Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/6/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die entsetzlichen Bilder aus Butscha haben uns alle tief erschüttert. Russische Soldaten haben dort vor ihrem Rückzug ein Massaker an ukrainischen Zivilisten verübt, darunter Kinder, Frauen und alte Menschen. Die von Russland verbreitete zynische Behauptung, es handele sich bei diesem Thema um eine Inszenierung, fällt auf diejenigen zurück, die diese Lügen verbreiten. Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen! ({0}) Um es klar zu sagen: Die Täter und ihre Auftraggeber müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Darum unterstützen wir alle internationalen Bemühungen, solche Gräueltaten minutiös zu dokumentieren und schonungslos aufzuklären – in Butscha und auch darüber hinaus. Das sollten wir nicht vergessen: Wir müssen ja damit rechnen, dass wir noch weitere solche Bilder sehen werden. Auch die Europäische Union hat der Ukraine alle Hilfe in dieser Angelegenheit zugesagt. Meine Damen und Herren, unterdessen geht das Töten des russischen Militärs weiter, unvermindert. Deshalb fordere ich an dieser Stelle noch einmal den russischen Präsidenten auf: Beenden Sie diesen zerstörerischen und selbstzerstörerischen Krieg sofort! ({1}) Ziehen Sie Ihre Truppen aus der Ukraine ab! Bis das geschieht, setzen wir weiterhin alles daran, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, immer abgestimmt mit unseren Freunden und Verbündeten. Dazu gehört auch, was wir aus den aktuellen Beständen der Bundeswehr an Waffen liefern können: Alles das, was sinnvoll ist und schnell wirkt, das wird geliefert. Ich weiß, dass die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht alles unternimmt, was angesichts der Beschlusslage unserer Alliierten und mit Blick auf die Fähigkeiten der Bundeswehr machbar ist. ({2}) Diese Regierung hat, anders als ihre Vorgängerinnen, beschlossen, Waffen zu liefern, und seither tun wir das. ({3}) Die Prämisse bleibt dabei klar: Mit allen Entscheidungen, die wir treffen, werden wir sicherstellen, dass die NATO-Partner keine Kriegspartei werden. Wir haben neben den militärischen Unterstützungen – über die ich bereits gesprochen habe, und die wir täglich leisten und auch weiter leisten werden – auch humanitäre Unterstützung zur Verfügung gestellt für die Ukraine und die Nachbarländer: noch mal fast eine halbe Milliarde Euro zusätzlich zu den 2 Milliarden Euro, die wir bereits in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt haben. Diese zivile Hilfe werden wir fortsetzen. Erst gestern hat die Bundesaußenministerin hier in Berlin zu einer Unterstützungskonferenz für Moldau gebeten. Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas. Es hat pro Kopf mehr Geflüchtete aufgenommen als alle anderen Länder. Das braucht und verdient unsere Unterstützung. ({4}) Hundertausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind in den letzten Wochen nach Deutschland gekommen, und es werden mehr werden. Sie sind hier willkommen; das will ich an dieser Stelle noch einmal sagen. Wir werden gemeinsam mit den Ländern in Deutschland morgen wichtige Entscheidungen treffen, was all die Fragen betrifft, die damit zusammenhängen: Registrierung, Unterbringung und natürlich auch die gemeinsame Finanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben. Auch dies als eine Bemerkung von mir: Ich wünsche mir, dass wir nicht eine ewig lange Diskussion über die finanziellen Fragen zwischen den verschiedenen Ebenen unseres Landes haben, sondern dass wir uns schnell und zügig einigen zwischen dem Bund und den Ländern, dass wir die Interessen der Kommunen und Landkreise berücksichtigen, dass wir eine gute Einigung und Verständigung haben, damit wir uns der eigentlichen Aufgabe zuwenden können: Wie helfen wir den Flüchtlingen, die hier Schutz gesucht haben? ({5}) Für uns alle sollte die Solidarität ein Ansporn sein, die die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes jeden Tag zeigen; denn es gibt sehr viel Solidarität, sehr viel Unterstützung, überall in Deutschland. Ich bin sehr dankbar dafür. Diese Hilfe ist wichtig, und sie tut gut. ({6}) Schließlich werden wir den Druck auf Russland weiter erhöhen, zum Beispiel mit den Sanktionen, die wir auf den Weg gebracht haben. Sie sind lange vorbereitet. Lange bevor der Krieg ausgebrochen ist, haben wir darüber gesprochen. Wir haben sie vereinbart mit der EU-Kommission, und wir sind dabei, die aktuellen Sanktionen noch einmal zu verschärfen. Das fünfte Paket ist in der finalen Debatte, und es wird noch einmal präzise dazu beitragen, dass Russland die Folgen dieses Krieges spürt, auch um zu erreichen, dass es den Krieg beendet. ({7}) Es muss unser Ziel bleiben, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Das ist das, was hinter den Aktivitäten steht, die wir unternehmen, wenn es um Waffenlieferungen geht, wenn es um finanzielle und humanitäre Unterstützung geht, wenn es um die Aufnahme der Flüchtlinge geht oder um die Sanktionspakete, die wir in Europa und weltweit vereinbaren. Natürlich gehört dazu auch, dass wir die Abhängigkeiten reduzieren, in denen wir uns heute befinden, und dazu gehört natürlich auch die Reduktion der Abhängigkeit vom Import russischer Energie. ({8}) Wir wissen alle: Diese Abhängigkeiten sind über Jahrzehnte gewachsen, und sie lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen beenden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir uns in Europa gemeinsam auf den Weg gemacht haben, genau das zu schaffen, und gemeinsam einen Kurs abgesteckt haben, mit dem wir das auch tatsächlich tun, jetzt, während dieses Krieges. Aber die Weichen sind gestellt, und sie werden auch nach dem Krieg weiter den Kurs vorgeben, den wir einzuschlagen haben. Gleichzeitig geht es nicht nur darum, neue Importlinien möglich zu machen, neue Importkapazitäten und neue Vertragspartner zu finden, sondern langfristig auch darum, die Unabhängigkeit von fossilen Ressourcen zu organisieren, die dann tatsächlich eine sichere Perspektive für Europa schafft und gleichzeitig hilft, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten. ({9}) Wir werden jetzt mit großer Geschwindigkeit LNG-Kapazitäten an der norddeutschen Küste aufbauen. Wir werden die Netze ausbauen, die dazu erforderlich sind. Wir werden die Importstrukturen für Kohle, Öl und Gas so reorganisieren, dass wir auf Dauer nicht mehr von den russischen Importen abhängig sind. Das werden wir mit nie gekannter Geschwindigkeit tun. Heute hat das Kabinett einen ganz wichtigen Beitrag dazu mit einer Entscheidung geleistet, die ohnehin zu den Plänen dieser Regierung zählte und die wir sorgfältig vorbereitet haben, aber die jetzt unbedingt und noch viel mehr notwendig ist: Mit dem sogenannten Osterpaket zum Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und zur Stärkung der Energienetze zeigen wir, was wir vorhaben. Jetzt erst recht werden wir uns von der Nutzung fossiler Ressourcen unabhängig machen. Das ist unsere Aufgabe. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Bevor wir mit der Befragung beginnen, ein paar Vorbemerkungen von mir: Wir haben bereits jetzt über die Fraktionen sehr viele Wortmeldungen bekommen. In der Kanzler- oder Kanzlerinbefragung verfahren wir üblicherweise so, dass wir die Fragesteller aufrufen, dass eine Nachfrage gestellt werden kann, ich aber üblicherweise dann nicht mehr weitere Fragen anderer Fraktionen zum Thema zulasse, sondern dass wir dann in den nächsten Frageblock gehen. Ich sage das nur, damit es noch einmal erklärt wird, weil wir das bei anderen Befragungen durchaus anders machen, indem dann auch das Fragerecht zum gleichen Thema auf andere Fraktionen übergeht. – Das einleitend noch mal, damit das für alle Fraktionen klar ist. Ich rufe zur Befragung zuerst den Kollegen Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion auf.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, zum Thema Waffenlieferungen hat sich der Vorsitzende der Grünen in Deutschland, Omid Nouripour, in den vergangenen Tagen geäußert. Er hat dazu gesagt, dass die Leistung der Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht sehr unzureichend sei, weil keine hinreichende Synchronisation zwischen den Wünschen der Ukraine und den Möglichkeiten Deutschlands, Waffen zu liefern, stattfinde. Teilen Sie diese Auffassung, und, wenn ja, was gedenken Sie zu tun, um die Missstände abzustellen?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Sie haben den Vorsitzenden der Grünen völlig missverstanden. Ich hatte gestern das Privileg, mit ihm ein längeres Gespräch zu führen, und er hat mir das Gegenteil gesagt. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Wadephul, Sie können eine Nachfrage stellen.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich würde dann eine Nachfrage dazu stellen. – Wie hat er Ihnen denn seinen Zusatz erklärt, dass er in dem gleichen Interview darauf hingewiesen hat, dass größere Mengen Schützenpanzer Marder herumstünden, die in die Ukraine verbracht werden könnten, was aber nicht geschehe? Ich verbinde das mit dem Hinweis, dass es mehrere Rüstungsunternehmen in Deutschland gibt, die Anfragen von der Ukraine haben, dass Waffen geliefert werden könnten, die Ukraine zahlungsbereit ist, es aber an Genehmigungen seitens Ihrer Regierung fehlt. Was sagen Sie dazu?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Ich möchte gerne noch einmal darauf hinweisen, dass es ein Bruch mit langen Traditionen ist, dass diese Regierung anders als alle ihre Vorgängerinnen entschieden hat, überhaupt Waffen in die Ukraine und in ein Krisengebiet zu liefern. Das ist eine richtige Entscheidung, die wir abgewogen, aber auch schnell getroffen haben. Es ist interessant, zu beobachten, dass viele, die die Entscheidungen der Vergangenheit bisher immer unterstützt hatten, jetzt plötzlich alle möglichen Vorschläge haben, wie es jetzt weitergehen soll. Aber der eigentliche Weg, die eigentliche Entscheidung war die, dass wir es überhaupt tun. Und jetzt nutzen wir unsere Möglichkeiten. Das machen wir einerseits eng abgestimmt mit unseren Freundinnen und Freunden in der NATO und in der Europäischen Union, weil es darum geht, dass alle in die gleiche Richtung gehen und nicht unterschiedliche Aktivitäten unternehmen. Andererseits treffen wir diese Entscheidung nach sorgfältiger Vorbereitung in den dazu notwendigen Gremien, wo wir auch dafür sorgen, dass die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dabei sorgfältig beachtet wird. Und im Übrigen ist es so, dass wir dabei alles, was richtig und sinnvoll ist, auf den Weg bringen. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich erwarte dann auch eine Antwort auf meine Frage, und ich habe darauf hingewiesen, dass – – ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Wadephul, Sie haben trotzdem – –

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Wadephul, Sie haben eine Antwort auf Ihre Frage bekommen. Allerdings müssen Sie sich noch mit dem Thema beschäftigen, warum Sie die Politik der Bundesregierung, die Sie jetzt unterstützen, ({0}) früher, zu anderen Zeiten, nicht richtig gefunden haben. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Wadephul, bitte. ({0}) Ich weiß. Aber Sie hatten eine Nachfrage, und Sie können ja nachher noch mal über einen anderen Fragesteller nachhaken. ({1}) Die nächste Kollegin, die eine Frage stellt, ist Filiz Polat von Bündnis 90/Die Grünen.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz, ich möchte Romani Rose zitieren. Romani Rose ist Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und er warnte erst kürzlich vor der Ungleichbehandlung von geflüchteten Roma und Romnija und bezeichnete die bisher bekannten Einzelfälle von Diskriminierung als besorgniserregend. Er drückte seine Erwartung aus – jetzt zitiere ich –, dass „unser Staat ukrainischen Roma, die als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kommen, den gleichen Schutz gewährt wie allen anderen ukrainischen Staatsbürgern auch“. Wird sich unsere Bundesregierung genauso um die ukrainischen Roma kümmern, wie es für die anderen Geflüchteten aus der Ukraine vorgesehen ist? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – In der Tat geht es darum, dass wir hier allen gleichermaßen gerecht werden. Das haben wir mit der Entscheidung getan, die europaweit getroffen worden ist und die in Deutschland auf besonders großzügige Weise ausgelegt worden ist. Wir haben möglich gemacht, dass diejenigen hier einreisen können, die ukrainische Staatsbürger sind – das gilt für die von Ihnen Genannten genauso wie für alle anderen –, und wir haben darüber hinaus möglich gemacht, dass auch diejenigen, die Aufenthaltsrechte in der Ukraine haben, ebenfalls hier einreisen können, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, um die es bei Ihrer Frage nicht ging. Aber das, finde ich, muss bei dieser Gelegenheit gesagt werden. Deshalb kann ich Ihnen versichern: Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass niemand diskriminiert wird und dass alle gleich behandelt werden. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Polat, Sie können eine Nachfrage stellen, wenn Sie möchten.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz, vielen Dank für diese Hinweise. Ich werde da noch mal auf Sie zukommen. Die zweite Frage ist: Unter der Roma-Minderheit sind auch einige Holocaustüberlebende, die bereits Deutschland erreicht haben. Wird es ähnlich wie bei den jüdischen Holocaustüberlebenden eine gemeinsame Evakuierungsaktion auch von Holocaustüberlebenden der Roma-Minderheit geben, zusammen mit anderen Organisationen, zum Beispiel mit dem Zentralrat?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wir haben uns überhaupt verpflichtet, dass wir über diejenigen hinaus, die Schutz finden, weil sie hierherkommen – darüber haben Sie gerade berichtet –, Evakuierungen vornehmen, die ganz, ganz schwierig sind und sehr sorgfältig vorbereitet werden müssen. Es handelt sich bei den Holocaustüberlebenden um hochbetagte Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, die den schrecklichen Holocaust überlebt haben und deshalb natürlich unseren besonderen Schutz verdienen. Wir sind mit den europäischen Verbündeten im Hinblick auf das eng abgestimmt, was getan werden kann, um das zu organisieren. Das sind ja auch ganz komplizierte Transporte, wie man sich angesichts des Alters und oft auch der Pflegebedürftigkeit sehr gut vorstellen kann. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die nächste Frage stellt der Kollege Leif-Erik Holm von der AfD-Fraktion.

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, die Bürger und Unternehmen dieses Landes warten dringend auf Entlastung von den explodierten Energiepreisen. Das Entlastungspaket hat Ihre Regierung versprochen, und es ist wirklich dringend notwendig. Für einen Musterhaushalt erwartet man in diesem Jahr etwa 3 200 Euro an Mehrausgaben für Energie, für Strom, Gas, Wasser, Kraftstoffe, und das alles muss dringend abgefedert werden. Wir sehen doch bisher schon die Ergebnisse. Wir sehen Pendler, die nicht mehr zur Arbeit fahren. Manche schmeißen ihren Job hin, weil es sich einfach nicht mehr lohnt. Das kann so doch nicht weitergehen. Deswegen braucht es eine Entlastung, und zwar dringend. In anderen Ländern um uns herum passiert das. In Polen, in Belgien, in Frankreich, in Italien, da sind die Linderungen schon längst in Kraft. Wo bleibt das Entlastungspaket Ihrer Regierung? Warum schafft es Deutschland unter einem Kanzler Scholz nicht, für schnelle Entlastung der Bürger und Unternehmen zu sorgen? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für die Frage. Sie ermöglicht mir noch einmal, das Lob, das Sie darin untergebracht haben, hier zu verstärken. – Tatsächlich ist es so, dass diese Regierung bereits zwei Entlastungspakete mit einem Umfang von zusammen etwa 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht hat. Ich glaube, dass das in der Dimension an der Spitze dessen liegt, was in Europa überhaupt organisiert worden ist. ({0}) Wir haben unsere Möglichkeiten entsprechend genutzt. Wir haben bei dieser Gelegenheit all die verschiedenen schwierigen Lagen der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt: Wir haben etwas getan für diejenigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Wir haben für Geringverdiener etwas getan mit dem höheren Heizkostenzuschuss. Wir tun etwas für Pendlerinnen und Pendler mit einer entsprechend erhöhten Entfernungspauschale. Wir machen bald etwas für die Entlastung bei den Benzinkosten. Wir haben etwas gemacht für diejenigen, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind. ({1}) Wir haben steuerliche Erleichterungen auf den Weg gebracht, was den Arbeitnehmerfreibetrag und den Grundfreibetrag betrifft. Wir haben etwas auf den Weg gebracht für die Familien – eine Bonuszahlung. Und wir machen mit einer Sonderzahlung etwas für die armen Kinder in dieser Republik. Also, da kommt eine ganze Menge zusammen. Danke, dass Sie es gelobt haben. Der eine Teil ist schon auf dem Gesetzgebungspfad; der andere folgt jetzt schnell. Und wenn Sie mithelfen, kriegen wir auch die Gesetzgebung in zweiter und dritter Lesung bei Zustimmung des Bundesrates im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Holm, Sie haben das Recht zu einer Nachfrage.

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler: Aus Ihren Worten spricht der blanke Hohn für diejenigen, die wenig Geld verdienen und möglicherweise 3 300 Euro an Mehrkosten in diesem Jahr haben, die davon eben noch nicht in weiten Teilen entlastet sind. Ich habe die Pendler angesprochen. Ich habe noch nicht die Fuhrunternehmer angesprochen, die jetzt schon vor lauter Not auf die Straße gehen mit ihren großen Lastern, dort Straßenblockaden errichten, beispielsweise bei mir in der Heimat in Mecklenburg-Vorpommern. Da sehen wir doch, dass es an allen Ecken brennt. Und Sie sagen hier heute: Die Entlastung kommt bald auch beim Sprit. – Was ist denn „bald“? Wann ist Ihre Ressortabstimmung denn fertig? Wann geht das Gesetzgebungsverfahren los? Wir wollen Antworten! Die Bürger wollen Antworten von Ihnen. Wann kommt die Entlastung, Herr Scholz? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wenn Sie sich die Mühe machten, könnten Sie die Antwort Ihren eigenen Unterlagen entnehmen. Das eine Gesetzgebungspaket ist bereits auf dem Weg. ({0}) Ich will ausdrücklich sagen, dass ich mir ja schon öfter Gedanken gemacht habe über Ihr Demokratieverständnis; aber Gesetze werden in diesem Land nicht von der Regierung, sondern vom Deutschen Bundestag gemacht. ({1}) Und das ist auch gut so. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Das Fragerecht geht jetzt an die Kollegin Anikó Merten von der FDP-Fraktion.

Anikó Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005150, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, der ukrainische Präsident Selenskyj hat im Zuge der Verhandlungen mit Russland über ein Friedensabkommen im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Neutralität der Ukraine im Gegenzug für Sicherheitsgarantien der internationalen Gemeinschaft angeboten. Die Bundesregierung hat ihre grundsätzliche Bereitschaft signalisiert, sich an solchen Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu beteiligen. Dies unterstützen wir ausdrücklich und begleiten wir auch sehr gerne. Daher und auch vor dem Hintergrund des bereits auf dem EU-Gipfel von Versailles erfolgten einstimmigen Bekenntnisses der EU-Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Ukraine auf ihrem Weg in die EU die Frage: Wie könnten solche Sicherheitsgarantien konkret aussehen? – Vielen Dank.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

In der Tat ist es so, dass gegenwärtig Verhandlungen stattfinden, in denen die Frage der Neutralität eine Rolle spielt, was – das muss an dieser Stelle gesagt werden – aus der Sicht der Ukraine ein großes Zugeständnis gegenüber dem Aggressor ist. Und bei allem, was gegenwärtig in den Verhandlungen stattfindet, ist mir ganz wichtig, zu sagen: Es darf nicht auf einen Diktatfrieden hinauslaufen. – Das muss immer klar sein. Wenn wir mit der russischen Seite reden, wenn ich mit dem russischen Präsidenten rede, dann mache ich auch sehr klar: Es sind die Ukrainerinnen und Ukrainer, die über das, was sie zu vereinbaren bereit sind, verhandeln. Niemand sonst. ({0}) In diesem Zusammenhang ist die Frage der Sicherheitsgarantien angesprochen worden, die noch nicht ausbuchstabiert sind. Selbstverständlich reden wir darüber – aber das mit der notwendigen Vertraulichkeit – mit der Ukraine und auch mit den anderen, die angesprochen worden sind, ob sie dort eine Rolle spielen könnten. Es entspringt eigentlich der Natur der Sache, dass sich das nicht weiter konkretisieren lässt, weil ja erst einmal die Fragen hinsichtlich dessen, was garantiert werden muss, geregelt werden müssen. Deshalb bitte ich um Nachsicht, dass ich so allgemein bleibe, wie unsere Erklärungen bisher zu diesem Thema nur sein können.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen.

