Hohen Haus, wenn es um Integration und Inklusion durch Bildung geht. ({0}) Der 24. Februar 2022 wird als Zäsur in die Geschichtsbücher eingehen; auch für die Bildungs- und Wissenschaftskooperation ist der Kriegsbeginn eine Zäsur. Der jahrzehntelange Austausch in Bildung, Wissenschaft und Forschung mit der Ukraine wird unter schwersten Bedingungen fortgesetzt. Oberste Priorität ist die schnelle, unkomplizierte Unterstützung für die Menschen aus der Ukraine. Wir stehen fest an ihrer Seite! ({1}) Kooperationen mit Russland und Belarus wurden auf Eis gelegt. Das russische Regime darf in der aktuellen Situation nicht von deutschem und europäischem Know-how profitieren. Zugleich sind wir auch mit den vielen Tausend russischen Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern solidarisch, die sich mutig gegen den völkerrechtswidrigen Krieg des Kremls gestellt haben. Zu ihnen sollten persönliche Gesprächskanäle offen bleiben. ({2}) Wissenschaftsfreiheit und das Recht auf Bildung sind Gradmesser für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Russlands Angriffskrieg ist auch ein Feldzug gegen diese Werte. Er zerstört ukrainische Bildungsinfrastrukturen, mordet Lernende und Lehrende. Das ist barbarisch und muss gestoppt werden. ({3}) Putins Angriffskrieg führt uns die Grenzen der Wissenschaftsdiplomatie klar vor Augen. So wie Politik und Wirtschaft geostrategisch keine voneinander trennbaren Sphären sind, braucht auch Wissenschaftspolitik eine Neuausrichtung gegenüber autokratischen Regimen. Der Krieg bringt unermessliches Leid über die ukrainische Bevölkerung. Kinder und Jugendliche werden ihrer Bildungschancen beraubt. Die Kampfhandlungen unterbrechen Bildungswege und akademische Laufbahnen. Wir wollen Menschen unterstützen, damit sie, wo es möglich ist, vor Ort, in der Ukraine, weiter lernen und arbeiten können. Diejenigen, die bei uns in Deutschland Schutz suchen, wollen wir in unserem Bildungs- und Hochschulsystem willkommen heißen. Das ist doch selbstverständlich. ({4}) Ihnen Schutz und Zukunftsperspektiven zu bieten, ist mehr als nur unsere humanitäre Pflicht. Es ist eine Investition in die Zukunft einer demokratischen und freien Ukraine, letztlich in ein demokratisches und freies Europa. ({5}) Wir stehen vor großen Aufgaben, die das Zusammenwirken aller erfordern. Ich muss mich über die Unionsfraktion, liebe Frau Ludwig, schwer wundern. ({6}) Sie machen hier Krawall und Remmidemmi und haben 16 Jahre das Kooperationsverbot in der Bildung unter Naturschutz gestellt. ({7}) Es braucht aber einmal mehr eine Verantwortungsgemeinschaft aller Ebenen, und dazu lade ich die CSU und Bayern herzlich ein. ({8}) Umso dankbarer sind wir für die riesige Hilfsbereitschaft von Ländern und Kommunen, von Zivilgesellschaft, von Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Mittlerorganisationen wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. ({9}) Ihre Arbeit ist so wichtig. Danke dafür. ({10}) Länder, Kommunen und Kollegien engagieren sich für die Integration in Schulen. Notwendig sind zusätzliche Fachkräfte, multiprofessionelle Teams mit Expertise in der Behandlung von Traumata und in asylrechtlichen Fragen sowie in Deutsch als Zweitsprache. Unter anderem die KMK hat hier gute Vorschläge gemacht. ({11}) Es ist so wichtig, dass die Bundesregierung die Programme für verfolgte Wissenschaftler/-innen ausweitet. Das Engagement einzelner Länder, wie zum Beispiel Berlin und Baden-Württemberg, die zusätzliche Landesschutzprogramme für verfolgte Wissenschaftler/-innen haben, ist gelebte Solidarität. Dieses Engagement muss auf die europäische Ebene getragen werden: Als Kontinent der Wissenschaftsfreiheit brauchen wir ein europaweites Programm „Scholars at Risk“. ({12}) 2015 wurde das Bundesprogramm „Integra“ auf den Weg gebracht. Dadurch wurde vielen Geflüchteten aus Syrien und dem arabischen Raum Studium und Abschluss in Deutschland erfolgreich ermöglicht. ({13}) Diese Blaupause sollten wir jetzt nutzen, um Geflüchtete aus der Ukraine zu integrieren. Es braucht ein „Integra Ukraine“ und breite Zugänge zu Integrations- und Sprachkursen. ({14}) Hilfe darf nicht von Nationalität abhängen. Unter den Studierenden, die aus der Ukraine zu uns kommen, befinden sich auch Menschen aus Drittstaaten, die Bleibeperspektiven auch über den August hinaus benötigen. Das Bundesland Hamburg geht hier voran: Alle internationalen Studierenden, die vor Putins Krieg fliehen, erhalten hier eine Aufenthaltserlaubnis zur Fortsetzung ihres Studiums. Das ist genau der richtige Ansatz. Mögen viele Bundesländer folgen! ({15}) Weltoffenheit steht Deutschland viel besser zu Gesicht als nationale Engstirnigkeit. Darum haben wir uns vorgenommen, das Einwanderungsrecht und das Anerkennungsgesetz weiterzuentwickeln – endlich! ({16}) Studierende aus der Ukraine erzählen mir, wie wichtig es ist, ihr Studium in dieser Situation fortsetzen zu können, ob digital, modular oder immatrikuliert. Das gibt ein Stück Halt in einem Alltag voller Sorgen, es schafft Perspektiven und dient auch als Vorbereitung. Denn viele warten und hoffen darauf, bald zurückkehren zu können und ihr Land wieder aufzubauen. Ich wünsche mir, dass wir zusammen mit internationalen und europäischen Partnern dann beim Wiederaufbau helfen, zum Beispiel durch einen Wiederaufbaufonds für die Wissenschaft. Bildungsinstitutionen sind kritische Infrastruktur, –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– sie sind system- und zukunftsrelevant. Letzter Satz: Auch deshalb stehen wir als Demokratinnen und Demokraten an der Seite der Ukraine, damit Menschlichkeit gewinnt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Nicole Gohlke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Bildung für alle – dieses Ziel eint uns, zumindest die demokratischen Fraktionen. ({0}) Folgerichtig müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, um auch den Geflüchteten aus der Ukraine dieses Recht zuteilwerden zu lassen. Folgerichtig wäre dann aber auch, dass solche Maßnahmen allen Geflüchteten in gleicher Weise zuteilwerden. ({1}) Denn es geht hier um das Recht auf Bildung und um gleiche Rechte für alle, die hier leben. Was die Ampel aber gerade macht, ist: Sie verfahren nach Goodwill und nicht wie mit einem Grundrecht. Der eine kriegt etwas, der andere kriegt es nicht, oder er kriegt es weniger. Für Die Linke ist klar: Allen asylsuchenden und geduldeten Menschen muss der frühestmögliche Zugang zu Berufsberatung, Ausbildung, Studium und Beschäftigung ermöglicht werden. Dafür stehen wir. ({2}) Über 110 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind bis jetzt im deutschen Bildungssystem angekommen. Laut Prognose der KMK sollen es bundesweit möglicherweise 400 000 werden. Das Problem ist doch, dass sie hier auf eine völlig überstrapazierte und in Teilen marode Bildungsinfrastruktur treffen, ({3}) dass es schon seit Jahren zu wenige Lehrkräfte gibt, zu wenige mit Fähigkeiten in Deutsch als Zweitsprache, obwohl nicht das erste Mal Menschen auf der Flucht sind und zu uns kommen. Das Problem ist, dass Sprachlehrer und Sprachlehrerinnen in der Regel mies bezahlt sind, dass es zu wenig Deutschkurse gibt, die nötig sind für die Anerkennung und den beruflichen Einstieg, dass die Schulgebäude und Turnhallen marode sind, dass es kaum Räumlichkeiten gibt, zum Beispiel für die Willkommensklassen. ({4}) Die allererste Aufgabe von Bildungspolitik ist jetzt, für die materiellen Voraussetzungen zu sorgen, dass alle Kinder und jungen Menschen gut versorgt werden können. ({5}) Das müssen alle Ebenen gemeinsam angehen. Eineinhalb Jahrzehnte haben wir mit diesem – Entschuldigung! – wirklich völlig bescheuerten Kooperationsverbot in der Bildung gelebt. Es wurde an Paragrafen rumgedoktert und diskutiert, ob der Bund einen Sprachkurs, einen Laptop oder ein Schulklo finanzieren darf. Ehrlich gesagt: Wer jetzt, nach den Erfahrungen mit Pandemie und Krieg, immer noch sagt: „Nee, für Schulbauten oder Lehrkräfte darf der Bund kein Geld geben, das ist alleinige Aufgabe der Kommunen oder der Länder“, der oder die hat den Schuss einfach nicht gehört. ({6}) Das muss doch jetzt wirklich bei allen angekommen sein, dass wir eine Gemeinschaftsaufgabe „Bildung“ im Grundgesetz brauchen statt dieses wirklich völlig dysfunktionalen Wettbewerbsföderalismus. ({7}) Was ist jetzt zu tun? Es braucht ausreichende und kostenfreie Deutschkurse, eine vereinfachte Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, einen unbürokratischen Zugang zu Kitas und Schuleinrichtungen, einen erleichterten Zugang zu Hochschulen. Heben Sie endlich das Kooperationsverbot in der Bildung auf! Die Linke fordert gemeinsame Sofortprogramme von Bund und Ländern ({8}) zur Aus- und Weiterbildung zusätzlicher Lehrkräfte und für die Sanierung und den Neubau von Schulgebäuden. Mit der Ausstattung und dem Personal steht und fällt, ob Integration und gute Bildung für alle gelingen wird. