Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Der entsetzliche Krieg in der Ukraine verändert alles. Für die Soldatinnen und Soldaten bedeutet das, dass es ernst werden kann, dass es schnell gehen muss und dass sie immer einsatzbereit sein müssen. Die Bündnis- und Landesverteidigung, die seit 2014 höchste Priorität hat, wird jetzt sehr konkret. Unsere Soldatinnen und Soldaten reagieren darauf mit hoher Professionalität und mit großer Ernsthaftigkeit. Zudem wird deutlich, wofür wir die Bundeswehr haben und warum wir sie brauchen: Unsere Soldatinnen und Soldaten verteidigen Frieden, Freiheit, Demokratie und Sicherheit. Deswegen sage ich ganz herzlich Danke schön an 184 000 Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag hochmotiviert, engagiert, pflichtbewusst ihren Dienst leisten.
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Der Jahresbericht enthält immer das ganze Soldatenleben, von Ausbildung bis Zulagen. Ich habe im Jahresbericht 2021 auch neue Themen beschrieben, nämlich Klimawandel und Sport. Denn auch zum Thema Klimawandel kann die Bundeswehr eine ganze Menge beitragen; sie ist in einigen Bereichen auch Vorreiterin. Und das Thema Sport beschäftigt die Bundeswehr nicht nur im Jahr der Olympischen Spiele, sondern jeden Tag; und da gibt es noch viel zu tun.
Der Jahresbericht listet immer Mängel, Fehler, Versäumnisse auf. Im besten Fall ist er eine Grundlage für Verbesserungen, die das Ministerium und natürlich der Deutsche Bundestag auf den Weg bringen. Ich habe mir aber vorgenommen – das ist auch in diesem Jahresbericht wieder der Fall –, gute Beispiele aufzuzählen, Dinge zu erwähnen, auf die wir stolz sein können, die erreicht wurden und die auf gutem Weg sind.
Wir bearbeiten im Amt der Wehrbeauftragten im Jahr 4 000 Vorgänge. Im Jahr 2021 gab es 2 606 individuelle Eingaben von Soldatinnen und Soldaten. Ich habe 60 Truppenbesuche absolvieren können. Ich bin wirklich dankbar, dass ich trotz Corona viele Gespräche führen konnte und dass ich 2021 auch endlich, endlich, endlich in die Einsatzgebiete reisen konnte – nach Litauen, nach Mali und nach Niger.
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Und ich bin gerade erst in Jordanien und im Irak gewesen.
An dieser Stelle, liebe Abgeordnete, möchte ich ganz herzlich dem Amt der Wehrbeauftragten danken. 64 Kolleginnen und Kollegen bearbeiten die Anliegen der Soldatinnen und Soldaten mit Erfahrung, mit Sorgfalt, mit Engagement und mit viel Herzblut. Sechs der Kolleginnen und Kollegen sind heute hier. Ihnen danke ich stellvertretend sehr herzlich.
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Ich habe gesagt: 2021 war das Jahr der Bundeswehr. Denn die Truppe hat gezeigt, was sie kann. Bei der Amtshilfe oder beim Ende des Afghanistan-Einsatzes: Die Bundeswehr war da, wo sie gebraucht wurde, professionell und zuverlässig.
Die Bundeswehr ist jetzt so gefordert wie nie. Deshalb brauchen unsere Soldatinnen und Soldaten beste Rahmenbedingungen. Das betrifft Material, Personal und Infrastruktur. Ich begrüße deshalb ausdrücklich das geplante 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen und die Erhöhung des Verteidigungshaushaltes. Das sind in schweren Zeiten gute Nachrichten für die Bundeswehr.
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Diese Mittel sollen genutzt werden, um die volle Einsatzbereitschaft wiederherzustellen. Damit kann finanziert werden, was in der Bundeswehr dringend benötigt wird. Ich sage ganz deutlich: Priorität sollte vor allem die persönliche Ausstattung haben: Helme, Schutzwesten, Bekleidung, Rucksäcke. Ich freue mich deshalb, dass der Bundestag dafür 2,4 Milliarden Euro bereitstellt, damit mehr und schneller beschafft werden kann. Denn das Geld, liebe Abgeordnete, muss schnell und vollständig in der Truppe ankommen.
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Dazu müssen auch die Prozesse beschleunigt werden. Auch die 100 Milliarden Euro können nicht in den hergebrachten Verfahren ausgegeben werden. Das Vergaberecht muss vereinfacht werden, und wir brauchen in der Bundeswehr weniger Bürokratie.
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Beim Material ist noch einiges zu tun. Selbst in den Einsätzen ist nicht alles da, was Soldatinnen und Soldaten für ihren Auftrag brauchen. Das betrifft die Ausstattung genauso wie das große Gerät. Der Grundsatz „Train as you fight“ von Ausbildung über Übung bis zum Einsatz kann leider nicht gewährleistet werden. Wenn es im Jahr 2021 so war, dass das große Gerät zu 77 Prozent einsatzbereit war, ist das zwar über die Jahre eine kleine Verbesserung, reicht aber noch lange nicht aus und ist noch nicht genug.
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Beim Thema Personal möchte ich positiv hervorheben, dass es trotz Corona gelungen ist – das ist eine wirkliche Leistung der Bundeswehr –, den Personalbestand auf demselben Niveau zu halten: 183 695 Soldatinnen und Soldaten im Jahr 2021, davon 23 606 Frauen; das sind 12,85 Prozent. Ich habe das Thema Frauen im Jahresbericht hervorgehoben, weil wir nämlich 2021 seit 20 Jahren Frauen in allen Teilen der Bundeswehr hatten. Das ist ein Erfolg!
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Ich verbinde das mit der Forderung: Wir brauchen mehr Frauen in der Bundeswehr. 12,85 Prozent reichen noch nicht aus. Wir brauchen vor allem mehr Frauen in Führungspositionen.
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Der gesamte Bereich „Personalgewinnung, Personalentwicklung, Personalbindung“ ist eine enorme Aufgabe für die Bundeswehr. Deswegen muss sie gute Angebote machen. Sie muss aber auch ein realistisches Bild zeigen; denn Soldat/Soldatin zu sein, ist kein normaler Job. Darauf muss die Personalgewinnung auch deutlich Rücksicht nehmen.
Mich beschäftigt sehr das Thema Infrastruktur. Wir haben bis 2034 einen Investitionsbedarf von 19 Milliarden Euro. Die Bauverwaltungen der Bundesländer schaffen alle zusammen pro Jahr Vorhaben im Umfang von 1 Milliarde Euro. Das heißt, wir haben einen gewaltigen Investitionsstau. Wenn ich in den Kasernen bin, dann sehe ich: Der Zustand der Unterkunftsgebäude, der Sportplätze, der Schwimmhallen, der Truppenküchen ist nicht akzeptabel. Da muss etwas passieren.
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2021 stand auch im Licht des Endes des Afghanistan-Einsatzes: fast 20 Jahre Afghanistan-Einsatz. 93 000 Soldatinnen und Soldaten waren dort im Einsatz. 59 haben ihr Leben verloren. Viele sind verwundet an Körper und Seele zurückgekommen. Dieser Einsatz hat die Bundeswehr verändert; und deswegen ist es so wichtig, dass er aufgearbeitet wird. Ich hoffe sehr, dass die Enquete-Kommission bald eingesetzt wird; denn die Soldatinnen und Soldaten erwarten, dass dieser Einsatz aufgearbeitet wird.
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Es ist auch wichtig für künftige und laufende Einsätze. Es muss klar sein: Mit welchen Zielen geht die Bundeswehr in die Einsätze, in welchen Teilen der Welt, mit welchen Partnern, mit welchen Mitteln, in welchem Umfang und zu welcher Dauer? Das wollen die Soldatinnen und Soldaten geklärt wissen.
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Ich habe mich seit Amtsantritt sehr intensiv mit dem Thema Rechtsextremismus befasst. Rechtsextremismus ist eine Gefahr in unserer Gesellschaft und deswegen auch ein Thema in der Bundeswehr. Es gibt mehr Fälle von Rechtsextremismus. Ich will Ihnen aber ganz deutlich sagen: Es gibt eine gestiegene Sensibilität, und es gibt dadurch auch mehr Meldungen aus der Truppe. Ich beobachte ein konsequentes Vorgehen in der Bundeswehr. Ich habe auch gute Beispiele im Jahresbericht aufgeführt: Zum Beispiel nach den Vorgängen in Litauen oder den Ereignissen beim Wachbataillon ist zügig gehandelt worden. Ich will Ihnen auch sagen, dass ich der Auffassung bin, dass auch die Spezialkräfte des Heeres, das KSK in Calw, auf einem guten Weg sind.
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Corona beschäftigt und belastet die Truppe; das stelle ich im Jahresbericht auch dar. Es hat die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr verzögert, auch die Vorbereitung der NRF-Kräfte. Deswegen ist es gut und richtig, dass die Amtshilfe jetzt beendet ist. Wir hatten 2021 zur Hochzeit bis zu 19 000 Soldatinnen und Soldaten zeitgleich im Amtshilfeeinsatz. Das war eine grandiose Leistung. Und wir mögen uns nicht vorstellen, wie es in der Pandemiebekämpfung gewesen wäre ohne die Unterstützung der Soldatinnen und Soldaten. Aber, meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat andere Aufgaben. Die Amtshilfe ist subsidiär und für Krisenzeiten. Deswegen ist es gut, dass sie jetzt zu Ende gegangen ist.
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Ich ende mit dem Thema „Wahrnehmung in der Gesellschaft“. Es gibt jetzt eine hohe Aufmerksamkeit für die Bundeswehr. Das tut den Soldatinnen und Soldaten gut. Aber ich will noch einmal sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen Respekt, Anerkennung, Wertschätzung und Dank, aber sie brauchen vor allen Dingen ganz viel Interesse aus der Gesellschaft und auch aus dem Deutschen Bundestag. Der Bundestag hat Verantwortung für die Bundeswehr. Und deswegen freue ich mich in der nächsten Zeit auf viele gute Beschlüsse und Entscheidungen hier im Bundestag zur Stärkung und zur Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten.
Herzlichen Dank.
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Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen, Frau Dr. Högl, als Wehrbeauftragte noch mal im Namen des ganzen Hauses für diesen vorgelegten Bericht danken. Dieser Dank gilt natürlich auch Ihrem Team und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Herzlichen Dank.
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Damit eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zuerst die Bundesministerin Christine Lambrecht.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, liebe Eva Högl, für einen Bericht, der die Mängel in unserer Bundeswehr klar beim Namen nennt im Großen wie im Kleinen, ein herzliches Dankeschön! Wir sind darauf angewiesen, zu wissen, wo es denn wirklich hakt in der Truppe, wo es denn im Großen und im Kleinen fehlt und wo wir dann aber auch gegensteuern können; denn der Bericht allein hilft ja nichts, sondern Handeln ist gefragt – in der aktuellen Situation mehr denn je.
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Wir sehen jeden Tag die Grausamkeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, und wir können heute noch nicht sagen, wie weit Putin seinen Großmachtswahn treibt. Deswegen war es noch nie so wichtig in der Geschichte unseres wiedervereinigten Landes, wehrhaft zu sein. Das heißt: Wir brauchen eine vollausgestattete und einsatzbereite Bundeswehr, die uns und unsere Bündnispartner schützt. Der Jahresbericht hilft uns dabei, dieses Ziel zu erreichen.
Dieser 63. Jahresbericht stellt ganz klar fest: Die Frauen und Männer in der Bundeswehr haben auch 2021 ihre Leistungsfähigkeit, ihre Professionalität und Verlässlichkeit unter Beweis gestellt. – Dafür gilt ihnen unser aller Dank und Respekt.
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Gleichzeitig legt der Bericht aber große, erhebliche Probleme offen, und er macht auch sehr deutlich, wo diese Baustellen sind. Es besteht ein massiver Investitionsbedarf: von der persönlichen Ausstattung über Großgerät bis hin zur Infrastruktur. Deswegen ist das 100‑Milliarden-Euro-Sondervermögen für unsere Bundeswehr so entscheidend. Wir sind nach den vielen Jahren des Mangels auf diesen Booster dringend angewiesen, um die materielle Einsatzbereitschaft schnell und nachhaltig zu erhöhen.
Eine erste wichtige und von der Wehrbeauftragten zu Recht deutlich angemahnte Verbesserung haben wir bereits auf den Weg gebracht. Wir statten die gesamte aktive Truppe bis 2025 mit dem vollen Umfang an persönlicher Einsatzbekleidung und persönlicher Schutzausrüstung aus – und damit sechs Jahre früher als geplant. Das war nämlich erst für 2031 für die gesamte Truppe geplant. Es ist gelungen – da möchte ich ein herzliches Dankeschön auch an die Haushaltspolitiker sagen –, das jetzt vorzuziehen,
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indem wir alle Möglichkeiten bei den bestehenden Verträgen genutzt haben.
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Das berühmt-berüchtigte Lochkoppel – in der Truppe verschrien und ein Dauerbrenner in den Wehrberichten – gehört damit bald endlich der Vergangenheit an.
Wie gesagt, ein großer Dank an die Abgeordneten des Haushaltsausschusses. Ich weiß, es war sehr kurzfristig, wie ich mit dieser Vorlage in den Ausschuss gegangen bin. Aber mir war es wichtig, alle Möglichkeiten auszunutzen, die es vertraglich gab, um jetzt schnell zu agieren. Unsere Soldatinnen und Soldaten stehen im Mittelpunkt, und für ihre Schutzausrüstung müssen wir entsprechend handeln.
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Damit haben Sie trotz vorläufiger Haushaltsführung und ohne viel Papier diese wichtige Verbesserung möglich gemacht, und Sie haben zum Ausdruck gebracht: Wir tun alles, was für den bestmöglichen Schutz und die bestmögliche Ausrüstung unserer Parlamentsarmee nötig ist.
Das ist aber erst der Anfang. Die Drohnenbewaffnung ist bereits beschlossen und wird umgesetzt. Zu den F‑35-Kampfflugzeugen führen wir Vertragsverhandlungen mit unseren amerikanischen Freunden. Und die Entscheidung für den schweren Transporthubschrauber steht kurz bevor. Das macht deutlich: Wir schaffen eine Bundeswehr, die deutlich leistungsfähiger sein wird als heute. Und dafür brauchen wir jetzt das Sondervermögen.
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Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um die Unterfinanzierung; denn nicht nur sie allein steht einer besseren Bundeswehr im Wege. Das macht der Wehrbericht auch sehr deutlich. Ich will anhand von zwei Punkten – ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Wehrbeauftragte, dass Sie diese auch so deutlich angesprochen haben – deutlich machen, was wir auch verändern müssen. Das ist beileibe kein Kleinkram, wie das von manch Ewiggestrigen angeführt wird. Diese zwei Punkte betreffen grundlegende Werte und damit den inneren Zusammenhalt der Truppe und entscheiden über die Attraktivität unserer Bundeswehr für guten Nachwuchs – beides von grundlegender Bedeutung für unsere Verteidigungsfähigkeit.
Der erste Punkt ist das Thema „Frauen in der Bundeswehr“. Die Wehrbeauftragte hat es beschrieben: Seit zwei Jahrzehnten stehen ihnen alle Laufbahnen offen. Dennoch liegt der Anteil der Soldatinnen in der Truppe bei nur etwas mehr als 12 Prozent. Das ist klar zu wenig. Denn Vielfalt in all ihren Dimensionen ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sie bietet auch einen ganz klaren praktischen Mehrwert. Studien zeigen ja: Diverse Teams sind leistungsfähiger und erfolgreicher, und diverse Arbeitgeber sind sehr viel gefragter. Deswegen fördern wir auch gezielt weibliche Talente durch entsprechende Programme,
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und wir untersuchen unser Personalmanagement laufend auf systematische Barrieren, gerade auch was Frauen in Führungspositionen betrifft. Da sind wir auf einem guten Weg. Ich sage aber auch: Da können wir noch deutlich besser werden, und da werden wir noch deutlich besser.
Gleiches gilt für den zweiten Punkt, der ebenfalls kein Kleinkram ist, und zwar der Umgang mit Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Die Anzahl der Verdachtsfälle ist 2021 weiter gestiegen – ja. Das ist ein Zeichen dafür, dass das Bewusstsein, dass die Sensibilität für dieses Thema gestiegen ist. Vor allem aber ist es auch ein Zeichen dafür, dass es immer noch in unseren Reihen zu viele gibt, die die Werte mit Füßen treten, für die sie ihren Eid geschworen haben. Und das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren:
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weder für den Dienstherrn noch für die überwältigende Mehrheit der Kameradinnen und Kameraden, die fest zu unserer Verfassungsordnung stehen und deren Ansehen durch diese Vorfälle beschädigt wird. Deswegen ist das nicht hinnehmbar, und wir müssen konsequent dagegen vorgehen.
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Wir treten allen nationalistischen, rassistischen und völkischen Ideen entschieden entgegen und werden das weiter konsequent verfolgen.
Meine Damen und Herren, die Wehrbeauftragte stellt in ihrem Jahresbericht 2021 fest: Unsere Soldatinnen und Soldaten garantieren Frieden, Freiheit und Sicherheit, 2021 wie 2022.
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Damit das auch in Zukunft gilt, müssen wir jetzt die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Die Frauen und Männer in der Bundeswehr sind froh, die Wehrbeauftragte an ihrer Seite zu wissen. Sie sind aber auch froh, Abgeordnete des Bundestages an ihrer Seite zu wissen, die bereit sind, ihre Parlamentsarmee bestmöglich auszustatten.
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Bei der Entscheidung über das Sondervermögen können Sie alle ein klares Zeichen dafür setzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Kerstin Vieregge.
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Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Sehr geehrte Angehörige der Bundeswehr! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten 63 Tagen haben wir hier im Bundestag so oft und intensiv über die Bundeswehr gesprochen wie schon lange nicht mehr. Das ist auch gut so; denn wir als Parlamentarier haben unseren Soldatinnen und Soldaten gegenüber eine besondere Verantwortung. Lippenbekenntnisse und große Ankündigungen reichen nicht. Taten müssen zählen.
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Jahr für Jahr zeigt der Bericht der Wehrbeauftragten schonungslos den Istzustand der Bundeswehr auf. Er hält schwarz auf weiß fest, wie es wirklich um die Truppe steht. Ihr Bericht, Frau Dr. Högl, dient uns allen als wertvolle Einordnung. Hierfür danke ich Ihnen sowie Ihrem gesamten Team.
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Auf 176 Seiten werden viele Themen angerissen, zahlreiche davon, wie zum Beispiel die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr, die ausbaufähige Einsatzbereitschaft und mangelnde Infrastruktur, haben wir in den letzten Wochen hier im Parlament bereits intensiv diskutiert. Die heutige Debatte gibt uns folglich die Möglichkeit, die Themen anzusprechen, welche in der letzten Zeit zu kurz gekommen, aber nicht minder wichtig sind.
Aber lassen Sie mich vorher anmerken: Auch wenn die Regierungsparteien der Union Untätigkeit in den letzten Legislaturperioden vorwerfen: Die 2015 angestoßenen Trendwenden zeigen schon länger erste Erfolge. Wir waren auf einem guten Weg, und die Weichen wurden richtig gestellt.
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Doch die sicherheitspolitische Rahmenlage hat sich grundlegend verändert. Deshalb muss dieser Kurs nicht nur konsequent und zielgerichtet weiterverfolgt werden, sondern bedrohungsgerecht intensiviert werden.
Genau deshalb ist es unerlässlich, dass die Bundesregierung die angekündigte Zeitenwende durchzieht und konsequent umsetzt. Doch Signale aus der Koalition zeichnen ein anderes Bild. Der zweite Regierungsentwurf für den Einzelplan 14, die stagnierende mittelfristige Finanzlinie für den selbigen, die Infragestellung der Zweckgebundenheit des Sondervermögens und letztlich auch der Hickhackkurs der Regierung bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sind hierfür nur einige Beispiele.
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Selbst ein neutraler Beobachter würde zur Schlussfolgerung kommen, dass die Zeitenwende leider immer noch nicht in den Köpfen aller Kollegen in der Ampelkoalition angekommen ist.
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Es ist immer wieder beeindruckend, was unsere Soldatinnen und Soldaten – allen geschilderten Widrigkeiten zum Trotz – geleistet haben und weiterhin tagtäglich leisten. Das Engagement unserer Bundeswehr war im Berichtsjahr 2021 so vielfältig wie selten zuvor. Dazu zählen unter anderem die erfolgreiche Evakuierung von insgesamt 5 347 Personen vom Kabuler Flughafen, über 17 Millionen abgeleistete Arbeitsstunden von Soldatinnen und Reservistinnen sowie Soldaten und Reservisten im Rahmen der Coronaamtshilfe sowie die unverzüglich erfolgten Einsätze in den vom Jahrhunderthochwasser betroffenen Flutgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Noch nie war die Bundeswehr so sichtbar wie im vergangenen Jahr. Erneut hat uns die Bundeswehr bewiesen, dass wir uns stets auf sie verlassen können. Dies ist auch in der breiten Gesellschaft so wahrgenommen worden.
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Der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Verwerfungen im sicherheitspolitischen Gefüge haben zur Folge, dass wir von jedem einzelnen unserer Soldaten in den kommenden Jahren noch mehr verlangen werden müssen, als wir es ohnehin schon tun.
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Eine einsatzbereite und kaltstartfähige Bundeswehr benötigt aber nicht nur moderne Ausstattung und Material. Besonders in der jetzigen Situation müssen wir alle darauf achten, dass wir die Lebenswirklichkeit und die sozialen Belange unserer Soldatinnen und Soldaten in unseren parlamentarischen Debatten nicht zu kurz kommen lassen; denn auch die Verteidigungspolitik hat eine soziale Dimension.
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Viele mögen Soldatin bzw. Soldat nicht einfach nur als Beruf ansehen, sondern als Berufung. Unabhängig von dieser Selbst- und Fremdwahrnehmung sind unsere Frauen und Männer in Uniform Menschen mit ihrer ganz eigenen Lebenswirklichkeit. Ob diese geprägt ist von Lebenspartnerschaften, dem Eheleben, Kindern oder sonstigen Faktoren, spielt eigentlich keine Rolle. Der Dienst in der Bundeswehr hat nicht nur einen prägenden Einfluss auf die Lebensumstände jeder Soldatin und jedes Soldaten, sondern auch auf deren unmittelbares Umfeld und auf Angehörige. Jedes uniformierte Mitglied der Bundeswehr sowie dessen Angehörige sind sich bewusst, wie geladen das Spannungsfeld zwischen Familie und Dienst ist. Die für die Landes- und Bündnisverteidigung so wichtige Kaltstartfähigkeit wird dieses Spannungsfeld noch verstärken. Planbare Auslandseinsätze, die durch eine lange Vorlaufzeit Vorkehrungen für die eigene Abwesenheit ermöglichen, sind eben genau das Gegenteil von Kaltstartfähigkeit. Hier reden wir über die nicht planbare kurzfristige Mobilisierung und Verlegung von Tausenden Soldaten auf unbestimmte Zeit mit sehr kurzer Vorwarnzeit.
Die Betreuungs- und Fürsorgeangebote für Angehörige von Bundeswehrsoldaten sind gut, aber nicht im Ansatz für solche Größenordnungen ausgelegt. Was bedeutet das konkret? Was bedeutet das für die Offizierin, die zu Hause ihren Vater pflegt? Was bedeutet das für den Feldwebel, dessen zwei Kinder noch intensiv betreut werden müssen und dessen Frau voll berufstätig ist? Und das sind nur zwei von rund 184 000 uniformierten Bundeswehrangehörigen, für die wir eine Antwort haben müssen.
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Es muss über den materiellen Aspekt der Einsatzbereitschaft hinaus auch immer der personelle Aspekt der Einsatzbereitschaft mitgedacht werden. Dazu gehört nicht nur Betreuung und Fürsorge im Einsatzland, sondern auch für die im Heimatland befindlichen Angehörigen und Familien. Dies ist keinesfalls nur für den momentanen Personalbestand der Bundeswehr von Relevanz, sondern wird sich auch maßgeblich auf die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für das dringend benötigte, neu anzuwerbende Personal auswirken. Wenn wir mehr von unseren Soldatinnen und Soldaten jetzt und in der Zukunft verlangen werden, dann ist es unabdingbar, dass wir auch bessere soziale Rahmenbedingungen schaffen, in denen sie ihren Dienst entsprechend ausüben können.
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Auch aus diesen Gründen sind wir als Union davon überzeugt, dass eine nachhaltige und dauerhafte Erhöhung des Einzelplans 14 zusätzlich zum Sondervermögen dringend notwendig ist.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen in Gesamtkonzepten denken, das heißt, die weniger offensichtlichen Implikationen des eingeschlagenen Weges zu berücksichtigen und adäquat zu adressieren.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Merle Spellerberg.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Dr. Högl! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „2021 war das Jahr der Bundeswehr“ – Sie haben es gerade selber noch mal gesagt –, wie Sie es im Bericht geschrieben haben, für den ich Ihnen herzlich danken möchte. Es war ein Jahr, das nicht nur für die Gesellschaft, sondern eben auch für die Bundeswehr enorme Herausforderungen mit sich gebracht hat.
Zum einen: Covid. Die Unterstützung der Bundeswehr bei der Bekämpfung der Pandemie war außerordentlich. Der Truppe gilt hier mein großer Dank.
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Nun aber sollte sich die Bundeswehr wieder auf ihren Kernauftrag zurückbesinnen können.
Zum anderen – auch das wurde schon angesprochen –: Afghanistan. Nach 20 Jahren vor Ort haben wir unseren militärischen Einsatz dort beendet. Auch hier bedanke ich mich bei allen Angehörigen der Bundeswehr, die dort eine gute Arbeit geleistet haben.
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Die Ziele wurden nicht erreicht; aber die Verantwortung dafür liegt in der Politik, auch in diesem Haus. Die Enquete-Kommission und deren Verantwortung wurden ebenfalls angesprochen.
Aber eines ist 2021 gleich geblieben: Der Bericht der Wehrbeauftragten zitiert zum Teil Chancen; doch in großer Masse ist er eher eine Mängelliste und eine Aufzählung von Lücken, von Fragen und von Problemen.
Für mich als Abgeordnete eines Landes mit einer Parlamentsarmee sind meine Ziele folgende: eine vollumfängliche persönliche Schutzausrüstung für die Soldatinnen und Soldaten,
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eine angemessene Unterbringung und Versorgung, die härteste Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gleichberechtigung in den Streitkräften.
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Um die Herausforderungen auf dem Weg dahin deutlich zu machen, möchte ich einige Zahlen aus dem Bericht hervorheben.
4,7 Milliarden Euro – so viel wurde durch die letzte Bundesregierung in Bau- und in Sanierungsmaßnahmen verwendet; aber die Wehrbeauftragte bescheinigt den Unterkünften, den Sanitäreinrichtungen, den Truppenküchen und Sportplätzen dennoch einen zum Teil desolaten Zustand. Bei diesen Anlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, handelt es sich ja nicht um Luxusräume, sondern eben um die grundlegendsten Einrichtungen für unsere Soldatinnen und Soldaten.
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Unser Ziel ist es, Planungsvorgänge entsprechend zu beschleunigen, dem Bau neuer und der Sanierung alter Einrichtungen eine höhere Priorität zukommen zu lassen.
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Eine weitere Sache hat sich nicht wirklich geändert: Beschaffungsprozesse sind unflexibel, langwierig und nicht ausreichend bedarfsorientiert. Dadurch ergeben sich teilweise extreme Defizite in der materiellen Ausstattung der Truppe. Wir fordern, wie die Wehrbeauftragte, dass den Soldatinnen und Soldaten gerade, aber nicht nur im Einsatz eben die bestmögliche Ausrüstung zusteht.
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Um dem zu entsprechen, hat die jetzige Bundesregierung erste Maßnahmen getroffen, um diese vernünftige Ausstattung zu gewährleisten, zu ermöglichen, und unter anderem mit dem Sondervermögen wollen wir dies fortführen.
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Eine weitere Zahl. 1 581 Soldatinnen und Soldaten litten bekanntermaßen bis Ende letzten Jahres unter Einsatzfolgen, unter körperlichen und seelischen Folgen von Auslandseinsätzen. Hier ist anzuerkennen, dass es bereits Fortschritte gab, zum Beispiel durch das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Aber zum Beispiel gerade bei der Wiedereingliederung von Soldatinnen und Soldaten in den Dienst bleiben weiterhin viele Hürden bestehen. Unser Ziel ist es auch darüber hinaus, dass jede Soldatin, jeder Soldat angemessen versorgt und betreut wird.
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Zur nächsten Zahl. 589 – so viele Fälle von rechtsextremem Verhalten wurden vom Militärischen Abschirmdienst gemeldet, und das ist eine deutliche Zunahme, auch bei gestiegener Sensibilität. Für uns ist ganz klar: Der Großteil unser Soldatinnen und Soldaten steht ganz fest auf dem Boden des Grundgesetzes; sie verteidigen die Werte der Verfassung und schützen unsere Freiheit. Doch die steigende Zahl an Rechtsextremen und Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern ist mehr als besorgniserregend. Noch immer werden solche Fälle von einigen als Einzelfälle abgetan und verharmlost. Das kann und darf nicht sein.
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Es braucht weiter eine höhere Sensibilisierung, eine bessere Prävention durch gute politische Bildung und das klare Bekenntnis zur Inneren Führung. Rechtsextreme haben in der Bundeswehr nichts zu suchen.
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Zur letzten Zahl. 12 – das ist der prozentuale Anteil der Frauen in der Bundeswehr; auch das wurde gerade schon angesprochen. Auch 20 Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist die Gleichstellung von Frauen und Männern noch nicht überall in den Streitkräften selbstverständlich. Das muss sich ebenfalls ändern.
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Vor zwei Tagen haben wir genau hier über das Sondervermögen zur Landes- und Bündnisverteidigung debattiert. Es lässt sich also bereits absehen, dass die Bundeswehr auch in diesem Jahr, in 2022, eine überaus relevante Rolle spielen wird. Der Krieg in der Ukraine und die veränderte Sicherheitslage in Europa und der Welt werden auch die Bundeswehr prägen. Das Ziel der Bundesrepublik bleibt es, in Europa und international dazu beizutragen, Frieden zu schaffen. Dafür brauchen wir auch Sicherheit, und genau dazu kann eben die Bundeswehr ihren Teil beitragen.
Jetzt ist es an uns als Deutschem Bundestag, die Voraussetzungen weiter dafür zu schaffen, dass die Bundeswehr für die Krisen von heute, aber eben auch für die Krisen von morgen gut aufgestellt ist.
Danke schön.
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Nächster Redner: für die Fraktion der AfD Hannes Gnauck.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eingangs des Wehrberichts 2021 heißt es, die Bundeswehr würde bei der Amtshilfe zeigen, was sie könne. Schon hier zeigt sich das krude Verhältnis der etablierten Politik zur Bundeswehr. Unsere Soldaten sind Soldaten! Sie sind keine Aushilfskräfte für Privatdienstleister und keine Lückenfüller für die Pflege oder andere Sektoren, in denen Ihre Politik versagt.
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Es ist Ihnen vielleicht in den letzten Wochen wieder vor Augen geführt worden: Die Kernaufgabe der Bundeswehr ist die Landesverteidigung. Die Truppe beweist nicht beim Aushelfen in fremden Bereichen, was sie kann, sondern im militärischen Regelbetrieb, im täglichen Kasernendienst, auf den zahlreichen Übungen ebenso wie im Auslandseinsatz.
Dass Sie die Bundeswehr seit Ewigkeiten aber eben nicht wie eine ernstzunehmende Armee behandeln, spiegelt sich auch in diesem Wehrbericht wider: zu wenig Material, zu wenig Personal, veraltete Strukturen. Gleich auf Seite 8 heißt es – Zitat –:
Kein Truppenbesuch und kein Gespräch mit Soldatinnen und Soldaten, in dem mir nicht von Mängeln berichtet wird.
Und auch ich kann aus meiner aktiven Dienstzeit dazu ausführlich berichten.
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Wir haben in den letzten Wochen viel von Großgerät gesprochen; aber fangen wir doch beim Elementarsten an: bei der persönlichen Ausrüstung des Soldaten. Fragen Sie doch mal einen erfahrenen Mannschaftsdienstgrad oder Portepee-Unteroffizier, was dieser so in seiner Dienstzeit an eigenem Geld in privat beschaffte Ausrüstung investiert hat. Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Sie erhalten als Antwort: einen mittleren vierstelligen Betrag. – Das ist beschämend; das kann doch nicht der Anspruch einer professionellen Armee sein.
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Zwei Beispiele aus der Praxis: Erstens. Die dienstlich gelieferten Schießhandschuhe sind in der Regel zu groß; insbesondere am Zeigefinger ist die Passform eine Katastrophe. Deswegen schneiden viele Soldaten das Innenfutter heraus. Mit diesen Handschuhen ist es für jeden Soldaten nahezu unmöglich, morgens um sieben auf der Schießbahn bei Minusgraden das 80/20-Verfahren sauber durchführen zu können. Für die vaterlandskritischen Kräfte hier aus der linken Ecke: Man spannt den Hahn der Pistole bei diesem Verfahren zu 80 Prozent vor und lässt dann bei den verbleibenden 20 Prozent den Schuss alleine kommen. Sollte man wissen. Zweitens: das veraltete Lochkoppelsystem.
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Meine Damen und Herren, es wäre wirklich schön, wenn unsere Soldaten sich nicht selbst funktionsfähige Kampfwesten oder Plattenträger besorgen müssten, weil sie auf ein Tragekonzept angewiesen sind, das älter ist als der Kalte Krieg. Eine Weste, mit der man im Inland trainieren kann und mit welcher man gegebenenfalls in den Auslandseinsatz verlegt wird – das benötigen unsere Männer und Frauen. Bevor man Milliarden deutsches Steuergeld für Großgerät ausgibt, für das kein Konzept vorliegt, wo nicht klar ist, ob die Systeme kompatibel sind und woher man sie überhaupt nehmen soll, sollte man doch lieber bei der persönlichen Ausrüstung des Soldaten anfangen.
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– Frau Strack-Zimmermann, Sie können gerne dazwischenrufen. Ich weiß: Ihnen gefällt das, wenn hier ein schneidiger Unteroffizier eine heroische Rede hält.
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Neues Gerät allein kann den Menschen nicht ersetzen, den Menschen, der für sein Vaterland zu bluten bereit ist. Bei einem meiner letzten Truppenbesuche stellte ich in einem Kampfbataillon fest, dass nur 60 Prozent der Feldwebelstellen besetzt sind. Meine Damen und Herren, so kann doch eine Armee nicht funktionieren!
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Als ehemaliger Personaler sage ich Ihnen jetzt auch, woran das liegt.
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Die Stellenbesetzung muss vom Bundesamt für das Personalmanagement wahrheitsgetreu abgebildet werden, was in der Praxis nicht immer der Fall ist.
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Weiterhin müssen die Einplaner im Karrierecenter zu den Soldaten ehrlich sein; denn die meisten Feldwebel brechen erst ab, nachdem sie die allgemeinen militärischen Lehrgänge sowie ihre Fachteile absolviert haben und nach drei Jahren zum ersten Mal in Führungsverantwortung in die Kampftruppe kommen.
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Man muss die jungen Menschen bereits im Karrierecenter aufklären, was sie dort erwartet. Die Truppe ist nun mal zum Kämpfen da und dazu, unser Vaterland zu verteidigen.
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Und ja, da kann der Ton auch mal rauer sein. Das ist ja ähnlich wie hier.