Anikó Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005150, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Ich bedanke mich für die Worte und verzichte auf die Nachfrage.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Danke. – Damit geht das Rederecht an die Kollegin Susanne Ferschl von der Fraktion Die Linke.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, ich hoffe, Sie haben sich mittlerweile über die Fakten kundig gemacht: Minijobs verdrängen reguläre Beschäftigung. – Das ist nicht Bestandteil linker Flugblätter, sondern das belegen wissenschaftliche Studien, allen voran die des IAB. Sie führen insbesondere bei Frauen dazu, dass sie in der Teilzeitfalle feststecken. Beides schließen Sie jetzt letztendlich in Ihrem Koalitionsvertrag aus, versprechen also da, dass es nicht zu einer Verdrängung kommt, dass es nicht zu einer Teilzeitfalle kommt. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dieses Versprechen realisieren, wenn Sie die Minijobs aber gleichzeitig ausweiten?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Das, was in Deutschland stattfindet, ist etwas, über das ich sehr froh bin. Wir haben endlich eine Gesetzgebung in Aussicht über einen höheren Mindestlohn, nämlich 12 Euro, der in diesem Jahr noch kommen wird. Der wird dazu führen, dass viele, viele Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld verdienen, als sie gegenwärtig verdienen. ({0}) In diesem Zusammenhang haben wir ein festes Verhältnis für die Grenze der Minijobs im Verhältnis zur Entwicklung des Mindestlohns beschrieben; das ist ein Stück Rationalität für die Zukunft. Aber wir haben uns genau wegen der von Ihnen gestellten Frage auch Gedanken darüber gemacht, wie man den Übergang möglichst gut organisieren kann, damit niemand, der jetzt wegen des höheren Mindestlohns mehr Geld verdient, sich gewissermaßen bewegt fühlt, darauf zu verzichten, sozialversichert beschäftigt zu sein. Deshalb gestaltet ein Teil des Gesetzgebungsvorhabens, das wir auf den Weg gebracht haben, hier die Gleitzone noch freundlicher aus mit der klaren Perspektive: Jeder höhere Lohn soll auch zu einem höheren Nettoeinkommen führen. Das ist die Zielsetzung. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Ferschl, Sie können eine Nachfrage stellen.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, „Mindestlohn“ ist das entsprechende Stichwort: Minijobs bei gleichzeitig fehlender Arbeitszeiterfassung sind das Haupteinfallstor für Mindestlohnbetrug. Sie weiten jetzt auf der einen Seite die Minijobregelung aus, führen aber keine manipulationssichere Arbeitszeiterfassung ein. Das heißt: Wie wollen Sie sicherstellen, dass nicht weiterhin Millionen Beschäftigte um ihren ihnen zustehenden Mindestlohn betrogen werden? Und wie wollen Sie dafür sorgen, dass die Erhöhung auch entsprechend bei den Kolleginnen und Kollegen ankommt?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Auch die Arbeitszeit von Minijobbern muss dokumentiert werden; da gibt es keinen Unterschied zu denjenigen, die normale Arbeitsverhältnisse haben. ({0}) Deshalb teile ich Ihre Prämisse nicht. Und selbstverständlich gehört zum Arbeitsleben, wie im öffentlichen Leben ansonsten auch, dass es notwendig ist, Recht und Ordnung auch durchzusetzen, in diesem Fall Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Die dazu notwendige Behörde ist in den letzten Jahren ständig ausgebaut worden und wird auch weiter ausgebaut werden. Ich sage im Hinblick auf das Vorantreiben – hinter mir sitzt der Bundesminister der Finanzen –: Wir werden den Zoll und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit so ausbauen, dass Sie sich darauf verlassen können, dass wir allen Betrugsversuchen nachgehen. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Dagmar Andres von der SPD-Fraktion.

Dagmar Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005009, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, unbestritten ist der Krieg in der Ukraine eine ungeahnte Herausforderung beispielloser Art und damit auch eine Bewährungsprobe für den Zusammenhalt innerhalb Europas, egal ob aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Folgen, aufgrund der Fluchtbewegungen oder auch aufgrund der akuten militärischen Bedrohung durch Russland. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen: In welchen Bereichen ist Europa jetzt besonders gefordert, und in welchen Bereichen eröffnen sich durch diese Krise womöglich auch neue Spielräume, neue Chancen, um den europäischen Zusammenhalt weiter voranzubringen? Und können Sie bitte konkretisieren, welche Impulse die Bundesregierung hier in den nächsten Wochen und Monaten setzen wird?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank. – Angesichts der Ukrainekrise kann man ja sagen, dass sich der russische Präsident mehrfach verrechnet hat. Er hat sich verrechnet im Hinblick auf den Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer, die die russische Invasion zurückgeschlagen haben im Verhältnis zu dem, was da ursprünglich intendiert war. Wie das weitergeht, das können wir alle hier nicht vorhersagen. Aber das, was dort an Widerstand geleistet worden ist, war sehr groß. Er hat sich aber auch verrechnet im Hinblick auf die Einigkeit von uns allen, auch die Einigkeit der Europäischen Union, die sich an den global vereinbarten Sanktionspaketen mit großer Verve beteiligt hat, sie mit vorangetrieben hat. Und diese Einigkeit müssen wir jetzt nutzen für große Fortschritte in Europa, damit das ein Momentum ergibt, das weit darüber hinausgeht. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass wir jetzt solidarisch mit den Herausforderungen umgehen, die sich durch die russische Aggression und auch die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionsentscheidungen ergeben. Das bedeutet: Wir müssen zuallererst dafür sorgen, dass Europa, was die Energieversorgung betrifft, auf eigenen Füßen steht und sich unabhängig macht von fossilen Ressourcen, insbesondere der Notwendigkeit, Kohle, Öl und Gas zu importieren. Genau das tun wir mit den Paketen, die in Europa besprochen werden. Und das ist der eine große notwendige Baustein für Fortschritt und Einigkeit in Europa. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen. – Sie verzichten? – Dann geht das Fragerecht über an den nächsten Kollegen. Das ist Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin ausgeführt, dass Vorgängerregierungen noch nie Waffen in Krisengebiete geliefert hätten. Ich möchte an der Stelle daran erinnern, dass die schwarz-rote Bundesregierung 2014 Waffen in das Krisengebiet Irak, konkret an die Peschmerga-Kurden, geliefert hat – Gott sei Dank und im Übrigen mit großem Erfolg. Die Frage ist also: Was ist von Ihrer Aussage von vorhin zu halten? Richtig ist auch, dass die Ukraine gerne schon seit Längerem Waffenlieferungen aus Deutschland erhalten hätte und Ihre Regierung sich sozusagen erst mit dem Eintritt des Krieges umentschieden hat und diese Waffenlieferungen genehmigt hat. Ist das richtig?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wir sind die Regierung, die diese Entscheidung getroffen hat. Und die Entscheidung ist richtig. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, die Vorgängerregierung hat das auch gemacht.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Hahn, Sie können nachfragen.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie außerdem noch etwas fragen. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir auf der einen Seite öffentlich wahrnehmen, was die Bundesregierung selber postuliert im Sinne von „Wir liefern so viel, wie geht“, und dem, was auf der anderen Seite auf der Liste in der Geheimschutzstelle zu sehen ist, was tatsächlich in der Öffentlichkeit zu lesen ist oder auch was die Ukraine sozusagen als Feedback zu den Lieferungen gibt. Meine Frage ist: Wie kann es sein, dass es über so viele Wochen praktisch keine Veränderungen bei der Ausfuhr von Waffen mit Blick auf die entsprechende Liste in der Geheimschutzstelle gegeben hat? Wie passt das mit den Äußerungen der Bundesregierung zusammen? Und wie passt das damit zusammen, dass sich die Bundesverteidigungsministerin damit rühmt, dass Deutschland nach den USA der zweitgrößte Unterstützer bei Waffenlieferungen ist, obwohl andere Länder bekanntermaßen deutlich mehr geliefert haben?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Erst mal ist es so, dass wir in der Tat viel liefern. Wir haben das am Anfang aus den Beständen gemacht, die wir in der Bundeswehr haben, die verfügbar sind und die Waffen umfassen, die sinnvoll sind und die auch einen ganz erheblichen Beitrag zu den militärischen Aktivitäten der ukrainischen Armee geleistet haben. Ich rede hier zum Beispiel von Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrwaffen, viel Munition und vielem, was dazugehört. Jetzt, wo die Bundeswehr, um deren Stärkung wir uns ja auch noch Gedanken machen, damit sie in Zukunft Bestände hat, die viel größer sind als heute – das nebenbei –, gewissermaßen das Mögliche getan hat, sind wir dabei, zu prüfen, welche Möglichkeiten für industrielle Lieferungen existieren. Dafür haben wir sehr sorgfältig all die verschiedenen Angebote der Industrie betrachtet, bewertet und unsere Vorstellungen dazu entwickelt und sind jetzt im engen Austausch mit der Ukraine darüber, was möglich ist. Sie wissen, dass wir im Übrigen alles dafür getan haben, dass auch die finanziellen Handlungsmöglichkeiten der Ukraine diesbezüglich groß sind. Die EU hat mittlerweile 1 Milliarde Euro für die Beschaffung von Waffen bereitgestellt; und das ist auch richtig. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Lisa Badum aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Dieser Krieg in Europa hat uns ja auch vor Augen geführt, wie eng Energiepolitik und Sicherheitspolitik verzahnt sind – Sie hatten darauf hingewiesen – und dass uns unsere fossile Abhängigkeit natürlich auch verwundbar macht. Ich sage mal: Die CO2-Emissionen sind das Spiegelbild dieser Abhängigkeit. – Der Weltklimarat hat diese Woche noch mal gesagt, dass sie weltweit unvermindert steigen. Von daher finde ich es sehr begrüßenswert, dass Sie heute sagen: Jetzt erst recht! Wir müssen mehr tun im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel. Daher wäre meine Frage – vielleicht können Sie es noch mal konkret sagen –: In welchen Bereichen der Energiepolitik müssen sowohl national als auch auf EU-Ebene aus Ihrer Sicht die Ambitionen noch mal nachgeschärft werden, damit wir letztendlich unabhängiger und damit auch unverwundbarer werden? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Es gibt, wie ich eingangs gesagt habe, zwei unterschiedliche Fragestellungen zu beantworten. Was machen wir jetzt schnell und unmittelbar, um die Abhängigkeit von russischen Importen zu reduzieren? Da geht es auch um Investitionen zum Beispiel in Flüssiggasterminals an den norddeutschen Küsten und ähnliche Entscheidungen, die etwas mit dem Import fossiler Ressourcen zu tun haben. Bei den Flüssiggasterminals ist das Gute, dass wir sie sowieso brauchen, nämlich auch für den später geplanten Import von Wasserstoff, der zu einer klimaneutralen industriellen Zukunft um die Mitte des Jahrhunderts für Europa, spätestens 2045 in Deutschland, dazugehört. ({0}) Deshalb ist es für uns ganz, ganz wichtig, dass wir genau in diesem Bereich die notwendigen Fortschritte jetzt zustande bringen: unser Stromnetz ausbauen, dafür sorgen, dass wir ein ordentliches Wasserstoffnetz bekommen, dafür Sorge tragen, dass wir Produktionskapazitäten bekommen für Windkraft auf hoher See und an Land, für Solarenergie, für die Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Das machen wir, indem wir die Möglichkeit, mehr auf Strom zu setzen, verbessern und indem wir die Kostenbelastung, die mit der EEG-Umlage für die Stromnutzerinnen und ‑nutzer heute verbunden ist, abschaffen. Aber das machen wir eben auch mit einem massiven Boom bei den Investitionen. Das ist der Weg, den Deutschland geht, auf dem wir heute einen wichtigen Schritt gegangen sind; aber es ist auch der Weg, der für ganz Europa richtig ist. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Vielen Dank, Herr Bundeskanzler, insbesondere auch für die Aussicht, dass wir unsere Gaspartnerschaft in der Zukunft auch in grüne, erneuerbare und Wasserstoffpartnerschaften umwandeln wollen. Jenseits dessen, was der Bund tun muss, ist das natürlich eine riesige Herausforderung, und ich denke, Sie sehen es auch so, dass wir die Länder an unserer Seite brauchen. Haben Sie den Eindruck, dass manche Bundesländer vielleicht auch mit wenigen Maßnahmen noch mehr tun könnten, um uns bei diesen Ambitionen auch zu unterstützen, zum Beispiel beim Windkraftausbau?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wenn der Windkraftausbau in Deutschland vorangehen muss, muss er überall in Deutschland vorangehen; und das ist dann in allen 16 Ländern der Fall. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Das Fragerecht geht jetzt an den Kollegen Marc Bernhard aus der AfD-Fraktion.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, Deutschland importiert derzeit rund 55 Prozent seines Erdgases und die Hälfte der Steinkohle aus Russland. Jetzt hat gestern die EU-Kommission ja ein Importverbot für russische Kohle vorgeschlagen; und das ist auch möglich. Sie haben ja selber auch gesagt, dass wir davon dringend wegkommen müssen. Aber wir können es sofort machen; denn ein einziges Kernkraftwerk liefert so viel Energie wie beispielsweise 5 Prozent des russischen Gases oder 16 Prozent der russischen Kohle. Wenn wir also die drei im Dezember abgeschalteten Kernkraftwerke reaktivieren würden, könnten sie zusammen mit den drei noch aktiven fast den gesamten russischen Kohleimport ersetzen oder eben 30 Prozent des russischen Gases. Jetzt meine Frage – Sie haben ja eine Zeitenwende angekündigt, Herr Bundeskanzler –: Was hat die Regierung unternommen, um die Laufzeitverlängerung und Wiederinbetriebnahme der Kernkraftwerke in Deutschland zeitnah zu erreichen, um eben für bezahlbare Energie und für Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen zu sorgen? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst einmal: Wenn die Welt so einfach wäre, wie Sie sie sich in Ihrer Frage ausmalen, ({0}) dann hätten wir ein sehr gutes Leben. Tatsächlich ist es aber so, dass zum Beispiel ein großer Teil der fossilen Importe für industrielle Prozesse benötigt wird. 80 Prozent der Energie, die in Deutschland verbraucht wird, wird im Wesentlichen im Bereich der Industrie verbraucht. Deshalb dürfen wir uns nicht ein falsches Bild machen. Das gilt übrigens auch für die regionale Verteilung und da, wo es um Stromproduktion geht, wo es um Wärmeproduktion geht und um Rohstoffe geht, die für die Industrie notwendig sind. Ein Teil der Ölimporte wird gar nicht fürs Fahren oder Heizen benutzt, sondern tatsächlich, um chemische Produkte herzustellen. Deshalb kann man das nicht mit einer einfachen Antwort lösen. Die zweite Antwort auf Ihre Frage ist eine technische. Wir haben aus Gründen, die ich unverändert sehr gut und richtig finde, entschieden, dass wir den Betrieb unserer Atomkraftwerke auslaufen lassen wollen. Deswegen ist auch nicht alles für einen Weiterbetrieb vorbereitet. Was gegenwärtig alle feststellen, ist: Es gibt nicht nur Importe von Kohle, Gas und Öl aus Russland und einigen anderen Ländern, sondern das gilt auch für Kernbrennstäbe und für die nuklearen Ressourcen, die notwendig sind. – Das sind Dinge, die vorbereitet werden müssen und über die entschieden werden muss. Da kann man nicht sagen: Ich tank mal neu. – Das ist, glaube ich, ein Missverständnis über die technische Funktion eines Atomkraftwerks. Deshalb ist es kein guter Plan, den Sie da insinuieren. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Bundeskanzler, es ist natürlich schon so, dass wir einen Großteil der Steinkohle, die momentan zur Verstromung eingesetzt wird, auf die von mir beschriebene Weise ersetzen könnten. Dann müssten wir weniger Steinkohle aus Russland importieren. Von daher wäre es schon eine schnelle Lösung. Auf der anderen Seite muss man ja nur mal die Situation prüfen. Man kann nämlich schon Brennstäbe bestellen, man muss dafür halt einen Preisaufschlag bezahlen; aber die Unabhängigkeit sollte es uns doch wert sein. Man kann auch dafür sorgen, dass Kernkraftwerke zunächst im Teillastbetrieb weiterlaufen und nur eine gewisse Strommenge erzeugen. Man kann die Sicherheitsbedenken aus dem Weg räumen, indem man die Kernkraftwerke im Sommer runterfährt und die Sicherheitsüberprüfung macht, sodass sie im Winter zur Verfügung stehen. Deswegen meine Frage: Wie viele Lieferanten von Brennstäben haben Sie denn angefragt, und warum wurde die mögliche Sicherheitsüberprüfung der Kernkraftwerke im Sommer bisher nicht eingeplant? – Es handelt sich ja um eine Zeitenwende.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Um die Frage, die Sie gestellt haben, noch einmal zu beantworten: Wenn man die Kernkraftwerke dauerhaft oder jetzt länger laufen lassen will, braucht man neuen Kernbrennstoff, der nicht einfach verfügbar ist, der auch an technische Voraussetzungen gebunden ist, die nicht über Nacht erfüllt werden können. ({0}) Das haben Sie selber schon ein bisschen berücksichtigt, indem Sie vorschlagen, man solle die Atomkraftwerke dieses Jahr weniger laufen lassen, damit sie später mehr laufen können. Das ist aber die Antwort auf die Frage: Gibt es überhaupt genug? – Auch Sie gehen davon aus: Offenbar nicht. ({1}) Es ist jedenfalls so, dass wir davon auch nichts hätten. Denn wenn wir in diesem Jahr einen Mangel an Kohle, Gas oder Öl haben – falls uns das passieren würde – und wir zum Ausgleich die Atomkraftwerke weniger laufen lassen, müssten wir mehr Kohle, Gas und Öl verbrauchen. Das ist also die Milchmädchenrechnung, von der ich am Anfang schon gesprochen habe. Es geht einfach nicht auf, was Sie sich ausmalen. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Der nächste Fragesteller ist Stephan Thomae von der FDP-Fraktion.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, die Beratungen auf europäischer Ebene über eine Verteilung der Schutzsuchenden aus der Ukraine haben leider zu keinem Konsens über einen verbindlichen Verteilmechanismus geführt; stattdessen ist ein freiwilliger Verteilindex gefunden worden. Nun ist Freiwilligkeit etwas Gutes, aber eben auch weniger verlässlich als rechtsverbindliche Verteilregeln. Und niemand weiß, ob die Hilfsbereitschaft lange anhält und ob sie in künftigen Fällen auch wieder so groß ist wie in diesem Fall. Deswegen ist meine Frage an Sie, ob sich Ihre Bundesregierung mit dem jetzigen freiwilligen Verteilmechanismus zufriedengibt oder ob Sie gleichwohl versuchen, weiterhin einen rechtsverbindlichen Verteilmechanismus für diesen Fall und künftige Fälle zu vereinbaren.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst mal ist es gut, dass sich ganz Europa verantwortlich fühlt für die Aufnahme von Flüchtlingen. Das ist mit den Entscheidungen, die die Europäische Union getroffen hat, verbunden, dass das keine Sache einzelner Länder ist und dass alle bereit sind, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. ({0}) Das ist eine Entscheidung, die wir bei früheren Migrationsbewegungen von Flüchtlingen nicht hatten, und wahrscheinlich auch eine politische Veränderung, die weit über die gegenwärtige Herausforderung hinausreicht. Trotzdem sind damit nicht alle Fragen gelöst, die wir hatten. Für einen gesetzlich geltenden festen Verteilmechanismus hat sich – wie auch in der Vergangenheit – keine Mehrheit gefunden. Deshalb ist die Regelung, die wir jetzt haben, ein großer Fortschritt im Vergleich zu dem, was wir in der Vergangenheit hatten. Was ich Ihnen versichern kann, ist, dass wir alles dafür tun, diese erklärte Solidarität und diesen Mechanismus auch mit Leben zu füllen, und in enger Kooperation mit den anderen europäischen Ländern sie bitten, sich an der Aufnahme aus ihrer Verantwortung heraus zu beteiligen.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie erlauben, eine Nachfrage. – Ich finde, Sie sagen zu Recht, dass die Solidarität mit Flüchtlingen keine Sache einzelner Länder ist, sondern eine Gemeinschaftsaufgabe ganz Europas – aber vielleicht auch nicht nur Europas. Deswegen ist meine Frage, ob Sie auch in Verbindung mit anderen Regierungen stehen – etwa in Nordamerika mit der in den USA bzw. in Kanada –, ob auch deren Länder, falls der Zustrom lange anhalten sollte und eine große Zahl von Menschen weiter kommen sollte, bereit sind, Flüchtende aufzunehmen.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Die Bereitschaft ist von vielen erklärt worden. Die Zahl derer, die sich real dorthin bewegt haben, ist bisher natürlich nicht sehr groß. Das fängt schon bei unserem unmittelbaren befreundeten Nachbarn Großbritannien an und geht weiter über Kanada und die USA. Das liegt aber nicht nur an diesen Ländern, sondern auch an den ukrainischen Flüchtlingen selber, die alle für sich entschieden haben, dass sie möglichst dicht an dem Land bleiben wollen, aus dem sie kommen; denn viele verfolgen noch die Perspektive, schnell wieder zurückkehren zu wollen. Insofern wird sich das über die Zeit sicher ändern. Aber ich habe die Zusicherung von den Regierungschefs all dieser drei Länder, die ich genannt habe, und noch mancher anderer, dass sie sich darum bemühen werden und dass sie aktiv einen Beitrag zur Aufnahme leisten wollen. Der kanadische Premierminister hat mir zum Beispiel gesagt, es habe vor knapp 100 Jahren eine massive ukrainische Migration nach Kanada gegeben, die sehr dazu beigetragen hat, das heutige Kanada aufzubauen. Deshalb geht er von einer großen Bereitschaft vieler Bürgerinnen und Bürger mit Verwandtschaftsverhältnissen in die Ukraine aus, hier einen Beitrag zu leisten. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die nächste Frage stellt die Kollegin Janine Wissler aus der Fraktion Die Linke.

