Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Gerade in Zeiten von Krise und Krieg ist es wichtig, dass die Menschen in Deutschland spüren und erleben, dass sie sich auf ihren Staat verlassen können. Das gilt ganz besonders für das System der Alterssicherung. Deshalb ist dieses erste Rentenpaket wichtig: weil in dreierlei Hinsicht ein Signal der Stabilität und Verlässlichkeit davon ausgeht.
Was machen wir im Einzelnen? Erstens. Mit diesem Rentenpaket setzen wir eine kräftige Rentenerhöhung zum 1. Juli um. Es ist die kräftigste Rentenerhöhung seit vielen Jahrzehnten. Die Renten steigen zum 1 Juli in Westdeutschland um 5,3 Prozent und im Osten um 6,1 Prozent. Meine Damen und Herren, das ist gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Signal. Die Erhöhung folgt der Lohn- und Gehaltsentwicklung und ist auch ein Zeichen für die Stabilität des Arbeitsmarktes. Es ist wichtig, dass die Renten in diesem Jahr kräftig steigen.
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Zweitens. Wir sorgen aber auch für Stabilität im System. Das Prinzip der Rentengarantie und der Nachholfaktor sorgen dafür, dass in Krisenzeiten die Renten eben nicht gekürzt werden müssen und wir in guten Zeiten einen fairen Interessenausgleich zwischen Rentnerinnen und Rentnern und Beitragszahlern organisieren.
Drittens. Was mir besonders am Herzen liegt und endlich erreicht werden kann, ist: Wir sorgen für deutliche Verbesserungen für erwerbsgeminderte Bürgerinnen und Bürger.
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Es geht um Menschen, die nicht mehr oder nur eingeschränkt arbeiten können, weil sie beispielsweise an einem Krebsleiden oder an einer schweren Nervenerkrankung erkrankt sind oder weil sie schwere Behinderungen haben. Diese Menschen zu unterstützen, meine Damen und Herren, ist eine Frage der Verantwortung und der Gerechtigkeit. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass wir das in dieser Koalition endlich hinbekommen; in der Vorgängerkoalition war das leider noch nicht möglich.
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Bevor ich zu den einzelnen Punkten ausführe, lassen Sie mich vorweg eins sagen: Als wir den Gesetzentwurf veröffentlicht haben, gab es dazu Agenturmeldungen. Agenturmeldungen müssen in Deutschland immer bebildert werden. Agenturen suchen dann Stock-Fotos aus – so heißt das –, um Themen zu bebildern. Mir ist aufgefallen, dass, wenn über Rente und Rentnerinnen und Rentner berichtet wird, diese Stock-Fotos dann oft Rentnerinnen und Rentner zeigen, die entweder auf einer Parkbank sitzen und braungebrannt sind oder Golf spielen. Ich will dazu ganz grundsätzlich was sagen. Die meisten Rentnerinnen und Rentner in Deutschland leben nicht in Saus und Braus.
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Ich sage sehr deutlich: Ich kenne viel mehr Rentnerinnen und Rentner, die Minigolf spielen, als solche, die sich das Golfen leisten können.
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Wenn Rentnerinnen und Rentner nach einem Leben voller Arbeit mal auf der Parkbank sitzen, haben sie meistens viele Jahrzehnte vorher an einer Werkbank oder einer Supermarktkasse gearbeitet. Auch das darf man nicht vergessen.
Nun zum ersten Punkt. Die Rentenerhöhung, die jetzt zum 1. Juli kommt, ist kein Gnadengeschenk des Staates. Sie ist das Ergebnis der Lebensleistung und der Tatsache, dass in Deutschland die Rentenerhöhungen der Lohn- und Gehaltsentwicklung und dem Arbeitsmarkt folgen. Weil wir es geschafft haben, in der Coronapandemie den deutschen Arbeitsmarkt mit Kurzarbeit und Ähnlichem trotz allem stabil zu halten, und weil es letztes Jahr ordentliche Lohnabschlüsse gab, ist diese Rentenerhöhung von 5,3 Prozent im Westen und 6,1 Prozent im Osten möglich. Das, würde ich sagen, ist kein Geschenk; das ist verdient, meine Damen und Herren.
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Zweitens zu den Themen Nachholfaktor und Rentengarantie. Auch das muss man erklären; das sind technische Begriffe. Im Kern geht es darum, dass wir im Jahr 2020, zu Beginn der Pandemie, einen wirtschaftlichen Einbruch erlebt haben, auch einen Einbruch bei den Löhnen, der rechnerisch dazu geführt hätte, dass ein Jahr später, 2021, die Renten hätten gekürzt werden müssen. Aus guten Gründen machen wir das in Deutschland nicht; das nennt sich Rentengarantie. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille ist, dass wir in Zeiten, in denen es besser läuft, für einen fairen Interessenausgleich zwischen Rentnerinnen und Rentnern und Beitragszahlern sorgen. Auch das stabilisiert das System, und ich glaube, das ist eine Frage der Verlässlichkeit.
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Drittens zu den Erwerbsgeminderten. Wir haben es in den Jahren seit 2014 geschafft, bei den Erwerbsminderungsrenten zu Verbesserungen zu kommen – Schritt für Schritt, unter meiner Amtsvorgängerin Andrea Nahles, auch in der letzten Legislaturperiode mit mir als Bundesarbeitsminister in der Großen Koalition. Allerdings betrifft dies nur zukünftige Fälle. Die meisten Schreiben haben wir als Abgeordnete von Erwerbsgeminderten bekommen, die schon im Bestand sind, die arbeiten wollten, aber erkrankt sind, die im Arbeitsleben einen Unfall hatten, die arbeiten wollten, aber einfach nicht mehr konnten. Ich bin froh, dass wir jetzt für 3 Millionen Erwerbsgeminderte in Deutschland zu deutlichen Verbesserungen kommen, meine Damen und Herren. Das zeigt die Leistungsfähigkeit und Solidarität der gesetzlichen Rentenversicherung.
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Diese drei Punkte sind wichtig. Ich weiß, was nachher in der Debatte passieren wird. Es wird welche geben, die sagen werden: Das ist alles schön und gut, aber wir haben im Moment massive Preissteigerungen. – Richtig, wir verkennen auch überhaupt nicht, welche Sorgen sich viele Bürgerinnen und Bürger, auch Rentnerinnen und Rentner, in Deutschland machen. Dann wird es einige aus der Opposition geben, die, wie gestern, behaupten, im Entlastungspaket mit den 30 Milliarden Euro, das die Koalition auf den Weg gebracht hat, sei nichts für Rentnerinnen und Rentner drin.
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Da sage ich sehr deutlich: Das ist falsch. Ich finde, Sie sollten redlich sein;
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denn Sie wissen es doch besser, Herr Kollege Straubinger. Ich will es Ihnen ganz deutlich sagen: Erstens profitieren natürlich auch Rentnerinnen und Rentner von den allgemeinen Entlastungen wie der Abschaffung der EEG-Umlage. Zweitens profitieren Rentnerinnen und Rentner natürlich auch davon, dass wir Kraftstoffpreise senken und mit dem 9‑Euro-Ticket ermöglichen, dass Mobilität bezahlbar bleibt. Drittens wird der Grundfreibetrag erhöht; auch das ist etwas, von dem Rentnerinnen und Rentner profitieren können. Und natürlich ist es auch so, dass in den Grundsicherungssystemen auch Menschen der Grundsicherung im Alter von dem 200-Euro-Zuschlag profitieren. Genauso ist es übrigens so, meine Damen und Herren, dass wir mit dem Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger zu knapp 50 Prozent Rentnerinnen und Rentner erreichen.
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Also, Sie können gerne mit mir darüber streiten, ob es genug ist; aber dass in diesen Paketen nichts für Rentnerinnen und Rentner enthalten ist, stimmt nicht. Sie sollten das auch anerkennen.
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Meine Damen und Herren, mit diesem Rentenpaket I sorgen wir für Stabilität und Verlässlichkeit, und mit den Entlastungspaketen machen wir in schwierigen Zeiten das Leben für viele Menschen ein Stück einfacher. Ich will an dieser Stelle aber auch sagen, nicht nur den Rentnerinnen und Rentnern: Falls die Preissteigerungen ganz lange andauern werden, dann werden wir weitere Maßnahmen ergreifen, auch für Rentnerinnen und Rentner. Dann geht es aber nicht um einmalige Maßnahmen; dann muss es um strukturelle Entlastungen gehen, gerade für mittlere und untere Einkommen in diesem Land.
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Das Ganze ist notwendig. Ich sage das deshalb, weil wir unsere Gesellschaft in diesen schwierigen Zeiten zusammenhalten müssen. Deshalb ist die Ansage dieser Koalition ganz klar: Wir werden dafür sorgen, dass unser Sozialstaat funktioniert, und wir werden nicht zulassen, dass äußere Sicherheit gegen sozialen Frieden im Inland ausgespielt wird. So richtig es ist, dass wir die Bundeswehr besser ausrüsten: Das wird nicht zulasten der sozialen Sicherheit in Deutschland gehen. Das ist die klare Ansage dieser Koalition.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Max Straubinger.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Rentenanpassung und zur Verbesserung der EU-Renten, also der Erwerbsunfähigkeitsrenten. Ich möchte mit einem zeitlosen Satz beginnen, der letztendlich die Verantwortung der Union für die Rentenpolitik zum Ausdruck bringt: „Denn eins ist sicher: die Rente“. So hat Norbert Blüm es mal plakatiert, verehrte Damen und Herren.
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– Da hat er recht gehabt. – Die Union hat sich immer an diesem Satz orientiert.
Der Herr Bundesminister hat hier dargelegt, dass die Renten zum 1. Juli um 5,35 Prozent im Westen und um 6,12 Prozent im Osten steigen werden. Dies ist mit ein Ausdruck der Vergangenheit und dementsprechend der vergangenen Bundesregierung, die dafür die Grundlagen gelegt hat, nämlich unter Angela Merkel, unter Führung der Union.
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Das muss man hier deutlich sagen.
Dass Sie als Bundesminister dies natürlich auch mit zu verantworten haben, Herr Bundesminister Heil, ist völlig klar; dazu stehen wir.
Aber auch wenn wir heute feststellen können, dass es kräftige Rentensteigerungen gibt, so muss man schon darauf verweisen, dass es letztes Jahr aus bekannten Gründen – auch des wirtschaftlichen Einbruchs, der zu verzeichnen war – keine Rentensteigerung gab, die nun in dieser Kräftigkeit nachgeholt wird. Deshalb ist eines ganz besonders wichtig. Herr Bundesminister, Sie haben ausführlich auf das Entlastungspaket ob der Energiepreisentwicklung hingewiesen. Daran sollten auch die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland teilhaben.
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Da geht es um 300 Euro zur Abfederung der Energiepreissteigerungen.
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Dies enthalten Sie den Rentnerinnen und Rentnern vor. So geht es nicht.
Wir als Union werden auch in den Beratungen darauf drängen, dass die Rentnerinnen und Rentner genauso entlastet werden wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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Es ergibt doch gar keinen Sinn, Herr Bundesminister – ich plädiere an Ihre soziale Verantwortung –,
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zum Beispiel gut verdienenden Arbeitnehmern in der Automobilindustrie 300 Euro als Unterstützung zu geben, aber dem armen Rentner, der möglicherweise keine betriebliche Altersversorgung, der gar nichts hat, keine solche Unterstützung zu geben. Wo ist Ihre sozialpolitische Verantwortung, Herr Bundesminister?
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Ich möchte Sie auffordern, wenn Sie nicht auf uns, auf die Union hören, zumindest auf die mahnenden Worte der Granden in Ihrer Partei zu hören, also auf Verena Bentele und auf Ulrike Mascher, die ja mal SPD-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium war. Diese mahnenden Worte sollten Sie aufnehmen und die Rentnerinnen und Rentner dementsprechend unterstützen. Wir als Union sind dazu bereit, verehrte Damen und Herren.
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Das Zweite ist: Sie loben zu Recht die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente. Die Erwerbsminderungsrente ist ein wichtiger sozialpolitischer Baustein in unserem Rentensystem. Da gilt es dann aber zu hinterfragen, warum wir nur die Erwerbsminderungsrentner vom 1. Januar 2001 bis 2018 mit einem pauschalen Zuschlag beglücken.
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Denn es gab auch vor 2001 Erwerbsminderungsrentner, die sogar weniger Zurechnungszeiten hatten, nämlich nur bis 55 Jahre.
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Das bedeutet, dass Sie hier letztendlich rentenpolitisch nacharbeiten müssen. Auch diese Frage muss gelöst werden.
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Wie Sie darauf kommen, dass die einen einen Zuschlag von 7,5 Prozent bekommen und die anderen 4,5 Prozent, das hat sich mir noch nicht erschlossen. Das sollten Sie hier meines Erachtens darlegen.
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Werte Kolleginnen und Kollegen der SPD und auch der anderen Regierungsfraktionen, es ist richtig, dass der Nachholfaktor wieder eingeführt wird.
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Hierauf hatte die FDP gedrungen. Das ist auch richtig; denn wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger Einkommen haben, dann muss sich dies leider auch bei den Rentnerinnen und Rentnern niederschlagen. Dies muss im Gesetz festgelegt sein; aber dann muss man es auch richtig machen.
Wir stehen dafür, dass es sicherlich keine Senkung der Renten gibt; das ist völlig klar. Aber dann muss es auch nachgeholt werden. Werte Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass Sie sich zurücklehnen und sagen: „Ja, das ist schon in Ordnung“, nur weil es in diesem Jahr klappt, geht so nicht. Denn in zukünftigen Jahren wird Ihr Nachholfaktor, so wie er im Gesetz steht, keine Wirkung erzielen. Das ist die Situation; darüber bin ich schon erstaunt.
Das heißt, wir werden in den Beratungen noch intensiv darauf eingehen. Darauf freue ich mich.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Straubinger, wenn ich in der letzten Zeit die Reden der Union zum Thema Sozial- und Arbeitsmarktpolitik höre, habe ich gemischte Gefühle. Einerseits freue ich mich ja, dass Sie jetzt nicht haarscharf den neoliberalen oder wirtschaftsliberalen Kurs einschlagen, sondern sich tatsächlich zu den Prinzipien unseres Sozialstaats bekennen und in dem Rahmen argumentieren.
Auf der anderen Seite muss ich mich doch sehr wundern, wie Sie uns von der Ampel jetzt hier quasi links überholen wollen und zusätzliche Leistungsausweitungen fordern, die Sie alle in den letzten 16 Jahren blockiert haben.
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Zum Beispiel: Wer hat Sie denn daran gehindert, Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente im Bestand, also das, was wir hier heute einbringen und in erster Lesung beraten, vorzunehmen?
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Ich will nicht in Abrede stellen, dass Sie in insgesamt drei Stufen in den letzten acht Jahren für Neurentnerinnen und Neurentner Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vorgenommen haben; dem haben wir damals auch zugestimmt. Aber für die Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentner ist nichts dabei herausgekommen, und das holen wir jetzt hier als Ampelkoalition nach.
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Natürlich kann man jetzt sagen: Das ist noch nicht genug. Die Verbesserungen, die damals die Neurentner, Zutrittsrentner bekommen haben, müssten noch etwas höher sein. – Dafür haben wir ja ein parlamentarisches Verfahren; da können wir dann darüber diskutieren. Ich bin auch der Auffassung, dass wir hier noch mal etwas verbessern sollten.
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Das ist nicht nur sozusagen aus sozialer Verantwortung geboten, sondern diese Stärkung einer elementaren Absicherung in unserem Sozialsystem hat auch etwas mit der Stabilisierung der Wirtschaft zu tun.
Ich gehe mal zurück zu den Anfängen der Rentenversicherung im Jahr 1889.
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Damals ist als erster Baustein die sogenannte Invalidenrente, also die heutige Erwerbsminderungsrente, eingeführt worden, und zwar nicht als Gnadenakt gegenüber Beschäftigten, sondern weil es eine Voraussetzung für das abhängige Beschäftigungsverhältnis, für die Durchsetzung des modernen Kapitalismus war. Mein Wahlkreis ist im Ruhrgebiet. 1889 entstand dieses große Industriegebiet. Die Arbeitskräfte mussten aus Masuren, dem heutigen Polen, angeworben werden. Welche Veranlassung hätten diese gehabt, fern ihrer Familie und jeder Absicherung in dieses dunkle Loch zu steigen, wo einem jederzeit ein schwerer Kohlebrocken oder ein Stein das Bein zertrümmern konnte? Welche Veranlassung hätten Burschen vom Lande gehabt, in Stahlwerke mit offenen Bändern zu gehen, wo einem mal schnell der Arm abgerissen werden konnte? Die haben das unter anderem auch nur deswegen gemacht – die Arbeitgeber und die Industriellen mussten da was anbieten –, weil es eine Absicherung gab für diesen Fall, der damals gar nicht so unwahrscheinlich war.
Insofern ist soziale Sicherung nicht irgendetwas, was man sich erst mal leisten oder finanzieren muss, sondern es ist die Kehrseite der wirtschaftlichen Verwertung der menschlichen Arbeitskraft. Ich will Sie mal auf diesen grundsätzlichen Zusammenhang aufmerksam machen,
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weil mich in den Debatten um Sozialpolitik häufig stört, dass Lohnnebenkosten als Belastung und als Bürde gesehen werden. Es heißt dann: Das muss man doch erst mal erwirtschaften. Das ist ein Hindernis für die Wirtschaft. – Nein, nein, nein! Es ist so, dass beides zusammengehört und beides Voraussetzung dafür ist, dass unsere Volkswirtschaft funktioniert.
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Im Übrigen wird das auch gespiegelt, wenn uns Delegationen aus sogenannten Schwellenländern oder schon nicht mehr nur Schwellenländern, also Industrieländern, besuchen. Es ist ja häufiger mal der Fall, dass aus China, Indonesien – daran kann ich mich erinnern – oder auch anderen Ländern Parlamentarier kommen, um sich anzugucken, wie unser Sozialsystem läuft. Das, was sie einhellig sagen, ist: Für unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung brauchen wir eine Sozialversicherung, und zwar aus volkswirtschaftlichen Gründen. Denn was tun Leute beispielsweise in China, die sich sozusagen in den Mittelstandsbereich hochgearbeitet haben? Was tun die, wenn es keine Krankenversicherung, keine Rentenversicherung gibt? Sie sparen. Sie sparen wie die Irren, und darum ist die Sparquote in China riesenhoch. Es gibt den grauen Kapitalmarkt. Es gibt Millionenstädte, die halb leer stehen, weil die Leute die Wohnungen als Altersvorsorge besitzen. Es gibt also schwerste volkswirtschaftliche Unwuchten.
Ein nicht vorhandenes Sozialsystem ist ein wirtschaftliches Hemmnis. Da wird ein Schuh draus, und das, finde ich, sollten sich gerade diejenigen von der Arbeitgeberseite und die, die meinen, sie politisch repräsentieren zu können, vergegenwärtigen, damit wir hier zu einem positiven volkswirtschaftlichen Ansatz kommen. Die Ampel wird in diesem Bewusstsein und dieser Verantwortung die Erwerbsminderungsrente weiterentwickeln und auch noch eine Menge weitere Rentenpakete auf den Weg bringen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Bürger! Mit dem heute zu debattierenden Gesetzentwurf arbeitet Minister Heil eine Liste ab, die erste Aufgaben aus dem Koalitionsvertrag enthält, außerdem die jährliche Rentenanpassung. Es soll eine Rentenanpassung von 5,3 Prozent West bzw. von 6,12 Prozent Ost beschlossen werden. So kann schon die Frage aufkommen: Ist angesichts einer derartigen wirtschaftlichen Krise, in der wir uns im Moment befinden, eine Rentenerhöhung in diesem Umfang angemessen? Ich sage: Ja, weil die Renten in Deutschland ohnehin viel zu niedrig sind und weil die Rentner von der galoppierenden Inflation der Lebenshaltungskosten genauso und zum Teil sogar stärker betroffen sind als andere.
Wir als AfD halten es deshalb für einen Fehler, dass die Rentner nicht in das Entlastungspaket der Bundesregierung miteinbezogen werden. Minister Heil, da habe ich eben eine andere Auffassung als Sie.
In meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern leben die Menschen mit den niedrigsten Renten bundesweit. Wer auf Grundsicherung im Alter angewiesen ist, bekommt immerhin eine 200-Euro-Einmalzahlung; auch das reicht nicht lange. Aber die Mehrheit, die ganz knapp über dieser Grenze liegt, geht leer aus. Das ist nicht in Ordnung und nicht gerecht.
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Ich rate deshalb dringend dazu, das noch einmal zu überdenken, um diese Gerechtigkeitslücke zu schließen.
Worüber ich mich heute freue: die geplanten Verbesserungen im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, dieses Mal endlich für die Bestandsrentner. Rund 15 Prozent aller Erwerbsminderungsrenter sind gleichzeitig auf Grundsicherung angewiesen. Keine Gruppe hat ein größeres Armutsrisiko. Kein Wunder: Nach dem Kahlschlag von 2001 um mehr als 10 Prozent sanken die Erwerbsunfähigkeitsrenten Jahr für Jahr weiter ins Bodenlose. Deshalb war es auch zu keinem Zeitpunkt zu verstehen, dass die notwendigen Korrekturen von 2014 und 2018 jeweils nur für die Neuzugänge, aber eben nicht für die Bestandsrentner beschlossen wurden.
Wir als AfD haben das immer bemängelt, und dass das nun behoben werden soll, ist aus unserer Sicht ein längst überfälliger Schritt, allerdings ein Schritt, auf den die Rentner noch bis Juli 2024 warten müssen. Man könnte jetzt auf die Idee kommen, dass hier Politik nach Kassenlage betrieben wird; es wäre ja nicht das erste Mal. Nur so erklärt sich zum Beispiel die Benachteiligung der Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren sind. Nur so erklärt sich die unterschiedliche Behandlung von Betriebsrenten, was die Doppelverbeitragung betrifft. Nur so erklärt sich, dass es den Härtefallfonds für die in der DDR geschiedenen Frauen immer noch nicht gibt oder für die Berufsgruppen, die bei der Rentenüberleitung durch den Rost gefallen sind.
Das heißt: Zu oft setzt sich die Politik erst in Bewegung, wenn sie muss. Das Ergebnis ist ein Wust an Regelungen, die niemand mehr durchschaut und die unter Gerechtigkeitsaspekten äußerst fragwürdig sind.
Ich weiß nicht, ob es ein Trost ist: Wenigstens die Stichtagsregelung für die Einführung der Zuschläge für die Erwerbsminderungsrenten lässt sich rein sachlich erklären. Denn die nächsten zwei Jahre stehen bei der gesetzlichen Rentenversicherung komplett im Zeichen des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes und der Grundrente. Für mehr gibt es weder technische noch personelle Kapazitäten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine ganze Behörde auf Jahre blockiert ist, sodass neue Gesetze sozusagen in Warteschleife produziert werden müssen, dann läuft etwas falsch, entweder bei der Gesetzgebung oder bei der Ausstattung der Behörde. Auch hier ist die Regierung gefordert, Anspruch und Wirklichkeit zu überprüfen und entsprechend zu handeln. Im Falle der Erwerbsminderungsrentner, die noch so lange auf Unterstützung warten müssen, könnte das so aussehen, dass hier eine komplette Nachzahlung der Zuschläge für das verlorene Jahr erfolgt. Darüber diskutiere ich gerne mit Ihnen im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wir als AfD werden uns einer Leistungsverbesserung für Rentner jedenfalls nicht verweigern und auch einen entsprechenden Gesetzentwurf unterstützen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Anja Schulz.
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Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für einen Erfolg; denn mit seinen drei Hauptelementen – der Erhöhung der Renten, der Reaktivierung des Nachholfaktors und der Verbesserung der Erwerbsminderungsrente im Bestand – kann man ihn vor allem eins nennen: fair.
Er ist fair gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern, die uns durch ihre Arbeit in den letzten Jahrzehnten dahin gebracht haben, wo wir heute wirtschaftlich stehen. Er ist fair gegenüber denjenigen, die Erwerbsminderungsrente beziehen; denn unsere solidarische Gesellschaft steht für jene ein, die aus eigener Kraft ihren Beitrag nicht mehr oder nur noch teilweise leisten können. Und er ist fair gegenüber den kommenden Generationen; denn auch ihre Belange werden mit der Rentenanpassungsformel wieder besser berücksichtigt.
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Die Reaktivierung des Nachholfaktors führt dazu, dass Rentenpolitik nicht nur für heutige Rentner gemacht wird, sondern auch für deren Enkelkinder. Was die ältere Generation besserstellt, darf der jüngeren später nicht auf die Füße fallen. Wer jetzt behauptet, dass aktuell nicht der richtige Zeitpunkt sei, um davon Gebrauch zu machen, der hat nicht verstanden, dass man Generationengerechtigkeit nicht einfach aussetzen kann.
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Es kann nämlich nicht sein, dass wir uns mit dem Thema erst beschäftigen, wenn es uns in den Kram passt. Probleme, die man vor sich herschiebt – das sehen wir gerade an anderen Stellen –, fliegen einem irgendwann um die Ohren.
Maßnahmen wie diese haben aber auch viel mit Aufklärungsarbeit zu tun. Ich musste einige Artikel und Meinungen lesen, in denen der Nachholfaktor als eine Art Diebstahl an den heutigen Rentnerinnen und Rentnern dargestellt wird. Eine Maßnahme, über die so informiert wird, kann wohl kaum auf Verständnis stoßen.
Ich mache die Wirkung einmal deutlich: Die Renten steigen mit den Löhnen, sie fallen aber nicht mit ihnen. Dafür sorgt die Rentengarantie, und das ist auch gut so. Diese ausgebliebene Kürzung muss allerdings irgendwann auch wieder nachgeholt werden, damit die Renten den Löhnen nicht davonlaufen – so weit, so logisch. Der Nachholfaktor ist also ein nachhaltiger Beitrag für die Finanzierbarkeit unseres Systems.
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Die vorherige Aussetzung war eine ungerechte Manipulation der Rentenanpassungsformel zulasten der jüngeren Generationen. Solche Ungerechtigkeiten sollten wir aus der Welt schaffen. Wir müssen endlich aufhören, die Debatten um den Willen, es allen recht zu machen, immer auf dem Rücken der jungen Generation auszufechten.
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Trotz der Einführung des Nachholfaktors können sich die 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner in unserem Land auf ein üppiges Rentenplus freuen; im Westen ist es sogar das größte in den letzten 40 Jahren. Jetzt, wo mit Blick auf den Kassenzettel auffällt, dass wir in schwierigen Zeiten leben, ist diese Erhöhung auch besonders notwendig.
Doch Notwendigkeiten gibt es in der Rentenpolitik sehr viele. Ein Problem steht schon sehr lange im Raum und konnte trotz vieler Ansätze bisher noch nicht geklärt werden. Die geplante Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten im Bestand ist eine enorme Erleichterung für eine Gruppe, die in unserer Gesellschaft leider nur eine sehr geringe Lobby hat. Sie erhält einen pauschalen Zuschlag. Wir freuen uns, dass es für alle Ampelparteien eine Selbstverständlichkeit war, diese Vernachlässigung endlich anzugehen.
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Damit stellen wir 3 Millionen Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentner und auch jene, die inzwischen in Altersrente sind, in Zukunft besser.
Zukunft ist auch ein wichtiges Stichwort, mit dem ich schließen möchte. Zukunft für unsere Rentenversicherung ist an viele stabilisierende Maßnahmen geknüpft. Der Nachholfaktor leistet dabei einen Beitrag; es muss aber noch mehr kommen. Die Kapitaldeckung ist dafür das beste Konzept seit Langem. Unsere Demografie arbeitet gegen unser Rentensystem, also müssen wir uns Schritt für Schritt unabhängiger von ihr machen. Lassen wir die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner am Produktivkapital teilhaben, und zeigen wir der jungen Generation, dass sie sich auf unser Rentensystem auch in Zukunft verlassen kann.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Minister Hubertus Heil! In Ihrem Gesetzentwurf versprechen Sie den Menschen, die wegen einer chronischen Krankheit zwischen 2001 und 2018 in eine Erwerbsminderungsrente gehen mussten, ihre Renten zu verbessern. Das ist gut. Das haben wir Linken seit Langem gefordert.
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Für uns Linke ist klar: Krankheit darf nicht arm machen. Dafür sind Ihre Zuschläge von 7,5 und 4,5 Prozent mehr Erwerbsminderungsrente aber viel zu niedrig. Bei einer durchschnittlichen EM‑Rente von aktuell nur 886 Euro wären das war zwar immerhin gut 66 bzw. fast 40 Euro mehr netto im Monat, aber diesen Zuschlag wollen Sie frühestens in zwei Jahren, ab dem 1. Juli 2024, auszahlen. Das, meine Damen und Herren, ist völlig inakzeptabel!
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Die Betroffenen müssen seit 2014 ertragen, dass ihre von viel zu hohen Abschlägen und viel zu kurzen Zurechnungszeiten betroffenen Armutsrenten nicht verbessert wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, lieber Hubertus Heil, Sie möchten die viel zu lange vergessenen Menschen nun ein weiteres Mal mehr als zwei Jahre im Regen stehen lassen? Dazu sage ich Ihnen: Das geht gar nicht!
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Ich habe ja Verständnis für die Probleme der Rentenversicherung, aber wenn es wirklich nicht schneller gehen sollte, dann müssen den Betroffenen im Jahr 2024 wenigstens die Zuschläge für die verlorenen zwei Jahre rückwirkend erstattet werden.
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Das fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund, das fordern die meisten Sozialverbände, das fordern wir Linken, und darum werden wir dazu einen entsprechenden Änderungsantrag einbringen.
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Aber damit nicht genug: Sie erwecken den Eindruck, mit den Zuschlägen würden Sie diejenigen, die zwischen 2001 und 2018 in eine Erwerbsminderungsrente gegangen sind, mit jenen gleichstellen, die seit 2019 von den besseren Zurechnungszeiten profitieren. Dieser Eindruck ist falsch. Für eine echte Gleichstellung müssten die Zuschläge fast auf 8 und auf 13 Prozent verdoppelt werden. Das hat Ihnen der Sozialverband Deutschland präzise vorgerechnet. Aber in Ihrem Gesetzentwurf heißt es, dass es den Zuschlag nur bis zu einem – Zitat – „Finanzvolumen von … 2,6 Milliarden Euro“ geben soll. Ja, woher haben Sie denn diese Zahl? Mir scheint, die wurde von Finanzminister Lindner ausgewürfelt; denn diese Zahl ist völlig willkürlich und, vor allem, sie ist viel zu niedrig.
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Sie wollen ernsthaft 10 Milliarden Euro für eine obskure Aktienrente ausgeben, aber chronisch kranken Armutsrentnerinnen und Armutsrentnern knapp die Hälfte des notwendigen Zuschlages verweigern. Wie viel wollen Sie denn noch bei den ärmsten Rentnergruppen einsparen?
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Nein, das ist das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit, und das ist nur noch zum Kopfschütteln.
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Auch deshalb werden wir einen durchgerechneten Änderungsantrag einbringen, und auch für diesen wird Die Linke als Stimme der sozialen Gerechtigkeit die Unterstützung der Sozialverbände erhalten. Dessen bin ich mir sicher.
Verehrte Bundesregierung, auf Druck der FDP führen Sie den zu Recht ausgesetzten Nachholfaktor wieder ein. Damit kürzen Sie die diesjährige, im Vergleich zwar sehr hohe Rentenerhöhung, aber angesichts einer Inflation von gut 7 Prozent viel zu niedrige Rentenerhöhung um 0,6 Prozentpunkte; und das ist schlecht.
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Lieber Hubertus Heil, dass sich die Rentnerinnen und Rentner im Juli über mindestens 5,35 Prozent mehr Rente freuen dürfen, ist bei diesem Gegenwind der FDP wirklich eine große Leistung. Chapeau! Aber: Nach Ihrem Gesetzentwurf wird die Rentenanpassung 2023 in der heißen Inflationsphase von ursprünglich 5,4 auf 2,9 Prozent gekürzt werden und damit die Kaufkraft der Renten inmitten einer Energiepreiskrise auch im kommenden Jahr entwerten. Das darf nicht passieren. Und deshalb sage ich: Die aktuell ausgezahlte Durchschnittsrente aller 21,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner liegt nur bei 1 089 Euro vor Steuern. Das heißt, die Rentnerinnen und Rentner brauchen jeden Cent. Die Rente muss zum Leben reichen. Bessern Sie diesen Gesetzentwurf nach!
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Gerdes.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetzesvorhaben, das wir heute beraten, wird von vielen Menschen seit Langem herbeigesehnt, auch von mir. Und wir beschließen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur die Rentenanpassung, sondern auch Verbesserungen für sogenannte Rentnerinnen und Rentner im Erwerbsminderungsrentenbestand, also von Menschen, die von Anfang 2001 bis 2018 Erwerbsminderungsrente bezogen haben oder in Erwerbsminderungsrente gegangen sind und die bislang wenig von den Verbesserungen aus den Jahren 2014 und 2019 gespürt haben. Sie sind zum Teil mit erheblichen Abschlägen in die Rente gegangen, und deswegen ist es wichtig, dass wir neben den Verbesserungen, die wir für die Neurentnerinnen und Neurentner gemacht haben, jetzt auch an die Bestandsrentner herangehen und denen auch etwas zukommen lassen.
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Wir korrigieren jetzt eine Gerechtigkeitslücke, die uns seit Jahren umtreibt und die für viele Betroffene nicht nachvollziehbar war und es bis heute nicht ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erwerbsminderungsrenten werden nicht freiwillig in Anspruch genommen. Sie werden dann beantragt, wenn jemand wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorzeitig aus seinem Berufsleben ausscheidet und nur unter großen Einschränkungen weiter arbeiten kann. Genau diese Menschen brauchen unseren besonderen Schutz und unsere Solidarität, die Solidarität der Versichertengemeinschaft.
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Insofern sind die geplanten Zuschläge mehr als berechtigt. Und es ist auch berechtigt, dass ebenso Menschen mit Alters- und Hinterbliebenenrente diese Zuschläge erhalten, wenn sie eine Erwerbsminderungsrente im dafür vorgesehenen Zeitraum bezogen haben.
Die Erhöhung für knapp 3 Millionen Menschen, über die wir heute reden, ist eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, und es ist richtig, dass wir dieses Vorhaben zügig – als eines der ersten – umsetzen. Allerdings – das muss ich auch sagen – gibt es noch einige Wermutstropfen dabei, etwa die Auszahlung des Zuschlags erst zum 1. Juli 2024. Das trübt die Freude und schmerzt mich persönlich auch; das kann ich Ihnen versichern. Aber die Umsetzung muss auch machbar sein und von der Rentenversicherung zuverlässig und fehlerfrei nach getesteten Verfahren realisiert werden können, sowohl wenn es um Einzelfallbearbeitungen geht als auch um die Programmierung von Daten. Nichtsdestotrotz werde ich mich, wird die SPD sich dafür einsetzen, dass wir den späten Beginn noch einmal überdenken und einen Ausgleich finden. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren sicherlich noch diskutieren.
Einen anderen Punkt dagegen kann ich vorbehaltlos unterstützen, und das, meine Damen und Herren, ist die automatische Auszahlung. Wir wollen den teilweise betagten Betroffenen keine komplizierten Antragsverfahren mehr zumuten. Dabei profitieren wir aktuell von den guten Erfahrungen bei der Grundrente. Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an das Bundesarbeitsministerium! Und diesen Dank, finde ich, muss man auch mal aussprechen.
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Auf Anträge zu verzichten, ist nicht nur eine Frage des Respekts vor den Menschen, es ist auch ein Schutz vor zu viel Bürokratie, und vor allem ist es sozial gerecht. Denn vergessen wir nicht: Wir können alle in die Situation einer Erwerbsminderungsrente kommen.
Wir sprechen heute jedoch nicht nur über Verbesserungen für Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentner, sondern auch über ein üppiges Rentenplus ab Juli dieses Jahres. Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer ungewöhnlich hohen Rentenanpassung, der höchsten seit fast 40 Jahren! Und das ist schon etwas: 5,35 Prozent Erhöhung in Westdeutschland und 6,12 Prozent in den neuen Bundesländern – oft gesagt hier, aber immer wieder gerne noch mal betont. Das ist im Übrigen auch mehr als ein einmaliger Zuschuss bei der Energiebeihilfe. Ende November, kurz nach den Koalitionsverhandlungen, lieber Herr Bundesminister Hubertus Heil, haben Sie selbst noch nicht mal gewagt, von solchen Zahlen zu sprechen. Umso höher müssen wir jetzt die kräftige Anhebung der Renten für 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner einschätzen, zumal in einer Zeit, in der diese Erhöhung angesichts von Inflation und internationalen Krisen dringend gebraucht wird.
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Dabei berücksichtigen wir den Nachholfaktor, der die Höhe der Renten zwar dämpft, aber für einen Ausgleich zwischen Löhnen und Rente sorgt. Die Renten folgen den Löhnen; das haben wir auch schon gehört. Dieses Prinzip haben wir 2021 aufgrund von Corona nicht eingehalten. Trotz des pandemiebedingten Einbruchs der Einnahmen – ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Kurzarbeit; übrigens ein gutes Instrument – haben wir im letzten Jahr keine Rentenkürzung durchgeführt. Dafür hat die Rentengarantie gesorgt, eine Garantie, die sich für viele Rentnerinnen und Rentner als wichtiger Anker erwiesen hat. Die Rentengarantie war in der Coronakrise das richtige Signal.
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Das Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz – was für ein Wort! – ist jetzt, weitere Verbesserungen vorausgesetzt, das richtige Signal. Besser, meine Damen und Herren, wäre es aber, wenn es gar nicht erst dazu käme, dass Menschen Erwerbsminderungsrenten beziehen. Durch mehr und bessere Rehabilitation können Menschen länger gesund am Arbeitsmarkt bleiben. Lassen Sie uns auch daran arbeiten!
Herzlichen Dank. Glück auf!
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Kai Whittaker.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich bitte noch einmal für das Protokoll ausdrücklich festhalten, dass wir uns als Union über die Erhöhung der Renten freuen. Wir freuen uns deshalb darüber, weil es zeigt, dass wir letztes Jahr eine gute wirtschaftliche Entwicklung hatten; dafür war auch die Union verantwortlich.
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Und, Herr Kurth, ich wundere mich schon, dass Sie Zweifel haben konnten, dass wir nicht auf dem sozialpolitischen Kurs bleiben. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer hat’s erfunden? Das waren wir mit der sozialen Marktwirtschaft.
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Wir freuen uns auch über die Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten. Dafür haben auch wir lange gekämpft. Herr Minister Heil, wir hätten uns auch sehr gefreut, wenn Sie schon in der letzten Legislaturperiode dazu einen Vorschlag vorgelegt hätten. Wir haben das immer gefordert.
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Ich glaube, mit uns hätten sich 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner heute noch mehr gefreut, wenn Sie ein zusätzliches Entlastungspaket für die Rentnerinnen und Rentner präsentiert hätten; denn es ist nicht verständlich, warum jemand, der gutes Geld verdient in diesem Land, 300 Euro zusätzliches Energiegeld bekommt, während der Durchschnittsrentner mit 1 300 Euro Rente leer ausgeht. Das ist ungerecht, was Sie hier machen.
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Es lohnt noch mal der Blick auf die Details. Ich habe eben gesagt: Die Erwerbsminderungsrente wird verbessert, 7,5 Prozent bzw. 4,5 Prozent Zuschlag. Aber – da gebe ich dem Kollegen Birkwald recht – die Zahlen sind nicht wirklich hergeleitet.
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Ich hatte auch erst den Verdacht, dass es vielleicht an Christian Lindner im Finanzministerium liegen könnte. Dann ist mir aber beim zweiten Blick aufgefallen, dass das gar nicht der Steuerzahler über einen zusätzlichen Zuschuss bezahlt, sondern dass Sie den Beitragszahler belasten, ohne es ihm zu sagen. Und da, Herr Kurth, wundere ich mich schon; denn in den letzten acht Jahren haben Sie es uns von diesem Platz aus immer vorgeworfen, wenn die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler für Rentenverbesserungen aufkommen mussten und nicht der Steuerzahler. Sie machen es jetzt genauso. Herzlichen willkommen im Klub, Herr Kurth!
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Die Lage ist wirklich schlimm; denn Sie werden in den nächsten vier Jahren die Rücklage der Rentenversicherung komplett plündern. Fast 40 Milliarden Euro sind jetzt in der Rücklage. Das haben wir in 16 Jahren sorgsam aufgebaut. Sie verplempern diese Rücklage binnen vier Jahren. Das ist Ihre Politik von der Ampel.
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Es kommt noch schlimmer: Sie plündern nicht nur die Rücklage, sondern Sie kürzen sogar noch den Steuerzuschuss um eine halbe Milliarde Euro pro Jahr. Auch damit klauen Sie quasi den Rentnerinnen und Rentnern das Geld in den nächsten vier Jahren.
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Dann kommen Sie mit dem Nachholfaktor, Frau Schulz. Das ist das liberale Feigenblatt, mit dem Sie sich rühmen, etwas für die Generationengerechtigkeit getan zu haben.
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Es bewirkt, dass es 1 Prozentpunkt weniger Rentenerhöhung gibt; das sind 4 Milliarden Euro weniger. Aber: Es greift nur für ein Jahr, und dann ist das Ding ein Papiertiger. Warum? Weil Sie gleichzeitig das Rentenniveau auf 48 Prozent festlegen, und zwar für die nächsten vier Jahre. Diesen Wert erreichen Sie schon ab dem Jahr 2023. Das heißt, dann wird Ihr Nachholfaktor einfach ausgesetzt. Insofern schreiben Sie eine Rentenreform fest – in der Rentenkommission wurde ja Verschiedenes diskutiert in den letzten vier Jahren –, ohne aber über die anderen Dinge – Renteneintrittsalter, Beitragserhöhungen, Steuerzuschuss etc. – zu diskutieren. Da haben Sie von der FDP sich teuer etwas erkauft, was nichts nutzt. Das ist wirklich ein Politikversagen.
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Auf das eigentliche Reformprojekt des Jahres, fast schon des Jahrhunderts, warten wir ja alle ganz gespannt, nämlich auf die Aktienrente. Dazu haben Sie heute alle nichts gesagt.
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Das scheint das Phantom des Deutschen Bundestages zu sein.
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Ich bin sehr gespannt, ob Sie das noch bringen werden. Aber auch hier habe ich das Gefühl: Sie haben etwas bestellt, und es ist noch längst nicht ausgeliefert worden. – Wir werden Ihnen da weiterhin auf die Finger gucken und sind sehr gespannt, wie die Beratungen zu diesem Gesetz weitergehen.
Danke schön.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frank Bsirske.
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Frau Präsidentin! Abgeordnete!
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Was mich, sehr geehrte Damen und Herren von der Union, an Ihnen heute wirklich beeindruckt, ist ein erstaunliches Maß an Unbekümmertheit und Selbstvergessenheit.
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Sie stehen für eine Rentenpolitik, die darauf hinausgelaufen wäre – wenn es nicht zu einer Stabilisierung des Rentenniveaus käme –, dass millionenfach Menschen von Altersarmut bedroht wären, weil sie in die Nähe von oder auf Grundsicherungsniveau gebracht werden.
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Damit wäre eine Situation entstanden, in der die Legitimation der Rentenversicherung dadurch massiv bedroht wäre, dass man trotz jahrzehntelanger Beitragszahlung und Arbeit nicht mit einer Rente rechnen kann, mit der man anständig über die Runden kommt und in Würde alt werden kann. Wir stehen für eine andere Politik, für eine Politik, die dafür sorgt, dass nach jahrzehntelanger Beitragszahlung eine Rente folgt, die reicht, um anständig über die Runden zu kommen und in Würde alt werden zu können. Das unterscheidet uns grundsätzlich.
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Mit dem vorliegenden Entwurf nimmt sich die Ampel einer der am meisten armutsgefährdeten Gruppen unserer Bevölkerung an. Am besten, Sie denken noch mal über Ihre eigene Politik der letzten Jahre nach.
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Dazu gibt es wirklich viel Anlass.
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Mit dem vorliegenden Entwurf
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nimmt sich die Ampel einer der am meisten armutsgefährdeten Gruppen unserer Bevölkerung an: 3 Millionen Menschen mit häufig prekärer Einkommenssituation, die weit überdurchschnittlich auf Grundsicherungsbezug angewiesen sind. Die Benachteiligung der Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentner im Bestand zu beenden, war Teil des Wahlprogramms der Grünen. Dass jetzt nicht nur aktive Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentner, sondern auch daran anschließende Altersrenten erfasst werden, ist angemessen und verhindert einen erneuten Teilausschluss Betroffener, so wie Sie ihn über Jahre praktiziert haben.
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Was jetzt vorliegt, bringt eine Verbesserung von durchschnittlich 50 Euro im Monat und ist lange überfällig.
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Wir würden es freilich begrüßen, wenn die Versorgungslücke der Bestandsrentnerinnen und ‑rentner gegenüber denen, die nach 2018 neu hinzukamen, nicht nur, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, zur Hälfte, sondern vollständig geschlossen würde.
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Daran arbeiten wir zurzeit noch. Ich hoffe sehr, dass es uns in der Ampel gelingen wird, unserer sozialen Verantwortung so gerecht zu werden, wie dies geboten ist.
Ein Wermutstropfen ist auch der Zeitpunkt, zu dem die Verbesserung in Kraft treten soll, der 1. Juli 2024. Das ist in mehr als zwei Jahren.
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Der späte Zeitpunkt ist operativen Problemen bei der Deutschen Rentenversicherung geschuldet,
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die die Umsetzung IT-technisch nicht früher bewältigbar macht.
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Freilich könnten wir dafür sorgen, dass dies nicht frontal zulasten der Betroffenen geht,
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indem Zuschläge rückwirkend geleistet werden, etwa mit Wirkung ab dem 1. Januar 2024.
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Das würde zwar 2026 – ich betone: 2026 – eine Beitragssatzsteigerung um 0,1 Prozentpunkte notwendig machen
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– quatschen Sie doch nicht ständig dazwischen! -
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und einen um 400 Millionen Euro höheren Bundeszuschuss, was aber sehr überschaubar bliebe, jedoch für 3 Millionen Menschen eine wichtige Verbesserung bedeuten würde und zugleich ein Ende der Benachteiligung.
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Daran, dies noch zu ermöglichen, arbeiten wir. Ich finde, wir sind es diesen weit überproportional von Armut betroffenen Menschen schuldig.
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Nächste Rednerin für die AfD-Fraktion ist Gerrit Huy.
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Ich gratuliere Ihnen herzlich zum heutigen Geburtstag.
Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung lässt sich ausgiebig feiern für die höchste Rentenerhöhung seit 40 Jahren. Und auch die Medien sind begeistert. Obwohl wir diesem Gesetz grundsätzlich positiv gegenüberstehen, können wir in diesen Jubel nicht mit einstimmen; denn die Rentner haben in den letzten drei Jahrzehnten einen Kaufkraftverlust von über 30 Prozent erlitten.
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Von einem Leben in Würde können viele von ihnen nur noch träumen. Auch die jetzige Rentenanpassung, obwohl nominell hoch, kann die expandierende Inflation – die Grünen sprechen von sieben- bis achtmal höheren Gaspreisen – nicht kompensieren.
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Ein weiterer Kaufkraftverlust wird die Folge sein.