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Wenn Sie den Beruf des Soldaten allerdings nur mit Geldanreizen attraktiv machen wollen, dann wird dies scheitern. Soldat zu sein muss wieder Berufung sein. Dafür muss der Soldat gesellschaftlich wieder mit mehr Ehre, Anstand, Stärke und Status assoziiert werden.
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Aber das ist natürlich nicht möglich mit einer Regierung, die sich gegen die toxische Männlichkeit einsetzt.
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Wie Sie nun alle in Endlosschleife betont haben, zeigt der Krieg in der Ukraine, dass die konventionelle Landesverteidigung eines Nationalstaates auch im 21. Jahrhundert überlebenswichtig ist. Schön, dass Sie dies nun endlich begriffen haben! Doch Ihre Einsicht erfolgt viel zu spät. Das beste Beispiel ist die Beschaffung bewaffneter Drohnen. Damit hätten viele Gefallene in Afghanistan verhindert werden können. Aber die SPD hat sich über etliche Jahre hinweg dagegen gewehrt.
Nach knapp zwei Jahrzehnten GroKo und den Auslandseinsätzen mit Tausenden Kameraden, die mit körperlichen und seelischen Verletzungen heimgekehrt sind, gibt es immer noch keine Veteranenkultur in der Bundesrepublik, so als gäbe es überhaupt keine Männer und Frauen, die für unser Land gekämpft haben –
Herr Gnauck, Entschuldigung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?
– nein, das ist wichtig hier –,
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so als gäbe es keine Familien, die Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester verloren haben und vielleicht nie wieder so zusammenkommen können wie vor dem Krieg, so als gäbe es keine Verletzungen, die die von PTBS betroffenen Soldaten mit nach Hause gebracht haben. Es gibt keine Projekte, keine Offensiven zur Verbesserung der Pflege oder Reintegration der Veteranen zurück in die Gesellschaft. Im Wehrbericht steht dazu nicht mal eine Viertelseite, zu Gender- und Vielfaltsideologie hingegen mehrere Seiten.
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Auch das sagt eigentlich bereits alles aus.
Ihre politischen Prioritäten haben nichts mit der Verantwortung für die Soldaten zu tun, die Sie in die Auslandseinsätze schicken, meine Damen und Herren.
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Das offenbarte sich eindrücklich im Umgang mit dem Truppenabzug aus Afghanistan. Dazu heißt es auf Seite 15 im Wehrbericht:
Politisch Verantwortliche nahmen nicht an dem Empfang teil – weder Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung noch des Deutschen Bundestages. Das war im Nachhinein betrachtet ein Fehler.
Und für die nachträgliche Ehrwürdigung unserer Veteranen der Afghanistan-Einsätze wird im Bericht was vorgeschlagen, Frau Dr. Högl? Eine Briefmarke, mehr nicht!
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Das wäre angeblich ein schönes Zeichen des Dankes. Wer so mit denjenigen umgeht, die für dieses Land zu sterben bereit sind, kann einfach keine Wehrfähigkeit herstellen; denn das, meine Damen und Herren, würde eine geistig-moralisch-patriotische Wende bedeuten,
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und das wissen Sie, und das fürchten Sie.
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Wenn wir als Nation noch die Wende schaffen wollen, muss das Credo lauten: weniger Klima, Gender und Kritische Theorie! Mehr „Trainiere, wie du kämpfst“,
({6})
mehr Treue und Liebe zu eigenen, deutschen Tugenden statt linksliberaler Werte, die mit der Realität einer Armee nichts zu tun haben. Es braucht eine Alternative für die Bundeswehr, bei der Vaterland an erster Stelle steht und nicht Vielfalt um jeden Preis.
Vielen Dank.
({7})
Frau Präsidentin! – Das ist eine Frage an den schneidigen Unteroffizier.
({0})
Oder soll ich sagen: „an den schneidigen Unteroffizier a. D.“? Vielleicht, Herr Kollege – weil Sie ja hier sehr stark und beeindruckend aufgetreten sind –,
({1})
können Sie dem Hohen Haus und damit der Öffentlichkeit mal erklären – ich unterstelle es Ihnen nicht –, dass Sie keine Uniform mehr tragen dürfen,
({2})
dass Sie nicht mehr in die Kaserne reindürfen.
Vielleicht erklären Sie dem Hohen Hause,
({3})
dass ein schneidiger Unteroffizier a. D. den Mut hat, hier so aufzutreten und im Namen der Bundeswehr zu sprechen, die nämlich dieses Land verteidigt. Sind Sie immer noch dabei, oder sind Sie nicht mehr dabei, Herr Unteroffizier Schneidig?
({4})
Herr Gnauck, Sie dürfen, wenn Sie möchten, antworten.
({0})
Frau Strack-Zimmermann, vielen Dank für die Zwischenfrage, sodass ich mich hier noch mal erklären kann. – Ich merke, die Rede und auch mein Auftreten haben Ihnen gefallen.
Noch mal zur Klarstellung: Das „a. D.“ steht natürlich deswegen hinter meinem Dienstgrad,
({0})
weil ich in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, und nicht, weil ich aus der Truppe entlassen wurde.
({1})
Es gab nie ein gerichtliches Disziplinarverfahren. Es gab lediglich zwei Jahre lang zu einem gerichtlichen Disziplinarverfahren Vorermittlungen.
({2})
Dieses wurde nie eröffnet.
({3})
Deswegen bin ich immer noch Soldat und wurde auch vor Wochen herzlich in meiner alten Kaserne empfangen.
Vielen Dank.
({4})
Es gab einen zweiten Wunsch nach einer Kurzintervention, nämlich aus der SPD-Fraktion von Johannes Arlt.
({0})
Danke schön. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Gnauck, ich möchte Ihnen als Offizier, der 19 Jahre im Dienst war,
({0})
der sieben Auslandseinsätze hinter sich hat, sagen: Sie sprechen nicht für die Bundeswehr und nicht für unsere Soldatinnen und Soldaten. Mehr ist zu Ihrem Beitrag nicht zu sagen.
({1})
Herr Gnauck, Sie haben das Wort, wenn Sie antworten möchten.
({0})
– Ich glaube, wir sollten jetzt alle mal wieder ein bisschen runterfahren.
({1})
Herr Gnauck hat jetzt auch das Wort und darf antworten.
Herr Major, erst mal vielen Dank für Ihren langen Dienst in den Streitkräften. Sie reden heute zwar eigentlich nicht in dieser Debatte, aber nun sprechen Sie alleine für die SPD-Fraktion, und ich spreche für die AfD-Fraktion und für viele Millionen meiner Wähler. Darauf bin ich sehr stolz. Ich weiß auch, wie viele Soldaten jetzt zuschauen und vor dem Fernseher applaudieren.
Danke.
({0})
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als nächster Redner hat das Wort Lars Lindemann für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Dr. Högl, auch ich möchte Ihnen im Namen meiner Fraktion für Ihre Arbeit danken und bitte Sie darum, das auch an Ihre Mitarbeiter, die heute nicht hier sind, weiterzugeben. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wehrbeauftragte fungiert als Mittler zwischen Parlament und der Bundeswehr zum Schutz der Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und als Hilfsorgan des Deutschen Bundestages, also von uns allen, bei der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr. Dabei geht es ganz wesentlich – in unserem Auftrage – um die Stellung und Funktionalität der Bundeswehr in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Über die auf das Jahr 2021 bezogenen Erkenntnisse und Untersuchungen verhält sich dann auch der heute debattierte Bericht.
Liebe Frau Dr. Högl, die Ihnen übertragene Aufgabe ist Ausdruck der ganz besonderen Verantwortung von uns allen hier im Haus gegenüber der Bundeswehr, für deren Fähigkeiten in der Gesamtheit, aber auch für die Soldatinnen und Soldaten in Ausübung ihres Berufes im Konkreten. Beide Dimensionen sprechen Sie in Ihrem Bericht an. Sie haben darin Unzulänglichkeiten und auch Unzumutbarkeiten deutlich benannt.
Dass es uns als Parlament immer gelungen ist – auch bei den Berichten der Vorgängerinnen und Vorgänger –, immer die richtigen Schlüsse zu ziehen – das müssen wir wohl eingestehen –, war nicht immer der Fall. Aber es geht bei einem solchen Eingeständnis, mein lieber Herr Kollege von der AfD, eben nicht darum, dass man lautstark mit dem Finger auf andere zeigt, sondern wir bemühen uns gerade im parlamentarischen Diskurs, diese Unzulänglichkeiten jetzt zu beseitigen.
({1})
– Wissen Sie, es zeichnet einen Demokraten aus, dass er, wenn er etwas erkennt, dann in der Lage ist, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Nach Ihrem dummen Gequatsche hier kann ich nicht erkennen, dass Sie in der Lage sind, solche Konsequenzen zu ziehen.
({2})
Aber es kommt etwas anderes hinzu. Der vorgelegte Bericht bezieht sich auf einen Zeitraum, und er entstand in seiner schriftlichen Abfassung noch vor dem Bruch der europäischen Friedensordnung durch einen von Russland begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit dem 24. Februar bekommen wir alle jeden Tag unsere Verletzlichkeit und auch die Notwendigkeit einer Wehrhaftigkeit unserer Demokratie vor Augen geführt. Darum möchte ich nicht auf die im Bericht gut nachlesbaren und detailliert dargestellten Einzelheiten eingehen; meist sind sie ja auch länger bekannt.
Ich würde gern, liebe Kolleginnen und Kollegen, etwas anderes hinzufügen: Deutschland ist nicht unmittelbare Kriegspartei.
({3})
Wir wollen dies weder selbst noch im Bündnis mit der NATO werden. Aber der Krieg ist nicht nur geografisch nah. Er bewegt und erschüttert uns alle ganz individuell, auf unterschiedliche Art und Weise. Die sichtbaren Auswirkungen des Krieges, wie zum Beispiel die Ankunft und die Unterbringung von Flüchtlingen, das für mich und die überwiegende Mehrheit in diesem Land körperlich spürbare Mitleid mit dem ukrainischen Volk, die verbale, durchaus heftige Debatte um die Frage über den richtigen Weg, ob wir schwere Waffen in die Ukraine liefern, das ganz individuelle, mit Wohlstandsverlust verbundene Aushalten von Auswirkungen der Sanktionen hier in Deutschland – das alles sind zum Glück nur Vorstufen, nicht vergleichbar mit dem, was wir aushalten müssten, wenn es Krieg auch für uns hier geben würde. Wir alle hoffen, dass es bei diesen Vorstufen bleibt. Ob dies tatsächlich so sein wird, kann niemand sagen.
Liebe Frau Dr. Högl, es ist darum in Ihrem nächsten Bericht und in Ihrer Arbeit bis dahin noch viel stärker darauf einzugehen, dass Sie begleiten und kontrollieren und am Ende auch Transparenz dafür schaffen, ob die von uns in diesen Tagen auf den Weg gebrachten Maßnahmen zur Ertüchtigung unserer Bundeswehr tatsächlich und ganz besonders in der Wahrnehmung der Soldatinnen und Soldaten am Anfang der Berichtskette wirksam werden. Es geht dabei um unser aller Glaubwürdigkeit gegenüber den Soldatinnen und Soldaten und auch gegenüber unserem Land. Dies ist notwendig, damit unser nun eingeschlagener Weg der beschleunigten und aufwendigen Ertüchtigung der Bundeswehr die Akzeptanz hier im Parlament, aber auch in der deutschen Gesellschaft behält.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Frau Wehrbeauftragte! Meine Damen und Herren! Auch die Fraktion Die Linke bedankt sich bei der Wehrbeauftragten für den Bericht. Allerdings wirft dieser im Hinblick auf einige Aussagen der Wehrbeauftragten einige Fragen auf. Die Bundeswehr ist einsatzbereit, sagte Frau Högl bei der Vorstellung des Berichts, und das klingt ja erst mal etwas anders als das sonst wiederkehrende Mantra, die Bundeswehr sei schlecht aufgestellt und habe nicht genügend Geld.
In den vergangenen 20 Jahren ist der Wehretat verdoppelt worden von 26,5 Milliarden auf 52,8 Milliarden Euro. Wenn also etwas schiefläuft, dann liegt das wohl nicht an mangelndem Geld, sondern am völligen Missmanagement der politisch Verantwortlichen, an schlechten Verträgen und fragwürdigen Beraterverträgen.
({0})
Deutschland braucht dringend die 100 Milliarden Euro, aber nicht für weitere Aufrüstung, sondern für Bildung, für Gesundheit und gute Renten. Das sind unsere besten Waffen.
({1})
Frankreich zeigt ja, dass es geht. Frankreich hat ein ähnliches Militärbudget wie Deutschland. Aber da gibt es kein Dauermantra und Lamentieren über die Medien, über Panzer, die nicht geradeaus fahren, und Gewehre, die nicht geradeaus schießen. Also sollten die politisch Verantwortlichen endlich beginnen, geradeaus zu denken, und aufhören, das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu verschwenden.
({2})
Es mutet doch etwas komisch an, ausgerechnet Afghanistan lobend zu erwähnen. Dass das kein Ruhmesblatt war, liegt weiß Gott nicht an den Soldatinnen und Soldaten oder am mangelnden Geld, sondern dieser Fisch stank von Beginn an vom politischen Kopf her. Einige dieser Köpfe sitzen immer noch in diesen Reihen.
({3})
Mindestens 185 000 Zivilistinnen und Zivilisten wurden in Afghanistan grausam ermordet. Im Land herrscht eine humanitäre Katastrophe, und mit den Taliban sind die gleichen Machthaber wieder an der Macht, von denen Afghanistan angeblich vorher befreit werden sollte. Warum verschleppen Sie den Untersuchungsausschuss zu Afghanistan? Frau Högl hat ja richtigerweise angemerkt, dass er dringend notwendig ist.
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Ihnen als Wehrbeauftragte dürfte ja bekannt sein, dass die Bundeswehr laut Grundgesetz eine Verteidigungsarmee ist. Stattdessen reden Sie aber von Bündnisverteidigung.
({5})
Die NATO hat sich weder in diesen grausamen Tagen noch in den Jahren zuvor als ein Friedensbündnis erwiesen.
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Also machen Sie sich bitte nicht von einer Wehrbeauftragten zu einer Werbebeauftragten der Rüstungsindustrie.
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Wahren Sie bitte den überparteilichen Charakter einer Wehrbeauftragten und vor allen Dingen den Charakter der Bundeswehr als eine Parlamentsarmee.
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Die Linke schließt sich ausdrücklich dem Lob an diejenigen Soldatinnen und Soldaten an, die Rechtsextremismus nicht in ihren Reihen dulden wollen und Meldung erstatten. Schade, dass es bei der Bundeswehr, aber nicht in diesem Hohen Hause geht.
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Es braucht viel klarere Konsequenzen gegen Rechtsextreme, auch unter den Reservisten. Im vergangenen Jahr wurden 1 033 Sachverhalte mit Extremismusbezug innerhalb der Bundeswehr ermittelt. Helfen Sie dringend, Frau Högl, dieses aufzuklären. Wieso steigen die Verdachtsfälle? Wieso gibt es so viel Radikalisierung unter den Reservisten? In welcher Form werden die Dienstvorgesetzten in die Pflicht genommen?
({10})
Hier ist der Bericht leider noch ziemlich dünn.
Meine Damen und Herren, trotz des politischen und des medialen Säbelrasselns haben die Ostermärsche gezeigt, wie wichtig es vielen Tausenden Menschen in Deutschland ist, sich für Abrüstung und Frieden auf die Straße zu begeben und dafür zu demonstrieren. Das war ein gutes Zeichen. Frau Högl, einst war auch das Ihr Anliegen. Ich hoffe, das vergessen Sie nicht.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Falko Droßmann, den ich heute zu seiner ersten Rede ganz herzlich hier im Hause begrüße.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Wehrbeauftragte Dr. Högl! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion ganz herzlichen Dank für diesen 63. Bericht, den Sie uns vorgelegt haben.
Meine Damen und Herren, der uns vorliegende 63. Bericht der Wehrbeauftragten dieses Hauses zeichnet in guter Tradition ein objektives Bild des Zustandes unserer Streitkräfte und unserer Bundeswehrverwaltung, ein Bild, das frei ist von parteilichen Tendenzen, aber parteiisch ist für unsere Soldatinnen, Soldaten und Zivilbeschäftigten. Wie jede vorherige Inhaberin und jeder vorherige Inhaber dieses wichtigen Amtes hat aber auch Eva Högl ihre eigenen Schwerpunkte gesetzt. Vor allem begrüße ich die besondere Betrachtung der Situation von Frauen in der Bundeswehr sowie den neuen Schwerpunkt der umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen unserer Truppe.
({0})
Ihnen, Frau Bundesministerin Lambrecht, danke ich ausdrücklich für die Schlüsse, die Sie aus diesem Bericht gezogen haben. Ich bin mir sicher, dass Sie diesen Bericht nicht nur als Sachdarstellung, sondern als Arbeitsauftrag verstehen.
({1})
Denn das ist er: ein Arbeitsauftrag. So wurde er in den letzten Jahren auch verstanden.
Führt man sich die Plenardebatten der letzten Jahre einmal zu Gemüte, finden wir auch den immer wiederkehrenden parlamentarischen Ablauf: Regierungsfraktionen loben das Ministerium, Opposition fordert endlich Konsequenzen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages richtet sich nach meinem Verständnis doch gerade nicht an das Bundesverteidigungsministerium, sondern an uns als Parlament.
({2})
Das ist doch unsere Aufgabe, und es ist unsere Wehrbeauftragte, die uns über den Zustand, die besonderen Leistungen und Fehlentwicklungen unserer Bundeswehr, unserer Parlamentsarmee, berichtet.
Ich möchte an dieser Stelle – mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin – aus dem Plenarprotokoll der 93. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 1955 zitieren. Dort sagt der großartige Sozialdemokrat Erich Ollenhauer nämlich:
Jede militärische Streitmacht ist nicht nur ein Teil der Exekutive, sondern sie schafft aus ihrem Wesen heraus ein Stück verfassungsrechtlicher Wirklichkeit neben der Exekutive, weil sie nach völlig anderen Grundsätzen aufgebaut wird als die zivile Verwaltung.
Und weiter:
Der demokratische Aufbau und die zivile Kontrolle sind daher nicht garantiert, indem die Militärs der Weisungsbefugnis des Verteidigungsministers
– bzw. der Verteidigungsministerin –
unterstellt werden und indem es die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers gegenüber dem Parlament gibt.
Die Position der Streitkräfte – so sagt Ollenhauer – muss durch direkte Einwirkungsmöglichkeiten des Parlaments gesichert sein.
({3})
Und, meine Damen und Herren, wenn wir den Begriff „Parlamentsarmee“ ernst nehmen, dann ist es doch unsere Aufgabe, die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Wie kommt es denn, dass unsere Streitkräfte derzeit in einem Zustand sind, der ein Sondervermögen überhaupt nötig macht? Liegt es nicht auch daran, dass wir es hier in diesem Hause in den letzten Jahren versäumt haben, den Streitkräften einen klaren Auftrag zu geben und sie entsprechend unserem Auftrag auch auszustatten? Wurde nicht stattdessen ohne langfristige Strategie eine Vielzahl von Waffensystemen mit der Folge beschafft, dass wir eine schier unübersichtliche Modellvielfalt haben und alles etwas können, aber viel zu wenig richtig?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle beklagen eine überbordende Bürokratie oder sprechen gar von Managementfehlern in der sogenannten Beschaffung. Aber sind es nicht wir, die die Regeln aufgestellt haben, dass auch noch jede Tube Schuhcreme in einem langen Verfahren öffentlich ausgeschrieben werden muss oder jede Erprobung neuen Materials erst während des Ausschreibungsverfahrens stattfinden darf? Und dann beklagen wir uns über zu lange Bearbeitungszeiten in der Bundeswehr? Sind es nicht wir, die den Bundesländern und Kommunen Personal für Bau und Sanierung militärischer Einrichtungen zur Verfügung stellen, nicht aber überprüfen, wofür dieses Personal tatsächlich eingesetzt wird? Sind es nicht wir, die über das StVG festgelegt haben, dass auch noch jeder Panzer, bei dem ein Blinker nicht richtig blinkt, vorübergehend stillgelegt werden muss? Sind es nicht wir, die zu Recht betroffen und erschrocken die Beispiele von Führungsversagen und Verletzung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zur Kenntnis nehmen und Aufklärung und harte Maßnahmen fordern, ohne dass wir uns fragen, was die Ursachen sind?
Wie kann es denn sein, dass eine wachsende Anzahl von Soldatinnen und Soldaten gerade in Führungspositionen das Bild des Staatsbürgers in Uniform hinterfragen und einen Soldaten sui generis fordern oder sich hohe und höchstgestellte Offiziere nach Beendigung ihres Dienstes in rechtsradikalen Gruppen zusammenschließen und – mit hoher Pension – jene freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, die sie vorher tapfer, also unter Einsatz ihres Lebens, verteidigen sollten?
({4})
Einige Beispiele finden wir auch auf der rechten Seite des Hauses hier.
({5})
– Sie können ruhig dazwischenbrüllen.
({6})
Aber, ganz ehrlich, ich bin seit mehr als 20 Jahren Offizier, und meine Haltung ist glasklar: Wer Funktionär in der AfD ist, ist weder als Offizier noch als Unteroffizier in der Bundeswehr tragbar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, es ist die Aufgabe dieses Parlamentes, sich um ebendiese Fragen zu kümmern: um die Attraktivität des Dienstes; um die Frage, was in Afghanistan falsch gelaufen ist; um die Bezahlung der Soldatinnen und Soldaten, wobei wir uns natürlich auch darum kümmern müssen, dass die Zulagen aus der Dienstzeit der Soldatinnen und Soldaten auf das Ruhegehalt angerechnet werden, wie dies für andere Uniformträger des Bundes angekündigt wurde. Kümmern müssen wir uns auch um die Herausforderungen an militärische Führung, die Ausstattung, die die Durchführung unserer Aufträge erst ermöglicht, und die Innere Führung, um unser Land und unsere Freiheit als mündige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verteidigen zu können und verteidigen zu wollen. Auch das ist Zeitenwende. Werden wir unserer Verantwortung als Parlament wieder gerecht!
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Serap Güler.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Dr. Högl, und Ihrem Team danken für Ihren unermüdlichen Einsatz und Ihre konstruktive Arbeit ganz im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten.
({0})
In Ihrem Jahresbericht 2021 bekommen wir Aufschluss über den Zustand der Bundeswehr sowie über die Stimmung und auch über die Missstände in der Truppe. Aber auch in anderer Hinsicht ist der Bericht sehr aufschlussreich. Bereits zu Beginn Ihres Berichtes gehen Sie auf die Rede des Bundeskanzlers am 27. Februar ein. Und auch Sie haben ganz offensichtlich den Bundeskanzler genauso verstanden wie der Rest der Bevölkerung: Deutschland wird ab sofort mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungshaushalt investieren und zusätzlich
({1})
ein „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro aufsetzen – nachzulesen in dem Bericht der Wehrbeauftragten, lieber Herr Kollege.
({2})
Aber okay, das soll anders gemeint gewesen sein. Das muss Frau Högl, das muss ich, das muss der Rest der Bevölkerung hier zur Kenntnis nehmen.
Und dennoch möchte ich hier klarstellen, dass wir ausdrücklich Ihre Aufforderung, Frau Högl, an dieses Hohe Haus unterstützen, den Verteidigungshaushalt deutlich zu erhöhen.
({3})
Wir müssen dauerhaft mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bundeswehr investieren.
({4})
Das erwarten unsere Partner, unsere Verbündeten, aber genau das erfordert auch die aktuelle Bedrohungslage.
({5})
Nur dann wird die so groß angekündigte Zeitenwende wirklich mit Leben gefüllt werden. Denn Ihr Bericht zeigt: Das Geld wird dringend gebraucht, gerade für die persönliche Ausstattung und Ausrüstung unserer Soldatinnen und Soldaten. Davon konnte ich mich auch letztens im Rahmen eines Besuchs bei unserer Battle Group in Litauen überzeugen. Das muss man an dieser Stelle leider auch ganz offen und ehrlich sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort sind diejenigen, die am schlechtesten ausgestattet sind – und das, obwohl wir dort Führungsnation sind.
({6})
Das fängt an bei der Bekleidung, geht über die Funkgeräte und endet darin, dass unsere Soldaten nach wie vor die Einzigen sind, die in gepanzerten Fahrzeugen mit Karten arbeiten müssen, während andere schon digital unterwegs sind. Und wer dafür verantwortlich ist, lieber Herr Kollege, haben wir, glaube ich, in den letzten Tagen hier sehr ausführlich erörtert.
({7})
Dabei ist klar geworden, dass sich hier keiner von dieser Verantwortung freisprechen kann, gerade nicht Ihre Fraktion.
({8})
Es ist ausdrücklich zu begrüßen – das hat Frau Högl gerade auch schon deutlich gemacht –, dass jetzt in guter Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Bundestag die 2,4 Milliarden Euro für die Schutzausrüstung und für die Bekleidung schnell und flexibel bereitgestellt werden. Dies wird die Motivation der Männer und Frauen nochmals steigern. Und es ist ein Zeichen des Respekts, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Darüber hinaus müssen wir aber auch weitere Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten im Auge behalten, und auch hier insbesondere die der Frauen. Diese Bedürfnisse müssen stärker in den Fokus gerückt werden. Denn Sie stellen zu Recht fest, Frau Högl, dass die Strukturen der Bundeswehr auf männliche Soldaten ausgerichtet sind.
({9})
Es dienen immer noch nur knapp 13 Prozent Frauen in der Bundeswehr.
({10})
Also müssen wir uns auch hier gemeinsam als Abgeordnete Gedanken machen, wie wir den Dienst in der Bundeswehr für Frauen attraktiver machen können. Zum Beispiel müssen Dienst- und Familienpflichten kombinierbarer werden. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein großes Thema in der aktiven Truppe, aber auch bei den Reservistinnen und Reservisten. Sie müssen viele Verpflichtungen koordinieren, zwischen ihrem Beruf, ihrer Familie und dem Reservistendienst. Auch ihnen danke ich ausdrücklich für ihr Engagement, gerade in der Fluthilfe oder auch in der Pandemie.
({11})
Ihre Rolle für die Landes- und Bündnisverteidigung wird in diesen Zeiten wieder zentral für die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes. Im Verteidigungsfall müsste eine große Zahl Reservisten herangezogen werden; wir reden hier von mehreren Zehntausend. Doch die Software dafür, die diese Mammutaufgabe stemmen soll, stammt aus den Zeiten des Kalten Krieges. Die Digitalisierung im Personalwesen muss also schneller und flexibler gestaltet werden und kann sich nicht an die normalen Beschaffungswege halten, die mittlerweile mehrere Jahre dauern können. Bis dahin sind eine Implementierung bzw. die IT der Implementierung schon längst überholt.
Und das ist nur eine der Widrigkeiten, denen unsere Soldatinnen und Soldaten teilweise ausgesetzt sind, wie wir in dem Bericht nachlesen können. Umso bemerkenswerter ist es, wie selbstverständlich und höchst motiviert sie immer wieder Außerordentliches leisten. Und dafür gilt ihnen unser aller Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, strengen wir uns gemeinsam an, ziehen wir gemeinsam Lehren aus diesem Bericht und sorgen dafür, dass Motivation und Freude am Dienst für unser Land stärker gewürdigt werden, indem wir die Belange der Truppe auch künftig stärker respektieren.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sara Nanni.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Zunächst möchte ich der Wehrbeauftragten und dem ganzen Team für ihre Arbeit danken. Der Bericht und das kontinuierliche Am-Puls-der-Truppe-Sein sind eine sehr wichtige Unterstützung unserer parlamentarischen Arbeit.
({0})
Der Bericht zeigt: Die Mehrbelastung der Truppe im letzten Jahr war enorm. Im Rahmen der Amtshilfe haben Soldatinnen und Soldaten viel auch das getan, was eben nicht zu ihrem Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung gehört. Im Impfzentrum, im Gesundheitsamt, in Alten- und Pflegeeinrichtungen haben sie im Rahmen der Pandemie überall dort Hand angelegt, wo es nötig war. Ich sage Ihnen auch ganz ehrlich: Manche Kommunen sind mit der Bereitschaft zur Amtshilfe verantwortungsvoller umgegangen als andere. Auch in der Flutkatastrophe im Juli 2021 mit ihren verheerenden Folgen für so viele Menschen waren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Sie bauten Brücken, sie halfen, Bäume und Trümmer aus Flussbetten und von Straßen zu räumen. Die Soldatinnen und Soldaten haben hier Enormes geleistet. Sie haben den Dank der Bevölkerung direkt gespürt. Ich denke, ich spreche für das ganze Haus, wenn auch ich hier Danke sage.
({1})
Danke sagen reicht aber nicht. Das zeigt der Bericht, liebe Frau Wehrbeauftragte, und ich habe es auch selbst erfahren, als ich Ende Dezember letzten Jahres in Rukla die Truppe bei der Enhanced Forward Presence Battlegroup besucht habe. Dort habe ich mit Soldaten gesprochen, und sie erzählten von ihrer Arbeit, die schon damals in einem sicherheitspolitisch sehr angespannten Umfeld stattfand. Auch über ihre persönliche Ausstattung im Einsatz haben sie gesprochen, ebenso darüber, dass diese Ausstattung nicht immer angemessen ist. Sie beschaffen sich in der Konsequenz das ein oder andere Teil – auch nicht alles ganz billig – selbst. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Und auch wenn wir Einsätze wie den in Rukla nicht mandatieren, sind wir doch verantwortlich, wenn die Truppe unzureichend ausgestattet ist, wenn der Sold, der ordentlich, aber nicht üppig ist, teilweise dafür draufgeht, dass man erst einmal die persönliche Ausstattung so vervollständigen muss, dass man seinen Auftrag optimal erfüllen kann. Das muss doch anders gehen.
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Ich bin, liebe Frau Ministerin, auch optimistisch, dass das anders gehen wird.
Ich bin der Ministerin und auch dem Generalinspekteur sehr dankbar – natürlich auch dem Haushaltsausschuss –, dass sie als eine der ersten Entscheidungen in dieser Wahlperiode ganz klargemacht haben: Es wird keinem Soldaten, keiner Soldatin mehr an persönlicher Ausstattung mangeln.
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Das ist nicht nur ein wichtiges Signal; das hat etwas mit Respekt zu tun. Und Respekt bedeutet so viel mehr. Da bleiben wir weiter in der Pflicht. Ihr Bericht, das sind 176 Seiten Hausaufgaben für das BMVg, aber auch für dieses Haus.
Respekt bedeutet aber auch, dass Frauen in der Bundeswehr selbstverständlich sind und Sexismus geächtet wird, dass alle Menschen unabhängig von Religion, sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität, Hautfarbe oder Biografie gleichbehandelt werden.
({4})
Und das heißt auch, dass die Kameradschaft nicht derjenige gefährdet, der rechtes Gedankengut anprangert, sondern derjenige, der es in die Truppe trägt.
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Respekt bedeutet auch, dass wir im Parlament sehr genau prüfen, in welche Einsätze wir unsere Soldatinnen und Soldaten mit welchem Auftrag entsenden, und dass wir diejenigen, die mit seelischen und körperlichen Wunden zurückkommen, gut versorgen.
({6})
Das ist insbesondere mit Blick auf das Ende des Afghanistan-Einsatzes – das wurde hier mehrfach angesprochen – ein großes Thema, dem wir uns noch mehr widmen möchten.
Liebe Frau Wehrbeauftragte, 2 606 persönliche Eingaben, 3 967 Vorgänge insgesamt haben Sie und Ihr Team im letzten Jahr ausgewertet. Bei zahlreichen Besuchen bei der Truppe haben Sie zugehört und sich ansprechbar gezeigt. Danke, dass Sie Ihre Arbeit so gewissenhaft machen, damit wir unsere Arbeit gewissenhafter machen können.
({7})
So, und jetzt muss ich noch ein paar Dinge klarstellen: Frau Nastic, ich finde es unangemessen, dass Sie der Wehrbeauftragten hier unterstellen, ihrem Auftrag nicht gerecht zu werden.
({8})
Der Bericht zeigt das Gegenteil, und Ihre Unterstellung ist infam.
Und an die Union nur eine Frage: Sie haben ja wichtige Herausforderungen angesprochen. Wo waren denn die Parlamentarier der Union die letzten 16 Jahre?
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– Zu Ihnen komme ich noch.
Die AfD ruft da rein: Der erste Mann, der gedient hat!
({10})
Sie haben Gnauck in den Bundestag gerettet,
({11})
weil er in der Truppe keine Perspektive mehr hatte.
({12})
Das ist doch die Wahrheit. Und wissen Sie was? Für Kameraden wie Sie schämt man sich in der Bundeswehr.
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Die Reden der AfD entlarven Sie. Niemand, dem dieses Land und unsere Werte am Herzen liegen, biedert sich einem Autokraten wie Putin so an, wie Sie das regelmäßig in diesem Haus tun.
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Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, hat Herr Gnauck das Wort zu einer persönlichen Erklärung.
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Sehr geehrte Frau Nanni – weil Sie mich ja persönlich angesprochen haben –, nicht die AfD hat mich in den Bundestag gehievt oder gerettet. In meinem Wahlkreis habe ich das zweitstärkste Ergebnis mit über 20 Prozent der Direktmandatsstimmen geholt.
({0})
Ihr Kandidat, Herr Kellner, landete bei 3 Prozent.
Die Bürger des deutschen Volkes haben mich hier reingewählt, und nicht die AfD hat mich hineingehievt oder gerettet. Das muss mal klargestellt werden.
Vielen Dank.
({1})
Ich rufe den nächsten Redner auf: für die FDP-Fraktion Alexander Müller.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Högl, ich darf Ihnen zuerst für Ihren engagierten Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten danken. Mit Ihrem Bericht legen Sie wieder die Stellen offen, an denen die Politik im Obligo ist, die Probleme der Truppe abzustellen. Es ist ein ganz wichtiges Papier, eine Art Checkliste, würde ich als Berufspilot sagen, die wir in diesem Haus abzuarbeiten haben.
Ihr Bericht 2021 geht ausführlich auf das Ende des Afghanistan-Einsatzes ein, eine Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr. Afghanistan war der intensivste und der verlustreichste Auslandseinsatz der Bundeswehr. Der Bericht ist erneuter Anlass zum Gedenken an die 59 Soldatinnen und Soldaten, die aus diesem Einsatz nicht wieder lebendig nach Hause gekommen sind, und auch an die vielen körperlich und seelisch Verwundeten, für deren Fürsorge wir hier als Parlament in der Schuld stehen. Wir danken heute allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die weltweit für uns den Kopf hinhalten, um unsere Aufträge zu erfüllen und Frieden in der Welt abzusichern.
({0})
Jetzt kommen wir mal kurz zu den Zahlen. Der Kollege von der AfD sprach eben von seinen Millionen Wählern. Beim Bundeswahlleiter kann man es ja sehr genau nachvollziehen: Es waren 26 000. Da sind also wohl ein paar Nullen durcheinandergeraten.
({1})
Aber auch über die Union muss man sich wundern, weil beide Rednerinnen fehlende finanzielle Mittel beklagten. Jetzt ist vom Finanzministerium keiner da, der mit dem Hut herumgehen könnte; aber das war schon fast vergnügungssteuerpflichtig und durchaus unterhaltsam. In der mittelfristigen Finanzplanung der letzten unionsgeführten Bundesregierung waren für dieses Jahr etwas mehr als 46 Milliarden Euro vorgesehen. Wir als Ampel haben 50 Milliarden Euro auf den Tisch gelegt. Doch Sie kritisieren und jammern nur rum. Und dann kommt das Sondervermögen. Da stehen Sie auch nicht; da wissen Sie auch nicht, was Sie wollen.