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben eben noch mal betont, wie wichtig die Sanktionen gegen Russland und die Putin nahestehenden Oligarchen sind als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nun haben wir aber das Problem, dass in der Praxis gerade die Sanktionen gegen die Oligarchen in Deutschland besonders wirkungslos sind. In Deutschland sind bisher nicht mal 100 Millionen Euro an Geldern eingefroren worden – 95 Millionen Euro, um genau zu sein. Allein in Belgien war es mehr als Hundertfache, nämlich 10 Milliarden Euro. Auch in Frankreich und in Italien ist es ein Vielfaches dieses Betrages. Das Problem scheint ja hier zu sein, dass viel Geld in Briefkastenfirmen und auch in Immobilien versteckt wird. Sie haben jetzt eine Taskforce eingesetzt, um das Problem zu beheben. Ich frage Sie: Stimmen Sie zu, dass dieses Problem in wesentlichem Umfang an unzureichend ausgestatteten Behörden liegt, wie das Zollfahnder und Gewerkschafter ja auch öffentlich kritisiert haben? Und gerade vor dem Hintergrund, dass Sie als Finanzminister ja lange Verantwortung getragen haben für den Bereich der Geldwäsche: Wie schätzen Sie das ein, und wie wollen Sie dieses Problem lösen?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst mal kann ich Ihnen keine Auskunft geben über die Gleichverteilung von infragekommenden Vermögenswerten und Personen in Europa. Da hat es ja unterschiedliche Praktiken gegeben. Sie kennen die Debatte über „goldene Visa“ und „goldene Pässe“. Sie kennen die Praxis, bestimmten Personen großartige Lebensmöglichkeiten in bestimmten Metropolen zu verschaffen. Da ist Deutschland, glaube ich, eher zurückhaltend gewesen, um es sehr freundlich zu sagen, und hat nicht das Gleiche gemacht wie viele andere. Deshalb wissen wir nicht, ob alle Verhältnisse, die gewissermaßen aufzudecken sind, überall gleich sind. Aber die zweite Frage ist völlig berechtigt: Haben wir alle notwendigen Instrumente, um aktiv so handeln zu können, wie wir das gerne wollen? Und die Antwort darauf lautet: Nein. – Deshalb haben wir die Taskforce eingesetzt, und deshalb haben wir uns auch fest entschlossen – schon im Koalitionsvertrag, aber auch im Hinblick auf das, was jetzt zu tun ist –, dass wir etwas unternehmen wollen, um unsere Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen. Der Plan der Regierung ist, ein Sanktionen-Durchsetzungsgesetz zu verabschieden, in dem die verschiedenen Gesetze, die hier berührt sind, aufgegriffen werden. Damit verschaffen wir uns ganz schnell alle Handlungsmöglichkeiten, die wir brauchen, um „State of the Art“ handeln zu können.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie können eine Nachfrage stellen.

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bundeskanzler, es würde mich natürlich sehr interessieren, welchen konkreten Regelungsbedarf Sie mit dem Sanktionen-Durchsetzungsgesetz planen umzusetzen. Gerade weil wir wissen, dass viel Geld in Immobilien versteckt wird und es in Deutschland keine digitalen Grundbücher gibt und auch kein zentrales Immobilienregister, ist meine konkrete Nachfrage an Sie: Sie haben sich als Finanzminister dagegen gewehrt, ein solches Immobilienregister einzuführen. Planen Sie das jetzt? Wie ist heute Ihre Sicht auf die Dinge, auch vor dem Hintergrund, dass die Sanktionen so schwer umgesetzt werden können, weil es unklare Eigentümerstrukturen bei Immobilien gibt? Sehen Sie da heute Handlungsbedarf? Was hat Sie damals dazu bewogen, ein solches zentrales Immobilienregister, das auch aus Gründen der Transparenz gefordert wurde, abzulehnen?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Das, was wir uns als Regierung vorgenommen haben, ist, ein Transparenzregister einzuführen, eine Weiterentwicklung des vorhandenen – das können Sie dem Koalitionsvertrag der drei Regierungsparteien entnehmen –, sodass diese Abfragen möglich sind. Wir versuchen jetzt weit über das hinaus, was wir uns vorgenommen hatten, weitere Abfragemöglichkeiten und Suchmöglichkeiten zu errichten. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Möglichkeit, Eigentümerstrukturen in Grundbüchern mit den Fragen abzugleichen, die wir haben. Das ist nicht nur ein rechtliches Unterfangen, sondern auch ein großes technologisches Unterfangen, das nicht von einem Tag auf den anderen bewältigt werden kann; aber wir haben es auf der Agenda und verfolgen es mit großem Nachdruck, nicht nur, aber natürlich auch wegen der aktuellen Situation. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Kollegin, die eine Frage stellt, ist Sanae Abdi für die SPD-Fraktion. ({0})

Sanae Abdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, Sie hatten bereits im Mai 2021 als damaliger Finanzminister die Idee eines internationalen Klimaklubs vorgestellt und diesen im Rahmen der G‑7-, G‑20-Finanzminister/innen diskutiert. Im August letzten Jahres haben Sie dann die gemeinsamen Eckpunkte für einen internationalen Klimaklub in das Bundeskabinett eingebracht. Zunächst möchte ich Sie fragen, welche Bedeutung dem Klimaklub nach Auffassung der Bundesregierung in der aktuellen Lage zukommt. Außerdem möchte ich vor dem Hintergrund des zeitnah stattfindenden G‑7-Gipfels auf Schloss Elmau fragen, wie die Bundesregierung den aktuellen Diskussionsstand innerhalb der G 7 bewertet.

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für die Frage. – Wir hatten dieses Thema jetzt schon von verschiedenen Seiten beleuchtet. Wenn wir es schaffen wollen, uns unabhängig zu machen von fossilen Importen aus Russland, wenn wir es schaffen wollen, 2045 in Deutschland klimaneutral wirtschaften zu können, dann wird das in eine Strategie eingebettet sein müssen, die die ganze Welt verfolgt. Diese Strategie ist nicht eins zu eins mit unserer identisch; aber um die Mitte des Jahrhunderts sollen entsprechende Fortschritte überall erreicht sein. Deshalb ist es notwendig, dass all die Länder, die vielleicht unterschiedliche Wege gehen, aber das gleiche Ziel verfolgen, sich gegenseitig unterhaken. Was keinen Sinn macht, ist, dass jedes Land seine eigenen Maßnahmen beschließt, dann seine eigene Industrie mit Zöllen oder Grenzausgleichmechanismen oder sonst was beschützt und dann alle miteinander kämpfen. Vielmehr sollten sich diejenigen, die in der gleichen Richtung unterwegs sind, verbünden und in einem offenen Klimaklub, der für alle zugänglich ist, gewissermaßen als „Like Minded“ den Kampf gegen den Klimawandel aufnehmen. Angesichts der Tatsache, dass das eine globale Herausforderung ist, ist das erst recht richtig. Wir haben das überall auf die Agenda gesetzt, ob das nun die G 20, G 7, die OECD, der Internationale Währungsfonds oder die Europäische Union sind. Wir haben auch viel Unterstützung bekommen, auch in den entsprechenden Beschlussfassungen der Europäischen Räte. Für die G-7-Präsidentschaft Deutschlands ist das einer der ganz großen Punkte, die wir uns vorgenommen haben. Ich sehe, dass es dafür viel Unterstützung gibt. Deshalb glaube ich, dass das auch zu den Dingen gehört, die wir in unserer Präsidentschaft voranbringen können. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Sanae Abdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich verzichte. – Vielen Dank für die Beantwortung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herzlichen Dank. – Dann ist der nächste Fragesteller Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Bundeskanzler, ich muss leider auf das Thema „Waffenlieferungen an die Ukraine“ zurückkommen, weil Sie nach meiner Auffassung den Kern der Frage meines Kollegen Wadephul und den Kern der Frage meines Kollegen Hahn nicht beantwortet haben. Seit Wochen besteht der Wunsch der Ukraine nach Panzerfahrzeugen, Schützenpanzern, Bergepanzern usf. Wir wissen alle, dass diese Panzer bei deutschen Rüstungsunternehmen und bei Verwertern von Rüstungsgütern auf dem Hof stehen und bereit sind zur Lieferung. Woran liegt es, dass diese Wünsche der Ukraine seit Wochen nicht beschieden werden? Können Sie mir versichern, dass es nicht an der Bundesregierung liegt?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Ich will es gerne noch mal sagen: Wir handeln in der Frage, was wir exportieren, was wir möglich machen, was wir finanzieren, abgestimmt mit unseren Freunden und Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO und all denjenigen, die dazu zusammen Vorschläge unterbreiten. Wir betrachten dies unter verschiedenen Gesichtspunkten. Dazu gehört aber ganz bestimmt, dass wir auf gleiche Art und Weise militärische Unterstützung liefern und niemand vorprescht, Deutschland auch nicht. Ich glaube, dass es gerade bei dieser Frage ein schwerer Fehler wäre, wenn Deutschland eine Sonderrolle und einen Sonderweg einschlagen würde. Ich glaube, dass Sie dafür großes Verständnis haben. ({0}) Es gehört im Übrigen bei allem, was wir konkret zu bewerten haben, immer dazu, dass wir uns in den dafür zuständigen Gremien genau anschauen, wann bestimmte Dinge überhaupt verfügbar sind, welche Qualität sie haben. Ich glaube, wir sollten uns auch vor Vorwürfen schützen, dass wir Dinge liefern, die keinen militärischen Nutzen haben. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Hardt, Sie möchten eine Nachfrage stellen. Bitte schön.

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne. – Herr Bundeskanzler, Tschechien hat jetzt angekündigt, Panzer zu liefern. Tschechien ist ja ein EU-Partner. Würden Sie dies als vorpreschen kritisieren?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Das ist eine international abgestimmte Handlungsweise, bei der auch die Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Rolle spielt. Denn es handelt sich um sehr alte Bestände, die in Deutschland von der NVA genutzt worden sind, die aber den Vorzug haben, dass sie in der Ukraine ganz besonders gut eingesetzt werden können, weil dort Erfahrung im Umgang mit diesen Geräten besteht. Das gehört ja auch dazu: Wir müssen immer Geräte liefern, die auch eingesetzt werden können. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage stellt die Kollegin Renate Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Herr Bundeskanzler, es geht mir um die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln. Wie beurteilen Sie die Versorgungssicherheit in Deutschland und in Europa im Augenblick, und welche Maßnahmen halten Sie mittelfristig für nötig, diese zu gewährleisten, wenn man den Angriff auf die Ukraine – den Ernteausfall dort –, die Klima- und die Biodiversitätskrise bedenkt?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Diese Fragen sind natürlich sehr groß, wenn ich das sagen darf. ({0}) Ich will versuchen, sie in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, zu beantworten. Wir können in Europa Versorgungssicherheit gewährleisten. Wir haben Handlungsmöglichkeiten, die auch in der EU genutzt werden; dafür hat sich auch der Bundeslandwirtschaftsminister sehr eingesetzt. Wir müssen uns aber im Hinblick auf die Versorgungssicherheit der übrigen Welt viel größere Sorgen machen; denn wir wissen, dass die Ukraine und dass Russland große Exporteure zum Beispiel von Weizen sind und für die Ernährungssicherheit vieler Länder der Welt eine Rolle spielen. Dieser Krieg gefährdet das. Darum ist es sehr richtig, dass der Landwirtschaftsminister, aber auch die Entwicklungshilfeministerin alles dafür tun, dass wir unsere Verantwortung für die Sicherheit der Lebensmittelversorgung vieler Bürgerinnen und Bürger auf unserem Planeten mit übernehmen: durch Förderprogramme, durch Absprachen, durch Kooperationen. Das gehört zu unserer Politik.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Künast, haben Sie eine Nachfrage?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Herr Bundeskanzler, Sie haben die Zusammenhänge angesprochen. Wir haben durch die Pandemie und durch die Ukrainekrise noch mal gesehen, in wie vielen Bereichen wir uns fälschlicherweise abhängig gemacht haben: bei den Masken und Kitteln, die wir nicht selbst herstellen, bei der Energie. Und wir sehen heute auch, dass sich viele Staaten in Afrika sehr abhängig gemacht haben von der Lieferung von Getreide, zum Beispiel von Weizen oder Mais. Manche diskutieren deshalb heute, dass wir alles, was im Zuge der europäischen Agrarreform auf den Weg gebracht wurde, stoppen müssen. Deshalb frage ich Sie: Unterstützt die Bundesregierung weiterhin die EU-Kommission beim Green Deal, bei Farm to Fork und all den Versuchen, wirklich nachhaltige Landwirtschaft bei uns, aber auch in anderen Ländern aufzubauen, damit diese sich selbst besser ernähren können?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Sicher werden wir das tun. Ich habe ja bereits berichtet, dass das gut abgewogen entschieden worden ist von der Europäischen Union, aber auch von der Bundesregierung unterstützt wird, indem wir einige Möglichkeiten geschaffen haben zum Beispiel beim Anbau von Futterpflanzen und Ähnlichem. Wir haben das aber eben so abgewogen gemacht, dass die anderen Zielsetzungen, die wir verfolgen, darüber nicht in Gefahr geraten. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Gottfried Curio stellt die nächste Frage.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Bundeskanzler, der Bundesnachrichtendienst warnt vor Schleusernetzwerken, die die Fluchtbewegung aus der Ukraine ausnutzen. Möglicherweise würde die Lage auch von Mitgliedern terroristischer Gruppierungen genutzt. Den Erkenntnissen der Behörde zufolge mischen sich jetzt unter die Flüchtlinge aus der Ukraine auch ganz andere Migranten von der Balkanroute und der Ostroute, Schleuser fälschen gezielt ukrainische Personaldokumente, bieten diese im Netz an. Gleichzeitig sagt die Deutsche Polizeigewerkschaft, es würden überhaupt nur 60 Prozent der Flüchtlinge kontrolliert. Sind Sie wie auch die Innenministerin vor diesem Hintergrund dennoch nicht willens, bei den Grenzüberschreitungen für eine vollständige und täuschungsfreie Registrierung samt erkennungsdienstlicher Erfassung der Identität zu sorgen, und nehmen also durch diese Verweigerung vollständiger Kontrolle wie 2015 sehenden Auges die Betrugsfälle und die Sicherheitsrisiken für Deutschland in Kauf? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Es ist nicht richtig, was Sie in Ihrer Frage unterstellen. Es wird sehr umfassend kontrolliert und identifiziert. Wir machen das ganz besonders für diejenigen, die nicht über ukrainische Pässe verfügen, unmittelbar auch bei den verschiedenen Einreisen; das machen auch unsere Nachbarn so, die da ebenfalls einen Beitrag leisten. Und in enger Kooperation mit ihnen gelingt das auch. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass alle diejenigen, die hier bei uns einen Aufenthalt anstreben und von den Möglichkeiten Gebrauch machen wollen, die die Europäische Union, wir und viele andere Länder geschaffen haben, sich melden müssen und registriert werden im Ausländerzentralregister, das wir in den letzten Jahren massiv modernisiert haben und das uns die Möglichkeit gibt, gleichzeitig alle Personen nicht nur konkret anhand biometrischer Daten zu identifizieren, sondern auch Datenbankabfragen zu machen, die uns in die Lage versetzen, auch diejenigen herauszufinden, die sich da untermischen wollen oder die gegen etwas vorliegt, was wir nicht akzeptieren können.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Dr. Curio, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte sehr.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Bundesnachrichtendienst und Deutsche Polizeigewerkschaft sehen das weit weniger entspannt. Danach werden also die von den Sicherheitsbehörden erwarteten Gefahren nicht wirklich verhindert und illegale, nicht schutzbedürftige Migranten unter den wirklichen Flüchtlingen jetzt quasi versteckt. Auch die schon im Februar, vor Kriegsbeginn, explodierenden Energiepreise werden ja jetzt auf „kriegsverursacht“ umgedeutet und in der Ukrainekrise versteckt. Wollen Sie die wahren, hausgemachten Gründe für den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands – Missmanagement, Energiewende, Gelddrucken, Schulden-Euro – verstecken in den Folgen von Krieg und unnötigen Sanktionen? Glauben Sie, dass die Bürger auf diese Umdeutung hereinfallen? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Ich hoffe, dass in Ihren Social-Media-Programmen nicht nur Ihre Fragen, sondern auch meine Antworten abgebildet werden. ({0}) Ich habe manchmal den Eindruck, Sie stellen Fragen, die gar nicht darauf ausgerichtet sind, dass man noch eine Antwort gibt. Aber ich gebe Ihnen trotzdem eine: Es stimmt einfach nicht, was Sie sagen. Deutschland ist eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt, einer der großen Gewinner der Globalisierung, technologisch weltweit an der Spitze, und das wird so bleiben. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Markus Herbrand stellt die nächste Frage.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich möchte noch mal auf die Inflation zu sprechen kommen. Sie wurde und wird von vielen unterschätzt, sowohl hinsichtlich der Dauer als auch hinsichtlich der Höhe. Der Staat nimmt seit Jahren einen Ausgleich dafür vor, dass Staatseinnahmen nur deshalb steigen, weil Inflation vorhanden ist – Stichwort „kalte Progression“. Meine Frage dazu lautet: Können Sie abschätzen, wann der Bericht über die Wirkung der kalten Progression kommt und die hohe Inflation ausgeglichen wird?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wir haben ja jetzt schon eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, um auf die Herausforderung der steigenden Preise zu reagieren. Dazu gehören insbesondere massive steuerliche Entlastungen, die sich für alle als nützlich erweisen werden, ganz besonders für diejenigen, die wenig verdienen, aber natürlich auch für viele andere. Ich nenne hier die höhere Arbeitnehmerpauschale, den höheren Grundfreibetrag und verschiedene andere Entscheidungen, über die ich vorhin schon berichten konnte. Aber klar ist: Es gibt auch erneut einen Bericht über die kalte Progression und ihre Auswirkung. Wenn ich es richtig im Kopf habe, ist er für diesen Herbst geplant.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte schön.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe noch eine Nachfrage. – Ich teile Ihre Auffassungen, dass die Möglichkeit des Staates, auf die Inflation zu reagieren, Entlastungen sind, die vorgenommen werden. Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz ist im parlamentarischen Verfahren wie auch das erste Entlastungspaket. Können Sie konkret benennen, ab wann das zweite Entlastungspaket wirken wird?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Wir arbeiten jetzt final an den letzten Schritten. Es soll alles noch vor der Sommerpause von Ihnen durch dieses Parlament befördert werden. Ich rechne auf Ihre Unterstützung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christian Görke ist der nächste Fragende für Die Linke.

Christian Görke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005067, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich komme zurück auf die Explosion der Energiepreise und die Spekulationsgewinne, die schon Themen dieser Stunde waren. Die Europäische Kommission hat den europäischen Mitgliedstaaten im März die Möglichkeit eröffnet, die sogenannten Zufallsgewinne, diese Spekulationsgewinne, zu besteuern. Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass Erlöse bis zu 200 Milliarden Euro in der Europäischen Union in diesem Jahr besteuert werden könnten. Deshalb frage ich Sie: Welchen Diskussionsstand gibt es in der Bundesregierung? Und vor allen Dingen: Welche persönliche Position haben Sie dazu, diese übermäßigen Krisengewinne gerecht zu besteuern?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst einmal: Es werden alle Gewinne besteuert, auch übermäßige Krisengewinne. Das gehört zu unserer Steuerordnung dazu. Es geht nicht darum, Steuern neu zu entwickeln; die Besteuerung muss ja sowieso erfolgen. Gleichzeitig ist unser gegenwärtiges Bemühen vor allem darauf gerichtet, wie wir die übermäßige Steigerung der Energiepreise reduzieren können, weil das natürlich für viele eine Herausforderung ist, die man nicht einfach so belassen kann, wie sie ist. Klar ist: Ein großer Teil der steigenden Preise hat etwas zu tun mit Herausforderungen, die außerhalb Europas liegen. Die großen Krisenbekämpfungsprogramme während der Coronapandemie haben dazu beigetragen, dass die Preise überall gestiegen sind, die Nachfrage nach Ressourcen und verschiedenen Produkten größer geworden ist. Auch deshalb sind die Preise gestiegen. Die großen Herausforderungen für die Logistikketten in der Welt haben ebenfalls Preissteigerungen verursacht, die sich massiv bemerkbar machen. Ich gehe davon aus, dass die Globalisierung ein Ende nimmt im Hinblick auf die Phase, wo alles sehr billig war, weil nur ein kleiner Teil des Marktes bedient wurde von der übrigen Welt. Der Fortschritt der letzten 30, 40 Jahre bedingt auch, dass viele andere Länder der Welt so weit aufgeschlossen haben, dass sie jetzt als Nachfrager auf diesem Markt mit uns um knappe Güter konkurrieren – verbunden mit den entsprechenden Konsequenzen. All das sind ja erst mal höhere Preise ohne höhere Gewinne. Ansonsten schauen wir uns alles genau an.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? – Bitte.