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Weil es in der vorigen Debatte von Rednerinnen und Rednern schon erwähnt worden ist und weil wir so lange keine Besucherinnen und Besucher in diesem Plenarsaal hatten, will ich Ihnen auf den Tribünen ein herzliches Willkommen sagen. Wir sind in einer Bildungsdebatte. Es sind viele Schülerinnen und Schüler da. Wir freuen uns total, dass Sie heute hier sind. ({0}) Das Wort gebe ich an Friedhelm Boginski für die FDP-Fraktion. ({1})

Friedhelm Boginski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005028, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben die schrecklichen Bilder des Krieges vor Augen, die uns tagtäglich aus der Ukraine erreichen. Viele Flüchtende erreichen Deutschland mit schweren Traumata. Umso wichtiger ist es, das wir den ankommenden Menschen in jeder Hinsicht helfen, sie schützen und ihnen unsere uneingeschränkte Solidarität entgegenbringen. ({0}) Der großen Anzahl an flüchtenden Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden sowie Studentinnen und Studenten müssen wir auch in diesen für sie unfassbar schweren Zeiten eine Perspektive bieten. Die Möglichkeit zur Teilhabe an unterschiedlichsten Bildungs- und Betreuungsangeboten hier bei uns in Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle; denn das Recht auf und der Zugang zu Bildung ist ein wesentlicher Baustein einer freien Gesellschaft. Dieses Recht wird den Ukrainerinnen und Ukrainern durch den Angriffskrieg Russlands verwehrt. Ausdrücklich möchte ich daher das Engagement und die Bereitschaft vieler Betriebe loben, die Auszubildende aus der Ukraine aufnehmen, ihnen einen Ausbildungsplatz anbieten und so eine wertvolle Möglichkeit der Bildung und Qualifizierung bieten. Ihnen allen gilt unser ganz besonderer Dank. ({1}) Grundlage sozialer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Teilhabe ist die Sprache. Die Vermittlung und die Verbesserung der Deutschkenntnisse der Schutzsuchenden sind daher essenziell, auch wenn diese nur zeitweise hierbleiben sollten. Darauf muss bei allen Hilfsmaßnahmen eine Schwerpunktsetzung liegen. Die Kommunen, aber auch Betriebe, Bildungseinrichtungen und Anbieter dürfen hierbei nicht alleingelassen werden. Sie gehen oft finanziell in Vorleistung und erhalten derzeit eine Entschädigung nur bei erfolgreichem Abschluss eines Sprachkurses. Was ist aber, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor dem Abschluss in ihre Heimat zurückkehren können? Hier besteht Handlungsbedarf. Gerade mit pragmatischen Maßnahmen helfen wir den ankommenden Menschen aus der Ukraine unabhängig davon, wie lange sie hierbleiben. Umso wichtiger sind daher eine unbürokratische einheitliche Anerkennung ukrainischer Abschlüsse und Schuljahre und die Unterstützung bei Berufsorientierungsmaßnahmen. Damit leisten wir einen Beitrag, das Leid der vielen flüchtenden Menschen ein wenig zu lindern. Danke. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Carolin Wagner hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carolin Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Studium beginnt jedes Jahr für viele junge Menschen ein neuer Lebensabschnitt. Und in diesem neuen Lebensabschnitt sollten sich diese jungen Menschen neues Wissen und Können aneignen. Sie sollten ihren Horizont erweitern, sich ihrer Verantwortung in der Gesellschaft und in der Welt bewusst werden, Geschäftsideen entwickeln, sie sollten Praxiserfahrungen machen, die sie in das nächste Semester mitbringen und anhand derer sie das theoretisch erworbene Wissen festigen, diskutieren, philosophieren, parlieren, experimentieren, lernen, vieles lesen, noch mehr nachdenken, dann wieder lesen, lachen und, klar, auch feiern. Ja, das alles sollten junge Menschen im Studium tun. Was sie eigentlich auf gar keinen Fall tun sollten, das ist, ihre wichtigsten Sachen in einen Rucksack oder in einen Koffer stopfen, Hals über Kopf ihre Studienstadt verlassen und in ein völlig fremdes Land fliehen, weil sie um Leib und Leben fürchten. ({0}) Doch genau das ist die bittere Realität für Tausende Studierende aus der Ukraine. Die Hochschulen und der DAAD rechnen mit 100 000 von ihnen in Deutschland. Neben all den anderen Dingen, die wir tun, damit dieser fürchterliche Krieg in der Ukraine endet, ist es unsere Pflicht, allen hier ankommenden Menschen Schutz und Zukunftsperspektiven zu bieten. ({1}) Für geflüchtete Studierende bedeutet das, dass sie ihr Studium hier bei uns in Deutschland fortführen können. Gemeinsam mit den Ländern und den Hochschulen müssen wir hierfür die Ausgangsbedingungen schaffen. Eine ganz zentrale Ausgangsbedingung hierfür haben wir schon auf den Weg gebracht – Frau Ludwig, jetzt bitte aufpassen –: ({2}) Zum 1. Juni, in nur wenigen Tagen wird das BAföG für geflüchtete ukrainische Studierende und Auszubildende geöffnet. Wir geben ihnen damit eine zuverlässige Finanzierungsgrundlage für ihren weiteren Bildungsweg. ({3}) Hier zeigt die Ampelkoalition einmal mehr, dass sie schnell und gezielt und verantwortungsvoll handelt. Dass die Union bei diesem Tempo nicht hinterherkommt, dafür habe ich als Bayerin ja ein gewisses Verständnis; denn in der CSU will man ja sogar an dem Auslaufmodell „10‑H-Regelung“ festhalten. Das sagt ja wohl alles. ({4}) Im nächsten Schritt müssen wir weitere mögliche Stolperfallen in den Blick nehmen, die es auszuräumen gilt. Gemeinsam mit den Ländern und den Hochschulen müssen wir dafür sorgen, dass die von den Studierenden an ihren Heimatuniversitäten bereits erbrachten Leistungen unbürokratisch anerkannt werden, dass formale Studienvoraussetzungen an den Hochschulen, insbesondere Sprachkenntnisse, bedarfsgerecht flexibilisiert werden, dass zusätzliche Unterstützungsangebote vor und während des Semesters eingerichtet werden. Dass die ukrainischen Studierenden an den Hochschulen mit offenen Armen empfangen werden, habe ich kürzlich in meinem Wahlkreis gesehen. Das erste Campusfest nach Corona, das an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg vor zwei Wochen stattfand, war ein Willkommensfest für ukrainische Studierende. Jetzt gilt es, an den regulatorischen Stellschrauben so zu drehen, dass die ukrainischen Studierenden bei uns im Wintersemester wieder das tun können, was sie eigentlich tun sollten: unbeschwert leben, lernen und ihren Bildungsweg weiter fortsetzen. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Norbert Altenkamp hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer vor dem schrecklichen russischen Angriffskrieg in der Ukraine flieht, zutiefst traumatisiert ist, Todesangst ertragen musste, vielfach Angehörige verloren hat, die Zerstörung von Schulen, Kliniken und ganzen Städten mitangesehen hat, der soll hier in Deutschland sicher ankommen, sich bei uns sicher fühlen und alle Chancen auf schnelle Hilfe und Integration haben. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche, die rund die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen und dringend von unserem Bildungssystem aufgefangen werden müssen. Das gilt ebenso für Studierende und Forschende, die bei uns Schutz suchen. Sie alle brauchen neue Chancen, neue Perspektiven – in den Kitas, in den Schulen, in der Ausbildung und an den Universitäten. In unseren Gremien haben wir schon mehrfach über die Herausforderungen gesprochen, die mit dieser Integration verbunden sind und die wir dringend meistern müssen. Der Antrag bietet aber lediglich eine gute Zusammenfassung der vielfältigen Aktivitäten und des zupackenden Engagements unserer Bürgerinnen und Bürger sowie aller Institutionen des Landes. Aber was sind hier die neuen Impulse des Bundes? Fehlanzeige! In den Kommunen wurde besonders schnell und beherzt angepackt und das Nötige veranlasst, um die Schulen auf den Ansturm der Flüchtlinge vorzubereiten, und das auf jeden Fall in meinem Wahlkreis und in vielen anderen mit sehr großem Erfolg. Hier geht der herzliche Dank wirklich an alle Ehrenamtlichen vor Ort, an Lehrer, an Lehrende an den Universitäten, die Überstunden machen, denen ihre Zeit dafür nicht zu schade ist. – Ihr leistet wirklich hervorragende Arbeit. Dafür ein herzliches Dankeschön! ({0}) Einen großen Beitrag zur Integration in die Schulen hat die Kultusministerkonferenz unter der Leitung der von mir sehr geschätzten Bildungsministerin Karin Prien geleistet. ({1}) Die von ihr initiierte Taskforce stimmt die übergeordneten Fragen zum Schulbesuch ukrainischer Kinder und Jugendlicher bundesweit und mit dem BMBF ab, und im Hinblick auf die ukrainischen Schulabschlüsse auch mit der ukrainischen Regierung. Damit hat sie Integration zur Chefsache gemacht. Bei der Lösung der praktischen Probleme vor Ort sind die Ministerien der Länder gefragt. In meinem Bundesland Hessen leistet hier vor allem das Ministerium von Alexander Lorz und seinen Mitstreitern besondere Arbeit. ({2}) Aber sie brauchen die finanzielle Hilfe des Bundes, der ja auch bislang pauschal 1 Milliarde Euro für die Flüchtlingshilfe zugesagt hat. Nach den jüngsten Zahlen der Taskforce von Mitte Mai werden aktuell bereits über 110 000 Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen unterrichtet – störungsfrei. Da niemand weiß, wie lange der Krieg dauern wird, kann das Ziel nicht nur die kurzfristige Versorgung sein. Es geht darum, die jungen Menschen so zu unterstützen, dass es allen Seiten nutzt, auch wenn viele wahrscheinlich doch wieder zurückgehen werden. Die Kulturpolitik der Länder und Kommunen ist im Wesentlichen das Rückgrat aller Integrationsmaßnahmen. Aber sie stößt an ihre finanziellen Grenzen. Deshalb stellt sich ganz klar die Frage: Warum so unkonkret? Wo ist der eigene Beitrag des BMBF, des Bundes insgesamt? Wo genau bringt sich der Bund mit zusätzlichem Geld ins Spiel? ({3}) Wenn Ihr Antrag keine Nebelkerze sein soll, machen Sie bitte überzeugende Vorschläge dazu, wie die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen konkret verbessert werden soll, um das von Ihnen geforderte Recht auf Bildung zu Recht zu verwirklichen. ({4}) Auf welcher rechtlichen Basis soll das passieren? Welche Abstimmung gibt es dazu bereits mit den Ländern und Kommunen? Konkretisieren Sie, mit welchem Anteil sich der Bund an den Bildungsaufgaben für Ukraineflüchtlinge im Rahmen der 1‑Milliarde-Euro-Hilfe an die Länder und Kommunen für die Flüchtlinge insgesamt beteiligen soll. ({5}) Außerdem: Wo bleibt das im Koalitionsvertrag angekündigte Startchancen-Programm für 4 000 Schulen, das gerade jetzt auch einen Beitrag für die Betreuung leisten könnte mit Maßnahmen für mehr Schulsozialarbeiter. Bisher liegt noch kein Konzept vor, bisher gibt es noch keine Finanzierung im Bundeshaushalt 2022. Wo bleiben insgesamt neue Angebote für psychosoziale Betreuung? Wir brauchen mehr Therapeuten und Therapieplätze für Kinder und Jugendliche. Das käme auch unseren Schülerinnen und Schülern zugute, die ja auch ihre Probleme haben. Hier sind auch der Bund und die Krankenkassen gefordert, mehr Mittel genau dafür bereitzustellen. In Ihrem Antrag kein Wort dazu! Und warum nutzen Sie Ihren Antrag nicht, um die überzeugenden Empfehlungen des DAAD und der HRK für ein vom Bund finanziertes Unterstützerprogramm für Studierende ganz konkret aufzugreifen? Das erfordert laut DAAD Bundesmittel von rund 80 Millionen Euro. In Ihrem Antrag kein Wort dazu! Mittel dafür sind im Haushalt 2022 nicht eingestellt. Das wäre allerdings gut investiertes Geld, das allen Seiten Vorteile bringt. Ich freue mich darauf, Ihren Antrag gemeinsam mit Ihnen zu einem echten Unterstützerprogramm weiterzuentwickeln, der dann lautet: Masterplan Bildung und Forschung für Geflüchtete aus der Ukraine. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Maja Wallstein hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Maja Wallstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe keinen Anlass, hier wortreich darum herumzureden: Dieser unser Antrag allein wird nicht reichen, um all die Herausforderungen zu bewältigen, die seit dem Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in allen Bereichen aufkommen. Aber dieser Antrag ist ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Baustein im Bildungs- und Forschungsbereich, um dem Auftrag, den wir tagtäglich von den Menschen in unserem Land erhalten, gerecht zu werden. ({0}) Dieser Antrag ist nämlich ein klares Bekenntnis zu der Solidarität, die die Menschen in unserem Land in ihren Herzen spüren, ({1}) die sie am Wochenende sogar beim Eurovision Song Contest laut und bunt demonstriert haben, aber die sie vor allem auch jeden Tag mit ihren Taten gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern leben. ({2}) Es ist die Solidarität, die Ihnen von der AfD so fern ist, wie fern einem etwas nur sein kann. ({3}) Das zeigen Sie hier in jeder Debatte, Mensch! Sie wollen diese Solidarität angreifen. ({4}) Wir werden dafür kämpfen, dass wir ein solidarisches Land bleiben. ({5}) Unser Antrag benennt klar die Baustellen, und er sagt, wohin die Reise gehen muss. ({6}) Seit März wohnt Katja aus Charkiw mit ihren Kindern bei mir. Sie ist Grundschullehrerin. Es ist doch vollkommen klar, dass wir sicherstellen müssen, dass ihre pädagogische Ausbildung möglichst schnell und unbürokratisch anerkannt wird. Und es ist auch völlig klar, dass wir das Recht auf Bildung für Mascha, Julia und Nikita trotz des Krieges erhalten müssen. Und es ist außerdem doch vollkommen klar, dass wir ukrainischen Familien für ihre Kinder eine Kitabetreuung und einen Platz in der Schule anbieten und dass wir ihre Gesundheitsversorgung übernehmen. Es ist auch völlig klar, dass all die Maßnahmen, die in diesem Antrag enthalten sind, nicht alleine stehen können. Dazu gehört deshalb eben auch, dass ukrainische Studierende BAföG erhalten können, und dazu gehört, dass Ukrainerinnen und Ukrainern die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtert wird, und dazu gehört, dass sie kostenlose psychologische Beratung und auch Coronaimpfungen erhalten können. ({7}) Dazu gehört, dass wir sie sofort und unkompliziert als das anerkennen, was sie sind, nämlich Menschen, die vor einem furchtbaren Krieg, vor einem unfassbar sinnlosen Akt der Gewalt fliehen müssen. ({8}) Das ist alles so selbstverständlich und trotzdem keineswegs so einfach, wie man glaubt. Das ist mit Geld verbunden. Das ist mit enormen Kraftanstrengungen vieler Akteure verbunden, darunter natürlich Studierendenverbände, Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Schulen. Es ist eine Kraftanstrengung der Länder, der Kommunen und vor allem der vielen hilfsbereiten Menschen in unserem Land. Das darf man nicht so einfach wegwischen. Darum gilt das letzte Wort meiner Rede genau denen, die die Herausforderungen tagtäglich meistern: Danke. ({9})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der brandenburgische Ministerpräsident Steinbach ({0}) hat gesagt, dass jede Woche ohne Ölembargo eine gute Woche ist – und recht hat er. Und ich sage, dass jedes Jahr ohne Embargo und ohne Sanktionen ein gutes Jahr ist; denn solche Embargos schädigen uns, meine Damen und Herren. ({1}) Herr Minister Habeck hat uns ja auch getäuscht. Er hat gesagt, wir seien von dem 35‑prozentigen Anteil russischen Öls schon längst auf 12 Prozent herunter. Ich habe die Bundesregierung gefragt. Da kam mitnichten die Antwort, dass das bekannt sei, und auch nicht, woher wir das Öl dann beziehen sollen oder welche Sorte das sein soll. Das wird also, vermute ich einmal, mitnichten so der Fall sein. Zumindest weiß die Bundesregierung darüber nichts. ({2}) Das ist eine unverantwortliche Politik; denn sie müsste genau wissen, was jetzt hier zu tun ist und woher das Öl kommt, meine Damen und Herren. ({3}) Aber man sieht daran, dass hier mehr Durchhalteparolen geschwungen werden, mehr Durchhaltepropaganda gemacht wird, als dass reale Politik hier die wirklichen Probleme adressiert. Das Ölembargo funktioniert so nicht, meine Damen und Herren. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Ungarn, die sich dagegen wehren und uns hier noch ein wenig Luft zum Atmen verschaffen. ({4}) Die Ungarn haben einmal beziffert, was das Embargo sie kosten würde: 15 Milliarden bis 18 Milliarden Euro. Anhand dieser Zahlen können Sie sich einmal ausrechnen, was es uns kostet, wenn wir ein solches Ölembargo wirklich verhängen. Aber auch dazu haben wir keine verlässliche Politik, die diese Kosten beziffert. Ich habe die Bundesregierung gefragt. Normalerweise muss man die Kosten berechnen, wenn man denn einen solchen tiefen Einschnitt macht. Aber es liegen keine Zahlen vor. Daran erkennen wir, dass diese Politik unverantwortlich ist und zulasten der Menschen im Land geht. Wir sehen gerade, wie in der Uckermark bei PCK Schwedt die Lichter ausgehen werden, trotz aller schönen Worte und trotz aller Beteuerungen, dass man das verhindern möchte. Aber die ersten Mitarbeiter verlassen schon das Werk. Das heißt, es ist schon gezündelt worden. Dieses Werk fängt jetzt schon an auszubluten, dank dieser unverantwortlichen Politik der – im wirtschaftlichen Sinne – verbrannten Erde, meine Damen und Herren. Herr Habeck hat zwar einen Eid geschworen, vom deutschen Volk Schaden abzuwenden; aber er macht genau das Gegenteil, er schädigt uns hier sehr massiv. ({5}) Wenn wir die Folgen betrachten – 1 200 Arbeitnehmer in diesem Werk und noch einmal 2 000 bis 4 000 Arbeitnehmer bei den Zuliefererbetrieben –, dann müssen wir feststellen: Das ist ein Kollateralschaden, den wir so nicht hinnehmen können. Das ist unsoziale Politik, meine Damen und Herren. ({6}) Herr Habeck hat uns auch an anderer Stelle getäuscht. Er hat eben gesagt, eine Laufzeitverlängerung bei den Kernkraftwerken spare kein Gas ein. ({7}) Aber das ist ja nicht so.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie kommen zum Ende, bitte.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Denn wir haben viel, viel mehr Potenzial, Gas einzusparen, als er zugibt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren, wir lehnen das Ölembargo ab. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Franziska Mascheck spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Franziska Mascheck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005144, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Rede heute wird keine klassische Rede. Ich beginne mit einer Geschichte. Ich beginne mit meiner Geschichte, und sie lautet: Am Waldrand. „Straße am Waldrand“, so hieß die Bushaltestelle, an der ich als sechsjähriges Mädchen immer einstieg, um in die Musikschule zu fahren. Ich hatte einen kleinen Kofferroller und ein Akkordeon darauf. ({0}) Wenn ich zurückkam, stieg ich aus diesem alten Schlenkerbus aus, stieg die drei hohen Stufen runter mit meinem Kofferroller und dem Akkordeon darauf. Diese Bushaltestelle durfte ich nicht verpassen; denn hätte ich sie verpasst, wäre die nächste Haltestelle sehr weit weg gewesen: ({1}) „PCK Straße F“ in Schwedt/Oder. Ich nahm also meinen kleinen Kofferroller mit dem Akkordeon darauf und zog ihn über die rauen, holprigen Betonplatten, vorbei an parkenden Trabbis, Wartburgs, rumpelnd über die Teerfugen, entlang unserer Wohnblocks. Dann trug ich mein Akkordeon in den vierten Stock. In unser Wohnzimmerfenster vor dem Balkon leuchtete das ganze Jahr ein Licht, manchmal zwei: die Fackeln der PCK. ({2}) Das waren die 80er. Das war meine Kindheit: Neubaublöcke, viele Kinder, die sich morgens sammelten und gemeinsam zur Schule liefen, draußen spielten, im Ruderverein, in der Musikschule waren. Wir hatten ein Theater, ein Centrum Warenhaus, eine Papierfabrik, eine Schuhfabrik, ein Betonwerk und das PCK. In Schwedt lebten 51 000 Menschen. Dann kam der Mauerfall, die Wiedervereinigung. Heute nennen wir es „Strukturwandel“ oder „Transformation“. Damals – für mich, für meine Familie – war es einfach ein Zusammenbruch. Ich war zehn. Von den zeitweise über 8 000 Beschäftigten in der PCK Raffinerie verloren über 7 000 Menschen ihre Arbeit und damit auch ihre Perspektive. Die Papierfabrik entließ die Mitarbeitenden, die Schuhfabrik schloss, das Betonwerk ebenso. Die Arbeitslosenquote stieg auf 25 Prozent. Zu viele Menschen verließen diese Region. Die Bevölkerungszahl hatte sich bis in die 2000er mehr als halbiert. Der Wohnblock, in dem ich aufwuchs, existiert heute nicht mehr, genauso wenig wie die Kita, die Schulen, die alte Musikschule, das ganze Wohnviertel, kurz gesagt: die Orte meiner Kindheit. Die Wendejahre haben viele vor riesige Herausforderungen gestellt, aber die Menschen vor Ort sind daran gewachsen und haben ihr Schwedt an der Oder mit ihrer Erfahrungsstärke zu dem gemacht, was es heute ist: ({3}) lebenswert, eine wieder wachsende Stadt; rund 34 000 Menschen sind heute hier zu Hause. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns die aktuelle weltpolitische Lage nicht ausgesucht. Wir können sie nicht ignorieren. Das Ölembargo gegen Russland ist der Versuch, die Maschinerie eines Kriegstreibers nicht weiter anzuheizen. ({4}) Das Schließen der Erdölleitung Druschba hat natürlich Folgen für die Wirtschaft und für die gesamte Region, ja, für den ganzen Osten Deutschlands. Wir tragen alle gemeinsam die Verantwortung, die Menschen und Unternehmen, die von dieser einschneidenden Maßnahme am härtesten getroffen werden, zu unterstützen. Und die Bundesregierung wird handeln ({5}) mit Kurzarbeiterregelungen, ({6}) mit umfangreichen Wirtschaftshilfen, und sie sorgt dafür, dass Öl über andere Wege ins Land kommt. Sie schreiben in Ihrem Antrag, in Schwedt Wasserstoff zu produzieren, habe keinen Realitätsbezug. Das ist falsch. Wir wissen alle, dass die Zukunft der PCK Raffinerie nicht im Öl liegt. Die Lösung sind synthetische Kraftstoffe. Die Umstellung ist lange geplant. Die jetzige Situation bietet die Herausforderung, aber auch die Chance, diese Prozesse deutlich zu beschleunigen. ({7}) Aber dies kann selbstverständlich nur mit der Unterstützung des Bundes gelingen, und es kann nur mit der Erfahrungsstärke der Menschen in dieser Region gelingen. Sie wissen, wie man aus Krisen Kraft schöpft, Sie wissen, wie man eine Transformation gestaltet; denn sie haben es schon einmal selbst getan. ({8}) Einst entstanden Städte, Wirtschafts- und Handelszentren an Flüssen. Flüsse sicherten Energie und Mobilität. So entstand auch Schwedt an der Oder mitten in Europa. Erneuerbare Energien sind unsere neuen Flüsse, dort siedeln sich die Unternehmen an, dort wächst die Wirtschaft. Gute aktuelle Beispiele sind Intel in Magdeburg oder Tesla in Grünheide. Der Antrag der AfD täuscht Menschen vor, dass alles so bleiben könnte, wie es war, Krieg und ein Mangel nicht existieren. Das ist polemisch und höhnisch und bietet keine Antworten auf die Probleme dieser Zeit. ({9}) Sie verkaufen die Menschen für dumm. Mit Ihren kruden Theorien wird es kein wirtschaftsstarkes Deutschland und Europa geben. Ihr Handeln ist grob fahrlässig. Was lernen wir daraus? Erneuerbare Energien sind nicht nur Freiheitsenergien. ({10}) Sie sind auch Arbeitsplatzenergien für das Wachsen einer neuen Wirtschaft, eines Werks an einem Waldrand und von Unternehmen im gesamten Osten. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Andreas Jung hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kotré, ich halte Ihnen entgegen: Jede Woche, in der in diesem Krieg Geld aus Deutschland an Putin fließt, ist eine schlechte Woche. ({0}) Es ist eine schlechte Woche, weil ein Embargo bei Kohle – das haben wir – und bei Öl – das muss kommen – die Antwort ist auf einen völkerrechtswidrigen Krieg, der von Putin ausgeht. Mit einem Kriegsverbrecher kann kein freundlicher Handel stattfinden. Es ist auch kein freundlicher Handel. Es wird seitens Russlands schon jetzt Energie als wirtschaftliche Waffe gegen uns eingesetzt, beginnend mit der Nichtbefüllung der Gasspeicher. Deshalb ausdrücklich: Wir halten den Weg, wegzukommen von russischen Importen, unsere Zahlungen zu stoppen, ({1}) für den richtigen Weg, so schnell wie möglich. Deshalb sollten beim Gas so schnell wie möglich die notwendigen Schritte gegangen werden und bei Kohle und Öl mit einem Embargo reagiert werden. Es ist der richtige Weg, er findet unsere Unterstützung. ({2}) Die Bundesregierung hat nach Prüfung und Vorbereitung mitgeteilt, dass ein Ölembargo für Deutschland handhabbar ist. Darauf stützen wir auch unsere Erwartung, dass es konkrete Antworten gibt für Schwedt, für das Unternehmen, für die Mitarbeiter dort, dass es konkrete Antworten gibt zur Sicherung der Versorgungen in Deutschland insgesamt, speziell in Brandenburg und in Berlin. Diese Antworten sind in Arbeit, sie müssen jetzt noch konkreter werden. Wir verlassen uns darauf, dass diese Antworten kommen. Ich will dann in diesem Zusammenhang, weil Sie Ungarn angesprochen haben, sagen: Unsere Erwartung ist, dass das Embargo, wenn es kommt, so konsequent wie möglich umgesetzt wird, dass es so wenig Ausnahmen wie möglich gibt. Es muss Putin treffen. ({3}) Wenn der Geldfluss unterbrochen wird, dann wird es ihn treffen. Mit Öl verdient er mehr Geld als mit Kohle und Gas. Ein solches Embargo muss so abgestützt werden, dass Schiffe aus der EU kein Öl aus Russland transportieren, dass sie nicht versichert werden, dass es keine Dienstleistungen für Sie gibt. Die konsequente Umsetzung eines solchen Embargos ist unsere Erwartung an die Bundesregierung bei den Verhandlungen in Brüssel. ({4}) Wir drängen darauf – beim Öl, beim Gas, insgesamt bei russischer Energie –, dass jetzt die Vorbereitungen getroffen und verstärkt werden, dass wir ohne russische Energie über den nächsten Winter kommen. Es ist gut, dass Minister Habeck jetzt eine breit angelegte Energiesparkampagne angekündigt hat. Wenn sie Ende Mai/Anfang Juni kommt, dann ist es noch nicht zu spät; sie ist dringlich. Wir erwarten, dass es ein Förderprogramm, ein Anreizprogramm für Heizungsoptimierung gibt. Wenn massenhaft Heizungen optimiert werden, dann kann das, dann wird das einen wichtigen Beitrag leisten. Dafür ist jetzt die Zeit. Es ist jetzt die Zeit, das auf den Weg zu bringen, es vorzubereiten. ({5}) Es gibt in Italien seit dem 1. Mai eine Regelung, die vorsieht, dass die Temperatur in öffentlichen Einrichtungen durch Klimaanlagen nur auf 27 Grad heruntergekühlt werden darf. Wir erwarten, dass es für öffentliche Einrichtungen seitens der Bundesregierung Vorschläge gibt: Was ist hier an Einsparungen möglich und vertretbar? Wir erwarten, dass es insgesamt einen Plan gibt, wie wir uns jetzt vorbereiten, wie wir Strom, der in Gaskraftwerken erzeugt wird, kompensieren können, wie wir Einsparungen umsetzen können, wie wir uns im gesamten Kontext jetzt darauf vorbereiten, dass wir auch ohne russische Energie gut durch den nächsten Winter kommen können. Es gibt zwei Seiten. Die eine Seite ist: Es geht darum, die Zahlungen so schnell wie möglich zu stoppen. Und die andere ist: Es geht darum, uns unabhängig zu machen. Beides ist richtig. Wenn hier Vorschläge vorgelegt werden, unterstützen wir sie. Wir drängen darauf, dass solche Vorschläge gemacht werden. In diesem Sinne werden wir die Debatte führen. In diesem Sinne erwarten wir Vorschläge in Deutschland, und in diesem Sinne unterstützen wir die Bundesregierung in Brüssel. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kotré, Sie haben hier im März in einer Debatte eine russische Verschwörungstheorie verbreitet, indem Sie behauptet haben, der Westen unterhalte Biowaffenlabore in der Ukraine und das sei sozusagen ein Grund für die russische Invasion. So passt auch der heutige Antrag wieder in Ihre Verschwörungserzählung. Sie begreifen nicht, warum wir die infragestehenden Maßnahmen treffen. Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Russland hat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine eingeleitet. Wir als Europäische Union haben uns entschieden, unsere Volkswirtschaften von der russischen Volkswirtschaft vollständig abzukoppeln. Warum haben wir das getan? Weil wir nicht möchten, dass Russland erneut in der Lage sein wird, auf unsere Kosten seine eigene Armee auszurüsten und andere Länder anzugreifen. Das ist der Grund, warum wir das tun. ({0}) Trotzdem ist es richtig, offen zu sagen, dass das auch Kosten für uns bedeutet. Robert Habeck war in Schwedt. Robert Habeck ist in Leuna gewesen und hat den Menschen dort Zusagen gemacht, dass wir helfen werden, indem wir zum Beispiel Übereinkommen mit Polen schließen und sicherstellen, dass die Raffinerie in Schwedt eine Zukunft hat. Darüber hinaus tun wir auch beim Thema „Wasserstoff“, beim Thema „erneuerbare Energien“ jetzt schon sehr viel. Die Windräder, die Sie sehen, wenn Sie heute durch den Osten fahren, würden wir gern in Bayern haben. ({1}) Uns fehlt die Energie; dort ist sie jetzt da. Sie haben das die ganze Zeit bekämpft und ruinieren damit letztlich ja Ihre eigenen Regionen – auch mit Ihrer Fremdenfeindlichkeit, die Sie immer vor sich hertragen. ({2}) Der entscheidende Punkt ist aber – auch das verstehen Sie nicht –, dass das, was Sie beschwören, alles Vergangenheit ist. Was möchten Sie denn erreichen? Eine weitere Abhängigkeit von russischem Erdgas, Öl und Kohle? Wollen Sie das zur Abstimmung stellen in Deutschland, im Deutschen Bundestag, vielleicht sogar in Ihrer Wählerschaft? Oder wollen Sie vielleicht mal in die Zukunft blicken, nämlich in das Zeitalter von Energieeinsparung, erneuerbaren Energien, Grünem Wasserstoff, gigantischen Investitionen, die wir auf den Weg bringen? Das hat doch nicht nur begonnen, das ist voll im Schwung, und die Europäische Union hat sich committet – Andreas Jung, wir alle gemeinsam –, zu sagen: Wir wollen diesen Weg gehen. Und Sie sind ganz alleine. ({3}) Sie sind ganz alleine mit dieser Haltung, zu sagen, Sie wollen den russischen Weg gehen. Die russische Volkswirtschaft ist eine der am schlechtesten diversifizierten Volkswirtschaften, die wir überhaupt in Europa, im eurasischen Raum haben. Die hat nichts mehr außer Öl, Kohle und Gas. Sie hat keine Modernisierungen vorgenommen, keine Digitalisierung. Sie hat es auch nicht geschafft, sich in irgendeiner Weise auf die Zukunft einzustellen. Die Zukunft ist das, was die Bundesregierung mit der Unterstützung von weiten Teilen der Opposition voranbringt: erneuerbare Energien, Einsparungen, nach vorne gehen, investieren, den Wohlstand halten. Das sind die Bedingungen dafür; deshalb darf man bitte nicht zurückschauen und sagen: Wir wollen mit den Zaren der Vergangenheit die Zukunft schaffen. – Das wird nicht funktionieren. Wir müssen es so machen, wie wir es gemacht haben, und das weiter vorantreiben. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Vielleicht denken Sie mal ein bisschen nach. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Alexander Ulrich spricht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Deshalb ist es auch notwendig, über Sanktionen nachzudenken. Wir erinnern die Bundesregierung aber auch an ihr Versprechen an die deutsche Bevölkerung, dass die Sanktionen uns nicht härter treffen dürfen als Putin in Russland. Beim Ölembargo ist das aber leider der Fall. Wir als Linke haben letzte Woche schon eine Aktuelle Stunde in den Bundestag gebracht und darauf hingewiesen, was das einerseits für die Versorgung mit Öl für Ostdeutschland, für Berlin bedeutet, aber auch, was das für die Region um Schwedt mit Tausenden von Arbeitsplätzen bedeutet. Wir haben auch darauf aufmerksam gemacht – letzte Woche gab es viele Diskussionen um Inflation und höhere Preise –, dass wir mit diesem Ölembargo auch dazu beitragen, dass Preise und Inflation weiter steigen. Der lachende Gewinner dabei ist leider der, dem Sie schaden wollen; denn Russland hat dadurch keine geringeren Einnahmen, unter anderem weil wir das Embargo ja erst bis Ende des Jahres umsetzen wollen. In dieser Zeit steigen sogar die Preise. Putin verdient an dieser Debatte, und er wird Ende des Jahres dann auch so weit sein, dieses Öl dann irgendwo anders in der Welt zu verkaufen. ({0}) Das heißt, wir schaden uns mit einem Ölembargo selbst und gefährden Tausende Arbeitsplätze. Deshalb lehnen wir als Linke das ab. ({1}) Auch wenn die AfD uns bei der Debatte diese Woche nachrennt – und es ist das eine oder andere falsch, wenn sie bei uns abschreiben –, sage ich noch einmal: Herr Jung, ich kann es nicht verstehen, dass Sie hier sagen: Jeden Tag, an dem wir das bezahlen, bezahlen wir Putin und seinen Krieg. – In dieser Konsequenz müssten Sie ja dann auch sagen: Sofort raus, auch aus dem Gas! – Damit würden Sie – das wissen Sie selbst; die deutsche Industrie sagt Ihnen doch jeden Tag, was der Ausstieg aus Gas und Öl für Folgen hätte – Hunderttausende Arbeitsplätze gefährden. Es ist gut, dass hier noch mal klar geworden ist: Die CDU/CSU-Fraktion spielt mit Hunderttausenden Arbeitsplätzen in diesem Land. ({2}) Wir haben Ihnen deshalb letzte Woche gesagt: Wir brauchen Ausnahmeregelungen für Ostdeutschland. – Wir wiederholen diese Forderung; denn sonst geht hier Ende des Jahres bei vielen sprichwörtlich das Licht aus, und die Preise an den Tankstellen werden immer weiter steigen. Es gibt ja Experten, die sagen, da könnten sogar Preise von 3 Euro für Diesel und Benzin aufgerufen werden. ({3}) Das ist etwas, was die Grünen lernen müssen: Auch beim Thema Energiewende müssen auch die sozial Benachteiligten in diesem Land mitgehen können. Die Menschen in diesem Land werden die Klimapolitik und den Umstieg auf erneuerbare Energien dann mitmachen, wenn sie das auch bezahlen können. Darauf geben die Grünen keine Antworten. Habeck sagt sogar noch: Dann werden wir halt Wohlstand verlieren. – Die Menschen, die in Schwedt oder anderswo wohnen, die Menschen, die jeden Tag mit ihrem Auto vom flachen Land in die Stadt zum Arbeitsplatz fahren wollen, brauchen Antworten, aber nicht solche wohlfeilen Reden von Menschen, die über 20 000 Euro im Monat verdienen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie kommen zum Ende, bitte.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme gleich zum Ende. – Wir ergänzen in dieser Woche unsere Debatte: Wir müssen endlich auch die Ölkonzerne mit einer Übergewinnsteuer mit heranziehen. Schauen Sie sich an, was die zurzeit für einen Reibach machen! Das muss steuerlich abgeschöpft werden. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Michael Kruse spricht zu uns für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005117, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tribüne hier im Saal sitzen in dieser Minute sehr viele junge Menschen. Diese jungen Menschen sitzen da vermutlich zum allerersten Mal. Diese jungen Menschen bekommen einen Eindruck davon, wie das Parlament miteinander diskutiert. Ich bin überzeugt, dass jeder Einzelne und jede Einzelne, der oder die jetzt gerade hier auf der Tribüne sitzt, in der Lage wäre, die peinliche Argumentation, die wir hier von den beiden Außenseiten von links und rechts gehört haben, im Keim zu zerlegen. ({0}) Denn das, was Sie hier tun, ist dermaßen atemberaubend, dass man es nicht unwidersprochen stehen lassen kann. ({1}) Ich habe mir kurz überlegt: Wenn Wladimir Putin jetzt hier im Haus eine Debatte anmelden dürfte, wie wäre der Titel dieser Debatte? ({2}) Er könnte ungefähr so lauten: „Kein Ölembargo – Schutz für Bürger und Unternehmen“; denn dieser Titel versucht ja auf eine ganz perfide Art und Weise, einen Zusammenhang herzustellen, indem er behauptet: Wenn wir uns von Russland unabhängig machen, schützen wir all die Menschen, denen wir als Volksvertreterinnen und Volksvertreter verpflichtet sind, nicht mehr. – Genau das Gegenteil ist der Fall. Deswegen ist schon der Titel Ihres Antrags Hohn und Spott für dieses Hohe Haus, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Wir können ja auch einfach mal in Ihr Wahlprogramm schauen. ({4}) – Nee, haben Sie auch nicht getan; das ist grundsätzlich eigentlich auch ein Fehler. – Ich zitiere mal aus Ihrem Wahlprogramm. ({5}) – Das scheint ja richtig auf Protest bei Ihnen zu stoßen, wenn man aus Ihrem Wahlprogramm zitieren möchte. ({6}) Ich lese mal daraus vor: „Wir lehnen es ab, dass sich die Bundesregierung zunehmend als Unternehmer versteht und betätigt.“ Das ist aber genau das, was Sie jetzt hier eingefordert haben. Sie müssen sich auch mal entscheiden, ob Sie jetzt den Weg gehen wollen, den Sie uns sonst immer vorschlagen – Sie beschweren sich, dass ich das jetzt hier vortrage, aber Sie haben es ja aufgeschrieben –, oder ob Sie den Weg gehen wollen, den Sie in der Aktuellen Stunde vorschlagen. Wir können für die regierungstragenden Fraktionen sagen – ({7}) und ich freue mich, dass sich auch die Union dieser Haltung angeschlossen hat –: In Europa wurde ein Angriffskrieg begonnen, und zwar von Russland. – Sie – und gerade auch Sie, Herr Kotré, der Sie hier heute gesprochen haben – sind regelmäßig nicht mal in der Lage, an diesem Pult hier festzustellen, dass Russland diesen Krieg begonnen hat. ({8}) Sie sind regelmäßig fünf, sechs Minuten an diesem Rednerpult, ohne einmal zu erwähnen, wer hier gerade Menschen in Europa abschlachtet. Und von Ihnen jetzt einen solchen Antrag zu bekommen, das ist der Gipfel der parlamentarischen Frechheit in dieser Legislaturperiode, meine Damen und Herren. ({9}) Und dass Ihnen in Ihrer politischen Verwirrung Die Linke auch noch folgt, das finde ich wirklich bemerkenswert. Dann sagen Sie, wir müssten ja in unserer Konsequenz auch aus Gas aussteigen. Ach was! Haben Sie mal auf die Tagesordnung für morgen geschaut? Da ist das LNG-Beschleunigungsgesetz aufgeführt. Das haben wir in der letzten Woche eingebracht, ({10}) das werden wir in dieser Woche beschließen, ({11}) das wird übermorgen im Bundesrat behandelt; es wird dann zum 1. Juni in Kraft treten. Wissen Sie was? Das ist das schnellste Gesetz, das in dieser Legislaturperiode und wahrscheinlich in den ganzen letzten Jahren dieses Haus durchlaufen hat. Und was tun wir damit? Wir machen uns unabhängiger von russischem Gas, ({12}) weil wir dafür sorgen, dass in Deutschland und auch in Europa LNG-Importinfrastruktur geschaffen wird. Diese Infrastruktur wird benötigt, damit wir uns von russischem Gas unabhängig machen. ({13}) Ob beim Öl, bei der Kohle oder beim Gas: Wir sorgen dafür, dass Wladimir Putin der Geldhahn aus Deutschland abgedreht wird, und in Ihrer Interessenlage ist genau das Gegenteil verhaftet. Dann machen Sie sich aber auch mitverantwortlich für all das, was dort passiert. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die AfD-Fraktion spricht Dr. Malte Kaufmann. ({0})