({2})
Der Fraktionsvorsitzende Merz hat angekündigt, dass er uns 75 Stimmen für die Grundgesetzänderung zu den 100 Milliarden Euro gönnen will, und der Rest stimmt dann irgendwie anders. Das heißt, entweder sind Sie in der Union tief gespalten, oder Sie wollen hier taktische Spielchen spielen. Und das ist unangemessen, wenn es um das Wohl unserer Soldatinnen und Soldaten geht. Das ist kein staatspolitisches Handeln.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben hier mehrere Redner verlangt, dass wir die Ukraine nicht weiter bei der Selbstverteidigung unterstützen, dass wir Putin nicht weiter stören sollen, wenn er die Bevölkerung dort auslöscht. Die Stammtischformel „Wer Waffen liefert, befeuert immer den Krieg!“ stimmt nicht. Viele von uns, die geglaubt haben, man könne ohne Waffen oder Abschreckung dauerhaften Frieden haben, sind in diesem Jahr in der Realität aufgewacht. Wladimir Putin beeindrucken keine Gespräche, ihn interessiert auch das Völkerrecht nicht, und geschlossene Verträge interessieren ihn auch nicht. Seine Gegner bringt er einfach um. Wir sind hier in Deutschland Zeuge davon. Einen Aggressor stoppen wir nicht mit einem Sitzkreis und einer ausgiebigen Diskussion. Das haben fast alle mittlerweile verstanden. Einen Aggressor beeindrucken nur wirksame Abschreckung oder – ich zitiere eine gute Formulierung meiner Kollegin Strack-Zimmermann – Verhandlungen mit sichtbarer Hand am Colt.
({4})
Unsere Abschreckung ist eine starke Bundeswehr. In der Ukraine verteidigt sich gerade die freie Welt gegen den Neoimperialismus. Erst wenn Freiheit, das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, faire Gerichtsurteile, Meinungsfreiheit plötzlich nicht mehr vorhanden sind, erkennen wir deren Wert. Die Bundeswehr ist unser Garant für genau diese freiheitlichen Werte. Ich bin froh und dankbar, dass die Bundeswehr jetzt verstärkt Bewerberinnen und Bewerber bekommt, weil sie den Sinn stiften kann, den viele junge Menschen aus ihrem künftigen Beruf ziehen wollen.
Jede unserer Soldatinnen, jeder Soldat riskiert seine körperliche Unversehrtheit und dient dafür, diese unsere Art, zu leben, zu verteidigen. Ich bin allen dafür sehr dankbar, und deswegen sollten wir noch wesentlich mehr leisten, damit die Truppe den Respekt bekommt, den sie sich verdient. Zu diesem Respekt gehört eine anständige Ausrüstung und materielle Ausstattung, die diese Regierungskoalition jetzt nachhaltig und glaubwürdig bereitstellt.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Florian Hahn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Christian Petry hat leider den Saal verlassen; aber ich möchte mal sagen: Also, ich habe das eher als einen kameradschaftlichen Hinweis vom Kollegen Petry an den Kollegen Gnauck verstanden. – Das nur vorweggestellt.
({0})
Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, vielen herzlichen Dank für Ihren 63. Bericht; das ist nicht Ihr 63. Bericht, sondern der 63. Bericht des Wehrbeauftragten, des Hilfsorgans des Deutschen Bundestages. Und vielen Dank, dass Sie einmal mehr den Finger in die Wunde gelegt haben und wieder eine Mängelliste in Form dieses Berichtes vorgelegt haben, was den Zustand der Ausrüstung, der Ausstattung etc. angeht, aber auch bezüglich der sonstigen Angelegenheiten unserer Soldatinnen und Soldaten. Auch wenn Sie nicht für die gesamte Bundeswehr zuständig sind, sondern nur für die 184 000 Soldatinnen und Soldaten, möchte ich an dieser Stelle sagen, weil das sonst oft ein bisschen untergeht, dass nicht nur die 184 000 Soldatinnen und Soldaten eine tolle Arbeit leisten, sondern auch alle zivilen Mitarbeiter, die für und bei der Bundeswehr arbeiten. Das möchte ich an dieser Stelle auch mal sagen.
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Frau Wehrbeauftragte, Sie haben in Ihrer Rede viele wichtige Punkte angesprochen. Sie haben beispielsweise auch wieder auf die Amtshilfe rekurriert. Dazu möchte ich sagen: Ja, es ist gut, dass die Amtshilfe jetzt beendet oder in weiten Teilen beendet wurde; aber wir sollten nicht nur feststellen, dass es richtig ist, dass sie beendet wurde, sondern wir müssen auch darauf hinweisen, dass Ausbildung in den letzten zwei Jahren wegen Amtshilfe im Rahmen von Corona nicht geleistet werden konnte, wodurch Probleme bei der Bundeswehr auftreten. Wir sollten jetzt den Hinweis loswerden, und zwar an den Bund, die Länder und die entsprechenden Institutionen, die eigentlich für diese Aufgabenerfüllung zuständig gewesen wären, dass sie jetzt Lehren daraus ziehen und Strukturen für die Zukunft aufbauen müssen; denn wir werden das tatsächlich nicht noch mal in diesem Ausmaß leisten können. Das müssen wir denjenigen, die dafür auf allen Ebenen verantwortlich sind, ins Stammbuch schreiben.
Frau Wehrbeauftragte, Sie haben wieder einmal auch beim Thema „Ausrüstung, Ausstattung“ den Finger in die Wunde gelegt. Es ist richtig, dass wir hier viele Defizite haben. Darüber diskutieren wir ja munter schon seit vielen Wochen, und das wird sicherlich auch noch ein paar Wochen so weitergehen. Wichtig ist aber, dass wir auf den Punkt kommen und tatsächlich Verbesserungen erreichen; ich komme noch dazu.
Ein wichtiger Punkt dabei ist natürlich das Thema „Beschaffung und Organisation von Beschaffungen“. Wir brauchen hier weniger Bürokratie, wir brauchen schnelleres Vorgehen, schnellere Entscheidungen etc. Deswegen war ich sehr positiv gestimmt, als die Bundesministerin in ihren ersten Äußerungen im Amt angekündigt hat, beim Thema Beschaffungen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit zu setzen. Kurz danach wurde freudestrahlend berichtet, dass man schon mal die Grenze für unterschwellige Vergaben im Bereich Beschaffung von 1 000 auf 5 000 Euro anhebt. Dann wurde noch berichtet, dass man in Zukunft öfter die Möglichkeit nach europäischem Recht nutzen möchte, ohne Ausschreibung zu beschaffen. Punkt! Aber das war es bisher. Ich will nur sagen: Das ist nicht der Durchbruch, wenn es darum geht, Beschaffung besser zu organisieren und der Truppe schneller und effektiver das an die Hand zu geben, was sie tatsächlich braucht. Hier braucht es mehr Elan, Frau Bundesministerin. Das erwarte ich.
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Wenn Sie sagen, dass das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ein Booster ist, dann will ich nur sagen: Passen Sie auf, dass dieser Booster nicht zum Rohrkrepierer wird. – Wir stehen dem Sondervermögen, wie Sie es jetzt wollen, so kritisch gegenüber, weil Herr Scholz erst angekündigt hatte, dass er gerne 100 Milliarden Euro plus die Mittel für das Erreichen des 2‑Prozent-Ziels haben möchte, und weil daraus jetzt 2 Prozent minus 100 Milliarden Euro wurden. Das werden wir so nicht mittragen können. Denn wir würden dann erleben, dass die Bundeswehr, die in der Vergangenheit strukturell unterfinanziert war – dieser Meinung sind wir heute –, wieder genau da landet, wenn das Strohfeuer von 100 Milliarden Euro verbraucht ist und wenn wir die Finanzlinie nicht auf das 2‑Prozent-NATO-Ziel ausgerichtet haben. Das wissen Sie. Deswegen werden Sie sich diesen Vorwurf auch gefallen lassen müssen. Machen Sie aus diesem Sondervermögen wirklich einen Booster und nicht ein Strohfeuer, und geben Sie der Bundeswehr, was Sie braucht, nämlich die notwendigen Mittel zum Erreichen des 2‑Prozent-NATO-Ziels, und zwar nicht nur jetzt, nicht nur dieses Jahr, sondern für die nächste Dekade.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dirk Vöpel.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte Dr. Högl, dem Dank an Sie und Ihr gesamtes Team kann ich mich uneingeschränkt anschließen. Für alle, die sich einen Überblick über die aktuellen Themen in der Bundeswehr verschaffen möchten, ist der Bericht der Wehrbeauftragten eine unverzichtbare Lektüre, verständlich und mit vielen anschaulichen Beispielen. Man muss kein Fachpolitiker sein, um in die großen und kleinen Probleme unserer Parlamentsarmee einzutauchen.
Das Amt der Wehrbeauftragten in Deutschland ist weltweit einzigartig und auf das besondere Verhältnis zwischen Bundestag und Bundeswehr zurückzuführen. Es ist der Bundestag, der über die Einsätze unserer Soldatinnen und Soldaten entscheidet, der sie ausstattet und ausrüstet und eine besondere Verantwortung für alle Angehörigen unserer Streitkräfte trägt.
Der Jahresbericht zeigt eindrucksvoll auf, was unsere Soldatinnen und Soldaten im letzten Jahr geleistet haben. Von der Amtshilfe im Kampf gegen Corona und zur Bewältigung der Hochwasserkatastrophe über die Einsätze im Rahmen unseres internationalen Engagements bis hin zur Evakuierungsmission in Afghanistan, zum Teil ohne große Vorlaufzeiten und mit hoher Einsatzbereitschaft waren unsere Soldatinnen und Soldaten auch im vergangenen Jahr stets zur Stelle und packten dort mit an, wo sie gebraucht wurden.
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Dass die Bundeswehr Amtshilfe leisten kann, ist spätestens seit der geleisteten Unterstützung im Gesundheitsbereich allen bekannt. Hier waren bis zu 19 000 Soldatinnen und Soldaten gleichzeitig im Einsatz. Amtshilfe darf aber nicht zur Daueraufgabe werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kernauftrag der Bundeswehr ist die Landes- und Bündnisverteidigung. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, braucht sie gutes Personal und Material. Das Bundesministerium der Verteidigung strebte zuletzt in seiner mittelfristigen Personalplanung bis 2027 eine Personalstärke von rund 203 000 Soldatinnen und Soldaten an. Mit Stand vom 28. Februar 2022 leisteten fast 184 000 Frauen und Männer ihren Dienst bei der Bundeswehr. Das ist eine Differenz von mehr als 19 000 Soldatinnen und Soldaten; es liegen also noch große Aufgaben vor uns.
Positiv festzuhalten ist zunächst, dass es der Bundeswehr gelungen ist, trotz pandemiebedingter Einschränkungen einen Personalbestand in Höhe von 99,8 Prozent des Vorjahresniveaus zu halten und die Neubewerberzahlen im Vergleich zum Vorjahr weiter zu steigern.
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Auch die Zahl der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit mit einer langen Verpflichtungszeit von 15 Jahren oder mehr ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Um die Personallücke zu schließen, muss die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeberin weiter gesteigert werden. Um das zu erreichen, sind weiterhin erhebliche Anstrengungen nötig. Die im Jahresbericht geschilderten Probleme bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie, notwendige Verbesserungen der Rahmenbedingung beim Laufbahnwechsel und die Reduzierung unbesetzter Dienstposten will ich hier nur exemplarisch nennen.
Wenn die Bundeswehr neues Personal finden und dauerhaft halten möchte, spielt gute Ausstattung eine elementare Rolle. Über die Defizite bei der Einsatzbereitschaft von Großgeräten haben wir in letzter Zeit bereits ausführlich diskutiert. Vom Anspruch „Train as you fight“ ist die Bundeswehr immer noch viel zu weit entfernt. Bei der persönlichen Bekleidung und Ausrüstung gab es positive Entwicklungen. Vielen Dank, Frau Ministerin Lambrecht, dass Sie gerade in diesem Bereich einen ersten Schwerpunkt gesetzt haben: mehr und schneller. Schon 2025 wird die aktive Truppe mit der lange geforderten persönlichen Schutzausstattung ausgestattet sein. Sechs Jahre früher als ursprünglich geplant. So kann und muss es weitergehen.
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Die zahlreichen Berichte über den schlechten Zustand von Unterkünften, Sanitäreinrichtungen, Sportstätten und anderen Gebäuden sind jedoch beschämend. Selbst wenn die finanziellen Mittel vorhanden sind, scheitert es bisher – und das teilweise seit Jahren – an der Umsetzung vieler Bauvorhaben. Es ist höchste Zeit, die Probleme mit den Bauverwaltungen der Bundesländer zu lösen. Die Wehrbeauftragte hat hierzu einen Appell an die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder gerichtet, den ich deutlich unterstreichen möchte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt deutlich: Auch wenn es im letzten Jahr viele positive Entwicklungen gegeben hat, bis zu einer vollumfänglichen Ausstattung unserer Bundeswehr in allen Bereichen ist es noch ein weiter Weg. Nun gilt es, das geplante Sondervermögen schnellstmöglich und effektiv auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat einsteigen: „Auf Architekturzeichnungen ist es immer still, in Städten nie.“ Das hat vor einiger Zeit der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom gesagt. Heute würde ihm, denke ich, dieser Satz – auf Architekturzeichnungen ist es immer still, in Städten nie – nicht mehr so leicht über die Lippen gehen. Fakt ist: Die Innenstädte in Deutschland werden immer stiller. Wir haben viel Leerstand. Im Ruhrgebiet gibt es Städte, wo jedes dritte Ladenlokal geschlossen ist. 1‑Euro-Läden, Handyläden und vieles mehr prägen das Leben in den Innenstädten zusehends.
Ich komme selbst aus einem Einzelhandelsgeschäft. Meine Eltern hatten über 40 Jahre eine Buchhandlung. Ich war damals, in den 90er-Jahren, Laufjunge – wie das so war – und musste die Botengänge erledigen. Die Stadt war vielfältig; die Stadt war kleinteilig. Es gab qualifizierten Einzelhandel; es gab eigentümergeführte Unternehmen. Jede Stadt, jede Innenstadt sah irgendwie anders aus. Das hat sich heute geändert. Heute sehen alle Innenstädte irgendwie gleich aus.
Wir verlieren jedes Jahr Tausende Geschäfte. In diesem Jahr ist die Prognose: 16 000 Ladenschließungen in deutschen Innenstädten; vor allem der kleine Fachhandel ist davon betroffen. Ja, wir erleben einen Strukturwandel. Die Digitalisierung hat den Einzelhandel verändert, und die Coronakrise hat diese Entwicklung nochmals beschleunigt. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Im ersten Coronajahr 2020 ist der Onlinehandel um rund 25 Prozent auf 70 Milliarden Euro Jahresumsatz gestiegen und ein Jahr später nochmals auf 100 Milliarden Euro. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Die CDU/CSU-Fraktion will diesen Strukturwandel nicht aufhalten, ganz im Gegenteil. Diejenigen Mittelständler in den Innenstädten, die stationär sehr erfolgreich sind, sind in der Regel auch online sehr erfolgreich.
Uns geht es um etwas anderes: Wir wollen mit diesem Antrag gegen die Verödung der Innenstädte vorgehen.
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Wir wollen die Zukunft der Innenstädte gewinnen. Wir wollen die Innenstädte zu einem Erlebnisraum machen, zur Begegnungsstätte, zur Kommunikationsplattform, wo sich Menschen treffen, wo sich Menschen austauschen. Das ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
Dieser Antrag enthält sehr viele Punkte. Ich schaffe es aus Zeitgründen nicht, auf alle Punkte einzugehen; aber ich habe mir erlaubt, drei Punkte herauszuziehen, die meines Erachtens im Moment zentral sind:
Der erste Punkt greift kurzfristig. Im stationären Handel in Deutschland liegt der Frequenzrückgang in den Innenstädten immer noch bei 20, 25 Prozent zum Vorkrisenniveau. Jetzt kommt die Ukrainekrise mit großen Verunsicherungen. Der Einzelhandel spricht davon, dass wir im Moment eine Umsatzkante haben. Deshalb sind wir der Meinung: Das beste steuerliche Instrument, um dem Einzelhandel kurzfristig zu helfen, ist die Verlustverrechnung.
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Das heißt, dass die Gewinne der Vergangenheit mit den Verlusten von heute verrechnet werden; damit unterstützen wir zielgenau die Unternehmen, die die Zukunft auf ihrer Seite haben, die in Digitalisierung investieren wollen und vieles mehr.
Der zweite Punkt betrifft Städtebau und Stadtplanung. Der Kollege Ulrich Lange wird gleich auf dieses Thema eingehen. Aber lassen Sie mich einen Satz dazu sagen: Die Städte der Zukunft werden sich verändern. Wir werden mehr Wohnraum schaffen müssen in den Innenstädten. Übrigens brauchen wir auch mehr Leben, wir brauchen mehr junge Menschen. Wir sehen ja: In den Städten, in denen viele junge Menschen leben, wo Teile der Universitäten in der Innenstadt liegen – wie beispielsweise in Münster, in Freiburg, in Bayreuth –, da ist Leben in der Bude.
Ich möchte aber auch das Thema Sicherheit ansprechen. Ich gehe einmal von meiner Person aus. Ich habe zwei, drei Jahre in Frankfurt gelebt. Ich hatte meine Wohnung auf der Zeil. Da war abends nichts mehr los, weil die Leute nicht in die Stadt gingen, weil sie Angst hatten, weil da No-go-Areas waren. Hier müssen wir dagegenhalten.
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Übrigens: Wer das gut macht, das ist der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul; er geht dagegen vor. Auch das ist Innenstadtpolitik für die Zukunft.
Der dritte Punkt: Ich bin der Meinung, der Einzelhandel braucht mehr Aufmerksamkeit. Ich beobachte mich selbst dabei. Ich werde angesprochen: Herr Linnemann, wir müssen mal über die Öffnungszeiten reden! – Dann sage ich: Nein, das ist Aufgabe der Landespolitik. – Oder jemand spricht mir gegenüber die Erreichbarkeit an. Dann sage ich: Das ist Aufgabe der Kommunalpolitik. – Wenn es um Städtebau geht, sagen die Landespolitiker: Das ist Bundespolitik. – Damit muss Schluss sein! Wir müssen eine Plattform schaffen, wo sich alle begegnen, eine Allianz für die Innenstädte. Wir müssen dafür sorgen, dass Land, Bund und Kommunen gemeinsam ganzheitlich dieses Thema betrachten und nicht, wie bei anderen Themen auch, jeder immer die Verantwortung wegschiebt, sie nicht selber tragen will. – Für diesen ganzheitlichen Ansatz steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung machen. Ich bin hier spontan eingesprungen. Ich möchte mich nicht mit fremden Federn schmücken: Dieser Antrag ist maßgeblich von Jan Metzler verfasst worden. Herr Metzler hat Corona. Wir wünschen ihm alle gute Genesung. Herzliche Grüße auch von hier aus dem Deutschen Bundestag, lieber Jan!
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Ich habe dich heute gerne vertreten, weil dieses Thema auch mir ein Herzensanliegen ist. Ich habe skizziert, warum das der Fall ist, nicht nur für mich als Person, sondern auch für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Ich würde Sie bitten, diesen Antrag nicht einfach aus parteitaktischen Gründen wegzuschmettern, sondern sich mit diesem Antrag, mit unseren Argumenten ernsthaft auseinanderzusetzen.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Esra Limbacher.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Koalition ist eine, die handelt und nicht einfach nur redet oder Papiere erstellt; diese Koalition ist eine, die felsenfest hinter einem stabilen und zukunftssicheren Einzelhandel in unserem Land steht, einem Einzelhandel, der nicht nur eine wohnortnahe Versorgung gewährleistet, sondern auch einer der wichtigsten Faktoren für lebendige Innenstädte und Ortszentren in unseren Gemeinden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es grenzt schon ein wenig an Dreistigkeit,
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hier in diesem Hause heute wohlfeile Forderungen zur Zukunft unserer Innenstädte zu erheben, nachdem das zuständige Innenministerium 16 Jahre lang von der Union geführt worden ist,
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die diese Probleme verschlafen, blockiert und ignoriert hat. Die Probleme von heute sind Versäumnisse von gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen liest sich der Antrag wie ein Schulbuch über das, was Sie in den vergangenen Jahren nicht geschafft haben. Insofern sage ich Danke schön für diese Auflistung. Ich sage Ihnen aber auch: Wir werden es besser machen.
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Tatsächlich wäre diese Auflistung gar nicht nötig gewesen; denn das Allermeiste findet sich längst in unserem Wahlprogramm, in unserem Koalitionsvertrag oder in der Innenstadtstrategie, von der Sie ja maßgeblich abgeschrieben haben für diesen Antrag. Copy-and-paste, das kann jeder. Wir bekennen uns zur Innenstadtstrategie und führen diese fort, genauso wie das Förderprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ und das Programm „Lebendige Zentren“ im Rahmen der Städtebauförderung von Bund und Ländern.
Die Zeiten – da haben Sie recht – sind viel zu ernst für einfache Parteipolitik; denn der Einzelhandel steckt seit Jahren in einer ernsten Krise. Vordergründig – das stimmt – sehen die Zahlen tatsächlich gut aus, sehen wir positive Umsatzentwicklungen. Aber wenn man einmal rechts oder links neben den Lebensmitteleinzelhandel schaut, sehen wir, dass der stationäre Handel, vor allen Dingen der Non-Food-Handel, mit Umsatzrückgängen kämpft: bei der Bekleidung zum Beispiel ein Minus von 32 Prozent – im Vergleich zu 2019 –, bei den Schuhverkäufen ein Minus von 35 Prozent, bei Spielwaren und Sportartikeln ein Minus von 15 Prozent. Das sind keine guten Zahlen.
Die Entwicklung des Einzelhandels ist eng verknüpft mit der Entwicklung der Innenstädte und Dorfzentren bzw. Ortszentren in unseren Gemeinden. Dass die Innenstädte veröden, ist nicht erst seit der Coronakrise ein Problem; es wird spätestens seit dem Aufkommen des Onlinehandels und dem Trend, Einkaufszentren auf der sogenannten grünen Wiese zu bauen, in unserem Land beklagt. Warum sind uns die Innenstädte und Ortszentren in unserem Land so wichtig, und warum ist der Einzelhandel uns in der Beziehung so wichtig? Innenstädte und Zentren in unseren Gemeinden sind echte Identifikationsorte für die gesamte Bürgerschaft; sie sind neben ihrer wirtschaftlichen Bedeutung vor allen Dingen soziale, politische und kulturelle Zentren unseres Gemeinwesens, sie sind die Visitenkarten unserer Städte und Gemeinden. Deswegen lohnt sich jede Investition, jede Bemühung, um sie zu fördern. Aus diesem Grunde setzt diese Koalition auf eine ernsthafte Revitalisierung der Innenstädte und Ortszentren und macht beim Städtebau, beim Wohnungsbau nicht halt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Lassen Sie mich aber noch einen – wie ich finde – ganz wichtigen Punkt ansprechen: Der stationäre Handel in Deutschland braucht attraktive Rahmenbedingungen, um im Strukturwandel gegenüber dem reinen Onlinehandel bestehen und von der Digitalisierung profitieren zu können. Es braucht einen fairen Wettbewerb zwischen den Geschäftsmodellen digitaler Großunternehmen und den Geschäftsmodellen lokal verwurzelter Unternehmen. Eines geht nicht – das sage ich jetzt in Richtung der Kolleginnen und Kollegen von der Union, weil Sie das jahrelang nicht wahrhaben wollten –: Es kann nicht sein, dass in Deutschland kleine Einzelhändler mehr Steuern zahlen als global agierende Versandkonzerne.
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Damit muss endlich Schluss sein, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist ein Gebot der Fairness.
Deswegen sitzt auch unser stärkster Kämpfer für den Einzelhandel im Kanzleramt. Das ist Olaf Scholz,
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der als Einziger in der Bundesregierung vorweggegangen ist, um für die globale Mindeststeuer zu kämpfen. Die Union war nicht dabei – Olaf Scholz hat es getan.
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Wo waren Sie?
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Eines kann ich Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, und zwar, dass ich darüber spreche, wo Sie in Ihrem Antrag einen echten Bock geschossen haben. Sie fabulieren in Ihrem Antrag über autofreie Innenstädte. Abseits der Frage, wie sinnvoll – darüber kann man diskutieren, wie ich finde – sie für den Einzelhandel tatsächlich sind, möchte ich Ihnen zwei Zitate aus der Hauptstadt-CDU, von vor wenigen Tagen, vorhalten. Zitat eins stammt von Christian Gräff, wirtschaftspolitischer Sprecher der Berliner CDU: „Die sogenannte Flaniermeile mit Radautobahn hat der Friedrichstraße weit mehr geschadet als genutzt.“
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Zitat zwei stammt von Ihrem Kollegen Oliver Friederici, verkehrspolitischer Sprecher der Berliner CDU. Er sagte, es sei ein Geburtsfehler gewesen, die Friedrichstraße nur aus Sicht des Radverkehrs zu denken. – „Na, was soll denn nun gelten?“, frage ich mich. Entweder ist es Ihre Position, dass Sie sich – neuerdings – autofreie Innenstädte wünschen, oder es gilt die Position der Berliner CDU, die genau das Gegenteil sagt. Ich finde, Sie müssen sich mal entscheiden, was Sie wirklich wollen. Das passt alles nicht zusammen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Einzelhandel in Deutschland und unsere Innenstädte stehen vor enormen und vielfältigen Herausforderungen. Diese Koalition handelt und packt diese Herausforderungen an. Ich freue mich daher bei diesem Thema auf eine gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
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Darf ich den telefonierenden Kollegen aus der AfD-Fraktion kurz bitten: Sollte das ein längeres Gespräch werden, würden Sie bitte den Saal verlassen? – Danke.
Nächster Redner, für die AfD-Fraktion, ist jetzt Kay-Uwe Ziegler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe CDU/CSU-Fraktion, als ich Ihren Antrag vor ein paar Wochen, in der Planung, gesehen habe, dachte ich mir: Hier präsentiert sich der Brandstifter als Feuerwehr.
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Ich bin seit über 30 Jahren Einzelhändler; ich weiß, wovon ich rede. Wenn jemand wie Ihre Fraktion, die gerade in den letzten beiden Jahren den Einzelhändlern massiv Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, jetzt hier öffentlichkeitswirksam auftritt und die Regierung auffordert, Gehhilfen zu verteilen, finde ich das schon ziemlich absurd.
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Wenn Ihnen der Einzelhandel und die Innenstädte in den letzten Jahren auch nur einen Pfifferling wert gewesen wären, dann hätten Sie die sinnlosen Lockdowns und die 2‑G-Regel nicht mitbeschlossen und nicht umgesetzt. Das alles hat sich für uns da draußen wie ein großes Konjunkturprogramm für den Onlinehandel angefühlt. Ganz ehrlich: Wenn ich an Ihren Auftritt am 16. Dezember letzten Jahres denke, als wir hier in der Aktuellen Stunde gefordert haben, die 2‑G-Regel für den Einzelhandel abzuschaffen, dann muss ich sagen: Das war wirklich ein deutliches Zeichen, wo Sie stehen und für wen Sie stehen. Für den Einzelhandel und die Innenstädte jedenfalls nicht!
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Ich weiß, Sie halten diese ganzen Maßnahmen immer noch für gerechtfertigt. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Auch ohne Coronamaßnahmen und 2‑G-Regel leben die Schweden immer noch. Und ich glaube, das wird auch so bleiben.
Um Ihnen noch ein Beispiel für Ihre Kompetenz zu geben: In meinem Wahlkreis war im letzten Jahr Ihr Wirtschaftsminister unterwegs; er versuchte, meinen Gegenkandidaten zu unterstützen.
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Ich würde Ihnen empfehlen, sich mal das Video anzugucken; das war sehr spektakulär. Der Herr Altmaier hat dort versucht, mit seinen magentafarbenen Krawatten eine Symbiose zwischen Online- und stationärem Einzelhandel herzustellen. Wenn Sie am Wochenende also mal 20 Minuten Zeit haben, dann tun Sie sich das an; geben Sie „Altmaier“ und „Köthen“ ein. Es ist, glaube ich, ein Highlight auch für Sie.
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Eines noch: Das Thema Inflation kommt in Ihrem Antrag nicht vor. Haben Sie das, was draußen gerade passiert und was das für Auswirkungen hat, nicht auf dem Schirm? Ich habe es bei Ihnen nicht gefunden, aber vielleicht ist Ihnen das auch nicht so wichtig und Sie wissen es auch nicht.
Dann noch eines: Ich hätte mir gewünscht, es käme von Ihnen eine Zusicherung – Sie sind jetzt in der Opposition –, dass Sie bei 2‑G-Sanktionen und Lockdowns nie wieder mitmachen oder dass Sie, wenn Sie mitmachen, vielleicht wirklich dazu übergehen, den Händlern eine wirkliche Erstattung und nicht diese komische – na ja, Sie nennen es „Fördermittel“; für mich ist es eine ganz üble Mogelpackung – Mogelpackung zukommen zu lassen. Vielleicht ginge Schadenersatz ja mal in die richtige Richtung. Aber dazu sind Sie ja nicht bereit.
Ich kann Ihnen sagen: Da draußen im Einzelhandel ist es im Moment wirklich katastrophal. Die Umsätze liegen deutlich unter Vor-Corona-Niveau. Die Menschen draußen gehen nicht in die Städte. Die nutzen den Sommer und fahren ein bisschen in den Urlaub – ich kann das auch verstehen –, weil sie ja nicht wissen, was im Herbst hier noch alles passiert.
Liebe Kollegen von der CDU/CSU, ich möchte Sie auffordern: Wenn Sie wirklich was für den Einzelhandel tun möchten, dann nehmen Sie regelmäßig Tausend Euro in die Hand; gehen Sie in Ihre Innenstädte, und geben Sie das Geld bei Ihren Einzelhändlern aus. Das könnten Sie sofort tun, und darüber würden sich auch alle in Ihren Regionen freuen.
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Das Ganze hier betrifft natürlich auch die Fraktion auf der linken Seite. Dummerweise landet dann alles wahrscheinlich beim Textildiscounter.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Maik Außendorf.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Union – und ich danke Ihnen dafür, dass Sie das Thema heute aufgebracht haben, weil das ein sehr wichtiges Thema ist – hat wirklich interessante Anknüpfungspunkte, und insbesondere in der Analyse gibt es große Übereinstimmungen. Zur Bedeutung der Innenstädte schreiben Sie – ich zitiere das mal wörtlich, weil es wirklich gut zusammengefasst ist –:
Innenstädte mit einer anziehenden Funktionsvielfalt sind mehr als nur Einkaufsstraßen. Lebendige und vielfältige Innenstädte sind kulturelles Erbe und als Ort der Begegnung, des Zusammenkommens und der Gemeinschaft unverzichtbar für unser Zusammenleben und den Standort Deutschland. Gleichzeitig sind sie ohne florierenden und funktionierenden Einzelhandel undenkbar.
Vollkommen richtig; vollkommene Übereinstimmung!
Auch der zitierte Handelsverband hat mit seiner Einschätzung einer existenzbedrohenden Lage für viele Geschäfte vollkommen recht. Die Haltung des HDE geben Sie ebenfalls sehr passend wieder. Ich zitiere:
Die wiederkehrenden Lockdowns und die damit verbundene Verunsicherung der Kunden hätten den Einzelhandel so hart getroffen wie kaum eine andere Branche. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens mit der weitgehenden, monatelangen Schließung der Geschäfte hat viele Handelsunternehmen unverschuldet in Not gebracht, Eigenkapital und Kreditmöglichkeiten sind oftmals ausgeschöpft.
Soweit d’accord.
Doch das, was die Coronapandemie jetzt verschärft und beschleunigt hat, ist doch Ausdruck einer jahrelangen Entwicklung, und wir haben immer wieder darauf hingewiesen. Jetzt schreiben Sie in Ihrem Antrag: Wir müssen umdenken. – Das ist nach 16 Jahren Regierungszeit etwas spät.
Jetzt kommen Sie hier mit einem Notizzettel voller Ideen, so ähnlich wie gestern beim Entlastungsgesetz. Mein Kollege Felix Banaszak hat das da so zusammengefasst: Das klingt so ein bisschen nach den Superhits der 80er- und 90er-Jahre. – Aber immerhin: Sie haben als Opposition mit diesem Antrag an einer Stelle hinzugelernt. In der Vergangenheit haben Sie es immer versäumt, auf die Finanzierung einzugehen. Diese haben Sie hier aufgenommen und immerhin die Bedeutung erfasst. Jetzt schreiben Sie, das, was Sie mit Ihren 20 Punkten fordern, soll sich im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel bewegen. Also bitte: Dann müssen Sie auch den ersten Schritt gehen und sagen, wo dann an anderer Stelle eingespart werden soll.
Noch ein Satz zu Ihrem Gang in die Opposition: In den ersten Wochen haben Sie versucht, Ihre Versäumnisse uns als Ampel anzukreiden. Jetzt gehen Sie einen neuen Schritt. Sie haben gute Ideen Ihrer Vorgängeropposition zusammengefasst, als Prüfauftrag eingebracht und obendrüber „Wir denken um“ geschrieben. Das ist mal ein interessanter Move. Ich bin gespannt, was da noch so kommt.
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In der letzten Wahlperiode haben wir als Grüne mit Drucksache 19/23116 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation von kleinen Gewerbemieterinnen und Gewerbemietern eingebracht. Da geht es um ein Verlängerungsrecht, einen besseren Kündigungsschutz. Das hätten Sie damals einfach so durchwinken können. Dann wäre heute vieles einfacher für die Einzelhändler/-innen in den Straßen.
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– Ich komme dazu, was wir als Koalition schon umgesetzt haben; wir haben schon reagiert.
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Wir haben schon reagiert und die Mittel des in der letzten WP angestoßenen Programms „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ auf nun 250 Millionen Euro mehr als verzehnfacht. Das ist das, was diese Koalition bereits auf den Weg gebracht hat.
Außerdem haben wir die Überbrückungshilfe IV als zentrales Coronahilfsinstrument bis Juni 2022 verlängert, und wir ergänzen das durch Kredite, Garantien und Bürgschaften. Das ist auch eine ganz wesentliche Erleichterung für die Händler/-innen in den Innenstädten.
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Auch für Digitalisierungshilfen, Kleinbetriebe und Geschäfte sind Mittel im Haushalt eingestellt – die Digitalisierung sprechen Sie ja auch an –, alleine 25 Millionen Euro für das Programm „go-digital“.
Jetzt möchte ich auf einen Punkt konkret eingehen, nämlich Punkt 10; den hat mein Vorredner von der SPD auch aufgegriffen. Da verlässt Sie dann nämlich doch der Mut. Sie schreiben, Sie wollen „prüfen, inwieweit das Konzept autofreier Innenstädte und … gebührenpflichtiger Parkplätze … zur Belebung und Steigerung der Aufenthaltsqualität … beiträgt“, schränken aber gleich ein, man müsse auch gucken, dass die Besucherfrequenz nicht darunter leidet und dass das die Bedeutung des Autos nicht schmälert. – Da kommt wieder die alte Autopartei CDU hervor.