Christian Görke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005067, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist schön, dass Sie sich alles genau anschauen. Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich jetzt um eine Antwort herummogeln. ({0}) Deshalb noch mal die Frage: Meinen Sie nicht auch, dass Ihr Regierungskollege Mario Draghi in Italien – ein Konservativer, kein Linker –, der dieses Instrument nutzt, nicht auch ein Beispiel für die Bundesrepublik Deutschland und auch für Sie als Bundeskanzler sein könnte?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Ich unterhalte mich sehr oft und sehr gern mit meinem Kollegen Draghi, der wirklich ein sehr kluger Mann ist und es geschafft hat, eine gute politische Richtung in Italien zu etablieren. Wir alle kämpfen mit den Herausforderungen. In Italien sind die besonders spürbar, weil die Abhängigkeit vom Gas dort noch viel größer ist, als es bei uns der Fall ist, und die Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen, viel kleiner sind als bei uns. Deshalb haben wir in den vielen Debatten, die wir jetzt in Europa geführt haben, schon festgestellt: Es wird nicht ganz einfach sein, alle 27 Länder über einen Kamm zu scheren, weil es einfach ganz unterschiedliche Köpfe sind. Das Zweite ist, dass wir sehr klarmachen, dass wir eine abgestimmte Politik entwickeln müssen. Das ist noch nicht zu Ende diskutiert. Darüber reden wir noch miteinander. Einer meiner besten Gesprächspartner ist der italienische Ministerpräsident.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Martin Rosemann stellt die nächste Frage.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bundeskanzler, im Koalitionsvertrag der von Ihnen geführten Fortschrittskoalition findet sich ja unter der Überschrift „Respekt und sozialer Fortschritt“ eine ganze Reihe von Vorhaben. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro haben Sie vorhin schon angesprochen. Dazu kommen Projekte wie die Kindergrundsicherung, die Einführung des Bürgergeldes, die Stabilisierung der Rente und Verbesserungen für die Erwerbsminderungsrentnerinnen und Erwerbsminderungsrentner. ({0}) Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie fragen: Welche Bedeutung und welchen Stellenwert messen Sie diesen Projekten angesichts der derzeitigen weltpolitischen Situation und ihrer Auswirkungen auf die Situation in Deutschland bei?

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Es ist ziemlich klar, dass wir vor großen Herausforderungen stehen angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine, angesichts der großen Verwerfungen, die wir auf den Weltenergiemärkten sehen, und angesichts vieler anderer Herausforderungen, die wir heute ja schon sorgfältig besprochen haben. ({0}) Es besteht die Notwendigkeit, dass wir wegen der russischen Aggression sicherstellen müssen, dass die NATO und die Bundeswehr gut ausgestattet sind, und deshalb werden wir dazu auch mehr Mittel mobilisieren müssen; Sie wissen und kennen meinen Vorschlag mit dem Sondervermögen Bundeswehr. Aber gerade deshalb ist mir wichtig zu betonen, dass die Vorhaben, von denen Sie einige aufgezählt haben – und die Liste ließe sich verlängern –, unverändert fortgesetzt werden. Aus meiner Sicht sind sie jetzt erst recht notwendig. Denn wenn eine Gesellschaft durch so schwierige Zeiten geht, dann muss sie zusammenhalten. Diese Vorhaben dienen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft und dazu, dass es gerecht zugeht. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie haben eine Nachfrage. – Bitte sehr.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie haben die Finanzierung angesprochen. Ich möchte Sie deshalb fragen: Können Sie sicherstellen, dass die Finanzierung der genannten Projekte gesichert ist, dass sie tatsächlich wie im Koalitionsvertrag vorgesehen realisiert werden können und in den kommenden Jahren auch entsprechend finanziell unterlegt werden? ({0})

Olaf Scholz (Kanzler:in)

Politiker ID: 11003231

Das ist das, was wir uns miteinander vorgenommen haben. Deshalb kann ich Ihnen versichern, dass die Mitglieder der Regierung – der Finanzminister genauso wie der Arbeits- und Sozialminister zum Beispiel oder die Familienministerin – der festen Überzeugung sind, ({0}) dass diese Dinge zum gesamten Vorhaben dazugehören, das wir uns für dieses Land vorgenommen haben, und wir halten an ihnen unverändert fest. ({1})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder und Nachrichten aus Butscha, die uns seit Tagen erreichen, sind schrecklich; sie sind grausam. Die Bilder von feige ermordeten Menschen, von Massengräbern, die Verzweiflung und Tränen von Müttern, Vätern und Kindern haben uns alle ins Mark getroffen. Es sind Menschen wie Sie und ich, die bis vor ein paar Wochen noch ein ganz normales Leben – frei und selbstbestimmt mitten in Europa – geführt haben. Ich möchte an dieser Stelle dem Präsidenten Selenskyj und allen Angehörigen stellvertretend für so viele Menschen in der Ukraine mein tiefes Mitgefühl aussprechen. ({0}) Auch hier, meine Damen und Herren, herrscht unfassbare Trauer. Auch hier herrscht unfassbare Wut. Und auch wenn der Kreml versucht, durch Desinformationen, Lügen und Propaganda unbelegte Zweifel zu säen, und wenn seine Anhänger selbst hier in Deutschland versuchen, diese Zweifel, Desinformationen und Propaganda zu verbreiten, ist eines doch klar: Hinter diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen Putin und seine Armee. Die Dokumentation der Kriegsverbrechen und die Aufarbeitung müssen jetzt beginnen. Putin und seine Gefolgsleute werden sich dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Morde, die Zerstörung und die Gräueltaten zeigen auf furchtbarste Weise, mit welcher unfassbaren Brutalität der russische Präsident seinen Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt. Die Kriegsverbrechen der russischen Armee können wir nicht unbeantwortet lassen. Wir müssen gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, mit G 7, im Transatlantischen Bündnis alles, was möglich ist, tun, um diese unmenschliche Brutalität einzudämmen. Der Druck auf Putin und sein System, auf die, die ihn stützen, muss dringend erhöht werden. Ich hoffe, darüber besteht Konsens zwischen den Demokratinnen und Demokraten dieses Hauses. ({2}) Es kommt jetzt auf ein gemeinsames und entschlossenes europäisches und internationales Vorgehen an. Schärfere Sanktionen werden wir jetzt, in diesen Tagen, in diesen Stunden, in einem fünften Sanktionspaket in der europäischen Gemeinschaft beschließen, um den Druck auf Putins Machtapparat, auf sein System, weiter zu erhöhen. Dazu gehört ein Einfuhrverbot für Kohle. Dazu gehören Transaktionsverbote gegen weitere wichtige russische Banken, ein weiteres Einfrieren von Vermögenswerten und einiges mehr, was die europäischen Staaten gemeldet haben und was notwendig ist, die Sanktionen wirklich zu verschärfen und noch mehr Druck über dieses Sanktionsregime auszulösen. ({3}) Dieses Paket wird auch das Fundament sein für einen Komplettausstieg aus der Abhängigkeit von Russlands fossiler Energie, und es wird damit das Putin-Regime klar noch härter treffen, als das die bisherigen Sanktionspakete – die Pakete eins bis vier – schon tun. Der Weg härterer Sanktionen und der Weg raus aus den fossilen Energien Russlands werden von den Europäerinnen und Europäern gemeinsam gegangen, und zwar so schnell wie möglich. Das ist die wichtige Nachricht: Wir müssen an dieser Stelle gemeinsam handeln – entschlossen, hier und jetzt. ({4}) Unser Ziel muss es sein, Russland wirtschaftlich und finanziell abzukoppeln, ohne anderen Ländern zu schaden, gerade den ärmeren Ländern. Das muss uns gelingen. Diese klare internationale und europäische Haltung, diese gemeinsame Antwort – das ist das, worauf es jetzt ankommt. Dazu gehören auch die Waffenlieferungen, und dazu gehört es auch, die Frage, was alles machbar ist, im europäischen Kontext zu diskutieren und das jetzt gemeinsam auf den Weg zu bringen, auch im Hinblick auf Waffenlieferungen. Das sage ich für meine Fraktion genauso überzeugt wie andere hier im Haus und wie wir in der europäischen Gemeinschaft hoffentlich zusammen. ({5}) Meine Damen und Herren, Putin muss diesen Krieg gegen die Ukraine und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sofort stoppen. Ich bin mir sicher: Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und im Transatlantischen Bündnis mit der Verschärfung der Sanktionen –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und mit der Unterstützung beim Recht auf Selbstverteidigung durch Waffenlieferungen und humanitäre Hilfe alles, was machbar ist, tun, um diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Johann Wadephul. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich der Kollegin Haßelmann vollkommen anschließen: Das ist nicht nur ein völkerrechtswidriger Krieg. Das ist ein Krieg, der unter Verletzung der Grundnormen der Humanität und unter Verletzung der Grundnormen der Genfer Konvention geführt wird, der keine Rücksicht mehr nimmt auf schwache Menschen, auf Kinder, auf Frauen, auf Schwangere, auf Alte. Das ist ein Krieg, der auf barbarische Art und Weise geführt wird. Und in der Tat: Ich schließe mich Ihrer Aufforderung an und bin für meine Fraktion gerne bereit, das zu erklären. Hier müssen wir zusammenstehen und gemeinsam auf der richtigen Seite stehen: auf der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. ({0}) Ich will aber einräumen, Frau Kollegin, dass ich mir so klare Worte, wie ich sie von Ihnen gehört habe, wie ich sie auch von Frau Strack-Zimmermann lese, wie ich sie weitgehend auch von Annalena Baerbock höre, auch vom Bundeskanzler gewünscht hätte. ({1}) – Ja, ich höre nicht damit auf, Frau Esken, weil er vorhin in der Regierungsbefragung Fragen ausgewichen ist, unklar geblieben ist und sich zu dieser Frage nicht geäußert hat. ({2}) Er hätte im Übrigen jede Woche die Gelegenheit, klar zu sagen, wofür er steht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein solcher Krieg kann prinzipiell drei Auswege haben: Es kann die eine Seite gewinnen, es kann die andere Seite gewinnen, und es kann einen Verständigungsfrieden geben. Nachdem wir das Letztere in dieser Auseinandersetzung, glaube ich, nicht erwarten können, müssen wir uns entscheiden, auf welcher Seite wir mit welchen Mitteln stehen wollen. Da kann ich nur sagen: Wir wollen nicht an dem Krieg formell teilnehmen, aber in dieser Situation muss Deutschland, muss die freie Welt wirklich aber auch alles tun, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnt! ({3}) Denn das würde eine große Niederlage für uns alle sein. Das wäre eine Niederlage für Deutschland. Das wäre eine Niederlage für die Menschenrechte. Das wäre eine Niederlage für die Europäische Union. Es wäre im Übrigen für alle Staaten auf der Welt, die das unterstützt haben, auch in den Vereinten Nationen, eine Niederlage. Es wäre eine Niederlage für den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir alle – oder viele von uns, die allermeisten von uns; ich sage mal: die demokratische Mitte in jedem Fall – wünschen uns ja kaum, dass Herr Trump wieder zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wird. Das heißt: Der Schluss muss doch sein, dass wir in dieser Situation wirklich alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht – in der Tat unterhalb einer formellen Beteiligung der NATO und der Bundeswehr –, dass dieser Krieg von den Ukrainerinnen und Ukrainern gewonnen wird, dass sie sich erfolgreich verteidigen können. ({4}) Da finde ich – Frau Esken, Sie wollen das nicht hören –, Herr Bundeskanzler, was Ihre Antwort von vorhin angeht: Da musste man bei der dritten Nachfrage versuchen, herauszulesen: Was sagen Sie denn nun zum Thema „schwere Waffen“? Es ist eine Binse – man mag es nicht schön finden, aber es ist eine militärische Binse –, dass in dieser Situation des Krieges die Ukrainerinnen und Ukrainer, wenn sie sich erfolgreich verteidigen sollen, schweres Gerät brauchen: gepanzerte Waffen, Bergepanzer, Brückenlegepanzer, vielleicht sogar Kampfpanzer, vielleicht sogar Artilleriegeschosse. Die brauchen sie nun mal, um bestehen zu können! ({5}) Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn Ihre Antwort heute lautet: „Da sollte Deutschland nicht vorpreschen; da sollten wir nicht die Ersten sein, die das machen“, dann ist das aus meiner Sicht eine unzureichende Antwort. Dann wird Deutschland seiner Verantwortung für die Ukraine in dieser historischen Situation schlicht nicht gerecht. Das muss man sagen. ({6}) – Ich will Ihnen das ganz offen sagen. Ich habe das vorhin schon in einer Frage angesprochen: Ich kenne Geschäftsführer von Rüstungsunternehmen, die sagen mir, sie hätten jede Woche mit einem Referatsleiter im Bundeswirtschaftsministerium zu tun, der ihnen Fragen stellt, wie sie der Bundeskanzler vorhin auch angedeutet hat: Können die Ukrainer denn überhaupt mit den Waffen umgehen? Wo wollt ihr sie übergeben? Können die Ukrainerinnen und Ukrainer das überhaupt bezahlen? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir auf diesem bürokratischen Niveau die ganze Geschichte am Ende kaputt machen wollen, dann sagen Sie das bitte ehrlich! ({7}) Ich bin der Meinung: Wir stehen auf der Seite der Ukraine und müssen das dann auch leisten. ({8}) Dazu gehört auch die Frage der Energieversorgung, die natürlich keine kleine Frage ist. Ich will auch nicht abschließend sagen, dass ich alles beurteilen kann. Nur, wenn Robert Habeck sagt: „Wenn wir das Gas abschalten, ist es eine Katastrophe; aber wenn Putin das macht, dann ist das beherrschbar“, dann ist das zumindest mal ein offenkundiger logischer Widerspruch. ({9}) Deswegen sage ich: Diese Bundesregierung muss aus der Unentschiedenheit herauskommen. Sie muss sich klar bekennen. Sie muss eine Führungsrolle einnehmen. Sie muss wissen, wo sie steht in dieser Situation, und erst recht nach Butscha: an der Seite der Ukraine, an der Seite der Menschlichkeit. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung ergreift Christine Lambrecht das Wort. ({0})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bilder, die uns aus der Ukraine erreichen, sind schrecklich. Sie zeigen brutalste Gräueltaten, die an Zivilisten begangen werden. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Wenn wir ehrlich sind, dann ist dieser Angriffskrieg, dieser brutale Angriffskrieg, schon ein Verbrechen, aber das, was wir da gesehen haben, was wir da sehen müssen, ist eine Entmenschlichung, die alle Grenzen überschritten hat. ({0}) Klar ist: Putin nimmt diese grauenvollen, grausamen Taten in Kauf. Aber es wäre zu kurz gesprungen, wenn wir das alles nur auf Putin reduzieren würden. Es sind nämlich nicht nur seine Taten; sondern jeder Kommandant, der so etwas befehligt, jeder Soldat, der so eine Tat ausführt oder geschehen lässt, machen sich mindestens genauso schuldig, meine Damen und Herren. ({1}) Und alle müssen sich fragen lassen: Ist das das Russland, für das ihr die Uniform tragt, für das ihr stehen wollt? Ist das das Russland, für das ihr kämpft? Die internationale Gemeinschaft muss klar antworten: Jede Tat muss schonungslos verfolgt werden, und es muss alles dafür getan werden – alles –, dass wirklich jeder einzelne Kriegsverbrecher auch seine entsprechende harte Strafe bekommt. ({2}) Aber wir sehen in den Straßen von Butscha mehr als nur Leichen. Wir sehen im grellen Licht die Grausamkeit des Systems Putin. Es ist ein System, dem alle Mittel recht sind, um seine Interessen durchzusetzen, ein System, das nationalistischem Großmachtswahn alles unterordnet, das keine Grenzen kennt und keine Hemmungen, ein System, das Recht und Menschlichkeit mit Füßen tritt. Und deswegen darf dieses System nicht gewinnen; es darf sich nicht durchsetzen. Wer so handelt wie Putin, dem ist es egal, ob die Leichen auf den Straßen von Butscha oder die Leichen auf den Straßen von Tiflis, Vilnius oder Berlin sind. Daher müssen wir die Ukraine in ihrem Kampf gegen das System Putin stützen, sie unterstützen, wo wir nur können. ({3}) Dabei geht es nicht darum, Schlagzeilen zu produzieren oder sich moralisch zu erleichtern. ({4}) Nein, es geht darum, ganz konkret zu helfen, ganz konkret zu unterstützen. ({5}) Denn wir können diesen Krieg, sosehr es schmerzt, nicht mit einem Schlag beenden. Aber wir können die russische Fähigkeit zur Kriegsführung schwächen. Wir haben bereits beispiellos harte Sanktionen erlassen, Sanktionen, die Russland an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht haben und die zunehmend ihre volle Wirkung entfalten. Jetzt werden wir noch einmal entschlossen und gezielt nachlegen und dabei dann auch den Import von Energieträgern im Blick haben. Ganz aktuell ist das vorgeschlagene Importverbot für russische Kohle dabei ein ganz wichtiger Baustein. ({6}) Meine Damen und Herren, wir haben die Ukraine bereits in großem Umfang auch mit Waffen beliefert, unterstützt, und wir arbeiten jeden Tag mit Hochdruck daran, weitere Waffen liefern zu können. Dafür sind wir im ständigen Austausch mit der ukrainischen Regierung, mit unseren Alliierten und Partnern und auch mit der Rüstungsindustrie. Wenn wir über die Art und Anzahl der gelieferten Waffen aber nicht öffentlich reden, dann hat das einen guten Grund: Die Ukraine hat ausdrücklich darum gebeten, und wir halten uns daran. Es geht aus militärischer Sicht nämlich darum, dass Russland im Unklaren über die Typen und Mengen der gelieferten Waffen ist und sich nicht darauf einstellen kann; der Feind hört nämlich mit. Deswegen ist es wichtig, dass wir handeln, aber nicht darüber reden, weil das das Ziel gefährden würde, nämlich die Ukraine zu unterstützen. ({7}) – Herr Wadephul, das ist keine bürokratische Hürde. In diesem Zusammenhang ist eines ganz wichtig: Die NATO und Deutschland dürfen nicht riskieren, selbst zur Kriegspartei zu werden. Denn das ist für ganz, ganz viele Menschen momentan eine große Sorge: Wie geht das weiter? Wie wirkt sich das aus? Was bedeutet das auch für uns? Wie entwickelt sich diese Spirale? Das kann man nicht einfach als bürokratische Hürde abtun. Nein, dieser Verantwortung müssen wir nachkommen. Wir sind uns mit unseren Verbündeten in der NATO, mit unseren Partnern in der Europäischen Union sehr einig, dass wir diese Grenze nicht überschreiten wollen und auch nicht überschreiten werden. ({8}) Wir müssen verhindern, dass es in Europa einen Flächenbrand mit allen sich daraus ergebenden schrecklichen Konsequenzen gibt. ({9}) Meine Damen und Herren, das System Putin darf nicht gewinnen, darf sich nicht durchsetzen; denn sonst können wir alle nicht mehr sicher sein, und daher müssen wir auch in Deutschland lernen, sehr viel wehrhafter zu sein – sehr viel wehrhafter zu sein. Dieser Gedanke steht hinter der sicherheitspolitischen Zeitenwende, die der Bundeskanzler verkündet hat. Dieser Gedanke steht hinter dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Wenn wir heute in unsere Streitkräfte investieren – da geht es nämlich darum, unsere Werte von Recht und Menschlichkeit gegen das System Putin zu verteidigen –, dann geht es darum, uns und unsere Verbündeten gegen militärische Erpressung und Gewalt abzusichern. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Jürgen Braun. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Butscha war eine ruhige Kleinstadt unmittelbar vor den Toren Kiews mit einem großen See und viel Grün. Das Kiewer Großbürgertum der vorrevolutionären Zeit fuhr dorthin in die Sommerfrische, wie man damals hierzulande gesagt hätte. Nichts erinnert jetzt mehr an diese Vergangenheit; denn bis vor wenigen Tagen säumten Leichen die Straßen Butschas wie während des Holodomor, des kommunistischen Völkermordes an den Ukrainern. Natürlich kann in jedem Krieg nicht nur der Aggressor Kriegsverbrechen begehen, sondern ebenso der Verteidiger. Wir als AfD fordern eine zweistufige Untersuchung, zunächst möglichst schnell durch die drei Experten, die der UNO-Menschenrechtsrat erst letzte Woche für die Ukraine benannt hat – der norwegische Chefermittler dieser Kommission hat schon das Ruanda-Tribunal geleitet –, und als zweite Stufe, falls die Kommission zu entsprechenden Ergebnissen gelangt, ein Kriegsverbrechertribunal wie zum ehemaligen Jugoslawien, das eine lückenlose Aufklärung ohne Ansehen der Kriegspartei leistet. ({0}) Was es aber jetzt schon gibt, sind Satellitenaufnahmen und Zeugenberichte. Tatjana Wladimirowna, eine alte Frau aus Butscha, erzählt, wie ihr Mann getötet wurde: Drei Soldaten, darunter ein Tschetschene, stürmten ihre Wohnung, misshandelten und verschleppten ihn. Ihr hatte der Tschetschene mit Schlägen gedroht, falls sie sich widersetzte. Sie suchte ihren Mann anschließend tagelang. Bei der russischen Armee gab man ihr keine Auskunft. Eine Freundin sagte ihr schließlich, es seien Leichen im Keller eines Nachbarhauses gefunden worden. Tatjana erkannte ihren Mann nur an den Turnschuhen, so entstellt war die Leiche, und begraben musste sie ihn gemeinsam mit Freunden; denn die russischen Truppen kümmerten sich nicht einmal darum, die Leichen zu verscharren. Die Betrachtung prima facie, also der erste Anschein, spricht für die klare Täterschaft einer bestimmten Seite. Und sollte sich das als wahr erweisen, dann muss dieses grausame Handeln Konsequenzen nach sich ziehen. ({1}) Befragt nach dem Hintergrund solcher Verbrechen, erklärte der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski – Zitat –: Die Soldaten der russischen Armee werden mangelhaft versorgt, leiden Hunger und frieren. Sie werden von ihren Offizieren tyrannisiert ... Menschen, die solcher Behandlung ausgesetzt sind, geraten ausser sich, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet, andere Menschen genau so zu behandeln … Butscha zeugt davon. Am 31. März zogen sich die russischen Streitkräfte zurück, am 1. April nahm die ukrainische Armee die Stadt ein. Das erste Video aus Butscha, noch weitgehend unbeachtet von den westlichen Medien, ist am selben Tag aufgetaucht, und amerikanische Satellitenaufnahmen zeigen inzwischen, dass die Leichen tagelang dort lagen. Trotzdem wird im russischen Staatsfernsehen behauptet, alles sei arrangiert, Leichen seien gar keine Leichen, die ersten Aufnahmen erst Tage nach der Rückeroberung aufgetaucht. Die russische Propaganda wird auch vom deutschen Staatsfunk genährt. Der Bundesfaktenchecker Georg Restle, der noch vor Kurzem Putin als Realpolitiker gelobt hat, erklärt uns jetzt, die Ukrainer hätten Journalisten keinen Zugang zu Butscha gewährt. Dabei hatte die ARD über Wochen gar keinen eigenen Reporter in Kiew, trotz Zwangsgebühren in Milliardenhöhe. ({2}) Plötzlich entdeckt auch die nun oppositionelle CDU ihren Widerstandsgeist. Ihre Vorsitzende Angela Merkel hat doch erst dafür gesorgt, dass Deutschland derart abhängig von russischem Gas wurde, und zwar mit ihrem kopflosen links-grünen Atomausstieg. ({3}) Und es ist auch Merkels Erbe, wenn Bundeskanzler Scholz der teilweisen SWIFT-Abschaltung Russlands erst als letzter EU-Regierungschef zustimmt, sogar nach Viktor Orban, den Sie, liebe Kollegen von der Union, jahrelang als Putin-Freund beschimpft haben. Exemplarisch für den Umgang unserer Regierung mit dem Ukrainekrieg steht eine Szene aus dem Menschenrechtsausschuss, die ich vor zwei Wochen miterlebt habe. Die Kollegin Engelhardt von der SPD klagte bei einer Unterrichtung, dass die Ukraine Transfrauen nicht als Frauen, sondern als Männer betrachte und für sie der Wehrdienst gelte. Die Genossin fragte ernsthaft, ob sich die Bundesregierung dafür einsetze, dass die Ukrainer auch Transfrauen als Frauen anerkennen werden. Das ist leider kein Witz. Was die Ukraine jetzt braucht, sind keine Belehrungen in Sachen Gender; das ist sogar das Letzte, was sie jetzt braucht. ({4}) Was die Ukraine braucht, das ist ein starkes, wehrhaftes Europa der Vaterländer. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bijan Djir-Sarai hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die grauenvollen Bilder, die uns seit dem vergangenen Wochenende aus Butscha erreichen, sind unerträglich. Mit dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Großraum Kiew wird das Ausmaß der Zerstörung und der Barbarei immer deutlicher. Vor den Augen der ganzen Welt bricht Putins Russland das Völkerrecht mit einer Brutalität, die ihresgleichen sucht. Bis vor einer Woche hatte ich den Namen Butscha noch nie gehört. Bis vor einer Woche wusste ich nicht einmal, wo dieser Ort auf der Landkarte liegt. Ich bin mir aber sicher, dass künftige Generationen, ob in der Ukraine, in Deutschland oder in ganz Europa, wissen werden, was in Butscha passiert ist und wofür dieser Ort steht. Butscha steht für unfassbar viel Leid, Gewalt und grauenhafte Verbrechen. Satellitenbildern zufolge liegen dort die toten Männer, Frauen und Kinder seit Wochen auf den Straßen, teilweise gefesselt, geknebelt und mit Spuren von Vergewaltigungen. Ohnmacht, Angst, Hilflosigkeit. Noch immer habe ich das Gesicht von Präsident Selenskyj vor Augen, der mit ausländischen Journalisten durch Butscha geht, damit diese der Welt zeigen können, welche grausamen Massaker an unschuldigen Zivilisten begangen wurden. Sein Gesichtsausdruck spiegelt all jene Gefühle wider, die so viele ukrainische Mütter, Väter und Angehörige in diesen Tagen schmerzhaft durchleben. Die Toten von Butscha, sie alle hatten Freunde und Verwandte; sie alle waren Menschen mit Träumen und Sorgen für das Leben. Sie alle hatten individuelle Biografien, und sie alle waren einzigartig. Ich weiß nicht, was wir noch für Bilder zu sehen bekommen werden; aber ich befürchte, dass die grausamen Bilder aus Butscha nur die Spitze des Eisberges sind. Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen ist viel über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen worden. Sehr oft habe ich in den letzten Tagen gehört, dass wir alle naiv gegenüber Russland gewesen sind und Putin falsch eingeschätzt haben. Diese Fehler dürfen sich nicht wiederholen, und gerade jetzt, in dieser Situation, dürfen wir erst recht nicht naiv sein. ({0}) Der Westen hat nach dem Georgien-Krieg nicht entschlossen gegenüber Putin reagiert; der Westen hat nicht geschlossen auf die Krim-Annexion reagiert. Der Westen hat sich im Wesentlichen weggedreht, als Russland in Syrien ganze Städte und Dörfer ausradiert hat. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Solange dieses Regime existiert, wird es keine Sicherheit in Europa geben, nirgendwo. ({1}) Künftige Generationen werden uns, egal ob Regierung oder Opposition, die Frage stellen, wie wir uns in diesen Schicksalsstunden Europas verhalten haben. Wir sind es nicht nur den Opfern dieses Krieges schuldig; wir sind es auch uns selbst schuldig: Jede Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit diesem Regime ist eine Schande und muss schnellstmöglich beendet werden, meine Damen und Herren. ({2}) Deutschland und Europa zeigen sich in dieser dunklen Stunde der europäischen Geschichte solidarisch mit der Ukraine – nicht nur mit schönen Worten, auch mit Taten. Weitere Taten und Handlungen müssen folgen; eine breitgefächerte Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte ist von äußerster Wichtigkeit. Jetzt ist die Zeit gekommen, Russland klarzumachen, dass die Beziehung zum Westen endgültig zu Bruch gegangen ist, solange Putin die Macht im Kreml innehat. Die Welt wird die Gräueltaten von Butscha niemals vergessen. Wir werden und müssen alles dafür tun, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Putin hat versucht, mit seinem brutalen Angriffskrieg die Ukraine zu vernichten und den Westen zu spalten. Das ist ihm nicht gelungen, meine Damen und Herren, und das wird ihm auch nicht gelingen. ({3}) Wir stehen fest an der Seite aller Ukrainerinnen und Ukrainer, die in diesen schweren Tagen um ihre Freiheit und ihr Leben kämpfen. Slawa Ukrajini! ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Die Linke ergreift der Kollege Dr. Dietmar Bartsch das Wort. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bilder aus Butscha sind unerträglich: tote Männer, Frauen, Kinder, kaltblütig ermordet, auf offener Straße, auf dem Fahrrad, unschuldige Bürgerinnen und Bürger, auf der Straße liegen gelassen, in Massengräbern verscharrt. Was in Butscha getan wurde, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es sind Kriegsverbrechen. Die Verantwortlichen für diese Barbarei gehören schonungslos ermittelt; sie müssen vor einem Gericht für ihr Foltern und für ihr Morden zur Verantwortung gezogen werden, ({0}) und dafür müssen wir alles tun. Die politische Verantwortung für die Toten von Butscha trägt Wladimir Putin. Ich wiederhole heute hier: Russlands Präsident ist ein Kriegsverbrecher. Seine Entscheidung, am 24. Februar die Ukraine zu überfallen, hat den Grundstein für die Verbrechen gelegt, die seit diesem Tag die Ukraine heimsuchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Butscha bestürzt uns auch deshalb, weil sich das Grauen abbildet, weil uns Fotos und Videos erreichen, weil Augenzeugen schildern, welche Gräuel begangen wurden. Ich will uns alle mal ermahnen, eine Sekunde an die vielen Geflüchteten zu denken, die diese Bilder auch sehen und die vielfach jetzt schon traumatisiert sind. Ich glaube, das sollten wir bei unseren Argumenten auch mit beachten. Machen wir uns nichts vor: Butscha ist nicht der Ort von Kriegsverbrechen; Butscha ist ein Ort von Kriegsverbrechen. Weitere Bilder des Horrors werden uns erreichen, wenn Journalistinnen und Journalisten in andere Orte und Städte der Ukraine vordringen. Wer die wenigen Bilder sieht, die uns zum Beispiel aus Mariupol erreichen, ahnt, welche Dramatik wir noch zu erwarten haben. Um das hier zu sagen: Die Verantwortung für den Krieg und die Verbrechen trägt Russland, niemand in Deutschland. Deswegen will ich das klar sagen: Dass Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, die ich ansonsten viel zu kritisieren hatte, von einigen zu Helfershelfern des russischen Präsidenten erklärt werden, ist zutiefst unanständig und auch beschämend, meine Damen und Herren. Es geht hier nicht um Schlagzeilen. Wer nämlich versucht, den Krieg in der Ukraine parteipolitisch zu instrumentalisieren, der leistet keinen Beitrag, den Krieg zu beenden, ({1}) sondern er spielt der russischen Propaganda eines gespaltenen Westens in die Karten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verbrechen dieses Krieges werden enden, wenn dieser verbrecherische Krieg endet; denn Kriegsverbrechen sind Kriegen immanent, und zwar allen Kriegen. Mein Eindruck ist, dass einige hier davon ausgehen, dass der Krieg in wenigen Wochen beendet sein kann, dass es die eine exportierte Waffe gibt oder die eine Sanktion, die Putin zur Kapitulation zwingt. Ich halte das, offen gestanden, für wenig wahrscheinlich. Dieser Krieg kann noch lange andauern, und da hilft es auch nicht, jeden Tag, lieber Kollege Wadephul, mit der Rüstungsindustrie Kontakt zu haben. Das ist etwas entlarvend, das hier so zu sagen. ({2}) Wir befinden uns in einem moralischen Dilemma, ganz gleich, ob wir durch Energieimporte den Krieg nun direkt oder indirekt finanzieren. Aber erklären Sie mir doch bitte einen Sachverhalt, der vorhin schon in der Regierungsbefragung eine Rolle spielte, sehr geehrter Herr Bundeskanzler: Warum schafft es Belgien, Vermögenswerte russischer Oligarchen in Höhe von 10 Milliarden Euro einzufrieren? Warum schafft es Frankreich, 850 Millionen einzufrieren? Italien hat mehrere Hundert Millionen Euro beschlagnahmt. Und Deutschland liegt bei 95 Millionen Euro? Das ist doch unfassbar. Warum funktioniert das denn nicht? ({3}) Warum versagt Deutschland bei der Durchsetzung der Sanktionen gegen russische Oligarchen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Recherche des ARD-Magazins „Kontraste“ haben russische Investoren allein in Berlin seit 2014 – und wir alle wissen, was 2014 war – Immobilien im Wert von 442 Millionen Euro erworben. Und Sie stehen aktuell bei einem beschlagnahmten Vermögen von 95 Millionen Euro in ganz Deutschland. Das ist wirklich unfassbar. ({4}) Sie haben am 15. März eine Taskforce gegründet; das ist ja richtig. Zuständig sind die Ministerien von Herrn Habeck und Herrn Lindner. Man hört relativ viel von den beiden Herren, nur dazu überhaupt nichts. Das muss sich ändern. Herr Scholz, machen Sie das zur Chefsache! Die Verantwortung dafür gehört ins Kanzleramt. ({5}) Dieses Geld muss für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden, meine Damen und Herren. Ja, lassen Sie uns alles tun, damit der Krieg beendet wird! Nur das wird Verbrechen wie die in Butscha auch beenden. Herzlichen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