Wir haben es daher sehr bedauert, dass die Regierung in ihren Entlastungspaketen die Rentner vergessen hat. 300 Euro als Inflationskompensation hätten doch noch drin sein müssen.
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Aber der Regierung war anderes wichtiger. Wir werden daher in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, in dem wir Sie auffordern, diese 300 Euro für unsere Rentner noch nachzulegen.
Es ist traurig, aber wahr: Die deutschen Rentner schneiden im europäischen Vergleich sehr schlecht ab. Franzosen bekommen im Schnitt 60 Prozent mehr Rente, Österreicher 80 Prozent mehr, Niederländer doppelt so viel wie wir
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und die Schweizer mehr als viermal so viel. Und die Italiener, die von uns über den Covid-Wiederaufbaufonds, also dem „Next Generation EU“-Programm, zig Milliarden Euro mal eben so geschenkt bekommen haben, erhalten 60 Prozent mehr Rente als wir und müssen dafür sieben Jahre weniger arbeiten. Da sie auch noch einige Jahre länger leben als wir, können sie ihre Renten insgesamt auch einige Jahre länger beziehen.
Nach Eurostat sind mittlerweile fast 30 Prozent aller über 65‑Jährigen in unserem Land armutsgefährdet, Tendenz steigend; denn laut einer Auskunft der Bundesregierung von vor zwei Jahren verdienen 15 Millionen Beschäftigte nicht genug, um im Alter eine Rente zu erhalten, die über der Grundsicherung liegt. Grundsicherung – das ist Sozialhilfe, und die bekommt auch jeder andere, egal ob er gearbeitet hat oder nicht.
Meine Damen und Herren, was unsere Rentner wirklich brauchen, sind nicht finanzielle Trostpflaster, die immer der Entwicklung hinterherhinken, sondern das ist eine grundlegende Rentenreform, die diesen Namen auch wirklich verdient,
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damit wieder geradegerückt wird, was in den letzten drei Jahrzehnten kaputtgemacht worden ist. Andernfalls wird unser Land zum Armenhaus der Alten. Damit das nicht passiert, braucht es einen ganzen Strauß von Maßnahmen.
Eine der wichtigsten ist, den Niedriglohnsektor überflüssig zu machen; in diesem Punkt stimmen wir mit unseren Kollegen von der SPD durchaus überein. Denn Voraussetzung für gute Renten sind gute Löhne. Dabei muss allerdings Augenmaß bewahrt werden, damit unsere Wirtschaft das überhaupt bewältigen kann, die ja gerade durch die Sanktionspolitik der Ampel vor nahezu unlösbare Aufgaben gestellt wird.
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Natürlich sind Voraussetzung für gute Löhne bestens ausgebildete Arbeitskräfte; denn der internationale Wettbewerb erlaubt uns gute Löhne nur bei entsprechend guten Leistungen. Das heißt, wir brauchen wieder Schulen, die auch funktionieren. Aber das, meine Damen und Herren, wird nur möglich werden, wenn die Regierenden endlich ihre ideologischen Scheuklappen ablegen.
Bonne Chance!
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Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Ottilie Klein.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Erwerbsminderungsrente ist eine wichtige soziale Absicherung; denn wer sie bezieht, kann meist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Krankheit darf kein Schicksal sein. Lieber Herr Kollege Kurth, das ist weder links noch rechts, das ist das Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft.
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Genau deshalb begrüßen wir auch die vorgesehene Erweiterung der Erwerbsminderungsrente, die anknüpft an die Regelungen, die wir als unionsgeführte Bundesregierung in den letzten Jahren bereits für Neuzugänge geschaffen haben. Besser wäre natürlich gewesen, sie käme bereits nächstes Jahr und nicht erst 2024. Die Kritik dazu kommt ja sogar aus Ihren eigenen Reihen.
Auch die Wiedereinführung des Nachholfaktors ist zu begrüßen; denn er ist ein wichtiger Beitrag zur Generationengerechtigkeit.
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Nicht im Sinne der Nachhaltigkeit ist allerdings die Streichung der 500 Millionen Euro aus dem Haushalt – eine Sonderzuweisung des Bundes, die explizit zur Sicherung des Rentenniveaus vorgesehen war.
Für viele Rentnerinnen und Rentner stellen die Steigerungen im Westen um 5,3 Prozent und im Osten um 6,1 Prozent eine Entlastung dar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Rentensteigerung im Alltag der Rentnerinnen und Rentner kaum spürbar sein wird. Sie gleicht noch nicht mal die Preissteigerung beim Einkauf im Supermarkt aus; das klang hier vermehrt an.
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Hinzu kommt, dass bisher sämtliche Entlastungsmaßnahmen der Ampelregierung für bestimmte Bevölkerungsgruppen an den Rentnerinnen und Rentnern vorbeigehen. Wir kritisieren das ausdrücklich; denn wer es mit der Bekämpfung von Altersarmut ernst meint, Herr Heil, der spart nicht bei den bedürftigen Rentnern.
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Keine Frage, im Gesetzentwurf finden sich richtige Ansätze. Am Ende des Tages sind es aber Einzelmaßnahmen, mit denen in die richtige Richtung gezielt, aber nicht weit genug geworfen wird. Was fehlt, ist eine grundlegende Vorstellung davon, wie Altersvorsorge zukunftsfest gemacht werden kann. Der Wille zu strukturellen Reformen ist hier nicht erkennbar.
In den kommenden Jahren werden die Babyboomer in Rente gehen. Laut Studien dürfte der Zenit der Beschäftigten und damit der Beitragszahler mit 46 Millionen im kommenden Jahr erreicht werden. Man muss kein Mathegenie sein, um festzustellen, dass bei gleichbleibend niedriger Geburtenrate perspektivisch immer weniger junge Menschen immer mehr Rentnern gegenüberstehen werden. Im Sinne der Generationengerechtigkeit braucht es deshalb einen zukunftsgerichteten Ansatz, der alle drei Säulen der Altersvorsorge stärkt.
Die Idee einer kapitalgedeckten Altersvorsorge wäre ein guter erster Schritt gewesen. Ich kann mich erinnern, dass die Liberalen davon mal ganz große Fans waren. Hier konnte sich aber die Ampel noch nicht einmal dazu durchringen, 10 Milliarden Euro im Haushalt einzuplanen, ein Betrag, mit dem ein öffentlicher Rentenfonds kaum effizient arbeiten könnte.
Ich muss sagen, eigentlich ist es erschreckend, zu sehen, wie wenig Gestaltungswillen die Ampel für die Zukunft der Altersvorsorge zeigt. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht irgendwann heißt: Rente sich, wer kann!
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Johannes Vogel.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, in einer sozialpolitischen Debatte noch einmal das Wort ergreifen zu können,
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weil ich glaube, dass das, was wir heute auf den Weg bringen, ein wirklich wegweisendes Gesetz ist.
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Das ist es ganz offenkundig schon mit Blick auf die Zahlen: Es ist sehr erfreulich, welche Rentenerhöhung für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land durch dieses Gesetz ausgelöst wird.
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Es ist ja keine Frage politischer Willkür – wir wenden hier die Rentenformel an –; aber es führt dazu, dass wir eine Rentenerhöhung von über 5 Prozent im Westen und eine Rentenerhöhung von über 6 Prozent im Osten haben werden.
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Ich sage zwei Dinge ganz klar: Erstens. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das Gesetz ist wirklich bemerkenswert. Das sieht man schon daran, dass es die höchste Rentenerhöhung seit 1983 beinhaltet;
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das war das erste Jahr eines Arbeitsministers Norbert Blüm. Das ist wirklich historisch und eine gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land.
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Zweitens. Es sind nicht die Politiker, die den Dank verdienen. Das Geld haben sich die Rentnerinnen und Rentner verdient; denn Rente ist keine Sozialleistung, sondern sie ergibt sich aus der Arbeitsleistung. Trotzdem ist es eine gute Nachricht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Max Straubinger, ich habe mich ja sehr gefreut, dass ihr den Schritt zur EM‑Rente a) gelobt und b) als überfällig markiert habt. Das ist immerhin ein Schritt, zu dem selbst Matthias Birkwald gesagt hat, was dieser finanziell bewirke, sei immerhin beachtenswert – und das von den Linken kommend!
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Was ihr nur weggelassen habt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist, dass ihr es wart, die das in der letzten Legislaturperiode verhindert haben.
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Danke, dass ihr lobt, dass wir eure Politik verändern; es ist nämlich richtig, das zu machen.
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Dass die Rentenerhöhung jetzt so ausfällt, hat übrigens auch damit zu tun, dass wir in dieser Krise das Kurzarbeitergeld so umfangreich genutzt haben. Das zeigt die Handlungsfähigkeit unseres Sozialstaats in der Krise; das ist auch eine gute Nachricht.
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– Ja, dafür gerne Applaus. – Das zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass wir auf solide Finanzen achten, damit unser Sozialstaat, unser Staat in der Krise unzweifelhaft handlungsfähig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das führt zur Bedeutung des Nachholfaktors; denn es handelt sich in der Tat um das erste Stabilisierungsgesetz und das erste Stabilisierungselement bei den Rentenfinanzen seit 15 Jahren. Das ist erstens richtig mit Blick auf die finanzielle Stabilität, und das ist zweitens richtig mit Blick auf Fairness,
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weil es dafür sorgt, dass die Generationen auch in der Krise zusammenhalten und Renten und Löhne sich im Gleichgang entwickeln.
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Ich will gern auf die Zwischenrufe und auf die eben in der Debatte getätigten Äußerungen aus der Union eingehen. Der Kollege Whittaker und der Kollege Straubinger haben gesagt, die Union hätte dafür die Grundlage gelegt,
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weil sie die soziale Marktwirtschaft erfunden habe. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Respekt vor den historischen Leistungen der Union: Das war nicht die Union allein. Die soziale Marktwirtschaft hat dieses ganze Haus in früheren Generationen auf den Weg gebracht.
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Beim Nachholfaktor ist ja sogar das genaue Gegenteil richtig, weil es in der letzten Legislaturperiode ja unter anderem die Union war, die nicht bereit war, das Thema anzugehen, obwohl es offensichtlich notwendig war. Es ist diese Ampelkoalition, die das jetzt auf den Weg bringt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist auch kein Zwischenschritt oder etwas Derartiges. Was hier passiert, ist, dass die ausgebliebene Rentensenkung wegen der Rentengarantie richtigerweise in einem Jahr komplett verrechnet wird. Das heißt: In einem Jahr stellt diese Koalition Stabilität und Fairness zwischen den Generationen wieder her. Das ist die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
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Wenn ihr es mir nicht glaubt, kann man ja der „Süddeutschen Zeitung“ glauben. Die hat zur Vorlage des Gesetzes am 22. März dieses Jahres nämlich geschrieben: „Wenn jemand ein Beispiel für politische Vernunft und Fairness sucht, hier findet er es.“ – Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
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Die Wahrheit ist also: Wir stoßen hier die Tür auf für eine enkelfitte Rente,
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und diesen Weg werden wir mit weiteren Maßnahmen in den nächsten Monaten auch weitergehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Stefan Nacke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verlässlichkeit schafft Vertrauen. Das gilt für alle politischen Bereiche. Das gilt besonders für die Alterssicherung der Menschen. Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, muss darauf vertrauen können, von der Rente leben zu können. Es ist gut, dass die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilhaben. Deswegen hat Konrad Adenauer 1957 die Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung gekoppelt. 65 Jahre später gilt das immer noch. Das nenne ich: verlässliche Rentenpolitik, die Vertrauen schafft.
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Die Union begrüßt daher die vom Bundesminister angekündigte Rentenerhöhung von gut 6 Prozent in Ostdeutschland und gut 5 Prozent in Westdeutschland. Auch den pauschalen Zuschlag zu den Erwerbsminderungsrenten im Bestand finden wir zunächst einmal richtig.
Rentensteigerungen von mehr als 5 Prozent – das klingt auf dem Papier gut. Die traurige Wahrheit ist aber: In den Portemonnaies der Rentnerinnen und Rentner kommt davon nichts an; denn durch die akute Inflation werden die Rentenerhöhungen komplett geschluckt.
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Einem Rentenplus von 5 bis 6 Prozent stehen folgende Preissteigerungen gegenüber: Heizöl plus 144 Prozent, Superbenzin plus 42 Prozent, Butter und Mehl plus 17 Prozent und Gemüse plus 15 Prozent.
Gerade in Inflations- und Krisenzeiten müssen die Menschen das Vertrauen haben, dass Politik für Sicherheit sorgt, dass sie sich verlässlich an die selbstgesetzten Regeln hält und nicht bloß nach aktueller Kassenlage entscheidet. Mit den verschiedenen Staatsleistungen – Sofortzuschlag für Kinder, Einmalzahlung und Energiepreispauschale – versucht die Ampelregierung, den Preisschock für die Bevölkerung abzumildern.
Wer gute Politik für die Menschen machen will, muss diese Krisenleistungen im Zusammenhang mit unserer heutigen Rentendebatte sehen. Sie schließen die Rentnerinnen und Rentner ganz bewusst von diesen Leistungen aus. Sie lassen sie im Regen stehen. Von den Sozialverbänden haben Sie dafür am Montag in der Sachverständigenanhörung zu Recht viel Kritik bekommen. In dasselbe Horn stoßen die Herren Fratzscher und Hüther in erstaunlicher Harmonie.
Es ist traurig, dass man nun geneigt ist, den Rentnerinnen und Rentnern nahezulegen, einen umgekehrten Enkeltrick anzuwenden.
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Wenn zum Beispiel der Opa einmal im Jahr für eine Stunde auf seine Enkelin aufpasst und dafür von seiner Tochter 12 Euro Mindestlohn im Rahmen eines Minijobs oder selbstständiger Tätigkeit bekommt, dann hat er auch Anspruch auf die Energiepreispauschale. Glauben Sie, dass man so das Vertrauen der Rentnerinnen und Rentner gewinnen kann?
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Da halte ich es doch viel lieber mit unserem nordrhein-westfälischen Sozialminister Karl-Josef Laumann. Er fordert in seiner Bundesratsinitiative, den Empfängern von Alters- und Erwerbsminderungsrenten die Energiepreispauschale direkt mit den Renten auszuzahlen.
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Herr Heil, wie bringen Sie es über das Herz, denjenigen nicht zu helfen, die es gerade jetzt am nötigsten brauchen? Die aktuellen Preissteigerungen sind besonders für einkommensschwache Haushalte existenzgefährdend. Besonders in den Blick nehmen müssten Sie gerade jetzt die Menschen, die in verdeckter Altersarmut leben, Menschen, die Ansprüche auf Grundsicherung im Alter haben, diese aber aus ganz unterschiedlichen Gründen – leider oft aus Scham – nicht in Anspruch nehmen. Das sind viele.
Also: Stoppen Sie das Ampelgehampel! Diskutieren Sie die Probleme angemessen im Zusammenhang. Sorgen Sie krisenpolitisch für eine gerechte Beteiligung der Rentnerinnen und Rentner an den allgemeinen Entlastungen, und spielen Sie ordnungspolitisch nicht weiter auf Zeit. Kümmern Sie sich endlich um eine grundsätzliche Reform der Alterssicherung, die Altersarmut verhindert. Gerade in der Krise müssen die Menschen der Politik vertrauen können. Verspielen Sie dieses Vertrauen nicht leichtfertig!
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Tanja Machalet.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist Freitag, der 13., und der erzeugt ja bei vielen Menschen ein etwas mulmiges Gefühl. Bei einigen Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU hat man auch ein bisschen den Eindruck, dass sie heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden sind.
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Aber bei mir erzeugt der heutige Tag ein wirklich gutes Gefühl; denn ich kann sagen: Wir halten das, was wir versprechen.
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Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Rentenanpassung beginnen wir damit, das, was wir zur Verbesserung bei der Rente versprochen und im Koalitionsvertrag vereinbart haben, umzusetzen. Das ist auch gut so.
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Ich möchte als Erstes auch noch mal auf die Erwerbsminderungsrente eingehen; denn das, was wir hiermit umsetzen, ist wirklich längst überfällig. Es war, um es noch mal deutlich zu sagen, in der vergangenen Koalition mit der CDU nicht machbar; das brauchen Sie jetzt hier an dieser Stelle nicht zu leugnen.
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Ich freue mich wirklich sehr, dass wir mit diesem Gesetz nun die Situation von rund 3 Millionen Menschen zumindest etwas verbessern können; auf die Details wurde in der Debatte ja schon intensiv eingegangen. Man kann sagen: Wir haben einen wirklich guten Gesetzentwurf aus dem Ministerium erhalten. Dafür und auch dafür, dass wir die Verbesserungen so schnell auf den Weg bringen können, bin ich wirklich dankbar.
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Dennoch sehe auch ich – das hat der Kollege Gerdes schon deutlich gemacht –, dass es durchaus noch Luft nach oben gibt. Daran arbeiten wir, daran arbeite ich, daran arbeitet meine Fraktion.
Zweitens. Wir setzen den Nachholfaktor vorzeitig wieder ein – auch darauf ist bereits an vielen Stellen hingewiesen worden; darüber ist schon intensiv diskutiert worden –, mit dem wir ausgefallene Rentenkürzungen in die Folgejahre nachziehen. So steht es im Koalitionsvertrag, und so werden wir es machen; daran halten wir uns.
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Dass wir nicht die treibende Kraft hinter diesem Vorhaben waren, das ist nun wirklich kein Geheimnis. Dennoch sehen auch wir, dass uns die vorzeitige Reaktivierung des Nachholfaktors langfristig gesehen natürlich bei der Finanzierung der gesetzlichen Rente helfen wird. Dabei ist wichtig – das muss hier auch gesagt werden –: Der Nachholfaktor darf nur so weit angewandt werden, dass das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinkt.
Ich möchte auch noch mal darauf hinweisen, dass der Nachholfaktor und der Nachhaltigkeitsfaktor, den wir hiermit auch glätten, nicht zu verwechseln sind.
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– Das ist in der Tat alles sehr technisch, lieber Kollege Birkwald, und wenn ich das jetzt hier ausführlich erläutern würde, würde das den Zeitrahmen sprengen.
Mir ist nämlich wichtig, noch etwas zum dritten Punkt, zur Rentenerhöhung, zu sagen. Ich will es noch mal deutlich sagen: Es ist die größte Rentenerhöhung seit fast 40 Jahren in Westdeutschland mit 5,35 Prozent; im Osten sind es sogar 6,12 Prozent. Das ist in dieser Zeit so dringend notwendig, und das lassen wir uns auch von niemandem hier kleinreden.
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Ich will auch noch mal darauf hinweisen, dass das alles nur möglich geworden ist, weil wir mit dem Kurzarbeitergeld den Arbeitsmarkt stabil halten konnten. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Frau Merkel oder die CDU waren, die beim Thema Kurzarbeit die treibende Kraft waren. Das waren unser Bundesminister Hubertus Heil und die SPD.
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Und ja, auch wir diskutieren schon jetzt darüber, wie wir Rentnerinnen und Rentner in einem möglichen weiteren Entlastungspaket berücksichtigen können. Auf die Entlastungen, die mit den bestehenden Paketen intendiert sind, auch für Rentnerinnen und Rentner, ist Bundesarbeitsminister Hubertus Heil schon ausführlich eingegangen, und das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen.
Aber noch mal zur Erhöhung zurück. Diese führt dazu – das ist ein ganz wichtiger Aspekt –, dass der Rentenwert in den nun zugegebenermaßen nicht mehr ganz neuen Bundesländern ab diesem Jahr 98,6 Prozent des Wertes in den alten Bundesländern beträgt. Das heißt: Bald haben wir endlich die Anpassung geschafft, und wir müssen nicht mehr differenzieren. Das ist ein enorm wichtiger Schritt für die weitere Einheit.
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Mit dieser guten Botschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen schwierigen Zeiten wünsche ich Ihnen und uns allen einen guten Nachhauseweg und ein schönes Wochenende.
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Wir sehen uns nächste Woche, same time, same place. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Noch sind wir nicht im Wochenende.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Demokratie wird von vielen Seiten angegriffen; deswegen muss sie wehrhaft sein. Die Zahlen von dieser Woche zur Politisch motivierten Kriminalität mahnen uns erneut; sie sind erneut auf einem Höchststand. Wir müssen dabei aber das gesamte Spektrum des Extremismus in den Blick nehmen. Der Staat muss mit aller Konsequenz jeglichen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entgegentreten.
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Schon Horst Seehofer hat den Rechtsextremismus als größte Gefahr für unsere Demokratie bezeichnet und einen 89-Punkte-Katalog gegen Rechtsextremismus auf den Weg gebracht. Wir begrüßen es außerordentlich, dass die jetzige Bundesministerin diesen Weg fortführt, und das eint uns auch mit dieser Koalition im Kampf gegen den Rechtsextremismus.
Vieles ist richtig an dem Zehn-Punkte-Plan, den Sie, Frau Ministerin Faeser, vorgelegt haben. Aber es ist nicht wirklich viel Neues dabei. Sie übernehmen viele der Punkte, die auch schon die Vorgängerregierung auf den Weg gebracht hat.
Frau Ministerin, Sie nutzen das Thema schon auch, um sich selber ein bisschen zu promoten. Das ist legitim; das ist völlig in Ordnung. Was Sie da sagen, ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, was Sie nicht sagen. Denn seit Amtsantritt haben Sie nahezu nichts zu den Phänomenbereichen „Linksextremismus“ oder „islamistischer Terrorismus“ sowie „politischer Islam“ gesagt. Sie vernachlässigen diese Gefahren in eklatanter Art und Weise, meine sehr verehrten Damen und Herren,
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und dies, obwohl Ihre eigene Statistik vom Dienstag dieser Woche zeigt, dass die Gewaltbereitschaft bei den Linksextremisten besorgniserregend hoch ist.
Bei Gewaltstraftaten, also Körperverletzungs- und Tötungsdelikten, liegen die Linksextremisten auf Platz eins,
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und dies, obwohl Ihre Statistik ausweist, dass die Zahl extremistischer Straftaten aus religiöser Ideologie im letzten Jahr um 50 Prozent gestiegen ist.
Das BKA wörtlich:
Die absolute Mehrzahl der Straftaten mit Terrorismusqualität entfällt nach wie vor auf den Phänomenbereich PMK – religiöse Ideologie.
Das müsste eine Innenministerin alarmieren, tut es aber nicht; jedenfalls haben Sie dazu nichts ausgeführt. Deswegen dient dieser Antrag auch dazu, Sie bei diesem Thema auf die richtige Spur zu bringen. Wir müssen alle Bereiche des Extremismus entsprechend berücksichtigen.
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Ehrlich gesagt, Frau Faeser, ich verstehe auch nicht, weshalb Sie hier bewusst so eine Lücke entstehen lassen. Denn nahezu alle Maßnahmen Ihres Zehn-Punkte-Planes könnten auch auf die anderen Extremismusformen angewandt werden: Prävention, Aufklärung in Schulen, Sport, Betrieben, Kampf gegen Hass und Hetze, Entwaffnung, oder insbesondere auch die Aufdeckung der Finanzströme im islamistischen Bereich wäre dringend geboten. Das ist aber bei Ihnen momentan nicht Thema.
Über den Zehn-Punkte-Plan hinaus braucht es auch mehr bei dem für Sie so wichtigen Thema des Kampfes gegen Rechtsextremismus. Es braucht richtige, konsequente Werkzeuge, um die Strukturen bei Gefährdern aufklären zu können, bevor es zu spät ist. Aber daran fehlt es in Ihrem Aktionsplan gänzlich. Es fehlt insbesondere, dass wir unsere Sicherheitsbehörden auch technisch entsprechend aufrüsten. Union und SPD haben beispielsweise in der letzten Legislaturperiode dem Verfassungsschutz die Befugnis zur Quellen-TKÜ übertragen. Grüne und FDP haben die dazugehörige Rechtsverordnung im Bundesrat blockiert. Das erschwert die Arbeit des Verfassungsschutzes.
({4})
Weiter verweigern Sie dem BKA beispielsweise bei der Abwehr des internationalen Terrorismus auch das Auslesen von gespeicherten Nachrichten auf Messengerdiensten. Sie stellen das BKA bei der Strafverfolgung schlechter als den Verfassungsschutz. Deswegen fordern wir Sie auf, hier tätig zu werden.
Ein weiteres Thema ist: Wir brauchen längere Löschfristen bei der Speicherung. Denken Sie an den Mörder von Walter Lübcke, der dadurch durchs Raster gefallen ist! Und wir brauchen, ja, auch bei Minderjährigen die Möglichkeit, Informationen speichern zu können – denken Sie etwa an die vielen IS‑Rückkehrer –, etwas, das Ihr Präsident Haldenwang schon seit Langem fordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss feststellen: Die Abneigung der Ampel gegenüber mehr Befugnissen, vielleicht auch das Misstrauen gegenüber dem Staat ist offensichtlich größer
({5})
als der Wille zum Kampf gegen Extremismus, auch gegen Rechtsextremismus, sonst würden Sie hier handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jetzt die Verantwortung,
({6})
Sie haben auch die Verantwortung dafür, was Sie nicht tun, was Sie unterlassen, und dieser Verantwortung werden weder die Koalition noch die Ministerin momentan gerecht.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Uli Grötsch.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn vielleicht zur Einordnung, Herr Throm: Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – und ich sage: das Gleiche gilt für Grüne und für Freie Demokraten – kämpfen nicht gegen rechts, um sich zu promoten, sondern sie kämpfen aus Überzeugung gegen rechts und gegen alle Feinde der Demokratie;
({0})
das möchte ich gesagt haben. Und ich hoffe, dass das auch auf Sie zutrifft.
Sie haben eben vom Misstrauen gegen den Staat und seine Institutionen gesprochen. Ich möchte Sie gern daran erinnern, dass wir erstens in unserer Geschichte diesen Staat schon mit unserem Leben verteidigt haben – im Gegensatz zu Ihnen und Ihren Vorfahren –
({1})
– stellen Sie das doch nicht in Abrede! – und dass wir zweitens in der Großen Koalition gemeinsam mit Ihnen acht Jahre lang alles dafür getan haben, um die Sicherheitsbehörden zu stärken. Und diesen Weg werden wir weitergehen. Ich erkläre Ihnen auch gleich, wie wir das tun werden.
({2})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie nach dem zweiten Absatz Ihres Antrags aufgehört hätten, zu schreiben, hätten wir ihm womöglich sogar zugestimmt.
({3})
Aber wenn man weiterliest, dann wird es geradezu gruslig in Ihrem Antrag, zumindest aus Sicht unserer Fraktion. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen: die Speicherung von Daten über Kinder durch den Verfassungsschutz,
({4})
ein alter – ich sage es nicht – Wunsch Ihrer Fraktion,
({5})
und die Straffung – so nennen Sie es – von Präventionsprogrammen; wir alle wissen doch, dass Sie de facto damit Kürzungen im Präventionsbereich meinen.
({6})
Außerdem wollen Sie – Sie haben es eben gesagt – am allerliebsten natürlich lebenslänglich die Speicherung von Daten zu Personen beim Verfassungsschutz und auch noch – absolut aus der Mottenkiste gegriffen – eine sogenannte Demokratietreueerklärung von denen, die Demokratiearbeit und Extremismusprävention in diesem Land leisten.
({7})
Ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft – das sei hier gesagt – ist geprägt von Misstrauen, unseres von Dank, Anerkennung und Vertrauen.
({8})
Das ist eben der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir werden endlich das Demokratiefördergesetz beschließen und eine solide und dauerhafte Finanzierung sicherstellen. Ihnen sind Grundrechte bei den Befugnissen unserer Sicherheitsbehörden nur im Weg, ein Hindernis. Für uns sind die Grundrechte der Maßstab für alle Befugnisse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union – Herr Throm, Sie haben es ja eben gesagt –, die größte Gefahr in diesem Land kommt von rechts. Ich finde, Sie sollten damit aufhören, das immer wieder zu relativieren.
({9})
Schauen Sie in die aktuelle PMK-Statistik des Bundeskriminalamtes! Wir haben auch in 2021 doppelt so viele rechte Straftaten wie linke, ausländische und islamistische Straftaten zusammen. Doppelt so viele wie alle anderen zusammen! Sie haben sicher die fast Verdreifachung der Straftaten in der Kategorie „nicht zuzuordnen“ vernommen. Wir wissen, dass sie zum großen Teil im Zusammenhang mit der Coronaleugnerszene und den Coronaprotesten stehen, die wiederum völkisches, antisemitisches und rechtsextremes Gedankengut pflegt.
({10})
– Kein Wunder, dass Sie schreien, Frau von Storch. – Daher ist die Gefahr von rechts garantiert noch größer,
({11})
als die PMK-Statistik dies derzeit abbildet.
Zu Ihrem gebetsmühlenartigen Vorwurf „zu viel gegen rechts und zu wenig gegen Islamisten“:
({12})
Wir haben aktuell 75 rechte Gefährder, also Personen, denen jederzeit ein rechtsextremistischer Terroranschlag zuzutrauen ist. Das Analysetool zur Einstufung der Gefährlichkeit ist beim Bundeskriminalamt übrigens erst seit ein paar Tagen im Einsatz; für Islamisten gibt es das schon – Sie wissen es – seit Jahren. Ich sage Ihnen: Wir haben Nachholbedarf im Kampf gegen rechts, und diese Koalition wird das leisten.
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Es trifft sich gut,
({14})
dass sie hier ist: Sozusagen als Beleg dafür hat die Bundesinnenministerin heute mit dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz das Lagebild „Rechtsextremisten, ‚Reichsbürgerʼ und ‚Selbstverwalterʼ in Sicherheitsbehörden“ vorgestellt. Bei 327 Bediensteten der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern wurden tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung festgestellt. Gemessen am dreijährigen Untersuchungszeitraum und gemessen an der Gesamtzahl von 355 100 Beschäftigten in den Sicherheitsbehörden ist das natürlich eine verschwindend geringe Zahl, was für mich durchaus der Beleg dafür ist, dass unsere Sicherheitsbehörden stabil auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen.
({15})
Trotzdem: Jeder Verfassungsfeind zählt, erst recht in den Sicherheitsbehörden.
({16})
Verfassungsfeinde haben in den Sicherheitsbehörden nichts zu suchen. Deshalb ist es gut, dass es ein so konsequentes Vorgehen auch Ihrer Person, Frau Bundesinnenministerin, dagegen gibt und es auch ein konsequentes Vorgehen dieser Koalition und der ganzen Bundesregierung gibt.
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Den „360-Grad-Blick“, den Sie in Ihrem Antrag auch fordern, wenden wir gerade an. Wir haben das ja miterlebt. Das war 16 Jahre so ein bisschen aus dem Blick geraten.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, wir waren uns unter den Demokratinnen und Demokraten – und das ist mir wirklich wichtig zu sagen – immer einig, dass Extremismusbekämpfung und Extremismusprävention die Grundpfeiler unserer wehrhaften Demokratie sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier an einem Strang ziehen, damit Demokratiefeinde nicht das Vertrauen in den Staat untergraben können.
({18})
Wenn Sie diesen Konsens aufkündigen, indem Sie wie hier einen Generalverdacht gegen zivile Träger ins Spiel bringen,
({19})
dann bewegen Sie sich als Volkspartei weg von der Mitte. Ich sage das auch mit Blick auf andere parlamentarische Eingaben von Ihnen. Fischen Sie nicht am rechten Rand! Werben Sie um Wählerinnen und Wähler in der Mitte der Gesellschaft!
({20})
Bleiben Sie Volkspartei! Bleiben auch Sie stabil auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung!
({21})
Vielen Dank.
({22})
Nächster Redner für die AfD-Fraktion ist Steffen Janich, der heute seine erste Rede hier im Deutschen Bundestag hält.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Pünktlich zur Veröffentlichung der Fallzahlen der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2021 bringt die Unionsfraktion einen Antrag zum Thema Extremismus ein. Die aktuellen Zahlen im Bereich der PMK sind uns als Demokraten nicht gleichgültig. Im Bereich „PMK-rechts“ ist die Zahl der Straftaten im Vergleich zum Jahr 2020 um 1 600 Fälle zurückgegangen. Im Bereich „PMK-links“ gab es einen Rückgang um 800 Fälle. Ein Anstieg um 150 Prozent ist jedoch im Bereich PMK, der sich nicht zuordnen lässt, erfolgt.
Wenn wir uns mit den begangenen Straftaten befassen, fällt auf, dass im Jahr 2021 von knapp 22 000 begangenen Straftaten im Bereich „PMK-rechts“ mehr als die Hälfte, nämlich 12 000 Taten, Propagandadelikte waren. Sprechen wir hingegen von Gewaltstraftaten, also insbesondere von Körperverletzungen und Tötungsdelikten, liegen die im Jahr 2021 von Linksextremisten begangenen Taten mit 1 200 Fällen nach wie vor noch vor den von Rechtsextremisten begangenen Taten mit 1 040 Fällen. Erneut sind Linksextremisten Spitzenreiter, wenn es darum geht, andere Menschen gesundheitlich zu schädigen.
({0})
Um es klar zu sagen: Jede einzelne aus extremistischen Motiven heraus verübte Straftat ist eine zu viel und eindeutig zu verurteilen. Das heißt aber nicht, dass der Staat das Recht hat, Menschen aufgrund ihrer Meinung zu kriminalisieren und als Extremisten zu brandmarken. Einer pauschalen Verurteilung von Menschen, die beispielsweise gegen Coronamaßnahmen spazieren gehen, treten wir entschieden entgegen.
({1})
Es ist aber erfreulich, zu sehen, dass die CDU/CSU inzwischen ihr sicherheitspolitisches Rückgrat entdeckt; denn sie hat recht, wenn sie schreibt:
Zum staatlichen Schutzauftrag gehört … ein … Blick, der die Bevölkerung in gleichem Maße vor den erheblichen Gefahren des extremistischen Islamismus sowie vor dem zunehmend radikalen Linksextremismus bewahrt.
Schade ist allerdings, dass ihr das erst in der Oppositionsrolle nach 16 Jahren Bundesregierung einfällt.
({2})
Anderenfalls hätte sie schon in der letzten Wahlperiode den Initiativen der AfD-Fraktion zustimmen können.
Wenn die CDU/CSU heute befürchtet, dass unter Nancy Faeser der Kampf gegen Islamismus und Linksextremismus in den Hintergrund tritt, sage ich: Schon in der 19. Wahlperiode haben wir die Prüfung von Verbotsverfahren gegen Antifa-Banden, die Unterbindung von Finanzierungen islamistischer Moscheevereine durch ausländische Staaten, die Ausweisung ausländischer Hassprediger und das Verbot islamistischer Moscheevereine in Deutschland gefordert. Immerhin adaptieren Sie heute unsere Forderungen und schlagen eine Aufdeckung der Finanzströme von islamistischen Moscheevereinen vor. AfD wirkt also!
({3})
Wir als AfD setzen uns auch weiter konsequent für die Stärkung und Anerkennung der Polizei als wichtige Behörde der Gefahrenabwehr ein. Was wir aber nicht brauchen, sind weitere Befugnisse für unsere Verfassungsschutzbehörden. Stephan E., der Mörder von Walter Lübcke, war dem Verfassungsschutz bekannt. Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, war dem Verfassungsschutz bekannt.
Und – das muss man sich mal vorstellen – da enttarnt eine 26‑jährige Internetaktivistin ohne Schulabschluss einfach mal so aus öffentlichen Quellen und mit vollkommen legalen Mitteln die angeblichen Behörden Bundesservice Telekommunikation und Transportmanagement der Bundesverwaltung als vollständige Tarnorganisation des VS. 300 Mitarbeiter brauchen nunmehr neue Büros und neue Identitäten. Die Kosten gehen in die Millionen. Und das ist genau der Verfassungsschutz, der auf ein jährliches Haushaltsbudget von einer halben Milliarde Euro zurückgreifen kann.
Ich sage Ihnen klar: Die innere Sicherheit wird am besten von unserer Polizei geschützt. Einen solchen Verfassungsschutz brauchen wir nicht. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Konstantin von Notz.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wehrhaftigkeit der Demokratie muss sich in diesen Tagen ganz besonders beweisen. Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung wird massiv bedroht – von innen wie von außen – in einem lange nicht mehr für möglich gehaltenen Ausmaß. Aber diese Bedrohungen verlangen nach neuen, modernen, differenzierten und, Herr Throm, vor allen Dingen verfassungskonformen sicherheitspolitischen Antworten.
({0})
Davon findet man in Ihrem Antrag leider wenig. Er ist vor allen Dingen ein Sammelsurium Ihrer alten sicherheitspolitischen Forderungen. Ihr Ziel – ziemlich offenkundig – der innenpolitischen Profilschärfung zwei Tage vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen, das verfehlen Sie, meine Damen und Herren.
({1})
Man muss es an dieser Stelle einfach mal sagen: Mit Ihren unwissenschaftlichen Hufeisennarrativen
({2})
haben CDU und CSU hier lange – viel zu lange, jahrelang – die dringend notwendige Debatte über den mörderischen Rechtsextremismus in diesem Land verschleppt, meine Damen und Herren.
({3})
Über 200 Morde seit 1990! Und die Kurskorrektur seit 2017/2018, Herr Throm, war eine von rechtsterroristischen Anschlägen, von einer skandalösen Zunahme rechtsextremistischer Vereinigungen und Aktivitäten getriebene Kurskorrektur. 13 Untersuchungsausschüsse zum NSU, eine breite kritische Berichterstattung, die Zivilgesellschaft, das Parlamentarische Kontrollgremium dieses Hauses und ein Wechsel an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz waren notwendig, damit das unionsgeführte Innenministerium endlich anerkannte, was lange offenkundig war, nämlich dass unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, die Sicherheit vieler Menschen in diesem Land vor allen Dingen und massiv von Rechtsextremisten gefährdet werden.
({4})
Wer dazu eine klare Sprache, irgendwelche nachdenklichen Fragen, einen neuen Sound oder so etwas in Ihrem Antrag sucht, der sucht vergebens. Es ist vor allen Dingen alter Wein in alten Schläuchen.
Jetzt haben wir alle am letzten Sonntag nach Schleswig-Holstein in den hohen Norden geguckt, nach Kiel. Manche haben sich gefreut, andere weniger. Auf jeden Fall hat Ihr Kollege Herr Czaja messerscharf analysiert, das läge irgendwie an der Wirtschaftspolitik und – dann kam es – vor allen Dingen an einer sicherheitspolitischen Nulltoleranzpolitik. Das ist ein wirklich lustiges Statement; denn Sie werden in ganz Deutschland keinen bürgerrechts- und freiheitsrechtsorientierteren Koalitionsvertrag finden als denjenigen, den die Koalition in Schleswig-Holstein beschlossen hat.
({5})
Das ist eben keine platte Nulltoleranzstrategie, sondern eine an Bürger- und Freiheitsrechten orientierte Innen- und Sicherheitspolitik.
({6})
Und da sage ich Ihnen: Davon lernen Sie mal was. Die AfD stellt man kalt, nicht indem man ihre abwegigen Narrative nacherzählt, sondern indem man klare rechtsstaatliche Kante fährt.
({7})
Bemerkenswert ist der jüngste gemeinsame Beschluss der Präsidien von CDU und CSU in Sachen Sicherheitspolitik, der durchaus selbstkritisch ausfällt, wie mir aufgefallen ist. Ich zitiere:
Deutschland ist militärisch und sicherheitspolitisch hochgradig vulnerabel.
Und weiter:
Strategisches Denken und operative Wehrhaftigkeit müssen eine wesentlich höhere politische Priorität erhalten.
Das sind wahre Worte, gelassen ausgesprochen. Nach 16 Jahren durchgängiger Verantwortung von CDU und CSU im Verteidigungsministerium und Innenministerium sieht es um diese beiden zentralen Felder sehr schlecht aus.
({8})
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass die Ampelkoalition in diesen Bereichen einen besonders ehrgeizigen und schönen Koalitionsvertrag hat.
({9})
Wir gehen das alles an: die hybriden Bedrohungen, die Desinformationskampagnen, die dramatischen Probleme bei der IT‑Sicherheit,
({10})
die wir von Ihnen geerbt haben, alle Formen des Antisemitismus – von rechts, aus der Mitte der Gesellschaft und natürlich auch den von links und den salafistisch geprägten –, den Rechtsextremismus genauso wie den Islamismus. Was Sie, Herr Throm, hier so bedeutungsschwanger vortragen, ist eine vollkommene Selbstverständlichkeit. Wir müssen überall hingucken, wo es gefährlich ist, und das tun wir.
({11})
Einen Punkt zum Islamismus will ich noch loswerden – weil ich den Kollegen Strasser und die Kolleginnen Mihalic und Renner sehe –: Im Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz waren Sie von der Union es, die die Aufklärung des schwersten salafistischen Anschlages in der Bundesrepublik Deutschland, der in Ihrer Verantwortungszeit passiert ist, gebremst und verschleppt haben. Viele Netzwerke und Probleme konnten wir nicht aufdecken, weil Sie auf der Bremse gestanden haben, auch in Mecklenburg-Vorpommern übrigens.
({12})
Jetzt mein letzter Punkt zur Wichtigkeit von rechtsstaatlichen und verfassungskonformen Antworten. Drolligerweise nehmen Sie ja Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz vom 26. April dieses Jahres.
({13})
Monatelang hat die CSU in einer wirklich trollhaften Art und Weise gegen die gesamte Staatsrechtslehre, gegen alle, die gefragt wurden: „Könnte das eventuell nicht doch verfassungswidrig sein?“, dieses Gesetz durchgebracht. Sie haben einen Kollateralschaden biblischen Ausmaßes angerichtet, weil dieses Urteil ganz viele Instrumente einfach mal abräumt. Und jetzt trauen Sie sich ernsthaft, in den Antrag zu schreiben: Jetzt soll uns die Ampel aber mal schnell hinterherfegen, weil viele der Dinge, die wir gemacht haben, leider nicht verfassungskonform sind. – Das ist ein Treppenwitz, meine Damen und Herren.
({14})
Deswegen kann man nur froh sein, dass sich die Ampel auf den Weg gemacht hat, eine seriöse, wissenschaftsbasierte, evidenzbasierte Sicherheitspolitik zu machen. Ich freue mich auf unseren gemeinsamen Weg.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Martina Renner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ja, für uns Demokratinnen und Demokraten muss die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat gegen Angriffe eine Selbstverständlichkeit sein. Es geht um den Schutz von Leib und Leben aller Menschen, die in unserem Land leben. Vor dem Hintergrund der Anschläge der letzten Jahre bedeutet dies vor allem, dass wir gegen Rassisten, Antisemiten und Neonazis kämpfen müssen, und das gemeinsam.
({0})
Die CDU/CSU, die diesen Antrag vorgelegt hat, ist in den letzten 16 Jahren bei der Bekämpfung von rassistischer Gewalt und Rechtsterror fulminant gescheitert.
({1})
Sie hatten 16 Jahre Zeit, das Thema anzugehen. Trotz der Schlussfolgerungen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen ist nichts passiert. Die Morde von Halle, Hanau und Kassel konnten geschehen. Auch danach wurde aus den Reihen der Union die von rechten Netzwerken ausgehende Gefahr banalisiert. Oder sogar schlimmer: Sie leugneten, um ein Beispiel zu nennen, entsprechende Strukturen in Polizei und Bundeswehr. Sie loben auch heute hier wieder den vormaligen Innenminister Seehofer dafür, dass er Ende 2020 einen Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Rechtsextremismus erarbeitet hat. Ende 2020, neun Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, so was vorzutragen, wäre mir peinlich.
({2})
In Ihrem Antrag heißt es auch, dass es nach „mittlerweile sechs Monaten im Amt“ vonseiten der Innenministerin Faeser „an einer grundlegenden Befassung“ mit den Gefahren des islamistischen Terrorismus mangele. Ja, islamistischer Terrorismus ist eine Gefahr für die Demokratie. Dann habe ich aber eine Frage: Was haben Schäuble, de Maizière, Hans-Peter Friedrich – auch der war mal Innenminister, wir haben es fast vergessen – und Horst Seehofer getan? Wenn die Innenminister der CDU/CSU geliefert hätten, dann bräuchten Sie diesen Antrag gar nicht.
({3})
Ich muss meinem Kollegen Konstantin von Notz recht geben mit Blick auf das, was er hier zum Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss gesagt hat: Das Innenministerium unter Seehofer hat alles dafür getan, um die Aufklärung des Anschlages zu blockieren.
Es gibt ein Weiteres. Nach islamistischen wie rechtsterroristischen Anschlägen sind CDU und CSU nicht bereit, ihre in Stein gemeißelten Annahmen über das Funktionieren der Sicherheitsarchitektur zu überdenken. Genau diese Haltung spiegelt auch Ihr Antrag wider.
({4})
Das liegt auch daran, dass es hier wieder vor allem um Extremisten geht: links, rechts, Hauptsache „-ismus“. Sie folgen stur den Begrifflichkeiten des Geheimdienstes. Die Mitte ist vermeintlich fein raus.
Dann habe ich eine zweite Frage an Sie. Wenn Ihnen der Verfassungsschutz so heilig ist, warum haben Sie dann Maaßen zu seinem Chef gemacht,
({5})
eine Person, die Einstellungen verkörpert, die Sie hier mit Ihrem Antrag bekämpfen wollen. Bis heute: Aufklärung Fehlanzeige.
({6})
Und nun – das muss auch sein – noch ein Wort zur neuen Bundesregierung. Wie soll Gefahrenanalyse gelingen, wenn wir über 23 000 Straftaten haben, die bei „PMK – nicht zuzuordnen“ landen? Diese Einstufung konterkariert den ursprünglichen Zweck der Statistik. Sie wurde 2001 eingeführt, um endlich ein realistisches Bild zu rechten Tötungsdelikten zu bekommen. Ich glaube, hier muss die Bundesregierung handeln, um diese falsche und irreleitende Einordnung offensichtlich rechter Gewalt und Straftaten zu ändern.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass unsere Demokratie wehrhaft sein muss nach innen und nach außen, das ist wahrlich noch offensichtlicher in diesen Tagen, als es eigentlich schon zuvor war. Das zeigt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Und das zeigen leider auch die neuesten Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität, die die Bundesinnenministerin uns in dieser Woche vorgestellt hat. Sie zeigen einen neuen Höchststand, und das in vielen Bereichen. In vielen Bereichen von Extremismus, in verschiedenen Phänomenbereichen Politisch motivierter Kriminalität.
Was wir nicht brauchen – das ist auch nicht anders als noch in den letzten Jahren –, ist irgendein Ranking oder Hierarchien, welche Art von Extremismus oder Kriminalität schlimmer oder weniger schlimm oder die größere Bedrohung sei. Wir brauchen den Rundumblick
({0})
und das klare Eintreten des freiheitlichen Rechtsstaates gegen jeglichen Extremismus.
({1})
Auch gegen jede Form der Menschen- oder Demokratieverachtung. Es gibt keinerlei moralische Überlegenheit irgendeiner Ausprägung von Extremismus. Es kann übrigens auch für Menschenverachtung keinen Rabatt geben, weder kulturell noch für irgendein politisches Lager, wo immer wir sie wahrnehmen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders beschämen und besorgen müssen uns die auch erneut auf einem Höchststand befindlichen Zahlen antisemitischer Taten. Wir haben eine besondere Verantwortung dafür, dass jüdisches Leben in unserem Land sicher und selbstbestimmt stattfinden kann, und dafür, dass nicht wir uns das attestieren, sondern dass Jüdinnen und Juden selbst darauf vertrauen.