Herr Linnemann, Sie haben ja eben Freiburg und Münster als Positivbeispiele angeführt. Ausgerechnet da haben wir viel Straßenraum in Lebensraum umgewandelt, und da finden Sie besonders viele Radfahrende. Das wäre der richtige Weg.
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Übrigens: Auch die Metastudie des Difu „Mit dem Fahrrad zum Einkaufen“ stellt in internationalen Vergleichen fest: Überall dort, wo mehr Radfahrende in die Einkaufsstraßen kommen, steigen die Umsätze des Einzelhandels. – Das ist ein ganz zentraler Punkt, um die Innenstädte zu beleben.
Es gibt viele weitere Beispiele: aus New York, aus Wien, aus Hamburg, aus Barcelona. Sie können sich wirklich überall umgucken. Bei der Umsetzung der Maßnahmen sind die Kommunen vielfach weiter als wir hier auf Bundesebene; da können wir das natürlich gerne unterstützen.
Ich nenne mal ein Beispiel: In meiner Heimatstadt Bergisch-Gladbach wurde im Stadtrat schon 2020 parteiübergreifend beschlossen – damals auch mit meiner Stimme –, die Sondernutzungsgebühren für Außengastronomie und Geschäfte auszusetzen, damit sie den Platz draußen nutzen können. Das wird vielfach genutzt, und das ist eine ganz unbürokratische, schnelle Hilfe. Da sind die Kommunen manchmal wirklich schon sehr weit, und das sollten wir auch weiter unterstützen.
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Ich komme zum Schluss. – Sie sehen also: Kommunen in Deutschland und weltweit sind längst weiter. Die Koalition hat bereits gehandelt, und wir werden das Ziel der klimagerechten menschenfreundlichen Innenstädte mit hoher Aufenthaltsqualität und besseren Bedingungen für den Handel weiter verfolgen.
Danke.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Pascal Meiser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat sieht sich der Einzelhandel schon seit Jahren vielfältigen Veränderungen ausgesetzt, die massive negative Folgen für die Beschäftigten, kleine Händler und die Innenstädte haben. Deshalb ist es gut, dass Sie von der Union dieses Thema heute auf die Tagesordnung gebracht haben. Ihr Antrag beinhaltet dabei durchaus auch aus unserer Sicht diskussionswürdige Vorschläge. Er hat aber auch große Leerstellen, und auf einige davon muss ich an dieser Stelle natürlich eingehen.
Zunächst: Sie schreiben selbst, dass es die Coronapandemie war, die das Ladensterben im Einzelhandel zuletzt massiv beschleunigt hat. Aber darüber, welche Mitverantwortung Sie dafür tragen, schweigen Sie sich geflissentlich aus. Es waren doch Sie, vorneweg Herr Altmaier als Wirtschaftsminister, die in der Großen Koalition nicht in der Lage waren, Hilfsprogramme aufzulegen, die tatsächlich einen umfassenden Schutz von kleinen Einzelhändlern in der Pandemie bieten –
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eine Kritik, die übrigens auch von dem von Ihnen ansonsten immer gern zitierten Einzelhandelsverband HDE immer wieder zu Recht formuliert wurde.
Bis zuletzt haben auch Sie nichts daran geändert, dass ein Unternehmen einen Umsatzausfall von mindestens 30 Prozent verzeichnen musste, um überhaupt Unterstützung zu erhalten. Und leider haben auch Herr Habeck und die Ampelkoalition daran zuletzt nichts mehr geändert. Dabei wissen wir doch alle, dass gerade kleine Einzelhändler, die unverschuldet von Umsatzeinbußen von 20 bis 25 Prozent betroffen sind, dies nicht auf Dauer verkraften können und viele lieber ihr Geschäft aufgeben, bevor sie in die Insolvenz gezwungen werden. Da würde ich mir schon ein bisschen mehr Selbstkritik wünschen.
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Zweitens. Als Linke begrüßen wir es ausdrücklich, dass die Kommunen gestärkt werden, wenn es um die Eingriffsmöglichkeiten für die Stadt- und Raumplanung geht, also darum, was wo gebaut und wofür genutzt werden darf. Das gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ausdrücklich auch für Ihre Forderung, dass Einkaufsgebiete auf der grünen Wiese zuungunsten der Orts- und Stadtkerne von den Kommunen auch wieder leichter rückabgewickelt werden können. Warum Sie hier allerdings nicht schon gehandelt haben, als Sie noch die Regierung gestellt haben, würde mich schon interessieren. Oder war es etwa die SPD, die hier blockiert hat? Das müssten Sie schon untereinander noch mal klären und hier vielleicht für alle aufklären.
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Aber auch hier braucht es mehr Mut, und da ist natürlich jetzt die neue Bundesregierung gefordert. Wenn wir wollen, dass dauerhaft leerstehende Geschäfts- und Büroräume sinnvoll genutzt werden können, dann braucht es auch hier stärkere Eingriffsmöglichkeiten der Kommunen, um spekulativen Leerstand – denn den gibt es auch – beenden zu können und auch um genauere Vorgaben im Interesse der Kommunen für die Nutzung von Gewerbeflächen machen zu können, um Monostrukturen zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Drittens. Das Ladensterben hat, wie die Union in ihrem Antrag richtig schreibt, sehr unterschiedliche Gründe, und auch regional, lokal ist das sehr stark zu differenzieren. Auf vieles gehen Sie in dem Antrag ein. Aber worüber Sie kein Wort verlieren, ist die Situation in den überhitzten Immobilienmärkten wie Berlin, München oder Frankfurt, wo die explodierenden Gewerbemieten für viele kleine Gewerbetreibende dazu führen, dass diese um ihre Existenz bangen müssen, und maßgeblich zum Ladensterben kleiner Gewerbetreibender beigetragen haben. Dass Sie darüber kein Wort verlieren und die Immobilienwirtschaft an dieser Stelle nicht kritisieren, das ist bezeichnend.
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Als Linke haben wir dazu in der vergangenen Legislatur als erste Fraktion konkrete Vorschläge vorgelegt. In angespannten Gewerbemietmärkten brauchen wir endlich eine Mietpreisbremse für Gewerbemieten und einen Anspruch für Gewerbemieter auf Mindestvertragslaufzeiten.
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Herr Außendorf, Sie haben es angesprochen: Die Grünen haben ähnliche Vorschläge gemacht. Sie haben jetzt die Union dafür kritisiert, dass sie das in der letzten Legislatur nicht gemacht hat. Ich erwarte, dass die Ampelkoalition jetzt dafür sorgt, dass auch die kleinen Gewerbemieter endlich geschützt werden. Da will ich mal ein klares Bekenntnis. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu nichts. Ich hoffe, da kommt noch was.
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Eine weitere große Leerstelle in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist die Perspektive der Beschäftigten. Außer einer Ausweitung der Ladenöffnungszeiten haben Sie diesen nichts zu bieten. Ich finde es bezeichnend, dass Sie denjenigen, die wir alle als Heldinnen und Helden des Alltags in der Pandemie hier wertgeschätzt haben, nichts anderes als längere Arbeitszeiten zu bieten haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Was wir tatsächlich brauchen, sind einheitliche Wettbewerbsbedingungen, einheitliche Löhne in diesem Bereich. Deswegen muss dafür gesorgt werden, dass die Tarifverträge für den Einzelhandel endlich wieder für allgemeinverbindlich erklärt werden können, –
Herr Meiser, bitte!
– für den stationären wie für den Onlinehandel bei Amazon und Co.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von meiner Seite! – Der nächste Redner in der Debatte: Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst die Coronapandemie, dann die Inflation und jetzt vor allem die Sorgen um die Ukrainekrise: Die Stimmung der Verbraucherinnen und Verbraucher ist schon lange auf eine harte Probe gestellt. Noch mehr wurde der stationäre Einzelhandel belastet. Am Anfang durften wir wegen der Lockdowns nicht einkaufen gehen, dann haben die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen viele Menschen vom Einkaufen abgehalten.
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Und nun treiben die Preissteigerungen die Ängste. Auch wenn Geld für den Konsum vorhanden ist und im Frühjahr in der Regel eigentlich die Lust am Einkaufen steigt, findet das derzeit noch nicht so richtig statt.
Meine Damen und Herren, wie sehr hätte ich mir von der CDU diesen Antrag früher gewünscht! Wie sehr hätte ich mir diesen Antrag in den letzten 2 Jahren gewünscht,
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als die Pandemie dem Einzelhandel deutlich zugesetzt hat! Sie haben nicht nur keinen eigenen Antrag gestellt, sondern unsere FDP-Vorschläge, die in die gleiche Richtung gingen, ausdrücklich abgelehnt. Wir haben als Freie Demokraten direkt nach der Bundestagswahl gezeigt, wie man sich wirklich für den Einzelhandel einsetzt. Wir waren es, die dafür gesorgt haben, dass der Einzelhandel im Weihnachtsgeschäft 2021/2022 offen bleiben durfte. Dadurch konnten die Geschäfte endlich mal wieder Geld verdienen und hatten die Möglichkeit, viele Kunden zu bekommen.
Sie als Union haben gegen diese Öffnungen gestimmt. Viele von Ihnen haben stattdessen wieder mit einem Lockdown gedroht. Gerade Hendrik Wüst als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, den ich eigentlich sehr schätze, war ja ein ganz besonders scharfer Verfechter strengerer Maßnahmen. Gut, dass er sich nicht durchsetzen konnte!
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So sahen wir endlich wieder offene Geschäfte, Cafés, Restaurants. Denn das Schöne ist: Wer einkaufen geht, hat auch Zeit für eine Pause, hat auch Zeit für Gastronomie; denn das gehört eng zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist leider aktuell aber auch: Die Verbraucherstimmung ist noch sehr zurückhaltend, auch wenn die Menschen nach Aufhebung der Coronabestimmungen erstmals seit zwei Jahren wieder mehr Freiheit zum Einkaufen haben.
Jetzt kommt die Union mit ihrem Antrag und ihren 20 Forderungen, die wir sehr wohl zur Kenntnis genommen haben – aber nicht, weil Ihre Ideen neu waren, nein, sondern weil alleine unsere Fraktion in der letzten Wahlperiode, als Sie den Wirtschaftsminister gestellt haben, drei Anträge hierzu vorgelegt hat.
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Und was war Ihre Reaktion? Peter Altmaier gefiel sich mehr darin, neue Coronahilfen für den geschlossenen Einzelhandel zu beschließen, statt die Geschäfte mit ihren tatsächlich funktionierenden Hygiene- und Abstandskonzepten offen zu halten.
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Wir haben nicht nur damals für den Einzelhandel unsere Stimme erhoben, sondern wir haben ihm unsere Unterstützung auch im Koalitionsvertrag zugesagt und arbeiten gemeinsam in der Koalition an der Umsetzung.
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Die Herausforderungen der Zukunft – Dekarbonisierung und Klimawende, demografischer Wandel und Fachkräftemangel sowie Digitalisierung und verändertes Konsumverhalten – spürt natürlich auch der Einzelhandel. Da brauchen wir derzeit nicht nur die Förderung des Einzelhandels als solche, sondern eben auch langfristige Strategien, wie sie in den beiden Entlastungspaketen, die vorgelegt wurden, und bei der Abschaffung der EEG-Umlage zum Tragen kommen.
Gegen die kalte Progression – das kann ich Ihnen sagen – hat der Bundesfinanzminister Maßnahmen angekündigt, die noch dieses Jahr kommen werden. Also: Auch da sind wir auf dem richtigen Weg. Unser Finanzminister hat die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger, der Verbraucher auf dem Schirm. Er packt das an, was nötig ist und was möglich ist.
Meine Damen und Herren, mit vielen Initiativen und auch zusammen mit den Ländern wie etwa Nordrhein-Westfalen als gutem Beispiel mit seinem Programm „Digitalcoaches“ wird die Bundesregierung den Einzelhandel lokal und digital zukunftsfit machen. Dazu gehört auch die Förderung von Digitalisierung und schnellem Internet für mehr hybride Vertriebswege. Sie hatten es gerade angesprochen; das ist der Weg der Zukunft. Denn gerade Fachgeschäfte, also kleine und mittlere Betriebe des stationären heimischen Einzelhandels, müssen in Zeiten nach Corona im Wettbewerb mit dem Handel auf großen digitalen Einkaufsplattformen mithalten können. Der Wettbewerb ist da sehr stark.
Für mich persönlich gehört dann allerdings, liebe Koalitionspartner – das ist meine persönliche Meinung –, irgendwann auch die Lockerung bei den Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen dazu. Die Ladengeschäfte und entsprechend die Gastronomie würden dadurch erheblich gestärkt.
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Hier wünsche ich mir übrigens auch mehr Bewegung von den Wirtschaftspolitikern der Union. Peter Altmaier redete viel darüber, aber er handelte nicht. Das war eine verpasste Chance.
Aber schauen wir nach vorne! Bei uns, bei der Ampelkoalition, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ist der Einzelhandel in guten Händen, nein, in den besten Händen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner in der Debatte: Ulrich Lange, CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst freut es uns, dass diese Debatte zu prominenter Zeit auch von allen Fraktionen als notwendig gewürdigt wird. Denn natürlich war die Coronapandemie noch mal eine große und starke Belastung für unseren Einzelhandel, und wir sehen alle die Verwerfungen in unseren Innenstädten.
Daher – das erlaube ich mir auch an all die Kritiker zu sagen – möchte ich zunächst dem Einzelhandel danken, und zwar jedem Einzelhändler, der während Corona für sicheres Einkaufen gesorgt hat: mit Masken, mit Tests, mit den Regelungen. Ja, wir wollten Gesundheit schützen und einkaufen gehen. Das war unser Ansatz; der war breit getragen, und der war richtig. Danke schön an den Einzelhandel an dieser Stelle!
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Lieber Kollege Limbacher, das mit dem „16 Jahre unionsgeführt“ ist zwar ganz lustig.
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Nur: Sie waren 12 Jahre dabei
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und 8 Jahre für den Bau zuständig, für den ich hier rede. Also, ich wäre an Ihrer Stelle da einfach etwas vorsichtiger,
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sonst müsste man permanent in dieser Historie von 12 Jahren arbeiten; das bringt nichts. Lassen Sie es!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Carsten Linnemann hat sehr eindrucksvoll persönliche Erlebnisse beschrieben und die Zahlen dargeboten; das will ich nicht wiederholen. Die Pandemie war natürlich ein Katalysator. Sie war ein Brandbeschleuniger für all das, was wir in unseren Städten sehen, und zwar angefangen bei den ganz großen Metropolen bis hinunter in die kleinen Städte mit 5 000 Einwohnern, in die Marktgemeinden, wo wir früher florierende Marktplätze hatten mit Geschäften rundrum und wo wir jetzt 1‑Euro-Shops, Nagelshops oder gar nichts mehr sehen.
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Genau das macht uns Sorge, und genau hierzu haben wir – auch das ist nicht neu – in den letzten Jahren immer wieder Vorschläge eingebracht. Deswegen wollen wir auch heute diese konsequente Arbeit mit dem und für den Einzelhandel fortsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Einzelhandel hat in den letzten Jahren während Corona aber auch bewiesen, dass er zu neuen Geschäftsideen fähig ist. Er hat neue Konzepte ausprobiert, und einiges hat auch ganz gut funktioniert. Jetzt liegt es an uns als Politik insgesamt, und zwar über alle Ebenen hinweg, ihn zu unterstützen. Denn die Unterstützung des Einzelhandels funktioniert ja nicht nur von Berlin aus oder über die Landesregierungen, sondern geht bis in die Kommunalpolitik. Deswegen ist es ein stringenter Antrag und ist es Auftrag an die Politik insgesamt, nicht zu viel vorzuschreiben, sondern vor Ort in den jeweiligen Strukturen das zuzulassen, was man im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung als notwendig erachtet.
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Je starrer das Baugesetzbuch, je starrer die Baunutzungsverordnung, desto schwieriger ist es für den Einzelhandel vor Ort. Hier Verbesserungen zu erzielen, genau das ist unsere Aufgabe im großen Rahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Programm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ wurde angestoßen aus dem Innenministerium und dem Bauministerium heraus. Wir haben zusammen ja kein Erkenntnisdefizit; denn in der letzten Wahlperiode hatten wir, lieber Kollege Daldrup, schon den Beirat Innenstadt, der seine Arbeit aufgenommen und viele Ideen geliefert hat. Es besteht also kein Erkenntnisdefizit. Jetzt muss man handeln, und genau das will unser Antrag sein: Impuls zum Handeln, für unsere Innenstädte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lieber Kollege Außendorf, da ist es auch kein Widerspruch, zu sagen: Es gibt auf der einen Seite Autofreiheit, und es gibt auf der anderen Seite Erreichbarkeit. Wenn Sie kleine Städte im ländlichen Raum haben, brauchen Sie Erreichbarkeit mit dem Auto; da ist der ÖPNV eine Mär.
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Auf der anderen Seite müssen Sie wissen, wo Sie Quartiere und Plätze schaffen können, die autofreie Erlebniszonen sind: zum Einkauf, zum Flanieren, zum Bleiben. Und Ihre Beispiele Wien, Barcelona, Hamburg, die passen jetzt nicht zu Donauwörth, Oettingen oder Dillingen an der Donau bei mir in der Region.
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Das ist etwas anderes, und da könnte jeder Kollege seine Städte genauso nennen.
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Ich würde einfach mal einen persönlichen Rat geben: Statt Biogemüsekiste vor der Tür, transportiert mit Diesel, auf den Wochenmarkt gehen und regional das einkaufen, was es jetzt gibt: frischen Spargel, frische Erdbeeren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Wochenende im Wahlkreis. Das kann doch jeder tun und dann auch noch mal bei seinem Bekleidungshändler vorbeigehen. Das ist Einzelhandel, das ist Regionalität, das ist Lebensqualität. Tun wir es doch alle!
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Wir stärken damit Gemeinschaft und Einzelhandel.
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Die Baunutzungsverordnung und das Baugesetzbuch habe ich angesprochen; die Städtebauförderung auch. Städtebauförderung bringt Leuchttürme in die Stadt. Deswegen, liebe neue Regierung: Für die nationalen Projekte des Städtebaus keine frischen Mittel einzustellen, ist der erste Fehler und gegen die Entwicklung in unseren Städten und Innenstädten.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Korrigieren Sie das in der zweiten und dritten Lesung!
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Wir haben einen Antrag vorgelegt mit vielen Ideen. Wir freuen uns auf die Diskussion; sie ist es allemal wert.
Danke schön.
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Franziska Mascheck, SPD-Fraktion, ist die nächste Rednerin in der Debatte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mehr Kunst, mehr Kultur, mehr Soziales in die Innenstädte – ganz ehrlich: Großartig! Mein Herz geht auf! Wissen Sie, ich komme aus der Kreativwirtschaft und aus der sozialen Arbeit. Da ging es mir viel um die Entwicklung von Ortszentren, also Jugendarbeit, gemeinschaftliches Leben, Kunst und Kultur und besonders demokratisches Mitwirken. Die Einleitung Ihres Antrags und mein bisheriger Beruf haben also eins gemeinsam – wie Sie es schon gesagt haben –: endlich Leben in die Bude bringen. Großartig!
Doch die Vorschläge sind bekannt. Sie werden schon seit sehr langer Zeit von der progressiven Zivilgesellschaft eingebracht. Aber wo war die Union in den letzten 16 Jahren, um diese Punkte aufzugreifen? Städte, in denen das wirklich gut gelingt, sind progressiv regiert: Erfurt, Magdeburg, Chemnitz, Kiel, Mannheim. Die Liste könnte weitergehen.
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Hohe Gewerbemieten und Immobilienpreise verhindern, dass mit Kultur und sozialen Orten endlich Leben in die Innenstädte kommt, dass eine Kita sich ansiedeln kann, dass Mehrgenerationenhäuser entstehen oder dass man kleine Räume für Kunst oder modernes Arbeiten mieten kann. Leider lassen Sie den Punkt Gewerbemieten in Ihrem Antrag völlig unbenannt. Wieder stellt sich mir die Frage: Wo war die Union in den letzten 16 Jahren, wenn es um die Regulierung von Gewerbemieten ging? Und wo ist die Union heute, wenn es darum geht, Kultur-, Kreativ- und Sozialwirtschaft zu unterstützen?
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Gleichzeitig schreiben Sie, dass Öffnungszeiten aufgeweicht werden und mehr verkaufsoffene Sonntage möglich sein sollen. Wenn jemand tatsächlich bei mir in der kleinen Stadt das passende Personal dafür finden würde, müsste es ja auch anständig bezahlt werden. Das können sich nur die großen Handelsketten leisten, und die gibt es schon zur Genüge in unseren Großstädten.
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Unseren Kleinstädten hilft das überhaupt nicht. Dabei müsste das Angebot unserer Innenstädte doch viel bunter und vielfältiger werden. Vielmehr würde es die Arbeitsbedingungen im Handel noch einmal verschärfen und verschlechtern und die Berufe noch unattraktiver für junge Menschen machen. Sie glauben doch nicht, dass sich durch längere Öffnungszeiten auch nur 1 Prozent vom Onlinehandel wieder zurückverlagert. Das haben Sie ja selbst in Ihrem Antrag so beschrieben, dass es ein Zurück nicht geben wird. Und jetzt versuchen Sie es irgendwie doch, aber, ich finde, etwas hilflos.
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Sie schreiben, dass die Kommunen die Digitalisierung voranbringen sollen. Ich finde diese Forderung recht frech. Wenn ich mir die schwierige Personallage und die finanzielle Situation zum Beispiel meiner Stadt anschaue: Wie sollen denn gerade ländliche Regionen das alleine leisten? Bevor Sie von den Kommunen die Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche einfordern, brauchen diese doch erst einmal eine stabile und schnelle Internetverbindung und dann auch das qualifizierte Personal. Und wo war die Union in den letzten 16 Jahren, wenn es um den Ausbau des Breitbands ging?
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Ich fürchte, Sie haben noch vieles aus Ihrer vorherigen Regierungszeit aufzuarbeiten.
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Vor allem empfehle ich Ihnen, Ihren werten Parteikollegen in Sachsen mal von Ihren großartigen Ideen zu erzählen. Die erlebe ich nämlich auf kommunaler und auf Landesebene ganz anders.
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Ehrlicherweise: Ich hatte noch nie den Eindruck, dass der Union Städte besonders wichtig sind, abgesehen von ihrem Wert als Wirtschaftsstandort. Dass man dort gut und gerne und bezahlbar leben kann – irgendwie Nebensache. Hauptsache, die Wirtschaft siedelt sich an; der Rest wird dann schon. Aber sehen Sie: So rum funktioniert es nicht. Das können Sie überall beobachten: Erst kommen die Kreativen, werten die Quartiere auf, dann siedeln sich Geschäfte an, und dann profitiert davon die Wirtschaft.
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Sie schreiben, dass die unionsgeführte Bundesregierung das Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ angestoßen habe.
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Sie vergessen dabei, was heute auch schon gesagt wurde, zu erwähnen – ganz sicher nicht mit böser Absicht –, dass dabei von Ihnen erst mal nur 25 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wurden und dann die SPD mit dem damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz den Betrag verzehnfacht hat.
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Jetzt stellen Sie Forderungen an unsere Bundesministerin Klara Geywitz, dabei ist sie doch schon längst dran. Mit dem Beirat Innenstadt traf sie sich Anfang März 2022.
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– Sie können gerne zuhören. – Mit den Kommunen wird sich die Ministerin im Juli 2022 zu diesem Thema austauschen. Die Innenstadtstrategie wird ständig weiterentwickelt.
Sie sehen, Ihr Antrag ist noch nicht ganz ausgereift.
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Deshalb lade ich Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft der Innenstädte gestalten! Lassen Sie uns gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen mit dem Bus, dem Fahrrad oder der Bahn in die Innenstädte kommen! Lassen Sie uns daran arbeiten, kleinere Innenstädte interessanter und lebenswerter zu machen!
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Ich bin gespannt auf die Debatten in den Ausschüssen.
Vielen Dank und ein herzliches Glückauf!
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Enrico Komning von der AfD-Fraktion ist der nächste Redner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Kollegen von der Union, und wieder stehen wir heute hier, und wieder diskutieren wir über einen Ihrer Anträge, bei dem man sich fragen muss, warum Sie das nicht schon in Ihrer Regierungszeit in den letzten 16 Jahren gemacht haben. Ja, ich weiß, Sie können es
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nicht mehr hören; aber Sie werden es sich immer wieder anhören müssen. Gestern habe ich Ihnen das schon gesagt.
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Herr Spahn hat gestern erwidert, es habe ja an der SPD gelegen. Umso lustiger ist es, dass die SPD Ihnen heute dieselben Vorhalte macht, die Sie der SPD machen. Ja, da frage ich mich: Wer hat denn zusammen reagiert?
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Herr Altmaier im CDU-Ministerium, Herr Scholz im Finanzministerium. Jetzt schieben Sie sich gegenseitig den schwarzen Peter zu.
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Ich glaube, die Politik, die Sie beide zusammen zu verantworten haben, war schlechte Politik. Das muss hier heute mal deutlich ausgesprochen werden.
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Wenn Sie, liebe Union, tatsächlich vernünftige Politik machen wollen – und Ihr Antrag von gestern und auch Ihr Antrag von heute sind im Grunde genommen ja gar nicht schlecht –, dann frage ich mich: Warum gieren Sie denn immer wieder nach dem politisch linken Spektrum?
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Warum schauen Sie denn nicht mal auf die markwirtschaftliche Seite? Das, was Sie hier heute fordern – Herr Linnemann, die Verlustverrechnung; Sie haben es angesprochen –, haben wir die gesamte letzte Legislatur gefordert.
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Also orientieren Sie sich lieber hin zum marktliberalen, zum marktwirtschaftlichen Spektrum hier im Bundestag und nicht immer nach links.
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Kurz noch zu Ihrem Antrag; ich habe ja leider nur drei Minuten Redezeit.
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In dem Ziel, das dieser Antrag verfolgt, sind wir uns ja einig. Der stationäre Einzelhandel ist natürlich mehr als Handel, weil er die Innenstädte eben auch gesellschaftlich und kulturell prägt. Das besondere Interesse an einem florierenden Einzelhandel ist also tatsächlich mehr als Wirtschaftspolitik.
Der dramatische Verlust an Marktanteilen gegenüber dem Onlinehandel ist aber zu einem großen Teil auch hausgemacht – durch die eben angesprochene Politik. Die steuerliche Benachteiligung schreit doch zum Himmel. Amazon zahlt in Deutschland keinen Cent Steuern. Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ein Betreiber eines kleinen Fachgeschäfts in Deutschland ohne Steuerberater dagegen faktisch nicht existieren kann? Amazon, liebe Kollegen, ist doch nicht gestern erst vom Himmel gefallen.
Auch Ihre Forderung nach einem Belastungsmoratorium im Bereich Bürokratie mutet schon fast komisch an, waren es doch die Regierungen unter Unionsführung, die dem Handel im letzten Jahrzehnt Milliarden Euro zusätzlicher Bürokratiekosten aufgebürdet haben.
Der Onlinehandel will und soll nicht wieder sterben. Für viele Menschen, gerade im ländlichen Raum, ist er die Rettung. Der stationäre Handel muss nur die gleichen Chancen bekommen. Gute unternehmerische Ideen dazu gibt es genug.
Vielen Dank.
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Karoline Otte, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin in der Debatte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gute Lebensverhältnisse in unseren Städten – das heißt, mit Menschen an schönen Orten zusammenzukommen und gut versorgt zu sein mit Dingen des alltäglichen Lebens. Attraktive und lebenswerte Innenstädte sind der Ort, an dem gute kommunale Gemeinschaft, Leben, Wohnen und Arbeiten möglich sind.
Doch so wichtig Innenstädte für Gemeinschaft vor Ort sind, aktuell verändern sie sich vielerorts rapide. Der Discounttrend, rasant steigende Immobilienpreise, durch die Pandemie nochmals zunehmender Onlinehandel sind die wesentlichen Treiber. Leerstände und verfallende Infrastruktur prägen zu oft unsere Kleinstädte, aber auch die Quartiere in den größeren Städten. In diesem Punkt, liebe Union, haben Sie recht.
Sie müssen einräumen, dass Veränderung dringend notwendig ist – aber bitte nicht mit den alten Plänen und Rezepten von vorgestern. Das Leben in unseren Städten von heute braucht Ideen und Konzepte für integrierte und nachhaltige Stadtentwicklung.
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Mit der Förderung des traditionellen Einzelhandels ist es nicht mehr getan. Wer dafür sorgen will, dass auch in Zukunft Autos den Platz in unseren Innenstädten fressen und jedes Gefühl von Lebensqualität wortwörtlich im Keim ersticken, der ist im letzten Jahrhundert hängen geblieben. Die Innenstadt mit Zukunft braucht eine Verkehrsentlastung durch klimaneutrale Mobilität. Die autogerechte Stadt hilft auch nicht im ländlichen Raum. Eine stärkere Mischnutzung und kleinere Läden – das ist Innenstadt der Zukunft. Die Innenstadt mit Zukunft sorgt dafür, dass Menschen mehr vorfinden als nur die Möglichkeit, zu konsumieren. Wir brauchen Plätze für alle, mit Freiräumen für Kinder und Jugendliche, mit Platz für bürgerschaftliches Engagement, mit Platz für Erholung und Begegnung.
Liebe Union, ja, ein Stück weit beschreiben Sie diese Punkte in Ihrem Antrag. Es klingt auch durch, dass Sie von diesen Konzepten schon mal gehört haben. Freut mich. Es stellt sich nur die Frage – das wurde heute schon oft angesprochen, und ich frage es mich immer noch –, warum entsprechende Änderungen beispielsweise bei der Städtebauförderung in den letzten 16 Jahren von Ihrer Fraktion entweder verbaselt oder vehement blockiert wurden.
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In Ihrem Antrag fordern Sie zum Beispiel die Förderung von Grünflächen und zusätzliche Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen. Dass der Klimawandel in Form von Hitzewellen und Überschwemmungen auch unsere Städte trifft, ist keine ganz neue Erkenntnis. Klimaschutz steigert die Lebensqualität in unseren Städten. Mit Klimaanpassung schützen wir sensible Gruppen und kritische Infrastrukturen.
Liebe Union, es ist unglaubwürdig. Glaubwürdigkeit schafft man am besten durch Tun. Deshalb hat das Umweltministerium im letzten Monat sein Programm für die kommunale Klimaanpassung verlängert und durch die Förderung für Klimaanpassungsmanagerinnen und ‑manager sinnvoll ergänzt. Klimaanpassung wird so zu einem realistischen Aufgabenfeld für unsere Städte und Gemeinden, und das ist ein wichtiger Schritt.
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Als Ampelkoalition haben wir in den kommenden Jahren noch einiges vor. Dazu gehören vor allem auch die Beschleunigung von Planungsvorhaben und der Abbau der Richtlinien, die Nachhaltigkeit und Vielfalt in unseren Innenstädten zurzeit noch erschweren. Hier ist ein guter Interessenausgleich notwendig. Deshalb müssen wir diese Maßnahmen sorgsam prüfen. Es ist aber schon jetzt klar: Mit der Ampel werden unsere Innenstädte lebendiger. Wir stärken das Nebeneinander von Bars, Geschäften, Klubs und Cafés,
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beispielsweise durch die geplante Novelle zum Immissionsschutzgesetz.
In vielen kleineren Städten bereitet der Leerstand in den Innenstädten große Sorgen. Wir prüfen, ob dem mit einer Erneuerung des Vorkaufsrechts für Kommunen und einer engen Verzahnung zwischen Bebauungsplänen und Flächennutzungsplänen begegnet werden kann. Wir wollen resiliente, vielfältige und lebendige Innenstädte, und in der Ampelkoalition bringen wir hierzu mit dem neuen Haushalt einiges auf den Weg; denn am Ende können nur dort, wo die Kommunen genug finanziellen Spielraum haben, Innenstädte vorangebracht werden. Es ist deshalb zentral, dass die Ampel sich der bisher verschlafenen Aufgabe stellt, die Kommunen endlich ihren Herausforderungen angemessen finanziell auszustatten.
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Hierfür sind schon einige Schritte unternommen worden. Es gibt Zusagen für die Finanzierung der Hilfen für Geflüchtete, für die Verstetigung des höheren Anteils an den Kosten der Unterkunft, für das zügige und entschlossene Anfassen der Altschuldenfrage. Das alles sind wichtige Schritte. Es braucht aber noch substanziell mehr Geld für den kommunalen Klimaschutz, eine Weiterführung des finanziellen Engagements des Bundes für die Kinderbetreuung und eine deutliche Vereinfachung unseres Fördersystems. Ich freue mich darauf, dass wir auch diese Punkte gemeinsam als Ampel auf den Weg bringen werden.
Ihr Antrag, liebe Union, zeigt in jedem Fall eher die Versäumnisse der letzten Jahre auf, als dass er uns wirklich voranbringt. Wir als Ampel stärken schon jetzt, in diesem Jahr, mit diesem Haushalt, Sportstätten und Jugendzentren, Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie Senioren- und Begegnungszentren.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lange?
Nein, danke.
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Dann kommen Sie aber bitte zum Schluss. Ihre Redezeit ist vorbei.
Okay. – Die Ampelregierung wird an vielen Schrauben drehen – für eine Stärkung der Kommunen und eine Stadtentwicklung hin zur Innenstadt der Zukunft. Das erwarten unsere Städte und Gemeinden zu Recht. Ich freue mich darauf, diese Aufgaben anzugehen.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort Uli Lange.
Sehr geehrte Frau Kollegin Otte, ich empfehle Ihnen einen Austausch mit dem Kollegen Daldrup von der SPD, mit der wir zwölf Jahre zusammen regiert haben. Die Städtebauförderung, die Sie vorhin angesprochen haben, insbesondere die Vereinfachung um die Themen Stadtgrün, haben wir in der letzten Periode zu neuen Programmen zusammengefasst, flexibler gemacht. Das, was Sie hier genannt haben, finden Sie schon heute in den Programmen. Informieren Sie sich einmal bei Ihren Kommunen, in der Kommunalpolitik, welche Umsetzungsmöglichkeiten – davon kann man auch Klimamanager bezahlen – bereits wahrgenommen werden.
Da Sie das Thema „Kultur, Jugend, Sport“ angesprochen haben: Ich empfehle Ihnen, in der Koalition darauf hinzuwirken, das Bundesprogramm „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen Sport, Jugend und Kultur“ wieder aufzulegen. Wenn ich den Haushalt richtig im Kopf habe, wird es nur ausfinanziert, ist aber nicht mehr neu enthalten. Wenn Sie regieren, dann setzen Sie doch das um, was Sie uns jetzt als Versäumnis vorhalten. Wir haben es gemacht. Sie sind dran.
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Frau Otte, Sie können antworten.
Vielen Dank für den Hinweis. Keine Sorge, mit Herrn Daldrup bin ich in gutem Kontakt, genauso wie mit unseren Städten und Gemeinden und Landkreisen. Ich komme selber aus der Kommunalpolitik, aus der kommunalen Verwaltung. Ich glaube, der Informationsfluss steht.
Danke schön.
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Klaus-Peter Willsch von der Fraktion CDU/CSU ist der nächste Redner in der Debatte.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Kollege Lange hat ja gerade richtiggestellt, was an Ihren Äußerungen, Frau Otte, korrekturwürdig war. Ich will darüber hinaus auch auf Herrn Außendorf eingehen. Wissen Sie, mit diesem Autobashing und mit ein bisschen mehr Wohlfühlen ist es ja nicht getan. Wir müssen vor Ort Lösungen finden, die zu den Leuten passen. Und es ist wichtig, dass man Plätze auch erreichen kann.