„Einen schönen guten Nachmittag!“ von mir an alle Kolleginnen und Kollegen! – Ich erteile das Wort dem nächsten Redner: Michael Roth, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Butscha wird sich sicherlich tief in das kollektive Gedächtnis nicht nur der Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern von uns allen, den Europäerinnen und Europäern, einbrennen. Aber vergessen wir nicht: Butscha steht nicht für sich allein. Butscha hat eine Vorgeschichte. Es ist Aleppo, es ist Grosny, es sind viele andere Orte, wo Putin mit aller Brutalität gezeigt hat, wozu er bereit und imstande ist, um seine Interessen knallhart entmenschlicht durchzusetzen. Wir erleben derzeit auch in der Ukraine an viel zu vielen Orten, dass tagtäglich Zivilistinnen und Zivilisten einen furchtbaren Tod sterben. Aber dieser Angriffskrieg auf die Ukraine war von Anfang an verbrecherisch, frevelhaft, verwerflich und grausam. ({0}) Es ist sehr bitter, dies sagen zu müssen: Es ist nicht nur Putins Krieg. Viele Russinnen und Russen unterstützen Putin – und das sagt er ja selbst so – in seinem Kampf um die Befreiung der Ukraine vom Faschismus. Wie furchtbar und wie schlimm muss das vor allem auch in unseren Ohren klingen! Das wird bittere Konsequenzen haben; denn niemand kann sich darauf einstellen, dass dieses furchtbare Regime unter Führung von Putin so schnell aus den Angeln gehoben werden wird. Wir werden uns vermutlich noch auf absehbare Zeit mit diesem Regime auseinanderzusetzen haben, und es wird darum gehen, ob die Europäische Union, die Demokratien, die liberalen Gesellschaften diese Macht einzuhegen in der Lage sind. Über die Zukunft Europas wird in diesen Tagen, Wochen und Monaten nicht in Berlin, nicht in Paris, nicht in Rom, nicht in Stockholm, sondern in Mariupol, in Charkiw und in Butscha entschieden. Wenn Russland diesen furchtbaren Krieg gewinnen sollte, dann drohen weitere militärische Konflikte: in Moldau, in Georgien, möglicherweise auch in anderen Staaten des östlichen Europas. Das zieht sich bis in den westlichen Balkan, wo wir derzeit Sezessionsbestrebungen in Bosnien-Herzegowina erleben, die aktiv und völlig unmoralisch, kalt und brutal von Putin unterstützt werden. Frieden und Sicherheit in ganz Europa, auch unsere eigene Sicherheit in Deutschland, sind nur dann möglich, wenn die Ukraine frei und souverän bleibt. Putin hat diesen Krieg zwar moralisch, wirtschaftlich und politisch längst verloren, aber er muss und er wird ihn auch militärisch verlieren. Und das wird maßgeblich davon abhängen, wie wir die Ukraine in diesen dramatischen Zeiten unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Aus fast allen Fraktionen gehen derzeit Abgeordnete unserer Regierung auf die Nerven. Wir sind ungeduldig. Wir fragen uns tagtäglich, in jeder Stunde: Was können wir noch mehr tun? Wo müssen wir noch aktiver werden? Wo können wir noch mehr humanitäre Hilfe leisten? Wo können wir noch mehr für den Schutz der Ukrainerinnen und Ukrainer tun? Ja, wo können wir auch noch mehr militärische Unterstützung leisten? Dabei geht es um alle Waffen, die die Ukraine benötigt, die schnell und sicher geliefert werden können und die eben auch leicht bedienbar sind, damit sich die Ukraine zu verteidigen vermag. Jeden Tag, den die Ukraine länger frei und souverän bleibt, werden die Chancen für eine Lösung am Verhandlungstisch wahrscheinlicher. Nur aus einer Position der Stärke und der Wehrhaftigkeit heraus hat die Ukraine eine Chance, zu überleben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es mag ein schwacher Trost sein, aber ich will es trotzdem wenigstens einmal gesagt haben: Was uns gemeinsam gelungen ist, ist, dass die Europäische Union und die NATO geschlossen und entschlossen zusammenstehen. So viel Teamgeist hat es vermutlich schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten in diesem vereinten Europa nicht mehr gegeben. Machen wir etwas daraus! Vor allem muss das jetzt auch für die weiteren Sanktionen gelten. Wir müssen uns auch hierbei fragen: Was können wir tun, um noch mehr Druck auf Russland, auf Putin, auf die Oligarchen auszuüben? Ich finde, es ist die Pflicht der Bundesregierung, alle Maßnahmen auf soziale, wirtschaftliche und politische Folgen hin zu überprüfen. Das wird uns bisweilen in ein furchtbares moralisches Dilemma bringen; aber es muss klar sein, dass wir am Ende zu weitreichenden Entscheidungen bereit sind. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes allerdings mitnehmen. Nur ein starkes Deutschland kann Europa bei dieser Bewährungsprobe helfen, und nur ein starkes Deutschland ist im Übrigen auch gut für die Ukraine.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Roth.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Denn nur so können wir die Solidarität ausüben, um die wir immer wieder gebeten werden. Wir sollten die ausgestreckte Hand der Ukrainerinnen und Ukrainer in größter Not annehmen. Das ist unsere Pflicht, und das ist unsere Schuldigkeit. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Patricia Lips, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ist es das Bild der rot lackierten Fingernägel einer ermordeten Frau? Ist es der Schlüsselbund mit Europafahne neben der Hand eines weiteren ermordeten Zivilisten? Oder ist es doch die laut tönende Sprachlosigkeit Präsident Selenskyjs in Butscha, die uns ebenso fassungs- wie sprachlos macht? Es sind Bilder von schwersten Menschenrechtsverletzungen und schlimmsten Kriegsverbrechen, die uns aus der Ukraine erreichen. Und nicht nur sie zeigen: Es geht bei diesem Angriffskrieg von Putin und seinen Schergen um die systematische Zerstörung eines ganzen Volkes, einer freiheitlichen Nation. Hier ist ein Kriegsverbrecher am Werk, der keine Grenzen mehr kennt. Aber sehen wir solche Bilder wirklich zum ersten Mal? Nur 45 Kilometer von Butscha entfernt liegt Babyn Jar. 1941 ermordete hier die SS Tausende jüdische Männer, Frauen und Kinder. Vor genau 30 Jahren – nachher kommt noch die Debatte dazu in diesem Haus – begann die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Was folgte, war das schreckliche Sterben von Srebrenica. Haben wir das alles noch in Erinnerung? Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, gilt doch heute umso mehr: Die Situation in der Ukraine ist fundamental und historisch. Der Ausgang dieses Krieges hat vor allem Auswirkungen für die Menschen dort, aber auch für unsere eigene Zukunft. EU, NATO und weite Teile der Staatengemeinschaft stehen zusammen. Ein Sanktionspaket folgt dem nächsten. Und, ja Frau Lambrecht, es gilt: „Kein eigenes militärisches Einschreiten!“, um einen noch größeren Weltenbrand zu verhindern. Aber dann müssen wir doch diejenigen, die am Ende auch unsere Freiheit verteidigen – und das ist wörtlich zu nehmen –, umfassend in die Lage versetzen, dies tun zu können. ({0}) Sicher, auch unser Land tut viel. Allein die Hilfsbereitschaft unzähliger Menschen in diesem Land ist unschätzbar. Aber ich stelle dennoch die Frage: Kann diese Bundesregierung wirklich mit ruhigem Gewissen sagen: „Wir tun alles, um Putin zu stoppen“? Muss man nicht vielmehr sagen: „Von Anfang an stand der Eindruck im Raum, dass Deutschland mehr reagiere als agiere, und das oft auch nur auf Druck von außen, zumeist auf den letzten Metern, bis heute“? Die Regierung hat beschlossen, Waffen zu liefern, so der Bundeskanzler noch vor wenigen Minuten an anderer Stelle hier in diesem Hause. Das ist gut. Aber, Herr Bundeskanzler, zur Wahrheit gehört doch, dass wir es erst getan haben, als alle anderen Partner bereits ihre Waffen auf den Weg gebracht hatten. Das gehört zur Wahrheit dazu! Wir liefern zu wenig, zu langsam und zu spät. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, die weiteren Entwicklungen in diesem Krieg werden schneller kommen, als wir es heute erwarten – das ahnen wir doch jetzt schon –, auch beim Thema Energie. Ist dieses Land, ist diese Regierung darauf vorbereitet? Deshalb: Liefern Sie umgehend die Waffen, die die Ukraine jetzt benötigt, und nicht die, die Sie gegebenenfalls selbst für sinnvoll halten! Es ist möglich. Vor allem: Setzen Sie sich bei allen Sanktionen an die Spitze der Bewegung! Das ist keine Hybris; es wird von uns erwartet. Aktuell prüfen Sie, ob es ein eigenes Gesetz braucht, um Rechtssicherheit bei der Umsetzung der Sanktionen zu bekommen. Okay! Aber wir haben in der Zwischenzeit das fünfte Sanktionspaket. Und jetzt fängt Deutschland an, zu prüfen, ob wir die Sanktionen überhaupt rechtssicher umsetzen können? Kein Wunder, dass Sie in diesem Haus Fragen gestellt bekommen, wie viel Sie von den Vermögenswerten der Oligarchen hier schon einfrieren konnten! Der Ukraine hingegen läuft die Zeit davon. Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Darüber sind wir uns hier alle einig. Aber dann übernehmen Sie sichtbar Verantwortung und Führung in Deutschland, in Europa, in der Gemeinschaft unserer Partner. Vielen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von Clausewitz stammt der Satz, dass Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Welche Politik wurde in Butscha mit Morden an Kindern, an Frauen, an Alten mit Folter, mit Vergewaltigung fortgesetzt? Dort, in Butscha, setzte das russische Militär Putins Politik um. Putin, der im Juli davon sprach, die Ukraine bedürfe keiner Eigenstaatlichkeit, es gebe eine einheitliche Nation von Kleinrussen – so nannte er die Ukraine –, Belarussen und Russen, hat genau dieses auf den Weg gebracht. In Butscha wurden aus Putins Ankündigungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und diese Verantwortung müssen wir klar benennen. Unter dem Vorwand, die Ukraine von einem jüdischen Präsidenten entnazifizieren zu wollen, kopiert die russische Soldateska bei ihrem Überfall auf die Ukraine die Methoden der Einsatzgruppen der deutschen Wehrmacht, der SS und der deutschen Polizei. Das ist die Realität, vor der wir stehen. ({0}) Michael Roth hat recht: Niemand darf davon überrascht sein, der gesehen hat, was in Grosny, in Aleppo, in Idlib geschehen ist. Aber ich muss noch etwas hinzufügen, an uns alle jenseits der Parteien gerichtet: Anfang der 2000er-Jahre haben viele geglaubt, mit Putin käme ein neuer Peter der Große nach Russland. Doch die Russen haben nicht Wohlstand, nicht Modernisierung erfahren, im Gegenteil: Ihnen wurden nur Nationalismus und Gewalt geboten. Nicht Peter der Große, Wladimir der Schreckliche arbeitet an diesem Europa. ({1}) Wir haben uns geirrt. Wir haben geirrt, als wir geglaubt haben, man könne so jemanden mit ökonomischen Mitteln abschrecken. Putin schert sich nicht um ökonomische Abschreckung. Er versteht nur Abschreckung durch Militär und Gewalt. Deswegen die 100 Milliarden Euro, deswegen die Erhöhung der Präsenz an der Ostflanke, deswegen die Waffenlieferung an die Ukraine! Aber wir müssen auch einen anderen Irrtum beenden, den Irrtum, dass Wandel durch Handel geschaffen wird. Wir haben die russischen Banken vom Zahlungsverkehr abgeklemmt. Wir haben die russische Zentralbank von der Währungsreserve abgeschnitten. Das sind die schärfsten Finanzsanktionen, die je verhängt worden sind. Wir haben uns in Europa entschieden – endlich, sage ich –, keine Kohle mehr importieren zu wollen. Deutschland arbeitet daran, dass kein Öl mehr nach Schwedt kommt. Wir arbeiten daran, unseren Gasverbrauch zu reduzieren. Wir legen ein Paket vor, mit dem wir endgültig rauswollen aus den fossilen Energien; denn wir wissen: Nur wenn wir die erneuerbaren Energien schnell ausbauen, schaffen wir Energiesicherheit und beenden unsere Abhängigkeit. ({2}) Meine Damen und Herren, glaubt eigentlich jemand, dass wir das jemals wieder rückgängig machen werden? Nein, das werden wir nicht. ({3}) Deswegen sollten wir aufhören, von „Sanktionen“ zu sprechen. Was hier stattfindet, ist nichts anderes als die Abkopplung Russlands von den Märkten Europas, von den Märkten der USA, von den Märkten der G‑7-Staaten. Darum geht es. Wir schicken das Russland von Wladimir dem Schrecklichen zurück in die Zeit der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Das ist es, woran wir arbeiten. ({4}) Ich muss ein Letztes hinzufügen, meine Damen und Herren. Wir dürfen keinen dieser Morde vergessen. Keiner dieser Mörder darf straffrei ausgehen. Das schulden wir den Opfern, ihren Familien und ihren Freunden. Das ist der Grund, warum wir zusammen mit der Beauftragten für Menschenrechte und dem Internationalen Strafgerichtshof alles tun werden, um Beweise zu sichern und die Verantwortlichen auch tatsächlich vor Gericht zu bringen. Wir müssen doch eines aus dieser Geschichte der Gewalt gelernt haben: Straffreiheit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist Beihilfe. – Dies müssen wir beenden. Wir müssen klar sagen: Es gibt nur eine wirkliche Botschaft aus Butscha: Beenden Sie diesen Krieg! Ziehen Sie die russischen Truppen aus der Ukraine ab! ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte: Renata Alt, FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 6. März besetzten die russischen Truppen das Dorf Worsel, circa 50 Kilometer nordwestlich von Kiew. Sie warfen eine Nebelkerze in den Keller eines Gebäudes, in dem mehrere Zivilisten Schutz vor dem schweren Beschuss suchten. Als eine Frau und ein 14‑jähriges Mädchen aus dem Keller herauskamen, schossen die russischen Soldaten auf die beiden. Das Kind starb auf der Stelle, die Frau erlag ihren Verletzungen zwei Tage später. – Das ist nur einer von mehreren Dutzend Berichten von Augenzeugen, die Human Rights Watch inzwischen in der Ukraine sammeln konnte. Meine Damen und Herren, die Bilder aus Butscha und anderen Vororten von Chernihiv, Charkiw und Kiew sind eine Zäsur. Nach dem, was dort passiert ist, wird es kein Zurück mehr zum business as usual mit Putins Russland geben. ({0}) Die Kriegsverbrechen der russischen Armee müssen geahndet werden. Wir haben weggeschaut, als Grosny dem Erdboden gleichgemacht wurde. Wir haben weggeschaut, als Zivilisten im syrischen Ost-Ghuta massakriert wurden. Viel schlimmer noch: Ab dem ersten Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine gab es Berichte von Kriegsverbrechen, von zerstörter ziviler Infrastruktur, von beschossenen humanitären Konvois, vom Bombardement der Geburtsklinik in Mariupol. Nach Butscha muss entschlossen gehandelt werden. Wir müssen jetzt eine totale wirtschaftliche Isolation Russlands anstreben. Es geht aber nicht nur darum, den Druck auf das russische Regime zu erhöhen. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verbrechen, die schon jetzt von Menschenrechtlern genannt werden, umfassen Vergewaltigungen, willkürliche Hinrichtungen, Gewalt gegen Zivilisten, Plünderungen und Folter. Je mehr ukrainische Orte befreit werden, desto mehr Bilder wie die aus Butscha sind leider zu erwarten. Russische Entscheidungsträger und Offiziere, die diese Gräueltaten zugelassen oder angeordnet haben, haben das Kriegsrecht mit Füßen getreten. Sie haben das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen, aber auch das internationale Besatzungsrecht aufs Gröbste verletzt. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für diese Gräueltaten erfordert Beweise, die den Standards von fairen Gerichtsverfahren standhalten. Die Ukraine kann zu einem Wendepunkt in der Dokumentation von Kriegsverbrechen werden. Es gibt kaum einen Krieg, bei dem Beweise von Kriegsverbrechen so früh gesammelt und so genau dokumentiert wurden. Die mutigen ukrainischen Beamten und lokalen zivilgesellschaftlichen Gruppen, die in belagerten Städten und Ortschaften tätig sind, riskieren ihr Leben, um diesen Krieg jetzt zu dokumentieren. Sie haben Menschenrechtsorganisationen und Open-Source-Forscher an ihrer Seite. Ihnen allen gebührt unser größter Respekt. ({1}) Uns allen muss klar sein: Jede Journalistin, jeder Kameramann vor Ort riskiert sein Leben. Unsere Aufgabe ist jetzt, beim Festhalten der Beweise zu helfen. Deutschland sollte die Kommissionen und NGOs beim Sammeln der Daten unterstützen. Den Open-Source- und Digitalforensikern müssen wir Plattformen geben, damit sie bei den Untersuchungen ihre Erfahrungen aus früheren Konflikten austauschen können. Internationale Ermittler müssen darin geschult werden, wie Open-Source-Beweise eingesetzt werden können. Technische Ausrüstung, Satellitenbilder, digitale Infrastruktur – wir müssen helfen, wo es nur geht. Meine Damen und Herren, Butscha ist ein Wendepunkt. Jetzt müssen wir parallel zu allen Sanktionen, zu jeglichem Druck, alles dafür tun, dass russische Soldaten bald vor nationalen und internationalen Gerichten stehen. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Michelle Müntefering, SPD-Fraktion. ({0})