({3})
Deshalb gilt – egal in welchem Gewand, egal in welcher Ausprägung –: Jede Form des Antisemitismus ist gleichermaßen inakzeptabel, und wir müssen ihm entschieden entgegentreten,
({4})
als Rechtsstaat, als Gesellschaft und auch jeder und jede Einzelne von uns. Wo auch immer er uns in Gesprächen begegnet, müssen wir widersprechen. Wir müssen die gesellschaftlichen Türen gegen Antisemitismus, gegen menschenverachtendes Gedankengut fest verschließen, damit es auf reale Türen wie in Halle nicht ankommt.
({5})
Da finde ich übrigens einen seltsamen Kontrast zwischen dem aktuellen wirklichen Ernst der Lage einerseits und den alten Reflexen, die in dieser Debatte wieder auftauchen, andererseits. Ich will da zwei Beispiele nennen.
Zum einen, liebe Kolleginnen und Kolleginnen von der Union, ist das nicht der richtige Anlass für die altbekannten Forderungen. Natürlich muss der Rechtsstaat wehrhaft sein, und man muss auch sachlich über Befugnisse diskutieren können. Aber hier wie in anderen Bereichen gilt das Zauberwort unserer Verfassung – Verhältnismäßigkeit –, und daran hat sich nichts verändert.
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Zum anderen muss ich, weil eben neue Phänomene eher eine neue Nachdenklichkeit erfordern und nicht die alten Reflexe, auch zu den Kollegen der Linken wie Frau Renner sagen: Wenn wir neue, schwer einzuordnende Phänomene haben, dann finde ich es besser, dass das bei der Kriminalitätsstatistik offen kommuniziert wird, als wie Sie vorschnell Phänomene in alte Schubladen zu packen, weil das in Ihr Weltbild besser passt. Verschwörungserzählungen und vieles andere gibt es nicht nur in einem politischen Lager. Ich finde, das sollte uns eher nachdenklich machen. Sosehr die Sicherheitsbehörden gegen jeden, der den Staat delegitimieren will, klar vorgehen müssen, sollten wir über die Ursachen und die Motive gründlich nachdenken. Wir sollten nicht alles so, wie Sie es gerne möchten, in eine rechte Schublade packen, sondern die Komplexität der Phänomene wahrnehmen und beschreiben.
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Ebenfalls bedenklich – und die müssen uns besorgen – sind die erhöhten Zahlen bei Angriffen gegen Mandats- und Amtsträger. Hier müssen wir ganz klar sagen: Wer Repräsentanten unserer Demokratie, unseres Rechtsstaates angreift, der greift uns alle an. Das ist keine Frage der politischen Opportunität. Wer Mandats- und Amtsträger angreift, der zeigt damit auch seinen mangelnden Respekt zum Beispiel gegenüber den Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger, die diese Personen legitimiert haben. Hierfür darf es kein Verständnis geben. Wir müssen glaubwürdig dafür einstehen, dass unsere freiheitliche demokratische Grundordnung so viele friedliche und legale Möglichkeiten bietet, sich politisch zu beteiligen. Da kann es auch keinen Blankoscheck für selbsternannte Aktivisten geben. Recht und Gesetz gelten für jedermann in unserem Land.
({8})
Frau Teuteberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Daseinsvorsorge für unsere Demokratie, das muss für uns auch bedeuten: Respekt vor dem Ehrenamt, zum Beispiel auch in politischen Parteien, und bessere Rahmenbedingungen für das Ehrenamt in unserem Land. Darauf kommt es an. Wir brauchen vieles mehr: Vorbeugung, Prävention, politische Bildung; dazu wird mein Kollege Stephan Seiter sprechen. Auch auf unser Verhalten in jeder politischen Debatte kommt es an, dafür, wie groß der Respekt für die politischen Institutionen in unserem Land ist.
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, hat das Wort zu einer Kurzintervention die Kollegin Renner.
Danke, Frau Präsidentin, dass Sie mir die Gelegenheit geben, auf die Ausführungen der Kollegin Teuteberg einzugehen.
Sie haben mir vorgeworfen, dass wir die neuen Phänomene, wie Sie es nennen, in der Corononaleugnerszene zu Unrecht als rechts bezeichnen. Diese seien vielmehr indifferent in ihrer politischen Bewertung.
({0})
Ich will Ihnen sagen: Das, was wir dort vorfinden, sind nicht einfach Verschwörungserzählungen. Das sind antisemitische Narrative, die weit zurückgehen, auch in die Vergangenheit.
({1})
Es sind sozialdarwinistische Vorstellungen: Das Recht des Stärkeren soll sich durchsetzen. Sie bekämpfen den Staat, um ein autoritäres Regime zu errichten. Sie lehnen die Institutionen ab.
({2})
Sie können alle Einstellungsebenen des Rechtsextremismus durchgehen. Sie finden alle diese Facetten, auch den Rassismus – zum Beispiel in diesem antiasiatischen Moment, das wir dort gefunden haben –, in der Coronoaleugnerszene. Wir müssen endlich anerkennen: Sie ist das Ergebnis einer rechten Mobilisierung und einer rechten Ideologie.
Danke.
({3})
Sie dürfen antworten.
Frau Kollegin Renner, Sie bestätigen gerade mit Ihren Einlassungen all das, was ich meinte,
({0})
nämlich die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass es Antisemitismus, leider auch autoritäres Denken und vieles mehr, nicht nur in einem politischen Lager gibt, dass es das auch auf der linken Seite durchaus gibt, ebenso vereinfachte Geschichtsbilder.
({1})
All das bestätigen Sie leider damit.
Ich habe keine Einordnung vorgenommen, sondern habe den Respekt davor beschrieben, dass, wenn Sicherheitsbehörden eine Tat nicht eindeutig einer bestimmten politischen Seite zuordnen können, man das dann auch so redlich kommunizieren sollte. Und dass wir uns mit neuen Phänomenen auseinandersetzen sollten, hat eben nichts mit Verharmlosung, sondern mit Ernsthaftigkeit zu tun.
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Wir fahren fort in der Debatte. Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Dr. Stefan Heck.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. Das haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes so festgelegt, aus gutem Grund. Die Geschichte war ihr bitterer Lehrmeister. Und in den Jahrzehnten, in denen unsere Verfassung nun Geltung hat, waren wir immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Das gilt für die äußere Sicherheit, aber insbesondere auch für die innere Sicherheit unseres Landes.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die am Dienstag von der Bundesinnenministerin vorgestellte Statistik zu den im Jahr 2021 erfassten politisch motivierten Straftaten gibt uns allen Anlass zur Sorge. 2021 gab es im Vergleich zum Vorjahr mit einem Zuwachs von 23 Prozent einen deutlichen Anstieg von politisch motivierten Straftaten. Mit über 55 000 Delikten befindet sich die Politisch motivierte Kriminalität auf dem höchsten Stand seit der Einführung dieser Statistik im Jahr 2001, und insbesondere der Anstieg antisemitischer Gewalttaten – Sie haben es gesagt, Frau Kollegin Teuteberg – um 29 Prozent ist erschreckend und bedarf einer entschlossenen Reaktion aufseiten von Staat und Gesellschaft.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mord an Dr. Walter Lübcke, der rassistisch motivierte Anschlag von Hanau und auch der antisemitische Anschlag in Halle haben uns jüngst auf äußerst schmerzhafte Art und Weise vor Augen geführt, dass rechtsextreme Gewalt noch immer die größte Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. Da ist es richtig, dass die unionsgeführte Bundesregierung den im vergangenen Mai unter der Federführung von Bundesinnenminister Seehofer ins Leben gerufenen 89‑Punkte-Plan umgesetzt hat und Sie – das gestehen wir gerne zu – hier noch mal eigene Schwerpunkte gesetzt haben, Frau Ministerin.
Aber wir dürfen dort nicht stehen bleiben. Zur Wahrung unserer Freiheit muss politischer Extremismus jeglicher Couleur bekämpft werden. Und deshalb wundern wir uns schon, Frau Ministerin, warum wir noch keine konkreten Maßnahmen zum Kampf gegen extremistischen Islamismus von Ihnen nach knapp einem halben Jahr im Amt kennen. Anschläge wie auf dem Berliner Breitscheidplatz oder wie in Paris im November 2015 haben unseren ganzen Kontinent ins Herz getroffen, und die Gefahr durch islamistischen Terror auch hier in Deutschland ist weiterhin hoch. Wir fordern daher ein entschlossenes Vorgehen und die Erarbeitung eines Aktionsplanes gegen radikalislamistische Bestrebungen auch hier in Deutschland.
({1})
Dafür brauchen unsere Sicherheitsbehörden eine gute Personalausstattung, vor allem aber das richtige Handwerkszeug. Wir haben das in der von uns geführten Regierung bestmöglich und mit großem Nachdruck verfolgt. Ich möchte Sie hier weiterhin auffordern: Statten Sie den Verfassungsschutz insbesondere im Bereich der Telekommunikationsüberwachung mit weitreichenderen Befugnissen aus, schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, um die bestmögliche Überwachung terroristischer Gruppen zu ermöglichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer im Auftrag des Staates mit öffentlichen Fördermitteln im Bereich der Extremismusprävention tätig wird, muss – und das ist uns schon wichtig – auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen. Deshalb fordern wir die Einführung einer Demokratietreueerklärung in Förderbescheiden, damit Träger, insbesondere von Präventionsprojekten, sich eindeutig zum Fundament unserer gemeinsamen Werteordnung bekennen.
({2})
Wir dürfen jedenfalls nicht akzeptieren, wenn diejenigen, die Rechtsextremismus und Rassismus bekämpfen wollen, gleichzeitig Hass und Gewalt gegen Polizei und unsere Sicherheitskräfte schüren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch der militante Linksextremismus stellt in Deutschland eine schwerwiegende Bedrohung dar. Ich finde, das sollten wir hier nicht unerwähnt lassen, Frau Kollegin Renner. Gewalttätige Aufmärsche, tätliche Angriffe auf Polizei und auf Sicherheitsbehörden sind leider keine Seltenheit.
Wir fordern, dass Sie sich darum stärker kümmern. Wir brauchen eine bessere Aufklärung der linksextremistischen Szene und mehr Anstrengungen gegen die zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft linksextremistischer Gruppierungen. Schützen Sie unsere Demokratie, und stärken Sie unsere Sicherheitsbehörden, und zwar ohne Scheuklappen. Unsere Unterstützung ist Ihnen dabei sicher.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Peggy Schierenbeck.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Innenministerin Faeser! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich werde Sie jetzt überraschen: Ich stimme mit der CDU/CSU überein. Die Union hält in ihrem Antrag den Rechtsextremismus derzeit für die größte Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Und nicht nur ich stimme an dieser Stelle mit der Union überein, sondern die gesamten Fraktionen der SPD, der Grünen und der FDP. Das können Sie sogar nachlesen: Koalitionsvertrag, Seite 107, Zeile 3 587. Ich zitiere: „Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie.“
({0})
Die Zahlen zeigen eindeutig, dass die Fälle von rechtsmotivierter Kriminalität sehr hoch sind, höher als die durch linke, durch religiöse oder durch ausländische Ideologien motivierten Straftaten.
({1})
Die Zahlen zeigen auch, wie dringend es ist, gegen den Rechtsextremismus wirksam vorzugehen. Wenn die Zahl der von rechtem Gedankengut geprägten Straftaten doppelt so hoch ist wie die der von linkem geprägten, dann muss uns das doch allen zeigen, dass wir zuerst dagegen vorgehen müssen, dass wir uns erst damit beschäftigen müssen, dem Hass, der Hetze und der Gewalt von rechts Einhalt zu gebieten.
Verstehen Sie mich richtig: Jede Straftat ist eine zu viel, jede Gewaltanwendung ist eine zu viel, jede Gewaltanwendung ist zu verurteilen. Denn wir haben auch schon linksextreme Ausschreitungen gesehen, Bilder von vermummten Menschen, die Autos anzünden, um Systemkritik auszudrücken.
({2})
Das Anzünden eines Autos ist aber keine Systemkritik. Das ist erst mal Sachbeschädigung.
({3})
Sachbeschädigung ist übrigens auch das Feld, in dem von links motivierte Täter/-innen sich am häufigsten betätigen.
Damit möchte ich zum nächsten Punkt kommen. Sachbeschädigung ist die Beschädigung einer Sache. Es wird etwas beschmiert, kaputtgemacht, angezündet. Das wird mit aller Konsequenz strafrechtlich verfolgt. Dennoch können wir diese Dinge reparieren.
Was wir nicht reparieren können, das sind die Angriffe auf die Seele, seien es fremdenfeindliche, antisemitische, islamfeindliche oder volksverhetzende Äußerungen, Äußerungen gegen die sexuelle Orientierung oder Identität. All diese Äußerungen hinterlassen Spuren in den Lebensbiografien von Menschen. Das sind Verletzungen und Wunden, die nicht sichtbar sind und die die Geschädigten oft ihr ganzes Leben lang mit sich tragen werden. Solche Äußerungen kommen in der Masse von rechts.
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Deswegen lohnt es sich, zu sagen, dass Rechtsextremismus nicht nur unsere Demokratie bedroht, sondern uns Demokratinnen und Demokraten bereits angreift. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Volksverhetzung sind häufig nicht so gut zu erkennen wie zum Beispiel ein brennendes Auto. Und genau deshalb, weil diese Angriffe auf die Demokratie so schwer zu erkennen sind, sollten wir mit aller Macht daran arbeiten, sie als erste zu verhindern.
Wir müssen mit aller Kraft den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus umsetzen. Wir dürfen die Opfer von Rechtsextremisten und Rechtsextremistinnen nicht alleinlassen, und wir müssen Mandatsträger/-innen vor Angriffen schützen. Wir müssen eine demokratische Streitkultur fördern, die politische Bildung stärken und die Medienkompetenz steigern. Wir müssen die Hetze im Internet bekämpfen, Verschwörungsideologien entkräften und so der Radikalisierung vorbeugen.
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Wir müssen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten entwaffnen und rechtsextreme Netzwerke zerschlagen.
Wir müssen mit Sachverstand darangehen, Extremismus in jeder Form zu bekämpfen. Gefühle sind ein schlechter Berater, wenn es um nichts weniger geht als um unsere Demokratie. Wir brauchen mehr Erkenntnisse, wenn wir Extremistinnen und Extremisten effektiv bekämpfen wollen. Der periodische Sicherheitsbericht wird uns langfristig dabei helfen, Tendenzen und Ursachen zu erkennen und Lösungsansätze zu finden.
Ich habe zu Beginn meiner Rede den Koalitionsvertrag erwähnt und ausgeführt, dass die Koalition mit der CDU/CSU übereinstimmt. Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck gewonnen haben, dass wir uns nicht nur mit den dringendsten und größten Problemen beschäftigen. Der Koalitionsvertrag geht natürlich weiter. Ich zitiere: „Wir treten allen verfassungsfeindlichen, gewaltbereiten Bestrebungen entschieden entgegen – ob Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien, Linksextremismus oder jeder anderen Form des Extremismus.“
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Sehr verehrte Damen und Herren, von 2005 bis 2021 war das Innenministerium in der Hand der Union,
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die in ihrem Antrag selbst schreibt, dass die Zahl der Extremistinnen und Extremisten seit Jahren zunimmt. Anscheinend haben Sie viel zu wenig unternommen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Nun haben wir mit Nancy Faeser eine kluge und starke Frau, die mit Entschlossenheit und Fachkenntnis ihr Amt ausübt. Mit ihr gemeinsam werden wir als fortschrittsgewandte Koalition entschieden gegen jegliche Art von Extremismus vorgehen.
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Dem Antrag der CDU/CSU werden wir nicht zustimmen; er ist unzureichend.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Bei manchen Vorrednern aus dem linken Spektrum fällt mir nur noch Churchill ein: Glaube nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion enthält viel Richtiges. Kein Wunder; denn es handelt sich um einige Forderungen, die wir bereits in der letzten Legislaturperiode aufgestellt haben. Extremismus – ob von links, islamistisch und natürlich auch Rechtsextremismus – muss bekämpft werden.
({0})
Es freut uns, dass mittlerweile auch die Union die einseitige Fokussierung auf den Phänomenbereich Rechtsextremismus durch Ministerin Faeser kritisiert.
Auch die Forderung nach der erneuten Einführung der sogenannten Extremismusklausel unterstützen wir ausdrücklich. Es handelt sich dabei um eine Forderung aus einem der ersten Anträge der AfD-Fraktion aus der letzten Legislaturperiode. Die Extremismusklausel soll, kurz gesagt, verhindern, dass linksextremistische und islamistische Strukturen verdeckt über Steuermittel finanziert werden, welche für den Kampf gegen Rechtsextremismus ausgelobt werden. Abgeschafft wurde die Extremismusklausel – zur Erinnerung für die CDU/CSU – von Manuela Schwesig im Einvernehmen mit Thomas de Maizière im Kabinett Merkel III.
Wie wichtig der Kampf gegen Linksextremismus ist, zeigt die Ende April erfolgte Anschlagsserie auf Ladengeschäfte des Modelabels „Thor Steinar“. In einer bundesweit konzertierten Aktion erfolgten zeitgleich mehrere Farb- und Buttersäureanschläge, bei denen auch Personen und Tiere zu Schaden kamen. Trauriger Höhepunkt war die Tat in Erfurt, bei der auf eine wehrlose, auf dem Boden liegende Frau von mehreren maskierten Linksextremisten mit Schlagstöcken auf Kopf, Beine und Füße eingedroschen wurde.
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Anschließend wurde dem Opfer „zum Abschied“ noch Reizgas ins Gesicht gesprüht. Der Fall erinnert an das Vorgehen der linksextremistischen Gefährderzelle um Lina Engel.
Die Gefahr durch Islamismus, die uns allen große Sorgen bereiten sollte, möchte ich anhand einiger Zahlen verdeutlichen. Im Jahr 2021 leitete der Generalbundesanwalt in folgenden Phänomenbereichen Ermittlungsverfahren ein: Rechtsextremismus/-terrorismus 6 Verfahren, Linksextremismus/-terrorismus 10 Verfahren, islamistisch motivierter Extremismus/Terrorismus ganze 258 Verfahren. So viel zu „Die größte Gefahr geht von rechts aus“.
({2})
Bezüglich der von der Union geforderten großzügigen Ausweitung der Befugnisse für den Verfassungsschutz möchte ich – der Kollege Notz hat es vorhin erwähnt – an die Ohrfeige des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Sicherheitsgesetzes der CSU in Bayern erinnern.
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Generell würde es dem von Ihnen allen in der letzten Legislaturperiode instrumentalisierten Verfassungsschutz guttun, wenn er nicht mehr dem Innenministerium unterstellt wäre, sondern politisch neutral agieren könnte. Hierüber sollten wir uns Gedanken machen.
Der Überweisung stimmen wir zu.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit Ihrem Antrag haben Sie gleich mehrere alte Kamellen aus der Schublade gekramt – das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner Ihnen schon eindrücklich dargelegt –: mehr Überwachung von Kommunikation, gerne auch von Minderjährigen, Misstrauen gegenüber zivilgesellschaftlichen Initiativen etc. pp.
({0})
Das kann man alles nachlesen. Aber wenn wir auf die letzten 16 Jahre zurückblicken, dann können wir feststellen, dass diese Zeit gerade nicht von einem erfolgreichen Kampf gegen Extremisten und Staatsfeinde geprägt war.
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Ganz im Gegenteil: Man könnte sogar von einer Wohlfühlzeit für Rechtsextreme und Islamisten sprechen.
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Der nicht verhinderte Anschlag auf dem Breitscheidplatz, der NSU, die Anschläge in Halle und Hanau, der Mord an Dr. Walter Lübcke, die massive rechtsextreme und islamistische Vernetzung: All das fand unter den Augen der Sicherheitsbehörden statt, als Sie von der Union Verantwortung getragen haben.
Wenn man sich jetzt Ihren Antrag anschaut, dann fragt man sich schon, warum Sie zum Beispiel all die Aktionspläne, die Sie jetzt vollmundig fordern, die übrigens völlig inhaltsleer sind, nicht schon früher erarbeitet haben.
({3})
Denn die Sicherheitsprobleme, mit denen wir es aktuell zu tun haben, sind doch nicht neu; die sind doch jetzt nicht plötzlich nach der Bundestagswahl vom Himmel gefallen.
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Ich kann Ihnen die vielen Anträge, Kleinen Anfragen und unzähligen Debatten hier im Deutschen Bundestag gar nicht aufzählen. In etlichen Untersuchungsausschüssen haben wir fast schon verzweifelt versucht, Sie wachzurütteln, meine Damen und Herren. Aber stattdessen haben Sie sich an Instrumente geklammert, die entweder verfassungswidrig sind, wie Sie es regelmäßig bescheinigt bekommen haben, oder völlig nutzlos waren.
({5})
Und genau das machen Sie jetzt weiter. Sie sind inhaltlich leergelaufen, meine Damen und Herren.
Ein Wechsel an der Spitze des Innenministeriums war dringend nötig. Im Koalitionsvertrag beschäftigen wir uns intensiv mit der Aufarbeitung der Sicherheitspolitik der letzten Jahre. Die enorme Bedeutung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und jegliche Formen der Demokratiefeindlichkeit wurde einfach viel zu lange von Ihnen verkannt. Wir sehen das schon lange und haben Sie auch immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Sicherheitsprobleme ohne die wichtige Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen nicht zu lösen sind. Radikalisierungsspiralen durchbricht man eben nicht mit der Überwachung Minderjähriger, mit ausufernder Kommunikationsüberwachung oder mit Extremismusklauseln in Förderanträgen, sondern mit erprobten Deradikalisierungsprogrammen und vernünftiger Prävention.
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Das Know-how ist vorhanden; wir müssen es nur besser nutzen.
Mit dem Demokratiefördergesetz werden wir die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen strukturell absichern und damit den Kampf gegen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit massiv stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe nicht nur im NSU-Untersuchungsausschuss, sondern mit vielen hier anwesenden Kollegen – mit Herrn von Notz, mit Martina Renner, mit Benjamin Strasser – auch im Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz mitgearbeitet. Angesichts Ihrer nicht erfolgten Aufklärung in diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Was Sie, Herr Throm, sich hier gerade getraut haben, ist schon wirklich stark, wenn man Ihr Engagement in diesem Untersuchungsausschuss Revue passieren lässt.
({7})
Wir haben uns in diesen Ausschüssen wirklich intensiv mit extremistischen Bedrohungen und auch mit der Vernetzung befasst, aber vor allem mit der extrem reformbedürftigen Sicherheitsarchitektur.
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Die Ampelkoalition geht das jetzt an. Wir werden die Sicherheitsarchitektur einer Gesamtbetrachtung unterziehen und die Arbeit auf allen Ebenen effektiver machen. Wir werden die Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden stärken, die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit verbessern und mit einer Gesamtstrategie aus Prävention, Deradikalisierung und effektiver Gefahrenabwehr die Extremismusbekämpfung entscheidend voranbringen.
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Wir werden uns weiter wissenschaftlich mit der Radikalisierung von sogenannten Querdenkern befassen – eine absolute Notwendigkeit angesichts der hohen Gewaltbereitschaft und der massiven Desinformationskampagnen, die wir seit Beginn der Pandemie erleben. Und jetzt sehen wir, wie die gleichen Verschwörungsideologen mit den Putin-Verstehern mitlaufen. Das darf jetzt nicht aus dem Blick geraten, meine Damen und Herren.
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Noch eine Bemerkung zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union: Ihr ehemaliger Bundesinnenminister Horst Seehofer hat erkannt, dass vom Rechtsextremismus die größte Bedrohung für die Demokratie ausgeht; das haben Sie auch in Ihrem Antrag geschrieben, bevor das große Aber kommt. Tun Sie sich und uns allen einen Gefallen: Fallen Sie mit Ihrer Hufeisenlogik nicht hinter diese Erkenntnis zurück, sondern unterstützen Sie uns jetzt bei dem, was zu tun ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die geschätzte Kollegin Petra Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In genau zehn Tagen steht der 73. Jahrestag des Grundgesetzes bevor. Das Grundgesetz verkörpert die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Es ist ein Fundament, das bewusst als Schutzmechanismus gedacht ist, um unser demokratisches Staatsverständnis vor Missbrauch zu schützen und unsere Werte zu bewahren. Auch wenn unsere Verfassung auf Papier geschrieben ist: Das Grundgesetz ist für mich ein reißfestes Fundament. Das muss es auch bleiben.
Das bedeutet gerade jetzt, dass die Bundesregierung mehr dafür tun muss, die geistigen und gewalttätigen Angriffe auf unsere Verfassung zu verhindern. Diese Angriffe dürfen nicht zur Zerreißprobe für unsere demokratischen und freiheitlichen Grundsätze werden. Liebe Frau Ministerin, die Zahlen zum Anstieg politisch motivierter Straftaten – darauf wurde eben schon eingegangen –, die Sie am Montag veröffentlicht haben, machen ganz deutlich: Es besteht Handlungsbedarf, und das, wie bereits berichtet, in nahezu allen Bereichen: gegen Hasskriminalität im Internet, gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, gegen Gewalt sowohl an Bürgerinnen und Bürgern, Politikerinnen und Politikern als auch gegen die Polizei.
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Die Zahlen sprechen zugleich für eine genauere Erkennung der Straftaten. Das müssen wir mit konsequenten Maßnahmen bekämpfen und flankieren. Denn wehrhafte Demokratie bedeutet für mich, dass der Staat dieser Konfrontation nicht aus dem Weg geht. Er stellt sich Gewalt, Ausgrenzung und Spaltung entgegen. Hierfür braucht es keine Lippenbekenntnisse; vielmehr braucht es auch wirkungsstärkere Befugnisse. Deshalb muss der Grundsatz gelten: Wenn politisch motivierte Kriminalität spürbar wird – und das wird sie –, dann muss auch die Antwort des Staates darauf spürbar und konsequent sein.
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Es darf kein Zögern mehr geben. Damit muss Schluss sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt ein Zweifel und zugleich die Frage, wofür die Bundesregierung eigentlich steht. Will die Bundesregierung eine Leuchtturmpolitik, die nach außen zwar hell scheint, aber das Innere nicht wirklich beleuchtet? Oder wollen Sie eine politische Realität gestalten, die es nicht schafft, Vertrauen in Staat und Gemeinschaft zu fördern sowie die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu wahren? Oder wollen Sie wirklich entschieden gegen Demagogen, Extremisten und Rassisten, die die Streitbarkeit unserer Demokratie missbrauchen, vorgehen?
Der vorliegende Antrag meiner Fraktion ist aus diesem Grund ein Weckruf an die Bundesregierung: Zeigen Sie Haltung! Ergreifen Sie die Möglichkeiten, um den Feinden der Demokratie – dem Hass, dem Terror und der Gewalt sowie der Angst, der Verschwörung, der Verleumdung und allen ihren Techniken – das Handwerk legen zu können.
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Deshalb fordern wir Sie auf, die folgenden vier Punkte anzugehen:
Erstens. Setzen Sie endlich einen Aktionsplan gegen islamistischen Terror und gegen Linksextremismus auf.
Zweitens. Überprüfen Sie die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen. Lieber Kollege Grötsch, da geht es in keinster Weise um Kürzungen.
Drittens. Stärken Sie auch die Sicherheits- und Justizbehörden für eine bessere Erkennung und Bekämpfung von Straftaten und besonders, um den betroffenen Menschen zu helfen und sie zu schützen.
Viertens. Statten Sie die entsprechenden Behörden endlich mit wirksameren Befugnissen aus.
Eine Bundesregierung muss schließlich bewahren, was wir aus Überzeugung vertreten und hüten: die Fundamente einer gesunden Demokratie und die Freiheit der Menschen.
Liebe Frau Nicolaisen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein mögliches Rezept dafür haben wir Ihnen vorgelegt. Jetzt sind Sie gefordert, zu entscheiden.
Lieber Kollege Grötsch, ich erinnere mich gut an die letzte Legislaturperiode –
Frau Nicolaisen, bitte.
– ein Satz, Herr Präsident – und an eine eigentlich ganz gute Zusammenarbeit, aber Ihre Rede eben ging unter die Gürtellinie. Wenn einer in der letzten Legislaturperiode die Sicherheitsbehörden nicht gestärkt hat,
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dann war es die SPD.
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Vielen Dank, Frau Nicolaisen, so gehen Schleswig-Holsteiner miteinander um. – Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion kann sich schon einmal darauf einstellen, dass Herr Hoffmann nur noch 4 Minuten statt 5 Minuten Redezeit hat.
Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Seiter, FDP-Fraktion, das Wort zu seiner ersten Parlamentsrede.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Für eine wehrhafte Demokratie – Gegenüber jeglicher Art von Extremismus“.
Als ich diesen Titel gelesen habe, dachte ich mir ganz spontan: interessant, relevant, wichtig.
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Dann haben sich in meinem Kopf plötzlich ein paar Fragen eingestellt. Die wichtigste Frage, die sich mir gestellt hat, war: Ist es nicht für alle Demokratinnen und Demokraten eine Selbstverständlichkeit, für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten,
({1})
sie gegen jede und jeden, der diese Grundordnung infrage stellt, gegen jegliche Form der Gewalt, gegen jede Form des Extremismus zu verteidigen? Ja, meine Damen und Herren, das ist eine Selbstverständlichkeit für diese Regierung und die sie tragenden Koalitionsparteien.
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Der neue Bericht des BKA zeigt, dass die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten insbesondere in den letzten beiden Jahren gestiegen ist. Das gilt auch für die Gesamtzahl der politisch motivierten Straftaten. Eine solche Entwicklung dürfen wir nicht hinnehmen. Diese Zahlen sind nämlich nicht nur Daten, sie bedeuten: Mehr Menschen sind Opfer politisch motivierter Taten geworden. Ihnen muss unsere Solidarität gelten.
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Allen Formen des Extremismus muss entschieden entgegengetreten werden. Dies darf aber nicht bei Maßnahmen zur Bekämpfung von Symptomen enden. Vielmehr müssen wir auch die Ursachen für extremistische Orientierungen angehen. Es muss gelingen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Das geplante Demokratiefördergesetz – es wurde schon angesprochen – wird ein wichtiger Schritt sein zur Erreichung dieses Ziels. Dieser Schritt ist notwendig.
Als Wissenschaftspolitiker, der auf drei Jahrzehnte praktische Erfahrungen im Bildungswesen zurückblicken kann, weiß ich um die Bedeutung von Forschung und Bildung für gesellschaftliche Entwicklungen. Politische Bildung kann in allen Lebensphasen dazu beitragen, die Idee einer offenen Gesellschaft zu verstehen und deren Akzeptanz bei den Menschen zu steigern.
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Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen ihre Grundlagen verstehen; wir müssen ihre Vorteile kennen; wir müssen für sie kämpfen. Bildung kann Menschen dazu befähigen.
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Es gilt, mehr in Forschung über soziale Zusammenhänge, Krisensicherheit und Resilienz gegenüber extremistischen Entwicklungen zu investieren. Eine wissenschaftlich fundierte Analyse bereitet die Grundlage für ein effektives politisches Handeln. Es gilt zum Beispiel zu verstehen, warum sich Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte während der Coronapandemie radikalisiert haben und ob sich daraus eine dauerhafte Herausforderung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und das Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie ergibt.
Für die Koalition geht es nicht darum, nur Symptome des Extremismus zu bekämpfen. Wir müssen auch die Potenziale für einen weiteren Anstieg der Zahl extremistisch denkender und handelnder Personen reduzieren.
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Wir müssen die Grundlagen schaffen, dass Extremismus aus unserer Gesellschaft endlich verschwindet und keinen weiteren Nährboden in der Zukunft hat. Das schließt natürlich auch ein, dass jegliches staatliche Handeln, das zum Beispiel die Grundrechte zur Bekämpfung des Extremismus einschränkt, genau auf seine Verfassungskonformität überprüft werden muss.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes betonen: Bei der Bekämpfung des Extremismus sind Rechtsstaatlichkeit und faktenbasierte Entscheidungen Grundlage für Erfolg und Akzeptanz der Maßnahmen. Lassen Sie uns deshalb bitte nicht den Weg der Angst, sondern einen Weg der Vernunft gehen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Seiter. Es ist schön, wenn man bei seiner ersten Rede so viel Applaus bekommt. Das wird nicht anhalten.
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Nächster Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren Zuschauer! Zunächst möchte ich eine Vorbemerkung platzieren. Ich will Ihnen sagen, dass mich die Heftigkeit der Debatte
({0})
zum einen überrascht und zum anderen auch bewegt. Ich will, liebe Frau Kollegin Mihalic, auch etwas Persönliches in Ihre Richtung formulieren: Wissen Sie, es ist eigentlich fast mehr als schlechter Stil, wenn Sie im Rahmen dieser Debatte den Eindruck erwecken – Sie haben das sogar ausdrücklich gesagt –, die Union trage die Verantwortung für das Attentat auf dem Breitscheidplatz.
({1})
– Nein, relativieren Sie es nicht.
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Das war die Botschaft.
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Man muss der Vollständigkeit halber dazusagen: Der Umstand, dass sich der Attentäter vom Breitscheidplatz unter dem Radar durch das gesamte Bundesgebiet unbehelligt hat bewegen können,
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steht mit dem sicherheitspolitischen Saustall in Zusammenhang,
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der in Berlin und in Nordrhein-Westfalen fabriziert worden ist.
({6})
Da haben Sie die Verantwortung getragen.
({7})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mihalic?
Ja, Herr Präsident. Das bringt mir die eine Minute zurück.
Herr Hoffmann, das, was Sie mir gerade vorgeworfen haben, weise ich erst einmal aufs Entschiedenste zurück.
({0})
Wenn Sie mich schon zitieren, dann bitte ich darum, dass Sie mich auch richtig zitieren. Ich habe eine Reihe von rechtsextremistischen Anschlägen aufgezählt. Ich habe auch den Anschlag auf dem Breitscheidplatz genannt.
({1})
Dabei habe ich gesagt, dass all diese Ereignisse in eine Zeit fielen, in der die Union hier Verantwortung getragen hat. Das ist ja wohl unbestreitbar, Herr Hoffmann.
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Dass Sie sich jetzt hierhinstellen und das, was ich gesagt habe, so verdrehen und behaupten, dass ich Ihnen angeblich vorgeworfen habe, dass Sie von der Union persönlich für diese Attentate verantwortlich sind, ist einfach ungeheuerlich. Das weise ich aufs Schärfste zurück, Herr Hoffmann.
({3})
Wir befinden uns hier in einer politischen Auseinandersetzung, in der wir darum ringen – und ich hoffe doch sehr, dass wir das auch weiterhin gemeinsam tun können –,
({4})
was denn die beste Sicherheitspolitik für unser Land ist. Da muss ich noch einmal eindringlich an Sie appellieren, dass Sie sich dann zu der Verantwortung, die Sie in den letzten 16 Jahren hier in diesem Haus und im Bundesinnenministerium getragen haben, bitte auch bekennen.
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Herzlichen Dank.
({6})
Frau Kollegin Mihalic, schauen Sie, das ganze Haus ist ja nun einmal Zeuge dessen gewesen, was Sie hier gesagt haben.
({0})
Sie versuchen jetzt, das zu relativieren.
({1})
Ich frage mich aber: Warum stellen Sie denn genau diesen Zusammenhang her? Im Übrigen haben Sie das in Ihrer Rede sehr viel unmittelbarer formuliert, als Sie es jetzt gerade formuliert haben. Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das Echo jetzt wehgetan hat; aber wenn Sie sich in Ihrer Rede mit diesem Zusammenhang aufs Parkett begeben, dann müssen Sie mit genau diesem Echo rechnen.
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Ich will, Herr Präsident, fortfahren und bin immer noch bei der Frage bezüglich der Heftigkeit der Debatte. Warum ist die Debatte denn so heftig? Die Union formuliert einen Antrag der Selbstverständlichkeiten.
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Wir haben eigentlich damit gerechnet, dass sich die Ampel ganz locker hinter diesem Antrag wird versammeln können.
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Dass Sie ganz rechts und ganz links Probleme damit haben, das war uns klar. Aber Sie verfallen immer in bestimmte Mechanismen, die schlussendlich die Diskussion über die Details und über das Konkrete erschweren.
Der erste Mechanismus geht immer in die Richtung: Jeder, der sich traut, im Hinblick auf Linksextremismus Fragen zu formulieren, der kann ja schon kein aufrechter Antifaschist sein.
({5})
Der zweite Mechanismus, den Sie an den Tag legen, ist, dass jeder, der in diesem Haus über andere Extremismusarten reden will, gleich den Rechtsextremismus relativiert. – Ausdrücklich das tun wir nicht in unserem Antrag.
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Wir sind bei Ihnen: Der Rechtsextremismus ist für die Demokratie in diesem Land die größte Gefahr.
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Wir unterstützen Ihren Zehn-Punkte-Plan. Aber wir erlauben uns den Hinweis, dass er ausbaufähig ist; denn wir sagen: Wenn ich Extremismus effizient bekämpfen will
({8})
– schauen Sie, da geht es wieder los –, dann brauche ich einen breiten Blick und einen gut gefüllten, wirksamen Instrumentenkasten.
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Mit dem breiten Blick meinen wir den 360-Grad-Blick: Ich muss neben dem Rechtsextremismus den Linksextremismus, den islamistischen Extremismus und den Antisemitismus im Blick haben.
Wenn ich dann über den zweiten großen Baustein rede, nämlich den gut bestückten Instrumentenkasten, dann wischen Sie das immer mit dem Hinweis auf Bürgerrechte weg und erwecken hier den Eindruck, dass die Union liederlich mit Bürgerrechten umgehen würde. Auch das ist doch nicht richtig.
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Wo ist denn eigentlich Ihr konkretes Gegenargument? Sie alle wissen, dass wir sehr wohl grundrechtskonform Maßnahmen zur Aufdeckung von Finanzströmen und zur Bekämpfung des politischen Islamismus auf den Weg bringen könnten. Dagegen gibt es kein Argument von Ihnen. Sie wissen genau, dass wir grundrechtskonform effektive Maßnahmen zur besseren Aufklärung in der linksextremen Szene auf den Weg bringen könnten.
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Wo ist denn Ihr konkretes Gegenargument? Und Sie wissen sehr wohl, dass wir auch grundgesetzkonform die Ausgabe staatlicher Fördergelder davon abhängig machen können, ob eine Organisation, die diese Gelder bekommt, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auch lebt. Dazu sagen Sie konkret nichts, sondern es gibt immer nur den pauschalen Hinweis auf Bürgerrechte.
({12})
Da sagen wir Ihnen: Das ist uns zu wenig. Deshalb stellen wir diesen Antrag. Darüber werden wir in der Ausschussberatung natürlich noch diskutieren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Als letzter Redner in dieser Debatte erhält das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoffmann, Ihre Volte gerade gegenüber der Kollegin Mihalic war zutiefst schäbig und unredlich. Das muss man festhalten.
({0})
Sie war, wie das Protokoll zeigen wird, zudem unwahr. Das war das klassische Verfahren eines Whataboutism und ein Ablenkungsmanöver von Ihren eigenen Defiziten und Ihrem eigenen Scheitern.
({1})
Dankenswerterweise haben Sie auch den Beweis geführt, dass das, was wir die ganze Zeit sagen, auch der Fall ist, dass nämlich dieser Antrag nichts Substanzielles enthält, sondern nur ein rein parteitaktisches Manöver ist, nichts anderes. Sie schreiben darin von „wehrhafter Demokratie“. Nur vermisse ich in diesem Text Ausführungen zu Konzepten für eine wehrhafte Demokratie.
({2})
Sie werden sicher die Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität mitbekommen haben, die zeigt, welch gewaltige Zahl von Taten wir im Bereich „nicht zuzuordnen“ haben – im Zusammenhang mit Querdenken, Corona etc. Was für eine Unterminierung der Demokratie! Ich empfehle Ihnen daher dringlich: Lesen Sie zum Beispiel einfach einmal das kurze Interview des Kollegen Kuhle. Da ist in fünf Zeilen mehr Inhalt als in Ihrem gesamten Antrag. Das wäre hilfreich!
({3})
Stattdessen legen Sie diesen Antrag hier vor und zeigen darin eine Reihe von Leerstellen. Einen konkreten Aktionsplan zum Linksextremismus mit seinen Motiven sehe ich nicht, ebenso wenig einen zur Frage des Umgangs mit Islamismus. Irgendwelche Innovationen sind Fehlanzeige. Er ist nur ein Sammelsurium altbekannter Motive und Forderungen, es ist im Grunde ein folkloristischer Antrag mit null Gehalt.
Der Informationswert besteht dabei nicht darin, was gesagt wird, sondern darin, was nicht gesagt wird. Der Titel Ihres Antrags lautet ja „Für eine wehrhafte Demokratie – Gegenüber jeglicher Art von Extremismus“. Selbstverständlich! Dagegen kann niemand etwas sagen, denkt man erst. Aber es gibt ja auch so was wie Regeln und Prinzipien von Sprache: Semantik, Pragmatik. Anhand dieser Prinzipien würde Ihnen ganz einfach erläutert, dass das eine Präsupposition ist, und die bedeutet: Die Innenministerin kümmert sich nicht um alle Formen von Extremismus. – Diese Frechheit und Unanständigkeit stecken in Ihrem Antrag.
({4})
Jetzt werden Sie wieder sagen: Herr Lindh kommt mit sprachlichen Ausführungen. Herr de Vries wird sich wahrscheinlich wieder wie beim letzten Mal melden und sagen, das sei Philosophie und Sinnlosigkeit.
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Nur, wenn für Sie die Art der Analyse, die wir betreiben, das Fragen nach Gründen und die Entlarvung Ihrer parteitaktischen Manöver Philosophie ist, dann sagt das nichts über einen Philosophieüberschuss bei uns aus, sondern über ein eklatantes Philosophiedefizit bei Ihnen.
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Philosophie – das Wort kommt aus dem Griechischen – bedeutet ja auch Freundschaft mit der Weisheit. Weisheit war aber bei diesem Antrag nicht federführend.
({7})
Wir müssen des Weiteren feststellen – das widerspricht auch dem Prinzip von Weisheit –, dass Herr Seehofer als Innenminister am Ende seiner Amtszeit nicht nur vehement für ein Demokratiefördergesetz geworben hat, sondern auch endlich und richtigerweise ganz klar bekannte, dass die größte Gefahr in diesem Land der Rechtsextremismus ist. Somit hat er zwei Aufträge erteilt: Demokratiefördergesetz und Bekämpfung von Rechtsextremismus.
Frau Faeser hat diese Aufträge intensiv aufgegriffen. Das heißt, Sie sollten sie nicht kritisieren. Sie müssten einen Dankesantrag schreiben, dass Sie das umsetzt, was Ihr eigener Minister versprochen hat.
({8})
Stattdessen kommen Sie mit Extremismusklausel reloaded, Demokratietreueerklärung. Das kann mich nicht wirklich überzeugen. Wenn Sie wirklich eine wehrhafte Demokratie wollen und wenn Sie – das unterstelle ich Ihnen – Demokratie fördern wollen, warum fahren Sie dann einen Angriff gegen die, die die Demokratie verteidigen und fördern?
({9})
Mit Angriffen auf Demokratieförderer fördert man logischerweise nicht die Demokratie.
({10})
Stellen Sie sich doch mal die Situation von Vereinen, von Institutionen in Landstrichen vor, in denen die AfD dominant ist. Die schuften dort gegen Querdenker, gegen Querulanten der Unmenschlichkeit, gegen Selbstverwalter usw. Stellen Sie sich mal die Situation vor: Sie laden diese in einen Raum ein, und da legen Sie diesen Antrag vor. Was Sie sagen müssten, ist: Wir bekräftigen euer Tun. Wir unterstützen es. Wir verstetigen die Forderung.
({11})
Stattdessen ist Ihre Message: Wir vertrauen euch nicht. Ihr seid hier latent linksextrem, und ihr steht nicht auf dem Boden der Verfassung.
({12})
Ich finde, das ist gegenüber diesen Vorkämpfern für Demokratie absolut unanständig.
({13})
Deshalb brauchen wir für Demokratieförderung in der Tat ein Demokratiefördergesetz. Sie sollten die Ersten sein, die sich dafür einsetzen. Ihr Antrag ist sowieso ein Täuschungsmanöver. Warum erwecken Sie den Eindruck, aktivistischer Einsatz, zivilgesellschaftlicher Einsatz für Demokratie und gegen Rechtsextremismus wären verdächtig des Linksextremismus? Das ist doch absurd.
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Demokratieförderung ist doch weder links noch rechts, weder liberal noch konservativ. Das sollte uns doch alle einen.
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Sie als Konservative sollten als Erste aufstehen und sagen: Wir wollen ein funktionierendes Demokratiefördergesetz.
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Das Zweite und Letzte. Sie können ja richtigerweise ein Aktionsprogramm und sonst was gegen Islamismus fordern. Aber was ist denn mit den ganz vielen normalen muslimischen Menschen oder denen, die als solche wahrgenommen werden? Sie lesen in Ihrem Antrag nichts über antimuslimischen Rassismus, nichts über ihre Alltagserfahrungen, täglich diskriminiert zu werden, aber sie müssen sich mit dem Vorwurf des Islamismus auseinandersetzen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie konzeptuell erfolgreich gegen Islamismus arbeiten wollen, dann dürfen Sie nicht über antimuslimischen Rassismus und Formen von Fremdenfeindlichkeit und Integrationsfeindlichkeit und ähnlicher Stigmatisierung schweigen.
Herr Kollege, bitte.
Wenn Sie Islamismus wirklich bekämpfen wollen, dann kämpfen Sie auch gegen Rassismus. Lernen Sie daraus!
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer! Vor ziemlich genau 30 Jahren, im Frühling 1992, arbeiteten Abgeordnete der SPD-Fraktion und Abgeordnete der FDP-Fraktion an einem Gruppenantrag. Dieser Gruppenantrag hatte die Veränderung des damaligen § 218 des Strafgesetzbuches zum Gegenstand, und er enthielt bereits alle wesentlichen Eckpunkte der noch heute geltenden Beratungslösung. Er setzte sich in einem Verfahren von insgesamt sieben Anträgen durch, und wenige Zeit später ist dieses Papier in einen Gesetzentwurf überführt worden, der dann auch die Mehrheit im Haus fand. Und das ist bis heute das geltende Recht.
({0})
Warum erwähne ich das hier? Immer wieder wird falsch behauptet, die Entscheidung über § 219a, die wir heute treffen, sei eine Respektlosigkeit oder gar Unterhöhlung des Lebensschutzkonzeptes von § 218.
Dazu möchte ich zwei Dinge sagen.
Erstens. Uns muss niemand den Respekt vor diesem historischen Kompromiss lehren. Es waren unsere politischen Vorgänger, die ihn geschmiedet und vorbereitet haben.
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Zweitens. Es ist eine juristische, eine politische und eine historische Wahrheit, dass § 218 des Strafgesetzbuches und § 219a nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben. Das ist keine Beeinträchtigung des Lebensschutzkonzeptes. Ich bitte, diese Wahrheit zu akzeptieren.
({2})
Das, worum es heute eigentlich geht, kann man an der Lebenswirklichkeit erkennen. Stellen Sie sich dazu bitte eine junge Frau vor, die schwanger ist und die in Erwägung zieht, diese Schwangerschaft zu unterbrechen. Da stellen sich sehr schwierige Fragen, und es gibt im Regelfall ein großes Bedürfnis nach Orientierung, nach Information. In unserer digitalen Wirklichkeit führt dieses Bedürfnis natürlich in sehr vielen Fällen ins Internet, weil dort eine gefühlte Anonymität und Privatheit herrscht. Deshalb ist die Schwelle, dort nach Informationen zu suchen, erst mal niedriger, als sich einem Dritten, vielleicht einem fremden Menschen, anzuvertrauen. Das ist die Lebenswirklichkeit.