Ich habe heute mit meiner Frau telefoniert, die mir gesagt hat: Heute Morgen habe ich wieder eine Dreiviertelstunde vor dieser Pförtnerampel gestanden, um in die Stadt zu kommen. – Da will ein grüner Verkehrsdezernent Ihre Vorstellungen durchsetzen, die dem Innenstadthandel aber nachhaltig schaden. Ich meine, wenn die Leute jetzt, nach Überwindung der Pandemie, sich aufmachen und bei dem Wetter Lust haben, trotz Inflation wieder einkaufen zu gehen, dann sagen Sie Ihren militanten Außengruppen von der Letzten Generation oder wie sie heißen, dass sie sich nicht festkleben sollen auf den Straßen,
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damit die Leute wenigstens hinkommen zu den Läden und nicht abgehalten werden von denen, die meinen, sie müssten alle in ihrem Sinne erziehen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Machen wir doch. Ja.
Herr Kollege Willsch, ich fordere Sie auf, richtigzustellen, dass die von Ihnen angesprochenen Gruppen, die Straßen blockieren, keine militanten Außengruppen von Bündnis 90/Die Grünen sind, und an dieser Stelle zur Wahrheit zurückzukommen.
Vielen Dank.
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Dann ist das vielleicht eine Fehlwahrnehmung von mir gewesen.
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Aber ich habe noch nicht viele kräftige Aussagen gehört, die sich distanziert hätten
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von diesem freiheitsbeschränkenden und rechtsstaatswidrigen Verhalten, das wir jeden Tag sehen, sei es an Flughafenzufahrten, an Stadteingängen oder anderswo.
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Machen Sie es deutlich! Sie haben ja jetzt einen Beitrag dazu geleistet. Lassen Sie den Bundesvorstand und die Fraktion eine kräftige Distanzierung beschließen, und rufen Sie diese Truppen auf, endlich wieder auf den rechtsstaatlichen Boden zurückzukommen!
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Dann bin ich bereit, Ihnen alle Hände zu reichen, die mir zur Verfügung stehen.
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Um auch ein menschliches Signal zu senden: Wir haben gerade gehört, dass Minister Habeck heute nicht dabei sein kann, weil er corona-positiv getestet ist. Wir hoffen, dass er einen symptomfreien Verlauf hat. Wenn es so läuft wie bei mir – ich hatte es kurz vor Weihnachten –, dann wäre es gut. Das wünschen wir ihm auch. Wir nehmen natürlich positiv zur Kenntnis, dass Sie uns darüber informiert haben.
Nachdem Carsten Linnemann das Menschliche aus der persönlichen Betroffenheit geschildert hat und Ulrich Lange das Städtebauentwicklungspolitische sehr deutlich klargestellt hat, will ich an Sie appellieren: Versuchen Sie doch mal, das Leben in Deutschland so zu nehmen, wie es ist! In Deutschland leben fast 60 Prozent der Menschen in Einheiten unter 50 000. So ist es auch in meinem Wahlkreis, Rheingau-Taunus/Limburg. So ist es in Deutschland. Die größte Stadt hat 36 000 Einwohner, und da sind schon die Stadtteile mitgezählt. Das ist auf 180 Dörfer verteilt. Da können Sie nicht mit Ihren „One size fits all“-Lösungen, Autobashing und was weiß ich kommen. Wenn Sie der Lebenswirklichkeit der Menschen gerecht werden wollen, dann müssen Sie ein bisschen mehr bieten und sich ein bisschen mehr den Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation zuwenden.
Ich muss leider auch noch einmal – ich komme dann aber zu einem positiven Abbinden – auf die Rede der Kollegin Mascheck eingehen. Sie hat nämlich gezeigt, worauf wir in der Großen Koalition immer Rücksicht nehmen mussten. Sobald das Thema Ladenöffnungszeiten überhaupt nur angedacht wird, kommt schon diese von Gewerkschaften infizierte Gegenreaktion: Um Gottes willen, Abbau von Arbeitnehmerrechten!
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Das ist doch nicht die Lebenswirklichkeit. Reden Sie doch mal mit Menschen, die im Einzelhandel arbeiten!
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Die haben keine Probleme, die Sonntage personell zu besetzen, wenn sie sonntags mal aufmachen können, weil die Leute, die in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind, gerne da arbeiten.
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Aber das wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Sie wollen Ihr ideologisches Gerüst nicht stören lassen durch Aspekte aus der Lebenswirklichkeit.
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Ich habe auch wahrgenommen, dass Herr Todtenhausen sich in seiner Argumentation noch einmal an dem nicht formal verkündeten Freedom Day abgearbeitet hat.
Aber eines muss ich doch zusammenfassend feststellen: Ich habe selten erlebt, dass ein Antrag so viel Übereinstimmung im ganzen Hause gefunden hat. Von allen Seiten ist er gelobt worden. Die einen haben gesagt: copy and paste. – Die anderen haben gesagt: Hätten wir alles schon gemacht, wenn wir gekonnt hätten. – Die können jetzt. Also, ich habe große Hoffnung, dass wir den Antrag der CDU/CSU in großem Einvernehmen annehmen; denn nach all dem, was schon Positives dazu gesagt wurde, kann ich mir gar nichts anderes mehr vorstellen.
Ich lade Sie herzlich ein: Lassen Sie uns das diskutieren! Unsere Innenstädte sind es wert. Denken wir zum Beispiel an den Denkmalschutz. Was macht es für einen Sinn, wenn niemand mehr in die Innenstädte geht, weil es sich nicht mehr lohnt, dorthin zu gehen? Die Innenstädte, die Ortskerne müssen Erlebnisräume sein. Da muss man den Kommunen auch Luft lassen, vor Ort so zu entscheiden, wie sie es für richtig halten. Sie wollen Bürokratie abbauen. Gehen Sie es da an! Schaffen Sie die unseligen Stundenzettel ab, die die Leute abends ausfüllen müssen.
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Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Willsch.
Oder überlegen Sie einmal, ob man nicht mit einer Genehmigungsfiktion bei genehmigungspflichtigen Umbauten für den Einzelhandel arbeiten kann.
Der letzte Satz jetzt bitte, Klaus-Peter Willsch.
Das hat in anderen Bereichen gut gewirkt.
Letzter Satz und Gedanke – ich danke der Präsidentin ganz herzlich für ihre Geduld –:
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Helfen Sie mit, die Innenstädte lebendig zu halten –
Das waren schon mehrere letzte Sätze.
– und denjenigen, denen wir verboten haben, Geschäfte zu machen, jetzt Unterstützung zuteilwerden zu lassen, damit sie wieder hochkommen.
Danke.
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Johannes Arlt, SPD-Fraktion, ist der nächste Redner.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie soll die Stadt, wie soll die Gemeinde der Zukunft aussehen? Lieber Herr Willsch, ich habe 700 Dörfer im Wahlkreis. Auch der ländliche Raum ist ein wichtiger Aspekt; da stimme ich Ihnen zu.
Nachdem wir heute bereits über viele Detailfragen und Vorschläge in Ihrem Antrag geredet haben, möchte ich zum Ende der Debatte einen Schritt zurückgehen und ein paar grundsätzliche Erwägungen in den Blick nehmen. Stellen Sie sich vor, wir müssten die Städte, die Grundzentren, die Mittelzentren, die Oberzentren neu planen und neu denken. Wie würden wir das heute machen? Die Lösung kann jetzt nicht sein, dass wir nur an den Symptomen ansetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Vieles in Ihrem Antrag ist richtig; aber er ist doch zu sehr von dem Geist des Konservierens durchdrungen: hier ein Schräubchen, da ein Schräubchen. Ich glaube, wir müssen da ein bisschen größer denken.
Die funktionsgetrennte Innenstadt, die allein dem Einzelhandel dient, ist eine Entwicklung der Nachkriegszeit. Gucken wir uns die Stadtentwicklung um 1900 an, dann sehen wir Viertel, in denen gelebt, gearbeitet und konsumiert wurde. Diese Funktionsmischung sollte uns Orientierung sein. Innovative Modelle müssen hier her.
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Wie also sollte die Stadt der Zukunft aussehen? Während der Pandemie – so zeigen es Befragungen – standen für über 60 Prozent der Innenstadtbesucher Begegnungen und Café- und Restaurantbesuche im Vordergrund, gefolgt von dem Wunsch, den Einzelhandel zu unterstützen. Wir wissen also, was Innenstädte für Menschen attraktiv macht: Vielfalt. Daher sollten sie sich vielfältiger aufstellen mit Wohnen, Leben, Arbeiten, Gastronomie als Ensemble und mit kurzen Wegen, und dies nicht allein im Stadtzentrum.
Letzte Woche hatte ich auf einer Berichterstatterreise nach Schweden und Dänemark die Gelegenheit, zu sehen, wie in der alten Industriestadt Landskrona mit konsequenter Stadtentwicklung ein neuer Anfang gewagt wurde. Vormals sozial problematische Viertel werden durch Verlegen von Verkehrswegen von einer Randlage in die Mitte der Stadt gerückt. Neue attraktive Townhouses werden zwischen vormalige Sozialwohnungen gebaut und mit Schulen und Einkaufsmöglichkeiten ergänzt, um soziale Segregation abzubauen und neue steuerkräftige Bürger in die Stadt zu locken. Dies braucht aber vor allen Dingen Mut, ebenenübergreifend zusammenzuarbeiten und ganzheitliche Entscheidungen für eine Gemeinde zu treffen.
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Fragen wir nach der Zukunft der Stadt und der Gemeinde sollten wir keineswegs den ländlichen Raum vergessen. Das Dorfzentrum der Zukunft ist genauso wichtig. Es könnte ein Gebäude sein, das die unterschiedlichsten Funktionen unter einem Dach versammelt und vernetzt. Nehmen wir Co-Working-Spaces. Neben der Möglichkeit, zu arbeiten, sind das Orte der Begegnung, Orte der Kultur und Orte der Bildung.
Bei meiner letzten Rede habe ich Ihnen von den Dörfern in meinem Wahlkreis berichtet, in denen man oft auf einen Apfelbaum steigen muss, um Netzempfang zu haben.
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Dort besteht die einzige vorhandene öffentliche Infrastruktur oft aus einer Bushaltestelle, an der kein Bus fährt, und dem Briefkasten.
Jetzt guckt uns eine junge Gründerin aus einem Dorf bei Waren zu, die gerade gestern mit ganz viel eigenem Engagement ihren Co-Working-Space DECK gegründet hat, um ihrem Dorf eine Mitte zurückzugeben, ein Co-Working mit Besprechungsflächen, einem Aufnahmestudio für Videos und Ton für Unternehmen und auch einem Dorfladen mit einem Café mit elektronischem 24‑Stunden-Zugang. Das ist vollkommen innovativ. Hier können noch andere Dienstleister, wie Post und andere Einzelhändler, eindocken. Es geht also nicht um Fördermittel allein, sondern auch um Innovations- und Gründergeist für unsere Dörfer.
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Ich danke Katharina Scheunemann und allen, die hier zuhören und Initiative zeigen, um ihr Landleben zu bereichern, für diesen steinigen Weg, den sie gehen, um ihre Heimat neu aufzustellen.
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Die Ampelkoalition hat bereits einige Weichen gestellt. Dorfbüros und Co-Working-Spaces werden als Teil der Daseinsvorsorge anerkannt und im Programm für den Küstenschutz zusätzlich gefördert. Ja, wir erleben aktuell eine schwere Krise der Innenstädte und Ortskerne. Doch gibt uns diese Krise zugleich auch die Möglichkeit, die Stadt der Zukunft zu denken. Dies erfordert Mut vor Ort durch konsequente Anwendung des Planungsrechts sowie eine unbürokratische Zusammenarbeit. Wir sollten darüber nachdenken, die überkomplexe Förderlandschaft zu vereinfachen, Programme zusammenzuführen, zu digitalisieren, um somit auch für kleine Städte und Gemeinden den Aufwand der Beantragung zu begrenzen. Dies könnte unser Beitrag sein, die Städte und Gemeinden zur Zukunft zu befähigen. Ich freue mich auf die Beratung Ihres Antrags im Wirtschaftsausschuss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner in der Debatte: Hagen Reinhold, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich danke der Union für den vorgelegten Antrag und auch dafür, dass sie selbstständig ihre Versäumnisse der letzten Jahre aufarbeitet. Das entlastet uns als jetzige Regierung von dieser Aufgabe.
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Mir wäre das zu viel Seelenstriptease. Ich würde hier mit hochrotem Kopf und Schweiß auf der Stirn stehen. Sie haben versierte Redner geschickt, denen das nicht passiert ist; das ist gut. Dieser Antrag liest sich im Übrigen wie abgeschrieben aus unserem Koalitionsvertrag; denn da stehen ja die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit drin und auch, was dieses Land jetzt braucht. Deshalb liest es sich genau so.
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Schade, dass Ihr Umdenken, wie es in dem Antrag geschrieben steht, erst jetzt kommt. Dieses Umdenken hätte auch nicht erst vor sechs Monaten erfolgen müssen; das hätte Ihnen schon vor Jahren einfallen können. Da, wo ich mich immer ins Internet einwähle, gibt es den Onlinehandel seit vielen, vielen Jahren.
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Herr Linnemann, Sie sagen, man solle die Verantwortung nicht wegschieben und die CDU-Landesminister seien vorbildlich. Herr Willsch hat gerade die Ladenöffnungszeiten angesprochen. In dem Antrag entdecken Sie ja Ihre Freude an der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten; selbst Sonntags- und Bäderregelungen werden angeführt. Ich komme aus einem Tourismusland. Mich kotzt es seit Jahrzehnten an, dass wir die Leute zum Geburtstag einladen und sonntags keine Torte hinstellen können. Ehrlich, ich habe damit ein Problem.
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Jetzt zu Ihrer Verantwortung. Zu Recht machen sich die Gewerkschaften für das Personal stark. In meinem Bundesland ist es immer wieder die Union, die sagt: Der Kirchgang muss am Sonntag möglich sein. – Eine Story aus Bayern – ich glaube, in Bayern regieren Sie –: Dort gibt es ein geiles Modell, das sich „Josefs Nahkauf Box“ nennt. Total geiles Ding! Da wird Digitalisierung zusammengebracht und Arbeitskräftemangel verhindert. Das ist ein Laden, der ohne Personal funktioniert; aber er darf in dem von Ihnen regierten Bayern sonntags nicht öffnen. Ein Laden ohne Personal – sonntags verboten in Bayern! Das ist das wahre Wesen der Union.
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Ich sage, auch wenn es mir auf der Seele brennt, nichts über den Lockdown und die Erkenntnisse, die Sie gewonnen haben; die haben Sie jetzt niedergeschrieben. Aber eine Sache muss ich erwähnen, weil das dem Fass den Boden ausschlägt, und zwar gehörig. Unter Punkt 13 Ihres Antrags greifen Sie einen Entschließungsantrag aus der letzten Legislatur dieses Hohen Hauses auf. Darin geht es um die Änderung der Baunutzungsverordnung für die Idee einer Durchmischung der Stadt, ein neues Zusammenleben in der Stadt. Da kämpfen Parlamentarier über alle Bänke hinweg jahrelang für etwas, wofür Ihr Minister Horst Seehofer – ein paar aus dem alten Kabinett sitzen ja noch hier – nie offene Ohren hatte.
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Immer wieder hat das Ministerium abgeblockt. Fast alle Parlamentarier beschließen einen Entschließungsantrag, dass die Regierung aufgefordert wird, noch in der letzten Legislatur die Baunutzungsverordnung zu ändern. Seehofer macht alles, nur nicht das, was das Parlament will. Und Sie haben jetzt die Frechheit, sich hierhinzustellen und zu sagen: Die Änderung der Baunutzungsverordnung soll sofort umgesetzt werden. Natürlich steht das im Koalitionsvertrag; denn es ist ein richtiger Schritt, und wir werden das als Ampel auch machen.
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Aber so dreist hier aufzutreten, das lasse ich Ihnen nicht durchgehen.
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Nach dem Seelenstriptease kommt ja noch etwas anderes. Das Wesen der Union verändert sich gerade; das müssen wir auch mal für alle, die Kommunalpolitik machen, deutlich sagen. Sonst war die Union immer eine Partei, die die kommunale Selbstverwaltung hochgehalten hat; das sind wir ja auch. Und jetzt lese ich in diesem Antrag, dass wir mit Ge- und Verboten in den Kommunen stark agieren sollen, am besten aus dem Bundestag heraus, und zwar zu gebührenfreien Parkplätzen. Ich habe nichts gegen gebührenfreie Parkplätze. Aber wenn wir jetzt anfangen, für jede Kommune Deutschlands im Bundestag über gebührenfreie Parkplätze zu diskutieren, dann muss ich sagen: Wer diese Idee hatte, der hat den Aufbau unserer Republik noch nicht verstanden und auch noch nicht, dass wir gute Kommunalpolitiker haben, die das für ihre Stadt in jedem Einzelfall bestens alleine entscheiden können.
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Ich freue mich. „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“, hat mein Vater immer gesagt. Da hat er recht gehabt. Diese Selbsterkenntnis haben Sie jetzt gewonnen; dazu gratuliere ich Ihnen herzlich. Deshalb wird die Zusammenarbeit, was dieses Thema anbetrifft, in dieser Legislatur wahrscheinlich ganz wunderbar funktionieren. Sie werden allen Koalitionsanträgen in den nächsten Monaten zustimmen, wenn es darum geht.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, bedanke mich, dass ich diese tolle Rede halten konnte, und wünsche uns allen einen schönen Nachmittag.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang der Woche konnten wir berichten, dass wir bei unserem Bemühen, uns Schritt für Schritt von russischen Energieimporten unabhängig zu machen, ein gutes Stück vorangekommen sind. Die Kohleimporte aus Russland sind schon deutlich reduziert. Der Anteil von Erdöl lag mal bei 35 Prozent; wir sind jetzt auf dem Weg zu 12 Prozent. Der Abschied von russischem Gas – da lag der Anteil bei 55 Prozent; aktuell sind wir bei 35 Prozent – ist noch länger eine Herausforderung; aber daran arbeiten wir.
Wir haben viele Maßnahmen ergriffen, Effizienzmaßnahmen, um den Verbrauch zu reduzieren. Wir bauen die Erneuerbaren aus. Wir schaffen aber auch neue Infrastruktur, um unseren Bezug zu diversifizieren. Wenn es gut geht, können wir vielleicht schon nächste Woche in Wilhelmshaven mit dem Bau des ersten schwimmenden LNG-Terminals beginnen. Das sind Fortschritte, um sehr konkret und sehr schnell von russischen Energielieferungen unabhängig zu werden.
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Es zeigt aber auch: Wir sind noch nicht so weit.
Die Unsicherheit an den Energiemärkten ist riesengroß. Die Preise sind hoch. Es sind Risiken vorhanden. Niemand von uns kann heute sagen, wann und gegen wen Putin Energieimporte als Waffen einsetzen wird – wir haben in dieser Woche im Fall von Polen und Bulgarien erlebt, dass Putin bereit ist, das zu tun –; aber wir werden uns nicht einschüchtern lassen. Unsere Politik ist darauf ausgerichtet, dass wir uns für den Fall wappnen, dass sich die Situation zuspitzt. Das zeichnet unsere Politik aus, meine Damen und Herren.
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All das ist nichts, was wir uns wünschen können. Wenn wir reale Versorgungsengpässe haben – die haben wir, Gott sei Dank, im Moment noch nicht –, dann wird das gesamtgesellschaftlich zu enormen Einschnitten führen. Dann reden wir über Abschaltungen von Industriezweigen, dann reden wir über die Folgen von Nichtproduktion, dann reden wir über Arbeitslosigkeit, dann reden wir über Menschen, die kein Einkommen haben, die nicht zur Arbeit gehen können, dann reden wir über gestörte Lieferketten, dann reden wir über gestörte Versorgungsstrukturen. Je besser wir vorbereitet sind, je schneller und umfassender wir handeln, desto besser können wir mit der Krise umgehen. Deshalb novellieren wir jetzt das Energiesicherungsgesetz aus den 1970er-Jahren, aus den Zeiten der Ölkrise. Es ist einfach notwendig, dass wir dieses Gesetz ins 21. Jahrhundert bringen; denn die Regeln, die dort niedergeschrieben sind, stammen aus einer Zeit, als es noch kein Internet gab, aber die Sowjetunion. Ich glaube, das allein macht deutlich, dass hier gehandelt werden muss. Wir müssen dieses Gesetz in der aktuellen Krise auf die Höhe der Zeit bringen.
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Einer der wichtigsten Punkte dabei ist – es klingt banal; aber wir brauchen sie – eine digitale Plattform für den Bereich Gas. Das Thema Gas wird in diesem Gesetz nicht in der notwendigen Art und Weise adressiert; es ist auf Erdöl zugeschnitten. Wir brauchen jetzt eine digitale Plattform, wo Verbrauch und Einspeisung gesteuert werden können, wo wir eingreifen können, wenn eine Gasmangellage eintritt, um das entsprechend managen zu können. Es ist ganz entscheidend, hierfür eine Rechtsgrundlage zu schaffen.
Wir brauchen weiterhin eine Treuhandverwaltung für Unternehmen, die kritische Infrastrukturen nicht in der Weise betreiben, wie sie betrieben werden müssen. Dass diese Gefahr real ist, haben wir seit dem Ausbruch des Krieges erlebt. Deshalb ist es absolut wichtig, dass wir in dem Gesetz hierfür die Voraussetzungen schaffen. Ich sage auch ganz klar: Als Ultima Ratio muss unter klar benannten und sehr engen Bedingungen auch die Enteignung möglich sein; denn es kann nicht sein, dass jemand, der eine für die Energieversorgung kritische Infrastruktur besitzt und falsch betreibt, unsere Energieversorgung gefährdet. Auch das regeln wir in dem Gesetz.
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Wir brauchen auch eine Regelung zur Preisanpassung, meine Damen und Herren. Wenn Preise kurzfristig steigen, müssen Lieferanten, Unternehmen diese weitergeben können. Wenn sie das nicht können, dann droht der Zusammenbruch von Energieversorgungsunternehmen, dann drohen unter Umständen Kettenreaktionen. Und wenn diese Unternehmen dann nicht mehr da sind, können sie auch nicht ihrem Versorgungsauftrag nachgehen. Auch dafür brauchen wir klare Regeln.
Und wir brauchen bessere Regeln für die Solidarität in der Europäischen Union. Wir arbeiten schon sehr intensiv und sehr eng mit unseren Nachbarn zusammen; aber wir wollen uns natürlich im Fall der Gasmangellage unterstützen. Wir brauchen Regeln dafür, wie wir das gemeinsam schaffen können, und das leistet dieses Gesetz.
Meine Damen und Herren, normalerweise ist es so, dass man sich bei Einbringung und Beschluss eines Gesetzes wünscht, dass es möglichst oft angewendet wird. Ich sage hier sehr deutlich: Wir wünschen uns, dass dieses Gesetz am besten gar nicht angewendet wird.
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Wir wissen: Das sind starke Eingriffe des Staates in den Markt bei den Themen Preise, Treuhand, Enteignung; aber wir müssen für den Ernstfall handlungsfähig sein, und die Gewährleistung der Energiesicherheit ist eine staatliche Aufgabe. Deshalb sollte dieses Gesetz so bald wie möglich in Kraft treten. Ich bitte Sie und appelliere an Sie, es zügig und konstruktiv zu beraten. Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre Unterstützung dieses Weges, den wir gehen. Zeigen wir, wie leistungsfähig, effizient und stark unsere Demokratie in dieser Frage ist! Auch das ist unsere Antwort an Putin.
Danke schön.
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Andreas Jung von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner in der Debatte.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staatssekretär Krischer hat uns eben eine zügige und konstruktive Beratung dieses Gesetzes angeraten. Ich will für unsere Fraktion sagen: Dazu sind wir nicht nur bereit, sondern das ist ausdrücklich unsere Position. Wir müssen in dieser Krise auch als Antwort auf Putin handlungsfähig sein, und wir werden dazu beitragen, dass die Weichen richtig gestellt werden.
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Das gilt für einen ehrgeizigen Zeitplan, der für eine Verabschiedung in der nächsten Sitzungswoche vorgesehen ist. Eine Anhörung, auf die wir Wert gelegt haben, am Montag in der nächsten Sitzungswoche steht dieser zügigen Beratung nicht entgegen, kann aber die Qualität der Beratung verbessern.
Damit zeigen wir, dass wir als Parlament nicht nur handlungsfähig sind, sondern auch handlungswillig. Dieser Handlungswille kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass wir für unsere Fraktion klarmachen: Einerseits muss die Regierung in dieser Situation kurzfristig Handlungsmacht haben, und andererseits müssen die wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden. In diesem Geiste werden wir die Beratungen führen. Auch wenn es sich um eine Fraktionseinbringung handelt, darf ich schon jetzt prognostizieren, dass das Struck’sche Gesetz gelten wird.
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Staatssekretär Krischer hat die Regelungen angesprochen, die zur Stärkung der europäischen Solidarität vorgeschlagen werden. Zu dieser bekennen wir uns ausdrücklich und gerade in dieser Woche, in der Putin den Gashahn für Polen und Bulgarien zugedreht hat. Den Worten der Solidarität müssen Taten der Zusammenarbeit folgen. Die Regelungen in diesem Gesetz sind ein Ausdruck davon. Wir brauchen Zusammenarbeit. Wir brauchen Zusammenhalt. Wir brauchen Gemeinsamkeit. Wir dürfen uns nicht erpressen lassen, und wir dürfen uns in der europäischen Gemeinschaft nicht auseinanderdividieren lassen. Das ist unsere klare Botschaft, unsere eindrückliche Botschaft aus der europäischen Wertegemeinschaft.
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Auch wir sind der Überzeugung, dass es zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten braucht. Wir wissen, dass das, was hier vorgeschlagen ist, nämlich die Möglichkeit, Treuhänder einzusetzen und als Ultima Ratio auch Enteignungen anzuordnen, schwere Eingriffe sind; aber auch solche schweren Eingriffe können kurzfristig notwendig sein. Gleichzeitig legen wir aber Wert darauf, dass angesichts der Schwere dieser Eingriffe umso mehr die wesentlichen Entscheidungen von diesem Parlament getroffen werden. Hier sehen wir noch Diskussionsbedarf, was das Ausformulieren, das Konkretisieren der Regelungen angeht. Es wird hier eine Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundestages vorgeschlagen. Dazu muss ich sagen: Das überzeugt uns noch nicht. Da muss das Parlament mehr Mitsprache haben. Es braucht hier mehr Konkretisierung im Gesetz.
Ich halte den Vorschlag, dass es einen exekutiven Vorsprung gibt, wenn es zu einer Enteignung kommt und gegebenenfalls in einer Situation kurzfristig gehandelt werden muss, für gut. Die Regierung muss kurzfristig handeln können; das ist klar. Aber dass eine solche Entscheidung im Nachhinein der Kontrolle des Parlaments unterliegen sollte, halten wir für einen Vorschlag, dem wir nachgehen sollten, dem wir nachgehen wollen. Wir müssen also das Maß finden zwischen der Möglichkeit der Exekutive, zu handeln, und parlamentarischer Entscheidung, Rückkopplung. Genau das wird der Maßstab sein, mit dem wir in den Beratungen die Debatte führen werden und die Dinge bewerten.
Insbesondere wollen wir auch die Frage des Mechanismus, der zu Preisanpassungen vorgeschlagen wird, diskutieren. Ja, wir müssen, wenn es zu einem Lieferstopp kommt, Kaskaden verhindern. Wir müssen verhindern, dass es zu Kettenreaktionen kommt, die zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Schäden führen. Da wollen wir uns noch einmal genau anschauen, ob das, was vorgeschlagen ist, wirklich die Ausgewogenheit für alle Beteiligten – die Energieversorger, aber auch die Verbraucher – in angemessener Weise berücksichtigt. Das muss diskutiert, das muss geprüft werden.
Insgesamt halten wir es für notwendig, dass jetzt Vorsorge für eine weitere Zuspitzung getroffen wird. Davon ist dieses Gesetz ein Ausdruck. Wir drängen darauf, dass insgesamt ein Plan vorgelegt wird, wie wir ohne russische Energie gut über den nächsten Winter kommen können – mit den Maßnahmen, die Sie beschrieben haben, die gemacht wurden, und mit weiteren Maßnahmen, die geplant sind. Wir drängen darauf, dass ein Gesamtkonzept vorgelegt wird: Welche Einsparungen sind wo möglich und vertretbar? Welche Optionen gibt es, um im Strombereich Gaskraftwerke zu kompensieren? Dazu brauchen wir ein Gesamtkonzept.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende. – Wir werden uns konstruktiv in die Beratungen einbringen.
Herzlichen Dank.
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Dr. Nina Scheer, SPD-Fraktion, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Jung, die Schaffung eines Gesamtkonzeptes ist natürlich ein hehres Ziel. Wir müssen aber auch anerkennen, dass wir in einer Situation stecken, in der akutes Handeln auf sich jeweils immer wieder neu herausbildende Herausforderungen angesagt ist. Gesamtkonzepte haben nun einmal die Eigenschaft, dass sie etwas längere Planungszeiten voraussetzen, und die hat man in solchen Momenten nicht. Insofern sind wir darauf angewiesen, die Handlungsfähigkeit durch akute Nachjustierungen sicherzustellen. Darüber hinaus haben wir natürlich auch Zielvorgaben; diese bestehen – etwa mit dem Osterpaket und dem Sommerpaket – aus dem Umstieg auf erneuerbare Energien. Daran wird parallel unter Hochdruck gearbeitet.
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Der Staat hat eine Garantenstellung als Ausdruck von Daseinsvorsorge bei unverzichtbaren Versorgungsleistungen. Dies ist in unserem Grundgesetz und den gesetzlichen Regelwerken auch außerhalb von Krisenzeiten verankert, um in einer freiheitlichen Gesellschaft dem Anspruch von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft gerecht zu werden. Richtigerweise gibt es keine abschließende Nennung darüber, was zur Leistung der Daseinsvorsorge zählt. Es ist aber dem Wesen von Daseinsvorsorge immanent, dass Energieversorgung immer dazuzählt.
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Erst recht in Krisensituationen ist Vorsorge zu treffen. Hierfür gilt es die Instrumente der Krisenbewältigung zu stärken. Im Krisenfall zählt dazu auch die schnelle Handlungsfähigkeit des Staates. Dem diente bereits die Verabschiedung des Gasspeichergesetzes mit zeitlichen Füllstandsvorgaben, das wir vor wenigen Wochen hier verabschiedet haben. Nun ist die Änderung des Energiesicherungsgesetzes aus dem Jahre 1975 einzubringen; Herr Staatssekretär Oliver Krischer hatte schon erwähnt, aus welchen Zeiten dies ist.
Jenseits der gesetzlichen Rahmenbedingungen sind wir, politisch betrachtet, alle berufen, bei unserem Bestreben nach Unabhängigkeit von Rohstoffimporten aus Russland die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu beachten. Auch dies zählt zur Energiesicherung. Gerade in Bezug auf die Lieferketten und regionalen Unterschiede ist dies mitunter eine existenzielle Herausforderung. Das sehen wir gerade in diesen Zeiten.
Einerseits müssen wir – allein schon, um uns nicht erpressbar zu machen und um vermeidbare Geldflüsse nach Russland einzustellen – so schnell es geht unabhängig von Importen aus Russland werden. Andererseits darf uns aber ebendiese Zielvorgabe ihrerseits nicht überfordern. Insofern ist nach meiner Überzeugung in der Frage nach weiteren Embargos aktuell äußerste Zurückhaltung geboten.
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Die nachhaltigste Unabhängigkeit von Energieimporten – ich habe es eingangs erwähnt –, auch zur Einstellung von Geldflüssen nach Russland, ist über den schnellstmöglichen Ausbau erneuerbarer Energien zu erreichen. Dafür müssen wir unsere Handlungsfähigkeit aber auch erhalten.
Der heute einzubringende Gesetzentwurf enthält Maßgaben der Präzisierung bestehender und die Aufnahme weiterer Verordnungsermächtigungen, enthält Regelungen zur Einführung einer digitalen Plattform und Anpassung der Gassicherungsverordnung, um die Lastverteilung effektiv vollziehen zu können, die auch bei Solidaritätsmaßnahmen nach der europäischen SoS-Verordnung erforderlich werden kann. Dies dient einem schnellen und praktikablen Vollzug von Solidaritätsersuchen, die an Deutschland gerichtet werden können. Mitgliedstaaten können auf die Unterstützung Deutschlands und auch untereinander zählen, wenn es zu Engpässen kommt.
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Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, müssen wir auch an die Treuhandverwaltung denken – auch das ist enthalten – und – es ist schon erwähnt worden – als Ultima Ratio die Enteignung vorsehen. Ja, das gehört leider auch mit dazu. Es muss auch über die Möglichkeit von Preisanpassungen bei verminderten Gasimporten nachgedacht werden können; auch das ist enthalten.
Mit diesen weiteren Maßnahmen für einen soliden Rechtsrahmen –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ich komme zum Schluss – zur Versorgungssicherheit gehen wir mit der heutigen Einbringung nun in die parlamentarischen Beratungen zur Novelle des Energiesicherungsgesetzes und weiterer Vorschriften.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner.
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Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf ist nichts anderes als Ihr Eingeständnis, dass die Energiepolitik der Kanzler Schröder und Merkel gescheitert ist. In diesen verschenkten 23 Regierungsjahren von SPD, Union, FDP und Grünen wurde die hervorragende Energieversorgung Deutschlands mit zuverlässiger und preiswerter Energie von Ihnen mutwillig zerstört.
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Sie haben die Bürger und Unternehmen dieses Landes damit in eine existenzgefährdende Situation und Deutschland in große Abhängigkeit von einer fremden Macht gebracht. Zu klären wäre lediglich, ob es sich nur um pure Dummheit oder um Verrat handelt.
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Mit Corona und dem Krieg in der Ukraine versuchen Sie sich nun aus Ihrer Verantwortung zu stehlen. Dabei urteilte das „Wall Street Journal“ bereits im Jahr 2019 – also vor Corona und weit vor der russischen Invasion –, dass Ihre Energiepolitik die dümmste der Welt ist.
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Wohin hat uns diese – Ihre – dumme Energiepolitik geführt?
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Zu unflexiblen Stromerzeugungsmärkten und teuren Endverbraucherpreisen.
Dazu ein schnelles Beispiel: Von 2010 bis 2012 stieg der Erdgaspreis in Deutschland um circa 40 Prozent. Als Folge wurde die Verstromung aus Gas um die Hälfte reduziert, verbunden mit einem entsprechenden Anstieg der Kohleverstromung. Die Stromerzeuger wichen also vom teureren Gas auf die preiswertere Kohle aus und vermieden es so, den Anstieg des Gaspreises über die Strompreise an die Endverbraucher weiterzugeben. Das nennt man „Marktwirtschaft“.
Springen wir schnell ins Jahr 2021. Erneut ist der Gaspreis extrem hoch. Doch wo befindet sich die Stromproduktion aus Gas? Auf Rekordniveau, weil Ihr dauersubventionierter Schrottstrom der Erneuerbaren in 2021 immer noch nicht liefert,
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aber ein Ausweichen in Kohle nicht mehr möglich ist, weil unverantwortlich agierende Anhänger einer Klima-Voodoo-Sekte ein Kohleausstiegsgesetz verabschiedet haben.