Michelle Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004359, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Eltern wollten schon immer ein Haus kaufen in Butscha, weil es so nah dran ist an Kiew, man mit dem Auto in die Hauptstadt pendeln kann wie viele Diplomaten und manche Abgeordnete, Butscha, unser Tor in die Hauptstadt, es war eine schöne Stadt, erzählte mir gestern eine junge Ukrainerin. Das Leid, den Schrecken, all das kann sie kaum fassen. Sie sieht die Bilder von Herne aus, meiner Heimatstadt im Ruhrgebiet, wo sie einen sicheren Ort gefunden hat. Der Preis dafür: alleine gehen, die Familie dem Schicksal überlassen. Das Schicksal ist die russische Aggression, Putins völkerrechtswidriger Krieg. Es ist richtig, dass heute angesichts der Ereignisse der letzten Tage noch einmal ganz deutlich wird: Wir hier stehen an der Seite der Ukraine. ({0}) Krieg bringt Tod, er kennt keine Gewinner. Krieg ist das Unmenschlichste, das Menschen geschaffen haben. Trotz aller Bemühungen, ihn Regeln zu unterwerfen, in Völkerrecht, Kriegsrecht einzubetten, ihn zu erklären, zu zügeln, zu bändigen, ihn in Grenzen zu halten, ihn auf militärische Kräfte zu beschränken: Sein Schrecken bleibt. In Butscha sehen wir auf grausamste Art und Weise, was Kriege niemals dürfen: Vergehen an Frauen, Kindern, Alten, Kranken – gefangen, gefoltert, vergewaltigt, getötet. Sie gehören zur Zivilgesellschaft. Präsident Putin, verbieten Sie Ihren Soldaten diese Gräueltaten klar und öffentlich noch heute! Lassen Sie Waffen schweigen, beenden Sie den Krieg, ziehen Sie alle Ihre Truppen aus der Ukraine ab! Wenn Sie kein Mitleid aufbringen können, dann haben Sie vielleicht ein letztes bisschen Ehrgefühl, nicht unter den schlimmsten Verbrechern der Menschheit in die Geschichtsbücher einzugehen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns gilt: Wir müssen noch mehr tun. Denn wer nach Butscha schaut, muss auch in andere Städte schauen, nach Irpin oder Hostomel, Städte, in denen früher viele Menschen lebten, die in Kiew arbeiteten. Viele Städte und ihre Bewohner im Nordwesten von Kiew haben unter den Verbrechen der russischen Armee gelitten, die auf ihrem Weg eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Human Rights Watch warnt, dass es ähnliche Gewaltexzesse in anderen Städten gibt. Die Gräueltaten müssen aufgeklärt werden; sie brauchen eine klare Antwort. Ich bin unserem Bundeskanzler Olaf Scholz, der übrigens heute hier ist und sich erklärt hat und uns zuhört, ({2}) dankbar, dass er deutlich gemacht hat: Wir schauen nicht tatenlos zu, wir helfen. – Es ist richtig, dass die EU weitere Sanktionen verhängen will und dass Angehörige der russischen Botschaft, die bei uns gegen uns gearbeitet haben, zu unerwünschten Personen erklärt worden sind. Es braucht aber mehr – einiges ist angesprochen worden –: Internationale Organisationen brauchen Zugang zu den entsprechenden Gebieten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Bundesregierung sollte auch den Internationalen Strafgerichtshof finanziell stärken. Wir müssen in der EU eigene Kapazitäten schaffen, um zu helfen, diese Verbrechen aufzuklären. Die Oligarchen müssen auf allen Wegen, die es ihnen ermöglichen, die Sanktionen zu umgehen – über Scheinfirmen und Ähnliches –, gestoppt werden. Und wir müssen europäisch koordinieren, wie wir aus den russischen Energieimporten aussteigen. Wir müssen weg von russischer Energie aus Kohle, Öl und Gas. Das gelingt nur stufenweise; aber wir müssen unabhängig werden, so schnell es irgend geht. Nicht zuletzt muss sich die Ukraine wehren und verteidigen können. Ich habe in der Geheimschutzstelle in die Listen der Waffenlieferungen Einsicht genommen, und ich kann sagen: Das ist eine deutliche Entwicklung in den letzten Wochen, echte Unterstützung. Das ist gut, und das ist richtig. Danke dafür! ({3}) Ich würde mir wünschen, dass eine Übersicht weiterer Hilfsleistungen aus anderen Häusern für die Abgeordneten in voller Transparenz koordiniert zur Verfügung gestellt werden; denn das brauchen wir auch als Grundlage für unsere Diskussion hier. Klar ist: Die Ukraine braucht für ihre Verteidigung weitere Waffenlieferungen, Waffen, die schnell verfügbar, schnell einsetzbar sind. Wir werden uns jetzt mit unseren Partnern darauf einstellen müssen, der Ukraine nicht nur den Arm, sondern auch den Rücken zu stärken. Die Ukraine braucht unsere Solidarität, aber in Zukunft auch alle Kraft zur Selbstverteidigung. Herzlichen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Das Wort hat Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die wir täglich sehen, sind schockierend. Die Ukraine muss sich gegen einen brutalen Angriffskrieg, gegen schrecklichste Kriegsverbrechen zur Wehr setzen. Mutige Ukrainerinnen und Ukrainer stehen an der Front, in der direkten militärischen Auseinandersetzung. Aber angegriffen wurde nicht nur die Ukraine. Angegriffen wurde ganz Europa, und das, meine Damen und Herren, muss auch wirklich jeder in unserem Land verstehen. Wir können es uns nicht einfach weiter bequem machen, während in jeder Minute Menschen in der Ukraine sterben. Darauf darf selbstverständlich auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hinweisen, den manche hier kritisieren, der unbequem ist – auch für uns –, aber dem ich danke, dass er in dieser schrecklichen Situation, in der Lage, in der sein Land ist, die bestmögliche Unterstützung für sein Land erreichen will. ({0}) Meine Damen und Herren, Butscha war ein Zivilisationsbruch. Butscha reiht sich ein in die schwersten Kriegsverbrechen in Europa, in schauderhafte Abgründe, von denen wir glaubten, dass wir sie in Europa nie wieder haben werden. Ganze Familien auf offener Straße erschossen – für nichts. Ganze Dörfer ausgelöscht – für nichts. Ganze Landstriche verwüstet – für nichts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wieso lassen wir zu, dass aus dem „Nie wieder“ ein „Schon wieder“ in Europa geworden ist? Es stehen schlimmste Wochen bevor. Die ukrainische Regierung hat vor wenigen Momenten wegen der erwarteten Großoffensive die Zivilbevölkerung dazu aufgerufen, die Ostukraine zu verlassen und alles für Evakuierungen zu tun. Da hilft letztendlich nur eines: entsprechende Verteidigungsfähigkeit. ({1}) Wir müssen endlich alles dafür tun, dass dieser Kriegsverbrecher Putin gestoppt wird. ({2}) Da – das muss ich ehrlich sagen – ist die Zögerlichkeit dieser Bundesregierung in vielen Fragen nicht zu ertragen. Wir als Opposition haben gesagt, dass wir die Regierung in allem, was sie tut, um diesen Krieg zu stoppen, unterstützen. Aber wir können natürlich nicht das Nichtstun unterstützen. Ich finde wichtig, dass Sie, Herr Bundeskanzler, zu dieser Aktuellen Stunde gekommen sind. In der Befragung der Bundesregierung vorhin aber zu sagen, diese Regierung liefere schließlich Waffen, was die vorhergehende nicht gemacht habe, das ist zu wenig; denn es muss immer auch an der Situation gemessen werden, in der wir sind. Frau Verteidigungsministerin, es ist kein überzeugendes Bild, das Sie abgeben. Die Geheimhaltung kann kein Feigenblatt für Untätigkeit sein, meine Damen und Herren. ({3}) Das ist kein Bild, das wir uns ausdenken, sondern es sind die Fragmente, die wir aus Europa und der Ukraine bekommen, die dieses Bild zusammensetzen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Führung bedeutet, ein klares Ziel zu formulieren, und das muss sein: Russland darf diesen Krieg nicht militärisch gewinnen, Russland darf in der Ukraine militärisch nicht erfolgreich sein. An diesem Ziel müssen wir unser Handeln ausrichten. Das bedeutet auch, dass wir in der Lage ankommen, dass wir hier nicht mit unserer „9 bis 16 Uhr“-Bürokratie unterwegs sein können. Das heißt konkret, dass wir akzeptieren, dass dieser Krieg nicht in Wochen vorbei sein wird. Das heißt konkret, dass auch schwere Waffen einbezogen werden müssen. Es ist unverständlich, dass diese bisher immer von den Listen gestrichen worden sind und die Verantwortung zwischen Verteidigungsministerium und Kanzleramt hin- und hergeschoben wird. Diesem Ziel alles unterordnen heißt konkret, dass wir auch schwere Waffen westlicher Bauart brauchen werden. Meine Damen und Herren, es ist eine Entscheidung der Freunde in der Ukraine, ob sie diese personelle und zeitliche Investition tätigen wollen, und nicht unsere. Wir müssen uns darüber wenig Gedanken machen. Alles dem Ziel unterordnen, dass Russland nicht erfolgreich ist, heißt konkret auch, dass es nicht Wochen dauern darf, bis Genehmigungen erteilt werden für Gerät, welches in unserer Rüstungsindustrie verfügbar ist und sofort geliefert werden kann. Und – auch das ist wichtig – das heißt konkret, dass wir das Signal geben, dass die internationale Gemeinschaft Waffen, Munition, Betriebsstoffe liefert, solange es nötig ist. Meine Damen und Herren, Butscha war aus Sicht von Wladimir Putin nur der Anfang. Er will die Ukraine auslöschen. Er will die Ukraine vernichten. Putin hat das öffentlich gesagt. Wir müssen ihn beim Wort nehmen. Ich rufe dazu auf, dass wir wirklich alles tun, um das zu verhindern. Ich rufe die Bundesregierung auf: Legen Sie das Zögern ab, gehen Sie beherzt voran! Dann haben Sie auch unsere Unterstützung. Herzlichen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde: Derya Türk-Nachbaur, SPD-Fraktion. ({0})

Derya Türk-Nachbaur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005241, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Demokratinnen und Demokraten und andere! Als Mutter und als Menschenrechtspolitikerin schnürt es mir die Kehle zu, wenn ich die Bilder der ermordeten Zivilistinnen und Zivilisten in Butscha sehe. Die Berichte über Hunderte Tote in den Kiewer Vorstädten Butscha und Hostomel und der Fund von zahlreichen Leichen in Massengräbern, all das verweist auf ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung. Frauen, Kinder, Alte – hingerichtet! Die ukrainische Abgeordnete Inna Sovsun berichtet, dass auch Leichname von Kindern mit verbundenen Händen gefunden wurden. Sergei, ein Bestatter aus Butscha, erzählt in der „taz“, dass sie über 300 Leichen geborgen hätten. Circa 30 Prozent seien Frauen und Kinder gewesen. Vielen waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. – Es ist und es bleibt unerträglich. Das sind keine Bilder aus der Vergangenheit. Das geschieht heute, vielleicht sogar jetzt, während wir hier über diese Gräueltaten debattieren. Ebenso schlimm finde ich es, dass es auch bei uns in Deutschland Menschen gibt, die diese Gräueltaten abstreiten, sie als Inszenierung der ukrainischen Regierung bezeichnen und das Ausmaß der Unmenschlichkeit infrage stellen. Sie gehen demonstrierend auf unsere Straßen und nutzen das Demonstrationsrecht aus, das in Russland verwehrt wird. Es gibt leider auch Mandatsträger und Kandidierende, die dieses in Zweifel stellen. Nicht umsonst schaue ich in Ihre Richtung und würde Sie bitten, liebe AfD-Fraktion, Ihren Dresdner OB‑Kandidaten einmal ein bisschen zu zügeln. ({0}) Die Propagandamaschinerie des Kreml scheint nämlich auch hier zu verfangen. Dabei müsste man sich nur auf der offiziellen Nachrichtenwebseite der russischen Regierung umschauen. Die Russische Föderation macht keinen Hehl daraus, worum es ihr wirklich geht. Ich zitiere: Ukrainer „müssen so zahlreich wie möglich getötet werden“. „Nicht nur die Eliten, die meisten Menschen sind schuldig, sie sind passive Nazis …“ Zynischer geht es wirklich kaum noch. Ein friedliches, prosperierendes Land wie die Ukraine, das seine Atomwaffen 1994 an Russland abgegeben hat, das die Grundwerte der EU anerkennt, ein Land, in dem Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungslager durch russischen Raketenbeschuss ermordet werden, ein Land mit einem jüdischen Präsidenten an seiner Spitze, ein Land, in dem seit 30 Jahren die rechtsradikalen Parteien und rechtsextremen Kräfte meist an der 5-Prozent-Hürde scheitern – hier leider nicht –, ein solches Land verdient nicht nur unsere Solidarität, sondern es hat auch seinen Platz in Europa, in der Europäischen Union verdient – in Freiheit und an unserer Seite. ({1}) Die „taz“ vom 4. April berichtet von einem Grab, das in einem Nachbardorf von Butscha gefunden wurde. In diesem Grab liegen zwei Frauen und vier Männer, alle mit Schüssen in den Hinterkopf exekutiert. Das ist die Familie der Dorfvorsteherin Olga Suchenko. Sie und ihre Familie waren seit dem 23. März verschwunden. Sie war eine Kommunalpolitikerin – wie viele von uns hier auch –, die sich dem Militär nicht beugen wollte. Dafür wurden sie und ihre Familie entführt und menschenverachtend liquidiert. Die Bürgermeisterin gehörte zur Funktionselite eines Landes, dem Präsident Putin die Existenzberechtigung wiederholt abgesprochen hat. Die Opfer von Butscha sind nicht den Entgleisungen Einzelner zuzurechnen, die durch die traumatischen Erfahrungen des Grauens des Krieges durchdrehen. Nein, sie sind die Taten eines mordenden, gezielt mordenden Militärapparats, der vom Kreml aus befehligt und befeuert wird. Wir wissen nun von Butscha. Wie viele Butschas es tatsächlich sind, in denen das russische Militär Zivilistinnen und Zivilisten ermordet, verschleppt und gefoltert hat, das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sehr geehrte Damen und Herren, ich fordere analog zur UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet eine unabhängige Untersuchung in der Ukraine. Dazu gehört eine umfassende Beweissicherung und die Exhumierung sowie Identifizierung aller Leichenfunde. ({2}) Wer Terror sät, wird die Entschlossenheit der internationalen Justiz ernten. Wer Kriegsverbrechen legitimiert und relativiert, macht sich mitschuldig. Bis es jedoch so weit ist, bis alles aufgeklärt ist, müssen wir diesen politischen und wirtschaftlichen Druck auf Putin maximal verstärken. Bei Kriegsverbrechen gibt es nicht mehr allzu viel zu diskutieren. Mit zwei Zeilen von Danger Dan möchte ich schließen: Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein. Man diskutiert mit ihnen nicht. Das hat die Geschichte gezeigt. – Nicht diskutieren, sanktionieren! Danke, dass Sie das tun, lieber Herr Bundeskanzler, liebe Bundesregierung. Danke. ({3})