Die Rechtslage dort sieht heute wie folgt aus: Im Internet erlauben wir jedem Verschwörungstheoretiker, jeder Fake-News-Schleuder jeden Unsinn über Schwangerschaftsabbrüche zu verbreiten. Aber qualifizierten Ärztinnen und Ärzten als Hütern der Wissenschaft, der Fakten, der Sachlichkeit und der Aufklärung verbieten wir, sachliche Informationen bereitzustellen. Das ist doch absurd.
({3})
Das ist ein Anachronismus, das ist eine Ungerechtigkeit, und das ist die Konsequenz aus § 219a. Deshalb schaffen wir ihn ab, meine Damen und Herren.
({4})
Drei Sorgen möchte ich an dieser Stelle nehmen; denn wir müssen hier ja wirklich eine ernsthafte Debatte führen.
Erstens. Diese Rechtsänderung – das möchte ich noch mal sagen – hat keine Auswirkungen auf das Lebensschutzkonzept von § 218 des Strafgesetzbuches.
({5})
Zweitens. Die Gefahr abstoßender, irreführender Werbung besteht nicht. Denn wir haben in unserem Entwurf das Heilmittelwerbegesetz so erweitert, dass es auch Schwangerschaftsabbrüche, die nicht medizinisch indiziert sind, mit umfasst. Das heißt, die strengen Regeln des Heilmittelwerbegesetzes gelten auch hier.
({6})
Das Berufsrecht der Ärztinnen und Ärzte gebietet ohnehin, nur sachlich zu informieren und keine reißerische Werbung zu betreiben.
({7})
Und eine dritte Sorge möchte ich nehmen, die auch immer wieder geäußert wird: Geht es darum oder führt es dazu, dass ein Schwangerschaftsabbruch dadurch wahrscheinlicher wird? Aber darum geht es gar nicht. Wir wollen, dass eine Frau, wenn sie es möchte, informierter entscheiden kann, und das sollte in einer aufgeklärten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein, meine Damen und Herren.
({8})
Einen letzten Gedanken möchte ich äußern, weil wir in unserem Gesetzentwurf für die wenigen, aber schwerwiegenden Fälle, wo es schon zu einer Verurteilung kam, eine Rehabilitierungslösung aufgenommen haben. Die Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht; denn das ist immer ein Eingriff in die Gewaltenteilung. Aber es geht hier um wenige Fälle. Es ist, glaube ich, deshalb richtig und wichtig, weil wir die verurteilten Ärztinnen und Ärzte nicht auf den Gnadenweg beim Bundespräsidenten zwingen wollen. Sie sollten nicht um Gnade bitten müssen, sondern wir sollten das Problem aus der Welt schaffen.
({9})
Wir hätten es schon im letzten Bundestag tun können. Der Gesetzgeber hätte schon handeln können. Die Mehrheit war da. Die Kraft, die die alte Koalition nicht hatte, hat dazu jetzt die Fortschrittskoalition.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, auch wenn Sie sich bemüht haben, hier ein anderes Bild abzugeben: Es ist schon erstaunlich und macht mich auch ein Stück weit sprachlos, mit wie wenig Sensibilität Sie an das Thema herangehen.
({0})
In den letzten Tagen konnte man einige Äußerungen von Ihnen dazu auch lesen. Sie sprechen von einem Befreiungsschlag – das wird groß auf der Webseite der FDP angekündigt –, einem Befreiungsschlag für die Frau. Damit zeichnen Sie ein völlig falsches Bild der derzeitigen Lage, und das finde ich schon verantwortungslos.
({1})
In Deutschland sichert das geltende Recht den Zugang zu einem medizinisch korrekten Schwangerschaftsabbruch innerhalb von zwölf Wochen nach der Zeugung, allein aufgrund der Entscheidung der Schwangeren, ohne jedes strafrechtliche Risiko, unabhängig von der finanziellen Situation. Circa 100 000 Frauen machen davon jedes Jahr Gebrauch. Keine einzige hat ein strafrechtliches Risiko. Einzige Voraussetzung ist eine Beratung. Dort wird umfassend über Hilfen und Ansprüche informiert, aber eben auch über das Lebensrecht des Kindes. Anschließend liegt die Entscheidung allein bei der Frau. Diese Regelung, meine Damen und Herren, stellen wir nicht infrage.
({2})
Aber wir sind auch klar der Meinung, dass es keine zusätzliche Werbung braucht.
({3})
Bei Ihrem Gesetzentwurf geht es keineswegs nur um Informationen auf den Praxis-Webseiten, auf die die Schwangere nur stößt, wenn sie gezielt danach sucht. Da sind Ihre Beispiele, liebe Kollegen der Ampelfraktion, und die Begründung im Gesetzentwurf schlicht nicht ehrlich.
({4})
Wenn Sie nur das wollen, dann legen Sie doch einen Gesetzentwurf vor, der auch nur das ermöglicht.
({5})
Die geplante Streichung von § 219a ermöglicht, anders als Sie heute wieder behaupten, viel mehr, zum Beispiel Werbung in den sozialen Medien, Anzeigen und Plakate.
({6})
Sie richten sich nicht reißerisch, aber aktiv an die Zielgruppe. Das sehen wir genau in Ländern ohne Werbeverbot. Da werben Kliniken damit, bei wem der Abbruch am günstigsten oder am schnellsten geht und bei wem die Atmosphäre am freundlichsten ist.
({7})
Das ist nach unserer Auffassung mit dem verfassungsrechtlichen Schutz des Ungeborenen unvereinbar.
({8})
Ein Schwangerschaftsabbruch ist keine normale ärztliche Heilbehandlung. Er beendet einmaliges, individuelles menschliches Leben, und das darf nicht verharmlost werden.
({9})
Auch das Bundesverfassungsgericht fordert, dass das Gespür für das Lebensrecht des Kindes im allgemeinen Bewusstsein erhalten bleiben muss. Werbung ist mit den Grundrechten und mit der Würde des Ungeborenen nicht vereinbar.
({10})
Werte Kollegen der Regierungsfraktionen, wir liegen nicht auseinander beim Blick auf die schwangere Frau. Jeder kann nachempfinden, dass eine ungewollte Schwangerschaft einen massiven Konflikt auslösen kann. In einer solchen Situation ist es absolut selbstverständlich, dass sie sich als Erstes im Netz informiert. Meine These ist allerdings, dass sie jede medizinische Information über die verschiedenen Varianten von Schwangerschaftsabbrüchen und auch die Liste der Bundesärztekammer mit Praxen und Kliniken mit wenigen Klicks im Netz findet.
({11})
Wo es Ihnen da eigentlich genau fehlt, sagen Sie auch nicht klar.
({12})
Es gibt natürlich jede Möglichkeit, sich unmittelbar beim Arzt über alle Details zu informieren, indem man zum Beispiel dort anruft. Sie tun so, als gäbe es da irgendein Tabu.
({13})
Das ist doch Unsinn. Außerhalb von Werbung gibt es keinerlei Limit bei der Information.
({14})
Trotzdem sind wir in unserem eigenen Antrag offen dafür, den Umfang der sachlichen Information auf der Webseite der Ärzte zu erweitern. Wo wir auseinanderliegen, werte Kollegen der Ampel, ist beim Blick auf das Ungeborene. Und dass dieser wichtige Aspekt in Ihrer Argumentation kaum eine Rolle spielt, ist für mich unfassbar.
({15})
Sie weichen dieser Frage auch heute in den Reden und Anträgen aus. Das Kind kommt darin nicht vor, oder Sie sprechen bloß von „Schwangerschaftsgewebe“.
Aber sagen wir doch mal, wie es ist: Von Anfang an sind alle genetischen Anlagen festgelegt. Von Anfang an gibt es eine bruchlose, kontinuierliche Entwicklung. Das Bundesverfassungsgericht hat es auf die Formel gebracht: Das Ungeborene entwickelt sich von Anfang an als Mensch und nicht erst zum Menschen. – Und daraus folgen Grundrechte des Ungeborenen.
({16})
Diese müssen natürlich auch bei der Wahrung der alleinigen Entscheidung der Frau berücksichtigt werden. Es erfordert ein Schutzkonzept zugunsten des Kindes mit der Beratung und mit dem Verbot von Werbung.
Noch kurz ein paar Gedanken zur Situation der Ärzte. Es gibt drei wichtige Punkte:
Erstens. Viele Ärzte führen aus Gewissensgründen keine Abbrüche durch. Da spielt § 219a überhaupt keine Rolle.
({17})
Zweitens. Es ist klar und ohne jeden Graubereich geregelt, welche Informationen auf den Webseiten der Ärzte zulässig sind. Unklar ist die Regelung bisher nicht. Vielmehr wird sie erst durch Ihren Gesetzentwurf unklar.
Drittens. Eine aktive Ansprache von Patientinnen ist auch heute schon möglich.
Meine Damen und Herren, kurzum: Wir sind bereit für gezielte Verbesserung. Eine Streichung von § 219a lehnen wir aber ab.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank, Frau Kollegin Warken. – Ich erteile das Wort nunmehr der Kollegin Carmen Wegge, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerade bin ich versucht, kurz innezuhalten, aufzuschauen und diese Situation zu genießen.
({0})
Denn dies ist der Moment, für den so viele Frauen jahrzehntelang auf die Straße gegangen sind. Dies ist der Moment, für den so viele Ärztinnen und Ärzte gekämpft haben. Dies ist der Moment, in dem wir endlich in das parlamentarische Verfahren zur Streichung von § 219a aus dem Strafgesetzbuch eintreten. Dies ist der Moment, der uns Frauen ein Stück weit die Hoheit über unsere Körper zurückgeben wird. Es ist ein schöner Moment.
({1})
Allen, die bis jetzt nicht nachvollziehen können, warum dies ein schöner Moment ist, denen sei Folgendes gesagt: § 219a trat am 26. Mai 1933 in Kraft und ist ein Paragraf des NS-Unrechtsregimes.
({2})
Es ist eine Regelung, die, vorgeschoben nach außen, zum Ziel hatte, dafür zu sorgen, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht verharmlost und kommerzialisiert werden. Tatsächlich ist diese Regelung aber eine Manifestation des patriarchalen und frauenfeindlichen Naziregimes.
({3})
Tatsächlich hatte diese Regelung zum Ziel, Frauen durch den Mangel an Informationen dazu zu bringen, nicht abzubrechen, und es ihnen deutlich zu erschweren. § 219a ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass überall dort, wo rechte Parteien an der Macht sind, Frauenrechte eingeschränkt werden.
({4})
Es ist erschreckend, dass es 89 Jahre gedauert hat, bis wir diesen Missstand beheben können. Denn schon längst ist klar, dass § 219a nur zu drei Dingen führt: erstens zur Kriminalisierung von Ärztinnen und Ärzten, die Frauen in Notsituationen beistehen; zweitens dazu, dass die medizinische Versorgungslage in Deutschland für Frauen sehr, sehr schlecht geworden ist; und drittens dazu, dass Frauen aufgrund des Mangels an Informationen über den Abbruch keine freie und differenzierte Entscheidung treffen können.
({5})
Bei § 219a geht es eben nicht um Werbung, so wie das leider immer wieder von der Union suggeriert wird, sondern um Informationen.
({6})
Und nein, das ist kein kleiner, sondern ein großer Unterschied. Wir Frauen werden endlich Zugang zu allen Informationen haben, die wir benötigen,
({7})
um eine Entscheidung fällen zu können.
({8})
Wer führt Abbrüche durch, und welche Methoden sind dabei möglich? Das sind die relevanten Fragen, die ich als Frau in einer solchen Situation beantwortet haben möchte. Endlich dürfen mir das auch Ärztinnen und Ärzte sagen und nicht irgendwelche Youtube-Stars, für die diese Regelung nämlich nicht gilt.
({9})
Wer glaubt, dass die Streichung von § 219a dazu führen wird, dass Ärztinnen und Ärzte auf einmal zu reißerischer Werbung in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche neigen werden, der kennt sich außerhalb des Strafgesetzbuches meiner Meinung nach nicht gut aus.
({10})
Nicht nur das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb steht reißerischer Werbung in diesem Bereich entgegen, auch die Berufsordnung der Landesärztekammern.
({11})
– Das ist die rechtliche Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Um aber trotzdem jeden rechtlichen Zweifel auszuräumen, werden wir mit diesem Gesetzentwurf auch das Heilmittelwerbegesetz anpassen – das hat der Minister schon gesagt – und den Anwendungsbereich auf Schwangerschaftsabbrüche ausweiten. Dieser Gesetzentwurf ist daher über jeden Zweifel erhaben.
({12})
Und dieser in den Raum gestellte Vorwurf gegenüber den Ärztinnen und Ärzten, die in Deutschland Abbrüche durchführen, ist nicht nur absurd, sondern meiner Meinung nach auch respektlos.
({13})
Daher möchte ich meine Redezeit auch nutzen, um diesen Ärztinnen und Ärzten hier Danke zu sagen: Danke, dass ihr uns Frauen, die auf eure Hilfe angewiesen sind, beisteht. Stellvertretend dafür: Danke Kristina Hänel, die durch ihre Prozesse vor Gericht das Problem noch mal deutlicher in die Öffentlichkeit getragen hat,
({14})
danke an Dr. Bettina Gaber und Dr. Verena Weyer aus Berlin, die klar benannt haben, dass der Kampf gegen § 219a ein feministischer Kampf ist,
({15})
danke an Dr. Detlef Merchel, der sich standhaft geweigert hat, die sachlichen Informationen auf seiner Website runterzunehmen, und danke an Friedrich Stapf, der trotz seiner 75 Jahre nicht mit seiner Arbeit aufhört, weil sonst ein Drittel der Frauen in Bayern, die einen Abbruch vornehmen wollen, nicht mehr versorgt wären. Danke dafür!
({16})
Es ist folgerichtig, dass das Unrecht, das ihnen durch die Kriminalisierung zugefügt worden ist, wiedergutgemacht werden muss. Es ist folgerichtig, dass wir durch den heute vorliegenden Gesetzentwurf alle Urteile, die auf Grundlage von § 219a gefällt worden sind, aufheben werden. Es ist folgerichtig, zu sagen: In dem Zurverfügungstellen von Informationen kann kein Unrecht liegen. Es tut uns leid.
({17})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Unionsfraktion?
Nein, danke, weil ich zu meinen letzten Sätzen komme. Die sind mir sehr wichtig.
Heute ist ein guter Tag. Das ist ein schöner Moment. Gewöhnen Sie sich dran: Wir gehen vorwärts, niemals zurück.
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, besteht der Bedarf nach einer Kurzintervention aus der Unionsfraktion. Bitte schön.
({0})
Frau Kollegin Bayram, es kommt immer nur Vernünftiges von mir, denke ich doch.
Frau Kollegin Wegge, ich habe eine Anmerkung. Eigentlich hätte ich eine Frage gehabt, aber das kann man, denke ich, auch in dieser Kurzintervention klären.
Ich war bis zum Einzug in den Deutschen Bundestag circa zwei Jahrzehnte Strafrichter. Bei einem Beschluss des Deutsche Bundestages in der 18. Wahlperiode ging es um das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz wegen der diskriminierenden Verurteilung homosexueller Straftäter. In diesem Zusammenhang hat man auch beschlossen, dass diese Urteile aufzuheben sind, um die diskriminierenden Entscheidungen zu beseitigen, und dass das aus dem Bundeszentralregister, soweit noch eingetragen, getilgt wird, weil – das war die Grundlage des Ganzen – man, wie ich es schon betont habe, gesagt hat: Das war schreiendes Unrecht.
Sind Sie der Meinung, dass die Verurteilungen, die Kolleginnen oder Kollegen von mir in den letzten Jahren – es waren ja nur wenige – wegen des Verstoßes gegen § 219a StGB gemacht haben, schreiendes Unrecht dargestellt haben, mit dem der deutsche Rechtsstaat nicht leben kann, weshalb diese Urteile auch alle aufzuheben sind? Der Kollege Buschmann hat von der Durchbrechung der Gewaltenteilung dieser Verfassung gesprochen. Sind Sie der Meinung, dass an dieser Stelle die Gewaltenteilung durchbrochen werden muss?
({0})
Frau Kollegin, Sie können antworten.
Ich mache es mal kurz, auch wenn ich der Meinung bin, dass ich das in meiner Rede beantwortet habe.
({0})
Ja, wir gehen davon aus, dass es schreiendes Unrecht ist, weil es hier um Informationen geht. Wenn jemand Informationen teilt und deswegen bestraft wird: Das ist eine politische Entscheidung, dass wir das als so großes Unrecht einordnen, und es ist eine richtige.
({1})
Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Thomas Seitz, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kommen wir zurück zur Sachlichkeit!
Der vorgelegte Gesetzentwurf redet von „reproduktiver Selbstbestimmung“ als Euphemismus für die Tötung ungeborener Kinder. Wahrheitswidrig wird behauptet, dass es Rechtsunsicherheit bei der Zulässigkeit öffentlicher Information über Abtreibung gäbe. Dabei ist eindeutig, dass Ärzte öffentlich auch jetzt schon darüber informieren dürfen, ob sie Abtreibungen durchführen, nur nicht, wie. Das Bundesverfassungsgericht hat unverrückbare Grenzen gezogen – Zitat –:
Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter.
Und weiter:
Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen.
Zur Erfüllung dieser Schutzpflicht muss der Staat ausreichende Maßnahmen ergreifen, um einen angemessenen und wirksamen Schutz zu erreichen. Dies ist der Grundsatz des Untermaßverbots.
Wesentlich für das Schutzkonzept ist die Trennung zwischen der Beratung und der Durchführung der Abtreibung. Öffentliche Informationen über Abtreibung durch Ärzte, die diese selbst durchführen, sind mit dem Schutzkonzept nicht vereinbar und genau deshalb verboten. Es stimmt einfach nicht, dass § 219a das Auffinden eines geeigneten Arztes erschwert und die medizinische Versorgung beeinträchtigt.
({0})
Denn es dauert keine Minute, um im Internet die Seite familienplanung.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu finden. Die Seite informiert umfassend, egal ob zu Rechtslage, Beratungsschein
({1})
oder Methoden der Abtreibung und ihren Kosten. Nach Postleitzahlen sortiert sind für das gesamte Bundesgebiet Ärzte und Kliniken aufgeführt, die Abtreibungen anbieten. Man findet nicht nur Adresse, Telefon, E‑Mail und Homepage, sondern auch Angaben zur angebotenen Methode und zu Fremdsprachen, egal ob Persisch oder Swahili. In Baden-Württemberg gibt es ein Angebot zur Abtreibung auch in diesen Sprachen.
Die leichte Verfügbarkeit der Informationen zeigt, dass es in Wahrheit keinen zu beseitigenden Missstand gibt. Worum geht es dann? Das zeigt in erbarmungsloser Offenheit der Antrag der Linken, ein Antrag, für den ich wirklich dankbar bin. Natürlich nicht dankbar für die ethischen Abgründe, die sich darin auftun, aber wohl für seine schonungslose Ehrlichkeit. Offen wird hier als Regierungsziel gefordert, mit der Abschaffung von § 218 Abtreibung bedingungsfrei zu erlauben, also bis unmittelbar vor der Geburt. Mehr Perversion des Rechts ist kaum vorstellbar.
({2})
Der Wille der Koalition, alle Strafurteile zu § 219a generell aufzuheben, also bewusst auch bei allen Fällen von grob anstößiger oder irreführender Werbung, verdeutlicht, dass es in Wahrheit auch ihr darum geht, das Verbot der Abtreibung infrage zu stellen, nur sagt man es eben nicht so offen wie die Linken. Das nenne ich Salamitaktik.
Eine Abtreibung ist aber kein normaler medizinischer Eingriff,
({3})
sondern sie beendet vorsätzlich menschliches Leben. Niemand unterstellt Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, es sich einfach zu machen. Aber wir als Gesellschaft dürfen eine Abtreibung auch nicht zu einfach machen. Zur sexuellen Freiheit gehört auch, sich eigenverantwortlich vor einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen, und der Zugang zu empfängnisverhütenden Mitteln ist definitiv heutzutage keine Hürde mehr.
In Diskussionen mit Schülern war ich zuletzt entsetzt über die Erosion des Bewusstseins für Recht und Unrecht.
({4})
Für viele ist Abtreibung nur nachgelagerte Empfängnisverhütung und eine Selbstverständlichkeit,
({5})
und das darf die Tötung menschlichen Lebens niemals sein.
({6})
Angesichts um die 100 000 registrierten Abtreibungen jedes Jahr brauchen betroffene Frauen mehr Unterstützung, damit sie sich für ihr Kind entscheiden. Es braucht keine grundgesetzwidrige Förderung der Abtreibung, sondern eine Willkommenskultur für Kinder.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Lisa Paus das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger/-innen!
({0})
Die Streichung des § 219a StGB ist längst überfällig.
({1})
Wer anders als die Schwangeren sollte entscheiden, ob sie ein Kind austragen möchten oder können? Wer anders als Frauen sollte darüber entscheiden, wann und in welchen Abständen sie Kinder bekommen?
({2})
Und wer anders als Mediziner/-innen sollte diesen Frauen beistehen und sie über einen Abbruch informieren?
({3})
Es geht um fundamentale, um existenzielle Fragen: um das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung, um das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden.
({4})
Selbstverständlich ist auch das Recht des Kindes auf Leben ein Menschenrecht. Spielen wir beide Rechte doch nicht gegeneinander aus! Alle Statistiken zeigen: Es ist die gute Beratung, die Frauen Mut macht für ein Leben mit einem Kind, nicht die Androhung von Strafe und erst recht nicht die Aktionen von Abtreibungsgegnern, die schwangere Frauen vor Beratungsstellen belästigen und zu Kriminellen erklären.
({5})
Das sogenannte Werbeverbot untergräbt das Recht von Frauen auf körperliche Selbstbestimmung und ihr Recht, sich über Abtreibungen zu informieren. Es ist schlicht zynisch, dass Ärztinnen und Ärzte dafür Strafverfolgung fürchten müssen.
({6})
Es ist gut, dass wir den § 219a StGB nun aufheben.
Frauen, aber auch unsere ganze Gesellschaft, brauchen rechtssichere Lösungen für alle Lebenswirklichkeiten. Als Bundesfamilienministerin freue ich mich riesig über den Erfolg der Frühen Hilfen, der Bundesstiftung Mutter und Kind oder auch unserer Bundesinitiative „Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit“. Reproduktive Rechte sind leider nicht selbstverständlich. Sie geraten immer wieder unter Druck. Das zeigt der aktuelle Entwurf des US Supreme Court; auch in europäischen Nachbarländern deuten sich geschlechtspolitische Rollbacks an.
({7})
– Der Fraktion rechts von uns allen scheint das zu gefallen, wie wir gerade hören konnten.
({8})
Dieses Gesetz und die Debatte heute haben eine wichtige Signalwirkung: Diese Bundesregierung steht an der Seite der Frauen und zu ihrem Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
({9})
Deshalb wollen wir auch einen zweiten Schritt gehen und eine Regelung für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des StGB treffen. Um diese hochkomplexen juristischen Fragen zu klären, setzen wir eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ein. So wie sich Frauen auf medizinische Leistungen verlassen dürfen, wenn sie sich für ein Kind entscheiden, sollen sie künftig auf medizinische Leistungen vertrauen können, wenn sie sich gegen ein Kind entscheiden.
({10})
Der Schwangerschaftsabbruch gehört einfach nicht ins Strafrecht, meine Damen und Herren.
Ich bin sicher: Gemeinsam mit Expertinnen und Experten und meinen Kollegen vom Bundesjustizministerium und vom Bundesgesundheitsministerium werden wir gute Antworten finden. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.
Ganz herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidi Reichinnek, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach über 90 Jahren wird der Naziparagraf 219a,
({0})
mit dem Frauen sowie Ärztinnen und Ärzte entmündigt und drangsaliert werden, bald endlich der Vergangenheit angehören.
({1})
Dafür sorgen wir jetzt.
({2})
Die Bezeichnung „Werbeverbot“ ist dabei einfach nur widerwärtig und untergräbt noch heute den Kampf der Frauen für körperliche Selbstbestimmung. Das ist doch der Kern, um den es hier geht: Es geht nicht um Werbung, es geht um neutrale und umfassende Informationen über einen medizinischen Eingriff.
({3})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krings, CDU/CSU-Fraktion?
Sehr gern.
Das verlängert übrigens auch Ihre Redezeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich will nur einen historisch sachlichen Punkt richtigstellen, weil das jetzt mehrfach falsch genannt worden ist: Der Vorgängerparagraf dieses Werbeverbots, das heute deutlich eingeschränkt werden soll, ist nicht in der Nazizeit entstanden, sondern in der Weimarer Republik konzipiert worden, einer Vorgängerdemokratie, die sicherlich nicht perfekt war, aber wo demokratische Parteien auch um solche Themen gestritten haben. Er ist in der Tat erst 1933 ins Gesetzblatt gekommen,
({0})
aber konzipiert worden ist er in der Weimarer Zeit. Das ist ein historisches Faktum. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
({1})
Sehr geehrter Kollege, ich nehme Ihren Redebeitrag gerne zur Kenntnis. Ich finde, meine Kollegin von der SPD hat schon sehr gut dargestellt, wie der historische Verlauf war.
({0})
In meiner letzten Rede, der Sie ja sehr interessiert gelauscht haben – ich erinnere mich an Ihre Zwischenrufe –, habe ich auch noch mal ganz genau dargestellt, in welchem Geist dieser Paragraf umgesetzt wurde; Sie können sich die gerne noch mal anhören.
({1})
Aber gut, ich mache dann mal weiter.
Wenn ich höre, liebe CDU/CSU – das sind Zitate von Ihnen –: „Man muss ja nicht jede Mode mitmachen“ und: „Abtreibungskliniken werden dann so wie Schönheitskliniken“ oder wie gerade eben wieder: „Dann gibt es die zielgruppenspezifische Werbung“, dann frage ich mich: Welches Frauenbild haben Sie eigentlich?
({2})
Denken Sie wirklich, dass irgendeine Frau sagt: „Mensch, das ist ja mal eine spannende Erfahrung, so eine Abtreibung. Das mache ich jetzt“ oder: „Mensch, was für eine schöne Broschüre! Dann mache ich eine Abtreibung“? Glauben Sie, dass Frauen so denken?
({3})
Sie merken doch selbst, wie absurd das klingt.
Die aktuelle Kompromissregelung der Großen Koalition ist ein Elend.
({4})
Wenn die CDU/CSU dieses Elend jetzt mit ihrem Antrag auch noch festklopfen will, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann sage ich stellvertretend für die Mehrheit des Hauses und für die Gesamtgesellschaft: Nö.
({5})
Die Streichung von § 219a – ja, das ist richtig – ist nur der erste Schritt, den wir gehen müssen. Schwangerschaftsabbrüche, die auf Wunsch der Schwangeren durchgeführt werden, müssen endlich entkriminalisiert werden. Auch das EU-Parlament und die Weltgesundheitsorganisation fordern exakt das. Deswegen muss auch § 218 endlich weg.
({6})
Wir brauchen eine Kommission, die nicht nur darüber diskutiert, ob § 218 fällt, sondern wie; und wir brauchen diese Kommission sofort. Doch aktuell steht nicht mal fest, wer darin wie arbeiten soll, von der Einrichtung ganz zu schweigen. Deswegen fordern wir in unserem Antrag auch, dass reproduktive Gerechtigkeit zum Regierungsziel erklärt wird, damit wir endlich vorankommen.
({7})
Zum Thema „nachgelagerte Verhütung“, wie es gerade von der AfD benannt wurde – ich sage dazu wenig –: Stellen Sie sich mal vor, wir würden erwarten, dass jeder Mann, der keine Kinder will, eine Vasektomie durchführen lässt. Das wäre doch mal was, ne? Scheint aber auch ein bisschen absurd, absolut übergriffig. Aber man erwartet ja schließlich von Frauen auch, dass sie Hormone schlucken, die massive Nebenwirkungen haben. Man erwartet von Frauen, dass sie für die Pille danach eine demütigende Beratung über sich ergehen lassen. Und ehrlicherweise erwartet man von Frauen auch, dass sie noch die Kondome dabeihaben, um dann am Ende mit irgendeinem Typen darüber diskutieren zu müssen, dass sich das ja nicht so toll anfühlt.
({8})
– Ja, Sie sollten vielleicht auch mal was rauchen. Vielleicht sind Sie dann ein bisschen entspannter.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau von Storch?
Ach, nee.
({0})
War das nun ein Nein oder ein Stoßseufzer?
Verhütung ist doch schon die komplette Verantwortung der Frau, während es kaum Forschung zu Verhütungsmethoden für Männer gibt. Nach alldem kriminalisieren wir Frauen auch noch und machen ihnen den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen so schwer und teuer wie möglich? Frauen mit Geld, ja, die können zu einer weit entfernten Praxis fahren, sich ein Hotel leisten; sie fahren notfalls für eine Abtreibung über die Grenze. Aber stellen Sie sich mal vor: 200 Kilometer Anfahrt, Eingriff, Rückfahrt, am nächsten Tag wieder arbeiten, weil Urlaub einfach nicht drin ist; die Kinder müssen auch noch betreut werden. Dann ist der Eingriff auch noch teuer; vor der Praxis gibt es dann noch die Beschimpfungen und Bedrohungen. Das ist und bleibt Realität, wenn wir nicht endlich dafür sorgen, dass Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden,
({0})
wenn wir nicht endlich dafür sorgen, dass sie flächendeckend und kostenfrei zur Verfügung stehen. Das ist auch eine soziale Frage. Worauf warten wir eigentlich noch?
Wir als Linksfraktion haben die Streichung hier im Parlament bereits 2017 auf den Weg gebracht und stehen weiter Seite an Seite mit all jenen, die schon jahrzehntelang den Kampf für sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche führen, die beleidigt, bedroht und verurteilt wurden und werden. Ich möchte jeder einzelnen Person danken, –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– die uns hierhergebracht hat. Wir werden nicht aufhören, jetzt erst recht nicht. Es gibt noch viel zu tun.
({0})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen den Entwurf eines Gesetzes ein, das den § 219a Strafgesetzbuch ersatzlos streicht und damit endlich die sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche durch Ärztinnen und Ärzte entkriminalisiert.
({0})
Und weil es ungerecht war, wie es bisher lief – dass sie in der Vergangenheit wegen der Information über eine medizinische Behandlung bestraft wurden –, wollen wir gleichzeitig auch alle Urteile seit Oktober 1990 aufheben. In Zukunft können Schwangere also endlich sachliche Informationen über Abbrüche auf den Webseiten von Ärztinnen und Ärzten finden. Ehrlich gesagt: Das wurde auch Zeit, meine Damen und Herren.
({1})
Das ist ein Meilenstein für das Informationsrecht, für die reproduktive Selbstbestimmung und für die Gesundheit von Frauen.
({2})
Wir wollen doch alle verhindern, dass Frauen nach illegalen Abbrüchen im Krankenhaus landen oder im schlimmsten Fall sterben.
({3})
Der sichere Zugang zu medizinischer Versorgung ist Lebensschutz, meine Damen und Herren.
({4})
Deswegen ist es auch scheinheilig, wenn die CDU/CSU in ihrem Antrag schreibt – Sie haben es in Ihrer Rede ja peinlicherweise auch noch wiederholt, Frau Kollegin –, ohne § 219a StGB könne nicht sichergestellt werden, dass Schwangerschaftsabbrüche künftig nicht kommerzialisiert werden. Da frage ich Sie: Geht’s noch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union?
({5})
Das ist so respektlos gegenüber den Ärztinnen und Ärzten. Und das ist respektlos gegenüber den Frauen, die diesen Schutz brauchen.
({6})
Damit machen wir jetzt Schluss, meine Damen und Herren.
({7})
Wir von der Fortschrittskoalition machen Schluss mit der unsachlichen Kriminalpolitik der CDU und Schluss mit der Bevormundung von Frauen. Wir stehen für Versorgungssicherheit und Selbstbestimmung. Und wenn wir schon einmal dabei sind, möchte ich sagen, was wir uns als Ampel noch so vorgenommen haben – und darauf freue ich mich schon –:
({8})
Erstens machen wir Schwangerschaftsabbrüche zum Teil der ärztlichen Ausbildung,
({9})
damit mehr Ärztinnen und Ärzte die Abbrüche anbieten können und Frauen überall Zugang dazu haben.
({10})
Zweitens werden wir die Möglichkeit schaffen, die Kosten der Schwangerschaftsabbrüche zu übernehmen.
Drittens werden wir das System der Schwangerschaftsabbrüche im Strafrecht auf den Prüfstand stellen. Denn für uns steht fest: Selbstbestimmung darf kein Verbrechen sein, meine Damen und Herren.
({11})
Frau Kollegin, erlauben Sie noch eine Zwischen- oder Nachfrage von Frau von Storch. – Offensichtlich nicht.
Die Störche sind vorbei.
Es ist gerade Storchenzeit, wenn ich darauf hinweisen darf.
({0})
– Gut, ich akzeptiere das. – Die AfD-Fraktion wünscht eine Kurzintervention.
Frau von Storch, Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich zu äußern.
Ja, vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Intervention zulassen. – Ich habe eine Frage an Frau Bayram. Die Frage richtet sich an all diejenigen, die sich hier für die Abschaffung dieses Werbeverbots ausgesprochen haben; aber Sie sind jetzt adressiert. Sie alle reden über die Frauen und das Recht der Frauen in extenso. Das Einzige, was bei Ihnen nie vorkommt, ist das ungeborene Kind. Das findet in Ihrer gesamten Debatte nicht statt.
({0})
Ich möchte gerne von Ihnen wissen, ab welchem Moment Sie anerkennen, dass das ungeborene Kind ein Mensch ist, das volle Menschenwürde hat, das ein Lebensrecht hat, das leben darf und das man nicht mehr antasten darf. Sagen Sie mir, ab welchem Monat Ihrer Meinung nach eine Abtreibung nicht mehr zulässig sein soll. Bis wann muss ein ungeborenes Kind um sein Leben fürchten, und ab wann ist das Leben des ungeborenen Kindes nach Ihrer Anschauung lebenswert?
({1})
Frau Kollegin Bayram, Sie können antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau von Storch, ich stelle fest, dass Sie das Thema immer noch nicht verstanden haben und auch keinen wertvollen Beitrag zu dieser Debatte liefern können.
({0})
Ihre Fraktion hätte Ihnen das Recht einräumen können, in dieser Debatte zu reden. Der Beitrag Ihres Kollegen Seitz hat eigentlich das Desinteresse Ihrer Fraktion an einer vernünftigen Debatte an diesem Punkt deutlich gemacht.
({1})
Und Ihre Kurzintervention war nicht dazu geeignet, das in ein anderes Licht zu rücken.
Für meine Fraktion steht fest: Wir werden das Thema weiter sachlich bearbeiten,
({2})
und wir wollen den Lebensschutz für alle Beteiligten durch medizinische Information sicherstellen, indem wir den § 219a StGB streichen.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. Sie haben die Frage beantwortet.
({0})
– Ich versuche gerade, das zu erklären. Sie hat geantwortet. Ob Sie das zufriedenstellt oder nicht, liegt nicht im Ermessen des Präsidiums.
({1})
– Noch einmal: Sie hat die Frage beantwortet im Rahmen ihrer Möglichkeiten
({2})
– ja, warten Sie doch mal ab – und im Rahmen ihres Verständnisses. Mehr können wir nicht tun.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe im Vorfeld dieser Debatte gedacht, dass uns sicherlich heute im Haus eine gewisse Ernsthaftigkeit eint und dass uns heute hier im Haus auch eint, zu überlegen, was für jede einzelne Frau, was aber auch für das ungeborene Kind, das ungeborene Leben das Wichtigste ist. Das ist eine Debatte, die, auch wenn man seit vielen Jahren, schon seit Jahrzehnten hier am Rednerpult stehen darf, sehr emotional ist, eine, die keinen kaltlassen kann und wo es meines Erachtens auch keine einfachen Lösungen gibt und kein Richtig und kein Falsch. Deswegen war ich tatsächlich schockiert, entsetzt und traurig, sehr geehrte Frau Kollegin Wegge, in welcher Art und Weise Sie hier aufgetreten sind.
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Sie haben sich hierhingestellt und gesagt: Ich genieße es; es ist ein schöner Moment. – Schauen Sie sich Ihre Rede in fünf Jahren, in zehn Jahren, in fünfzehn Jahren noch mal an, und erklären Sie irgendwann mal Ihren Kindern, was Sie heute hier abgezogen haben.
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Ich muss wirklich sagen: Das ist doch nicht der Geist, den diese Debatte atmen sollte.
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Wir müssen uns doch immer wieder klarmachen, wer uns heute zuschaut. Uns schauen heute vielleicht Frauen mit drei Kindern zu, von denen wir nicht wissen, ob sie, um diese drei Kinder zu bekommen, schon sechs Schwangerschaften hinter sich haben. Uns schauen Frauen zu, die keine Kinder bekommen können. Ich habe vorhin noch mit jemandem gesprochen, die mit 20 Jahren das erste und einzige Mal abgetrieben hat und jetzt in einer Kinderwunschbehandlung ist. Das ist sehr emotional für die Frauen, die uns heute zuschauen. Es schauen uns Frauen zu, die Sternenkinder geboren haben. Es schauen uns Frauen zu, die viele Fehlgeburten hatten, die Abtreibungen hinter sich haben, die vielleicht Regenbogenkinder haben. Deswegen würde ich mich einfach freuen, wenn es in dieser Debatte, in der es vordergründig um § 219a StGB geht, aber, wie in vielen Redebeiträgen deutlich wurde, eigentlich um den § 218 StGB,
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ein bisschen seriöser vonstattengeht.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Nein, jetzt nicht. – Was mich auch wahnsinnig stört, ist, dass Sie das mit Fortschritt begründen, mit Selbstbestimmung, mit Freiheit und dass Sie so tun, als ob wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Frau nicht in den Mittelpunkt stellten. Das tun wir aber. Natürlich geht es um Selbstbestimmung, natürlich geht es darum, dass eine Frau entscheiden kann. Das kann sie aber. Wir trauen den Frauen eben zu, dass sie sich selber entscheiden können, nachdem sie eine ordentliche Beratung hinter sich haben.
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Das können Sie doch nicht abstreiten: In einer so hochemotionalen Situation muss man die Möglichkeit haben, mit jemand Neutralem zu sprechen.
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– Im Anschluss mit dem Arzt, ja;
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aber erst mal eine neutrale Beratung in einer hochemotionalen Phase.
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Meine Kollegin Nina Warken hat ja gesagt, wie notwendig es ist, dass eben immer jemand an der Seite der Frau ist, weil die Frau die Entscheidung ihr ganzes Leben mit sich tragen wird, egal ob sie das Kind austrägt oder nicht. Das muss man doch immer im Hinterkopf haben.
Ich möchte mich der Meinung der Kollegin Warken anschließen: Wir können doch keine Debatte führen, in der kein einziges Mitglied der Ampel vom Kind spricht.
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Und wir können diese Debatte auch nicht führen, wenn Sie hier, das Strafgesetzbuch betreffend, eine Lex Hänel durchsetzen wollen. Das ist mit uns nicht zu machen.
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Das ist eine Ärztin, die von Zellhaufen spricht, die nicht mal akzeptiert, dass es sich um einen Embryo, um werdendes Leben handelt. Jede Frau, die erfährt, dass sie schwanger ist, bei ihrer Frauenärztin oder ihrem Frauenarzt ein Ultraschallbild sieht und in der sechsten Woche schon das Herz schlagen hört, merkt, dass da Leben am Wachsen ist. Dann zu sagen: „Das ist nur ein Zellhaufen, das ist ein Eingriff wie jeder andere“, das ist mit uns als Union auf keinen Fall zu machen.
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Niemand trifft so eine Entscheidung leichtfertig – fast niemand, würde ich sagen; einige Beiträge in dieser Woche, zum Beispiel den von Jutta Ditfurth, die sagte: „Meine zweite Abtreibung war die schönste“, lasse ich mal so stehen. Die Mehrheit aber trifft diese Entscheidung nicht leichtfertig. Ich kann Ihnen nur sagen: Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir wollen § 219a nicht abschaffen. Wir wollen ihn erhalten, wir wollen ihn verbessern. Wir wollen weitere Informationsmöglichkeiten für Ärztinnen und Ärzte. Wir wollen ergebnisoffene Beratung. Wir appellieren an Sie als Bundesregierung, mit den Ländern zu sprechen, damit es überall, in allen Regionen, entsprechende Ärztinnen und Ärzte gibt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir wollen rechtliche Voraussetzungen dafür, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– dass auch die Kosten für ärztlich verordnete Verhütungsmittel übernommen werden.
Ich freue mich auf eine seriöse, weiter gehende Beratung, möchte aber abschließend noch kurz an die beiden Minister, die heute gesprochen haben, appellieren.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss!
– Letzter Satz, Herr Präsident. – Herr Buschmann hat über § 219a heute ja sehr sachlich, sehr „down to earth“ gesprochen. Frau Paus hat schon den 218er ins Spiel gebracht. Ich bin auf die Beratungen gespannt und hoffe, dass die Bundesregierung das Thema in einer seriösen Art und Weise behandelt; denn uns ist es wahnsinnig wichtig.
Vielen Dank.
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Also, die Unionsfraktion muss an der Redezeitdisziplin noch ein bisschen arbeiten. Die Überziehung von fast einer Minute ist nicht hinzunehmen.
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Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich erteile der Kollegin Schauws das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich muss feststellen, dass Sie von der Unionsfraktion – Kollegin Bär, aber auch Sie, Frau Warken, haben das gerade noch mal sehr deutlich gemacht – das, was Sie in den letzten Jahren zu § 219a immer wieder gesagt haben, hier noch mal fokussiert und auf die Spitze getrieben haben, indem Sie sagten, es gebe eine permanente Vermischung mit § 218 in diesem Gerüst. Der Justizminister und die Frauenministerin haben es sehr deutlich gemacht: Das ist einfach falsch. Dass Sie das behaupten, hat damit zu tun, dass Sie immer und immer wieder auf das Gleiche hinaus wollen. Mit Ihrer moralisierenden und emotionalisierenden Rede
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mit Schuldzuweisungen, indem Sie hier die ganze Zeit austeilen, tun Sie eines – das muss ich einfach feststellen –: Sie prägen eine extreme Misstrauenskultur gegen Frauen,
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gegen die Selbstbestimmung von Frauen und vor allen Dingen gegen die Informationsfreiheit und das Berufsrecht von Ärztinnen und Ärzten.
Jedes Land hat einen Versorgungsauftrag für ungewollt Schwangere, und es wird immer schwieriger, die Versorgungslage sicherzustellen. An dieser Stelle möchte ich die Frage an Sie stellen, Frau Kollegin Bär: Würden Sie zu Ihrer Frauenärztin oder zu Ihrem Frauenarzt gehen und ihr oder ihm genau das, was Sie hier an Misstrauenskultur jeder Ärztin und jedem Arzt in diesem Land entgegenbringen, ins Gesicht sagen? Würden Sie gegenüber einer Ärztin Ihres Vertrauens, einer Person, der Sie Ihre Gesundheit anvertrauen, genau dieses Misstrauen, das Sie seit Monaten, seit Jahren in diesen Bundestag tragen, äußern? Das würde ich wirklich gern von Ihnen wissen. Würden Sie auch einer Frau, die ungewollt schwanger ist, ins Gesicht sagen, dass Sie das, wie Sie es hier immer vortragen, moralisch verurteilen? Würden Sie das tun?
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Frau Kollegin Bär, Sie können jetzt antworten.
Ehrlicherweise erlebe ich Sie moralisierend und nicht uns.
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Und auch wenn es Sie nichts angeht: Ich habe ein hervorragendes, sehr gutes Verhältnis zu meinem Frauenarzt, und er stimmt mir bei dieser Diskussion insgesamt voll und ganz zu.
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Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Lieber Minister Buschmann, liebe Ministerin Paus, wir haben zusammen den Koalitionsvertrag im Bereich Gleichstellung verhandelt. Nichts war so schnell klar wie der Punkt, dass wir in dieser Koalition den § 219a ersatzlos streichen, und das ist gut so.
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In der gleichen Verhandlung haben wir verabredet, dass wir zum § 218 und zur Reproduktionsmedizin eine Kommission einsetzen werden, die sich mit diesen Dingen befasst. Sehr geehrte Frau Kollegin Bär, wenn Sie Ihre Rede heute nach Einsetzung der Kommission gehalten hätten, hätte sie gepasst. Aber zu § 219a hat sie wirklich nicht gepasst.
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Die CDU/CSU spricht in ihrem Antrag und auch in der Debatte heute von der Banalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und von fehlender Ernsthaftigkeit in der Debatte. Und Sie von der Union sagen, dass das ungeborene Kind bei uns ausgeblendet werde. Das ist einfach dummes Zeug.
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Schauen Sie nicht durch Ihre konservative Brille! Schauen Sie die Realität von Frauen an, die sich in einer solchen Konfliktsituation befinden und die eventuell vor einem Schwangerschaftsabbruch stehen!
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Weil wir heute wieder so viel zum geschichtlichen Abriss gehört haben, habe ich noch mal nachgeschaut: In der Weimarer Republik wurde die Strafe bei Schwangerschaftsabbrüchen von Zuchthaus auf Gefängnis gesenkt.
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1933 wurden dann wieder erhebliche Verschärfungen bis zur Todesstrafe vorgenommen. Auch die Anpreisung wurde wieder unter Strafe gestellt. Das ist der Fakt. Wir diskutieren seit fast 100 Jahren darüber, und ich bin froh, dass wir den § 219a jetzt endlich streichen.
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Wir haben das Problem in der letzten Legislaturperiode leider nicht lösen können. In unserer „Vorschwangerschaft“ zur Koalition sind wir der Union da ziemlich weit entgegengekommen, das Problem haben wir aber nicht gelöst; denn auf der Liste der Bundesärztekammer finden sich längst nicht alle Kliniken und Praxen, die Abtreibungen vornehmen. Für Baden-Württemberg mit 11 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind gerade mal 16 Kliniken und Praxen aufgeführt, für eine Unistadt wie Freiburg oder Ulm nicht eine einzige. Das heißt, die Frauen finden eben nicht die Informationen, die sie brauchen.
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Zu dem, was Ärztinnen und Ärzte auf ihren Homepages schreiben, gehören ja auch Informationen zur Möglichkeit von Narkose und Betäubung, zur Kostenübernahme, zur Nachsorge, zu mitzubringenden Unterlagen usw. Das alles steht eben nicht auf der Homepage der Bundesärztekammer; das ist das Problem.
Es geht nicht darum, dass hier für Schwangerschaftsabbrüche geworben werden soll. Das ist eine böse Unterstellung.
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Es geht doch nicht darum, zu sagen: „Bekomme drei, zahle zwei!“, „Sammeln Sie Punkte!“ oder „Auf diese Praxis können Sie bauen!“. Es geht darum, dass wir den Frauen die Informationen zukommen lassen wollen, die sie brauchen.