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Als Folge davon wird teures Gas weiter verstromt und treibt damit den Gaspreis vor sich her. Die Schuld daran tragen Sie. Sie haben die Diversifizierung in der Stromerzeugungsbranche durch Ihre Ausstiegsbeschlüsse beerdigt. Sie haben die Marktwirtschaft im Energiesektor abgeschafft.
Sie bessern nun das angesprochene Gesetz nach; denn Gas wird knapp in Deutschland. Aber Moment mal: So knapp, Herr Krischer, kann das Gas in Deutschland ja gar nicht sein; denn diese Regierung unternimmt seit Wochen und Monaten nichts, um die Gasverstromung in Deutschland zu reduzieren, indem man mehr Strom aus der Kohle gewinnt oder indem man mehr Strom aus Kernenergie produziert.
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Was sagen denn eigentlich Polen und Bulgaren dazu, dass Sie wertvolles Gas weiterhin hier in Deutschland verstromen, nur weil Sie sich weigern, Kohle und Kernkraft zur Stromerzeugung zu benutzen?
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Sagen Sie daher Ja zu deutscher Kohle, und sagen Sie Ja zur Kernkraft in Deutschland!
Ihr Gesetzentwurf legt nun dar, wie und wann Sie Besitzer kritischer Infrastruktur unter Treuhandverwaltung stellen und/oder enteignen können. Die notwendige Bedingung dazu lautet – Zitat –: wenn dem Sektor Energie dienende Aufgaben nicht erfüllt werden und eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit droht. – Herzlichen Glückwunsch, Herr Staatssekretär! Sie können damit am ersten Tag nach Inkrafttreten dieses Gesetzes sämtliche Wind- und Photovoltaikanlagen in Deutschland unter Treuhand stellen oder enteignen; denn diese erfüllen ihre „im Sektor Energie dienenden Aufgaben“ niemals zufriedenstellend, und sie gefährden die Versorgungssicherheit in Deutschland permanent.
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Aber all Ihre staatliche Planwirtschaft bringt an dieser Stelle gar nichts. Es handelt sich nämlich um einen Systemfehler dieser minderwertigen Energieerzeugungsmethoden. Die AfD hat immer davor gewarnt. Nun geht die Energiewendesaat auf, das heißt: Nein, sie geht noch nicht auf, sie keimt gerade erst einmal. Für die Bürger bedeutet dies explodierende Kosten und unsichere Versorgung,
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während die Energiewendelobby – sie ruft ja gerade rein, die Energiewendelobby – nun mit Steuerzahlergeld gemästet wird. Daran ändert auch Ihr Gesetzentwurf nichts.
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Ihr Versagen lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Energiewende, Atomausstieg, Kohleausstieg.
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Michael Kruse, FDP-Fraktion, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere Herr Kollege Kraft! Ich möchte gerne für die Koalition feststellen: Schrott ist hier nicht der erneuerbare Strom, sondern Schrott ist Ihre energiepolitische Analyse, die Sie gerade getätigt haben.
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Aber ich will nicht nur eine Meinung dazu haben, ich will Ihnen das auch erklären: Dass Sie es hier seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine geschafft haben, in all Ihren energiepolitischen Reden überhaupt gar nicht zu erwähnen, dass Russland in Europa einen Krieg begonnen hat,
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das ist so beschämend. Das ist so beschämend für dieses Hohe Haus, dass mir persönlich dazu alle Worte fehlen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kraft?
Ja, nach dem jetzt folgenden Applaus auf meinen Kommentar.
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Herr Kollege Kruse, ich weiß nicht unbedingt, ob das Erwähnen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands etwas mit Ihrer oder mit der vergangenen Energiepolitik zu tun hat. Aber um hier meine Rede, die ich gerade gehalten habe – vielleicht waren Sie nicht da –, zu zitieren: Ich habe selbstverständlich die russische Invasion der Ukraine als Tatbestand genannt. Selbstverständlich wurde sie erwähnt. Selbstverständlich habe ich auf die Situation hingewiesen, die in Bulgarien und in Polen existiert, die dringend auf Gas angewiesen sind, das Sie hier lieber verstromen, anstatt unsere eigenen heimischen Energieträger – die Braunkohle, die am 15. Mai in Jänschwalde mit 2 Gigawatt Leistung abgeschaltet wird, und die noch existierenden Kernkraftwerke – anzuschalten, um den Gasmarkt zu entlasten. Selbstverständlich wurde das hier angesprochen, Herr Kruse.
Bitte schön.
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Zunächst einmal haben Sie es jetzt genauso wiederholt, wie Sie es hier, wenn überhaupt, maximal vortragen: Sie versuchen nämlich systematisch, das Wort „Krieg“ zu vermeiden.
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Ich habe bei einem Ihrer Kollegen schon mehrfach dazwischengerufen, dass er das Wort doch einfach einmal in diesem Zusammenhang erwähnen möge.
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– Das ist ja keine Rede, was Sie jetzt machen. – Jetzt müssten Sie es noch in den richtigen Zusammenhang stellen und dann noch die richtigen Analysen daraus tätigen, dann wären Sie eine geeignete Fraktion für dieses Haus.
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Was ich Ihnen zu Polen und Bulgarien sagen möchte – ich bin noch bei der Beantwortung –, ist das Folgende: Auch da ist Ihre Analyse nicht richtig; denn das sind die beiden Länder, die es als Allererste geschafft haben, klar zu erkennen, wer hier der Aggressor ist, und zwar schon, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Deswegen haben diese Länder sehr kluge Entscheidungen getroffen, sich unabhängig zu machen. Polen hat eine Pipeline Richtung Norwegen gebaut, sie ist in Fertigstellung. Polen hat die richtigen Entscheidungen im Bereich der Energieterminals an der Küste getroffen. Bulgarien hat sich sehr klug diversifiziert Richtung Süden; die Pipeline aus Griechenland – Sie wissen das – ist fast fertig. Das bedeutet: Die Länder, die hier kluge Entscheidungen getroffen haben, die stehen besser da. Weil Sie diese Analyse nicht haben tätigen können und weil Sie diesen Sachverhalt nicht haben erkennen können, sind auch Ihre Schlussfolgerungen aus Ihrer – wie ich sagte – Schrottanalyse falsch.
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Herzlichen Dank. Das war jetzt das Ende meiner Antwort.
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Ich habe mit großer Freude vernommen, dass es hier demokratische Fraktionen gibt, die zum Beispiel gerade nicht in der Regierung sitzen und die trotzdem verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat; denn dieser Krieg hat für jeden von uns in diesem Hause eine neue Realität geschaffen, für viele Menschen in diesem Land, für viele Menschen in Europa. Deswegen bedeutet das für uns alle auch, dass wir das Set an Maßnahmen, das wir grundsätzlich hier im Raum am liebsten vorschlagen, überprüfen müssen und auf diese neue Realität schnellstmöglich anpassen müssen. Ich freue mich deshalb besonders, dass mindestens eine Fraktion hier im Hause schon sehr deutlich erklärt hat, diese Beratungen konstruktiv begleiten zu wollen. Ich kann für uns zusagen, dass wir konstruktiven Vorschlägen sehr offen gegenüberstehen und dass wir uns insbesondere freuen, dass hier auch im Verfahren Zugeständnisse gemacht worden sind. Das ist nicht selbstverständlich, aber es zeigt, dass in einer so schweren Stunde wie der, in der wir uns jetzt gerade befinden, in diesem Haus klar zu unterscheiden ist zwischen den Fraktionen, die bereit sind, Verantwortung für dieses Land zu übernehmen, und den Fraktionen, die nicht bereit sind, Verantwortung für dieses Land zu übernehmen. Die, die es nicht sind, die sollten dann für dieses Land bitte auch niemals Verantwortung übernehmen dürfen.
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Wir regeln mit diesem Gesetz viele wichtige Maßnahmen. Wir nehmen erstmals die Gasspeicher in die kritische Infrastruktur auf; wir haben das Gasspeichergesetz schon vor einigen Wochen beschlossen. Es ist sehr wichtig, dass die Gasspeicher jetzt auch in die kritische Infrastruktur hineinkommen. Es ist zudem wichtig, dass wir endlich auch mit der Digitalisierung Schritt halten. 1975 konnte man noch nicht sehen, was man heute an Daten generieren kann und auch braucht, um kluge Entscheidungen zu treffen.
Wir alle hier zusammen sind für den Energiemarkt der Schiedsrichter. Der Schiedsrichter ist der, der das Spiel am Laufen hält. Er ist derjenige, der dafür sorgt, dass zum Beispiel Wettbewerb auch in schwierigen Zeiten funktionieren kann. Genau diesen Wettbewerb schützen wir mit diesem Instrument. Deswegen ist es für uns als Freie Demokraten selbstverständlich: Jeder, der kritische Infrastruktur in Deutschland gegen die deutschen und europäischen Interessen missbraucht, der kann nicht weiter Eigentümer dieser kritischen Infrastruktur sein, meine Damen und Herren.
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Dazu gibt es zwei ganz konkrete Maßnahmen: Das eine ist die Treuhänderschaft, und das andere ist die Ultima Ratio – die Enteignung. Glauben Sie mir: Als liberaler Volkswirt war es im letzten Jahr, als wir um diese Mandate hier gestritten haben, nicht meine Vorstellung, dass ich hier vorne stehen und Ihnen vorschlagen würde, dass in Deutschland möglicherweise Enteignungen notwendig sein würden.
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Die Tatsache, dass wir uns diesem Instrument trotzdem nähern, zeigt, was die neue Realität in diesem Land ist. Insbesondere die Kollegen auf der Rechten sollten sich selbst sehr kritisch überprüfen, ob sie eigentlich schon verstanden haben, was diese neue Realität für unser Land, für unsere Sicherheit ganz genau bedeutet.
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Für uns ist aber auch eines klar: Wenn eine solche Ultima Ratio angewendet wird, dann ist es zwingend erforderlich, dass Unternehmen, die die Eigentümerschaft wechseln, später auch wieder in private Hand kommen. Unsere Fraktion wird an dieser Stelle darauf dringen, dass eine Privatisierung an entsprechender Stelle folgen muss. Ich glaube, das gehört zur Fairness mit dazu: Wir wollen hier kein neues Instrument schaffen, um Staatswirtschaft zu betreiben, sondern wir schaffen hier ein Instrument, um den Wettbewerb und den Markt zu schützen. Deswegen freuen wir uns sehr auf die konstruktiven Beratungen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Und ich erteile das Wort Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der zentrale Satz dieses Gesetzentwurfs ist: die Möglichkeit einer Enteignung. Wir als Linke sagen: Kritische Infrastruktur gehört dauerhaft in die öffentliche Hand, und das ist, glaube ich, die richtige und wichtige Forderung in dieser Situation.
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Ich mache in meiner Rede natürlich gleich einen Unterschied zur Rede des FDP-Vertreters. Sie haben gerade gesagt: Wenn denn die Krise vorbei sein sollte, dann muss wieder reprivatisiert werden. – Das ist der falsche Weg; denn das wäre der gleiche Weg wie in der Finanzkrise. Damals wurden mit Steuergeldern die Banken gerettet. Dann wurde auf Kosten der Allgemeinheit eine Sicherheitsstabilität wiederhergestellt, und die Banken wurden wieder Privateigentum.
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So darf das nicht weitergehen, meine Damen und Herren!
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Wir befinden uns in einer Dauerkrise. Wir befanden uns schon vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine in einer Krise. Wir müssen doch aus der Abfolge der Krisen die Schlussfolgerung ziehen, dass wir die Verantwortung dauerhaft in der öffentlichen Hand haben müssen, damit wir die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land gewährleisten können. Reprivatisierung ist der falsche Weg, meine Damen und Herren.
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Sie haben in diesem Gesetzentwurf die Kosten des Gesetzes nicht beziffert. Warum nicht? Das ist eine Frage, die spätestens in den Beratungen des Gesetzes beantwortet werden muss. Oder soll es wieder so sein wie bei der Finanzkrise und der Coronakrise – die Rechnung wird der Bevölkerung nach der Krise vorgelegt? Das darf nicht sein; das können wir nicht akzeptieren.
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Meine Damen und Herren, die Energieversorger haben in den letzten Jahrzehnten das Gas billig in Russland eingekauft und teuer in Deutschland verkauft. Die Wuchergewinne wurden nie von der Bundesregierung abgeschöpft. Und in schlechten Zeiten sollen Spekulanten vom Staat, das heißt vom Steuerzahler, gerettet werden? Das ist nicht gerecht; das können wir nicht mitmachen.
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Die Energieeinkäufer dürfen nach diesem Gesetzentwurf immer noch Traumpreise von den Kunden verlangen. Wir fordern als Linke nicht nur eine staatliche Preiskontrolle, sondern auch eine Deckelung der Energiepreise, damit die Menschen ihr Leben noch finanzieren können.
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Vielleicht ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: In den USA wurde 1980 eine Zufallsgewinnsteuer eingeführt, und zwar im Zusammenhang mit dem damaligen arabischen Ölembargo. Da wurden die Mehrgewinne abgeschöpft. Und wenn das in den USA möglich ist, da frage ich Sie: Warum soll das in einem Land wie unserem nicht möglich sein?
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Meine Damen und Herren, die Menschen in unserem Land wissen in vielen Fällen nicht mehr, wie sie ihr Leben finanzieren sollen. Da brauchen wir wirklich wirksame Gegenmaßnahmen; Hilfspäckchen reichen nicht. Wir brauchen grundlegende Sicherheit, und wir brauchen grundlegende kritische Infrastruktur in öffentlicher Hand. Das Öffentliche macht unser Leben sicherer.
Vielen Dank.
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Zu seiner ersten Rede erteile ich das Wort Markus Hümpfer, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn vielleicht noch einmal klarstellen: Die Energiepolitik der vergangenen Regierungen war und ist breiter gesellschaftlicher Konsens. Und die Unabhängigkeit von fossilen Energien ist nicht dumm, sondern klug!
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Als ich am 24. Februar aufgewacht bin, habe ich gedacht, ich wäre im falschen Film; denn nur im Film sollten Kriege, Seuchen und Katastrophen zu sehen sein. Aber der Film, in dem wir uns befinden, ist Realität, und leider übertrumpft die Realität die Phantasie – nicht nur mit Flutkatastrophen, Hungersnöten oder Pandemien, sondern auch mit einem grausamen Angriffskrieg mitten im Herzen Europas.
Die Betroffenen können leider nicht einfach den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen. Selbst wenn wir uns wünschen, dass gewisse Dinge nur im Film zu sehen sind, müssen wir uns darauf vorbereiten, dass sie irgendwann auch Realität werden können. Ein ziemlich ernstes Szenario, auf das wir uns vorbereiten müssen, ist, dass wir eines Tages ohne russisches Gas auskommen müssen. Das kann von heute auf morgen passieren. Dann wird das Gas für Heizung und Produktion knapp, und die Bundesnetzagentur muss den Gasfluss regulieren. Einige hoffen dann vielleicht, dass der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, mit einem goldenen Schlüssel den Gashahn aufdreht und das Gas fair verteilt. Aber sind wir einmal ehrlich: So wird es nicht laufen. Deswegen sorgen wir mit diesem Gesetz vor.
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Klaus Müller sprach kürzlich davon, dass man in dieser Situation nur Entscheidungen treffen kann, die weniger falsch sind als andere. Ich möchte in dieser Situation auch nicht mit ihm tauschen. Ich will ihm aber mit diesem Gesetz etwas Wichtiges an die Hand geben: eine digitale Plattform. Denn um das Gas zu verteilen, muss man erst einmal wissen, wie viel Gas gebraucht wird und wofür. Diese Informationen werden künftig zentral von der Bundesnetzagentur gesammelt und digital verwaltet, und das wird uns in Zukunft fundierte Entscheidungen im Krisenfall ermöglichen, meine Damen und Herren.
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Wenn das Gas zugeteilt wird, muss es aber immer noch jemand bezahlen. Dafür gibt es bisher noch kein Drehbuch. Können die Importeure den zu erwartenden Preisanstieg nicht weiterreichen und gehen deshalb insolvent, kommt gar kein Gas mehr an. Deswegen haben wir in diesem Gesetzentwurf festgelegt, dass der Preisaufschlag weitergereicht werden kann. Aber dafür legen wir ganz enge und transparente Kriterien fest; denn klar ist: Niemand soll sich an der Not anderer bereichern.
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Sicher ist aber auch: In dieser Situation werden die Preise steigen, und wir müssen soziale Härten abfangen. Aber das ist nicht Kern dieses Gesetzes. Dieses Gesetz regelt die sichere Energieversorgung. Ich spreche bewusst von „Energie“; denn absehbar soll es auf alle relevanten Energieträger angewandt werden. Dieses Gesetz sorgt dafür, dass auch in der akuten Krisensituation alle Haushalte in Deutschland weiterhin im Warmen einen Film schauen können, und es hilft uns, uns vor politischer Erpressung zu schützen. Damit stärkt es unsere Position für die derzeit größte Herausforderung Europas, anderen zu helfen, aus ihrem Horrorfilm aufzuwachen, der am 24. Februar über sie hereingebrochen ist.
Vielen Dank.
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Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat zu einer angespannten Situation im Energiemarkt geführt. Die Preise sind hoch, die Unsicherheit ist groß, die Risiken sind nach wie vor groß und auf jeden Fall vorhanden. Das wissen wir alle.
Gerade jetzt ist der Blick auf die Versorgungssicherheit wichtig. Die russischen Gasmengen müssen so schnell wie möglich durch andere Potenziale substituiert werden. Aber auch die kritische Infrastruktur in Deutschland muss aufrechterhalten bleiben. Sollte es eine Gefährdung oder Störung der Energieversorgung geben, müssen Handlungsmöglichkeiten zur Krisenbewältigung und auch zur Prävention geschaffen werden. Das ist mit diesem Gesetzentwurf intendiert. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir das Vorgehen vom Grundsatz her aus staatspolitischer Verantwortung heraus unterstützen.
Bei Gazprom Germania war es nur zufällig durch das Außenwirtschaftsgesetz möglich, das Unternehmen unter Treuhandschaft zu stellen. Die Rechtsgrundlage für solche Fälle muss also breiter aufgestellt sein. Auch dazu soll die Reform dienen. Treuhandmodelle werden ermöglicht, wenn Unternehmen ihren Aufgaben nicht mehr hinreichend nachkommen können oder wollen und dadurch eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit droht. Als Ultima Ratio – es wurde schon gesagt –, wirklich nur im äußersten Fall, wenn keine milderen Mittel vorhanden sind, muss es auch möglich sein, staatliche Beteiligungen oder auch Enteignungen zu ermöglichen. Ich möchte aber an dieser Stelle sagen: Hier muss das Gesetz noch konkreter werden, und die dann eventuell verstaatlichten Unternehmen müssen natürlich sukzessive auch wieder privatisiert werden.
In Zukunft muss eine Stilllegung von Gasspeicheranlagen angezeigt und von der Bundesnetzagentur genehmigt werden. Das ist im Sinne der Versorgungssicherheit zu begrüßen. Die Bundesregierung soll zur Umsetzung der Krisenmaßnahmen digitale Plattformen errichten können. Ein besserer Überblick über die Frage, wo sich der Energieeinsatz im Krisenfall schnell reduzieren lässt, ist natürlich notwendig und sinnvoll. Da drängen wir auch gerne darauf, dass die Fertigstellung dieser Plattform schon vor dem 1. Oktober möglich sein könnte. Es gibt also auch hier Unterstützung, aber eben auch den Willen und den Auftrag, da etwas schneller zu sein.
Wenn es um die Preisfindung geht, dann sieht das Gesetz in § 24 auch hier etwaige Eingriffe vor. Wir sind der Meinung, dass dieser Paragraf noch zu prüfen ist. Diese Eingriffe könnten im schlechtesten Fall sogar kontraproduktiv hinsichtlich der Versorgungssicherheit sein. Ebenso gibt es noch Unklarheiten bei der Aufteilung etwaiger Zuständigkeiten zwischen den Ländern und der Bundesnetzagentur.
Insgesamt brauchen wir noch deutlich mehr Transparenz, deutlich mehr Information und auch deutlich mehr Einbeziehung bei allem, was das Parlament, aber natürlich in dem Kontext auch die Opposition betrifft.
Wir wollen auch wissen, ob es schon konkrete Fälle gibt, wo die Regelungen denn zum Einsatz kommen könnten. Übrigens ist eine Einbeziehung der Länder bei einem Gesetz mit so weitreichenden Auswirkungen wichtig und notwendig, und auch darauf werden wir drängen.
Wenn wir Ihnen beim Verfahren entgegenkommen, dann müssen Sie das auch entsprechend mit Beteiligung, aber auch mit anderer Wertschätzung honorieren. In dem Sinne freuen wir uns auf die Beratungen, die wir konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Bengt Bergt von der SPD-Fraktion ist der letzte Redner in der Debatte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wir hören hier schon wieder von der AfD die gleiche Leier von der Atomkraft – immer wieder, immer wieder. Unser Problem ist die Wärme – Sie haben offensichtlich nicht zugehört –, und da helfen auch alle möglichen Stromlieferungen nichts, wenn wir keine Elektrokessel haben, um die Wärme herzustellen. Daran arbeiten wir. Wir bauen das aus.
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Aber noch brauchen wir Gas, am besten CO2-neutral. Auch das bauen wir gerade aus,
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aber noch importieren wir Gas zu einem großen Teil von dem Regime, das diesen Krieg zu verantworten hat und Energiepolitik gezielt als Waffe einsetzt. Das zeigt nicht zuletzt Russlands Importstopp gegenüber Polen und Bulgarien. Aber einen Teil der Lieferungen nach Polen ersetzt Deutschland bereits, und Griechenland hat Bulgarien Hilfe zugesichert. Meine Damen und Herren, das ist gelebte Solidarität in Europa in diesen schweren Wochen und Monaten.
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Auch um diese Solidarität zu sichern, schützen wir die Energieversorgung in Deutschland und Europa. Mit dem Update des Energiesicherungsgesetzes bringen wir den Instrumentenkasten unseres Staates auf die Höhe der Zeit. Als Demokratie sind wir im Gegensatz zu einem autokratischen Regime aber an verfassungsrechtliche Schranken gebunden. Verträge müssen gelten, und Gewalt darf niemals ein Mittel politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Auseinandersetzung sein. Als Demokratie können wir unserem Staat aber einen gut bestückten Werkzeugkasten an die Hand geben, um sich zu wehren und seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Ein wehrhafter Staat ist ein starker Staat, meine Damen und Herren, und dafür steht die Ampelkoalition.
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Mit dem Gesetz, das wir heute auf den Weg bringen, schaffen wir Rechtssicherheit und Berechenbarkeit für die Akteure am Markt. Vier Kernbotschaften möchte ich hervorheben.
Erstens. Wir sorgen vor. Sollte eine Gefährdung der Energieversorgung bestehen, erhalten Bund und Länder weitgehende Handlungsmöglichkeiten, unter anderem zur Einsparung von Gas und Öl. Das ist der Schraubendreher, mit dem wir feinjustieren können.
Zweitens. Wir handeln besonnen. Wir wollen den Markt ja nicht abwürgen. Da, wo der Markt die Energieversorgung regeln kann, soll er das ruhig tun; das ist in Ordnung. Da aber, wo das nicht funktioniert, kann der Staat dann eingreifen: durch das Verbot, benötigte Gasspeicher stillzulegen. Das ist im Werkzeugkasten quasi die Klemme, die wir brauchen, um Kapazitäten am Markt zu halten. Wenn es nötig ist, legen wir auch den Schraubstock an: durch eine treuhänderische Verwaltung von Energieunternehmen durch den Staat. Und als absolute Ultima Ratio müssen wir auch zur Brechstange der Enteignung greifen können, und zwar nicht, damit es im linken Ohr klingelt, sondern nur dann, wenn die Sicherung der Energieversorgung nicht anders gewährleistet werden kann.
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Für uns ist klar: Ein von Russland angezettelter Energiekrieg darf nicht zur Energienot führen, meine Damen und Herren.
Drittens. 4 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt allein an der Nutzung von Erdgas. Das Energiesicherungsgesetz ist damit auch ein Arbeitssicherungsgesetz. Es gibt unserer starken Volkswirtschaft damit die nötige Ausdauer in der Auseinandersetzung mit Putins Regime.
Und viertens. Wir sind solidarisch mit unseren europäischen Nachbarn. Die Instrumente dieses Gesetzes muss Deutschland auch dann anwenden können, wenn ein Mitgliedstaat der EU Energieprobleme bekommt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Auch dafür schaffen wir die nötigen rechtlichen Voraussetzungen; denn eins muss klar sein: Gerade in diesen schlimmen Tagen muss Energiepolitik auch immer ein Zeichen europäischer Solidarität sein, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich Mafioso wäre, würde ich in Deutschland investieren – das sagt Roberto Scarpinato, ein Mafiajäger aus Palermo. Ausgerechnet in Deutschland? Wer hätte das gedacht? Aber ja, schätzungsweise 20 Milliarden Euro werden pro Jahr in Deutschland alleine im Immobiliensektor gewaschen. Das ist schmutziges Geld aus Waffenhandel, Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Prostitution. Deutschland gilt als Paradies für Geldwäsche. Das darf nicht sein. Hier muss endlich etwas geschehen.
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Das hängt ganz zentral damit zusammen, dass die Eigentumsverhältnisse im Immobiliensektor in Deutschland im internationalen Vergleich besonders intransparent sind. Das ist einer der Gründe, warum wir als Linke fordern, endlich ein zentrales Immobilienregister einzurichten.
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Das ist sehr wohl nicht das einzige Instrument gegen Geldwäsche. In der vergangenen Legislaturperiode hatten die Fraktion Die Linke und auch die Grünen viele Forderungen vorgelegt, zu Recht; aber die Einrichtung eines zentralen, transparenten Immobilienregisters ist eben die Voraussetzung dafür, dass wir die anderen Instrumente nutzen können. Deswegen muss es jetzt, zu Beginn der Legislaturperiode, geschehen.
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Als Wohnungspolitikerin weiß ich: Luxemburgische Briefkastenfirmen, Anwaltskanzleien aus Zypern, United Limiteds von den Kanalinseln, bei allen ist der deutsche Immobilienmarkt sehr beliebt. Sie treiben die Preise nach oben, weil es ihnen möglich ist, deutlich mehr Geld auf den Tisch zu legen als zum Beispiel eine vierköpfige Familie mit einem kleinen Einkommen. Das ist ungerecht, und deswegen muss auch aus wohnungspolitischer Sicht hier endlich etwas passieren.
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Die Bundesregierung wollte am Ende der letzten Legislatur endlich etwas dagegen tun. Sie hat das eigene Forschungsinstitut damit beauftragt. Aber siehe da, selbst die Bundesregierung und ihre Institute wissen gar nicht, wem dieses Land gehört. Deswegen muss man sich bei kritischen Journalistinnen und Journalisten darüber informieren, wem die Städte eigentlich gehören. Das, meine Damen und Herren, ist ein unhaltbarer Zustand.
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Deutschland macht aus dem Grundbuch ein Geheimnis wie die Schweiz aus ihren Bankkonten. Wir brauchen endlich mehr Transparenz auf den Immobilienmärkten.
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Der dritte Grund, warum wir hier ein zentrales Immobilienregister fordern, ist tatsächlich der aktuelle Krieg in der Ukraine und die Notwendigkeit, schnell und zügig gezielte Sanktionen gegen russische Oligarchen zu verhängen. Aber schauen wir uns die Zahlen an, die im März vorgelegt wurden: In Belgien sind Vermögen in Höhe von 10 Milliarden Euro eingefroren worden, in Italien waren es mehrere Hundert Millionen Euro und in Deutschland gerade mal 95 Millionen Euro. Auch das kann nicht sein. Wer an einem völkerrechtswidrigen Krieg verdient, wer sich am System Putin bereichert, dem soll Deutschland nicht als sicherer Ort für Immobilien gelten.
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Auch dafür brauchen wir ein zentrales Immobilienregister. Das „Wohnopoly“ muss endlich beendet werden.
Vielen Dank.
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Sebastian Fiedler, SPD-Fraktion, ist der nächste Redner in der Debatte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel Richtiges ist gesagt worden, was den Befund angeht. Ich will versuchen, ihn noch ein bisschen deutlicher und pointierter herauszustellen. In der Tat ist es aktuell so, dass es zahllose Immobilien in Deutschland gibt, bei denen wir nicht wissen, wer die wirtschaftlichen Eigentümer sind. Das ist schlicht und ergreifend inakzeptabel. Darüber sind wir uns hoffentlich alle einig.
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Die grundlegenden Zusammenhänge will ich noch ein bisschen breiter darzulegen versuchen. Es geht in der Tat nach allen Schätzungen, die wir kennen – so viele Untersuchungen gibt es dazu nicht –, um etwa 100 Milliarden Euro, die jedes Jahr hier kriminell erwirtschaftet und potenziell gewaschen werden. 100 Milliarden Euro? Da könnte es bei der einen oder dem anderen klingeln: Das ist exakt das Sondervermögen, das wir hier beschlossen haben. Es würde also ausreichen, wenn es uns ein Jahr lang gelänge, alle kriminellen Erlöse einzuziehen; dann könnten wir uns die ganzen Debatten über die Bundeswehr jetzt gerade sparen. Ich sage das, um die Themen in ihrer Dimension mal zueinander ins Verhältnis zu setzen.
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Dabei geht es um handfeste Drogenkriminalität, Rauschgiftkriminalität. Aber bei Rauschgiftkriminalität geht es nicht nur um Rauschgift. Wie wir aus den Encrochats wissen, geht es dabei um Mordaufträge, um Folter, es geht um Waffen, auch Kriegswaffen, die dort gehandelt werden, es geht um Tonnen von Rauschgift, es geht um große Kriminalitätsfelder wie Produkt- und Markenpiraterie – es wird gefälscht vom Airbag bis zur Kettensäge –, es geht um das riesengroße Kriminalitätsphänomen der Umweltkriminalität – das drittgrößte –, es geht um Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft, es geht um Betrug, um Cyberkriminalität; ergänzen Sie selbst. Etwa zwei Drittel der Kriminalität wird nur deswegen begangen, weil es die Täter auf Eigentum oder Vermögen ihrer Opfer abgesehen haben. Der entscheidende Zusammenhang ist, dass die Ermittlungsbehörden bisher nur 1 Prozent dieser Vermögen – maximal – überhaupt zu Gesicht bekommen. Transparency International sagt in einer Studie – das ist der entscheidende Zusammenhang –: 15 bis 30 Prozent dieser Erlöse landen in Immobilien. – Das ist der eine Begründungszusammenhang, warum wir uns intensiv um diese Fragen kümmern müssen.
Der zweite ist richtig aufgemacht worden: In der Tat geht es natürlich um die Sanktionen und die Frage, wie gut wir sie durchsetzen könnten. Uns liegen, ehrlich gesagt, schon seit vielen Jahren gute Erkenntnisse vor, welche Rolle hier russische Vermögenswerte spielen. Es hat einen Sonderausschuss im Europäischen Parlament gegeben, den Krim-Ausschuss, der sich mit organisiertem Verbrechen, Korruption und Geldwäsche beschäftigt hat. Der TAX3-Ausschuss insbesondere hat wirklich handfeste Befunde zutage geliefert. Es gibt in Teilen anekdotische Evidenz aus dem Freistaat Bayern: Da hat es 2013 durch Finanzminister Söder den Verkauf von 33 000 Wohnungen mit 85 000 Mieterinnen und Mietern gegeben. Da wussten die Mieter nicht, wem ihre Wohnungen tatsächlich gehören. Im Umfeld gab es Geldwäscheverdachtsmeldungen, die einschlägig bekannte russische Personen enthielten. Am Ende ermittelte allerdings niemand, obwohl es die Ermittlungsbehörden eigentlich wollten. – Das alles müsste tatsächlich nicht sein, wenn wir uns mit dem Rat aus der Fachwelt intensiver befassen und Transparenz herstellen würden, weil Transparenz zum einen den Ermittlungsbehörden helfen würde, auch bei den aktuellen Sanktionen, und zum anderen der größte Feind der Geldwäscher ist.
Allerdings – an der Stelle reißt Ihr Antrag ein bisschen ab – sind wir in den Debatten schon 3 Meter weiter. Erstens sind wir intern weiter, weil sich die Taskforce mit diesen Fragen beschäftigt, und zweitens führen wir auf europäischer Ebene schon Debatten darüber, dass wir uns – in der Zielsetzung jedenfalls – auf den Weg machen müssen, die verschiedenen Registerlösungen, die es gibt, miteinander zu verknüpfen. Das Stichwort lautet „Vermögensregister“. Das ist es, was wir eigentlich brauchen, erst recht aus der Perspektive der Ermittlerinnen und Ermittler. Das heißt, wir müssen uns in der Zielsetzung darüber einig werden, dass wir hier ein besseres Transparenzregister benötigen und dass die Register auf europäischer Ebene miteinander vernetzt werden müssen. Wir müssen uns darüber einigen, dass wir in der Tat zentral abfragbare Immobilienregister benötigen. Und wir brauchen die Kontenabrufinformationen. Mindestens diese drei Bausteine gehören zueinander.
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Das sind nicht die einzigen Bausteine. Ich freue mich darüber, dass die SPD-Fraktion, glaube ich, die einzige Fraktion ist, die sich ausschussübergreifend schon seit Februar mit diesen Fragen befasst. Wir gucken tatsächlich breiter auf die Fragen, die mit schmutzigem Geld zu tun haben, nicht nur aus der Perspektive der Transparenz, sondern durchaus auch vor dem Hintergrund der Frage: Wie gehen wir in Deutschland eigentlich mit verdächtigen Vermögenswerten um? Dazu gibt es einen ganz guten legislativen Vorschlag von drei klugen Professoren, die sagen: Es gibt bestimmte Kriterien, die der Rechtsstaat hier definieren kann. Weil schmutziges Geld eine Gefahr für unsere Rechtsordnung ist, darf die Eigentumsgarantie hier nicht gelten. Und sie sagen: Wenn wir bestimmte Kriterien für schmutziges Geld und schmutziges Vermögen haben, dann muss der Staat ab einer bestimmten Größenordnung einen Auskunftsanspruch generieren können, um dann zu sagen: Wenn der nicht befriedigt wird, dann zieht der Staat dieses Vermögen ein. – Das ist eine Debatte, die wir zumindest in der Fraktion aktuell führen, von der ich mir wünsche, dass wir hier auch breiter voranschreiten.
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– Applaus von der Fraktion der Linken, immerhin.
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– Ich weiß noch nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. In der Tat mache ich mir darüber Gedanken.
Aber der entscheidende Punkt ist – und da sollten wir uns alle einig sein: Wir müssen diese ganzen Anonymisierungsstrategien tatsächlich aufhellen, und deswegen ist Transparenz ein Kernelement, das Ermittlerinnen und Ermittlern nicht nur bei Sanktionen, sondern auch bei schmutzigem Geld, bei Parteienfinanzierung – wenn ich hier in manche Richtung gucken darf – durchaus sehr helfen würde; wir hätten dann viel mehr Erkenntnisse als in der Vergangenheit. Also, diskutieren Sie das mit uns so, wie wir das in der Fraktion jetzt schon voranzutreiben versuchen!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner: Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten einen Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordert ein zentrales Immobilienregister. Die Forderung kommt uns recht bekannt vor. Sie haben es ja schon mal versucht, unter Rot-Rot-Grün in Berlin über den Bundesrat. Da sind Sie gescheitert. Jetzt versuchen Sie, es über den Bundestag noch mal aufzuwärmen.