Dr. Anna Lührmann (Gast)

Politiker ID: 11003585

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen sind wir alle geschockt von den Bildern aus Butscha und anderen ukrainischen Dörfern und Städten. Wir sind geschockt von der Brutalität des russischen Angriffskrieges. Unschuldige Zivilisten sind bestialisch ermordet worden, gezielt erschossen beim Versuch, vor Bomben zu fliehen. Das sind grausame Kriegsverbrechen, die wir auf Schärfste verurteilen. Erinnerungen an den furchtbaren Völkermord von Srebrenica werden wach. Heute erinnern wir an den Kriegsbeginn in Bosnien und Herzegowina vor 30 Jahren. In diesem schrecklichen Krieg von 1992 bis 1995 haben über 100 000 Menschen ihr Leben verloren, und weit mehr als 2 Millionen sind vertrieben worden. Zwar konnte das Friedensabkommen von Dayton den Krieg beenden. Aber wir sehen, dass die ethnische Spaltung des Landes noch immer den Alltag prägt, die Politik dominiert und die Fortschritte blockiert. Das Land braucht weiter unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung; denn statt aktiver Aufarbeitung und Versöhnungsarbeit sind heute wieder nationalistische und hetzerische Rhetorik Teil des politischen Diskurses. Leider gehören dazu auch die Leugnung von Kriegsverbrechen und Genozid bis hin zu ihrer Verherrlichung. Zusätzlich hat das Parlament der bosnisch-serbischen Entität Republika Srpska konkrete rechtliche Schritte eingeleitet, die Region weiter vom Gesamtstaat abzuspalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Angriffe auf den einheitlichen Staat Bosnien und Herzegowina. Das sind Angriffe auf Frieden und Stabilität im westlichen Balkan. Das sind Angriffe auf ganz Europa. ({0}) Ein solch destruktives Verhalten darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Bundesregierung hat darauf reagiert. So halten wir die bilaterale Unterstützung für die Republika Srpska zurück und setzen uns bei der EU mit anderen Gebern für die gezielte Konditionalisierung von Hilfen ein. Wir halten auch Sanktionen gegen diejenigen, die diesen destruktiven Sezessionskurs vorantreiben, für nötig, allen voran Milorad Dodik. Wir begrüßen zudem ausdrücklich die Aktivierung der Reserve der europäischen Schutztruppe EUFOR Althea. Diese erfüllt eine sehr wichtige stabilisierende Funktion. Deshalb prüfen wir auch aktuell innerhalb der Bundesregierung Optionen für eine erneute Beteiligung der Bundeswehr an dieser Operation. Damit könnten wir in diesem sehr kritischen Moment für das Land ein klares Zeichen setzen: Wir stehen entschlossen an eurer Seite, für Frieden und für Stabilität. – Über ein mögliches Mandat werden wir hier im Bundestag gründlich und ausführlich beraten. Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat mit ihrem Besuch in Sarajevo, in Pristina und in Belgrad Anfang März ein klares Zeichen gesetzt: Der westliche Balkan ist ein Schwerpunkt der Arbeit der Bundesregierung. – Auch die Ernennung des neuen Sondergesandten für die Länder des westlichen Balkans, Manuel Sarrazin, unterstreicht die Bedeutung, die wir dieser Region beimessen. Es ist wichtig, dass wir vor Ort Präsenz zeigen. Das gilt auch für die Mitglieder dieses Hauses; ich möchte Sie also ausdrücklich zu Reisen ermuntern. Wichtig ist auch unsere volle Unterstützung für den Hohen Repräsentanten Christian Schmidt. Gemeinsam mit unseren Partnern unterstützen wir aktiv den Weg Bosnien und Herzegowinas in die Europäische Union, ({1}) etwa mit Projekten zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Aber der Reformprozess kommt leider viel zu langsam voran, meine Damen und Herren. Klar ist, dass es ohne Reformen auch keinen EU-Kandidatenstatus geben kann. Hier stehen die politischen Akteure vor Ort in der Pflicht – eine Pflicht nicht nur der EU gegenüber, sondern vor allen Dingen den Menschen in ihrem Land. Dieser Verantwortung müssen die Parteien auch bei der Verfassungs- und Wahlrechtsreform nachkommen. Hier müssen Diskriminierungen beseitigt und wichtige Empfehlungen der OSZE zur Verhinderung von Wahlmanipulation umgesetzt werden. Bei all dem gilt aber: Die Reformen dürfen die ethnische Spaltung im Land nicht weiter vertiefen. ({2}) Ebenso klar ist, wenn eine Einigung auf die Wahlrechtsreform nicht gelingt: Die Wahlen müssen wie geplant im Oktober stattfinden. ({3}) Versuche, die Wahlen zu verschieben oder zu boykottieren, würden nur die innenpolitischen Spannungen im Land verschärfen und das Land weiter zurückwerfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bosnien und Herzegowina steht ohne Zweifel vor großen Herausforderungen. Das heutige Gedenken an den Kriegsbeginn erinnert uns aber auch an die weite Strecke, die das Land in den letzten 30 Jahren Richtung EU zurückgelegt hat. Ich bin daher überzeugt: Eine demokratische, eine friedliche Zukunft in Bosnien und Herzegowina ist möglich, eine Zukunft in der Europäischen Union. Dafür müssen aber alle politisch Verantwortlichen vor Ort wirklich klar den Kurs in Richtung dieses Zieles setzen, und dabei wird die Bundesregierung das Land und seine Menschen nach Kräften unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! April, heute vor 30 Jahren – wir gedenken heute des Kriegsbeginns in Bosnien und Herzegowina. Ich möchte auch noch ein paar Jahrzehnte zurückgehen, nämlich zum April 1941. Im April 1941, also vor 81 Jahren, hat Nazideutschland Bosnien und Herzegowina überfallen. Nazideutschland, die Wehrmacht hat zu diesem Zeitpunkt auch Sarajevo überfallen. Auch das soll heute nicht vergessen werden. Deswegen ist es falsch, wenn wir gerade in diesen Wochen und Tagen immer wieder hören, dass es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges keinen Krieg auf europäischem Boden gegeben hat; denn dieser Krieg, der vor 30 Jahren in Bosnien und Herzegowina begonnen hat, ist noch heute für die Menschen in Bosnien und Herzegowina real. Dieser Krieg war damals mit vielen Gräueltaten verbunden. Es gab den Genozid von Srebrenica, der nicht vergessen ist. Es gab Internierungslager. Es wurden systematisch Massenvergewaltigungen als Bestandteil eines kriegsverbrecherischen Systems eingesetzt. Das alles darf nicht vergessen werden. Wenn wir uns die heutige Realität der Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina anschauen, so stellen wir fest: Dieses Land durchlebt die größte Krise nach Beendigung des Kriegs von vor 30 Jahren – Frau Staatsministerin Lührmann hat es gerade schon angesprochen –: Es gibt Separationsbestrebungen der Republika Srpska. Präsident Milorad Dodik wird bei diesen Separationsbestrebungen von Moskau, aus dem Kreml, befeuert und unterstützt. Schon in wenigen Wochen, Anfang Mai, treten erste Gesetze in Kraft, die die ersten Schritte zur Herauslösung der Republika Srpska aus dem Gesamtstaatengefüge sein sollen. Ich will daran erinnern, dass es für die Menschen in Bosnien und Herzegowina heute neben den politischen Bedrohungen, neben der politischen Realität – immer noch 7 000 Menschen werden vermisst; ihr Schicksal, ihr Verbleib ist nicht aufgeklärt – noch eine Gefährdung gibt, die aus der Zeit des Krieges von vor 30 Jahren herrührt: Bosnien und Herzegowina gilt mit immer noch 180 000 Landminen als eines der am meisten verminten Länder dieser Welt. Ein Waldspaziergang ist daher wirklich eine gefährliche Sache. Wenn wir gerade im Kontext dieses Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine in diesen Wochen und Tagen hören müssen, dass der russische Botschafter in Sarajevo in Bezug auf eine potenziell mögliche NATO-Mitgliedschaft des Landes Bosnien und Herzegowina in den Medien des Landes vernehmen lässt: „Wir mischen uns da nicht ein, wir haben das nicht zu kommentieren, wenn das Land selbst eine interne Entscheidung trifft“, er dann aber direkt im nächsten Satz anschließt, dass die Reaktion Moskaus darauf eine andere Sache sei, dann ist das eine unverhohlene Drohung gegen die Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas, meine Damen und Herren. ({0}) Im Jahre 2016 – so lange ist es schon her – hat Bosnien und Herzegowina einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Seitdem ist was geschehen? Sehr wenig. Immer noch ist Bosnien und Herzegowina nur potenzieller Kandidat. Das ist nicht gut für das Land, für die Menschen. Das ist nicht gut für die Europäische Union, so wie sie heute dasteht. Das ist deswegen nicht gut, weil immer mehr Kräfte in Bosnien und Herzegowina und – ich schließe an – in der gesamten Balkanregion, in den gesamten sechs Staaten des westlichen Balkans, an Einfluss gewinnen, die es nicht gut meinen mit Demokratie, mit Rechtsstaatlichkeit, mit freier Meinungsäußerung; ich will die Länder hier gar nicht namentlich benennen, sie sind bekannt. Wir müssen daraus die entsprechenden Lehren ziehen und Bosnien und Herzegowina und den Staaten des westlichen Balkans eine beschleunigte europäische Perspektive im Schoße der Europäischen Union – nicht nur geografisch, sondern auch als Mitglied – geben. Dieser Prozess muss deutlich schneller erfolgen als bisher. Es ist gut, zu sehen, dass fünf Kompanien, 500 Mann stark, zur Operation Althea hinzugekommen sind. Es ist gut, dass der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, mit der Außenministerin bei deren Besuch – Staatsministerin Lührmann hat ihn angesprochen – darüber gesprochen hat, dass EUFOR ein eigenes deutsches Mandat bekommt, durch das die Operation verstärkt wird.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das ist der richtige Weg, der auch die Unterstützung meiner Fraktion erfahren wird. Ich mahne lediglich an: Pläne zur Umsetzung des Mandats haben wir noch nicht gesehen. Ich rege außerdem an, dass es nicht nur punktuell, sondern auf das gesamte Land Bosnien und Herzegowina ausgerichtet ist, um hier operieren zu können. Das tut not; denn wir brauchen Stabilität im Herzen Europas. Bosnien und Herzegowina gehört in die Europäische Union. Herzlichen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Bundesregierung hat das Wort Bundesministerin Svenja Schulze. ({0})

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Krieg des russischen Präsidenten Putin gegen die Ukraine ist der erste Angriffskrieg in Europa gegen ein anderes Land seit dem Zweiten Weltkrieg: Es ist aber nicht der erste Krieg auf europäischem Boden seit 1945. Bereits 1991 hatten bittere Kriege im zerfallenden Jugoslawien begonnen, erst in Slowenien, dann in Kroatien. Heute vor 30 Jahren begann ein Krieg im „Herzen des multi-ethnischen Balkans“, der erbarmungslose Krieg in Bosnien-Herzegowina, und es ist gut, dass wir heute hier im Bundestag daran erinnern. Dieser Krieg hat fast vier Jahre gewütet. Er hat mehr als 100 000 Menschen das Leben gekostet, über 20 000 Frauen mussten systematische Massenvergewaltigungen erleiden, über 2 Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Massaker von Srebrenica – die als schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelten – wurden Jahre später vom Internationalen Gerichtshof als Völkermord bewertet. Ende 1995 konnte mit dem Dayton-Abkommen dieser grausame Krieg beendet und eine fragile Balance in einem komplizierten Staatsgebilde geschaffen werden. Heute, 30 Jahre später, blicken wir wieder auf bedrohliche Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Im Dezember 2021 hat das Regionalparlament der Republika Srpska beschlossen, alle – alle! – seit 1995 vollzogenen Kompetenzübertragungen auf den Gesamtstaat rückgängig zu machen und innerhalb von sechs Monaten eigene Institutionen zu schaffen. Das betrifft alle Bereiche, etwa die Streitkräfte, das Justizwesen oder die Steuerverwaltung. Diese Abtrennungsbestrebungen der Republika Srpska beobachte ich jedenfalls mit großer Sorge. Sie gefährden nicht nur die Stabilität in Bosnien und Herzegowina. Gerade in der aktuellen Krisensituation in der Ukraine drohen hier Kettenreaktionen auf dem Westbalkan und auch noch darüber hinaus. Was bedeutet das nun für unsere Entwicklungszusammenarbeit? Es bedeutet, dass wir jetzt entschlossen Konsequenzen ziehen. Mir sind dabei drei Punkte ganz besonders wichtig. Erstens. Im Schulterschluss mit der EU-Kommission müssen Konsequenzen aus diesem nationalistischen Abspaltungskurs gezogen werden. Dafür setzt sich mein Ministerium ein. Wir setzen die Vorbereitungen von vier Infrastrukturmaßnahmen in Höhe von über 100 Millionen Euro in der Republika Srpska aus, bis alle diese Sezessionsbestrebungen zurückgenommen werden. ({0}) Der zweite Punkt ist auch ganz wichtig: Bosnien-Herzegowina muss weiter unterstützt werden, um widerstandsfähiger gegen Einflussnahmen von außen zu werden. Das Land hat trotz der offenen Wunden aus der Vergangenheit gemeinsam mit internationalen Partnern erste Grundlagen für einen funktionierenden Staat gelegt, und es hat die Lebensverhältnisse der Menschen deutlich verbessert. Die Entwicklungszusammenarbeit setzt hier an, und wir werden Bosnien-Herzegowina auch künftig fördern. Wir haben bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Die Bundesregierung hat seit 1999 über 830 Millionen Euro bereitgestellt. Damit ist ganz konkret vor Ort geholfen worden. Damit wurden die Strom- und Wasserversorgung wieder aufgebaut, Wasserkraftwerke wieder betriebsfähig gemacht, Schulen gebaut, Familien bei der Rückkehr unterstützt, ein Steuer- und ein Katastersystem aufgebaut. Über Jugendprojekte wurde Trauma- und Versöhnungsarbeit angeboten, um die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, zumindest für die nächste Generation abzumildern. Deutschland kooperiert in der Entwicklungszusammenarbeit mit Bosnien-Herzegowina auch zu globalen Herausforderungen wie der sozial gerechten Energiewende. Wir fördern kleine und mittlere Unternehmen mit Investitionen in Beschäftigungsmöglichkeiten und in energieeffiziente Technologien. Mit deutscher Unterstützung wurde 2018 der erste Windpark des Landes in der Nähe der Stadt Mostar finanziert; weitere Windparks sind in Planung. Wie wichtig eine unabhängige Energieversorgung ist, das sehen wir gerade jetzt. Genauso wie die Regierung in Deutschland sich darum kümmert, Schritt für Schritt aus der Abhängigkeit von Öl, Kohle und Gas herauszukommen, brauchen wir auch für Länder wie Bosnien-Herzegowina zum Beispiel einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. ({1}) Der dritte Punkt, der mir wichtig ist: Wir unterstützen als Bundesregierung natürlich den EU-Annäherungsprozess auf dem Balkan und in der östlichen Nachbarschaft. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern des Krieges und den Menschen in der Region schuldig, die sich nach Frieden, Sicherheit und Wohlstand sehnen. Die Europäische Union steht für Frieden, für Versöhnung, für Demokratie und für Menschenrechte. Diese Werte werden durch das geschlossene Handeln der EU geschützt und verteidigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Russland hat in den vergangenen 30 Jahren aus unterschiedlichen Gründen separatistische Tendenzen in Partnerländern wie Bosnien-Herzegowina, der Republik Moldau und Georgien unterstützt. Dessen sollten wir uns alle bewusst sein und allen Tendenzen einer politischen, einer wirtschaftlichen Destabilisierung in Europa konsequent entgegentreten. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Joachim Wundrak, AfD-Fraktion. ({0})