Dr. Malte Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005099, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kruse, hätten Sie heute die Nachrichtenmeldungen gelesen, dann hätten Sie festgestellt, dass das Thema „Kein Ölembargo“ eben gerade heute nicht von Russland kam, sondern von den Vereinigten Staaten von Amerika, die das nicht haben wollen ({0}) und Druck auf Europa ausüben. So ist die Wahrheit. So viel zu Ihren Verschwörungstheorien, die Sie hier verbreiten. ({1}) Seit 24 Jahren sitzt die SPD nahezu ununterbrochen in der Bundesregierung und hat kräftig daran mitgewirkt, unser Land in eine völlig unverantwortliche energiepolitische Abhängigkeit zu bringen. ({2}) Die Folge: Wir können heute auf russisches Öl und Gas nicht verzichten, ohne dass es zu massiven Problemen in unserem Land kommen wird. Was sind die Wirkungen und Nebenwirkungen eines Embargos? Die eine Reaktion ist völlig klar – mein Kollege hat das ausgeführt –: Russland verkauft sein Öl dann eben an China und Indien, an Pakistan und andere Länder, vielleicht sogar zu einem verbilligten Preis. Das wird unserer eigenen Wirtschaft zusätzlich schaden; die leidet nämlich heute schon unter Ihren gewollt absurd hohen Energiepreisen, meine Damen und Herren. ({3}) Und was ist, wenn uns Russland als Gegenmaßnahme den Gashahn zudreht, wenn die Gaskraftwerke zur Stabilisierung Ihres rot-grünen Flatterstroms nicht anlaufen können und die Unternehmen aufhören müssen, zu produzieren? Und ein weiteres Problem wird von der Regierung einfach vom Tisch gewischt, zuletzt im Ausschuss. Frau Staatssekretärin Brantner auf meine Nachfrage: Die Take-or-Pay-Klauseln in den Gaslieferverträgen bergen potenziell ein Multimilliardenrisiko für deutsche Strafzahlungen. Der Hinweis auf höhere Gewalt im Falle eines Gasembargos zur Vermeidung solcher Strafen ist dünnes Eis, und sollte dieses Eis nicht halten, wird es für uns alle richtig teuer. Fazit: Dank der langjährigen Energiepolitik von Schröder, Merkel und jetzt auch Scholz wäre derzeit ein Öl- oder Gasembargo gegen Russland unverantwortlich für unser eigenes Land. Deshalb: Finger weg von derartigen Plänen! Vielen herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Timon Gremmels spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Kaufmann, ja, die SPD hat die letzten 24 Jahren mitregiert. Das ist auch gut so. ({0}) Und was haben wir die letzten 24 Jahre gemacht? Wir haben dafür gesorgt, dass der Anteil erneuerbarer Energien in Deutschland bei fast 50 Prozent ist. Das ist unser Verdienst. ({1}) Dass wir die erneuerbaren Energien so ausgebaut haben, insbesondere im Bereich des Stroms, sorgt dafür, dass die Abhängigkeit von Importen fossiler Energieträger heute deutlich geringer ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist doch die Wahrheit! ({2}) Und ich sage Ihnen: Ja, das Thema Embargo ist ein sehr kritisches, ({3}) und da gibt es auch keine leichten Antworten. Und deswegen ist es gut, dass diese Bundesregierung auch ohne Ölembargo schon gehandelt hat. Seit Dezember letzten Jahres haben wir unseren Anteil an russischem Öl von 35 auf 12 Prozent gesenkt. Das haben wir ganz ohne Embargo geschafft, meine sehr verehrten Damen und Herren, und es ist auch der richtige Weg, es genau so zu machen; ({4}) das ist aus meiner Sicht in der Tat richtig. Wir haben uns fast überall unabhängig machen können. Die Achillesferse ist Schwedt, die PCK Schwedt – das wissen wir alle –, wegen einer Besonderheit. Dort ist es so, dass die Firma Rosneft 90 Prozent Anteil hat, wir an der Ölpipeline Druschba hängen und das nicht einfach umstellbar ist, wie es in anderen Ölraffinerien in Deutschland der Fall ist. Das gehört doch auch zur Wahrheit dazu. ({5}) Deswegen wird es besonders schwer sein, diese letzten 12 Prozent zu kompensieren und umzustellen. Das ist eine Herausforderung. Deswegen sagen wir: Ja, das, was die EU-Kommission jetzt plant – nicht von heute auf morgen ein Ölembargo, sondern einen Weg aufzuzeigen, das innerhalb der nächsten sechs Monate hinzubekommen –, ist der richtige Weg; denn diese sechs Monate werden wir auch in Deutschland noch brauchen, um den Hafen in Rostock, die Pipeline auf den Weg zu bringen, zu ertüchtigen. ({6}) Es ist gerade angesprochen worden: In Danzig gibt es Gespräche auch mit der polnischen Regierung darüber, wie dort Schiffe anlanden können, wie das Öl dort dann über die Druschba-Pipeline, über Danzig Richtung Schwedt kommen kann. Genau das macht die Bundesregierung. Das ist auch der richtige Weg, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da danke ich insbesondere Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz, der am Wochenende ja den Beschäftigten auch ein klares Signal gegeben hat: Wir werden das nicht auf Ihren Rücken ausfechten, sondern wir stehen solidarisch an der Seite der 1 200 Beschäftigten in Schwedt. ({7}) Und natürlich ist eine Sanktion ein scharfes Schwert, weil zwei Drittel der Ölverkäufe den russischen Staatshaushalt finanzieren; bei Gas sind es nur 7 Prozent. Das heißt, das wird Putin am Ende des Tages spüren. Aber in der Tat müssen wir aufpassen, was die Weltwirtschaft angeht, dass hier nicht die Energiekosten steigen. Und natürlich müssen wir auch aufpassen, dass das Öl, das nicht mehr nach Europa und Deutschland verkauft wird, dann nicht nach Indien und woandershin geht; es ist ja nicht weg. Also, die Herausforderungen, die wir haben, sind doch groß; sie sind nicht kleinzureden. Aber deswegen müssen wir jetzt genau diesen Weg in Solidarität in Europa miteinander beschreiten, und deswegen auch mein Appell Richtung Ungarn, Richtung Slowakei, das gemeinschaftlich jetzt auf den Weg zu bringen ({8}) und uns hier nicht spalten zu lassen, weil sich dann doch Putin ins Fäustchen lacht. ({9}) Deswegen müssen wir das gemeinschaftlich machen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in den nächsten Tagen auf europäischer Ebene da einen guten Kompromiss hinkriegen, der die energiepolitische Verantwortung und auch die Verantwortung für die Energiepreise in Europa und in Deutschland mit berücksichtigt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({10}) Und ich sage Ihnen: Das, was jetzt in Schwedt passiert, wäre irgendwann auch ganz ohne ein Embargo passiert, nämlich die Umstellung. Denn wir haben uns doch in dieser Koalition verständigt, bis 2045 klimaneutral zu sein. Das heißt, irgendwann wäre auch dort eine Umstellung, eine Transformation, nötig gewesen. Die ziehen wir jetzt vor, und die muss auch finanziell ausgestattet werden. Da gibt es Zusagen von Herrn Habeck, dazu hat sich auch Olaf Scholz am Wochenende klar committed: Wir werden die Menschen dort nicht alleinlassen. Wir werden den Umbau, die Transformationsmaßnahmen in Schwedt, mit den Menschen gemeinschaftlich voranbringen. Es ist auch eine Chance, jetzt die dortige Erzeugung umzustellen, hin zu Basischemikalien, hin zu synthetischen Kraftstoffen auf der Basis von Grünem Wasserstoff. Das ist doch die Zukunft. Wir sorgen dafür, dass die Arbeitsplätze in Schwedt zukunftsfähig sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({11}) und nicht rückwärtsgewandt. Wir machen das modern. Und ich sage Ihnen: Wir werden diese Transformation jetzt einfach noch ein Stück weit beschleunigen und sie auch finanziell abfedern und unterstützen. Es liegt eine große Chance darin, weil wir die Raffinerie in Schwedt hin zu einer Zukunftsraffinerie transformieren können. Das ist die Aufgabe, die diese Bundesregierung wahrnimmt. ({12}) Das ist eine große Herausforderung, das ist nicht einfach. Aber wir können das schaffen: mit den Beschäftigten, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien in Schwedt und in der ganzen Region Brandenburg und in ganz Ostdeutschland. ({13}) Das ist unsere Aufgabe. Das ist eine Herausforderung. Aber wir gehen diesen beschwerlichen und schweren Weg, weil wir der Auffassung sind: Darin liegt eine Zukunft. Die erneuerbaren Energien sind die Zukunft, und dafür brauchen wir gut qualifizierte Beschäftigte auch aus dieser Region. In diesem Sinne: Glück auf! ({14})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorwegzunehmen: Niemanden, wirklich niemanden, lassen die schrecklichen Bilder dieses Krieges unberührt, und es gibt auch niemanden, der kein schnelles Ende will. Die Frage ist bloß: Welche Schritte dazu gibt es? Ein Ölembargo ist es im Zweifel nicht. Das ist jedenfalls meine Meinung. ({0}) Egal wie gut es gemeint ist: Wir können uns nicht schwächen, wenn wir anderen helfen wollen. Wir müssen vom Ende her denken. Die Forderung nach einem Ölembargo hat zu viel Verunsicherung geführt, Existenzängste geschürt, und sowohl die Unkenntnis über die Fakten bei der Bundesregierung als auch die Verdrängung der ernsten Lage bei