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Sie haben den Antrag etwas ergänzt – das will ich Ihnen zugutehalten – und zwei Sätze zu Ihrem Lieblingsthema Enteignungen eingefügt. Sie haben auch die Begründung ein bisschen an die aktuelle politische Großwetterlage angepasst. Jetzt soll ein zentrales Immobilienregister plötzlich auch deshalb eingeführt werden, um besser gegen russische Oligarchen vorgehen zu können. Ausgerechnet Die Linke will nun Putins Freunden an den Kragen. Das glauben Sie doch selbst nicht.
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Linksradikale und Rechtsradikale in diesem Hohen Haus sind vielmehr seit Jahren Putins Propagandaschleuder hier im Deutschen Bundestag.
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Prominente Vertreter aus der Fraktion Die Linke hatten bis zuletzt den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine verteidigt. Sie haben Täter-Opfer-Umkehr betrieben.
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Sie haben Verschwörungstheorien über den russischen Mordversuch an dem Oppositionellen Nawalny verbreitet. Sie haben unsere Bundeswehr verächtlich gemacht. Sie haben unserem Verteidigungsbündnis NATO Kriegstreiberei unterstellt. Sie haben deutschen Medien vorgeworfen, Lügenmärchen des US-Geheimdienstes zu verbreiten. Und Sie haben die berechtigten Sorgen unserer osteuropäischen Nachbarn kleingeredet.
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Es ist grotesk, dass ausgerechnet Sie uns weismachen wollen, mit Ihrem Immobilienregister russischen Oligarchen ans Leder zu wollen.
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Auf wessen Seite Sie tatsächlich stehen, das erfahren wir immer wieder. Nachdem Russland die Krim überfallen hat und Separatisten im Donbass von Russland aufgerüstet wurden, reisten Abgeordnete Ihrer Fraktion sogar zu diesen Warlords in die Ostukraine und machten mit ihnen Propagandafotos. Noch am Sonntag vor dem russischen Einmarsch im Februar hatte Ihre Kollegin Wagenknecht aus der Fraktion Die Linke in einer Talkshow wörtlich gesagt:
Wir können heilfroh sein, dass Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird: ein durchgeknallter Nationalist, der sich berauscht, Grenzen zu verschieben.
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Doch, Frau Wagenknecht, diese Darstellung ist exakt richtig. Und es war auch damals nicht das erste Mal, dass Putin Grenzen verschoben hat. Dies alles steht exemplarisch dafür, wie Die Linke Putins Russland absichtlich verklärt hat.
Das Schlimmste ist: Sie haben aus Ihren Fehlern nicht gelernt, indem Sie der Ukraine noch immer lebensnotwendige Hilfe versagen wollen. Kein einziger Abgeordneter Ihrer Fraktion hat gestern dem gemeinsamen Antrag von Ampelkoalition und Union zugestimmt, der Ukraine umfassende Hilfe zukommen zu lassen. Erst gestern hat Ihre Obfrau im Auswärtigen Ausschuss, Frau Dağdelen, diese Hilfe für die Ukraine als – Zitat – „faktischen Kriegseintritt“ bezeichnet, Ampel und Union als „Kriegskoalition“ tituliert und zum Widerstand aufgerufen. Sie betreiben Angstmacherei und Putin-Propaganda in Reinform.
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Allein Putins Regime entscheidet darüber, wen Russland zur Kriegspartei macht. Wenn Russland die Waffen niederlegt, endet der Krieg. Wenn die Ukraine die Waffen niederlegt, gibt es keine Ukraine mehr, und Putin wird sich neue Opfer suchen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Natürlich müssen wir Sanktionen gegen russische Oligarchen besser durchsetzen. Aber dafür braucht niemand Tipps der Linken; denn Sie sind Teil des Problems, Sie sind kein Teil der Lösung. Wir haben in den letzten Jahren umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche im Immobiliensektor auf den Weg gebracht. Wir sehen aktuell, dass viele EU‑Partner deutlich erfolgreicher als Deutschland agieren, was das Einfrieren von Vermögenswerten der Profiteure des Systems Putin angeht.
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie ein sogenanntes Sanktionsdurchsetzungsgesetz prüfe. Es dürfte Konsens sein, dass es erhebliche Schwachstellen bei der Durchsetzung der Sanktionen gibt. Die Prüfung sollte nun endlich in einen konkreten Gesetzentwurf münden. Wir als Union werden ein solches Sanktionsdurchsetzungsgesetz konstruktiv begleiten. Wir können auch über eine grundlegende Reform des Grundbuchwesens sprechen, wenn die Reform durchdacht ist und zur effektiven Durchsetzung der Sanktionen notwendig ist. Wir wollen nämlich keine bürokratischen Doppelstrukturen.
Wir wollen, dass der Datenschutz gewährleistet bleibt. Wir wollen, dass unbescholtene Immobilienbesitzer nicht dadurch in den Fokus von Kriminellen geraten können. Und wir wollen, dass die Maßnahmen zielgerichtet und hart die treuesten Unterstützer des kriminellen Putin-Regimes treffen. Das gewährleistet der Antrag der Linken nicht. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Die nächste Rednerin in der Debatte: Hanna Steinmüller, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hauer, in der Schule hätte man gesagt: Thema verfehlt.
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Eigentlich geht es in diesem Tagesordnungspunkt um das zentrale Immobilienregister, nicht um Ihre Aversion gegenüber der Linkspartei. Offensichtlich wollten Sie nichts zum zentralen Immobilienregister sagen; Sie haben in den letzten 16 Jahren ja auch nichts dafür getan. Das belastet die Mieterinnen und Mieter in diesem Land, und darum geht es eigentlich in dieser Debatte.
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Deutschland ist ein Geldwäscheparadies – das wissen wir, und das hat Ministerin Geywitz beim Auftakt vom Bündnis für bezahlbares Wohnen am Mittwoch auch noch mal bekräftigt –,
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und das ist ein Problem. Wir haben keinen Überblick, wem in Deutschland die Immobilien gehören. Es fehlt uns die Transparenz. Herr Fiedler hat schon auf die Verbrechen hingewiesen, die zur Geldwäsche führen.
Ich bin Wohnungspolitikerin; deswegen möchte ich meinen Blick auf die Mieterinnen und Mieter richten. Was bedeuten Geldwäsche und Intransparenz auf dem Mietenmarkt? Sie bedeuten für die Mieterinnen und Mieter, dass der verfügbare Bestand reduziert wird. Geldwäscher kaufen mit viel Geld Objekte in guten Lagen, also gerade da, wo Wohnraum knapp ist. Bei mir in Berlin-Mitte ist das ein sehr häufiges Phänomen. Die Menschen können ein Lied davon singen. In jeder Bürgersprechstunde beschweren sich Menschen bei mir, dass sie a) keine Wohnung finden, aber b) so viel leer steht. Das ist auch eine Folge der Intransparenz auf dem Wohnungsmarkt. Da müssen wir ran.
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Die zweite Folge ist: Geldwäsche und Intransparenz führen zu steigenden Preisen. Die Geldwäsche auf dem Immobilienmarkt in Deutschland trägt dazu bei, dass sich die Preisspirale weiterdreht, weil Geldwäscher im Zweifelsfall bereit sind, viel höhere Preise zu zahlen; denn es geht eben nicht darum, eine Wohnung zu vermieten, sie zu bewirtschaften, sondern es geht einfach nur darum, das Geld zu parken. Deswegen wirken diese Käufe preistreibend, und ehrliche Käuferinnen und Käufer zahlen drauf. Damit zerstört Geldwäsche im Immobiliensektor die Ziele von bezahlbarem Wohnraum.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gute Nachricht ist: Wir als Koalition kennen das Problem, und wir werden es angehen. Wir haben uns darauf geeinigt, die illegale Finanzierung von Immobilien durch geeignete Maßnahmen zu bekämpfen. Wir werden die Qualität der Daten im Transparenzregister verbessern, das Datenbankgrundbuch mit dem Transparenzregister verknüpfen, den Erwerb von Immobilien mit Bargeld – ich finde es unfassbar, dass das nach wie vor möglich ist – endlich verbieten und einen Sachkundenachweis für Maklerinnen und Makler einführen.
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Das alles tun wir für mehr Transparenz auf dem Immobilienmarkt. Wir werden uns im Ausschuss weiter mit dem Thema befassen. Wir haben viel zu tun. Ich freue mich, dass das in Bewegung kommt.
Vielen Dank.
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Fabian Jacobi, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner in der Debatte.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn, wie das gestern der Fall war, wir von der AfD einmal in demselben Sinne abstimmen wie die Fraktion am entgegengesetzten Ende des Hauses, also die Linkspartei,
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dann wird von manchen gerne die sogenannte Hufeisentheorie bemüht,
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also die Behauptung, obwohl an gegenüberliegenden Seiten angesiedelt, seien wir und die Kommunisten uns irgendwie doch ganz nah.
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Insofern ist es passend, wenn heute ein Antrag der Linksfraktion behandelt wird, der recht augenfällig die Absurdität dieser Theorie aufzeigt.
Was will dieser Antrag? Ein zentrales Immobilienregister, in dem private Lebensverhältnisse in Bezug auf Grundstücke gesellschaftlich transparent gemacht werden sollen. Ein nachdenklicher Mensch hat einmal angemerkt, in primitiven Stammesgesellschaften gebe es keine Privatsphäre; der Stammesangehörige lebe sein Leben unter den Augen und damit unter der dauernden Kontrolle der Dorfgemeinschaft. Der Grad der Zivilisiertheit einer Gesellschaft lasse sich demgemäß recht gut danach bemessen, inwieweit sie Individualität, also die Absonderung des Einzelnen vom Kollektiv, ermögliche und zulasse.
So erschließt sich auch, dass der Kommunismus, der den Menschen wesentlich als Funktionselement des Kollektivs begreift, eben nicht das Endprodukt eines gesellschaftlichen Fortschritts darstellt, sondern, im Gegenteil, eine Rückkehr in vorzivilisatorische Zustände, nur auf einer höheren Ebene.
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Diese grundsätzliche Einordnung sollte man sich zunächst vor Augen führen, bevor man die Einzelheiten eines solchen Antrags behandelt.
Womit wird der linke Ruf nach einer Ausweitung des Zwangs zur Offenbarung privater Verhältnisse begründet? Die Bekämpfung der Geldwäsche soll das Ansinnen legitimieren. An dem Zweck ist an sich wenig auszusetzen. Selbstverständlich kann das Recht auf Privatheit nicht absolut gesetzt werden, gibt es legitime Interessen der Allgemeinheit, die Eingriffe rechtfertigen können. Auch im hier betroffenen Bereich des Grundstücksverkehrs gibt es missbräuchliches und auch kriminelles Verhalten; das eine oder andere habe ich im Rahmen meiner Berufstätigkeit miterlebt.
Was übel aufstößt, ist die Bedenkenlosigkeit, mit der Die Linke das Unterbinden von in Teilbereichen vorhandenen Missständen zu einem flächendeckenden Angriff auf die Privatsphäre ausnutzen will.
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Der Antrag ist schlicht gehalten. Es gibt aber zum Bereich der staatlichen Erfassung, Speicherung, Weitergabe und Auswertung von Daten durchaus eine rechtliche Entwicklung, auch der Verfassungsrechtsprechung, die Anlass sein müsste, den Plan eines solchen Zentralregisters daraufhin zu untersuchen, ob das in dieser Form überhaupt zulässig ist. Der vorliegende Antrag lässt nicht erkennen, dass die Verfasser hier ein Problembewusstsein hätten.
Sie verweisen darauf, dass Ähnliches bereits im vergangenen Jahr durch die Linksregierung des Landes Berlin im Bundesrat eingebracht wurde. Was Sie nicht dazu sagen, ist, dass der Bundesrat den Antrag abgelehnt hat, nachdem sich der Rechtsausschuss des Bundesrates dagegen ausgesprochen hatte; er wird seine Gründe gehabt haben.
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Den Antrag zur Einführung eines Zentralregisters hat die Linksfraktion hier im Hause aber nicht einfach übernommen, nein, man war kreativ und hat noch einen zweiten Punkt hinzugefügt. Kurz gesagt, handelt es sich um die summarische Enteignung von Grundstücken, deren Eigentümer die angestrebte Offenlegung in dem Register verweigern. Dieser zweite Aspekt des Antrags ist zu abstrus, um darauf näher einzugehen; die Verfassungswidrigkeit steht ihm in Leuchtbuchstaben auf die Stirn geschrieben.
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Insgesamt handelt es sich bei diesem Antrag nach Inhalt und Niveau um linkspopulistischen Klamauk.
Die Antragsteller verweisen darauf, die Regierungsfraktionen der SPD und der Grünen forderten ebenfalls die Einrichtung eines solchen Zentralregisters. Man muss also befürchten, dass uns im Laufe der Legislatur auch noch ein Gesetzentwurf der Bundesregierung ereilt – aber vielleicht ist der dann ja von der fachlichen Qualität, um eine vertiefte Auseinandersetzung zu verdienen.
Ach ja, der Überweisung dieses Antrags in den Rechtsausschuss stimmen wir zu, auch wenn er es eigentlich nicht verdient.
Vielen Dank.
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Der Kollege Dr. Thorsten Lieb hat das Wort für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Lay, Ihre Einbringungsrede hat mir deutlich besser gefallen als der Antrag. Die Analyse, die Sie formuliert haben, ist ja richtig: Es besteht Handlungsbedarf. Nur kommt das in diesem Antrag – dazu gleich mehr – so nicht zum Ausdruck. Der Antrag, den die Linksfraktion hier stellt, ist einer von mehreren in dieser Woche nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“; haben wir alles schon mal gehört. Ich habe den Eindruck: Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, wird irgendwelche Bürokratie gefordert, werden neue Register gefordert oder wird, wie in diesem Antrag, an zweiter Stelle Enteignungsfantasien nachgegangen.
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Selbstverständlich besteht Handlungsbedarf, muss Geldwäsche effektiv und wirksam bekämpft werden.
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Wie man allerdings auf die Idee kommt, sie ausgerechnet mit einem zentralen Immobilienregister effektiv zu bekämpfen, Entschuldigung, das erklärt sich ehrlicherweise nicht. Das Register mag ja einem gewissen Voyeurismus dienen; aber Geldwäsche bekämpft man damit definitiv nicht effektiv.
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Mit dem Vorschlag, ein zentrales Immobilienregister einzuführen, stellen Sie vielmehr die Eigentümerinnen und Eigentümer unter einen Generalverdacht der Geldwäsche und der Kriminalität. Das ist, gelinde gesagt, natürlich absurd, und es ist eine Beleidigung derjenigen, die in Immobilien investieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dass es sich bei diesem Antrag offensichtlich um einen Schaufensterantrag handelt, sieht man schon daran, dass Sie noch nicht einmal die gesamte Begründung des im Bundesrat abgelehnten Antrags wiedergeben, sondern nur auszugsweise etwas herausziehen.
Aber eine Frage habe ich mir schon gestellt. Sie zitieren in dem Antrag zur Begründung, warum Deutschland ein Geldwäscheparadies sei, den Financial Secrecy Index. Man kann über das Thema reden; es ist ja vom Kollegen Fiedler zu Recht sehr breit – deswegen muss ich das nicht wiederholen – angesprochen worden. Aber haben Sie mal im Einzelnen geschaut, was diesen Wert trägt?
({4})
– Weiß ich jetzt nicht; kann ich jetzt nicht beantworten.
Aber: Die Kernfrage, um die es in dem Antrag geht, nämlich die Frage „Welche Daten sind öffentlich, transparent und zugänglich?“, trägt jedenfalls nicht, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Denn es ist weltweit weitgehend Standard, das so zu handhaben, wie wir das in Deutschland machen. Deswegen reden Sie an der Sache vorbei, wenn Sie ausgerechnet mit diesem Argument versuchen, die Notwendigkeit für Ihr Register zu begründen.
({5})
Viele Fragen bleiben nach der Lektüre Ihres Antrags offen: Wie verhält sich die Forderung nach dem Immobilienregister eigentlich zum Datenbankgrundbuch, das – es ist ein Digitalisierungsthema – im Zulauf ist, dessen Einrichtung aber leider viel zu lange dauert. Wollen Sie wirklich ein weiteres Register daneben? Dazu haben Sie nichts gesagt und nichts geschrieben.
Was mich am meisten verblüfft hat: Meinen Sie das wirklich ernst – dazu ist in der Begründung kein Wort gesagt worden –, dass Sie, wenn Auskünfte nicht erteilt werden, Enteignung fordern? Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist denn das für ein Verständnis von Rechtsstaat! Ich glaube, das muss im Lager der Linksfraktion noch ein bisschen geübt werden.
({6})
Am bemerkenswertesten ist aber, dass bei Ihnen, der antragstellenden Fraktion, offenbar noch gar nicht angekommen ist,
({7})
dass die Koalition bei der effektiven Bekämpfung von Geldwäsche längst eine weitere Stufe genommen hat.
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Ich empfehle an dieser Stelle, den Koalitionsvertrag zu lesen.
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Deswegen bin ich dankbar für den Antrag, weil er uns die Möglichkeit gibt, dazu im Einzelnen noch mal auszuführen:
Erstens. Wir fordern die Verknüpfung des Datenbankgrundbuchs mit dem Transparenzregister, um richtigerweise die Verschleierung der wahren Eigentümer von Immobilien zu beenden. Sehr verehrte Damen und Herren, effiziente Nutzung der vorhandenen und im Aufbau befindlichen Strukturen statt Schaffung neuer Bürokratie, das ist die Devise der Koalition, und daran werden wir weiter arbeiten.
({10})
Zweitens. Wir fordern einen Versteuerungsnachweis für gewerbliche Immobilienverkäufe aus dem Ausland.
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Drittens. Wir fordern das Verbot des Erwerbs von Immobilien durch Bargeld. – Das sind echte Handlungen, im Gegensatz zur Einführung eines weiteren Registers.
Viertens. Dieses Thema gehört richtigerweise auf EU-Ebene; denn natürlich macht Geldwäsche nicht vor Landesgrenzen Halt. Es ist ein gemeinsames europäisches Thema.
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Deswegen setzt sich diese Koalition dafür ein, dass die zentralen Geldwäschevorschriften endlich durch eine Verordnung in unmittelbar geltendes Recht umgesetzt werden, damit wir Organisierte Kriminalität europaweit effektiv bekämpfen, liebe Freundinnen und Freunde.
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Fünftens und letztens. Dazu braucht es natürlich auch eine effiziente Behörde. Deswegen unterstützt die deutsche Bundesregierung an dieser Stelle nachhaltig die von der Kommission vorgeschlagene Einsetzung einer Antigeldwäschebehörde. Weil wir als Koalition und als Bundesregierung das besonders ernst nehmen, wollen wir, dass diese Behörde nach Deutschland kommt, nach Frankfurt am Main. Ich hoffe, das tragen alle hier in diesem Hause mit.
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Sehr geehrte Damen und Herren, so wie gerade formuliert sieht effektive und wirksame Geldwäschebekämpfung im Jahr 2022 aus: digital, europäisch, vernetzt, ohne zusätzliche Bürokratiemonster – und ohne die Eigentümerinnen und Eigentümer von Immobilien einem Generalverdacht zu unterwerfen. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Susanne Hierl hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im heute vorliegenden Antrag – das haben wir schon gehört – geht es im Kern um die Bekämpfung der Geldwäsche, insbesondere durch den Kauf von Immobilien; so zumindest habe ich den Antrag verstanden. Nach Expertenschätzungen sind es 20 Milliarden Euro, die in diesem Bereich jährlich gewaschen werden. Das Geld kommt aus kriminellen Geschäften, wird in Immobilien investiert und so dem Wirtschaftskreislauf zugeführt.
Als Begründung für die Einrichtung eines zentralen Immobilienregisters wird angeführt, dass die Herkunft der Mittel und die Eigentumsverhältnisse nicht erkennbar sind und man auch viel verschleiern kann. Im Grundbuch gibt es auch keine Informationen dazu. Also muss als Lösung ein zentrales Immobilienregister her, welches sämtliche Informationen zu den Eigentümern enthalten und offenlegen soll.
Der vorliegende Antrag ist, auch nach eigenen Angaben, angelehnt an einen Bundesratsantrag des Landes Berlin aus dem Jahr 2021. Dieser Antrag wurde im Bundesrat abgelehnt. Jetzt wird der Antrag, wenn auch in leicht modifizierter Form, in den Bundestag eingebracht. Ich kann Ihnen nur sagen: Dadurch, dass Sie Dinge hundertmal wiederholen und mehrfach versuchen, sie einzubringen, werden sie weder besser noch richtiger.
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Ich lasse einmal außer Acht, dass Sie den Antrag einfach abgekupfert haben. Aber bedenklich finde ich die Forderung unter II., dass Sie nämlich, wenn die Informationen nicht so fließen, wie es gefordert ist, eine Enteignung vorsehen. Bei allem Respekt: Das ist ein Generalverdacht gegen alle, die Immobilien besitzen.
({1})
Sicherlich gibt es gute Gründe für die Forderung nach einem Immobilienregister, vor allem zurzeit, da wir uns anscheinend schwertun, die Sanktionen gegen die russischen Oligarchen durchzusetzen. Ich möchte Ihnen sagen: Das geht erstens nicht von heute auf morgen, und zweitens muss es gut vorbereitet sein. Außerdem ist schon viel passiert.
Wir haben 2017 das Transparenzregister eingeführt und zu einem Vollregister weiterentwickelt. Für bestimmte Fälle, die Bezug zu Deutschland aufweisen, müssen die wirtschaftlich Berechtigten ermittelt und offengelegt werden. Hier muss aber zunächst nachgebessert werden, wenn wir über andere Dinge nachdenken; denn fragt man die Menschen in der Praxis, die damit arbeiten, dann wird klar: Die Datenqualität des Transparenzregisters ist einfach schlecht. Ein Großteil der Daten ist nicht zu gebrauchen, und die Unstimmigkeitsmeldungen, die ankommen, sind kaum mehr zu bewältigen. Das liegt vor allem daran, dass die Angaben zu den ausländischen Firmen nicht passen, und das sind ja genau die, die wir finden wollen, weil sie diese undurchsichtigen Konstrukte wählen.
Wieso ist die Datenqualität noch so schlecht? Die Formulare sind einfach zu kompliziert, und wir haben auch keine Schnittstellen. Herr Kollege Fiedler, Sie haben von der Digitalisierung gesprochen. Wenn wir keine Schnittstellen haben, brauchen wir uns über alles andere nicht unterhalten; denn wenn Daten da sind, kann ich sie nicht übertragen; also muss ich sie noch mal generieren. Das führt bloß zu Frust. Und wir haben bisher auch keine Folgenabschätzung, ob sich die Ziele mit diesem Register überhaupt erreichen lassen.
Sie haben angesprochen, dass wir 100 Milliarden Euro erwirtschaften könnten. Ich möchte zu bedenken geben: Auch die Einrichtung wird Geld kosten. Die 100 Milliarden Euro werden Sie nicht sofort erzielen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen immer von Entbürokratisierung. Mit dem Antrag, den Sie eingebracht haben, schaffen Sie ein bürokratisches Monster, und das passt einfach nicht zusammen. Wir dürfen Prozesse nicht doppeln; wir sollen es ja vereinfachen.
Aus meiner beruflichen Erfahrung kann ich sagen: Es trifft meist die Falschen, wenn wir solche Monster schaffen, nämlich die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmer, die sich redlich verhalten. Es trifft nicht die, die sich Mittelsmännern oder komischer Konstrukte bedienen. Sie bleiben zum Schluss verschont. Gut gemeint ist leider nicht gut gemacht.
Zum Abschluss noch: Sie weisen in Ihrem Antrag darauf hin, Sie möchten die Dinge offenlegen – unter Verweis auf § 12 Grundbuchordnung in Analogie. Das heißt, wenn jemand ein berechtigtes Interesse darlegt, dann soll er Einsicht ins Register erhalten. Ich glaube, dieser Schutz reicht nicht aus. Rufen Sie mal beim Grundbuchamt an, und schauen Sie, wie schnell Sie Informationen bekommen! Ich glaube, so kann man das nicht machen. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Danke schön.
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Der Kollege Bernhard Daldrup hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst mal sagen: Herr Hauer, wir diskutieren ja wirklich kritisch miteinander; aber bei Ihrer Rede hatte ich heute den Eindruck, Sie sind bei der Russlandaussprache irgendwie nicht drangekommen.
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– Doch, doch, habe ich; aber ist okay. Ich fand es, was das Thema angeht, ehrlich gesagt, ein bisschen wenig.
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Ich bin den Linken, ehrlich gesagt, ganz dankbar dafür, dass wir das Thema noch mal aufgreifen, auch wenn man in der Sache und im Detail da gar nicht zustimmen muss. Ich glaube aber trotzdem, dass es wichtig ist.
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– Werden Sie nicht unverschämt! Ich mache meine Arbeit; da können Sie sicher sein. Werden Sie nicht unverschämt!
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Ich bin dem Kollegen Fiedler sehr dankbar, dass er den Kontext und den Zusammenhang zwischen der Kriminalität und Immobilien, den es geben kann, sowie das Gefährdungspotenzial dargestellt hat. Wenn Sie mal richtig überlegen, dann wird Ihnen, glaube ich, klar, dass mehr Transparenz ein Element zum Schutz der Immobilienwirtschaft und nicht die Fortschreibung des latenten Verdachtes ist, da würde etwas schieflaufen. Es ist genau umgekehrt zu dem, was Sie sagen.
({4})
Wir haben uns ja öfter damit beschäftigt und müssen die Frage beantworten: Ist Deutschland eigentlich ein Ort für Geldwäsche, gerade im Immobiliensektor? Ich finde es auch wirklich nicht ungewöhnlich, dass sich jemand nicht hinter einer Briefkastenfirma verstecken darf, wenn er eine größere Immobilie kauft. Ich finde es nicht ungewöhnlich, wenn Mieterinnen und Mieter einfach mal wissen wollen, wem das Haus, in dem sie leben, eigentlich gehört. Was ist denn daran, ehrlich gesagt, das Problem? Da ist Transparenz doch eine Antwort und nicht eine Herausforderung.
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Wir haben aber auch Konsequenzen gezogen – ich will das sagen – und im Koalitionsvertrag drei Verabredungen getroffen: Der Immobilienkauf mit Bargeld wird verboten, ausländische Käufer von Immobilien müssen in Zukunft einen Versteuerungsnachweis erbringen, und außerdem sollen die Grundbücher transparenter werden. – Herr Dr. Lieb hat noch einige Perspektiven aufgezeigt. Das ist, glaube ich, gut so.
Wir haben auch in der Vergangenheit etwas getan, Herr Hauer, auch gemeinsam – ich will das sagen –: Wir haben das Geldwäschegesetz verschärft, wir haben Makler verpflichtet, sich zu offenbaren, wenn es gilt, kriminelle Strukturen offenzulegen, und ähnliche Dinge mehr. Ein Teil ist dargestellt worden.
Aber dennoch: Die Verschleierung auf dem Immobilienmarkt müssen wir meiner Meinung nach beherzter stoppen. Es ist fraglich, ob die 100 Milliarden Euro – Frau Hierl hat die Schätzungen auch dargestellt – ausreichen; denn das Transparenzregister alleine ist nicht hinreichend wirksam; das ist dargestellt worden. Ich empfehle Ihnen mal den einen oder anderen Bericht der Deutschen Welle von gestern; dann können Sie das am Berliner Beispiel ganz deutlich sehen.
Über all diese Themen haben wir schon vor dem Ukrainekrieg gesprochen, und wir müssen jetzt erkennen, dass die Zeitenwende, Herr Hauer, auch auf diesem Sektor – auf dem Immobiliensektor –, verschärft durch den Krieg, durchschlägt. Denn trotz der Sanktionen gegen Russland werden in Deutschland offenbar kaum Oligarchenimmobilien beschlagnahmt.
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Das hat auch etwas mit dem fehlenden Wissen über Immobilien und Eigentümer zu tun.
Christian Lindner hat in der Debatte um die Zeitenwende eine fundamentale Wende vollzogen, die ich sehr respektiere. Er sprach bei den erneuerbaren Energien davon, dass das jetzt „Freiheitsenergien“ seien.
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Ich muss sagen: Das wäre ihm vorher wahrscheinlich nicht über die Lippen gekommen. Ich finde das mutig, und Ähnliches sollte uns im Kampf gegen die Geldwäsche, gegen Steuerhinterziehung, gegen Verschleierung auch möglich sein.
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Zentrale Register sind uns doch gar nicht unbekannt und fremd: Wir reden über Transparenzregister. Wir reden über Lobbyregister. Die Union legt immer Wert auf ein Impfregister. Sie wollen ein Register im Zusammenhang mit der Zuwanderung haben.
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Ich habe übrigens gar nichts dagegen. Aber warum fordern wir das nicht auch für den Immobiliensektor? Dort ist es für den Einzelnen eigentlich kein Problem, für den Staat aber sozusagen besonders wichtig. Warum eigentlich nicht?
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Weil Sie allen Leuten sozusagen sofort unterstellen, dass jeder, der Transparenz möchte, einer ist, der etwas Schräges im Schilde führt!
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Das ist Ihre Denkungsart, und die ist falsch. Das will ich an dieser Stelle noch mal sagen.
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Ich will es mal mit einer anderen Formulierung sagen: Es muss ein Ruck durch die Immobilienwirtschaft,
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durch den Immobiliensektor, auch durch die staatlichen Stellen gehen, um aktuell Oligarchen das Handwerk zu legen – aber eben nicht nur dafür.
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Wir haben auch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen, die wir fortführen, weil das zentrale Immobilienregister – das muss ich leider sagen – nicht von heute auf morgen entsteht. Damit verbunden ist ein eminenter bürokratischer Aufwand; es ist eine eminente Herausforderung, die aktuell nicht zu bewältigen ist. Das Ganze wird erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, und so lange sollten wir weitermachen mit anderen Fragen: mit der Verfügbarkeit von Grundstücken durch ein besseres Vorkaufsrecht, mit einer besseren Bodenpolitik, mit Steuerehrlichkeit statt Share Deals und natürlich mit der Bekämpfung der Geldwäsche sowie mit ähnlichen Dingen. Ich glaube, das werden ganz spannende Beratungen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Matthias Hauer [CDU/CSU]: Stimmen Sie dem Antrag jetzt zu oder nicht? – Gegenruf des Abg. Bernhard Daldrup [SPD]: Herr Hauer, wir stimmen heute hier der Überweisung des Antrags zu! Das ist doch der Gegenstand! Was machen Sie denn? Lehnen Sie sogar die Überweisung ab? – Gegenruf des Abg. Matthias Hauer [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen gesagt, was wir machen! – Gegenruf des Abg. Bernhard Daldrup [SPD]: Nichts Gescheites jedenfalls!
Sabine Grützmacher hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Hermine-Darstellerin Emma Watson eine Immobilie in Großbritannien über die lyrisch klingende Briefkastenfirma Falling Leaves kauft, um aus datenschutzrechtlichen Gründen ihre Identität zu verschleiern, dann kann man sich fragen, ob das vielleicht noch magische Steuertricks sind. Wenn aber Sanktionen gegen Oligarchen nicht durchgesetzt werden können, weil Eigentumsverhältnisse im Immobilienbereich nicht transparent vorliegen, dann zeigt die Realität deutlich die Baustellen und die Schlupflöcher.
({0})
Doch auch unabhängig von den Sanktionslisten muss die Bekämpfung von Geldwäsche im Immobilienbereich gestoppt werden; da sind wir uns einig. Ich schließe mich persönlich dem Transparenzfanklub da auch wirklich gerne an.
({1})
In der Vergangenheit wurde auch durch aktive Oppositionsarbeit einiges erreicht. Ein grüner Antrag zum Beispiel war 2019 Anstoß für eine Gesetzesänderung, dank der seit 2020 ausländische Käuferinnen und Käufer bei der Grundbucheintragung Namen und Adresse für das Transparenzregister angeben müssen – ein Erfolg. Auch die EU will mit der 6. Geldwäscherichtlinie hier nachziehen und dem deutschen Vorbild folgen.
({2})
Ist das ausreichend? Natürlich noch nicht. Denn Geldwäsche im Immobiliensektor verschwindet nicht wie von Zauberhand, sondern muss aktiv bekämpft werden. Die geplante datenschutzkonforme Verknüpfung eines Datenbankgrundbuchs mit dem Transparenzregister wird der Verschleierung der wahren Eigentümer und Eigentümerinnen endgültig die Tarnkappe nehmen. Wir setzen uns außerdem für eine unabhängige EU-Geldwäschebehörde mit Sitz in Frankfurt am Main ein; denn hiervon profitiert auch der Kampf gegen Geldwäsche zum Beispiel durch Missbrauch von Kryptoassets.
({3})
– Wunderbar.
Idealerweise wird die Bekämpfung von Geldwäsche aber schon im Vorfeld verhindert, zum Beispiel durch das Verbot des Erwerbs von Immobilien mit Bargeld – ein wirklich wichtiger Punkt – und die verpflichtende ladungsfähige Anschrift bei Änderungen im Grundbuch. Denn Geldwäsche im Immobilienbereich kostet den Staat nicht nur Milliarden; sie ist auch ein Preistreiber. Das sehen wir hier in Berlin, aber auch im ländlichen Raum; das sehe ich zum Beispiel auch bei mir im Oberbergischen Kreis.
({4})
Gut abgestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung sind notwendig. Mit unserem datensparsamen Modell der Verknüpfung von Datenbankgrundbuch mit dem Transparenzregister und technisch guten Recherchemöglichkeiten vermeiden wir Doppelstrukturen und verbinden Datenschutz mit effektiver Geldwäschebekämpfung. Denn nicht viel hilft viel, sondern die richtigen Daten helfen viel.
({5})
Wir freuen uns auf die weiteren konstruktiven Beratungen und stimmen der Überweisung zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an die vergangenen Debatten zu diesem Bundeswehrmandat zurückdenken, dann fällt uns auf: Wir haben über die Lage in Libyen sehr intensiv gesprochen. Das Mandat hängt ja direkt damit zusammen; denn sein Kernauftrag ist die Überwachung des Waffenembargos der Vereinten Nationen. Da gab es den Hoffnungsschimmer – nach so vielen Jahren des Blutvergießens, des Chaos und der Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien, die sich nicht einigen konnten –, dass es zu Wahlen kommen könnte, die dazu beitragen, dass es eine vom Parlament breit getragene, geeinte Regierung gibt.
Heute muss man leider feststellen, dass mit der Absage der Wahlen und einer Reihe von anderen Entwicklungen der Friedensprozess bestenfalls ins Stocken geraten ist. Trotz des VN-Waffenembargos, trotz der Vereinbarung sind nach wie vor ausländische Kämpfer und Söldner im Land, und es kommen auch immer wieder neue Waffen in diesen Konflikt.
Im Rückblick muss man auch feststellen, dass die mangelnde europäische Einigkeit an dieser Stelle ein gefährliches Vakuum hinterlassen hat, das nicht nur die Vereinten Nationen in ihrem jahrelangen Bemühen geschwächt hat, sondern das auch anderen Akteuren den Raum gegeben hat, mit Waffen, mit ausländischen Kämpfern nicht die Sicherheit der Menschen und die Stabilität in Libyen zum Ziel zu haben, sondern ihre eigenen geopolitischen Machtinteressen oder auch den Zugang zu Rohstoffen. Deshalb war es richtig, dass die Europäische Union sich vor einigen Jahren entschlossen hat, die Vereinten Nationen stärker zu unterstützen, und auch Deutschland hat daran einen entscheidenden Anteil.