Wir wollen das ungeborene Leben schützen, und zwar nicht durch Strafandrohung. Was wir für das ungeborene Leben brauchen, das ist bezahlbarer Wohnraum in entsprechender Größe, ein ordentliches Entgelt für die Frauen. Wir brauchen gute Kinderbetreuung usw. usf. Dadurch schützen wir ungeborenes Leben, nicht durch Strafandrohung.
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Um was es mir auch noch geht: Diese Debatte heute steht im Kontext mit Debatten, die auf der ganzen Welt geführt werden. In Polen streiten die Frauen um ihr Recht auf Selbstbestimmung, in den USA streiten sie um ihr Recht auf Selbstbestimmung.
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Aber hier streiten wir aktuell nur darum, ob Ärzte ihre Patientinnen informieren dürfen, um sonst nichts.
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Deshalb ist es gut, dass wir den § 219a streichen.
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Den Kampf als solchen werden wir weiterführen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Frau Kollegin Breymaier, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
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– Mit dem Ende der Rede hat sich auch die Frage einer Zwischenfrage erledigt.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Nach diesem emotionalen Thema ein nüchternes politisches Thema. Seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten wird in Deutschland in Fachkreisen über das Thema der fehlenden nationalen sicherheitspolitischen Gesamtstrategie diskutiert. Das Thema erreichte in Krisenzeiten für kurze Zeit auch die Aufmerksamkeit der politischen Parteien und der Medien und verschwand dann regelmäßig wieder aus der Diskussion.
Strategische Realität war bis heute, dass Deutschland seine Energiepolitik nach Moskau, seine Wirtschaftspolitik nach Beijing und seine Sicherheitspolitik nach Washington outgesourct hat, und der Rest wird zumeist in Brüssel entschieden. Der deutschen Sicherheitspolitik mangelt es also bereits seit Langem an langfristigen nationalen strategischen Zielsetzungen, um dem Versprechen des Grundgesetzes an den deutschen Bürger nach Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gerecht zu werden.
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Den aktuellen Herausforderungen einer sich dramatisch verändernden Weltordnung und einem immer härter werdenden internationalen Systemwettbewerb ist Deutschland daher zunehmend nicht gewachsen. Die Ursache hierfür ist auch das Fehlen einer langfristigen, realistischen, stringenten und ideologiefreien nationalen Strategie, die deutsche Interessen klar und deutlich formuliert. Daher ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung vorgenommen hat, im ersten Jahr ihrer Amtszeit eine nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen. Jedoch greift der Ansatz, den die Außenministerin bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer solchen nationalen Sicherheitsstrategie vorlegte, deutlich zu kurz.
Eine nationale Sicherheitsstrategie zu erarbeiten, diese fortlaufend kritisch in der gesamten Bandbreite zu evaluieren und fortzuschreiben und vor allen Dingen deren Umsetzung zu überwachen und durchzusetzen, kann nicht die Verantwortung eines einzelnen Ressorts sein.
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Das muss unbedingt Chefsache werden. Die offensichtlichen Schwachstellen des Krisenmanagements im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg unterstreichen dies nachdrücklich.
Innen- und außenpolitische Sicherheitsentwicklungen lassen sich schon lange nicht mehr getrennt betrachten. Heutige und künftige komplexe Herausforderungen können nur bewältigt werden, wenn außen-, verteidigungs-, innen-, wirtschafts- und energiepolitische Dimensionen miteinbezogen und im wohlverstandenen nationalen Interesse angegangen werden.
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Denn tragfähige realpolitische Lösungen und strategische sicherheitspolitische Entscheidungen bedürfen eines weiten Blicks nach vorn sowie klar definierter nationaler sicherheitspolitischer Ziele. Liegt eine solche realpolitische Durchdringung der Weltsicherheitslage nicht vor, kann die Bundesregierung bestenfalls kurzfristig auf kritische Ereignisse reagieren. Wir kennen dieses Fahren auf Sicht aus den letzten Jahren zur Genüge. Mittel- und langfristig führt diese Politik jedoch zu weiterem Verlust an Handlungsspielraum in der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik und damit zu einer steigenden Abhängigkeit von anderen Mächten. Wir erleben dies gerade insbesondere in der gescheiterten Energiepolitik im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen äußerst schmerzhaft. Deutschland muss also in die Lage versetzt werden, den drohenden Abstieg im internationalen Konzert zu verhindern und seine nationalen Interessen, die dem Wohl der Bürger zu dienen haben, auch durchsetzen zu können.
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Vor diesem Hintergrund beantragen wir, umgehend den derzeitigen Bundessicherheitsrat zu einem ständigen, ressortübergreifenden nationalen Sicherheitsrat umzubauen und mit effizienten und schlanken Strukturen – nicht unbedingt nach amerikanischem, eher nach französischem und japanischem, aber auch österreichischem Vorbild – auszubauen.
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Dieser nationale Sicherheitsrat setzt sich zusammen aus den für einen breiten Sicherheitsbegriff relevanten Ministern und wird vom Bundeskanzler geführt. Ein nationaler Sicherheitsberater, der direkt dem Bundeskanzler untersteht und dessen Stab im Kanzleramt angesiedelt ist, führt die täglichen Geschäfte dieses nationalen Sicherheitsrates. Er hat dazu auch Zugang zu den relevanten Informationen, insbesondere den jeweiligen Lagezentren aller betroffenen Ressorts.
Mit diesem Instrumentarium sollte die Bundesregierung in die Lage versetzt werden, präventive und langfristige Strategien zu entwickeln, in einer deutschen nationalen Gesamtsicherheitsstrategie zu institutionalisieren und dann auch umzusetzen. Um diese deutliche Stärkung der Position des Bundeskanzlers in der Exekutive demokratisch zu legitimieren, soll dazu ein geeignetes parlamentarisches Kontrollgremium eingerichtet werden.
Werte Kollegen, vor dem Hintergrund der zunehmenden Unsicherheiten und Risiken in der Welt bitte ich Sie, parteipolitische Überlegungen hintenanzustellen und unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erleben jetzt einen historischen Moment. Ich erteile dem Kollegen Dr. Ralf Stegner, SPD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident, Ihr jugendliches Alter produziert sehr viel Altersweisheit; das muss ich zugeben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgerechnet jetzt, während Putins brutaler Angriffskrieg mitten in Europa wütet und sich eine große Staatengemeinschaft an die Seite der Ukraine stellt, ausgerechnet jetzt kommt die AfD mit einer sicherheitspolitischen Gesamtstrategie daher. Sicher ist daran nur: Sie haben nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt. Ihr deutschnationaler Antrag besteht aus Anti-Multilateralismus,
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der üblichen Hetze gegen eine humanitäre Flüchtlingspolitik und der ranzigen Deutschtümelei ihrer unseligen Vorgängerparteien.
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Von Freunden autoritärer Regime, Feinden unserer Pressefreiheit, die bereitwillig Propagandalügen und Verschwörungstheorien verbreiten, brauchen wir nun wirklich keinerlei Empfehlung für unsere Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ihrem Antrag fehlt auch deswegen jede Seriosität, weil Sie zu Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine als einzige Fraktion in diesem Hause keine klare Position haben. Ausgerechnet Sie fordern in Ihrem Antrag eine ideologiefreie Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist doch blanker Hohn, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Es lässt schon tief blicken, dass das Putin-Regime immer wieder die Rechtsextremisten in den westlichen Demokratien politisch und finanziell als Brüder im Geiste unterstützt:
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russische Kredite für Marine Le Pens Rassemblement National, die Gott sei Dank trotzdem gegen Emmanuel Macron verloren hat,
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Einflusskampagnen aus Moskau bei den US-Wahlen 2016 zugunsten des Rechtspopulisten und Kapitolstürmers Donald Trump. Ihre Leute fahren zu fragwürdigen Konferenzen auf die Krim, und Ihre rechtsradikale Parteijugend wird mit Rubel bezahlt.
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Genau dieser Schulterschluss der Rechten mit den Diktatoren dieser Welt ist ein Sicherheitsrisiko für unsere Demokratie. Wir wollen keine illiberale Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Zeitenwende-Rede die Neuorientierung unserer Sicherheitspolitik angekündigt.
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– Sie müssen nicht lärmen, nur weil Sie keine Inhalte haben.
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Der Krieg mitten in Europa, erschütternde Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung, der überwunden geglaubte Imperialismus –
Herr Kollege Stegner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
– von Rechtsradikalen lasse ich nie Zwischenfragen zu –,
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der Grenzen verschieben will, all das zeigt: Der Kanzler hat recht.
Als abrüstungspolitischer Sprecher meiner Fraktion fällt es mir nicht leicht, dass wir neben der politischen, finanziellen und humanitären Hilfe für die Ukraine auch Waffen in ein Kriegsgebiet liefern. Am Ende wird allerdings eine politische Lösung stehen müssen, weil die Endlosspirale von immer mehr und immer schwereren Waffen keine Lösung ist. Aber auch die deutliche Erhöhung des Wehretats ist richtig, weil damit eine angemessene Ausrüstung unserer Parlamentsarmee bewirkt wird und es nicht um Aufrüstung gehen darf.
Es ist richtig, was wir hier zur Unterstützung der Ukraine beschlossen haben, und es ist auch richtig, dass wir das gemeinsam mit der größten Oppositionsfraktion gemacht haben. Gerade deshalb allerdings sollten Sie von der Union aufhören, die Friedens- und Ostpolitik von Willy Brandt, Walter Scheel, Egon Bahr und Helmut Schmidt zu diskreditieren. Sie trug nämlich dazu bei, den Kalten Krieg zu beenden und für große Teile Europas Demokratie zurückzugewinnen.
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Dass die Folgen der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts überwunden wurden, lag an diesen Weichenstellungen,
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dem Einsatz mutiger Bürgerrechtler in der untergehenden DDR
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und der politischen Führung von George Bush senior bis Michail Gorbatschow. Das sollten wir niemals vergessen – bei allem, was es an Irrtümern und Fehlern gegeben haben mag.
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Der Herr Oppositionsführer sollte sich schon den Versuch verkneifen, bei dem Sondervermögen für die Bundeswehr aus Parteitaktik frei gewählte Abgeordnete in ihren Rechten aus Artikel 38 des Grundgesetzes zu beschneiden. Herr Merz hat natürlich auch jedes Recht, zu reisen. Reisen soll ja bilden. Dass allerdings sein Druck, wie gesagt wird, angeblich etwas bewirkt haben soll, das kommt eher aus der Abteilung Einbildung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Diese Pose unterstreicht, warum es gut ist, dass der Bundeskanzler Olaf Scholz heißt und Herr Merz Oppositionsführer ist.
Auch unsere Außenministerin Annalena Baerbock hat gerade in Kiew und insbesondere am Ort des Schreckens, in Butscha, gezeigt,
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wie unsere verantwortliche, wertegeleitete und realistische Außenpolitik aussieht. Danke dafür!
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Trotz der Schmährufe aus der Opposition und wenigen verzichtbaren Fußnoten aus anderer Richtung ist es doch gerade die Besonnenheit von Olaf Scholz, die die Menschen von ihrem Bundeskanzler erwarten, wenn es um Fragen von Krieg und Frieden geht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir handeln gemeinsam in der Ampelkoalition, und wir handeln gemeinsam mit unseren Verbündeten insbesondere in Washington und Paris. Wenn man sich manche Presseartikel und Äußerungen aus der Union anschaut, könnte man meinen, das 16 Jahre lang unionsgeführte Verteidigungsministerium hätte unter dem Einfluss der Jusos und nicht unter dem Einfluss von Rüstungskonzernen und überteuerten Beraterfirmen gestanden. Es fehlt nur noch, dass die Parteihistoriker bei Ihnen im Archiv des Konrad-Adenauer-Hauses das SPD-Parteibuch von Angela Merkel finden. Ich wäre allerdings vorsichtig, wenn Sie es dem „Stern“ zur Veröffentlichung anbieten wollen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde, trotz wichtiger Landtagswahlen wäre es auch sinnvoll, sich zur Verantwortung zu bekennen, die wir gemeinsam hatten, sowohl in Berlin als auch in Schwerin.
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Es ist hier nämlich manchmal wirklich so, dass auf einen Bessermacher zehn Besserwisser kommen.
Ich füge hinzu: Wenn wir heute eine Debatte haben über Gut und Böse, moralisch und unmoralisch, Putin-Freund oder Kriegshetzer, so dient das der politischen Kultur nicht, auch nicht, wenn Journalisten und Wissenschaftler Kombattanten in den Social Media werden. Jürgen Habermas hat völlig recht: Schwarz-weiß ist keine gute Basis, um in unserer Gesellschaft eine neue sicherheitspolitische Grundsatzdebatte zu führen.
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Gar keine Basis dafür ist dieser gefährliche AfD-Antrag, den wir selbstverständlich ablehnen.
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Wir brauchen nämlich mehr Europa und nicht weniger. Nationalismus brauchen wir so nötig wie einen Kropf, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Es ist ja schwer, zu AfD-Anträgen zu reden, weil da meist nur Unsinn drinsteht.
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Aber gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Die Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein haben am letzten Sonntag – bei all dem, was mir an dem Ergebnis weniger gefällt – einen beachtlichen Beitrag zur Sicherheit und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung geleistet: Sie haben Ihre Kameraden von rechts außen aus dem Landtag entfernt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Mögen NRW und andere Länder folgen und die Rechtsradikalen auch aus diesem Haus der Demokratie endlich wieder verschwinden! Dann wird Deutschland sicherer sein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stegner. – Es war historisch, weil wir beide über zehn Jahre das Vergnügen im Schleswig-Holsteinischen Landtag miteinander hatten. Deshalb war das heute historisch.
Herr Kollege Brandner hat um eine Kurzintervention gebeten, die ich zulasse.
Meine Befürchtung, dass der Auftritt des Herrn Stegner eher hysterisch als historisch wird, hat sich letztendlich bewahrheitet. Herr Stegner, ich muss sagen: Bisher kannte ich Ihre faktenfreien Hass- und Hetztiraden eigentlich nur von Twitter. Aber das, was Sie jetzt hier abgeliefert haben, hat das Ganze noch getoppt, wie man so schön sagt. Kein Wort zu unserem Antrag, nur blanke Polemik! So können Sie vielleicht in Ihrer SPD-Ortsgruppe miteinander umgehen und die Leute beschimpfen, aber nicht hier im Deutschen Bundestag.
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Ich glaube, Sie sind weder intellektuell noch politisch bisher hier im Deutschen Bundestag angekommen. Aber das ist jetzt eine lässliche Sünde. Ich meine, das habe ich vorher auch schon gewusst.
Ich will mich auf eine Äußerung beziehen, die Sie gemacht haben und die wahrscheinlich jetzt gleich massiv mit Fakten unterlegt wird, nämlich meine Partei oder meine Fraktion würde „mit Rubel bezahlt“. Herr Stegner, können Sie die exakten Zahlungsflüsse von Rubel an meine Partei hier kurz skizzieren?
Danke schön.
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Frau Kollegin Brugger, Sie sind jetzt nicht dran, sondern der Kollege Stegner hat die Gelegenheit, zu antworten.
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Herr Präsident! Die Zwischenintervention hat sehr deutlich gemacht, dass der Geist tatsächlich links steht. Das wusste ich auch vorher schon, aber das haben Sie noch einmal ausdrücklich bewiesen.
Ich will daran erinnern, wenn Sie sich hier dagegen wehren, dass gestern Abend hier in diesem Hause ein Vertreter Ihrer Fraktion sich auf die Sportpalast-Rede von Goebbels bezogen hat.
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Der Kollege Weingarten hat das zu Recht in die Ecke eingeordnet, wo es hingehört und wo Ihre Vorgänger sind.
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Was in der Tat so ist und was ich auch als ein Problem für unsere Sicherheit ansehe, ist, dass es russische Quellen gibt, die rechtsextreme Arbeit unterstützen, zum Beispiel die Arbeit Ihrer Parteijugend, die zu Recht übrigens vom Verfassungsschutz überwacht wird, weil es nämlich rechtsradikal ist, was die Leute dort tun.
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Insofern kann ich nur sagen: Wie das genau abgewickelt wird, darum habe ich mich, ehrlich gesagt, nicht gekümmert. Das ist, glaube ich, auch nicht der Punkt.
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Fakt ist – –
Herr Kollege Brandner, für den Ausdruck „Sie sind ein Lügner“ erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf,
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und ansonsten ist der Kollege Stegner mit der Antwort noch nicht ganz fertig.
Fakt ist, dass jeder Auftritt hier beweist, dass die demokratischen Parteien aus Ihrer Richtung keinerlei Hinweise auf deutsche Sicherheit brauchen. Die sind so unnötig wie ein Kropf.
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So, damit ist das jetzt auch geklärt oder nicht geklärt.
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Als nächster Redner hat der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich appelliere an uns und bitte darum, dass die nächsten Rednerinnen und Redner sich dem Thema widmen. Wir haben ganz viele Zuschauerinnen und Zuschauer.
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– Das ist falscher Beifall von der falschen Seite.
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Wir sollten uns über die Zukunft unseres Landes unterhalten. Den Antrag der Antragsteller, um das gleich vorweg zu sagen, lehnen wir ab, weil sie Multilateralismus schlichtweg ablehnen, die Vernetzung unseres Landes, die unbedingt notwendig ist, als zu kompliziert bezeichnen. Damit ist das für uns kein Beratungsgegenstand.
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Lieber Herr Kollege Stegner, ich habe mir erhofft, dass Sie die Gelegenheit nutzen und in Ihrem Redebeitrag aus der Sicht der Sozialdemokratie darstellen, wie die Sozialdemokratie die nationale Sicherheitsstrategie sieht. Wenn Sie schon Helmut Schmidt und Willy Brandt ins Feld führen und die Entspannungspolitik ansprechen, dann führe ich ins Feld, dass es unter diesen beiden Bundeskanzlern nicht den 2‑Prozent-Anteil gab, sondern unter Willy Brandt 3,4 Prozent und unter Helmut Schmidt 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgegeben wurden. Nehmen Sie sich das als Vorbild! 2 Prozent schaffen Sie ja schon nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Union sind der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie das Thema „nationale Sicherheitsstrategie“ auf die Tagesordnung setzt. Wir sind nicht nur deshalb dankbar, weil es bei uns im Wahlprogramm stand, sondern auch deshalb, weil wir mit Blick auf unsere Bevölkerung, eine alternde Gesellschaft, und auf die Herausforderungen durch den Klimawandel, durch Dürren und Katastrophen, durch Migration und extreme Sicherheitsbedrohung durch den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands vor Aufgaben stehen, die wir nicht mehr mit dem Tagesgeschäft bewältigen können.
Wenn wir dann die knappen Ressourcen, die Deutschland hat, ohne Maß und ohne Ziel, einfach fallweise ausgeben oder verwenden, dann wäre das eine große Fehlinvestition. Wir erleben das gerade auch in der Debatte über die 100 Milliarden Euro und das 2‑Prozent-Ziel.
Aber das Thema „nationale Sicherheitsstrategie“ ist mehr. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie den Bundestag hier intensiv einbindet. Denn das oberste Ziel in der Verantwortung des Staates ist der Schutz unserer Bevölkerung vor äußerer Gefahr, vor inneren Gefahren, vor Bedrohungen, vor Pandemien und vielem mehr. Das ist der eigentliche Staatszweck. Das ist der Grund, warum sich Völker Staaten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Parlamente gegeben haben.
Wenn wir nun in einer alternden Gesellschaft sind, werden wir in einer ganz großen Ressourcenkonkurrenz sein. Dann wird es um die Frage gehen: Wo setzen wir die knappen Mittel ein? Deshalb brauchen wir eine nationale Sicherheitsstrategie, die Prioritäten beschreibt und daraus auch Fähigkeiten ableitet: Was wollen wir in welcher Weise erreichen?
Wir als Union sind bereit, die Regierung hier zu unterstützen. Ich bin froh, dass es ein Prozess ist, der die Bevölkerung, die Thinktanks, das Parlament, Institutionen und ausländische Partner breit einbindet. Aber wir sollten wenigstens vier Punkte betrachten, die unbedingt eingebaut werden müssen.
Das Erste ist der Schutz unserer Bevölkerung. Wenn wir Sicherheit breit definieren, geht es um soziale Sicherheit, um äußere und innere Sicherheit sowie wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Das alles muss natürlich auf der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit aufbauen, damit wir die Gelder haben für innere, äußere und soziale Sicherheit. Dabei stehen wir in einer internationalen Konkurrenz, wo wir uns Partner und Wertschöpfungsketten suchen müssen, die uns nicht erpressbar machen – ich blicke auf China.
Zweitens brauchen wir eine Bundeswehr, die das außenpolitische Handeln unseres Landes verlässlich als Instrument von Smart und Hard Power unterstreicht.
Drittens brauchen wir eine strategische Kultur, die aus den abzuleitenden Fähigkeiten und den notwendigen Priorisierungen das ermöglicht, was die Außenministerin als „Diplomatie und Härte“ bezeichnet.
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Wir haben uns zu lange, gleich unter welcher Regierung, mit dem Narrativ beschäftigt, wir seien von Freunden und Partnern umgeben, und mit dem Narrativ – das klang leider an, Herr Stegner – „Wandel durch Handel, Wandel durch Annäherung, Wandel durch Verflechtung“. Wer sich in den letzten 20, 30 Jahren geändert hat, ist nicht Russland, sondern das sind wir. Wir haben uns durch billige Energie aus Russland, durch vergleichsweise günstigen Schutz aus den USA und durch billige Wertschöpfungsketten aus China abhängig gemacht. So wird es nicht weitergehen, weil wir in einer systemischen Konkurrenz mit China und Russland sein werden und die afrikanischen Staaten sehr genau schauen werden: Helfen wir der Ukraine? Helfen wir ihr, dass sie Teil der rechtsstaatlichen Ordnung wird, dass sie Teil der Europäischen Union wird, einer Friedensordnung? Oder lassen wir sie durch Zögern und Zaudern in ein Chaos stürzen, aus dem sie nicht mehr herauskommt? – Warum sollten sich afrikanische Staaten an die Seite der EU stellen und unsere regelbasierte internationale Ordnung verteidigen, wenn wir, wenn es darauf ankommt, nicht in der Lage sind, die Werte mit ihnen gemeinsam zu schützen und, wenn es sein muss, auch zu verteidigen?
Deshalb lassen Sie mich abschließend sehr deutlich einen Appell richten: Nutzen wir die nächsten Redebeiträge, aber auch die nächsten Debatten über die nationale Sicherheitsstrategie dafür, dass wir eine strategische Kultur in Deutschland entwickeln, beispielsweise jedes Jahr eine „Woche der Sicherheit“, wie wir auch eine Haushaltswoche haben, beispielsweise eine Evaluierung unseres außenpolitischen Handelns, das die Bundesregierung vorstellt, aber auch mit einem aufgewerteten Bundessicherheitsrat, der als Entscheidungsvorbereitungs- und Koordinierungsgremium der Regierung hilft, Interessen zu formulieren und Positionen zu erarbeiten in EU, NATO, OSZE und den Vereinten Nationen.
In diesem Sinne werbe ich dafür, dass wir eine breite, inklusive Debatte führen. Wenn die Bundesregierung es wünscht, werden wir das als Union intensiv unterstützen. Ansonsten machen wir eigene Vorschläge.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Merle Spellerberg, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich dem Kollegen gerne in einem Punkt an und rede zur Sache.
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– Ja. – Der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine ist nicht nur ein Angriff auf das Leben und die Freiheit der Ukrainer/-innen, sondern auf Europa, die Demokratie und unsere Werte. Er hat bereits viele Menschen das Leben gekostet, ganze Städte zerstört, Tausende Menschen traumatisiert und gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.
Es ist verständlich, dass es auch in Deutschland ein großes Bedürfnis gibt, jetzt über Sicherheit zu reden – eben nicht nur global, sondern auch über die Sicherheit der Menschen hier, über ihre eigene. Wir sehen, dass unsere europäische, aber auch die internationale Sicherheitsordnung gerade systematisch angegriffen werden. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie gehen wir damit um, wenn es keinen Verlass mehr darauf gibt, dass die grundlegendsten Regeln – Grundlagen wie die Charta der Vereinten Nationen – auch nur ansatzweise eingehalten werden?
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Der jetzige Krieg in der Ukraine verdeutlicht, was uns auch schon zum Beispiel Afghanistan schmerzlich gezeigt hat: Sicherheitspolitik kann nicht in Silos gedacht werden. Sie besteht aus vielen Teilen:
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aus Friedenspolitik, aus Diplomatie, auch aus militärischer Verteidigung, aus Zivilschutz, Energie-, Cybersicherheit und auch aus Entwicklungszusammenarbeit.
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Das ist natürlich nicht einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es braucht Absprachen – können Sie einfach mal Ihren Mund halten, bitte? –,
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und es braucht Vertrauen. Wenn wir Sicherheit nicht so komplex denken, wie sie ist, dann tun wir niemandem einen Gefallen, nicht uns und nicht unseren Partnerinnen und Partnern.
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Hier können wir Verantwortung übernehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. Dass unsere Außenministerin das erkannt hat und jetzt in einer nationalen Sicherheitsstrategie zusammenfließen lässt, ist ein großer Erfolg. Wir brauchen eine leitende Strategie für die nächsten Jahre, eine Strategie, die Deutschland fest im Netzwerk unserer internationalen Partner/-innen verortet, die sowohl Sicherheits- als auch Friedensstrategie ist.
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Frau Kollegin, einen ganz kleinen Moment. – Herr Kollege Brandner, bei allem Respekt, die Geschäftsordnung möchte gerne intelligente Zwischenrufe.
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– Ich sage ja: intelligente Zwischenrufe. – Eine Rednerin in einer Rede nur stören zu wollen, ist einfach nur stillos. Bitte halten Sie sich ein bisschen zurück.
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Eine Sicherheits- und Friedensstrategie, die eine Analyse davon ist, wer wir sind und welche Rolle wir in der Welt spielen. Diese Strategie ist auch eine Chance, regelmäßig zu reflektieren, gemeinsam zu reflektieren, gerade auch darüber, was Sicherheit bedeutet und wer das Wir ist, von dem in einer nationalen Sicherheitsstrategie gesprochen wird.
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Ich verstehe es zutiefst, wenn man im Angesicht von militärischer Gewalt, so wie sie gerade die Ukrainer/-innen erleben, wie sie Menschen weltweit erleben, bei Sicherheit zuerst an militärische Aspekte denkt. Deswegen diskutieren wir hier im Hause eben auch über Waffenlieferungen, über die Aspekte der Bundeswehr und ihrer Ausstattung. Aber wenn man für Sicherheit immer nur einen Hammer hat, dann sieht man auch überall nur einen Nagel.
Lassen Sie uns also wegkommen von dem reinen militärischen Denken von Sicherheit, von Sicherheit nur als Waffen, von Sicherheit nur als Abwehr von Angriffen; denn Sicherheit kann nicht ohne Frieden, ohne Demokratie, ohne Freiheit gedacht werden. Denn was Sicherheit am Ende heißt, ist, frei von Sorge zu sein, frei von Sorge, Gewalt und Krieg zu erfahren, aber auch frei von der Sorge, dass die Lebensgrundlage wegen Fluten oder Dürren bedroht wird, frei von Sorge, dass man für sein Aussehen, seine Meinung, sein Geschlecht oder seine Sexualität verfolgt wird. Sicherheit bedeutet, in Frieden zu leben.
({1})
Deshalb braucht es neben militärischer Sicherheit auch zivile Krisenprävention: den Kampf gegen die Klimakrise, Abrüstung,
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Energiesicherheit. Auch die müssen hier eine Rolle spielen, sonst sitzen wir nämlich in einem Jahr oder in zwei Jahren wieder hier in einer neuen Krise und suchen neue Antworten.
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Die Außenministerin hat deutlich gemacht, dass auch sie Sicherheit komplex versteht – nicht nur in der Rede zur Sicherheitsstrategie im Auswärtigen Amt, sondern auch in den Reden zu Mali, zur Ukraine, zu feministischer Außenpolitik.
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Darüber bin ich sehr froh.
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Denn wer Sicherheit definiert, hat einen enorm starken Einfluss darauf, wer wahrgenommen wird und wessen Stimme gehört wird. Deswegen bin ich froh, dass der rechte Rand da zum Glück nichts zu sagen hat.
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Ich möchte gerne noch mal darauf eingehen, an wen wir denken, wenn es um „uns“, um „wir“ geht. Denn ich möchte nicht, dass wir dabei nur an das staatliche Konstrukt denken, dass wir nur in nationalen Strukturen denken. Ich möchte, dass wir an die Sicherheit von Menschen denken, und zwar an die Sicherheit der Menschen nicht nur im Wahlkreis in Dresden und Bautzen, sondern auch an die Sicherheit der jungen Frauen in Afghanistan, der indigenen Aktivistinnen und Aktivisten in Mexiko, die für den Erhalt ihrer Lebensgrundlage kämpfen. Lassen Sie mich gerne erklären, warum.
Wenn wir die Sicherheit von Menschen in den Vordergrund ziehen, beschäftigen wir uns automatisch mit den Ursachen von Gefahren. Dann sprechen wir automatisch über Prävention. Nur wenn es uns gelingt, dass wir alle mitdenken, schaffen wir nachhaltige Sicherheit. Wir müssen uns auch hier ehrlich machen und reflektieren, wo wir mit unserem Verhalten zur Unsicherheit von anderen Menschen beitragen.
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Dafür haben wir den richtigen Rahmen, die richtigen Instrumente, um so über Sicherheit zu sprechen. Wir sprechen in den letzten Wochen hier im Hause sowohl über Energiesouveränität als auch über die Ausstattung der Bundeswehr. Wir haben im Koalitionsvertrag –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– eine feministische Außenpolitik vereinbart,
({0})
die eben genau das schafft: die Stimmen von Frauen, von marginalisierten Gruppen, die Stimmen vor Ort zu hören und ihnen Gehör zu verschaffen.
Frau Kollegin, folgen Sie doch bitte meiner Bitte, und kommen Sie zum Schluss.
Sicherheit ist komplex, und unser Verständnis, unsere Instrumente können deshalb nicht eindimensional sein.
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Ich will, dass wir all das in die Strategie – –
Frau Kollegin, bedauerlicherweise muss ich Ihnen jetzt das Wort entziehen. Sie sind 40 Sekunden über der Redezeit. Nach zweimaliger Bitte bitte ich Sie jetzt, das Pult zu verlassen.
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Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke.
({1})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über einen Antrag der AfD nicht nur über eine nationale Sicherheitsstrategie, sondern auch über Strukturen zur Etablierung eines nationalen Sicherheitsrates. Dieser Antrag zielt wie vieles andere von der AfD darauf ab, dass die Strukturen in der Außen- und Sicherheitspolitik zentralistischer, undemokratischer, nationalistischer und militaristischer werden. Das lehnen wir als Linke hier ab.
({0})
Zentralistischer deshalb, weil Sie einen nationalen Sicherheitsberater mit Stab usw. beim Bundeskanzleramt ansiedeln wollen. Damit wird die Struktur natürlich ähnlich wie in Frankreich – das ist ja Ihr Vorbild – zentralistischer.
Undemokratischer deshalb, weil die von Ihnen geforderte parlamentarische Kontrolle aller Wahrscheinlichkeit nach völlig unzureichend sein wird.
Nationalistischer deshalb – das ist hier schon angesprochen worden –, weil Sie das deutsche Interesse als Gegensatz zum Multilateralismus setzen. Dabei kritisiere ich natürlich auch die Art und Weise des Multilateralismus der Bundesregierung, weil die Welt größer ist als nur die NATO und ihre Verbündeten.
({1})
Aber Sie wollen ein nationalistisches Konzept.
Militaristischer deshalb, weil auch Sie für Aufrüstung stehen.
All das lehnen wir als Linke sehr deutlich ab.
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Wenn man sich mal eine wichtige außen- und sicherheitspolitische Entscheidung der letzten Wochen genauer anschaut, nämlich die Entscheidung, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, dann muss man feststellen, dass die Entscheidung faktisch auf einer Konferenz in Ramstein getroffen wurde, drei Tage nachdem Olaf Scholz sich sehr kritisch dazu geäußert hat. Wenn dann die SPD-Vorsitzende nachher sagt, Scholz habe ja beim „Spiegel“-Interview nicht wissen können, was drei Tage später in Ramstein bekannt gegeben wurde, dann ist das natürlich ein demokratiepolitisches Problem. Aber das wird man nicht durch die von der AfD geforderten Zentralisierungsstrukturen lösen können.
Frau Spellerberg, Sie haben eben für Abrüstung gesprochen. – Ich spreche zu Ihnen, Frau Spellerberg.
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– Entschuldigung, ich reagiere auf die Rede, die eben hier gehalten wurde. – Sie sprechen von Abrüstung, und ich möchte daran erinnern, dass die Bundesregierung ein massives Aufrüstungsprogramm beschlossen hat. Das lehnen wir als Linke ab.
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In dem Antrag der AfD sucht man die Begriffe „Diplomatie“, „Verhandlungen“ oder auch „Frieden“ vergeblich. Ich denke, wir sollten vielmehr zum Beispiel darüber diskutieren, wie die OSZE jetzt in diesem aktuellen furchtbaren Krieg Russlands gegen die Ukraine eine entscheidende Rolle spielen kann. Das wäre eine Zielrichtung. Aber ich glaube, dieser Antrag ist nicht zielführend.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie am Freitagmittag.
Ich habe eben einige Bemerkungen nicht ganz einordnen können. Das müssten wir vielleicht noch hinterher klären.
Als Nächstes erhält jetzt erst mal das Wort der Kollege von der FDP, Peter Heidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Antrag der AfD ist inhaltlich schwach, widersprüchlich, rückwärtsgewandt und ist mit dem gewohnten nationalistischen Unterton versehen.
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Nicht ein einziges Mal habe ich in dem Antrag „EU“, „Vereinte Nationen“ oder „NATO“ gelesen. Am Anfang kritisieren Sie einen ressortübergreifenden Ansatz, und am Ende fordern Sie einen ressortübergreifenden Ansatz. Wahrscheinlich hat die erste Seite der Müller geschrieben, die zweite Seite der Meier – keine Ahnung, aber das ist nur noch grotesk.
Als Antwort auf die wachsenden Herausforderungen einer veränderten Weltordnung fordern ausgerechnet Sie eine ideologiefreie Strategie, die allein deutsche Interessen formuliert. Die AfD ist es doch, die sich ideologisch und programmatisch in den europäischen Rechtspopulismus einreiht.
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Sie haben noch immer nicht begriffen, dass wir in einer vernetzten Welt leben und die globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen nur gemeinsam lösen können.
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Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine bedeutet eine geopolitische Zäsur mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die europäische Sicherheit. Es ist naiv, zu glauben, dass alles gut wird, wenn wir uns nur raushalten. Der AfD-Abgeordnete Gauland erklärte im Bundestag, nur ein Kompromiss könne den Krieg beenden; zu welchem Preis für Kiew, hat er nicht gesagt. Ein Kompromiss ist unmöglich, wenn die eine Seite sich die Vernichtung der anderen Seite zum Ziel gesetzt hat. Wie hätte ein Kompromiss zwischen Polen und Deutschland aussehen können, nachdem die Nazis in Polen eingefallen sind? Die Vorstellung, man müsse sich einfach nur ergeben und alles wird gut, ist Wunschdenken. Das Gegenteil ist der Fall. Außerdem würde die russische Gewalt gegen die Menschen in der Ukraine nicht aufhören, wenn sie sich ergeben würden. Butscha ist dafür exemplarisch der Beweis.
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Nur eine militärisch starke Position wird die Ukraine in eine Verhandlungsposition bringen, in der ihr angesichts Russlands unmenschlicher Gewalt kein Nachgeben droht. Abgesehen davon, dass es nach meiner Auffassung eine moralische Verpflichtung ist, die Ukraine zu unterstützen, hat Putin bereits angekündigt, dass er Russland in der alten Größe wiederherstellen will.
Dass sich jetzt die AfD als eine Friedenspartei inszeniert, täuscht nicht darüber hinweg, dass sie alles andere als eine pazifistische Partei ist. Natürlich geht es gegen die USA, für Russland. Auch wenn man AfD und Linke zunächst einmal als etwas Unterschiedliches ansieht: Auf diese Position können sie sich immer einigen. Sie verlieren sich beide in ihrer kruden Russlandliebe. Hier bestätigt sich wieder einmal die Hufeisentheorie von Hannah Arendt.
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Ihre Verurteilung des russischen Angriffs ist halbherzig. Ihre ganzen Anträge in diesem Parlament zeigen, dass Sie das Gegenteil dessen wollen, was Sie behaupten. Sie sind tatsächlich die fünfte Kolonne Russlands.
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Völlig undifferenziert wird teilweise russische Propaganda zum Besten gegeben. Der AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Dornau postete in sozialen Medien: „Die Ukraine wird entnazifiziert!“ Ihre Haltung ist für mich blanker Zynismus.
Die Ampelkoalition hat in den letzten Wochen gezeigt, wie man auf einen solchen Angriff reagieren kann. Im Verbund mit unseren Partnern haben wir gemeinsam Hilfe beschlossen. Wir haben Sanktionen beschlossen. Wir liefern gemeinsam Waffen. Wir bilden gemeinsam aus und leisten humanitäre Hilfe. Die Tatsache, dass Finnland jetzt NATO-Mitglied werden will, zeigt, wie richtig unser Handeln ist und wie attraktiv die NATO ist. Voraussetzung für unsere Sicherheit ist, dass alle Staaten der Europäischen Union zusammenhalten und dass wir mit der NATO ein starkes Bündnis kriegen.
Die Bundesregierung hat, wie schon im Koalitionsvertrag angekündigt und von der FDP bereits 2020 gefordert, eine nationale Sicherheitsstrategie in Angriff genommen. Es wird die erste nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland sein. Wir definieren Interessen, natürlich auch deutsche Interessen, aber es geht um die Wehrfähigkeit Deutschlands und die Anerkennung militärischer Macht als eines wichtigen Ordnungsfaktors in der internationalen Arena und einer entscheidenden Stütze von Diplomatie. Wir brauchen sie als Rüstzeug zur Orientierung in der Welt, wie sie nun einmal ist. Wir brauchen sie zur Verständigung über reale Bedrohungen mit unseren wichtigsten internationalen Partnern in der EU und in der NATO.
Ich habe an der Auftaktveranstaltung im Außenministerium teilgenommen. Die Außenministerin Annalena Baerbock hat dort ganz klar eine nationale Sicherheitsstrategie skizziert. Auf dieser Basis arbeitet jetzt die Ampelkoalition an einer konkreten Ausformulierung. Kollege Kiesewetter, wir sind bereit, Ihre Anregungen aufzunehmen, und wir können sehr offen über alle Forderungen diskutieren.
Statt also, wie Sie von der AfD es tun, den Multilateralismus zu verunglimpfen, müssen wir – im Gegenteil – daran arbeiten, ihn zu stärken und zu verbessern. Deutschland ist ein Nutznießer einer regelbasierten, liberalen Weltordnung. Gerade deshalb muss Deutschland Verantwortung übernehmen und eine Vorreiterrolle bei der Einhaltung internationaler Verträge und der Menschenrechte einnehmen. Wir werden in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik Partnerschaften vertiefen, neue begründen und unsere Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verteidigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Nationalismus war das große Übel des 20. Jahrhunderts. Wir wissen, wo das hingeführt hat. Deshalb wissen wir auch, dass Nationalismus heute keine Antwort mehr sein kann.
Vielen Dank.
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Als Nächstes erhält das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Arlt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Kollegin Spellerberg, bevor ich in meine Rede einsteige, für ihre engagierte Rede danken. Was die AfD-Fraktion hier gemacht hat, wie sie sie gestört hat, versucht hat, sie an der Wahrnehmung ihres Rederechts zu hindern, war unterirdisch. So sollten wir in diesem Hohen Haus nicht miteinander diskutieren!
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Nun aber zum Antrag. Wir brauchen eine umfassende Strategie zum Schutz unserer Bürger im Ausland und im Inland, eine Strategie, die die Rolle von Deutschland in der Welt beschreibt. Darin sind wir uns alle einig. Wirklich Zählbares – inhaltlich, im qualitativen Sinne – enthält der Antrag der AfD-Fraktion dazu leider nicht. Denn Sie machen nicht, was wir von einer seriösen Oppositionspartei eigentlich erwarten dürften: Sie bieten keine Lösung an, sondern verbinden nur bekannte AfD-Narrative.
Das Gute an Ihrem Antrag ist, dass ich die Gelegenheit habe, jetzt darzustellen, wie Aspekte einer solchen Sicherheitsstrategie aussehen könnten, und durch die verteidigungspolitische Brille vielleicht auch einen Ansatz für eine Lösung einiger Fragen anbieten kann.
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Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Situation in Europa: die Bedrohung demokratischer und liberaler Werte, eine immer offener ausgetragene Systemkonkurrenz zwischen demokratischen und autokratischen Systemen. Dies stellt erhöhte Anforderungen an unsere Entscheidungsqualität und an das Entscheidungstempo. Dazu kommen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und demografischer Wandel.
Wozu brauchen wir also eine nationale Sicherheitsstrategie? Eine gute Sicherheitsstrategie ist ein Kompass in unsicheren Zeiten, und zwar nach innen und nach außen. Sie erklärt und bestimmt unseren Standpunkt, ohne Panik zu machen, erklärt Grundannahmen für Bürger und Alliierte in einfacher Weise, den Sinn und den Zweck von Streitkräften, unseren Blick auf die Welt, legt Kriterien für ein sicherheitspolitisches Engagement außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen fest, aber auch für unsere Sicherheit nach innen. Wichtige Fragen können also sein: Welche Bedeutung haben die Sicherheit und die Gesundheit unserer Bürger in Krise und Krieg, und wie stellen wir das sicher? Wie wollen wir das erreichen? Es geht also um einen langfristigen strategischen Ansatz.
Was muss eine Sicherheitsstrategie als Kompass leisten? Viele Kollegen haben es erwähnt: Wir müssen das ganzheitlich denken. Wolfgang Ischinger hat im letzten Jahr gesagt, er würde die Energie- und die Gesundheitspolitik in eine solche Strategie inkludieren. Aber auch die Bemerkung von Kollegen Kiesewetter, dass wir Finanzpolitik, Sozial- und Wirtschaftspolitik integrieren und inkludieren müssen, ist richtig. Dokumente wie die Leitlinie zur Krisenprävention, das Weißbuch und die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung müssen im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung in dieser Strategie zusammengeführt werden. Es geht um nicht weniger als ein Fundament und die Vorstellung einer deutschen Sicherheitsarchitektur in Europa. Alle Dimensionen von Sicherheit müssen zusammengedacht werden, und zwar über die Amtsperiode einer Regierung oder eine Wahlperiode hinaus und mit einem größtmöglichen politischen Konsens in diesem Haus.
Wie können also nationale Ziele in einer solchen Sicherheitsstrategie aussehen? Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir den Mut haben, diese Ziele zu benennen und selbst zu erkennen, um Profil und Grenzen unseres Handelns zu definieren, um Herausforderungen in einem geeinten Europa zu bewältigen.
Ziele könnten sein: Schutz von Leben, Sicherheit und Gesundheit der Einwohner Deutschlands, Verteidigung der territorialen Integrität, Souveränität und Selbstbestimmung unter allen Umständen, aber auch der Versorgungssicherheit, der Schutz gesellschaftskritischer Funktionen, die Aufrechterhaltung unserer demokratischen Ordnung, des Rechtsstaates, der Grund- und der Menschenrechte. Nicht zuletzt geht es darum, Stabilität und Sicherheit in Europa mit unseren Partnern zu organisieren und zu garantieren.
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Wie könnten verteidigungspolitische Elemente einer Sicherheitsvorsorge in einer nationalen Sicherheitsstrategie aussehen? Wir müssen mehr Europa wagen. Wir brauchen konkrete Maßnahmen zum Ausbau einer engeren europäischen Zusammenarbeit unter Rückstellung nationaler Egoismen im Bereich der GSVP. Wir brauchen vermehrte gemeinsame Rüstungsprojekte über den European Defence Fund,
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smarte Beschaffung, gemeinsame Bestellungen mit Pooling sowie mittelfristig eine gemeinsame europäische Rüstungsexportstrategie. Nur sie kann zum Ziel führen, dass wir die Verteidigung Europas im Geiste des Vertrages von Lissabon organisieren.
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Wir müssen mehr gesellschaftliche Verantwortung und Verankerung wagen. Der Bundeskanzler hat heute Morgen im Verteidigungsausschuss dargestellt, wie die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger ihr Land verteidigen. Sie schaffen das natürlich nur mit Hilfe von außen. Aber sie haben auch einen entsprechenden Verteidigungswillen. Und einen solchen Verteidigungswillen müssen wir auch in unserem Land noch stärker verankern.
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Wir brauchen ein integriertes System der Gesamtverteidigung über alle Ebenen und mit klarer Kompetenzverteilung, das Katastrophenschutz und Zivilverteidigung über alle Politikfelder – von Bildungspolitik bis zu Kommunikation und Schutzbauten – wie in einem Ikea-Bausatz integriert, und die Einbeziehung der Rolle der Wirtschaft, der Rolle gesellschaftlicher Organisationen und der Zivilgesellschaft in diese Prozesse. Wir müssen auch darüber nachdenken, in welcher Organisationsform wir das dann machen wollen.
Wir müssen mehr Innovation wagen. Wir müssen wegkommen von unbeweglichen, verinstitutionalisierten komplexen Systemlandschaften, hin zu agilen und krisentauglichen Strukturen
({6})
mit der Fähigkeit, sich schnell anzupassen und destruktive Technologien in unsere Streitkräfte zu integrieren. Militärische Entwicklung darf da auch Technologietreiber sein.
Es bleibt festzustellen: Für ein nationales Sicherheitskonzept benötigte konkrete Antworten oder zumindest Ideen gibt Ihr Antrag nicht her. Die Debatte um einen Sicherheitsrat als zentrales Steuerelement wird Teil dieser Sicherheitsstrategie sein.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ja. – Aber eine Strukturdebatte kann eine Diskussion über Ziele und Mittel nicht ersetzen.
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Ich wünsche mir für die Debatte, dass wir auf unsere Nachbarländer schauen, ein kompaktes Dokument in klarer Sprache formulieren, damit wirklich jede und jeder unseren Kompass, unseren strategischen Ansatz versteht. Ein Blick auf die Strategie Dänemarks und Schwedens gäbe da einen guten Hinweis.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als letzter Redner in dieser Debatte erhält das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Volker Ullrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, über eine nationale Gesamtstrategie im Bereich der Sicherheitspolitik zu sprechen. Aber wenn wir über Ihren Antrag diskutieren, dann verläuft die Trennlinie in diesem Hohen Haus zwischen Ihnen und uns, vor allem deswegen, weil in Ihrem Antrag entlarvende Sprachbilder vorhanden sind.
({0})
Ich will Ihnen das vor Augen führen. Sie sprechen – ich zitiere – vom Krieg „in der Ukraine“. Ich glaube, so sollten wir nicht sprechen. Es ist ein Angriffskrieg auf die Ukraine.
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Sie sprechen von einer – ich zitiere weiter – „ideologiefreien Strategie“. Wenn man den Begriff der Ideologie heranzieht, dann muss man wissen, dass Ideologie „Ideenlehre“ oder „Weltanschauung“ bedeutet. Aber wenn es um Weltanschauungen geht, kann dieser Staat niemals neutral sein. Wir stehen auf der Seite von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, auch als Ordnungsprinzip internationaler Organisationen.