der Versorgungssicherheit haben das noch verstärkt. Hier ist eher der Wunsch Vater des Gedankens. Das Motto „Es wird schon irgendwie gut gehen“ ist wie ein Ritt auf der Rasierklinge. Dazu ein paar Anmerkungen in ein paar wenigen Punkten. Punkt eins. Es ist kein regionales Problem irgendwo in den fernen, endlosen Weiten der Uckermark und auch kein rein ostdeutsches Problem. Ich sage das als Schwedter, der in dieser PCK seine Ausbildung zum Elektrotechniker gemacht hat. Ostdeutschland wird zwar die größte Last tragen – ohne Zweifel –, aber die Folgen werden sich auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland auswirken. Punkt zwei: die gefährliche Ignoranz der Fakten in der Bundesregierung. ({1}) Der Besuch von Minister Habeck in der Schwedter Raffinerie hat die ganze Planlosigkeit der Bundesregierung offenbart. Es wurde dort von Arbeitsplätzen, von Bundeshilfen für Schwedt und über die goldene Zukunft des Wasserstoffs in 20 Jahren geredet. Es wurde davon geredet, einen Plan zu haben, es wurde davon geredet, gute Gespräche zu führen, aber die Versorgungssicherheit von Rostock bis nach Suhl wurde außen vor gelassen. ({2}) Dabei ist die Erdölleitung Freundschaft nach Schwedt der Dreh- und Angelpunkt für die Versorgungssicherheit in einem großen Teil der Bundesrepublik. Wie sollen denn 12 Millionen Tonnen Jahresproduktion in Schwedt ersetzt werden? Die Frage bleibt unbeantwortet, und es ist zu befürchten, dass es erhebliche Versorgungsengpässe im gesamten Osten in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens geben wird. ({3}) Können westdeutsche Raffinerien bei der Kapazität und bei der fehlenden Infrastruktur aushelfen? Wie viele TKWs müssten denn dann jeden Tag vom Westen nach Osten fahren? 3 000? 4 000? Die Frage bleibt unbeantwortet. Wie können 70 000 Tonnen Öl pro Tag über die Erdölleitung Freundschaft ersetzt werden? – Keine Antwort! ({4}) Wie können 32 000 Tonnen Öl pro Tag, die alleine die Raffinerie Schwedt braucht, um einigermaßen effizient zu fahren, ersetzt werden? – Keine Antwort! Über die Leitung Rostock, von der immer die Rede ist, kommen lediglich 19 000 Tonnen pro Tag. Wo kommt der Rest her, Frau Staatssekretärin? – Keine Antwort! Was kann wirklich über den Hafen Rostock anlanden, der ja viel zu flach für große Schiffe ist, dessen Wassertiefe also nicht ausreicht? – Keine Antwort! Damit komme ich zum Punkt drei: die weltfremde Arglosigkeit der Bundesregierung. Die Diversifizierung der Rohstoffimporte ist eine wichtige Aufgabe; das ist überhaupt gar keine Frage. Aber absolut unverständlich ist, wie das Ölembargo von Deutschland aus ohne eine Lösung so massiv vorangetrieben werden kann. Die Bundesregierung suggeriert sogar, dass die Versorgung über Schwedt mit zwei Schiffen in der Woche irgendwie über Rostock funktionieren kann. Der Rest würde dann irgendwo aus Danzig kommen. Das bringt mich zum vierten Punkt: offene Fragen. Im Ausschuss und überall oft gefragt, aber nicht beantwortet: ({5}) Welche zwei Schiffe sind das? Welche Kapazitäten haben diese Schiffe? Können die Schiffe den Hafen Rostock anfahren, oder ist er zu flach? Muss der Hafen vertieft werden? Wie lange dauert die Ausbaggerung? Ist die Vorbereitung schon getroffen? Gibt es Genehmigungen? Ist die richtige Ölmischung für die Raffinerie Schwedt überhaupt verfügbar? Welche Umrüstungen müssen gemacht werden? Und so weiter und so fort. ({6}) Hier gibt es viele weitere Fragen, die ich noch anmerken könnte, zum Beispiel zur Ölreserve. Welche Verträge gibt es mit Danzig? Gibt es alternative Ölimporte, oder ist es am Ende das gleiche russische Öl, das wir dann unter einer anderen Flagge über die Leitung bekommen? ({7}) Wie sieht die Logistik aus? Und so weiter und so fort. Meine Damen und Herren, es mag sein, dass das renitente Fragen sind, aber bevor man ein Ölembargo macht, muss man Fragen beantworten. Die bleiben unbenannt, oder die Antworten sind im Nebel der Worthülsen nicht mehr zu erkennen. ({8}) Das Prinzip Hoffnung ist mir aufgrund der Ernsthaftigkeit der Lage zu wenig, und ich schließe mich daher der brandenburgischen Landesregierung an, die gesagt hat: Jede Woche ohne ein Embargo ist eine gute Woche. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Ingrid Nestle. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Anträgen der AfD können wir natürlich nicht zustimmen, ({0}) auch wenn Sie wieder so ein bisschen wie der Wolf im Schafspelz daherkommen. Deswegen lohnt es sich, einmal in die Begründung zu schauen. Dort schreiben Sie nämlich, die Bundesregierung habe „klarzustellen“, dass die „‚Bringschuldʼ nur gegenüber dem deutschen Volk besteht“, und bringen das in den Zusammenhang damit, dass durch ein Ölembargo Öl deutlich teurer werden könnte. Ich bringe mal zusammen, was das bedeutet: Sie sagen, Ihnen ist es egal, dass die Städte in der Ukraine zerbombt werden. ({1}) Ihnen ist es egal, dass Frauen vergewaltigt werden. Sie sagen: Was kümmert es uns, wenn dort Hunger und Not herrschen? Hauptsache, die Preise gehen nicht nach oben. – Sie haben es genau so in der Begründung zusammengebracht, und deswegen wird es mir eine Freude sein, zu diesem Antrag mit Nein zu stimmen. ({2}) Ich bin sehr stolz, dass die Mehrheiten in unserem Land ganz andere sind, dass die Menschen in diesem Land solidarisch mit der Ukraine sind und dass sie nicht sagen: „Hauptsache, der Ölpreis stimmt, was auch immer dort passiert“, sondern dass sie sagen: Es ist unsere Verantwortung, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass dieser Angriffskrieg in der Ukraine endet. ({3}) – Die Mehrheit der Menschen möchte solidarisch mit der Ukraine sein. Arbeitsplätze gehen gerade nicht dadurch verloren, dass wir uns um Schwedt kümmern. ({4}) Die Zukunft der Arbeiter in Schwedt liegt doch nicht bei Rosneft. Putin hat durch seine Aktion bei Gazprom Germania doch gerade erst bewiesen, wie schnell er bereit ist, Unternehmen in Deutschland aufzugeben und aktiv kaputtzumachen. Das war nämlich sein Plan, wenn Robert Habeck ihn nicht davon abgehalten hätte. ({5}) Die Zukunft der Arbeiter in Schwedt liegt doch nicht bei Rosneft. Für die Zukunft der Arbeiter in Schwedt kämpft Robert Habeck seit Wochen. Das ist die Chance, die sie haben. ({6}) Tatsächlich ist Lob auch angebracht, und zwar dafür, dass diese Bundesregierung mit ruhiger Hand Kurs gehalten hat – sowohl in den Zeiten, als es so klang, als sei nur Deutschland gegen ein Ölembargo, und alle zehn Finger auf uns zeigten, als auch jetzt, da die Bundesregierung mit sorgfältiger Vorbereitung geklärt hat, dass wir mit einem Ölembargo zurechtkommen. Es wird nicht ohne irgendwelche Ruckeligkeiten gehen, und ja, dass am Berliner Flughafen dann auch mal nicht ganz so viel Kerosin da ist, das mag sein, aber wir kommen damit zurecht. Genauso fahren wir jetzt mit ruhiger Hand diese Linie weiter, und plötzlich kommen die Gegenpositionen, die sagen: Oh, Ölembargo? Auf keinen Fall! – Ich will nur daran erinnern: Die Situation ist genauso neu, wie es die Coronapandemie für uns war. ({7}) Deswegen ist es bemerkenswert, mit welcher Klarheit die Regierung Führung bewiesen hat in dieser Zeit. ({8}) Da hilft es auch nicht, Herr Koeppen, dass Sie behaupten, wir würden die Augen vor der Versorgungssicherheit verschließen und sie außer Acht lassen. ({9}) Seit Wochen, lange bevor Sie von der Linken letzte Woche die Aktuelle Stunde zu den Arbeitsplätzen in Schwedt eingebracht haben, setzt sich Minister Habeck mit Ölmischungen, die man braucht, mit Tanklastkapazitäten, mit Pipelinedurchmessern auseinander. ({10}) Und er hat uns genau das vorgerechnet. Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Er hat es uns trotzdem vorgerechnet. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende. – Herr Ulrich, Sie haben gesagt, auch die Grünen müssten lernen, dass es um Wohlstand geht. Ich glaube, auch Sie müssen mal mitbekommen, dass die Preissteigerungen im Moment eindeutig an den Fossilen liegen. Wir setzen auf Erneuerbare, Effizienz und Energiesparen. Danke. ({0})