({0})
Ein Aspekt dieses Engagements ist das Mandat, das heute hier vorliegt. Es geht nämlich darum, sicherzustellen, dass über den Seeweg nicht immer wieder neue Waffen nach Libyen in diesen Konflikt kommen. Jetzt kann man natürlich zu Recht sagen: Waffen kommen nicht nur über den Seeweg; sie kommen auch über den Luftraum, sie kommen auch über Land. – Das sollte aber keine Kritik an der Mission Irini sein, sondern uns eher dazu anhalten, mit den Vereinten Nationen gemeinsam zu überlegen, welchen Mechanismus wir finden können, um auch hier effektiver zu werden.
Was ich mir aber auch noch wünschen würde – da ist in den vergangenen Jahren einiges passiert, aber noch nicht genug –, ist, dass, wenn im Rahmen der Mission in Absprache mit den Vereinten Nationen Embargobrecher erkannt werden, sie dann auch offensiv benannt werden und es zu klaren Konsequenzen kommt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der Grund, warum wir als Grüne in der Opposition dieses Mandat nicht abgelehnt haben. Wir haben ihm aber auch nicht zugestimmt; denn – das ist etwas, was wir im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart haben – wir wollen noch einmal stärker, genauer, kritischer und sachlicher auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr schauen. Das kann im Einzelfall bedeuten, richtige Aufträge und sinnvolle Beiträge auszubauen und zu verstärken. Das kann aber auch an der ein oder anderen Stelle bedeuten, Komponenten, die hoch problematisch sind, zu verändern oder gar zu beenden.
Dafür ist auch diese Mission absolut ein gutes Beispiel, weil die Überwachung des Waffenembargos richtig ist. Aber was definitiv falsch war, ist die im alten Mandatstext vorgesehene Möglichkeit, die sogenannte libysche Küstenwache auszubilden.
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Und das ist auch aus guten Gründen nicht passiert. Herr Grübel, Sie wissen ganz genau, dass es eine Küstenwache in dieser Form nicht gibt; sie wird nicht staatlich kontrolliert. Wir reden in Teilen von Verbrechern, von Organisierter Kriminalität, von Schleppern. Wir kennen die Berichte von Amnesty International, in denen darüber berichtet wird, dass Boote abgedrängt werden, dass Menschen in Lager verschleppt werden, dass es Folter, sexualisierte Gewalt, die Versagung von medizinischer Versorgung von Kindern gibt. Das Auswärtige Amt hat selbst in Drahtberichten von – Zitat – „KZ-ähnlichen Zuständen“ gesprochen.
Ich bin der Außenministerin und der Verteidigungsministerin dankbar, dass sie diese Komponente, auch wenn sie in der Realität aus guten Gründen nicht stattgefunden hat, aus dem Mandatstext genommen haben.
({3})
Denn es muss doch klar sein, dass wir Menschenrechtsverletzer nicht ertüchtigen und ausbilden. Das hat auch was mit Mandatswahrheit und ‑klarheit zu tun.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf eine zweite Veränderung eingehen, die gerade in diesen Stunden besondere Bedeutung hat. Sie haben vielleicht gelesen bzw. gesehen, dass der Chef von Frontex wahrscheinlich zurücktreten wird, weil offensichtlich sehr schwerwiegende Vorwürfe im Raum stehen wie der, dass er illegale Pushbacks durch Frontex in der Ägäis vertuscht hat. Ich muss Ihnen sagen: Das ist ein absolutes Armutszeugnis. Das hat nichts mit internationalem Recht zu tun, und das hat auch nichts mit europäischen Werten zu tun. Das zeigt, wie viel Handlungsbedarf es auch in Europa angesichts der sehr hohen Zahl von Menschen, die auf dem Mittelmeer sterben, gibt. Da müssen wir insgesamt in Europa besser werden und mehr tun.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle: Es gibt das internationale Recht und die Verpflichtung zur Seenotrettung; das ist eine Selbstverständlichkeit. Im Rahmen der Vorgängermission von Irini, EUNAVFOR MED Sophia, hatte auch ich einmal die Gelegenheit, die Soldatinnen und Soldaten zu besuchen. Sie haben unfassbar viele Menschenleben gerettet; und mit welcher Überzeugung und auch Selbstverständlichkeit sie das aus sich heraus getan haben, das hat mich damals zutiefst beeindruckt. Ich möchte wirklich allen danken, ob in Uniform oder im Rahmen einer privaten Seenotrettungsinitiative, dass sie diese Menschenleben retten, und auch denjenigen, die sich dafür einsetzen, dass es in Libyen zu mehr Stabilität und Sicherheit kommt, damit nicht immer wieder neue Waffen ins Land kommen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, die Veränderungen, die die Bundesregierung in diesem Mandat vorgenommen hat, sie stehen eben dafür, dass beim internationalen Krisenmanagement der Auftrag der Bundeswehr darin besteht, Teil eines Friedensprozesses zu sein, dafür Sicherheit zu schaffen, Stabilität zu gewährleisteten, Menschen zu schützen und nicht Menschenrechtsverletzer und Verbrecher auszubilden.
Vielen Dank.
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Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anders als die ein oder andere Fraktion hier in diesem Hause wird die CDU/CSU-Fraktion ihre Haltung zu diesem Mandat nicht ändern müssen. Wir haben in der Arbeitsgruppe und in der Fraktion darüber beraten und uns entschlossen, dass wir diesem Mandat zustimmen.
Ich begrüße im Übrigen – das möchte ich an das anfügen, was meine Vorrednerin Agnieszka Brugger von den Grünen gesagt hat –, dass in der Grünenfraktion offensichtlich doch ein vernünftiger, kluger Pragmatismus mit Blick auf die Bewertung der Bundeswehr und ihrer Aufgaben sowie auf die Möglichkeiten, die auch robustes Vorgehen durchaus bietet, besteht. Das haben wir in dieser Woche ja an verschiedenen Punkten erlebt und nun jetzt auch bei diesem Mandat.
Ich möchte dennoch die zwei Punkte nennen, die uns an diesem Mandatstext in Form von Veränderungen gegenüber dem früheren Mandatstext beschweren. Ich glaube, dass wir da alle gemeinsam nacharbeiten und uns jenseits des Mandatstextes überlegen müssen, wie wir die so entstehenden Lücken schließen.
Auch wir waren der Meinung, dass die aktuelle libysche Küstenwache nicht ausgebildet werden kann. Das haben wir ja auch nicht getan. Aber es ist nun einmal Teil des EU-Mandats. Wir finden, dass es ein falsches Zeichen Richtung Brüssel sendet, wenn Deutschland diesen Mandatstext nicht zur Gänze umsetzt, was die Beschlusslage im Deutschen Bundestag angeht. Denn es könnte ja zum Beispiel sein, dass sich in den nächsten Monaten die Situation ändert. Dann müsste Deutschland gegebenenfalls seinen Mandatstext ändern; andere EU-Länder müssten das nicht.
Im Übrigen: Wenn das ein so kritischer Punkt ist – Sie haben ja herausgestellt, dass es für Sie besonders kritisch wäre, das zu tun –, dann stellt sich natürlich die Frage: Warum hat es die Bundesregierung auf EU-Ebene nicht geschafft, insgesamt eine Veränderung des Mandates an diesem Punkt zu erreichen? Dann sind wir ja offensichtlich von anderen Staaten dort überstimmt worden, oder es ist in anderer Weise dargelegt worden. Von daher, glaube ich, ist das nicht ganz logisch, dass jetzt Deutschland da ausschert.
Der zweite Punkt, der wichtig ist: Im Mandatsbegründungstext wird mitgeteilt, dass die Bundesregierung nicht beabsichtigt, die deutsche Teilnahme am Atalanta-Mandat, also an der Operation zum Schutz der Lieferungen der Welternährungsorganisation Richtung Somalia, fortzuführen. Der Deutsche Bundestag kann nicht Mandate beschließen, die von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden. Aber dennoch ist die Frage erlaubt, warum wir jetzt zu dem Ergebnis kommen, dass wir dieses doch sehr erfolgreiche EU-Mandat, mit dem es in den letzten Jahren geschafft wurde, die Piraterie in dieser Region praktisch auf null zurückzudrängen, nicht fortführen.
Im Übrigen dient es nicht nur zum Schutz von vielen Menschenleben und verhindert solche Schicksale, die über lange Wochen als Geisel genommene Schiffsbesatzungen erlitten, sondern es ist eben auch ganz konkret, was die Freiheit der Seewege angeht, eine große Hilfe für die deutsche Außenwirtschaft, wenn man in diesen Gewässern sicher operieren kann. Dass die Bundesregierung sagt, da solche Angriffe zurzeit nicht mehr stattfinden würden, könne man auf eine deutsche Beteiligung an dem Mandat verzichten, ist ein bisschen so, wie wenn wir die Feuerwehr abschaffen würden, nur weil es drei Monate nicht gebrannt hat. Ich finde, dass das keine besonders kluge Entscheidung ist.
Ich kann mir vorstellen, dass wir durchaus wieder in eine entsprechende Situation kommen. Die Ernährungssituation in Somalia ist nach wie vor extrem schlecht; sie hat sich sogar verschlechtert. Und es droht ja eine weitere Verschlechterung als Folge der Umweltentwicklungen und als Folge des Ausfalls von Getreidelieferungen aus der Ukraine. Insofern gibt es mit Sicherheit eher einen Bedarf, da genauer hinzugucken. Wir finden es schade, dass die Bundesregierung vorhat, dieses Mandat nicht neu vorzulegen.
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Sowohl über diesen als auch über den vorgenannten Punkt, wie wir denn in Libyen sichere Verhältnisse bekommen, müssen wir, wie ich finde, im Auswärtigen Ausschuss sprechen. Wir müssen überlegen, ob unsere Libyen-Strategie die richtige ist. Wir müssen die Frage beantworten, auf welche Weise denn sonst Küstenwache in Libyen ausgebildet werden kann; denn niemand stellt infrage, dass ein solches Land eine funktionsfähige Küstenwache braucht. Wenn wir es im Rahmen des Mandates nicht tun, können wir kaum hinnehmen, dass es jemand anders macht – im Extremfall sind das Wagner-Söldner; das steht jetzt nicht zur Debatte, aber das wäre das andere Extrem. Deswegen, glaube ich, müssen wir gemeinsam an einer Antwort arbeiten, die das Irini-Mandat in einen engeren Zusammenhang zu unseren Libyen-Bemühungen stellt, und müssen die Libyen-Bemühungen, die wir zur Stabilisierung dieses Landes haben, auf den Prüfstand stellen und weiterentwickeln mit dem Ziel, dass wir in Libyen doch in eine Situation kommen, in der Zeitpläne der Demokratisierung und der Befriedung des Landes eingehalten werden können, was, wie wir alle wissen, im letzten Jahr leider nicht gelungen ist.
In diesem Sinne den Soldatinnen und Soldaten an Bord deutscher Schiffe und in den Kommandostäben für diesen Einsatz alles Gute und stets Soldatenglück! Sie mögen heil aus dem Einsatz zurückkommen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Karamba Diaby.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit vielen Jahren unterstützt Deutschland die Friedensbemühungen in Libyen. Mit dem Berliner Prozess haben wir zu einem Waffenstillstand beigetragen und sind damit unserer Verantwortung gegenüber internationalen Partnern gerecht geworden. Dennoch gibt es viel zu tun; denn die Lage in Libyen bleibt immer noch fragil. Ich nenne hier vier Beispiele: Die geplanten Wahlen im Dezember konnten nicht stattfinden. Das Land ist immer noch tief gespalten. Es gibt de facto zwei Regierungen. Und Russland ist in Libyen mit seiner „Wagner“-Gruppe aktiv.
Trotz unseres internationalen Engagements, trotz der guten Zusammenarbeit mit unseren EU-Partnern kommt es weiterhin zu Verstößen gegen das Waffenembargo. Es besteht also ganz klar Handlungsbedarf. Die Weiterführung der EU-Operation Irini ist daher nur konsequent; denn sie ist ein wichtiger multilateraler Einsatz im Kampf gegen Organisierte Kriminalität.
Ein paar Informationen zum Mandat: Bei Irini handelt es sich um eine Aufklärungs- und Kontrollmission im Mittelmeer. Es können bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden. Die Operation verfügt über ein Aufklärungsflugzeug und bis zu zwei Schiffe. Und das Einsatzgebiet erstreckt sich auf die Meeresgebiete im Mittelmeer sowie auf den Luftraum über diesen Gebieten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist Ziel der neuen Regierungskoalition, Mandate regelmäßig zu bewerten. Mir sind bei Irini zwei Anpassungen besonders wichtig:
Erstens. Die im Mandat der EU enthaltene Aufgabe der Ausbildung der libyschen Küstenwache und Marine ist nicht länger Teil des Bundestagsmandates. Im Übrigen haben wir auch davor nicht ausgebildet. Das menschenverachtende Verhalten der libyschen Einheiten gegenüber Geflüchteten, NGOs oder Migrantinnen und Migranten ist an dieser Stelle auf das Schärfste zu verurteilen.
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Zweitens. Bisher hat sich die Bundeswehr im Rahmen dieser Mission nicht aktiv an der Seenotrettung beteiligt. Das soll sich ändern. Im Mandat ist nun ganz klar formuliert – ich zitiere –, dass für „alle im Rahmen von EUNAVFOR MED IRINI eingesetzten“ Schiffe „die völkerrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung für in Seenot geratene Personen“ gilt.
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Das ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Änderung. Denn im vergangenen Jahr haben circa 1 600 Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer verloren. Die Dunkelziffer ist sicher weitaus höher. Auch in den letzten Tagen haben uns wieder traurige Meldungen über ertrunkene Menschen im Mittelmeer erreicht. Mir persönlich gehen solche Berichte sehr nah.
Das Leben dieser Menschen hängt weiter maßgeblich von privaten Seenotrettungsorganisationen ab. Ihnen gilt an dieser Stelle unser herzlicher Dank.
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Meine Damen und Herren, es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie in ihrer wichtigen Arbeit nicht behindert werden. Und ich habe die Hoffnung, dass auch Irini dazu beitragen kann. Es kann uns nämlich nicht egal sein, dass Menschen auf der Flucht ertrinken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist unsere internationale Verantwortung, Menschen in Not zu helfen. Die Menschen in Libyen sind müde vom Krieg. Sie wollen Frieden, sie wollen Sicherheit, und sie wollen Stabilität. Damit das aber nicht leere Träume bleiben, engagieren wir uns auch humanitär in Libyen. Unsere Ziele sind: eine bessere Gesundheitsversorgung, die Stärkung der Zivilgesellschaft, ein erleichterter Zugang zu Bildung und politischer Teilhabe für die Jugendlichen und vor allem die Förderung von Beschäftigung. Dafür arbeiten wir eng mit den internationalen Organisationen zusammen. Aber auch dieses Engagement kann nur fortgeführt werden, solange die Lage vor Ort stabil und sicher bleibt. Mit Irini leisten wir dazu einen wesentlichen Beitrag. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zur Verlängerung des Mandates.
Danke schön.
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Joachim Wundrak hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Vor dem Hintergrund der weitreichenden Beschlüsse von gestern zum Krieg in der Ukraine mag die heutige Debatte zur Verlängerung des Irini-Mandates unwichtig erscheinen. Lassen Sie mich daher kurz auf die Ursachen und den Verlauf des zugrundeliegenden Konflikts in Libyen eingehen:
Ausgangspunkt für die internationale Entwicklung des Konflikts war der sogenannte Arabische Frühling, ausgelöst durch Massenproteste infolge der Finanz- und Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008. Leider wird wohl Ähnliches oder gar Schlimmeres in naher Zukunft in vielen Regionen der Welt zu erwarten sein. Aufflammende Kämpfe um die Macht endeten damals entweder in der Restauration der alten Machtstrukturen wie in Ägypten oder in einem bis heute anhaltenden Bürgerkrieg mit schwer durchschaubarer internationaler Beteiligung wie in Syrien, im Irak, im Jemen und eben in Libyen.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte bereits am 26. Februar 2011 einstimmig ein Waffenembargo gegen Libyen beschlossen. Der libysche Machthaber Gaddafi setzte jedoch insbesondere seine Luftwaffe gegen die Aufständischen ein, mit Verlusten auch unter der Zivilbevölkerung. Der Sicherheitsrat autorisierte daraufhin die Einrichtung und Durchsetzung einer Flugverbotszone unter Kapitel VII der UN-Charta. Der damalige deutsche Außenminister Westerwelle hat sich für Deutschland als Mitglied bei dieser Entscheidung des Sicherheitsrates enthalten, wie auch China, Russland, Indien und Brasilien.
Kritische Stimmen wiesen damals bereits darauf hin, dass für die Betreiber dieser Resolution unter den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern andere Interessen neben dem Schutz der Zivilbevölkerung entscheidend waren. Dies bezog sich insbesondere auf das Ziel des Regime Change, das zwar nicht vom Sicherheitsrat autorisiert war, aber insbesondere durch Frankreich und die USA, aber auch in Deutschland kommuniziert worden ist. Wir haben dazu gestern auch erste Anklänge gehört. Ich halte dies für äußerst gefährlich.
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Wesentliches Interesse der US-Amerikaner und auch anderer – wie konnte und kann es anders sein? – war der Zugang zu den libyschen Erdölvorkommen, die Gaddafi verstaatlicht hatte. So wurde die Resolution 1973 nicht nur genutzt, um das Flugverbot gegen die libysche Regierung durchzusetzen, sondern um weit über das Mandat hinaus, quasi als Luftunterstützung für die Aufständischen, gegen die Truppen der Gaddafi-Regierung zu agieren. Das in den beiden genannten Resolutionen geforderte Waffenembargo wurde also von Beginn an von wesentlichen Beteiligten offen missachtet, darunter die USA, Frankreich, Ägypten, Russland, die Ukraine und auch die Türkei.
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Zumindest war der nicht mandatierte Regime Change erfolgreich: Gaddafi wurde schließlich im Oktober 2011 zur Strecke gebracht. Seither sind mehr als zehn Jahre vergangen. Das Land befindet sich im ständigen Bürgerkrieg, in den ausländische Mächte involviert sind und Tausende von internationalen Söldnern eingesetzt werden.
Meine Damen und Herren, dieses Waffenembargo der UN hat zu keiner Zeit funktioniert. Das hat auch die zuständige UN-Stelle erst vor einem Jahr ausdrücklich und explizit bestätigt. Keiner der Teilaufträge – Waffenembargo, Ölembargo oder auch Terrorbekämpfung – hat zu irgendeinem konkreten Einsatzerfolg geführt, wie erst vorgestern auch die Bundesregierung in den Ausschüssen zugeben musste. Daher sollte die deutsche Beteiligung an dieser nutzlosen Operation eingestellt werden, die nur als Schaufensteroperation der Europäischen Union und als Feigenblatt der UN für in Libyen engagierte Mächte fungiert.
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Die Deutsche Marine sollte stattdessen ihre knappen Ressourcen in die vernachlässigten Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung investieren.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Christian Sauter hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die von der Europäischen Union geführte Operation Irini, die zur Einhaltung und Überwachung des VN-Waffenembargos gegen Libyen dient, besteht seit nunmehr zwei Jahren. Gerade während des andauernden Krieges in der Ukraine ist es wichtig, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft andere Konfliktherde an den europäischen Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren. Auch Irini ist Beweis zur Erfüllung der Verpflichtungen in der Europäischen Union, welche wir seit Jahren zuverlässig erfüllen.
An dieser Stelle möchte ich einmal deutlich machen, welches genau der formulierte Auftrag des Mandates ist: die Durchsetzung des Waffenembargos, die Verhinderung von Ölschmuggel, die Aufdeckung von Schleusernetzwerken und dazu die Kontrolle von Schiffen und möglicherweise deren Beschlagnahmung. Nach Datenerhebung und Identifikation ist die Weitergabe dieser zwecks Strafverfolgung enthalten. – So weit der Auftrag.
Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee des Rates der Europäischen Union muss alle vier Monate einstimmig die Fortsetzung bestätigen. Die Operation enthält zudem einen Mechanismus, der es den jeweiligen Mitgliedstaaten erlaubt, eine Überprüfung zum Vorliegen eines Migrationseffektes zu veranlassen. Schutz vor Ort und der Schwerpunkt abseits des Mandates, besonders im Rahmen des EUTF zur Rückkehr und Reintegration von Migranten im Herkunftsland, sind in der Vergangenheit intensiviert worden.
Seenotrettung ist zwar nicht Teil des Auftrages von Irini. Eine Klarstellung zur völkerrechtlichen Verpflichtung zur Hilfeleistung für seegehende Einheiten ist aber erfolgt; diese gilt wie zuvor auch schon.
Mit Stand April wurden bei Irini über 6 000 Schiffe erfasst, knapp 250 Bordbesuche durchgeführt, und es kam zu 22 Inspektionen.
Klar ist jedoch auch, dass es Probleme gab und gibt. Entsprechend kritisch hat meine Fraktion das Mandat bisher begleitet. So steht eine Vereinbarung mit der NATO-Operation Sea Guardian zur Vernetzung noch aus. Zudem bleibt der Makel des Vetorechts des Flaggenstaates bei einer angestrebten Durchsuchung von verdächtigen Schiffen. Entsprechende Berichte sind bekannt. Dies kann man auch zu Recht kritisieren.
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Ohne Irini wäre die Durchsetzung des Waffenembargos allerdings auch nicht einfacher. Wir müssen weiterhin mit dem Finger auf diejenigen zeigen können, die sich dem Beschluss der VN widersetzen. Um dies künftig sicherzustellen, beteiligt sich die Bundeswehr an Irini aktuell mit einem Seefernaufklärer vom Typ P‑3C Orion, eine wichtige Fähigkeit, die sehr begrenzt zur Verfügung steht. Der Einsatz rar verfügbarer Fähigkeiten der Bundeswehr muss bei jeder Verlängerung intensiv geprüft und abgewogen werden. Die Beschaffung des Nachfolgesystems P‑8 Poseidon ist folgerichtig, aber auch längst überfällig. Gut, dass dies nun endlich entschieden ist.
Zusammen werden laut letztem Stand derzeit 15 Soldaten eingesetzt. Gemeinsam mit fast 600 ihrer Kameraden aus 23 Staaten tragen sie zum Gelingen der Operation bei. Derzeit stellen diese zwei Fregatten und sechs Luftfahrzeuge ab. Trotz des aktuell eher kleinen deutschen Kontingents ist es dennoch sinnvoll, die Mandatsobergrenze von 300 Soldaten beizubehalten, um situationsabhängig und auch geplant seegehende Einheiten der Marine einmelden zu können.
Im Gegensatz zur bisherigen Beschlusslage des alten Mandates schließt der vorliegende Antrag die Ausbildung der libyschen Küstenwache nicht mehr mit ein; das ist zuvor schon angedeutet worden. Dies war jedoch in diesem Mandat in der Vergangenheit, seitens der Bundesrepublik zumindest, auch nicht der Fall. Die Anpassung der Aufgaben des Mandates ist daher folgerichtig. Mit 28 Millionen Euro sind die Kosten des Mandates beziffert und für den Verlängerungszeitraum bis zum 30. April 2023 hinterlegt.
Die regelmäßige detaillierte Evaluierung aller Einsätze ist für meine Fraktion von entscheidender Bedeutung. Das haben wir immer eingefordert. Das stellt nun endlich der vorliegende Text der Bundesregierung abschließend deutlich klar; und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gut und richtig.
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An dieser Stelle möchte ich mich bei unseren Soldaten bedanken, die in den letzten Jahren wie in allen Einsätzen einen hervorragenden Dienst geleistet haben. Die sicherheitspolitische Situation in Libyen ist nach wie vor fragil. Der Einfluss destabilisierender Kräfte hat nicht nachgelassen. Meine Fraktion wird deshalb der Verlängerung des Mandates zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Die Kollegin Sevim Dağdelen hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was hören wir nicht alles, was der Militäreinsatz im Mittelmeer alles leisten soll! Die 2020 gestartete Mission Irini, Nachfolgerin des EU-Einsatzes EUNAVFOR MED Sophia, soll das gegenüber Libyen verhängte UN-Embargo sichern helfen sowie Waffenschmuggel aufklären und vor allen Dingen verhindern.
Nicht genug! Jetzt erwecken Sie auch noch den Eindruck, die Bundeswehr bekenne sich aktiv zur Seenotrettung und sei zur Seenotrettung im Mittelmeer unterwegs. Dabei ist in diesem Mandat lediglich die völkerrechtliche Verpflichtung wiedergegeben worden. Auch Pro Asyl hat genau diesen Schwindel kritisiert. Dieses Mandat hat nämlich so viel mit der Seenotrettung zu tun wie Adam und Eva mit der Bekleidungsindustrie. Im Ausschuss haben wir am Mittwoch nämlich auf Nachfrage von der Bundesregierung erfahren können, dass das Einsatzgebiet von Irini weitab vom Festland auf hoher See liegt, nämlich vor der östlichen Küste – weitab von den Routen, die die Geflüchteten normalerweise nehmen. Faktisch können überhaupt keine Geflüchteten gerettet werden. Das zeigt, wie zynisch es ist, so zu tun, als würde dieses Mandat zur Seenotrettung dienen. Wir dagegen sagen: Das üppige Geld für diesen Militäreinsatz wäre viel sinnvoller in einer zivilen Seenotrettung angelegt, meine Damen und Herren.
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Sie täuschen auch, wenn Sie erklären, es ginge bei dem Einsatz um die Durchsetzung des UN-Waffenembargos gegenüber Libyen, während die Bundesregierung gleichzeitig nach wie vor Länder wie Katar, die Emirate oder die Türkei mit Waffen beliefert, von denen wir wissen, dass sie dieses UN-Embargo gebrochen haben und brechen und Waffen liefern. Die Schiffe des NATO-Partners Türkei werden sogar gleich durchgewunken. Wieso sollte man auch Staaten kontrollieren und bei Waffenexporten aufhalten, die man selber mit Waffen beliefert? Deshalb sagen wir: Beenden Sie ehrlicherweise diesen zynischen Militäreinsatz, von dem wir wissen, dass er gerade da, wo es darauf ankommt, nämlich die türkischen Schiffe zu kontrollieren, nicht kontrolliert und sie einfach passieren lässt, wohl wissend, dass diese Waffen dann an islamistische Terrorbanden oder an die verbündeten Muslimbrüder in Tripolis gegeben werden. Beenden Sie diesen Einsatz!
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Stattdessen fordern wir eine zivile Seenotrettung.
Und vor allen Dingen: Hören Sie auf, ständig Waffen zu exportieren an die Länder, die sich am Krieg in Libyen mit Waffenlieferungen beteiligen und ihn immer weiter nähren mit diesen Waffen.
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Marja-Liisa Völlers hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Wehrbeauftragte Dr. Högl! Meine Damen und Herren! Die gestrige Debatte über die Unterstützung der Ukraine hat uns allen noch einmal deutlich gemacht, wie sehr uns dieser schreckliche russische Angriffskrieg beschäftigt. Es scheint daher fast unmöglich, den Fokus noch auf andere sicherheits- und außenpolitische Themen zu lenken als den Krieg in der Ukraine. Dennoch gibt es weitere Konfliktherde auf dieser Welt, und um einen dreht es sich in dieser Debatte: Libyen.
Die Menschen in Libyen sehen sich seit Jahren einem brodelnden, einem mal mehr, mal weniger heißen Konflikt gegenüber. Das Land blickt in ein Jahrzehnt wiederkehrender Bürgerkriege zurück und befindet sich seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011 nach wie vor in einem tiefgreifenden und offenen Transformationsprozess; einige Vorrednerinnen und Vorredner haben dies ja bereits illustriert. Die Menschen in Libyen blicken somit nicht nur auf die belastende Zeit des Bürgerkriegs zurück, sondern leben auch immer noch mit der Angst, dass dieser erneut ausbrechen könnte. Es gibt für sie eben keine Gewissheit, dass der Waffenstillstand und damit auch der Frieden bestehen bleibt.
Unter Führung der damaligen deutschen Bundesregierung fand 2020 hier in Berlin die erste Libyen-Konferenz statt. Ziel war es, die im Libyen-Konflikt involvierten wichtigsten Akteure an einen Tisch zu bringen und die Rückkehr zu einem innerlibyschen Friedensprozess zu ermöglichen. Nach den vielen Jahren des brutalen Bürgerkriegs war dies zumindest ein erster kleiner Schritt, die Perspektive eines möglichen Friedens gemeinsam zu entwickeln.
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Ich glaube, das darf man in der Rückschau auch nicht vergessen.
Auf diesen ersten Schritt folgte vor gut zwei Jahren, im Februar 2020, die Vereinbarung der Außenminister der Europäischen Union, das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen zu überwachen, woraus im Anschluss die Operation Irini hervorging, über die wir heute debattieren. Diese wird von der Europäischen Union geführt, unter anderem mit deutscher Beteiligung.
Der Kernauftrag – auch das ist schon häufiger angesprochen worden –: das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen umzusetzen sowie illegale Öltransporte, den Schmuggel, den Menschenhandel und die Schlepperei zu unterbinden.
Mit der Beteiligung Deutschlands an dieser Aufgabe sind wir nicht nur ein wichtiges Versprechen gegenüber den Menschen in Libyen eingegangen, sondern wir haben uns auch mit unseren europäischen Partnerinnen und Partnern zu einem gemeinsamen Handeln für die Stabilisierung und die Sicherung des Friedens an der EU-Südflanke verpflichtet. Nun heißt es, diesem gemeinsamen europäischen Kraftakt auch weiterhin nachzukommen und das Mandat zu verlängern.
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Wir haben es gerade gehört: Die Bundeswehr war mit Schiffen, mit Flugzeugen im Einsatz und wird dies auch in Zukunft tun. Dieser Aufgabenbereich bleibt also bestehen.
Ich möchte mich den anderen Rednerinnen und Rednern anschließen und gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr noch mal meinen großen Dank für die geleistete Arbeit zum Ausdruck bringen und den Wunsch äußern, dass sie in Zukunft wieder sicher und wohlbehalten zurückkehren. Vielen Dank!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages tragen eine große Verantwortung für unsere Parlamentsarmee. Daher sind eine Evaluation und eine Anpassung der Mandatstexte notwendig und richtig. Wir stehen auch zu dieser Verantwortung. Was wir heute hier erleben und auch schon besprochen haben, zeigt ja, dass wir genau draufschauen und im Zweifelsfall Dinge verändern. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, die mehrfach schon angesprochene Ausbildung der libyschen Küstenwache aus dem Mandatstext herauszunehmen, auch wenn – das wurde deutlich – diese mit Unterstützung der Bundeswehr nie erfolgt ist.
Meine Damen und Herren, um zum Schluss zu kommen: Es ist unsere Aufgabe als wichtiger Akteur in der Europäischen Union, uns auch weiterhin für die Stabilisierung in Libyen zu engagieren. Ein tatsächlicher, ein stabiler Frieden verlangt aber, dass wir uns nicht aus dieser Verantwortung stehlen dürfen, sondern dass wir uns weiterhin aktiv für den Frieden, für den Friedensprozess einsetzen müssen. Nicht nur ich sehe diese Verantwortung so, das sieht auch die Bundesregierung – namentlich Bundeskanzler Olaf Scholz, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und Außenministerin Annalena Baerbock – so.
Von daher hoffe ich, dass Sie alle der Verlängerung des Mandates Irini zustimmen werden. Ich bedanke mich noch mal für den Einsatz der Bundeswehr.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt natürlich der Ukraine. Aber deswegen machen Kriege, Konflikte und Krisen in der Welt keine Pause. Dabei denke ich heute ganz besonders an Nordafrika und den Nahen Osten, an Syrien, den Libanon, Libyen, Mali und die Sahelzone. Mit Sorge sehe ich auf die ausbleibenden Weizenlieferungen in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Das kann zu Hunger, das kann zu Brotaufständen führen, und die Region wird weiter instabil.
Was verbindet uns mit diesen Regionen? Das Mittelmeer. Das Mittelmeer ist eine bedeutende Wasserstraße. Es verbindet uns mit dem Indischen und dem Pazifischen Ozean, und ein großer Teil unseres Seehandels wird über das Mittelmeer abgewickelt.
Deshalb ist gut und richtig, dass wir viele Missionen der Deutschen Marine im Mittelmeer haben. Neben Irini, worüber wir heute abstimmen, sind dies: UNIFIL an der Levante, Sea Guardian, der Seewächter, eng verbunden mit Irini, die ständigen NATO-Marineverbände SNMG 2 und der Minenabwehrverband 2, jetzt zusammengefasst in der VJTF Marine, dem SACEUR unterstellt aufgrund der Situation in der Ukraine.
Das Mandat von Sea Guardian enthält die Möglichkeit einer Kooperation mit EUNAVFOR MED Irini in den Bereichen Informationsaustausch – da geht es im Wesentlichen um das Lagebild – und Logistik. Voraussetzung für eine solche Kooperation ist eine Vereinbarung zwischen der NATO und der EU, wie es bei der Vorgängermission Sophia der Fall war. Ich hoffe, die Kooperationsvereinbarung ist zwischenzeitlich unterschrieben oder wird zeitnah unterschrieben.
Ich möchte heute aber auch, obwohl es nicht auf der Tagesordnung steht, an Atalanta erinnern. Diese Mission wird morgen offiziell für Deutschland beendet. Aus der Sicht der Bundesregierung – und dem schließen wir uns an – war es eine erfolgreiche Mission.
Weil es hier im Haus strittig war, möchte ich auf einen Aspekt eingehen: Diese Operation ist erst dann richtig erfolgreich geworden, als man in das Einsatzgebiet auch 2 Kilometer Küste und Strand einbezogen hat.
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Denn das Geschäftsmodell der Piraterie, des organisierten Verbrechens ist dadurch unwirtschaftlich geworden. Es war unerträglich, wenn die Piraten der Marine auf der Nase herumgetanzt sind, weil sie wussten: Die dürfen nicht ins Küstengewässer und erst recht nicht am Strand operieren.
Atalanta wird weiterlaufen als europäische Operation, aber nicht mit deutscher Beteiligung. Wir geben hier Verantwortung ab. Kollege Hardt hat es richtig gesagt: Wir müssen schauen, wie sich die Lage am Horn von Afrika entwickelt.
Besonderheit der Marine ist, dass sie bei Bedarf schnell in neutraler See vor Ort sein kann. Das ist gerade in Krisenfällen ein großer Vorteil. Wir sehen es aktuell in der Ostsee, wo wir einen Schwerpunkt der Deutschen Marine gebildet haben. Aber wir sehen mit Blick auf das Mittelmeer und die Ostsee auch: Wir bräuchten mehr einsatzbereite Schiffe und Boote.
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Darum ist es wichtig, dass wir uns engagieren für ein drittes Los Korvetten K 130 als Ersatz für das erste Los, für eine fünfte und sechste Fregatte Typklasse 126, für den Einstieg in den Fregattentyp 127, für die Einsatzbereitschaft der Typklasse 125, für weitere U‑Boote mit der Fähigkeit, gegen Luft- und Landziele zu wirken, für neue Flottendienstboote, für neue Betriebsstofftanker und – ganz wichtig – für viele Ersatzteile, viel Munition. Mit dem Sondervermögen – und das ist wichtig – und der Zusage, Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des BIP für die Verteidigung einzusetzen, kann das gelingen.
Unsere Marine hat sich den Leitspruch gegeben: „#NichtWährendMeinerWache“, oder umgekehrt formuliert: Während meiner Wache ist Deutschland sicher. Eine starke Aussage!
Ich danke den Soldatinnen und Soldaten der Deutschen Marine für ihr Engagement und Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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