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Sie sprechen weiterhin davon – ich zitiere –, etwas könne nur „frei von der Einflussnahme anderer Staaten“ erfolgen. Auch das ist ein sehr irritierender Begriff. Wir wissen, dass unsere eigene Souveränität und das Wohlergehen unseres Landes und der Bevölkerung davon abhängig sind, dass wir in internationalen Organisationen integriert sind und mit unseren Nachbarn gut zusammenarbeiten. Wir können nicht „frei von der Einflussnahme“ sein, sondern wir wollen gemeinsam unsere Ideen voranbringen. Wir wollen die Einbindung in EU, NATO und OSZE. Es geht darum, dass wir die internationale Ordnung stärken, für das Völkerrecht eintreten sowie Frieden und Freiheit gemeinsam sichern. Das geht nicht, indem wir uns von anderen abgrenzen, sondern nur, indem wir unsere Stärken gemeinsam bündeln. Das unterscheidet uns fundamental von Ihnen.
({3})
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, können im Großen und Ganzen unter der Überschrift „Welche Art von Ordnung wird das 21. Jahrhundert bestimmen?“ zusammengefasst werden. Sind das Staaten und Staatenverbünde, die sich auf das Völkerrecht, auf Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte stützen, oder wollen Sie, dass die autoritäre Herrschaft letztlich die Oberhand gewinnt?
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Darum geht es übrigens auch in der Ukraine. Es geht um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Die Bilder des Maidan und die Demokratiebewegung in der Ukraine sind der eigentliche Feind Russlands, der dort bekämpft wird. In der Ukraine wird auch Demokratie als Ordnungsprinzip bekämpft. Deswegen müssen wir auf der Seite der demokratischen Staaten stehen.
Die Frage, wie das in Zukunft weiter diskutiert wird, muss uns sehr stark beschäftigen. Wir haben beispielsweise die Einflusssphären von China und von Russland. Die Frage, welches Licht stärker leuchtet – Demokratie oder autoritäre Herrschaft –, wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen, und damit muss sich auch eine Sicherheitsstrategie deutlich auseinandersetzen.
Wir brauchen einen klaren Schwerpunkt auf der Frage der zukünftigen Versorgungssicherheit, auf Klimafragen, auf Krisenprävention, Demokratie und Menschenrechte, aber auch auf soziale Sicherheit als Ordnungsprinzip internationaler Beziehungen. Und deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung versucht, ihre Konzepte und Strategien stärker zu ordnen. Aber wichtig wird auch sein, das Parlament bei dieser Frage nicht außen vor zu lassen. Es muss durch die Ausschüsse – möglicherweise auch durch weitere Gremien – und durch intensive Debatten einbezogen werden; denn die Fragen, um die es hier geht, betreffen letztlich uns alle und geben die Richtung vor, in welcher Welt wir leben wollen. Ich glaube, das kann nur die Welt von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten sein.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Krisenmanagement steht aktuell im Fokus der Politik. Doch Krise darf nicht Stillstand bedeuten. Diese Koalition ist angetreten für mehr Fortschritt in diesem Land. Für uns heißt das auch: Wir wollen mehr sozialen Fortschritt erreichen.
({0})
Ein zentrales Vorhaben dabei ist die Einführung des Bürgergelds.
({1})
Mit dem Bürgergeld wollen wir einen Paradigmenwechsel in der Grundsicherung herbeiführen. Wir rücken die Menschen und ihre Potenziale klar in den Mittelpunkt durch den Vorrang der Weiterbildung, durch einen besseren Eingliederungsprozess und dadurch, dass wir den Menschen mehr Sicherheit geben. Wer die Grundsicherung braucht, kann sich sicher sein: Zwei Jahre lang sind die Wohnung und das Ersparte geschützt. Die Menschen sollen sich auf Arbeitssuche und Qualifizierung konzentrieren können. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur einige der Punkte, die wir im Rahmen der Einführung des Bürgergelds umsetzen wollen.
({2})
Das Bürgergeld ist eine komplexe Reform, die wir nicht auf einen Schlag umsetzen, sondern verteilt auf verschiedene Etappen.
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Ein wichtiger Vorbereitungsschritt ist das sogenannte Sanktionsmoratorium, über das wir heute diskutieren. Wir wollen damit Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende befristet aussetzen. Das gilt bei Pflichtverletzungen, wenn also beispielsweise Arbeitsangebote abgelehnt oder Weiterbildungsmaßnahmen abgebrochen werden. Wer aber ohne wichtigen Grund nicht zu Terminen im Jobcenter erscheint, muss, wie bisher auch, damit rechnen, dass er weniger Leistungen bekommt. Denn eines ist klar: Ohne ein Gespräch mit dem Mitarbeiter des Jobcenters kann es keine Vermittlung in den Job geben. Das persönliche Gespräch mit den Menschen in den Jobcentern ist unerlässlich für eine gute Beratung und Integration.
Klar ist: Mitwirkung im Eingliederungsprozess ist für die allermeisten Menschen absolut selbstverständlich. Unsere Erfahrungen zeigen: Letztlich sind es nur sehr wenige, die sich dem verweigern. Das werden wir beim Bürgergeld berücksichtigen. Die Ausgestaltung des Moratoriums ist aber keine Vorfestlegung für das Bürgergeld. Mitwirkungspflichten wird es künftig weiter geben; das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart.
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Das entspricht auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019. Aber wir werden aufpassen, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Das Zauberwort lautet hier „Verhältnismäßigkeit“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Vertrauen wie möglich, so viel Verbindlichkeit wie nötig – das wird unser Anspruch beim Bürgergeld sein. Das Sanktionsmoratorium ist dafür ein erster Schritt und eine von insgesamt 33 Maßnahmen, deren Umsetzung uns der Koalitionsvertrag auferlegt. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Machen Sie sich bitte keine Sorgen, wenn mal Sekunden übrig bleiben. Wir freuen uns darüber. Das ist alles wunderbar. – Nächster Redner in dieser Debatte ist für die CDU/CSU- Fraktion der Kollege Kai Whittaker.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen, Kollegen! Es geschehen noch Zeichen und Wunder hier im Plenum. Vor zwei Wochen habe ich exakt an dieser Stelle kritisiert, dass Sie bisher noch nicht einmal Ihr so einfaches Gesetz für ein Sanktionsmoratorium vorgelegt haben, sodass man schon die Befürchtung haben musste, dass das Jahr schneller vorbei sein wird, als Sie mit diesem Gesetz hier um die Ecke kommen. Aber offensichtlich hat die Kritik Wirkung gezeigt; denn Sie legen heute Ihr Gesetz vor.
({0})
Es ist aber ein seltsames Pflaster, was Sie hier vorlegen. Ich möchte das an drei Punkten kritisieren. Es gibt einmal Meldeversäumnisse – das betrifft diejenigen, die nicht zum Termin erscheinen –, und dann gibt es Pflichtverletzungen; das betrifft diejenigen, die sich zum Beispiel hartnäckig weigern, eine zumutbare Arbeit zu machen. Was Sie mit diesem Gesetz vorsehen, ist, dass die Meldeversäumnisse weiterhin sanktioniert werden sollen, die Pflichtverletzungen aber nicht mehr. Auf Deutsch: Die Kleinen hängen Sie, und die Großen lassen Sie laufen. Das verstehe, wer will.
({1})
Ich weiß nicht, wie Sie einer Aldi-Kassiererin, die hart arbeitet, ihr Geld sauer verdient, Steuern zahlt, erklären wollen, dass mit ihrem Steuergeld solche Menschen subventioniert werden,
({2})
die sich hartnäckig der Solidargemeinschaft verweigern. Wir halten das für falsch.
({3})
Das zerstört das Vertrauen in den Sozialstaat.
Ganz ehrlich: Da verstehe ich auch die Grünen nicht. Sie haben uns acht Jahre lang hier – zum Teil zusammen mit den Linken – immer wieder gesagt: Sanktionen sind Drangsaliererei.
({4})
– Da klatschen Sie sogar noch. – Aber Sie beschließen hier ein Gesetz, mit dem Sie die Sanktionen nicht komplett abschaffen. 80 Prozent der Sanktionen werden ja beibehalten, weil sich 80 Prozent der Sanktionen auf Meldeversäumnisse beziehen. Da frage ich Sie: Was gilt denn jetzt? Sind Sanktionen schlecht, oder sind sie nicht schlecht? Wenn sie schlecht sind, dann hätten Sie sie komplett abschaffen müssen. Das tun Sie offensichtlich nicht.
({5})
Sie verheddern sich in Widersprüchen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
({6})
Dass Sie vielleicht nicht auf die Opposition hören wollen, ist zwar unverständlich, aber nachvollziehbar.
({7})
Aber dann hören Sie doch wenigstens auf den Chef der Bundesagentur für Arbeit, der wiederholt gesagt hat, dass Sanktionen notwendig sind, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Verweigern Sie sich doch nicht den Expertinnen und Experten der Bundesagentur für Arbeit.
({8})
Ein kleines Detail ist wirklich spannend. Bisher wollten Sie die Geltungsdauer dieses Gesetzes bis zum 31. Dezember 2022 begrenzen,
({9})
weil Sie ab dem 1. Januar 2023 das Bürgergeld einführen wollen. Jetzt reden Sie davon, dass die Geltungsdauer dieses Gesetzes zwölf Monate ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens betragen soll. Offensichtlich brauchen Sie also doch etwas mehr Zeit, um Ihre Megareform „Bürgergeld“ durchzuführen.
({10})
Das zeigt, dass Sie sich heillos verzetteln.
({11})
Da muss man schon fragen: Warum ist das so? Wir finden, dass Sie sich mit dem Thema Sanktionen viel zu stark beschäftigen. Das betrifft nämlich wirklich nur 3 Prozent, also 3 von 100 Leuten im SGB‑II-Bezug. Das ist eine absolute Minderheit.
({12})
Die wirklichen Probleme gehen Sie nicht an. Und Sanktionen sind keine Drangsaliererei; sie sind Alltag in unserem Leben. Wenn der Schüler seine Hausaufgaben nicht macht, dann gibt es eine Strafarbeit.
({13})
Wenn der Arbeitnehmer nicht zur Arbeit kommt, dann gibt es eine Abmahnung, bis hin zum Gehaltsverzicht.
({14})
Wenn Sie falsch parken, dann müssen Sie einen Strafzettel bezahlen. Warum soll es dann auf einmal Drangsaliererei sein, wenn ein Arbeitsloser seinen Pflichten nicht nachkommt? Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({15})
Kümmern Sie sich um die wahren Probleme! Es geht um Suchtprobleme, es geht um finanzielle Probleme, es geht um familiäre Probleme, die zusammen mit den Kommunen zu lösen sind. Da wäre das Geld besser eingesetzt.
Herzlichen Dank.
({16})
Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Andreas Audretsch für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
({0})
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Das sind die Maßgaben aus Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes.
({1})
Diese Artikel leiten uns in dem, was wir hier im Bundestag tun, und sie leiten uns vor allem auch in dem, was wir in der Sozialpolitik tun.
({2})
Warum erzähle ich Ihnen das? Ich möchte Ihnen erklären, warum wir Grünen ein ganz grundlegendes Problem mit Sanktionen in den existenzsichernden Sozialleistungen haben.
({3})
Jede einzelne Sanktion ist ein Eingriff in individuelle Grundrechte. Jede einzelne ausgesprochene Sanktion bedeutet eine Kürzung des Existenzminimums von Menschen. Wir als Grüne tun uns damit ausgesprochen schwer. Das war unsere Haltung, und das bleibt unsere Haltung.
({4})
Lassen Sie es mich plastisch machen: 150 Euro haben Menschen in der Grundsicherung für Nahrungsmittel und Getränke zur Verfügung. Das sind 5 Euro am Tag – 5 Euro für drei Mahlzeiten! Wenn Sie 30 Prozent davon abziehen, dann bleiben noch 3,50 Euro am Tag, um sich davon zu ernähren – für drei Mahlzeiten. Das ist schlicht und ergreifend zu wenig.
({5})
Es gibt einen zweiten Grund, warum wir Sanktionen äußerst kritisch sehen. Wir wollen, dass Menschen die Chance kriegen, in den Arbeitsmarkt einzusteigen; wir wollen, dass Menschen Chancen nutzen können. An der Stelle sind Sanktionen nicht hilfreich, in ganz vielen Fällen. Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, hat festgestellt, dass Menschen durch Sanktionen vor allem in prekäre Beschäftigung gedrängt werden, dass es an der Stelle nicht darum geht, Menschen in langfristige Beschäftigung zu bringen. Das ist ein weiterer Grund, warum wir sagen: Gerade in Zeiten, in denen in Deutschland Arbeitskräftemangel herrscht, müssen wir dafür sorgen, dass Menschen langfristig in gute Jobs kommen. Das hängt nicht mit Sanktionen zusammen, sondern damit, dass man Menschen Chancen gibt und mit ihnen daran arbeitet.
({6})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Kai Whittaker?
Nein. – Wir haben das Sanktionsmoratorium vorliegen, das wir heute beschließen werden. Das ist eine erste Etappe auf dem Weg zum neuen Bürgergeld; die Staatsekretärin hat es hier dargestellt. Zwölf Monate lang wird es nun für die meisten Menschen keine Sanktionen mehr geben; lediglich bei mehrfachen Terminversäumnissen kann eine Kürzung der Leistung um bis zu 10 Prozent als Sanktion verhängt werden. Das ist die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Ich bin mir sehr sicher, dass die Erfahrungen, die wir in diesen zwölf Monaten sammeln werden, für viele Menschen überraschend positiv sein werden. Genau diese zwölf Monate so zu nutzen, das sollten wir tun.
({0})
Gleichzeitig besteht unser Gesamtkonzept – so ist es im Koalitionsvertrag angelegt – aus einem Dreischritt: Wir setzen jetzt die Sanktionen aus, wir evaluieren, was da ist, und dann regeln wir neu. Das ist die Systematik, mit der wir arbeiten. Und das ist eine Systematik, die Sinn macht. An dieser Stelle ist völlig klar: Es wird Mitwirkungspflichten geben, selbstverständlich, und diese Mitwirkungspflichten werden auch zu Sanktionen führen. So ist das. So ist der Kompromiss. Wir Grünen haben an dieser Stelle einen Kompromiss gemacht; wir hätten das gerne anders geregelt. Aber so ist das in einer Demokratie, so ist das in einer Koalition, und selbstverständlich stehen wir zu genau diesem Kompromiss.
Aber das Bürgergeld wird einen anderen Geist haben. Das Bürgergeld wird so aufgebaut sein, dass wir Sanktionen nicht isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen, einem Mix aus Maßnahmen, mit der Möglichkeit, Dinge auszugleichen, der Möglichkeit, Menschen die Chance zu bieten, aus Sanktionen wieder herauszukommen. Es wird viel stärker um Kooperation gehen als um Konfrontation. Wir werden grundlegende Strukturreformen auf den Weg bringen, die diese Sanktionen rahmen werden, und insofern mit dem Bürgergeld einen völlig neuen Fokus setzen. Der Fokus wird nicht mehr auf den Sanktionen liegen, wie es bislang der Fall gewesen ist.
({1})
Ich komme zum Schluss. Wir beraten zurzeit das Bürgergeld. Wir sind auf einem guten Weg. Wir werden in der Ampel einen neuen Reformvorschlag vorlegen. Und wir sind uns sicher, dass wir das gemeinsam auf einen guten Weg bringen.
Danke schön.
({2})
Als nächster Redner erhält das Wort für die AfD-Fraktion der Abgeordnete Norbert Kleinwächter.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Kollege Audretsch, was die Koalition wirklich vorhat, haben Sie ja gestern an dieser Stelle, an diesem Pult, wörtlich ausgesprochen:
Wir ermöglichen Millionen von Menschen, wenn sie zu uns kommen, ganz direkt in unsere Sozialsysteme zu kommen.
Das haben Sie gesagt.
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Und wenn die Bundesregierung das als Selbstauftrag versteht, dann kann ich auch durchaus nachvollziehen, warum sie sämtliche Schutzmechanismen unserer Sozialleistungssysteme aushebelt.
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Die Ukrainer kommen direkt in Hartz IV,
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die Vermögensprüfung ist ja ausgesetzt – Frau Kramme hat es erwähnt –, und jetzt geht es eben auch den Sanktionen nach Verstößen an den Kragen.
Das bedeutet nach Ihren Vorstellungen ganz konkret: Einem Leistungsempfänger, der beispielsweise eine geeignete Stelle ablehnt, passiert genau nichts. Wenn er ein Bildungsangebot ablehnt, dann passiert ihm nichts. Wenn er Vermögen bewusst beiseitelegt und verschleiert, dann passiert ihm nichts. Ich muss Ihnen ganz offen sagen: Ich finde es nicht in Ordnung, wenn in diesem Fall nichts passiert. Das ist nicht in Ordnung.
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Und wenn ich mir dann anschaue, dass, wenn er einen Termin verschläft – Meldeversäumnis –, als Sanktion sein Hartz‑IV-Satz um 10 Prozent gekürzt wird, dann muss ich Ihnen sagen, Frau Kramme: Dann hat es Ihnen bei der Gesetzgebung ein bisschen das Maß verzogen; das ist nicht in Ordnung.
Werte Kolleginnen und Kollegen, unser Sozialsystem ist für die bedürftigen Menschen da, und das ist auch gut so und richtig. Ein Großteil der Sozialleistungsempfänger – sie machen das bei Gott nicht aus Spaß – sind auf die Hilfe des Staates angewiesen. Deswegen haben wir auch eine Verpflichtung diesen Menschen gegenüber, nämlich die Verpflichtung, unsere Sozialleistungssysteme langfristig tragfähig zu halten. Das ist der Auftrag an uns.
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Wenn wir über Sanktionen sprechen, dann müssen wir natürlich auch erwähnen, dass die Sanktionen, wie sie bisher existiert haben, oft auch ungerecht waren, gerade den bedürftigen Menschen gegenüber. Ihnen wurden Stellen angeboten, die ganz uninteressant waren; ihnen wurden Bildungsangebote unterbreitet, die völlig unnütz waren. Und wenn sie gesagt haben: „Nein, das bringt mir nichts“, dann wurden sie sanktioniert. Das ist das Ergebnis der Agenda 2010 von Schröder, von Rot-Grün gewesen. Das war falsch, und das müssen wir korrigieren.
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Aber im Umkehrschluss zu sagen: „Wir streichen jetzt mal alle Sanktionen.
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Es ist uns egal, ob du dich bemühst; es ist uns egal, ob du dem Steuerzahler auf der Tasche liegst“, gefährdet nicht nur die Tragfähigkeit unserer Sozialsysteme, werte Kolleginnen und Kollegen, das ist auch ein Hohn.
Das ist ein Hohn all denen gegenüber, die jeden Tag in der Früh um 5 Uhr aufstehen, zur Arbeit gehen,
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am Abend todmüde heimkommen und am Ende des Monats auf dem Gehaltszettel – weil sie so hohe Steuern zahlen müssen – kaum mehr haben als derjenige, der Sozialleistungen bezieht, und die sich dann natürlich bei einer Sanktionsfreiheit ganz offen die Frage stellen: Sag mal, warum mache ich das eigentlich? – Es ist auch ein Hohn denen gegenüber, die gerne jeden Tag in der Früh um 5 Uhr aufstehen würden,
({8})
die gerne zur Arbeit gehen würden, den bedürftigen Menschen gegenüber, die aus irgendwelchen Gründen, weil sie keine Stelle finden oder aus anderen Umständen, nicht arbeiten können.
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Es ist auch ein Hohn denen gegenüber, werte Kolleginnen von den Grünen, weil sie nämlich im Volksmund alle in einen Sack gepackt werden: die Bedürftigen und diejenigen, die ganz offen sagen: Och, ich krieg ja keine Sanktionen; ich bleibe jetzt mal auf meiner Couch und kiffe.
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Das ist ein Hohn den bedürftigen Menschen gegenüber, meine Damen und Herren, wenn das passiert.
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Das Bundesverfassungsgericht hat uns nicht aufgetragen, alle Sanktionen auszusetzen oder abzuschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns an die Verhältnismäßigkeit erinnert. Das bedeutet, dass Sanktionen gegenüber den Pflichtverletzungen verhältnismäßig sein müssen. Übrigens kann eine Ablehnung des Jobs auch eine komplette Kürzung bedeuten.
({12})
Deswegen sagen wir ganz offen, meine Damen und Herren: Wenn Sie Millionen Menschen ins Land holen wollen, Herr Audretsch, dann ist das der falsche Weg. Unsere Sozialsicherungssysteme haben nicht die Ressourcen, haben nicht die Kraft für Ihre Ideologie.
Haben Sie herzlichen Dank.
({13})
Der Kollege Audretsch wurde jetzt zweimal namentlich genannt, deswegen erlaube ich eine Kurzintervention. – Bitte schön.
Vielen Dank. – Was wir gerade gesehen haben, ist ein Muster, das wir vonseiten der AfD immer wieder sehen: zum einen das ewige Vermischen von Themen – egal worüber man spricht, es wird immer Hass und Hetze gegen Geflüchtete ausgepackt, jedes Mal und auch heute wieder –;
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zum anderen breiten Sie jedes Mal eine erstaunliche Faktenfreiheit aus.
({1})
Was wir machen, ist, mit der Situation umzugehen, dass ganz viele Menschen unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen und keine Chance haben, da herauszukommen, weil es keinen Prozess gibt. Und was wir jetzt tun, ist, diesen Menschen den Zugang zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II und dem Sozialgesetzbuch XII zu öffnen, weil sie dann die Möglichkeit haben, in den Arbeitsmarkt einzusteigen, weil sie dann die Möglichkeit haben, Unterstützung zu bekommen, Schulungen zu bekommen, Weiterbildungen zu bekommen. Das Ziel ist, dass die Menschen, die jetzt hier sind, Teil unseres Arbeitsmarktes werden.
Gehen Sie mal raus! Schauen Sie mal in die kleinen Betriebe! Sie alle brauchen Fachkräfte. Wir haben Fachkräfte hier.
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Wir haben Fachkräfte, die aus der Ukraine gekommen sind, hier. Wir wollen, dass sie Teil der Gesellschaft werden, dass sie an der Gesellschaft teilhaben und uns mit ihren Kenntnissen und mit allem anderen weiterbringen.
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Im Moment sind es noch einige Hunderttausend. Aber auch, wenn es 1 Million werden: Es ist der bessere Weg, Menschen hier eine Perspektive zu geben, es ist der bessere Weg, Menschen in die Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir alle werden davon profitieren.
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Das ist die Logik, die Sie nicht verstanden haben. Deswegen fangen Sie immer wieder an, hier das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Danke schön.
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Herr Kleinwächter, wollen Sie reagieren?
Selbstverständlich, gerne. – Werter Herr Audretsch, das ehrt Sie. Aber es gibt eine gewisse Dissonanz: Sie sagen, Sie möchten beispielsweise ukrainische Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren, und das Erste, was Sie tun, ist, sie ins Sozialgesetzbuch II zu integrieren, in Sozialleistungsbezug zu integrieren.
({0})
Wir haben, wie Sie wissen, erst gestern in einer doch umfangreichen Debatte darüber debattiert; Gerrit Huy hat für unsere Fraktion gesprochen. Man muss doch ganz offen feststellen, dass es eine Häufung gibt. Gestern wurde über die SGB‑II-Integration debattiert.
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Heute geht es um die Sanktionen. Es gibt auch eine Aussetzung der Vermögensprüfung.
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Das bedeutet, ganz praktisch ausgedrückt, dass jeder, sogar wenn er Vermögen hat – es sei denn, es ist so groß, dass es jedem sofort auffällt; dann ist es nicht unbedingt möglich –, in unsere Sozialsysteme kommen kann. Das sind offene Türen für alle.
Ich sage Ihnen ganz offen: Das haben unsere deutschen Steuerzahler nicht verdient. Das haben unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht verdient, die jeden Tag zur Arbeit gehen und die das an Steuern abgezogen bekommen – jeden Monat mehr.
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Jetzt will sogar die GEZ wegen der Inflation noch den Beitrag erhöhen. Da bleibt nichts mehr übrig.
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Wir haben eine Verantwortung unseren Arbeitnehmern gegenüber – an allererster Stelle; denn die erwirtschaften das alles. Dann haben wir eine Verantwortung unseren Mitbürgern gegenüber, die bedürftig sind. Und dann haben wir eine humanitäre Verantwortung den wirklichen Flüchtlingen gegenüber.
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Gerne, Herr Audretsch, setzen wir uns zusammen und sprechen darüber, wie wir sie optimal in den Arbeitsmarkt aufnehmen können, während sie Flüchtlinge auf der Flucht vor diesem grauenhaften Krieg sind.
Herzlichen Dank.
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Wir fahren in der Debatte fort. Jetzt erhält für die FDP-Fraktion der Kollege Jens Teutrine das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Herr Kleinwächter. Sie haben mit Ihrer Antwort bewiesen, was der Kollege Audretsch gesagt hatte, nämlich dass Sie mit absoluter Faktenfreiheit Dinge in den Raum werfen, die nicht stimmen.
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Wieso kommen die ukrainischen Geflüchteten ins SGB II? Weil sie dann von den Jobcentern gefördert werden, weil sie dann aktive Arbeitsmarktförderung bekommen, weil sie dann berufsspezifische Sprachförderkurse bekommen. Außerdem werden so die Kommunen nicht überbelastet, weil die Lastenverteilung beim SGB II eine andere ist als beim Asylbewerberleistungsgesetz. Informieren Sie sich, bevor Sie Ihre populistischen Thesen hier einfach in den Raum stellen!
({1})
Jetzt zum Thema. Sie betreiben Hetze gegen ukrainische Geflüchtete,
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aber es geht hier doch um etwas anderes. Es geht in dieser Debatte um das Grundprinzip von Fördern und Fordern. Das ist das Grundprinzip des Sozialstaates, das ja auch die CDU weiterhin anerkennt.
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Bei unseren Reformen werden wir das Bürgergeld an die Herausforderungen der Zeit anpassen, was ja notwendig ist, weil sich seit der Agenda-Reform vieles weiterentwickelt und verändert hat.
Deswegen gehen wir – das wurde von der Staatssekretärin ja schon gesagt – zum 1. Januar auch die Achse des Grundprinzips des Förderns an. Wir wollen den Einzelnen mit einem Weiterbildungsgeld von 150 Euro unterstützen. Wir wollen in Ausbildung und Weiterbildung statt in Aushilfsjobs vermitteln, indem wir den Vermittlungsvorrang abschaffen, und wir setzen Anreize für Hinzuverdienste.
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Das ist die Achse des Förderns. Denn die Situation bei den Langzeitarbeitslosen ist, dass zwei Drittel von ihnen gar keine berufliche Ausbildung haben.
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Wir wissen, dass sie in den Arbeitsmarkt erst hineinkommen, wenn wir sie qualifizieren, und da setzen wir den Schwerpunkt beim Fördern.
Mit den Sanktionen sind wir beim Fordern des Einzelnen. Es geht darum, den Einzelnen zu fordern, ihn aber nicht zu überfordern. Der allergrößte Teil wird auch nicht überfordert. Es wurde schon mehrmals gesagt: 97 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von SGB‑II-Leistungen halten sich an alle Regeln; sie kommen nicht in Berührung mit Sanktionen, anders als das hier in der Debatte immer wieder zum Ausdruck gebracht wird.
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Bei der politischen Linken und auch bei den Grünen herrscht die Argumentation vor, es sei per se menschenunwürdig, zu sanktionieren; es sei an sich menschenunwürdig, eine Sanktion auszusprechen. Das ist die eine Seite der Medaille. Das Bundesverfassungsgericht teilt diese Auffassung nicht und hat schon geurteilt, dass Sanktionen bis zu 30 Prozent in Deutschland durchaus zulässig und auch mit der Menschenwürde, die im Grundgesetz verankert ist, vereinbar sind.
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Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille, nämlich den Sozialstaat und die Solidarität. Wir unterstützen jeden, der Hilfe braucht. Aber es ist auch ein Gebot der Fairness denjenigen gegenüber, die diesen Sozialstaat finanzieren, dass sie den Anspruch an diejenigen, die unterstützt werden, haben können, dass diese alles tun, was ihnen möglich ist, und bei einer starken Förderung auch ihren Beitrag leisten, nämlich dass sie Termine wahrnehmen.
Wie wollen wir Menschen in einen Job vermitteln, bei dem man für jeden Krankheitstag eine Krankschreibung braucht und sich entschuldigen muss, bei dem man morgens pünktlich kommen muss, wenn wir noch nicht einmal die Erwartung haben dürfen, dass sie in den Jobcentern einen Termin wahrnehmen? Deswegen war uns Freien Demokraten der Gesamtkompromiss wichtig, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Das ist übrigens der Kern einer Koalition. Sie sagen immer, die Koalition sei zerstritten. Für mich bedeutet Koalition, dass unterschiedliche Interessen abgewogen werden. Sie ist ein Spiegelbild unterschiedlicher Interessen in einer Gesellschaft. Es ist der Kern, einen Kompromiss zu finden.
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Ein Kompromiss braucht eine innere Logik. Dieser hat eine innere Logik, nämlich dass wir, bis wir das Prinzip des Förderns neu justieren, ein Sanktionsmoratorium einsetzen.
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Wir sagen aber weiterhin: Dieses Sanktionsmoratorium darf nicht zum Kontaktabbruch führen. Deswegen haben wir uns darauf geeinigt, dass bei Terminverletzungen auch weiterhin Sanktionen bestehen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
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Wir haben uns ebenfalls darauf geeinigt, um das hier ganz deutlich zu machen, dass wir, wenn wir die Säule des Förderns neu justiert haben – darauf haben wir uns als Koalition geeinigt – und das neue Bürgergeld haben, bei dem es Teilhabevereinbarungen gibt und bei dem wir auf Augenhöhe kommunizieren, trotzdem weiterhin die Erwartung haben, dass man zu Terminen kommt, dass man, auch wenn der Vermittlungsvorgang abgeschafft ist, an Weiterbildungsmaßnahmen teilnimmt. Deswegen haben wir uns bei der Neuregelung darauf geeinigt, dass auch weiterhin Abzüge von bis zu 30 Prozent möglich sind.
Wenn Sie mir nicht glauben, dass das Prinzip von Fördern und Fordern weiter gilt, dann gucken Sie in die „WirtschaftsWoche“. Die hat heute zum Bürgergeld getitelt: „Warum es kein bedingungsloses Grundeinkommen light gibt“. Dort heißt es – Zitat –: „Der Grundsatz ‚Fördern und Fordernʼ bleibt damit bestehen.“
({1})
– Beschäftigen Sie sich mit der Sache, und machen Sie konstruktive Vorschläge!
Ich freue mich auf die Anhörung und darauf, dass wir im Ausschuss darüber diskutieren. Wir bleiben bei dem Prinzip, aber wir gehen auf die Höhe der Zeit. Vielen Dank für den Kompromiss. Ich freue mich auf die konstruktive Zusammenarbeit.
Danke schön.
({2})
Für die Linke erhält das Wort die Kollegin Jessica Tatti.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich in der Tat, wer hier im Raum das Gesetz überhaupt gelesen hat. Sie brechen mit diesem Gesetz Ihren Koalitionsvertrag.
({0})
Sie haben ein einjähriges Sanktionsmoratorium im Bereich Hartz IV versprochen. Vor allem die Grünen und die Jusos haben sich dafür abfeiern lassen. Jetzt entpuppt sich das Ganze als Mogelpackung.
({1})
Hier im Plenum sagte zum Beispiel am 13. Januar mein geschätzter Kollege Frank Bsirske von den Grünen – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Des Weiteren wird im Rahmen eines einjährigen Moratoriums auf die bisherigen Sanktionen verzichtet. Etwas anderes ist vom Koalitionsvertrag nicht gedeckt …
Auf der Homepage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist bis heute zu lesen: „Bis zu ihrer gesetzlichen Neuregelung setzen wir die Sanktionen aus …“.
Und was steht jetzt kurze Zeit nach diesen vollmundigen Ankündigungen im Gesetz? Rund drei Viertel aller Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger bleiben in Kraft,
({2})
nämlich alle Sanktionen für verpasste Termine und Meldeversäumnisse. Ausgesetzt werden lediglich Sanktionen bei Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II, also wenn jemand zum Beispiel zu wenige Bewerbungen schreibt. Diese sollen auch nicht für ein Jahr ausgesetzt werden, sondern nur für sieben Monate. Das Schlimme daran ist: Sogar diese ausgesetzten Sanktionen können ab Januar des kommenden Jahres nachgeholt werden; so steht es im Gesetz.
({3})
Damit es auch wirklich der Letzte hier noch kapiert: Es gibt überhaupt kein Sanktionsmoratorium,
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sondern nur eine zeitliche Verzögerung, ein Aufschieben bei einem mickrigen Teil der Sanktionen. Im Januar kommt dann eine Sanktionswelle auf die Betroffenen zu.
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Da fragt man sich schon: Was soll denn dieser Mist?
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Zumindest haben Sie den Titel des Gesetzes geändert. Es heißt nicht mehr „Sanktionsmoratorium“, sondern ganz neutral „Elftes Änderungsgesetz“. Einen kleinen letzten Rest Scham scheinen Sie ja noch im Leib zu haben.
Wenn Sie die Sanktionen nicht wirklich für ein Jahr stoppen wollen, warum haben Sie das dann eigentlich in Ihren Koalitionsvertrag hineingeschrieben? Dieses Gesetz ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt wurde. Der passende Name wäre „Pinocchio-Gesetz“.
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Falls Sie wirklich einhalten wollten, was Sie den Betroffenen und auch Ihren Wählern versprochen haben, dann streichen Sie doch einfach die Sanktionen aus diesem Gesetz!
({8})
Sorgen Sie doch lieber mal dafür, dass Menschen aus Hartz IV in Arbeit kommen,
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dass sie ihr Leben für sich und für ihre Familien mit guter Arbeit verbessern können, statt sie in Minijobs, in Leiharbeit, in Befristungen und Niedriglöhne zu drängen, nur damit sie dann wieder schnell in Hartz IV landen!
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Setzen Sie auf den sozialen Arbeitsmarkt, anstatt ihn kaputtzusparen,
({11})
auf Weiterbildungen auch für Erwerbslose! Das würde Arbeitslosen zur Abwechslung mal helfen. So schaffen Sie nachhaltige Perspektiven, statt erwachsenen Menschen zu sagen: Seid brav, oder geht halt hungrig ins Bett!
Dieses Gesetz ist eine Farce.
({12})
Wir fahren fort in der Debatte mit Annika Klose für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Erst einmal ganz kurz zu Frau Tatti: Ich möchte Ihnen zugutehalten, dass es sich hier um die erste Lesung des Gesetzentwurfs handelt und Sie dementsprechend den aktuellen Diskussionsstand der Koalitionsparteien natürlich nicht kennen können.
({0})
Da können Sie auf den Ausschuss kommende Woche und die Anhörung gespannt sein. Ich kann Ihnen aber so viel verraten: Zwölf Monate Sanktionsmoratorium werden kommen.
({1})
Übrigens: Auch in dem Gesetzentwurf ist nicht enthalten,
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dass es um eine Aufsummierung der Sanktionen nach den zwölf Monaten geht, sondern danach gehen wir zu dem neuen Bürger/-innengeld über. Natürlich werden dann die einzelnen Sanktionen aus der Zeit des Moratoriums nicht später verhängt.
({3})
Das möchte ich doch direkt klarstellen.
({4})
Ich war Vorsitzende der Jusos in Berlin, des größten politischen Jugendverbands hier in dieser Stadt, und habe über Jahre daran mitgewirkt und dafür gekämpft, dass wir Hartz IV endlich hinter uns lassen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Tatti?
Nein.
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Die SPD hat das in ihrem Sozialstaatskonzept 2019 auch endlich zu ihrem Programm gemacht. Ich freue mich, dass ich jetzt als Berichterstatterin für meine Fraktion hier daran mitwirken kann, Hartz IV hinter uns zu lassen und das neue Bürger/-innengeld einzuführen.
Es ist richtig und höchste Zeit, dass die Ampelkoalition dieses Mammutprojekt endlich angeht, und es ist das richtige Projekt, die größte Reform des Sozialstaats der letzten 20 Jahre. Ich bin stolz darauf, dass wir das angehen. Es steht schon viel im Koalitionsvertrag; aber es ist auch klar: Es ist viel zu tun, und es gibt auch noch offene Fragen.
Mit einer offenen Frage wollen wir uns hier jetzt beschäftigen. Das sind die sogenannten Mitwirkungspflichten. Laut Koalitionsvertrag wird es Mitwirkungspflichten auch beim neuen Bürger/-innengeld geben. Aber, sehr geehrte Damen und Herren, es wäre falsch, die Mitwirkungspflichten rein auf die Sanktionen zu verkürzen. Ich möchte deswegen ein bisschen ausholen.
Es geht bei dem Bürger/-innengeld um ein Projekt, mit dem wir es schaffen wollen, unseren Sozialstaat am Individuum auszurichten. Es geht um Augenhöhe und Vertrauen zwischen den Bürger/-innengeldbezieherinnen und ‑beziehern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Jobcenter. Wir wollen eine Teilhabevereinbarung einführen statt der Eingliederungsvereinbarung, die auf Augenhöhe erarbeitet werden soll – verständlich formuliert und am Ende im Konsens abgeschlossen. Wenn das nicht passiert, wenn es keinen Konsens gibt, dann soll es eine unabhängige Schlichtungsstelle geben, damit am Ende tatsächlich ein Vertrag auf Augenhöhe entsteht.
Wir wollen den Vermittlungsvorrang abschaffen. Das bedeutet, dass man eben nicht mehr jeden x‑beliebigen Job annehmen muss,
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und wenn man das nicht tut, dann wird man dafür sanktioniert. Nein, Schluss damit! Es geht um das, was das Individuum möchte: Wo soll es hingehen? Welche Tätigkeit möchte man in Zukunft ausüben? Welche Branche, welches Arbeitsverhältnis, welcher Umfang vielleicht auch? Ist es vielleicht eine neue Berufsausbildung, die man braucht? Ist es eine Weiterbildung, die man angehen möchte? All das und dieser Weg für das Individuum werden miteinander auf Augenhöhe ausgehandelt, und der gemeinsame Weg dahin wird gefunden.
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Es geht also um eine Kultur auf Augenhöhe. Aber was ist, wenn sich jemand gar nicht mehr zurückmeldet, auf Dauer nicht erreichbar ist oder sich dem Prozess, der vereinbart wurde, komplett verweigert? Da sind wir an einem Punkt, den wir als Gesellschaft neu diskutieren müssen. Das sehe nicht nur ich so, sondern das hat auch das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber mit auf den Weg gegeben.
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Daher bin ich sehr froh, dass wir als Koalition jetzt mit diesem Sanktionsmoratorium den Raum eröffnen, um genau diese Debatte zu führen. An dieser Stelle möchte ich auch noch mal Danke sagen an Martin Rosemann, Dagmar Schmidt, Katja Mast und Hubertus Heil, die daran mitgewirkt haben, dass wir dieses Moratorium jetzt auch wirklich auf den Weg bringen können.
Das Moratorium setzt den Großteil der Sanktionen für zwölf Monate aus und markiert damit einen klaren Bruch zwischen den alten und den neuen Regelungen. Ich finde das wichtig; denn gerade die Sanktionen waren ja ein wichtiger Kritikpunkt gegenüber den Hartz‑IV-Gesetzen und den Regelungen dort. Einige Pflöcke für die neuen Regelungen sind bereits im Koalitionsvertrag verankert:
Erstens. Sanktionen auf die Kosten der Unterkunft werden nicht mehr stattfinden.
Zweitens. Es wird keine härteren Sanktionen für unter 25-Jährige mehr geben, sondern da werden wir verstärkt mit den Trägern der örtlichen Jugendhilfe zusammenarbeiten.
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Drittens sollen die ersten sechs Monate des Bürger/-innengeldbezugs eine Vertrauenszeit sein, nach unserer Vorstellung ohne Sanktionen.
Viertens soll aufsuchende Sozialarbeit zum Regelinstrument werden.
Dabei bleibt aber natürlich die Frage im Raum: Warum eigentlich Sanktionen? Welchen Sinn hat das, und wann ist es für uns als Gesellschaft eigentlich gerechtfertigt, Leistungen unterhalb des Existenzminimums zu kürzen? Bevor man hier über Höhe und Dauer dieser neuen Regelungen und Leistungskürzungen spricht, muss man doch genau diese Fragen diskutiert und geklärt haben.
Meiner Meinung nach kann eine Sanktion – wenn wir an diesem Instrument festhalten, das wir vereinbart haben – immer nur das allerletzte Mittel sein. Es gibt Jobcenter, die das genau so schon praktizieren und die damit sehr gute Erfahrungen machen. Da geht es nämlich darum, dass man, wenn jemand auf einen Brief nicht antwortet, mal eben anruft, und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal oder dreimal, und, wenn jemand nicht ans Telefon geht, dann auch mal hingeht.
({5})
– Sie lachen jetzt. Aber wissen Sie, warum das so ist? Weil viele Menschen, die aktuell tatsächlich von Sanktionen betroffen sind, die sich vielleicht nicht zurückmelden, das nicht tun, weil sie nicht wollen und sich verweigern, sondern weil sie eben zum Beispiel unter psychischen Erkrankungen leiden
({6})
oder große soziale Probleme haben.
Es geht genau darum, diese Menschen zu unterstützen
({7})
und ihnen Hilfe zu organisieren, wenn sie sie brauchen. Diese Menschen stehen dem Arbeitsmarkt nämlich eigentlich überhaupt nicht zur Verfügung. Es geht darum, dass sie Unterstützungsleistungen bekommen müssen und diese dann auch kriegen, und keine Sanktion.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter aus der AfD?
Das tue ich nicht. Vielen Dank.
({0})
Sie sehen: Die Fragen der Mitwirkungspflichten sind doch groß zu diskutieren. Es ist genau der richtige Weg, sich dafür die Zeit zu nehmen und diese Fragen miteinander zu beantworten. Ich freue mich auf die Diskussionen, und ich freue mich darauf, dass wir eine Neuregelung finden, die Teilhabe, Augenhöhe und Respekt vor den sozialen Rechten eines jeden in den Mittelpunkt stellt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält für eine Kurzintervention die Kollegin Tatti.
Danke, Frau Präsidentin, dass Sie die Zwischenintervention zulassen.
Liebe Frau Klose, es ist nicht so, dass mit einem Gesetz, das eingebracht wird, das komplette SGB II vergessen werden kann. Sie haben ja gerade widersprochen und gesagt, dass die Sanktionen nicht nachgeholt werden können. In § 31b Absatz 1 Satz 5 SGB II steht – das können Sie gerne nachlesen –, dass eine Sanktion innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung zu erfolgen hat, und dieser Paragraf bleibt die ganze Zeit in Kraft. Deshalb ist es so, dass die Menschen nicht davor geschützt sind, dass sie trotz Ihres Gesetzes sanktioniert werden. Wenn Sie mir da nicht widersprechen, dann wäre die Frage, ob Sie jetzt zusichern können, dass das in einem nachgebesserten Gesetzentwurf enthalten ist.
Sie können sich auch nicht beschweren, dass die Opposition Kritik äußert. Wir bearbeiten den Gesetzentwurf, der uns vorliegt.
({0})
Möchten Sie reagieren? – Bitte schön.
Sehr geehrte Frau Tatti, ich möchte es nicht kritisieren, dass Sie sich auf den vorliegenden Gesetzentwurf beziehen – das habe ich auch zu Beginn meiner Rede gesagt –, sondern anmerken, dass es eben einen Diskussionsstand in der Koalition gibt und wir nächste Woche ja hoffentlich wieder darüber diskutieren werden, wenn die Änderungsanträge im Ausschuss vorliegen. Wir haben diese Themen auf dem Schirm. Wir haben sie auch schon miteinander besprochen. Es ist so, dass wir festgehalten haben, dass eben keine spätere Sanktionierung dieser Verstöße stattfinden soll; das geht auch als Umsetzungsanweisung an die Jobcenter. Aber wir haben den Punkt auf dem Schirm.
({0})
Es steht auch in der Begründung. Das heißt, ich kann Ihnen zusichern, dass das so gemeint ist.
({1})
Sie haben also im Ausschuss nächste Woche ganz viel zu besprechen.
({0})
Jetzt erhält das Wort Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was Sie aus unserem Sozialstaat machen.
({0})
Sie sind im Begriff – und das sage ich als CDU/CSU-Abgeordnete, die das damals nicht mit beschlossen hat –, eine der größten und erfolgreichsten Sozialstaatsreformen abzuschaffen bzw. abzuwickeln, eine, die sich als ausgesprochen erfolgreich herausgestellt hat.
({1})
Sie haben damals mit den Reformen der Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Bedürftige, dass Arbeitslose, dass Langzeitarbeitslose endlich aus der Sozialhilfe herausgekommen sind und dann in das Prinzip des Forderns und Förderns überführt wurden. Und was machen Sie jetzt? Sie sagen: Na ja, wir fördern und wir fordern ja auch irgendwie weiter. – Aber so ein bisschen Weiterbildung ist eben nicht das, was darunter zu verstehen ist.
Meine Damen und Herren, man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Wenn jemand trotz einer schriftlichen Belehrung seiner Pflicht nicht nachkommt, wenn jemand sich weigert, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, oder wenn jemand sich weigert, Maßnahmen, die durch die Jobcenter angeordnet sind, anzutreten, dann wird er dafür künftig nicht mehr sanktioniert. Meine Damen und Herren, was tun wir? Wir reden eigentlich nur noch über Rechte, aber nicht mehr über Pflichten in diesem Land.
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Was ist das denn bitte für ein Argument, zu sagen, es sind doch nur wenige, die sich nicht an die Regeln halten, und deswegen brauchen wir keine Sanktionen mehr? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schaffen doch auch nicht das Strafrecht ab, nur weil es vielleicht wenige sind, die sich nicht an Recht und Gesetz in Deutschland halten.
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Das ist doch keine Herangehensweise. Unsere Jobcenter vor Ort brauchen Sanktionen. Sie brauchen es auch als Ultima Ratio.
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Denn wenn wir sie nicht mehr haben, wird sich niemand mehr dazu bereit und im Stande sehen, etwas dafür zu tun.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Ampel, was sagen Sie denn den Hunderttausend Beschäftigten in den Jobcentern und Agenturen dieses Landes, die sich täglich wirklich viel, viel Mühe geben, den Menschen zu helfen, die sie an die Hand nehmen, die sie darin unterstützen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen? Was sagen Sie denen, wenn die künftig nur noch ein bisschen telefonieren und ein paar Termine machen können, und ansonsten war es das?
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Ansonsten kann man nichts mehr machen. Ansonsten hat man keine Handhabe mehr, die Menschen wirklich in Arbeit zu bringen und am Ende auch etwas für das einzufordern, was sie bekommen. Wir halten das für falsch, und deswegen lehnen wir diese Idee auch ab.
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Was sagen Sie den vielen Steuerpflichtigen in Deutschland? Was sagen Sie den Menschen, die mit ihren Beiträgen, die mit ihren Steuern dazu beitragen, dass dieses System, dass dieser Sozialstaat am Laufen gehalten werden kann?
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Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Selbstverständlich.
Das ist sehr freundlich von Ihnen. Danke, Frau Präsidentin. Danke, Frau Schimke. – Sie haben gerade die Mitarbeitenden in den Jobcentern angesprochen. Ich darf Ihnen hier zur Kenntnis geben und mitteilen, dass ich viel in Nordrhein-Westfalen unterwegs bin und mit Leitern
({0})
und Beschäftigten von Jobcentern rede. An bestimmten Punkten gibt es da auch eine etwas andere Auffassung als in meiner Partei. Aber grundsätzlich: Der Geschäftsführer des Jobcenters Münster – es liegt in einer Optionskommune; er ist CDU-Mitglied – ist stolz darauf, dass sein Jobcenter zu den Jobcentern mit den wenigsten Sanktionen bundesweit zählt,
({1})
und sagt: Wir arbeiten praktisch gar nicht mit Sanktionen.
In meiner Heimatstadt, in Dortmund, wo mein Wahlkreis ist, ist die Leiterin des Jobcenters sehr angetan von den Plänen, die die Ampel in Bezug auf das Bürgergeld hat, und von dem kooperativen, ermutigenden und unterstützenden Ansatz und möchte gerne als Zielvision dahin kommen, ein so gutes Angebot zu haben, dass keine Sanktionen mehr nötig sind.
({2})
Ich finde, dass man diese Realität in den Jobcentern durchaus zur Kenntnis nehmen sollte.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kurth, für Ihre Zwischenfrage. – Nur weil ein Jobcenter wegen seiner guten Arbeit möglicherweise keine Sanktionen mehr anwenden muss, heißt das nicht, dass es Sinn macht, diese als Ultima Ratio abzuschaffen.
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Der Mensch ist, wie er ist. Und wir als Politiker haben auch eine Verantwortung den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in diesem Land gegenüber. Wir müssen uns dafür rechtfertigen, was wir täglich tun. Dazu zählt in der Tat natürlich, nicht nur zu sagen: „Ich gebe dir Unterstützung“, sondern auch: „Ich fordere auch etwas dafür ein. Und wenn du dieser Aufforderung nicht nachkommst, habe ich das Recht, das zu sanktionieren.“
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Es geht um eine Ultima Ratio. Sie schaffen das ab. Sie wollen das abschaffen. Sie schaffen damit den Anreiz, sich eben nicht mehr an dieses Prinzip des Forderns und Förderns zu halten; und das können wir nicht unterstützen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Ende und möchte noch einmal festhalten, dass ich in diesem Vorschlag, der uns hier vorliegt, tatsächlich eine Spaltung unserer Gesellschaft sehe. Bisher hat sich unsere Solidargemeinschaft wirklich sehr gut verhalten und ist sehr gut miteinander umgegangen; ich befürchte, dass das künftig nicht mehr der Fall sein wird, weil diejenigen, die dafür aufkommen, eben keine entsprechende Gegenleistung mehr bekommen.
Vielen Dank.
({3})
Es folgt für Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Frank Bsirske.
({0})
Frau Präsidentin! Abgeordnete! Wie mit Sanktionen beim Bürgergeld verfahren wird, werden wir in der Ampel in den kommenden Monaten konkretisieren.
({0})
Den vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Ampelfraktionen dahin gehend ändern, dass für die Dauer von zwölf Monaten bei Meldeversäumnissen erst nach mehrfach ausgebliebener Mitwirkung der Hartz‑IV-Satz um bis zu 10 Prozent unterschritten werden kann. Sanktionen bei Pflichtverletzungen bleiben ausgesetzt.
Dass Sanktionen nachgeholt werden können, trifft nicht zu, liebe Jessica Tatti. Sie haben in manchem recht, an diesem Punkt nicht.
({1})
Wir werden zweifelsfrei rechtlich klarstellen, dass dem auch so ist, wie ich es Ihnen sage.
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Wie sich diese Änderungen der Sanktionspraxis auswirken, soll evaluiert werden. Tatsächlich liegt bis heute kein Nachweis vor, dass die Sanktionspraxis einen Beitrag zur nachhaltigen und langfristigen Eingliederung in den Arbeitsmarkt leistet.
({3})
Nachgewiesen ist hingegen, dass viele Sanktionen zu Unrecht ausgesprochen und von den Sozialgerichten zurückgewiesen werden. Im Jahr vor Corona waren 30 Prozent der Widersprüche und 36 Prozent der Klagen gegen Sanktionen im SGB II erfolgreich. Die vielen und offenbar ja auch gerechtfertigten Rechtsstreitigkeiten binden jede Menge Personal, das dann für Beratung und Vermittlung nicht zur Verfügung steht, weshalb der Deutsche Sozialgerichtstag zu dem Schluss gekommen ist, dass Sanktionen ein Ausdruck von Überforderung der Leistungsträger sind und nicht vor allem Folge individueller Pflichtverletzungen.
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Wir ziehen daraus den Schluss, dass nicht Sanktionen, nicht die Praxis von Androhung und Bestrafung die Arbeit in den Jobcentern bestimmen dürfen, sondern die Vereinbarung fairer Spielregeln sowie Motivierung und Bestärkung der Arbeitsuchenden. Es gilt, das Fallmanagement in den Jobcentern zu verbessern, Arbeitsuchenden passgenaue Hilfen und garantierte Angebote zu Qualifizierung und Weiterbildung zukommen zulassen, also Hilfen, die individuell auf sie zugeschnitten sind, sowie das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Maßnahmen zu stärken. Das auszugestalten und so mit dem Bürgergeld das Hartz‑IV-System zu überwinden, ist unser Ziel.
({5})
Vielen Dank, Frank Bsirske. – Als letzter Redner in dieser Debatte erhält das Wort Dr. Markus Reichel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner in der Debatte hat man ja das Privileg, schon vorher viele Beiträge gehört zu haben. Ich muss sagen: Es hat mich schon fasziniert, dass hier bei einem noch überschaubaren Gesetzentwurf so völlig unterschiedliche Sichtweisen auf ebendiesen Gesetzentwurf deutlich wurden. Wenn das schon bei diesem Gesetz so ist, dann bin ich gespannt, was uns beim Bürgergeld noch erwartet.
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Hinter dem Ganzen, was wir hier besprechen, steckt eigentlich eine Diskussion über Solidarität in unserer Gesellschaft. Das Thema Solidarität kommt in Ihren Wahlprogrammen – ich habe sie mir einmal angeschaut – sehr oft vor in Form der Worte „Solidarität“ bzw. „solidarisch“. Sie reden viel über Solidarität. Aber was heute hier vorgelegt wurde, ist vollkommen unsolidarisch.
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Solidarität liegt doch vor, wenn jeder den Beitrag leistet, den er leisten kann. Solidarität bedeutet natürlich in unserem Land, dass der Staat jedem Hilfsbedürftigen hilft. Aber es gehört eben auch dazu, dass jeder Hilfsbedürftige auch seinen Beitrag leistet zur Überwindung einer Notsituation, seiner Notsituation. Zumutbare Arbeit anzunehmen, sein Einkommen korrekt anzugeben usw., das sind hier nur Beispiele. Das zu tun, ist doch Solidarität mit dem hart arbeitenden Arbeiter, mit der Friseurin, mit der Gebäudereinigerin, dem Handwerker, die genau das jeden Tag tun müssen und die so die Steuergelder erwirtschaften, die am Ende die Grundsicherung finanzieren.
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Ich frage Sie: Bieten Sie diesen Menschen im Gegenzug für das Sanktionsmoratorium auf der anderen Seite ein Belastungsmoratorium an? Nein, das tun Sie natürlich nicht, und das ist schlecht.
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Viele Studien, zum Beispiel des IAB, bestätigen doch, was einem schon der gesunde Menschenverstand sagt und was Ihnen jeder Leiter eines Jobcenter bestätigen wird. Da bin ich nicht bei Herrn Kurth. Nur ein geringer Teil der Leistungsempfänger muss zwar mit Sanktionen belegt werden, aber diese brauchen wir doch auch. Wir als Union stehen zu genau dieser Leistungsgerechtigkeit
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und lehnen deswegen auch ein Sanktionsmoratorium und damit quasi den Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen ab.
Anstelle dessen schlage ich Ihnen drei Handlungsfelder vor, auf denen wir mit Sicherheit tätig werden sollten.
Erstens. Lassen Sie uns eine angemessene Obergrenze für Strafen festlegen, so wie es das Verfassungsgerichtsurteil vorschlägt.
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Zweitens. Vereinfachen Sie den Leistungsbezug: Bürokratieentlastung, Pauschalierung – das schafft Freiraum für die Leistungsempfänger und die Behörden.
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Drittens. Investieren wir gezielt in Weiterbildung für Geringqualifizierte! Die von Ihnen geplante Erhöhung des Mindestlohns wird zu erheblichen Steuermehreinnahmen führen. Hierfür können sie genutzt werden.
Zusammenfassend: Die Grundsicherung ist ein hohes Gut. Sie muss die Würde der Menschen wahren, aber sie muss auch fair, nachvollziehbar und solidarisch für alle Steuerzahler sein. Ihr geplanter Verzicht auf Sanktionen ist genau das Gegenteil.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freundinnen und Freunde der Gastronomie! Alle, die glauben, sie wüssten schon, was jetzt kommt, bitte ich, gut zuzuhören; denn ich will nicht über Corona und ich will auch nicht über den Krieg sprechen, obwohl das natürlich schwergewichtige Gründe sind, warum unser Antrag, den wir jetzt debattieren, zur richtigen Zeit zur Abstimmung steht.
Ich habe mir vorgenommen, Ihnen eine andere Perspektive zu eröffnen. Schauen wir einmal auf die jetzige Situation aus den Augen der Gastronomen, der Restaurantbesitzer, der Cafébetreiber. Ihnen stellen sich existenzielle Fragen: Läuft mein Geschäft wieder an wie vor der Pandemie? Kommen meine Gäste wieder angesichts steigender Preise? Sind die Gäste bereit, mehr Geld für ein gemütliches Abendessen im Kreise von Freunden und Familie auszugeben?
Ich war in den letzten Wochen viel unterwegs. Ich habe mit Menschen gesprochen, die die vielen Preiserhöhungen im eigenen Geldbeutel schon jetzt spüren. Ganz viele haben mir berichtet, dass sie das, was nicht unbedingt nötig ist, verschieben, strecken: Einmal Haare färben kann auch noch vier Wochen warten. Ein Abendessen im Lieblingsrestaurant kann ich mir leisten, muss ich aber nicht. – Die Situation ist also brenzlig, und, liebe FDP, eine unnötige Steuererhöhung passt so gar nicht in die Zeit.
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Außerdem ist das noch gar nicht alles. Einem Gastgeber stellen sich weitere Fragen: Wieso soll ich eigentlich dafür, dass ich auf nachhaltigen Porzellantellern serviere, mehr Steuern zahlen als die, die das Essen in Plastik verpacken, um es außer Haus zu liefern? Liebe Grüne, ich dachte immer, wer nachhaltig arbeitet, soll belohnt werden.
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Und liebe SPD, mittelständische Unternehmen sind das Herz dieser Branche,
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und sie tragen die Mindestlohnerhöhung mit. Sie sehen das schon an den aktuellen Tarifrunden, die stattfinden, weil sie wissen, dass es gute Mitarbeiter in diesen Zeiten nur für gutes Geld gibt.
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Aber wie zeigen Sie jetzt, dass Sie die Leistung dieser Branche anerkennen? Durch Steuererhöhungen?
Die Gastronomie ist eine Branche, die viel mehr ist als ein Marktteilnehmer unter vielen. Cafés, Restaurants oder auch Kneipen sind Räume des Miteinanders, Räume der Geselligkeit, Räume der Entspannung, des Genusses. Sie sind notwendig für ein gutes, gesundes Leben in Deutschland, für die Dorfgemeinschaft übrigens genauso wie für die Unistadt. Ich glaube, das haben wir in Zeiten von Corona doch alle gelernt. Deshalb beantragen wir hier und heute, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie und die kleineren Brauereibetriebe beizubehalten, und zwar dauerhaft.
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Geben Sie denen, die die Arbeit in den gastronomischen Betrieben tun, den Respekt, den sie verdienen und brauchen. All diese Menschen – oft Kleinunternehmer, die selbst im Betrieb mitarbeiten – brauchen Planungssicherheit und wettbewerbliche Konditionen, mit denen sie arbeiten können. Die haben doch im Moment wirklich schon genug damit zu tun, Arbeitskräfte zu finden, Dokumentationspflichten zu erfüllen, neue verlässliche Lieferketten aufzubauen, ihre Unternehmen in Bezug auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung zu modernisieren.
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Gerade jetzt kann diese Bundesregierung zeigen, was ihr eine Branche mit 3 Millionen Mitarbeitern, was ihr deren Arbeit wert ist. Dieser Wirtschaftszweig steht in einem sehr, sehr harten Wettbewerb in Europa. Länder wie Österreich, Italien oder auch Spanien tun gerade alles, um ihren Tourismus wieder flottzubekommen. 22 von 27 Ländern rund um uns herum haben den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Verpflegung. Und ich will, dass unsere Betriebe, unsere Gastronomen, unsere Mitarbeiter mithalten können. Nur so kann die Branche ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen, gute Gastgeber für Familien, Freunde und Geschäftspartner zu sein.
Jetzt ist es an Ihnen, diesen Menschen eine Perspektive zu geben, und deshalb fordern wir: Lieber Herr Bundesfinanzminister, heben Sie, wie Sie es versprochen haben, die Befristung für die ermäßigte Mehrwertsteuer auf, damit Gastgeber und Brauer wieder zukunftsfähig sind und mit Freude ihrer Arbeit nachgehen können, und das auch nach dem 31. Dezember 2022.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Es folgt in der Debatte Tim Klüssendorf für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal sind wir in der Feststellung gar nicht weit auseinander, Frau Karliczek.
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Die Situation in der Gastronomie ist immer noch sehr ernst. Wir wissen darum, wir wissen um die Umsatzeinbrüche; auf die werde ich gleich noch eingehen. Deswegen finde ich es auch vollkommen okay, dass wir uns heute mit diesem Thema befassen, auch wenn ich am Ende begründen werde, warum wir Ihren Antrag selbstverständlich trotzdem ablehnen werden.
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Zahlen und Fakten zur Verdeutlichung und vielleicht auch, um zu unterstreichen, dass wir tatsächlich um die Bedrohung dieser Branche wissen: Der Umsatz in der Pandemie ist um die Hälfte eingebrochen. Die Beschäftigten, die noch vor der Coronapandemie in der Branche gearbeitet haben, sind tatsächlich zu 20 Prozent nicht mehr da. Bei den Beschäftigten, die in der Ausschankindustrie beschäftigt waren, sind zu 40 Prozent nicht mehr da. Das ist schon eine enorme Herausforderung für diese Branche.
Was besonders wichtig ist – Sie haben von Mittelstand gesprochen –: Es sind vielmehr die kleinen Unternehmen, die davon betroffen sind. Denn 70 Prozent der 230 000 Unternehmen in Deutschland haben weniger als zehn Beschäftigte, sehr häufig inhabergeführt. Sie stehen vor großen Herausforderungen. Das sind also keine großen Konzerne. Und nicht selten sind es Lebensträume, die hinter der eigenen Gastronomie stecken. Wir wissen also um die Situation; sie ist existenzbedrohend.
Was haben wir gemacht? Das ist vielleicht auch wichtig zu betonen: Wir haben enorme Summen durch Hilfsprogramme auch in diese Branche gesteckt, nicht nur die Soforthilfen, Überbrückungshilfen, das Kurzarbeitergeld. Fast eine halbe Million von Beschäftigten allein in dieser Branche waren in Kurzarbeit. Das sind Erfolge der vergangenen Bundesregierung und dieser Bundesregierung, die nicht geringgeschätzt werden dürfen. Sie zeigen, dass wir die Sorgen ernst nehmen.
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Was mir aber ein bisschen zu kurz kommt – das habe ich auch aus meiner persönlichen Erfahrung mit vielen Gastronominnen und Gastronomen mitgenommen –, ist, dass ihr Anteil so ein bisschen kleingeredet wird. Es wird immer so getan, als ob wir beschützen können, etwas tun können. Aber die Gastronominnen und Gastronomen haben selber auch eine ganze Menge in der Pandemie gemacht. Wer das mitverfolgt hat: kreative Lösungen, neue Veranstaltungsformate, Außengastronomie neu erschlossen mit hohen Investitionen, Hygienekonzepte, Bürokratie mit den Gesundheitsämtern, Listen, Onlinelösungen; alles Mögliche wurde in die Wege geleitet. Auch da lohnt es sich, an dieser Stelle einfach auch noch mal Lob und Anerkennung dieser Branche dafür auszusprechen, was in der Krise alles getan worden ist.
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Was wir auch getan haben, war, im Sommer 2020 – und jetzt komme ich zu Ihrem Antrag im Detail – die Umsatzsteuer von 19 Prozent auf 7 Prozent, auf den reduzierten Satz, abzusenken. Das war eine temporäre und gezielte Maßnahme, um ganz gezielt auch die Nachfrage zu stärken, um diese Branche zu unterstützen und um die Folgen der Pandemie abzufedern. Diese Maßnahme hat Erfolg gezeigt. Es ist nachgewiesenermaßen so, dass die Nachfrage noch viel geringer gewesen wäre, hätten wir diese Maßnahme nicht vollzogen. Also auch eine erfolgreiche Maßnahme unseres damaligen Bundesfinanzministers, unseres heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz.
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Man muss allerdings auch dazusagen, dass das Volumen dieser Maßnahme keinen triviales ist.
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Das sind ungefähr 3 Milliarden Euro im Jahr, die berechnet wurden; das ist Platz drei aller Steuervergünstigungen, die wir überhaupt zurzeit vornehmen. Deswegen muss man sich natürlich schon die Frage stellen: Wie gehen wir weiter um mit dieser Frage?
Die Herausforderungen bleiben, wie anfangs schon dargestellt, aber es ist wichtig, dass eine Klärung stattfindet: Wie finanzieren wir eigentlich diese 3 Milliarden Euro? Wir haben in den letzten Tagen eine ganze Menge an Entlastungen vorgenommen. Wir haben von Ihnen auch immer wieder Forderungen gehört; darauf gehe ich gleich noch ein. Wichtig ist auch, zu betonen, dass es ja nicht nur der Bund ist, der diese Einnahmen dann nicht hat, sondern auch die Bundesländer. Auch mit denen muss besprochen werden, wie man damit umgeht. Das ist bisher in der Detailtiefe noch nicht passiert. Das muss aber passieren, bevor wir so eine Entscheidung treffen können. Deswegen ist es für uns ganz wichtig, dass es vorher geschieht.
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Sie sind auf die Planungssicherheit eingegangen. Wir sind jetzt gerade erst in der Mitte des Jahres. Planungssicherheit ist bis Ende des Jahres gegeben, und Sie können sich sehr sicher sein, dass unsere Entscheidung, wie man diese Branche weiterhin unterstützen wird, rechtzeitig feststehen wird.
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Bei der Biersteuer – über die Sie jetzt nicht gesprochen haben, die aber auch Teil Ihres Antrags ist – sind wir schon ein Stück weiter. Es hat in der letzten Woche einen Beschluss der Bundesländer gegeben, dass man auf die Einnahmen verzichten möchte. Da ist man also schon einen Schritt weiter. Das haben wir auch zur Kenntnis genommen, und das wird sicherlich in die Entscheidung einfließen.
Was ich aber trotzdem noch mal betonen möchte, ist: In den letzten Tagen, auch schon in den letzten Sitzungswochen, sind Sie immer wieder mit neuen Vorschlägen und neuen Anträgen gekommen. Gestern ging es um das Steuerentlastungsgesetz. Nachher geht es um die Energiesteuerabsenkung; hier fordern Sie, dass sie auf zwei Jahre ausgedehnt wird. Sie geben das Geld so ein bisschen mit vollen Händen aus, wollen die Wirtschaft stimulieren, wissen aber nicht genau, wo es herkommt.
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Da habe ich schon den Eindruck, dass es keine richtige Strategie gibt, dass es ein bisschen chaotisch ist; manchmal habe ich auch den Eindruck, dass es vielleicht mit der Wahl am Sonntag zu tun haben könnte.
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Allein dieser Antrag – er ist Dienstagnachmittag online gegangen und als Zusatzpunkt aufgesetzt worden – umfasst Maßnahmen in Höhe von 3 Milliarden Euro. Ich weiß nicht, ob das richtig seriöse Finanzpolitik ist,
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wenn man so was Hals über Kopf vom Zaun brechen will.
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Wir tun uns damit schwer. Wir wollen seriöse Regierungsarbeit machen.
Deswegen zum Schluss – vielleicht auch ein bisschen zur Beruhigung –: Sie kennen die Position des Finanzministers. Sie kennen die Position des deutschen Bundeskanzlers; er hat sich entsprechend geäußert.
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Wir haben eine Strategie. Wir entscheiden nicht aufgrund kurzfristiger Impulse oder Beweggründe, sondern wir überlegen uns ganz genau, welche Entlastungspakete wir auf den Weg bringen, welche Maßnahmen wir ergreifen.
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Wir werden rechtzeitig Planungssicherheit schaffen. Dementsprechend: Wir haben diese Branche nicht im Stich gelassen, wir werden sie nicht im Stich lassen; und darauf können Sie sich verlassen.
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Als nächster Redner erhält Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ziel des CDU/CSU-Antrages ist es, die vorübergehende Umsatzsteuerabsenkung für Speisenabgaben in Restaurants über das Jahresende 2022 hinaus zu verlängern. Interessanterweise fordert die CDU/CSU die Bundesregierung auf, dies – wörtlich – „im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel“ zu tun.
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Das ist der gleiche Vorbehalt wie im gestrigen Antrag „Schutzschirm gegen die Inflation“
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und bedeutet in Wahrheit – mit allem Respekt –, es nicht zu tun; denn verfügbare Haushaltsmittel gibt es nicht.
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Stattdessen haben wir das größte Staatsschuldenproblem, das die Bundesrepublik Deutschland jemals hatte.
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Es soll ausdrücklich der Gastronomie und dem Brauereigewerbe geholfen werden. Die Erwartung ist, dass diese Branchen ihre Preise auf dem gegenwärtigen Niveau halten können. Es geht also nicht darum, das Preisniveau zu senken, um die Konsumenten zu entlasten und dadurch etwa der Inflation entgegenzuwirken. Das ist deshalb interessant, weil sowohl die Regierungskoalition als auch die CDU/CSU derzeit täglich fordern und ankündigen, die Bürgerinnen und Bürger entlasten zu wollen, sei es mit einer Energiepauschale – über die gleich zu reden sein wird – oder mit der temporären Senkung der Energiesteuern oder vielen anderen Ad-hoc-Maßnahmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Ad-hoc-Maßnahmen lösen das Inflationsproblem, das in Wahrheit das Makroproblem ist, nicht.
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Es muss endlich klar werden, dass die Zinspolitik und die Geldmengenausweitung der EZB das Makroproblem sind und alle nationalstaatlichen Maßnahmen Augenwischerei sind. Ich nenne Ihnen nur zwei Strukturzahlen: Die EZB hat seit 2010 ihre Bilanz versiebenfacht; allein 4,5 Billionen Euro davon sind Staatsanleihen, die sie aufgekauft hat, weil sie sonst niemand gekauft hätte.
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200 bis 300 Verstöße gegen die Schuldenregeln in der EU sind sozusagen der Hintergrund, warum sich das alles abspielt. So etwas wie eine solide Währung gibt es nicht mehr.
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Im vorliegenden Fall ist zudem problematisch, dass man einzelne Branchen unterstützen möchte, weil man sich den Beifall der begünstigten Zielgruppe erhofft. Vor rund 13 Jahren hatte die FDP schon einmal mit der Umsatzsteuer für das Hotelgewerbe punkten wollen. Dafür hat sie politisch bitter bezahlt. Bereits damals hatte der Bundesrechnungshof grundlegende Änderungen an der Umsatzsteuer gefordert, weil das System von Ermäßigungen „unübersichtlich und widersprüchlich“ sei.
Die Entfristung der Umsatzsteuersenkung über das Jahresende hinaus könnte man jedoch aus anderen Erwägungen unterstützen. Allerdings muss dabei die Getränkeabgabe der Speisenabgabe gleichgestellt werden. Erstaunlicherweise fordern Sie das nicht. Warum sollen die Getränke im Restaurant immer noch und weiterhin mit 19 Prozent versteuert werden und die Speisen nur mit 7 Prozent?
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Das wiederum führt, wie wir alle wissen, zu Abgrenzungsproblemen zum Lebensmittelhandel, wo die Getränke regulär bei 19 Prozent Besteuerung bleiben. Man sieht: Das Herumdoktern an einer Ausnahmeregelung ist immer problematisch,
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und das ist auch das Problem solcher Schnellschüsse.
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Deshalb bedarf es einer systematischen Herangehensweise. Wir alle kennen die Absurditäten: ermäßigt besteuertes Katzenfutter, regulär besteuerte Babynahrung. Die notwendige Begradigung bei den Umsatzsteuersätzen werden wir mit dem Antrag zwar nicht bekommen – trotz 16‑jähriger Regierungszeit der CDU/CSU –, vielleicht gelingt es jedoch, einen Schritt in die richtige Richtung einer grundlegenden Reform des Umsatzsteuertarifs zu gehen. Dazu leisten wir gerne unseren Beitrag, und das würde genau dem entsprechen, was der Bundesrechnungshof auch fordert.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes folgt für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Sebastian Schäfer.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die letzten zweieinhalb Jahre waren für Restaurants und Kneipen keine einfachen Jahre. Inzwischen gibt es erkennbare Anzeichen der Erholung. Viele Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach Geselligkeit, nach einem schönen Abend mit der Familie und mit Freundinnen und Freunden.
Unsere Betriebe haben aber nicht nur durch die Einnahmeausfälle wirklich gelitten. Vor allem der Fachkräftemangel hat sich noch mal verschärft. Viel Personal hat den Restaurants und Kneipen den Rücken gekehrt; Kollege Klüssendorf hat es angesprochen.
Durch die steigenden Lebensmittelpreise geraten die Betriebe, die gerade den Weg der wirtschaftlichen Erholung begonnen haben, unter weiteren Druck. Um den Weg aus den Krisenjahren nicht weiter zu erschweren, kann eine nochmalige Verlängerung der Absenkung der Umsatzsteuer auf Speisen im Restaurant sinnvoll sein. Wie bei Lieferung oder Abholung – das ist ja ein Bereich, der in der Pandemie regelrecht explodiert ist, mit teilweise auch ganz neuen Geschäftsmodellen –
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könnte auch bei Speisen in Restaurants weiterhin der verringerte Umsatzsteuersatz gelten. – Das war schon immer so, na klar.
Allerdings müssen wir angesichts der Haushaltsentwicklung immer im Blick behalten, wofür wir unser Geld ausgeben, wo wir sparen wollen und was wir priorisieren wollen.
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Diese Ausnahme kostet gesamtstaatlich fast 3 Milliarden Euro im Jahr, allein den Bund gut 1,5 Milliarden Euro. Während wir Haushaltsposten jedes Jahr überprüfen, ist das bei Steuergesetzen bekanntlich anders, zumindest dann, wenn sie nicht befristet sind.
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In diesem Jahr machen wir voraussichtlich so viele Schulden wie noch nie, jedenfalls im Bund. Die Steuerschätzung gestern – Sie haben es angesprochen – ist positiv ausgefallen; aber die Entwicklung bleibt eben schwer zu prognostizieren. Deshalb ist Vorsicht bei dauerhaften Steuersenkungen mehr als angebracht.
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Ich gebe als neugewählter Abgeordneter in diesem Parlament nicht auf, für eine echte Umsatzsteuerreform zu kämpfen. Das steht zurzeit nicht auf der Agenda, obwohl es notwendig wäre. Aber dafür lohnt es sich in diesem Hohen Haus gemeinsam zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Thomas Lutze erhält das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist unstrittig, dass die Gastronomiebranche besonders von der Pandemie betroffen ist. Wochenlange Schließungen, monatelange Einschränkungen haben vielerorts fast allen Betrieben die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Ohne die umfangreichen Coronahilfen, ohne die Solidarität auch aus den Reihen der Kundschaft und ohne die Rücklagen vieler Gastwirte gebe es heute die meisten Unternehmen in dieser Branche nicht mehr.
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Auch wenn viele Einschränkungen aufgehoben werden konnten und die Coronapandemie vorerst ihren Schrecken verloren hat: Wir wissen leider nicht, was im Herbst auf uns zukommt. Die Unionsfraktion weist zu Recht darauf hin, dass zwei scheinbar kleinere Förderinstrumente zum Jahresende auslaufen; so klein sind die mit 3 Milliarden Euro übrigens gar nicht.
Die Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie ist, was die Wirksamkeit angeht, sicher nicht ganz unumstritten; denn der wirtschaftliche Mehrwert findet sich nicht bei den Preisen auf den Speisekarten wieder, es ist ein kleiner Mehrverdienst für die Unternehmen, die in den letzten zwei Jahren trotz Hilfen kräftig draufgezahlt haben.
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„Soll das wirklich zum Jahresende auslaufen?“, frage ich Sie. Ich denke, das ist verfrüht.
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Vergleichbar ist die Situation bei den kleinen und mittelständischen Brauereien. Hier werden zum Jahreswechsel Steuererleichterungen zurückgefahren. Das ist auch verfrüht, weil niemand weiß, wie es im Herbst weitergeht. Im Brauereiwesen schlagen – auch ohne Corona – die steigenden Energie- und Rohstoffkosten besonders zu Buche. In dieser Situation spezielle Biersteuern wieder anzuheben, hilft den öffentlichen Haushalten mit Sicherheit nur sehr eingeschränkt.
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Es kann aber dazu beitragen, dass weitere kleine und traditionelle Brauereien vom Markt verschwinden, wenn man diese Steuern wieder anhebt.
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Übrig bleiben dann hier – und das will, glaube ich, keiner – ausschließlich die großen Brauereikonzerne.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der selbsternannten Fortschrittskoalition, geben Sie sich einen Ruck, und unterstützen Sie den Antrag der Unionsfraktion,
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weil dieser sachlich korrekt und politisch hilfreich ist.
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Anträge der Opposition abzulehnen, weil die Opposition Antragstellerin ist, ist unpolitisch und keine Niederlage der jeweiligen Regierungskoalition.
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Glauben Sie mir – das meine ich ganz ehrlich –, mir und der Linksfraktion fällt es nicht leicht, eher schwer, Anträgen der CDU/CSU zuzustimmen.
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Aber wir schaffen das. Und was wir schaffen, kriegen Sie von der Koalition mit Sicherheit auch hin.
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Jetzt ergreift Till Mansmann für die FDP-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen Jahre der Pandemie waren für uns alle eine wirklich große Herausforderung. In ganz besonderem Maße gilt und galt das für die Kunst- und Kulturszene, für die Gastronomiebranche und eben auch für die vielen Brauereien in unserem Land. Gerade wir Freien Demokraten haben das immer wieder zum Thema gemacht.
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Wir haben immer wieder dafür geworben, die Bedürfnisse von Kunst und Kultur, der Gastronomiebranche und vielen weiteren, kurzum, von all dem, was uns das Leben schön macht, gerade auch in Pandemiezeiten in den politischen Fokus zu rücken. Bei Ihnen, liebe Kollegen von der Union, sind wir damit über weite Teile auf taube Ohren gestoßen.
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Deswegen ist es gut und richtig, dass wir in den vergangenen Monaten gemeinsam mit unseren Ampelpartnern die Chance genutzt haben, hier echte Änderungen zu erreichen.
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Bei Ihnen von der Union hat sich dagegen leider auch mit dem Wechsel in die Opposition nicht so viel getan. Stattdessen gilt bei Ihnen das Motto: Immer, wenn man nicht so richtig weiterweiß, dann gründet man einen Arbeitskreis oder schlägt irgendeine Veränderung bei der Mehrwertsteuer vor.
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Ganz ehrlich: Diese wichtige Steuer hat Besseres verdient, als jede Woche als arme Sau durch die politischen Dörfer getrieben zu werden; der Kollege Klüssendorf hat das auch schon dargestellt.
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Ein bisschen Planung darf schon dahinter sein.
Wir haben wirklich volles Verständnis dafür, die Nöte zu sehen, in die allen voran Sie als die Regierenden der letzten Legislaturperiode die Kulturszene, die Gastronomie- und Veranstaltungsbranche gebracht haben. Aber alle paar Wochen ein neues Bündel haushälterisch nicht abgesicherter Forderungen in den Ring zu werfen, das ist eben genau die Form nicht nachhaltiger Politik, die uns überhaupt erst in die Situation gebracht hat.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Mansmann, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Wenn ich im Supermarkt um die Ecke Eier kaufe, um mir daraus ein Omelett zuzubereiten,
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zahle ich 7 Prozent Umsatzsteuer. Wenn ich aber zu der Erkenntnis komme, dass es aus technischen Gründen besser ist, wenn das Omelett jemand anderes zubereitet, und deswegen zum Café um die Ecke gehe und es dort vor Ort verzehre, muss ich ab 1. Januar 2023 wieder 19 Prozent Umsatzsteuer bezahlen, obwohl im Café Arbeitsplätze geschaffen werden für den Koch und für den Kellner. Die Frage ist also: Wie lösen Sie diesen Wertungswiderspruch auf? Wäre es nicht angebracht, dass die Dinge, die der Versorgung dienen, generell dem verminderten Umsatzsteuersatz unterfallen?
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Kollege, das können wir schnell machen. Ich gebe Ihnen da recht – der Kollege Klüssendorf hat darauf hingewiesen –: Die Mehrwertsteuer ist wirklich eine Steuer, die überarbeitet gehört,
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wo man ganz viele solcher Widersprüche findet. Genau deswegen ist es falsch, jetzt wieder mit neuem Klein-Klein da ranzugehen.
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Es kann sein, dass wir im Laufe des Jahres dazu kommen, dass wir diese Maßnahme noch mal überprüfen. Es kann sein, dass wir dann plötzlich wieder eng zusammenliegen. Aber in dem Zusammenhang, so, wie es jetzt gerade ist, ist es falsch.
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Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, von Frau Karliczek?
Nur zu.
Jetzt mal ganz im Ernst: Ihr Finanzminister erzählt überall, dass er das für richtig befindet und dass er das will. Wer ist denn hier in der Verantwortung, das jetzt umzusetzen? Wenn wir genau an dieser Stelle sagen: „Es wird jetzt Zeit, das umzusetzen“, dann fängt er erst an, darüber nachzudenken? Das ist ein komisches Gebaren eines Finanzministers, erst voranzupreschen und zu sagen: „Ich will das!“, und dann nicht zu wissen, wie es bezahlt werden soll. Irgendwas stimmt da nicht.
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Nein, nein, Frau Kollegin Karliczek. Sie lösen jetzt zwei kleine Maßnahmen aus dem Ganzen heraus
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und legen sie uns hier als einzelnen Antrag vor, in einer Zeit, in der wir gerade ganz große Entlastungspakete für die Bürger auf den Weg gebracht haben.
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Ich finde, das ist einfach von der politischen Sortierung her nicht in Ordnung.
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Ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns am Ende auf diese Maßnahmen einigen. Ich bin gespannt, ob Sie dann uns zustimmen. Darauf bin ich wirklich gespannt.
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Ja, liebe Kollegen von der Union, auch bei der Biersteuermengenstaffel fordern Sie die Fortführung einer Maßnahme, deren Befristung Sie selbst doch beschlossen haben, als Sie noch an der Regierung waren. Da ich mich an die Entstehung dieser Regelung in der letzten Legislaturperiode noch gut erinnern kann, finde ich es hilfreich, das hier mal darzustellen. Sie schreiben, das sei damals ein Beitrag zur Bekämpfung der Coronafolgen bei den Brauereien gewesen. Seien wir doch ehrlich: Nicht Corona hat der Gastronomie und den Brauereien zugesetzt. Zugesetzt haben Sie ihnen mit scharfen Maßnahmen, deren Wirksamkeit wir gerade zu analysieren versuchen.
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Das Zwischenergebnis ist nicht gerade schmeichelhaft für das Regierungshandeln in der letzten Legislaturperiode.
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Viele von uns haben Ihnen damals gesagt: Aber in die Biergärten an der frischen Luft kann man doch gehen! Darauf haben Sie gesagt: Das geht jetzt nicht! – Jetzt, wo die Biergärten offen sind, kommen Sie – zu dieser Zeit, wo wir riesige Pakete schnüren – mit dieser kleinen Maßnahme und wollen das Gesetz, was Sie damals beschlossen haben, abändern.
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Sie haben damals die ermäßigte Biersteuermengenstaffel in letzter Minute als Änderungsantrag 26 noch in Ihren Beschluss reingepfriemelt.
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Jetzt auf einmal gerieren Sie sich als Freund und Partner unserer weltweit einzigartigen und vielfältigen deutschen Brautradition.
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Das ist ein Spiel auf dem Rücken dieser Tradition, das wir nicht mitspielen wollen. Auch wir von der Ampelfraktion sehen, dass die Kulturszene, die Gastronomie, die Veranstaltungsbranche, die Brauereien wieder richtig ans Laufen kommen müssen. Wir freuen uns jetzt auf die kommenden Sommerfeste, die an vielen Orten erstmals nach über zwei Jahren wieder stattfinden. Aber jetzt, wo alles wieder offen ist, wo alles laufen kann, kommt Ihr Antrag nicht zur richtigen Zeit.
Gerade bringen wir umfangreiche steuerliche Entlastungen im Gesamtvolumen von 45 Milliarden Euro auf den Weg. Lassen Sie uns die nächsten drei Monate erst einmal schauen, wie sie wirken. Bei vielen Maßnahmen kommt es auch darauf an, welche Verhaltensänderungen die Konsumenten vornehmen. Sie schreiben selbst, das solle „im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel“ geschehen. Da müssen Sie doch selber sagen: Dann ist doch jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
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Hätten wir Ihnen das heute so vorgelegt, hätten Sie gesagt: Im Einzelnen sind das interessante Vorschläge. Aber was ist das für ein Klein-Klein, was ist das für eine Flickschusterei? – Genau das Gleiche sagen wir Ihnen auch.
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– Das sagen Sie jetzt. Das werden wir dann sehen, wenn das vielleicht in dem Jahr noch mal kommt.
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Ich halte es für durchaus möglich, dass wir darüber noch mal sprechen. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Dann sehen wir, ob wir gemeinsam – vielleicht dann mit großer Mehrheit – doch noch mal Vorhaben auf den Weg bringen.
Vielen Dank.
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Mit großer Freude stelle ich fest, dass Sie unglaublich wach und munter sind.
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Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort die Kollegin Mechthilde Wittmann.
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Frau Präsidentin! Meine Damen Staatssekretärinnen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen heute einen Antrag vor, bei dem wir – so glaubte ich – eigentlich sicher sein konnten, einen großen Konsens zu erzielen; denn wir haben eigentlich von Ihnen abgeschrieben. Das sage ich ganz offen.
Ich darf zuerst Olaf Scholz – damals Finanzminister; der, der weiß, wo das Geld herkommt – aus der ARD-„Wahlarena“ vom 7. September 2021 zitieren:
Wir haben die Mehrwertsteuer für Speisen in der Gastronomie gesenkt und das noch mal verlängert, und ich will Ihnen gern versichern:
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Ich habe dieser Verlängerungsentscheidung zugestimmt und der Einführung in dem sicheren Bewusstsein: Das schaffen wir nie wieder ab.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Aha!
Also das ist jetzt etwas, was für die Gastronomie jetzt auch gelten soll.
Und: Darauf können Sie sich verlassen. – Zitat Ende.
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Meine Damen und Herren, ich darf jetzt ergänzen: Das war der ehemalige Finanzminister, der jetzt in das Amt des Bundeskanzlers gewechselt ist.
Jetzt lese ich vor, was Bundesfinanzminister Christian Lindner am 20. März 2022 – das ist noch gar nicht so lange her – gesagt hat.
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– Ich kann wenigstens lesen, und ich kann auch reden, ohne dass ich ablesen muss, weil mir das, was ich lesen müsste, peinlich wäre.
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An den DEHOGA Bundesverband gerichtet sagte er, er sei absolut dafür, in dieser Legislaturperiode eine dauerhafte Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie durchzusetzen.
Beides soll offenkundig, Herr Mansmann, nicht mehr gelten. Deswegen kann ich über das, was so ich höre, nur staunen.
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– Herr Klüssendorf, selbstverständlich lehnen Sie das ab, von dem Ihr Bundeskanzler gesagt hat: Sie können sich darauf verlassen. – Unfassbar!
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Sie sind eine Koalition der Ankündigungen, aber niemals der Vollender, und Sie haben einen Kanzler, der eigentlich nur noch Kanzlerversprechen brechen kann.
Lassen Sie mich noch einmal kurz ergänzen, was die Kollegin Karliczek schon wunderbar ausgeführt hat – und Sie alle erfreulicherweise ja auch –: Die Gastronomie hat natürlich gelitten wegen ganz vieler Komponenten, die zusammenkamen. Aber es wird ja jetzt nicht besser; denn jetzt, wo sie eigentlich wieder ans Laufen kommen könnte, haben wir massiv steigende Energiepreise. Übrigens: Ihr Energiesteuersenkungsgesetz haben Sie erst einen Tag vorher vorgelegt; ich wollte es nur ganz kurz ansprechen wegen der Fristen. – Die Menschen haben jetzt damit zu kämpfen, dass die Inflationsrate steigt. Die Nahrungsmittelpreise steigen, das heißt, der Einkauf wird teurer, und die Verbraucher, die das an allen Ecken und Enden spüren, werden sich zurückhalten.
Jetzt gilt es doch, hier wieder dafür zu sorgen, dass die Menschen zueinander kommen können und auch Sicherheit und Halt aneinander finden. Das tun sie in der Gastronomie, wo sie sich treffen, wo sie sich austauschen. Das ist gelebte Lebensart. Das ist der Kitt der Gesellschaft, und dafür treten wir ein, in dem besten Wissen: Sie wollen eigentlich das Gleiche, Sie dürfen heute nur nicht.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dem Punkt bitte auch noch zu den kleinen, mittelständischen und unabhängigen Brauereien kommen; denn das, was wir hier vorfinden, ist etwas, was wir nicht nachholen können. Die Brauereien haben ihre Umsatzeinbußen ganz maßgeblich beim Fassbier gehabt, das bei Vereinsfesten, bei den großen Volksfesten, ausgeschenkt wird, die alle weggefallen sind, die langsam, aber noch wenig planbar, wieder anlaufen. Wollen wir ihnen gegenüber jetzt gleich wieder alle Hilfen reduzieren und nicht diese kleine Hilfe geben, die sie brauchen können, die zu geben für uns unproblematisch ist und die die FDP – bitte hören Sie gut zu, Herr Mansmann – am 23. März 2021 mit einem eigenen Antrag – nämlich weiterhin die Biersteuer zu senken – beantragt hat? Dann stimmen Sie doch bitte auch hier zu!
Hier geht es nicht um die 30 Prozent der gesamten Biermenge, die allein von einem Großkonzern ausgeschenkt werden. Hier geht es nur um 16,5 Prozent der Biermenge, aber um über 96 Prozent unserer traditionellen Brauereibetriebe, familiengeführte Betriebe.
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Das ist noch echtes Handwerk mit Traditionsbewusstsein, und es ist vor allen Dingen ganz, ganz wichtig für uns.
Wir stützen damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir können mit dem kleinsten Hebel – da haben Sie vollkommen recht – Großes bewirken, weil Vertrauen gefasst wird, weil Planbarkeit da ist und weil die Menschen in dieser Branche sehen: Wir haben tatsächlich verstanden, wie es ihnen jetzt geht.
Lassen Sie mich eines ergänzen: Zu den kleineren Brauereien gehören im Regelfall auch noch die Brauereigasthöfe. Sie werden doppelt getroffen, wenn Sie heute nicht zustimmen. Aber das geht allein mit Ihnen nach Hause.
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Ein Letztes. Lassen Sie mich damit auch noch für unsere Bürgerinnen und Bürger sprechen: Unsere Bürger haben Ängste, wie sie sie früher nicht haben mussten. Sie hatten immer irgendwelche Probleme. Heute haben sie Angst vor gesundheitlichen Problemen; diese Generationen haben eine Pandemie noch nicht erlebt. Sie haben Angst aufgrund des Konflikts in der Ukraine. Die Gefahr für ihre persönliche Sicherheit und die unseres Landes macht ihnen Angst. Und sie haben finanzielle Ängste aufgrund der galoppierenden Inflation, von der wir ehrlicherweise noch nicht wirklich wissen, wie wir sie gut in den Griff kriegen.
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Deswegen gilt es jetzt, eines zu tun: ihnen Zuversicht zu geben, ihnen eine Geste zu geben, dass sie beieinander bleiben können, und dass wir fordern und fördern, was wir gemeinsam ja offenkundig schon einmal im Konsens gemacht haben.
Ich danke Ihnen.
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Es fährt in der Debatte fort Armand Zorn für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich heute wirklich, über diesen Antrag zu sprechen; denn das ist eine hervorragende Gelegenheit, über das wichtige Thema der Mehrwertsteuer zu sprechen.
Allerdings muss ich anfangs gleich sagen, dass die Intention der CDU/CSU-Fraktion hier eher zweifelhaft ist.
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Es geht Ihnen gar nicht um das Wohl der Konsumentinnen und Konsumenten oder der Gastronomie,
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sondern vielmehr geht es hier um irgendwelche politischen Spielchen.
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Das wird auch klar und deutlich, wenn man sich den Antrag und die Begründung durchliest und sich die Redebeiträge anhört, die Sie hier gerade gehalten haben. Wenn Sie bei der Beibehaltung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes hauptsächlich damit argumentieren, dass der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister sich diesbezüglich in der Vergangenheit positiv geäußert haben,
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dann zeigen Sie doch, dass Sie persönlich kein eigenes Konzept für die Mehrwertsteuer haben und dass Sie hier einfach nur eine Schlagzeile generieren wollen.
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Das ist leider so.
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Der Kollege Klüssendorf ist bereits darauf eingegangen, wie das in der Pandemie war und wie wir mit den vielen verschiedenen Maßnahmen die Gastronomie unterstützt haben. Ich möchte mich jetzt in meiner Redezeit darauf konzentrieren, grundsätzlich über die Mehrwertsteuer zu sprechen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch so, dass es sich bei jeglicher Steuerart nicht nur um eine reine Einnahmequelle für den Bund, für die Länder oder für die Kommunen handelt, sondern Steuern haben auch eine grundsätzliche Steuerungs- und Lenkungsfunktion.
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– In der Tat; darum heißen sie auch „Steuern“. Das muss man aber immer wieder sagen.
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Durch Steuern haben wir natürlich die Möglichkeit, Verhaltensweisen zu lenken. Wir haben die Möglichkeit, für mehr Gerechtigkeit und für mehr Umverteilung zu sorgen. Dies gilt natürlich auch für die Mehrwertsteuer. In Krisenzeiten ist sie ein Instrument, um die Konjunktur zu beleben; sie ist ein Instrument, um Bürgerinnen und Bürger zu entlasten und Unternehmen zu unterstützen. So haben wir das in der Coronapandemie getan, damals gemeinsam mit der Union und jetzt in der Ampelkoalition. Das ist die Verantwortung, die wir als Regierung hier tragen wollen.
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Wenn wir uns jetzt aber das aktuelle Mehrwertsteuersystem anschauen, dann müssen wir durchaus feststellen, dass es weder schlüssig ist noch der gesellschaftlichen Realität nahekommt. Ich will hier mal ein paar Beispiele nennen, die das eindrucksvoll verdeutlichen:
Wenn ich in der Frankfurter Altstadt unterwegs bin und dort einen Kaffee to go bestelle, dann zahle ich eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent. Trinke ich allerdings einen Latte macchiato und nehme ihn auf die Hand, dann sind es nur 7 Prozent. Denn liegt der Milchanteil des Getränks bei mehr als 75 Prozent, gilt es als Milchmischgetränk und wird somit begünstigt.
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Es geht aber weiter: Wenn ich allerdings meinen Latte macchiato lieber mit Hafer-, Mandel-, Soja- oder Kokosmilch trinke, dann sind es wieder 19 Prozent. Denn Kuhmilch gilt als Grundnahrungsmittel, und Kokos- und Mandelmilch oder was auch immer gelten eben nicht als Grundnahrungsmittel.
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Das zeigt schon mal, dass da was nicht stimmt.
Es geht weiter: Wenn ich meinen Latte macchiato im Café trinken möchte, egal was für eine Milch ich dazunehme, ob Kuhmilch oder was auch immer, dann zahle ich wiederum die vollen 19 Prozent.
Ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass wir hier mehr machen müssen als das, was die CDU vorschlägt, ist: Wer Babynahrungsmittel kauft, zahlt den vollen Steuersatz von 19 Prozent. Wer allerdings Katzennahrung kauft, der zahlt nur 7 Prozent.
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Katzennahrung gilt hier als Grundnahrungsmittel, Babynahrung allerdings nicht.
Liebe Kollegen und Kollegen, Sie sehen, es gibt genug Beispiele, die verdeutlichen: Das aktuelle System ist unübersichtlich und in sich nicht schlüssig. Deswegen brauchen wir da einen großen Wurf.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, sich jetzt alleine auf die Frage der ermäßigten Mehrwertsteuer in der Gastronomie zu konzentrieren, ist unserer Meinung nach keinesfalls richtig. Wir brauchen hier einen ganzheitlichen Ansatz.
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Deswegen freuen wir uns, in Zukunft hierzu weitere Debatten führen zu können; denn das ist sehr wichtig. Wir freuen uns auf Ihre Anträge, die in Zukunft diesbezüglich kommen werden,
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werden aber als Regierungsfraktion auch selbst die Initiative ergreifen und zeitnah darüber diskutieren.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Zorn. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Coronajahre waren tragisch für die Tourismusbranche, vor allem für die Gastronomie. Lockdowns, Abstandsregeln, 3 G, 2 G Plus haben zu langem Stillstand und zu Durststrecken im Tourismus geführt. Ob Restaurants, Reiseveranstalter, Reisebüros, Hotels: Die Unternehmen haben Umsätze in Milliardenhöhe verloren, und zu Recht flossen mehr als 43 Prozent der staatlichen Hilfen an die Reisewirtschaft und die Gastronomie; Herr Kollege Klüssendorf hat weitere wichtige Hilfen angesprochen. Sie waren also der Rettungsanker für die Tourismuswirtschaft in der Krise.
Mit der befristeten Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen in der Gastronomie von 19 auf 7 Prozent, vorübergehend sogar auf 5 Prozent, hat der Bundestag die Unternehmen noch mal zusätzlich entlastet, zumindest die Speisegastronomie. Auch das muss uns bei dieser Debatte klar sein: Die Mehrwertsteuer und die Biersteuer sind während der Coronapandemie gesenkt worden, um die Unternehmen in der Krise zu unterstützen. Dass das Schnitzel im Wirtshaus oder das Weizen im Biergarten günstiger werden, das war nie Ziel der Politik. Es ging damals und es geht auch jetzt in erster Linie um eine Unternehmensunterstützung, eine Subvention.
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Wir leben gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten. Die Inflation steigt. Die Energie- und Rohstoffpreise steigen. Strom, Öl, Gas, Frittierfett, Tomaten, Brot – alles wird teurer, für Verbraucherinnen und Verbraucher und Unternehmen. Aber die vorübergehend schwierige Situation ist doch kein Argument, um die Steuern dauerhaft zu senken. Wenn es Ihnen wirklich darum geht, die Speisegastronomie in der aktuellen Krise zu unterstützen, warum fordern Sie dann nicht, die befristete Steuersenkung noch mal zu verlängern, um die Unternehmen damit zielgerichtet durch diese Krise zu begleiten?
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Ein Satz noch zur Biersteuer. Deutschland erhebt nach Rumänien und Bulgarien die drittniedrigste Biersteuer in der EU. Wenn wir die kleinen und mittelständischen Brauereien unterstützen wollen, dann ist die Biersteuer dafür wirklich das falsche Instrument. Die Biersteuer dauerhaft zu senken, halte ich für einen Irrweg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können darüber reden, die reduzierte Mehrwertsteuer für Speisen und Gastronomie für eine gewisse Zeit zu verlängern, damit wir die Unternehmen nach der einen Krise, der Pandemie, zielgenau durch die nächste Krise begleiten und so auch den Tourismusstandort Deutschland stärken. Für die dauerhafte Steuersenkung fehlen mir aber die stichhaltigen Argumente.
Wenn Sie als Union schon der Lobby nach dem Mund reden, dann hätte ich mir auch wirklich ein paar gute von der Lobby übernommene Argumente gewünscht. Die gibt es nämlich; die werden auch gebracht. Ihr Antrag bringt das nicht gut zum Ausdruck. Ihre fadenscheinige Begründung führt dazu, dass wir Ihren Antrag ablehnen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt.
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– Frau Kollegin Karliczek, die Debatte ist jetzt beendet.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Krieg stellt eine Zäsur dar – eine Zäsur nicht nur für die Menschen in der Ukraine und für die Sicherheitsarchitektur Europas, nein, er stellt auch eine Zäsur in unserer Energiepolitik dar, wo der Angriffskrieg Wladimir Putins einen Schock verursacht hat, wie er höchstens mit der Ölkrise 1973 vergleichbar ist.
Deutschland zahlt nun den Preis für die geopolitische Kurzsichtigkeit vergangener Bundesregierungen.
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Wir haben uns energiepolitisch vom Kreml abhängig gemacht und die drohende Gefahr aus Russland zu lange ignoriert und dann beschönigt. Deshalb gilt das, was Annalena Baerbock in Kiew gesagt hat: Es geht darum, die Abhängigkeit von russischen Energieimporten für immer zu beenden. – Und es gibt in dieser Frage auch kein Zurück mehr.
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Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Energiepolitik binnen Monaten auf komplett neue Beine zu stellen. Aber dieser Prozess darf eben nicht alleine auf dem Rücken der Menschen ausgetragen werden, die wir nun gezielt und bestmöglich entlasten werden.
In den vergangenen Monaten sind die Spritpreise signifikant gestiegen. Und auch nach einer temporären Korrektur nach unten sind sie immer noch auf sehr hohem Niveau – aktuell leider mit steigender Tendenz. An meiner Heimattankstelle in Westernhausen kostet der Liter Super in dieser Stunde 2,03 Euro, in einem Wahlkreis, in dem das Auto keine Lifestyle-Entscheidung ist, sondern eine bittere Notwendigkeit, weil es keine Alternativen gibt.
Mit der temporären Senkung der Energiesteuer auf Benzin, Diesel, Erdgas und Flüssiggas stellen wir sicher, dass diese unvorhersehbare Mehrbelastung der Menschen signifikant sinkt. Es geht uns um die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, die auf ihren Pkw angewiesen sind. Sie dürfen nicht alleine die Zeche zahlen für die politischen Fehler der Vergangenheit. Es geht uns aber auch um die Entlastung des Handwerks, das unter den gestiegenen Energiepreisen ächzt und Probleme hat, die Kosten weiterzugeben. Es geht uns ebenfalls ganz signifikant um die Logistikbranche, die unsere ohnehin fragilen Lieferketten aufrechterhält und für die die Preissteigerungen zu einer existenziellen Gefahr geworden sind.
Gleichzeitig halten wir uns mit der Vorlage an europarechtliche Vorgaben, da wir das europäische Mindeststeuerniveau nicht unterschreiten. Damit ist diese Koalition eine erfrischende Abwechslung; denn sie nimmt die Europäische Union und ihre Regeln ernst.
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Kombiniert mit der niedrigeren Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer und weiteren flankierenden Maßnahmen wie dem 9‑Euro-Ticket haben wir als Koalition die gesamte Mitte der Gesellschaft im Blick – unabhängig vom Mobilitätsträger – und federn die aktuellen Zusatzbelastungen effektiv ab. So sieht verantwortungsvoller und ganzheitlicher Umgang mit der aktuellen Situation, aber auch mit den Steuergeldern der Bürgerinnen und Bürger aus.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Abel. – Nächster Redner ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Senkung der Energiesteuer ist grundsätzlich ein gutes Instrument, weil es anders als manch anderes, was Sie in Ihrem Paket beschlossen haben – ich nenne hier die Energiepreispauschale –, ein Instrument ist, das sehr schnell wirken kann, das unbürokratisch ist und das auch zielgenau denjenigen hilft, die derzeit durch die hohen Preise an der Tankstelle betroffen sind.
Ich meine, wir erleben doch alle in unseren Gesprächen in den Wahlkreisen, dass es schon eine große Sorge über die hohen Benzin- und Dieselpreise gibt, insbesondere bei uns im ländlichen Raum, wo man eben nicht einfach umsteigen kann – der Kollege von der FDP hat es gerade schon gesagt –, sondern wo der Pendler auf das Auto angewiesen ist und natürlich dann auch Benzin oder Diesel tanken muss, wo die Handwerksbetriebe erst einmal zum Kunden kommen müssen, um dort ihre Dienstleistungen zu erbringen, und wo die Logistikbranche dafür sorgt, dass die Waren dorthin kommen, wo sie gebraucht werden. Das heißt: Es ist eigentlich ein gutes Instrument.
Deswegen hätte ich mir schon gewünscht, dass Sie den Anträgen, die wir als Unionsfraktion schon vor Monaten eingebracht haben, nämlich genau diese Energiesteuer zu senken, schon vor Monaten zugestimmt hätten; denn dann hätten wir die Entlastung schon jetzt und nicht erst von Juni bis August.
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Von daher gebe ich Ihnen den Tipp – wir haben das gerade auch bei unserem Antrag auf Entlastung für die Gastronomie gesehen –: Unsere Anträge sind meist sehr gut. Sie können denen durchaus zustimmen.
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Von daher sage ich Ihnen: zu spät, aber ehrlich gesagt, auch zu kurz gesprungen. Es ist natürlich schon klar, dass die drei Monate Juni bis August, die jetzt im Gesetzentwurf stehen, ein zu kurzer Zeitraum sind. Uns allen muss doch klar sein: Diese Krise wird länger andauern. Die Ukrainekrise, der schreckliche Krieg der Russen gegen die Ukraine, wird vermutlich länger andauern und damit verbunden auch die hohen Energiepreise. Deswegen hatten wir unseren Antrag schon vor Monaten eingebracht und werden das auch in die Debatte hier mit einbringen. Wir wollen, dass die Energiesteuer für zwei Jahre gesenkt wird. Wir wollen aber auch, dass die Stromsteuer gesenkt wird, um auch hier zu einer Entlastung zu kommen.
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Jetzt könnte man sich fragen – das hat gestern eine Schülerin der Schulklasse, die ich hier zu Besuch hatte, getan –: Warum ist es eigentlich der Zeitraum Juni bis August? Daraufhin habe ich auch überlegt, wie man auf diesen Zeitraum gekommen ist – das ist ja sehr verwunderlich –, und bin zu dem Schluss gekommen: Das ist tatsächlich der günstigste Zeitraum für die Regierung und damit im Übrigen der ungünstigste Zeitraum für die Bevölkerung. Gerade in diesem Zeitraum wird wenig geheizt – der Gasverbrauch zwischen Juni und August entspricht nur 5 Prozent des Gesamtgasverbrauchs –, und wir haben Sommer, also Urlaubszeit; das heißt: Viele Pendler brauchen ihr Auto in dieser Zeit gar nicht. – Sie nehmen extra diesen Zeitraum.
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Man könnte auch sagen: Eigentlich ist das Ganze hier eine Mogelpackung.
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Am Schluss bitte ich Sie von den Koalitionsfraktionen, auch weil das Verfahren ja sehr schnell durch den Bundestag gejagt wird, eines zu korrigieren, was Sie vergessen haben. Sie haben eben auch erwähnt: Sie wollen die Steuer auf Diesel auf die Mindestbesteuerungsgrenze senken, die uns die Europäische Union erlaubt. Sie wissen – das denke ich; wenn nicht, hören Sie zu –, beim Agrardiesel liegt diese Grenze sehr viel niedriger. Das heißt: Wir hätten beim Agrardiesel die Chance, hier noch mal mehr zu machen. Sie schreiben ja in Ihrem Gesetzentwurf, dass Sie bei allen Kraftstoffen auf die Mindestbesteuerung gehen wollen.
Die Ukrainekrise hat uns eines gezeigt: Es kommt auf Sicherheit an, innere und äußere, es kommt aber auch darauf an, dass gewährleistet ist, dass wir etwas zu essen auf dem Tisch haben. Sie als Koalition und Herr Özdemir haben die Chance verpasst, Flächen jetzt freizugeben, damit Bauern, Landwirte mehr Lebensmittel anbauen können. Verpassen Sie jetzt nicht auch noch die Chance, zu einer Erhöhung der Agrardieselvergütung zu kommen, damit dann auch etwas gegen die Inflation im Bereich der Lebensmittel getan werden kann.
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Abschließend will ich noch auf eines hinweisen: Es ist schon ein großer Kraftakt, den wir als Bund machen. Das sagen wir auch als Opposition an der Stelle. Aber auch die Bundesländer sind in der Pflicht, ihren Anteil bei der Bekämpfung der hohen Preise und der Inflation zu leisten. Ich will ein Beispiel nennen: Ich habe einen Hilferuf von vielen Sportvereinen bekommen, die durch die Explosion der Energiepreise jetzt darüber nachdenken müssen, Mitgliedsbeiträge und anderes zu erhöhen, und große Angst davor haben, dass nach der Coronakrise, in der auch Kinder und Jugendliche die Verlierer waren, wir jetzt durch die Inflation in die Situation geraten, dass Kinder und Jugendliche keinen Sport mehr machen können. Daher fordere ich die Bundesländer auf: Auch sie müssen ihrer Verantwortung gerecht werden in den Bereichen, wo sie zuständig sind.
In diesem Sinne: Das sinnvolle Instrument sollten Sie bitte auch sinnvoll einsetzen. Das ist derzeit noch nicht der Fall. Sie haben noch bis nächsten Mittwoch Zeit, dies entsprechend anzupassen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Steiniger. – Nächster Redner ist der Kollege Carlos Kasper, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen derzeit vor mehreren großen Herausforderungen: Klimakrise, Coronakrise, jetzt Krieg in Europa. Eine dieser Herausforderungen wäre schon schlimm genug. Heute und die ganze Woche über haben wir uns im Bundestag besonders mit den Folgen und den Auswirkungen des Ukrainekriegs beschäftigt.
Mit dem Energiesteuersenkungsgesetz, das wir hier heute in erster Lesung beraten, gehen wir ein Problem an, das besonders viele Menschen betrifft. Wir werden für drei Monate nicht nur die Steuern auf Diesel und Benzin senken, sondern auch für Gaskraftstoffe. Damit entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger schnell und direkt.
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Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar ist der Rohölpreis sehr plötzlich und sehr rasant gestiegen, und auch die Preise für Diesel und Benzin sind durch die Decke gegangen. Noch vor dem 24. Februar kostete 1 Liter Benzin ungefähr 1,75 Euro an der Tankstelle. Mitte März waren es bereits 2,20 Euro. Einige auch hier im Hause argumentieren immer noch, dass dieser Preisanstieg auf den CO2-Preis zurückzuführen sei. Das ist schlichtweg falsch. Der CO2-Preis besteht bereits seit Anfang 2021. Seitdem haben wir noch nie solch einen rapiden Preisanstieg gesehen.
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– Nein, es ist der Überfall Russlands auf die Ukraine, weswegen der Ölpreis so stark gestiegen ist.
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Deswegen ist es jetzt wichtig, bei diesen außergewöhnlich hohen Spritpreisen gegenzusteuern und die Verbraucherinnen und Verbraucher gezielt zu entlasten.
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Die Senkung der Energiesteuer ist ein wichtiger Bestandteil unserer Entlastungspakete. Sie wirkt direkt und ganz konkret. Wir werden die bestehenden Steuern auf das EU-Mindestmaß herabsenken. Das bedeutet, dass Benzin 30 Cent pro Liter und Diesel 14 Cent pro Liter weniger kosten werden. Das ist eine enorme Entlastung, die den Staat monatlich über 1 Milliarde Euro kosten wird. Aber wir senken damit die Preise für Benzin und Diesel auf das Vorkrisenniveau.
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Einige ganz schlaue Vertreter hier im Hause fordern jetzt, die Steuern auf null zu senken. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht nicht möglich. Die Steuern in Deutschland werden auf Grundlage der Energiesteuerrichtlinie der Europäischen Union gemacht. Diese Richtlinie sieht vor, dass es eine Mindeststeuer auf Sprit gibt. Auf diesen Mindestsatz senken wir die Steuer jetzt. Eine stärkere Senkung ist aus europarechtlichen Gründen eben nicht machbar.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist mir sehr wichtig. Die Steuersenkung muss bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommen; denn für die Menschen senken wir die Steuer und nicht für die Großkonzerne.
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Es darf nicht wieder passieren, dass der Rohölpreis und der Spritpreis drastisch und ungerechtfertigt voneinander entkoppelt werden. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben wir eine solche Entwicklung bei uns an den Tankstellen beobachten können. Obwohl der Rohölpreis kurz nach dem Kriegsbeginn stark stieg, sank er danach wieder. Der Spritpreis allerdings blieb weiter auf sehr hohem Niveau. Diese Entkopplung der Spritpreise vom Rohölpreis brachte satte Gewinne für die Mineralölkonzerne. Allein der Ölriese Shell hat im ersten Quartal einen Rekordgewinn von fast 7 Milliarden Euro erzielt.
Wir alle stehen vor großen Herausforderungen, vor Preissteigerungen und Unsicherheiten. Die Großkonzerne sind in der Pflicht. In so einer Situation dürfen sie sich nicht noch an der Allgemeinheit bereichern.
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Deswegen setze ich mich dafür ein, dass die Steuersenkung eben nicht bei den Mineralölkonzernen bleibt, sondern an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird. An den Tankstellen muss deutlich sichtbar sein, dass wir die Steuer gesenkt haben. Dass das notwendig ist, werden wir in den anstehenden Verhandlungen zu diesem Gesetz deutlich machen.
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Steuersenkungen auf Diesel und Benzin fallen in eine Zeit, in der wir mehr denn je den Klimawandel merken. Dürresommer, Stürme, großflächige Überschwemmungen sind Auswirkungen des Klimawandels, die wir bereits jetzt in Deutschland sehen. Die Pariser Klimaziele werden wir nur mit allergrößten Anstrengungen erreichen, und einige Entwicklungen werden wir wohl gar nicht mehr umdrehen können. In dieser Lage die Steuern auf fossile Energieträger zu senken, ist keine Tat für das Klima. Deswegen ist es wichtig, zu betonen, dass diese Steuersenkung auf drei Monate befristet ist. Wir machen diese Subventionierung nur ausnahmsweise. Im August wird diese Steuersenkung wieder auslaufen.
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Und dennoch ist es richtig, dass wir die Steuern absenken, da wir gleichzeitig ein 9‑Euro-Ticket für den ÖPNV einführen. Diejenigen mit gutem ÖPNV vor der Haustür können damit einfach vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen.
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Diejenigen aber im ländlichen Raum mit kaum oder gar keinem ÖPNV entlasten wir mit dieser Steuersenkung.
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Das Energiesteuersenkungsgesetz ist eine der vielen Maßnahmen, die wir als Ampelkoalition auf den Weg gebracht haben, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Das ist richtig und wichtig. Ich freue mich deswegen auf die Umsetzung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kasper. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Jan Wenzel Schmidt, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland hat die höchsten Strompreise. Deutschland hat die höchsten Kraftstoffpreise. Deutschland hat die höchsten Steuern. Und was macht die Regierung? Sie schaltet Kohle- und Kernkraftwerke ab. Sie verteuert mit Klimahysterie unseren Diesel.
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Sie enteignet die Bürger mit der höchsten Inflation seit Jahrzehnten. Und was gibt es jetzt zum Ausgleich? Was präsentiert die Ampel uns heute als großen Wurf?
Jetzt soll die Energiesteuer für drei Monate gesenkt werden. Wenn die Tankstellen die Steuerentlastung an die Kunden weitergeben, wird der Diesel um circa 14 Cent günstiger. Die Autofahrer zahlen aber weiterhin bei jeder Tankfüllung die CO2-Abgabe, die Umsatzsteuer und die Mineralölsteuer. Während die Konzerne die Steuersenkung dankend annehmen, müssen die Arbeiter und die finanziell gebeutelten Bürger weiterhin mit hohen Preisen und mit wenig Geld im Portemonnaie leben.
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Die Steuersenkung wird bei denen, die es am meisten benötigen, wie immer nicht ankommen. Die Regierung hat ein soziales Herz für Großkonzerne, aber nicht für die Mehrheit der Bürger.
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Mit uns als sozialer Partei hätte es so etwas nicht gegeben.
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Soziale Politik bedeutet auch, sozial zu handeln.
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Wir hätten es erst gar nicht zu diesen Belastungen kommen lassen. Seit Jahren stehen wir für eine bezahlbare Energiepolitik.
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Als wir uns für den Fortbestand von Kern- und Kohlekraftwerken eingesetzt haben, waren Sie aus Klimahysterie dagegen.
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Nachdem Deutschland dank der CDU unter Merkel aus der Kernkraft ausgestiegen ist, will ausgerechnet die CDU die Kernkraft zurück.
Die Ampel betreibt mit der dreimonatigen Steuersenkung nur Augenwischerei; denn auch in drei Monaten wird der schreckliche Krieg in der Ukraine nicht zu Ende sein. Die Preise werden weiterhin steigen, und das Geld unserer Bürger wird weniger. Echte soziale Politik wäre eine spürbare Steuerentlastung. Senken Sie die Umsatzsteuer, und schaffen Sie die CO2-Abgabe endlich ab!
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– Das würde uns gefallen.
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Aber mit Ihnen ist keine soziale Politik zu machen. Im Gegenteil: Sie sorgen auch weiterhin für steigende Preise, indem Sie keine Maßnahmen für eine Bekämpfung der Inflation ergreifen. Ihnen ist die Situation doch ganz recht. Während die Preise steigen und die Bürger immer mehr zahlen müssen, reibt sich das Finanzministerium die Hände; denn jede Preiserhöhung bedeutet dank der Umsatzsteuer auch mehr Staatsmittel.
Blicken wir doch einmal auf die Kraftstoffpreise anderer EU-Länder. Frankreich: 20 Cent pro Liter ist der Benzinpreis dort günstiger. Österreich: 27 Cent pro Liter. Kroatien: 33 Cent pro Liter. Slowenien: 50 Cent pro Liter. Und Polen: 58 Cent pro Liter günstiger.
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Wenn es die größere Entlastung ist, nach Polen zum Tanken zu fahren, dann wissen Sie, dass Sie in Deutschland von der Ampel regiert werden.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sebastian Schäfer, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die hohen Energiepreise, die wir aktuell sehen, sind eine Belastung für viele Menschen. Wir wollen mit der Fortschrittskoalition Lösungen dafür finden. Mit dem zweiten Entlastungspaket setzen wir eine ganze Reihe von Maßnahmen um: von der Energiesteuersenkung über das 9‑für-90-Ticket bis hin zur Energiepreispauschale.
({0})
Es ist kein Geheimnis, dass die Energiesteuersenkung nicht das Wunschprojekt meiner Fraktion in diesem Paket ist. Es entlastet diejenigen Menschen am meisten, die viel Diesel und Benzin verbrauchen. Das sind meistens – nicht immer – die Wohlhabenderen. Weder Effizienz noch Sparsamkeit werden damit gefördert. Teuer ist es obendrein: über 1 Milliarde Euro pro Monat für drei Monate, also mehr als 3 Milliarden Euro.
Dennoch: Viele Menschen fahren jeden Tag weite Strecken zur Arbeit. Diese können eine Entlastung gut gebrauchen. Wichtig ist dabei, dass wir dafür sorgen, dass die Steuersenkungen auch an die Verbraucher/-innen weitergegeben werden und nicht bei den Raffinerien und Tankstellen als zusätzlicher Gewinn hängen bleiben.
({1})
Das Wirtschaftsministerium hat eine Stärkung der Markttransparenzstelle im Bundeskartellamt auf den Weg gebracht, und das ist ein guter Schritt. Dennoch müssen wir hier dranbleiben; Kollege Kasper hat es ausgeführt.
Die hohen Energiepreise werden uns noch lange Zeit beschäftigen. Meine Fraktion will, dass wir Antworten finden, die einerseits sozial gerecht sind und andererseits eine Art der Mobilität stärken, die in die Zukunft führt. Die Energiepreispauschale und das Klimageld sind dabei ein großer Schritt in Richtung mehr sozialer Gerechtigkeit.
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Im Gegensatz zur Energiesteuersenkung profitieren davon diejenigen besonders, die am stärksten durch hohe Preise unter Druck geraten. Und: Wir setzen damit die richtigen Anreize. Sparsamkeit und Effizienz werden belohnt. Wir müssen auch darüber sprechen, wer für die Kosten, die wir im Angesicht der aktuellen Situation haben, aufkommt. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion darüber, wer das sein soll und wer was beitragen kann.
Unternehmen, die von der Krise auch noch profitieren, gehören zu denen, die einen höheren Beitrag leisten können; das möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen. Nun müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir das technisch umsetzen, und dürfen keine bloße Abwehrdiskussion führen.
Mit dem 9-für-90-Ticket fördern wir eine Art der Mobilität, die zukunftsträchtig ist und uns hilft, knappe Ressourcen effizient einzusetzen. Das Ticket steht für uns in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Energiesteuersenkung. Wir sind uns in der Koalition einig, dass diese Maßnahmen zusammengehören und gleichzeitig in Kraft treten müssen.
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Eine freiheitliche, ökologisch-soziale Steuerpolitik verbindet diese Koalition. So gelingt Fortschritt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer. – Nächster Redner ist der Kollege Christian Görke, FDP-Fraktion. – Entschuldigung, Fraktion Die Linke. Ich bin schon im Wochenende, Herr Kollege.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Teuerungswelle bei den Energiepreisen ist die soziale Frage in diesem Land geworden. Spritpreise über 2 Euro sind für die große Mehrheit der Bevölkerung eine unzumutbare Belastung.
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Ich will Ihnen mal sagen, wie die Lage in meinem Bundesland Brandenburg ist. Auf eine Kleine Anfrage hat die Bundesregierung jüngst eingeräumt: Keiner pendelt weiter in Deutschland als die Brandenburger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. – Gleichzeitig verdienen sie auch noch 693 Euro weniger als im Bundesdurchschnitt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in Brandenburg, aber auch in allen anderen Bundesländern sind auf bezahlbaren Sprit angewiesen für den Weg zur Kita, zum Supermarkt, zum Sportverein, für den Besuch der Familie. Das gilt auch für die Handwerker, die ambulanten Pflegedienste, Busfirmen. Alle leiden unter diesem Kostenschock.
Deshalb gibt es zwei Konsequenzen. Entweder müssen die Leute woanders kürzen – beim Friseur, im Restaurant, beim Geburtstagsgeschenk der Tochter –, oder sie machen es wie in Brandenburg in den Grenzregionen: Man fährt nach Polen und beteiligt sich am Tanktourismus, weil natürlich in Polen der Sprit schon Anfang des Jahres billiger war und dort mittlerweile 45 Cent billiger ist als bei uns. Da lohnt sich schon der Weg über die Grenze, obwohl das die Tankquittung kürzt. Das ist ein unhaltbarer Zustand; denn Tanken muss auch an jeder Ecke in Deutschland für jeden möglich sein und vor allen Dingen bezahlbar bleiben.
({1})
Deshalb weist die dreimonatige Senkung der Energiesteuer in die richtige Richtung. Allerdings, meine Damen und Herren von der Ampel, Sie springen hier zu kurz; denn die Preise sind doch schon seit Beginn des Jahres so. Sie werden auch – das ist die Prophezeiung – am Ende des Jahres so sein. Wenn Sie dann noch der PCK in Schwedt, der größten Raffinerie in Ostdeutschland, das Erdöl abdrehen, werden wir die Folgen mit anderen Preisen hier auch im Osten merken.
Daher schlagen wir Ihnen eine Energiepreispauschale von 125 Euro pro Monat bis zum Ende des Jahres vor. Das sind natürlich 1 000 Euro pro Haushalt, die in der Bundesrepublik Deutschland, sehr geehrter Herr Kasper, möglicherweise durch eine Übergewinnsteuer finanziert werden.
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Deshalb kommt schon einmal der Werbeblock für nächsten Freitag, wenn wir als Linksfraktion dies als Finanzierung hier einbringen. Meine Damen und Herren von der Koalition, statt Wunderkerzen wie bei diesem Energiesteuersenkungsgesetz, die schnell abfackeln, brauchen wir echte Entlastungen.
Herr Abel, ein „verantwortungsvoller Umgang“ war das Stichwort. Den habe ich gestern beim Steuerentlastungspaket bei Ihnen nicht gesehen. Dass Sie bei dieser einmaligen Energiepreispauschale von 300 Euro brutto 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner einfach mal vergessen haben, ist eigentlich der Skandal. Wenn Sie diese Kritik von uns nicht annehmen, dann nehmen Sie die Kritik von der VdK-Präsidentin an, die gesagt hat: Das ist unsozial und muss korrigiert werden.
({3})
Wir werden Ihnen die Möglichkeit geben, in den nachfolgenden parlamentarischen Beratungen darauf zurückzukommen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Die Linke hat gesprochen.
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Genau. Herr Görke, das war unverkennbar, dass Die Linke gesprochen hat. Ich entschuldige mich noch mal, dass ich Sie falsch zugeordnet habe. Dafür haben Sie auch ein paar Sekunden mehr bekommen.
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Als nächster Redner kommt jetzt tatsächlich aus der FDP-Fraktion der Kollege Till Mansmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen im Land leiden sehr unter diesen schockartig gestiegenen Preisen. Es ist klar, dass wir hier handeln müssen. Ich freue mich, dass wir im Haus die Situation haben, dass die Union als größte Oppositionsfraktion grundsätzlich zustimmt; denn ich habe die Kritik in der Öffentlichkeit und die mediale Kritik an dieser Maßnahme sehr aufmerksam verfolgt, und ich wundere mich manchmal, mit welcher sehr metropolgeprägten Perspektive im Land auf solche Fragen geschaut wird. Im ländlichen Raum, wo die Menschen auf Pkws angewiesen sind, ist das eine ganz andere Frage. Die können wir in diesen Belangen nicht alleinlassen, und das werden wir nicht tun.
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Deswegen bin ich zutiefst überzeugt, dass diese Maßnahme richtig und wichtig ist.
Wir senken die Benzinpreise um 30 Cent pro Liter, den Dieselpreis um 14 Cent pro Liter. Das sind die wesentlichen großen Maßnahmen neben den kleineren, die beispielsweise das Gas betreffen. Das ist auch zum Wohle von Handwerkern, der Logistikbranche, des Tourismus. Das sind alles Bereiche, in denen diese erhöhten Preise an die Kunden weitergegeben werden. Insofern ist diese Maßnahme auch in Zeiten steigender Inflation eine sinnvolle Maßnahme zum Dämpfen ebendieser Inflationsbewegungen. Ich bin dem Kollegen Steiniger dankbar, dass er das schon angesprochen hat.
Da ich hier eine sehr hohe Übereinstimmung im Plenum in dieser Grundfrage sehe, freue ich mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Es dürfte uns nicht schwerfallen, das dort ganz schnell auf die Rampe zu bringen, damit das auch zu der Zeit, die wir uns vorgenommen haben, gültig werden kann.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mansmann. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll kurzfristig ab dem 1. Juni – man könnte auch sagen: endlich – und befristet bis zum 31. August, also über die Ferienzeit – der Kollege Steiniger hat bereits darauf hingewiesen –, die Energiesteuer auf das europarechtlich zulässige Mindestmaß gesenkt werden: Benzin minus 30 Cent, Diesel minus 14 Cent. Auf diese Weise sollen die Belastungen infolge gestiegener Kraftstoffpreise für Bürgerinnen und Bürger sowie für die Wirtschaft abgemildert werden.
Herr Mansmann, wir als Union freuen uns, dass die Ampelkoalition unsere Anregungen, die wir wiederholt vorgetragen haben, aufgenommen hat und endlich einen solchen Entwurf präsentiert. Über das Anliegen sind wir also begeistert, über die Ausführung – das darf ich an dieser Stelle sagen – noch nicht so ganz.
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Erlauben Sie ein paar Anmerkungen diesbezüglich. Was kostet eigentlich das Paket? 3 Milliarden Euro. Das ist viel Geld; Herr Kasper hat gerade darauf hingewiesen. Wer bezahlt das Ganze? Das ist die nachfolgende Generation, zumal wir einen nicht ausgeglichenen Haushalt fahren. Wir haben auch in der Debatte unseres Leitantrags gestern noch mal darauf hingewiesen, dass wir bei allen Maßnahmen betreffend die Bewältigung der Inflation auf ausgeglichene Haushalte achten müssen. Das machen wir im Sinne der Nachhaltigkeit für unsere nachfolgende Generation. Das gilt an dieser Stelle auch.
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Wie wirkt das Paket, meine Damen und Herren, auf Ursachen und auf Symptome? Sie haben gerade darauf hingewiesen, Herr Mansmann: Auf der Angebotsseite werden die Kosten gesenkt. Das kann in der zweiten Stufe eine nochmalige Preissteigerung verhindern. Es ist immer besser, wenn wir an den Ursachen arbeiten, als wenn wir an den Symptomen arbeiten. Gleichwohl ist es auch wichtig, an den Symptomen zu arbeiten, wenn es unsere Bürgerinnen und Bürger betrifft. Das passiert hier ausdrücklich, und ich glaube, in einigen Teilen ist es auch wichtig. Darum unterstützen wir das auch.
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Ist es denn überhaupt spürbar, und ist es nennenswert, was hier gerade beschlossen wird? Sie haben Arbeitnehmer im ländlichen Raum angesprochen. Nehmen wir einen, der eine durchschnittliche Entfernung von 17 Kilometern pro Tag zu bewältigen hat, fünf Tage die Woche – er tankt Benzin –, also kommt er mit etwa einer Tankfüllung im Monat aus. Im letzten Jahr hat er dafür rund 70 Euro bezahlt. Jetzt zahlt er 100 Euro und bekommt nach der Energiesteuersenkung, wenn diese weitergegeben wird, eine Entlastung von 18 Euro. Das ist immerhin was. Aber es gibt ja auch noch den Dieselfahrer, und der bekommt genau 8 Euro Entlastung. Das heißt, in drei Monaten – länger wollen Sie das Ganze ja nicht zulassen – sind das 24 Euro insgesamt: ein-, zweimal Kino. Ist das nennenswert?
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Allein an diesem Beispiel wird deutlich, dass die Entlastungswirkungen eher überschaubar sind und über eine gewisse Symbolwirkung wahrscheinlich nicht hinauskommen. Darum ergeht unsere nachdrückliche Forderung an die Bundesregierung, sich auf der EU-Ebene dafür einzusetzen, niedrigere Energiesteuermindestsätze zu vereinbaren, und die Umsatzsteuer für Kraftstoffe auch zum ermäßigten Satz zu erheben. Außerdem fordern wir – das ist gerade schon angesprochen worden –, den Zeitraum der Steuerentlastung deutlich zu verlängern, damit sich das Ganze auch für Unternehmen, die den Umstellungsaufwand haben, lohnt.
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Wir sollten in den Beratungen auch ausdrücklich darüber diskutieren, ob diese Maßnahme denn im Sinne der Umweltwirkung nachhaltig ist. Dazu gibt es hier einige Bedenken. – Herr Dr. Schäfer, Ihr Beitrag hat ja sehr deutlich gemacht, dass Sie da ein bisschen Bauchschmerzen haben. Da hat ganz offensichtlich eine Abwägung in der Koalition stattgefunden, die manchen doch einige Bauchschmerzen bereitet hat; das kann man erkennen.
Ich darf an dieser Stelle für die Union sagen, dass wir die Ergebnisse dieses Abwägungsprozesses unterstützen. Wir können uns aber auch vorstellen, dass möglicherweise dieser teure Deal – 2,5 Milliarden Euro für das 9‑Euro-Ticket – nur deswegen zustande gekommen ist, um den anderen Teil in der Koalition mit zu befrieden. Denn das, was da im Hauruckverfahren veranstaltet wird, ist alles andere als dem ÖPNV langfristig dienlich. Ich halte das, was Sie da auf den Weg gebracht haben, für äußerst kritisch, super teuer und eigentlich auch nicht nachvollziehbar und gar nicht verantwortbar.
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Übrigens nur am Rande: Das 9‑Euro-Ticket bedeutet für jemanden, der zum Beispiel ein Monatsabo hier in Berlin zahlt – vielleicht 90 Euro wert –, dass er nach der Erstattung nicht 8, nicht 18 Euro, sondern 81 Euro Gutschrift erhält. Ist das gerecht? Ist das so gewollt? Ist es so gewollt, dass die Dieselfahrer weniger von diesen Maßnahmen profitieren, dass für den ÖPNV Entlastungen, wie sie vorher bestanden haben nach § 56 Energiesteuergesetz, gecancelt werden sollen? Ist es fair und so gewollt, dass die Agrardieselfahrer nicht hinreichend berücksichtigt werden?
Meine Damen und Herren, wir fordern, dass an dieser Stelle deutlich nachgebessert wird.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Das Anliegen dieser Gesetzesänderung wird von uns ausdrücklich unterstützt. Aber bei der Umsetzung sollten wir noch mal genauer hinschauen. Ich freue mich auf die Beratungen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Tim Klüssendorf, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Über die allgemeine Lage, die zu dieser Diskussion und zu all den Entlastungsfragen geführt hat, wurde jetzt ausführlich gesprochen. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine wurde eingehend diskutiert. Die Märkte reagieren auf solch einen Angriff, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle noch keine reale Knappheit gibt. Auf die ökonomischen Zusammenhänge werde ich später noch mal eingehen.
Insgesamt ist aber zu sehen, dass eine immense Mehrbelastung für die Bürgerinnen und Bürger festzustellen ist, auf die wir reagieren. Das tun wir mit unseren Entlastungspaketen. Die Absenkung der Energiesteuer ist ein Teil der 30-Milliarden-Entlastung, die wir jetzt vornehmen werden, was gut und richtig für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ist.
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In dem Zusammenhang – ein Vorteil, wenn man kurz vor Ende redet, ist, dass man auf die anderen Redebeiträge eingehen kann; hier wurde ja schon vieles gesagt – an die Kollegen Steiniger und Tebroke: Es ist ja schön, dass die CDU auch manchmal Anträge hat, die im Nachhinein ins Schwarze treffen.
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Aber Sie vergessen manchmal, dass noch 90 Prozent der Anträge bleiben, denen wir im Nachhinein immer noch nicht zustimmen. Das heißt, Ihre Schlussfolgerung, wir müssten einfach mal Ihren Anträgen zustimmen und dann wird die Welt heil, ist nicht so richtig korrekt. Die meisten sind immer noch nicht zutreffend.
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Von daher bleibt es dabei, dass wir unsere Regierungsarbeit ganz alleine machen können. – Vielen Dank trotzdem für die Hinweise.
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Zum Zweiten: Sie haben eben ein bisschen süffisant vorgerechnet, 24 Euro seien keine wirkliche Entlastung, sondern haben eher nur symbolischen Wert. – Man kann mit 24 Euro eine ganze Menge machen. Ich habe durchaus Kumpels in meiner Mannschaft, die bezahlen davon ihren Mannschaftsbeitrag für einen Monat oder können sich davon auch für drei Tage Lebensmittel kaufen. Selbst mit 24 Euro kann man schon eine Menge machen, auch wenn das vielleicht in manchen Verhältnissen hier nicht so ganz ankommt. Aber man sollte so etwas durchaus nicht kleinrechnen.
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Zum Dritten vielleicht noch zu Herrn Schmidt: Ihre Gleichsetzung „Atompolitik gleich Sozialpolitik“ geht mir wirklich gar nicht in den Kopf, vor allem, wenn wir über Sprit und Mobilität reden. Ihre Schlussfolgerung, dass Atompolitik Sozialpolitik ist, erschließt sich mir nicht. Die einzige Sozialpolitik, die wirklich funktioniert, ist Klimaschutz; denn wenn wir keine Welt mehr haben, auf der wir leben können, können wir uns die Sozialpolitik hinter die Ohren schmieren. Klimaschutz ist immer noch die größte Herausforderung unserer Zeit, und das vergessen Sie jedes Mal. Deswegen lohnt es sich, das auch noch einmal zu unterstreichen.
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Nun aber zurück zu meiner eigentlichen Rede. Die Energiesteuer ist eine indirekte Verbrauchsteuer. Das ist noch einmal wichtig zu betonen, weil die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen durch die Senkung dieser Verbrauchsteuer natürlich schon am meisten entlastet werden. Sie können sich den Verbrauch nicht aussuchen, sie sind auf das Auto angewiesen; das wurde vielfach diskutiert. Wer als Pendler oder Pendlerin auf das Auto angewiesen ist, hat keine Auswahlmöglichkeit, was Bus- oder Bahnverbindungen angeht, gerade im ostdeutschen Bereich.
Das heißt, wir entlasten dort, wo es auch wirklich benötigt wird. Das ist sinnvoll und richtig, auch wenn ich zugeben muss, dass eine Absenkung einer Steuer auf fossile Energien jetzt nicht die erste Idee gewesen wäre, die mir vielleicht noch vor einem halben Jahr gekommen wäre. Aber in diesem Fall ist es wirklich richtig.
Weitergabe an Verbraucher und Mitnahmeeffekte, das ist eigentlich der Teil, zu dem ich am liebsten rede; denn man muss ganz ehrlich feststellen, dass die Mineralölkonzerne ein Oligopol sind. 2011 hat dazu eine sektorale Untersuchung stattgefunden, initiiert vom Bundeskartellamt, in der festgestellt wurde, dass der Markt, der Wettbewerb nicht funktioniert. Seitdem ist rein gar nichts passiert. Der deutsche Staat hat es nicht geschafft, diesen Wettbewerb in den Griff zu bekommen; das muss man ganz ehrlich sagen. Deswegen ist es genau richtig, dass das Bundeskartellamt jetzt nicht nur in den Transparenzrichtlinien nachgebessert hat, sondern auch eine erneute Sektoruntersuchung in Auftrag gegeben hat. Es ist dringend an der Zeit, dass man diesen Wettbewerb wiederherstellt; denn die Preisentwicklung, die so von der Rohölpreisentwicklung abgekoppelt ist, dürfen wir nicht länger hinnehmen.
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Deswegen ist es auch ganz wichtig, dass wir bei der Absenkung dieser Steuer wirklich darauf achten werden – ab 1. Juni wird es ja zu beobachten sein, wenn der Deutsche Bundestag tatsächlich dieses Energiesteuerabsenkungsgesetz beschließt –, dass die 30 Cent auch in den Portemonnaies der Menschen ankommen und dass wir auch darauf achtgeben, dass das mit aller Macht des Rechtsstaates durchgesetzt wird. Das ist, glaube ich, extrem wichtig für die Glaubwürdigkeit unserer Entscheidung, aber auch für die Glaubwürdigkeit in die Wirtschaft. Daher müssen wir sehr darauf achten, dass die sektorale Untersuchung vielleicht parallel läuft, aber wir dennoch schon mit den Möglichkeiten, die wir jetzt haben, diese Absenkung auch einhalten werden.
Die Regierung wird also nicht nur mit der Gesetzesänderung reagieren und über das Bundeskartellamt agieren, sondern wir werden uns auch in Zukunft diesen Markt ganz genau ansehen. Ich glaube, dass wir noch einige Male dazu sprechen werden; denn den Mineralölkonzernen, die die Gewinne eigentlich auf Kosten von uns allen produzieren, muss das Handwerk gelegt werden.
Da freue mich schon auf die weitere Diskussion und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner in dieser Tagung wird der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen, sein.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht um die Absenkung der Energiesteuer für drei Monate. Im Kern ist das keine verkehrspolitische, sondern eine schnell wirksame sozialpolitische Maßnahme. In Anbetracht der Preissteigerung im Energiebereich seit März dieses Jahres ist diese Maßnahme als ein Teil des zweiten Entlastungspaketes noch vertretbar, zumal die Energiepreise auch weiterhin hoch sind.
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Wichtig ist, dass wir zeitgleich das 9‑Euro-Ticket anbieten. Sozialpolitik aus der Perspektive durch die Windschutzscheibe gehört der Vergangenheit an; denn es geht eben auch um diejenigen, die kein Auto haben.
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Beide Maßnahmen, das 9‑Euro-Ticket und die Energiesteuersenkung, sollen zur Entspannung der finanziellen Lage von Millionen von Haushalten in Deutschland beitragen. Wer wirklich sparen will, wird das 9‑Euro-Ticket deswegen nutzen. Genau deswegen ist es aber auch wichtig, beide Projekte verbunden und gemeinsam auf den Weg zu bringen. Das haben wir bereits deutlich gemacht. Beide Gesetze sollen am 1. Juni gleichzeitig in Kraft treten.
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Das werden wir im weiteren Verfahren abzusichern haben.
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Diese Energiesteuersenkung stellt alle politischen Kräfte vor interessante Fragen. Nur ein Beispiel: Gegen eine marktwirtschaftliche Preisentwicklung anzusubventionieren, wer hätte so einen Vorschlag von unserem geliebten Koalitionspartner FDP erwartet?
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Die Benzinpreise haben gezeigt, wie abhängig der Verkehrsbereich und damit wir alle von fossilen Importen sind, und das darf deswegen so nicht bleiben. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Wir brauchen die Antriebswende, wir brauchen im gleichen Atemzug die Mobilitätswende, und wir brauchen sie jetzt.
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Die rein auf das Auto ausgerichtete Verkehrspolitik der letzten Jahre rächt sich heute, und zwar im Portemonnaie der Bürgerinnen und Bürger. Darauf gilt es dringend konkret zu reagieren. Kurzfristig sind die Kriegsgewinne zu entlarven und abzuschöpfen. Das ist eingeleitet worden; es ist schon erläutert worden.
Zudem muss das Entlastungspaket gut evaluiert werden. Dazu gilt es in den nächsten drei Monaten Daten, Daten und nochmals Daten zu sammeln. Dazu brauchen wir die Bahn und die Nahverkehrsanbieter, und dazu brauchen wir auch die Autobahn GmbH und die Tankstellenbetreiber. Deswegen möchte ich das Verkehrsministerium ganz konkret und nachdrücklich ersuchen, dazu mit den Genannten in Kontakt zu treten.
Und schließlich: Jahrelang wurde viel zu wenig in alternative Mobilitätsangebote und deren Infrastruktur investiert. Genau deshalb müssen wir in Zukunft umweltfreundliche, bezahlbare und verlässliche Alternativen schaffen. Wir dürfen uns nicht länger abhängig machen von fossilen Kraftstoffen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Gelbhaar. – Mit diesen nachdenklichen Worten schließe ich die Debatte.