Joachim Wundrak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005264, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der offensichtlichen Kriegsverbrechen fällt es durchaus schwer, über die Kriege der 90er-Jahre im ehemaligen Jugoslawien zu sprechen. Auch damals galt – ich ergänze hier das Zitat von Herrn Trittin von von Clausewitz –: Wenn geschossen wird, statt zu reden, haben Politik und Diplomatie versagt. ({0}) Dass dieses Versagen einen hohen, einen sehr hohen Preis kostet, müssen wir in diesen Tagen schmerzlich als Zuschauer einer fürchterlichen Tragödie in der Ukraine ertragen. Der Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien führte, wie schon gehört, am 5. März 1992 zur Erklärung der Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina. Bereits vorher hatten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklärt, die von Deutschland und anderen schnell anerkannt wurde. In Slowenien griff die jugoslawische Armee ein, wurde jedoch zurückgeschlagen. Aufgrund der weitgehend ethnischen Homogenität der Bevölkerung in Slowenien kam es hier zu keinen inneren Kämpfen. In Bosnien dagegen, wie zuvor schon in Kroatien, brachen unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung schwere Unruhen aus. Diese führten schließlich in einen grausamen Bürgerkrieg mit wechselnden Beteiligungen der Volksgruppen der Serben, Kroaten und Bosniaken. Schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wie ethnische Säuberungen und Massaker an der Zivilbevölkerung fanden auf allen Seiten statt. Das Massaker von Srebrenica mit circa 8 000 Ermordeten wurde gerichtlich als Genozid an den Bosniaken eingestuft. Dem Verfahren vorausgegangen war eine intensive Untersuchung dieses Massenmordes durch eine internationale unabhängige Organisation. Auch für die Kriegsverbrechen von Butscha und anderen Orten in der Ukraine, die in diesen Tagen uns und die Welt bewegen, ist eine solche unabhängige Untersuchung der einzige Weg, um jenseits der Kriegspropaganda Klarheit über die Verantwortlichkeiten zu erlangen. ({1}) Der Krieg in Bosnien endete schließlich nach robuster Intervention der NATO aus der Luft im Dezember 1995 mit dem Abkommen von Dayton. Die Bilanz der bosnischen Tragödie: mehr als 100 000 Tote, mehr als 2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, davon 350 000 nach Deutschland, schwer zerstörte Infrastruktur und wirtschaftlicher Niedergang, Millionen von Minen im Land mit schrecklichen Folgen für die Bevölkerung, bleibender Hass und tiefes Misstrauen gegenüber den anderen Volksgruppen. 30 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung sind die Folgen des Krieges noch präsent. Die Segregation der Bevölkerung in den serbischen, kroatischen und bosniakischen Anteil ist allgegenwärtig. Der erwähnte Hass auf die anderen Volksgruppen wurde leider von Generation zu Generation weitergegeben. Auch viele Schulen spielten und spielen dabei eine fatale Rolle, wie ich selbst im Laufe eines Einsatzes im gesamten Bosnien feststellen musste. Der ehemalige Hohe Repräsentant Christian Schwarz-Schilling kam frustriert zur gleichen Feststellung. Bosnien-Herzegowina steht immer noch gemäß Dayton-Abkommen unter Überwachung eines Hohen Repräsentanten mit weitreichenden Befugnissen, derzeit des Deutschen Christian Schmidt. Das Abkommen von Dayton, das wichtig war, um 1995 das Blutvergießen zu stoppen, konserviert heute einen dysfunktionalen Staat, der aus zwei Entitäten besteht, zum einen der Föderation der Bosniaken und bosnischen Kroaten und zum anderen der Republik der bosnischen Serben, genannt „Srpska“. Seit der Unabhängigkeit Bosniens gibt es starke Bestrebungen der bosnischen Serben nach staatlicher Unabhängigkeit und der bosnischen Kroaten nach einer dritten Entität. Bisher hat die internationale Gemeinschaft dem nicht nachgegeben. Bosnien-Herzegowina hat 2016 den Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union gestellt, und die EU hat diesen Antrag auch angenommen. Allerdings ist der Beginn der Beitrittsverhandlungen in weite Ferne gerückt. Der jüngste Bericht der EU spricht in nahezu allen Reformfeldern von keinen oder nur geringen Fortschritten, ja sogar von Rückschritten. Korruption und Organisierte Kriminalität sind dort nach wie vor endemisch. Die Notwendigkeit, wie wir gehört haben, der Verstärkung der EU-Operation Althea spricht Bände. Milorad Dodik, serbisches Mitglied des Staatspräsidiums, verstärkt derzeit offensichtlich seine Bestrebungen für eine Unabhängigkeit der Republik Srpska. Er erhält dazu Unterstützung aus Serbien und aus Russland. Die Frage, wie der Krieg in der Ukraine nun die Situation in Bosnien und auf dem gesamten Westbalkan beeinflussen wird, ist offen, aber höchst sensitiv. Ich habe Stimmen vernommen, die verlangen, Serbien den Status EU-Kandidat abzuerkennen, weil Serbien sich zum Krieg gegen die Ukraine gegenüber Russland nicht kritisch genug einlässt. Diese Aberkennung wäre fatal und der völlig falsche Weg. ({2}) Die Bundesregierung und die EU sind daher dringend aufgerufen, durch eine langfristige Strategie und eine kluge Politik für den gesamten Westbalkan die legitimen Interessen aller Beteiligten zu berücksichtigen, ja, auch die Serbiens, der serbischen Bevölkerung Bosniens und des Kosovo. Der Schlüssel zu einem friedlichen Zusammenleben auf dem Westbalkan liegt nämlich auch in Belgrad. Werte Kollegen, es gilt gerade jetzt, durch kluge Politik und Diplomatie zu verhindern, dass in der derzeitigen hochemotionalen Lage in Bosnien und im Kosovo einseitige Entscheidungen zur Sezession getroffen werden. Es muss also unser dringendes Interesse sein, ein dadurch mögliches Übergreifen des Konflikts von der Ukraine auf den Westbalkan zu verhindern. Wie gesagt, der Schlüssel dazu liegt in Belgrad. Dazu muss miteinander geredet werden, und es müssen gangbare Kompromisse gefunden werden – es gibt keinen anderen Weg zur Erhaltung des Friedens in Bosnien-Herzegowina und auf dem Westbalkan. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte: Jens Beeck, FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Exzellenz, schön, dass Sie heute bei uns sind! Ich hoffe, Sie nehmen aus dieser Debatte mit, dass wir uns hier sehr ernsthaft mit Ihrer Geschichte, aber auch mit Ihren aktuellen Herausforderungen befassen, und dass Sie Deutschland weiterhin an Ihrer Seite wissen auf dem Weg in unsere Gemeinschaft. ({0}) Allein dass sich in dieser Woche zum 30. Mal der Beginn des Bosnien-Krieges jährt, ist, zusammen mit dem Gedenken an das Massaker von Srebrenica, hinreichender Anlass für diese Debatte. Allerdings kommt man in diesen Tagen – der Kollege Beyer hat auch schon darauf hingewiesen – nicht umhin, Parallelen zu den aktuellen Ereignissen und zu dem vorangegangenen Tagesordnungspunkt hier im Plenum zu ziehen, Parallelen zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Auch das ist schon genannt worden: Vor zwei Wochen ist der Botschafter Russlands in Bosnien-Herzegowina gefragt worden, ob denn Bosnien-Herzegowina sich eigentlich der NATO oder der EU anschließen könne, und die Antwort war: Ja, das entscheide jeder für sich selbst; aber wie wir reagieren könnten, sehe man im Grunde derzeit. – Das ist, Herr Kollege Beyer, natürlich eine Drohung gegen die Menschen in Bosnien-Herzegowina. Es ist auch eine Drohung gegen unsere westliche Weltordnung und gegen die Eigenständigkeit und Souveränität jedes Staates. Dem werden wir uns mit aller Härte entgegenstellen. ({1}) Wir beobachten diese dreisten und unverhohlenen Methoden Russlands auf dem Balkan schon länger. Wir wissen um die Verwicklung Russlands 2018 beim Namensreferendum in Nordmazedonien; wir wissen um Verwicklungen beim Putschversuch in Montenegro 2016. Wir werden dies auch in der aktuellen Situation nicht länger hinnehmen, sondern dem aktiv entgegenarbeiten. Bosnien-Herzegowina hat eine glaubhafte Perspektive in der Europäischen Union und auch in der NATO verdient, setzt wichtige Voraussetzungen des Membership Action Plan um und hat auch bei Defender Europe 2021 gerade erst bewiesen, dass die Zusammenarbeit mit der NATO hervorragend funktioniert. Es geht Russland vor allem darum, die EU-Integration zu verhindern. Aber diese Aktionen werden den Weg Bosnien-Herzegowinas in die europäische Gemeinschaft nur verzögern, sie werden sie nicht aufhalten können; dafür werden wir hier in diesem Hause nach unseren Kräften mit sorgen. ({2}) Es ist im Übrigen auch das richtige Ziel für die Menschen in Ihrem Land, Frau Botschafterin; denn – das muss man in diesen Zeiten immer wieder unterstreichen – sie streben zu Recht nach Souveränität, nach Freiheit, nach Menschenrechten, nach Demokratie. Das – das Glück für den Einzelnen in einem souveränen Staat – ist genau das, was Putin nicht bieten kann. Er kann immer nur Vorteile für einzelne Autokraten bieten. Leider – das ist angesprochen worden – ist mit Milorad Dodik auch in Ihrem aktuellen Dreier-Präsidialgremium ein solcher vorhanden. Wir stehen an Ihrer Seite, nicht an seiner, um das auch deutlich zu sagen. Wenn dieser Herr Dodik gegenüber unserer Außenministerin Baerbock bei den angesprochenen Besuchen behauptet, dass er an der Sezession des Landes nicht arbeite, gleichzeitig aber illegale Strukturen aufbaut, dann bin ich Ihnen, Frau Schulze, sehr dankbar, dass Sie daraus die richtigen Konsequenzen ziehen und dass Sie sehr deutlich machen, an welcher Stelle die Bundesregierung, an welcher Stelle Deutschland seine Prioritäten setzt: dass wir diejenigen unterstützen, die für Menschenrechte, für Zusammenarbeit, für freiheitliche Werte und Demokratie stehen, und dass diejenigen – das gehört dann auch dazu –, die sich davon abwenden, unsere Unterstützung – jedenfalls in dem Maße wie früher – nicht mehr bekommen. ({3}) Die westliche Staatengemeinschaft – mehr noch: die große Gemeinschaft derjenigen, die für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in der Welt auf der Basis von Respekt und Zusammenarbeit einstehen – auf der Basis der regelbasierten Ordnung der Vereinten Nationen, der auch wir uns verschrieben haben, darf sich nicht ausbremsen lassen von diesen einzelnen Aktionen, die allerdings in der Welt immer stärker um sich greifen. Deswegen ist es unsere Aufgabe, in diesen Zeiten diejenigen zusammenzuführen, die unsere Werte teilen, die unsere außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen ebenfalls teilen, und sich auch denen entgegenzustellen, die das ausdrücklich nicht tun; das ist die Kehrseite der Medaille. Als internationale Gemeinschaft müssen wir – das hat Christian Schmidt in seinem Brief an uns alle deutlich gemacht – Bosnien-Herzegowina weiter unterstützen. Es ist noch ein Stück Weg zu gehen. Und wir müssen auch den Hohen Repräsentanten selbst bei seinen Aufgaben so handfest unterstützen, wie er sich das wünscht. Aber wir sind uns, glaube ich, in diesem Hause einig darin, dass wir das tun wollen, und ich bin davon überzeugt: Das ist der richtige Weg für unser Handeln auf dem Balkan, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, mit der wir vielfältige Wurzeln haben. Wir stehen an der Seite der Menschen in Bosnien-Herzegowina, weil sie das wollen und weil wir auch wollen, dass sie zu uns kommen. Auf diesem Weg werden wir gemeinsam weiterarbeiten. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner ist Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute erleben wir einen furchtbaren Krieg Russlands gegen die Ukraine, und jetzt beschäftigen wir uns mit Geschichte, aus der wir ja auch Schlussfolgerungen zu ziehen haben. Jugoslawien war das einzige sozialistische Land, in dem sich Ende der 80er-Jahre/Anfang der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts im Unterschied zu allen staatssozialistischen Ländern in Europa nicht die Systemfrage stellte. Dort gab es immer ein absolutes Reiserecht, viele Jugoslawinnen und Jugoslawen waren auch in der Bundesrepublik beschäftigt, es gab eine frei konvertierbare Währung, tauschbar in Dollar und Deutsche Mark, es gab auch Staatseigentum, aber überwiegend Belegschaftseigentum, das sich die Belegschaften nicht nehmen lassen wollten. Außerdem gehörte Jugoslawien nicht dem Warschauer Vertrag an. Nun sollte aber nach Auffassung auch der westlichen Regierungen nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus kein funktionierendes sozialistisches Land mitten in Europa bleiben. Da sich die Systemfrage nicht stellte, wurde die ethnische Frage aufgeworfen, und zwar von innen, aber auch von außen. Deutschland war das erste Land, das so schnell wie möglich zum Beispiel die Unabhängigkeit Sloweniens anerkannte. Die Grenzen zwischen den Staaten wurden von der EU zum Teil so festgelegt, dass Auseinandersetzungen bis heute die Folge sind. Der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, hat gerade darauf hingewiesen. Ich fühlte mich so ein bisschen erinnert an die Teilung von Pakistan und Indien durch Großbritannien, wodurch dauerhaft der Kaschmir-Konflikt organisiert wurde. Beim Zerfall Jugoslawiens erinnerte ich mich an die Worte von Präsident Mitterrand, der Ende Dezember 1989 zu mir sagte, er fürchte eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg. Und so kam es. Entsetzt war ich, wie es gelingen konnte, dass Menschen, die friedlich in Jugoslawien über Jahrzehnte zusammenlebten, aufgehetzt und aufgepeitscht sich gegenseitig totschlugen. Ich wollte es nicht wahrhaben, musste es aber zur Kenntnis nehmen und weiß seitdem, wie Menschen weltweit auch manipuliert werden können. Die Demokratie muss sie davor schützen, was ihr aber nur begrenzt gelingt, durch interessengeleitete eigene Manipulationen und durch Schuld. In Srebrenica fand ein furchtbarer Massenmord an muslimischen Bosniaken durch serbische Täter statt. Ich bin froh, dass Verantwortliche vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wurden. Ich möchte nur, dass auch russische, aber auch US-amerikanische Täter vor dem Gericht zu erscheinen haben. ({0}) Die Blauhelme durften damals nicht eingreifen, und es war ein Fehler des Sicherheitsrates, nicht unverzüglich einen Einsatz zu beschließen, der das Morden gestoppt hätte. Warum führen wir heute diese Debatte? Geht es nur um die Erinnerung? Nein, ich glaube, es wird auch wieder versucht, den völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Serbien in irgendeiner Form moralisch zu rechtfertigen. Aber er war falsch. Nach dem Völkerrecht war es ein verbotener Krieg: Jugoslawien hatte niemanden angegriffen, und ein Sicherheitsratsbeschluss lag nicht vor. Russland unter Jelzin wurde nicht ernst genommen – was übrigens ein wichtiger Umstand in der Fehlentwicklung des Verhältnisses zwischen der NATO und Russland war. Bis heute ist umstritten, ob im Kosovo wirklich ein Völkermord stattfand. Die UN-Flüchtlingsorganisation, der UNHCR, bestritt es. Aber auch wenn ein Völkermord stattfand, hätte man Mittel und Wege außerhalb des Krieges finden können und müssen, ihn zu stoppen. ({1}) Die Abtrennung des Kosovo verletzte nicht nur die territoriale Integrität Serbiens, sondern einen noch heute gültigen Beschluss des Sicherheitsrates. Die gegenwärtige Schlussfolgerung darf eben nicht in einem Mehr an Kriegen, in einer immer höheren Aufrüstung bestehen, sondern muss umgekehrt in einer Deeskalation, in Abrüstung, in deutlich mehr Diplomatie, im Interessenausgleich – es geht nicht nur um die eigenen Interessen, sondern auch um die Interessen des Gegenüber – und vor allem in der strikten Einhaltung des Völkerrechts durch alle Staaten bestehen. ({2}) Mein letzter Satz. – Das gilt auch für die USA, wenn ich an den Irak denke; das gilt, wie gesagt, auch für die NATO; es gilt auch für die Türkei, wenn ich an Syrien und die Kurdinnen und Kurden denke; es gilt für Saudi-Arabien und den Iran, wenn ich an Jemen denke. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Jetzt bitte wirklich der letzte Satz.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das gilt vor allem für Russland, wenn ich an den entsetzlichen Krieg gegen die Ukraine denke. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Boris Mijatovic, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Boris Mijatović (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005155, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Eure Exzellenz Frau Botschafterin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 30 Jahren begann in Bosnien-Herzegowina ein schrecklicher Krieg. Uns erreichten damals – wie heute – entsetzliche Bilder von grausamen Verbrechen. Es ist unsere Aufgabe, nicht weg-, sondern hinzuschauen und die Täter und die Verantwortlichen für diese Verbrechen vor Gericht zu stellen. Dafür sind wir heute hier. ({0}) Wenn ich persönlich an den Kriegsbeginn denke, dann denke ich meist sofort an Sarajevo: die Stadt, die fast vier Jahre lang von den Hügeln um sie herum belagert und beschossen wurde, die Stadt, über die mein Vater einst sagte, sie sei die schönste auf dem Balkan, weil einige Tausend Pioniere sie aufgehübscht hatten für die Olympiade. Ich denke natürlich an Vucko, das kleine Maskottchen, das die Spiele mit dem Heulen begann. Ich war zehn Jahre alt, sportbegeistert. Für uns waren das Spiele, die uns stolz auf den Balkan machten. Das waren unsere Spiele. Sie werden sich vermutlich an Kati Witt und Jens Weißflog erinnern. Ich denke an das Finale UdSSR gegen die Tschechoslowakei im Eishockey. Keine zehn Jahre später wurden in der gleichen Stadt 380 000 Menschen eingeschlossen. In den folgenden dreieinhalb Jahren starben 10 000 Menschen auf Straßen, auf Marktplätzen oder an Orten wie der „Sniper Alley“, der „Allee der Scharfschützen“. Das ist gerade heute eine Erinnerung, die uns mahnen muss. Noch im März 1992 haben Zehntausende Menschen sich zusammengefunden, um für den Frieden zu demonstrieren. Noch heute erinnert das Projekt „ZETRA – Tage der Hoffnung“ daran, dass im ganzen Land viele Hunderttausend Menschen auf Konzerten für den Frieden warben. Auch dass hier viele Menschen den Kriegsdienst, die Wehrpflicht verweigerten und sich nicht auf den Weg in den Krieg machten, all das gab es, und all das war anscheinend umsonst; denn das Unvorstellbare begann an jenem 6. April vor 30 Jahren. Aber Kriege beginnen nur scheinbar plötzlich. Kriege schleichen sich an. Stückchenweise nehmen sie sich in der Gesellschaft den Raum, vergiften Debatten mit Hass. Menschen argumentieren mit Abneigung, mit Vorurteilen. Und dann ist er plötzlich da: der Überfall, der Angriff. Scheinbar plötzlich bricht Gewalt los, aber sie hat ein Vorspiel. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina hat sich angekündigt und nahm dann die furchtbaren Ausmaße an, von denen wir schon gehört haben. Zahlreiche Kriegsverbrechen sind dokumentiert: Zehntausendfach wurden Frauen vergewaltigt, Menschen getötet, es gab über 100 000 tote Zivilisten, den Völkermord von Srebrenica. All das zeigt, zu was Hass Menschen befähigt, und das, meine Damen und Herren, liebe Frau Botschafterin, ist der Gegenstand der heutigen Debatte. Daran müssen wir erinnern und mahnen. ({1}) Wenn wir heute auf Bosnien-Herzegowina schauen, dann tun wir das ja mit großer Sorge – über das Friedensabkommen von Dayton ist gesprochen worden –; die Friedensordnung bleibt zerbrechlich. Trotzdem müssen wir uns fragen: Was können wir tun? Dieses Erinnern, die wirksame Aufarbeitung der Vergangenheit sind das, was wir auf dem Balkan noch stärker fördern müssen. Die Zivilgesellschaft müssen wir fördern. Wenn ich heute sehe, dass Völkermörder wie Ratko Mladic in den Geschichtsbüchern oder auf irgendwelchen Wandbildern wieder als Kriegshelden gefeiert werden, dann ist das unerträglich – für die Opfer, aber auch für mich persönlich. ({2}) Ich habe noch nicht von den vielen Hundert, wahrscheinlich Tausend Kriegsverbrechern gesprochen, die immer noch nicht abgeurteilt sind, die immer noch frei herumlaufen, teilweise in den gleichen Städten wie die Opfer. Meine Damen und Herren, das ist unerträglich. Wir müssen die War Crimes Chamber, die Staatsanwaltschaft befähigen, diese Kriegsverbrecher endlich abzuurteilen. Die Beweise für die Taten sind ja da. Im Land bleibt es ein Tabuthema, das wir aufbrechen müssen, das wir anpacken müssen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Helfen wir der Zivilgesellschaft in Bosnien-Herzegowina bei ihrer Arbeit für freie Wahlen, für ein Leben in Frieden und Stabilität, bei ihren Schwierigkeiten mit Umwelt, mit Energie, mit den ganzen Herausforderungen, damit wir auch hinterher sagen können: Wir haben alles für diesen Frieden getan. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte: Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenz! Von Januar bis April 1996 war ich als junger Soldat der Bundeswehr in Bosnien eingesetzt. Ich war Teil des allerersten Kontingents – abgesehen von den Sanitätern, die 1994 in Somalia waren –, das in einen Auslandseinsatz geschickt wurde. Mit der IFOR-Mission sollte das Friedensabkommen von Dayton überwacht werden. Nach den schrecklichen Kämpfen in Bosnien sollte Stabilität Einzug halten. Die Eindrücke, die man da als junger Mensch gemacht hat, waren bestürzend: ein Bild der Zerstörung mitten in Europa. Am Ende dieses Krieges war der Hass dieses Konfliktes in der Zerstörung, in den unzähligen zerstörten Gebäuden, in den Einschusslöchern, in den Fassaden der Häuser deutlich sichtbar. Es schien natürlich in den ersten Tagen irgendwie unwirklich; aber diese massive Zerstörung, das große Leid in Bosnien – mitten in Europa – war real. Bei mir haben sich die Bilder von unzähligen frischen Gräbern, die eigentlich in jedem Dorf sichtbar waren, eingeprägt. Dennoch gab es Zuversicht. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton konnte man annehmen, dass die Balkankriege die letzten Kriege in Europa gewesen sind und dass wir auf den Weg in eine friedliche Zukunft waren. Wir müssen heute jedoch feststellen, dass wir uns getäuscht haben. Es gibt erschreckende Parallelen zwischen den damaligen Bildern aus Bosnien und den heutigen Eindrücken aus der Ukraine. Dabei hätte doch gerade die Lehre aus Srebrenica 1995 eigentlich sein müssen, dass wir als Westen alles tun, um solche Massaker in Europa in Zukunft zu verhindern. ({0}) Ich muss es an dieser Stelle klar sagen: Wertegeleitete Außenpolitik muss natürlich auch heißen, Bereitschaft zum Handeln und politische Führung zu beweisen. Das Definieren von Werten allein reicht nicht aus. Man muss im Ernstfall auch dazu bereit sein, konsequent zu handeln. Das hätte schon die Lektion aus den Balkankriegen sein müssen, und es bedrückt mich sehr, dass wir sie mit Blick auf die Ukraine noch nicht ausreichend verinnerlicht haben, dass wir wieder diejenigen, die regelmäßig rote Linien überschritten haben, zu lange haben gewähren lassen. ({1}) Meine Damen und Herren, Passivität darf uns aber in Bezug auf Bosnien nicht ein weiteres Mal passieren. Wir haben ein Land mit einer Blockade der politischen Klasse. Wir haben enttäuschte Erwartungen wegen des NATO- und des EU-Beitritts. Die Republika Srpska zündelt, und Kriegsverbrecher Putin hat mit Milorad Dodik einen Mann im Staatspräsidium, mit dem er mitten auf dem Balkan eskalieren kann. Wir dürfen die Lage in Bosnien nicht ein weiteres Mal entgleiten lassen. Die Wahlen im Oktober sind hierbei ganz entscheidend, und ja, das ist eine Aufgabe für uns alle, für Deutschland; das hat Christian Schmidt auch in den letzten Tagen eingehend beschrieben. Ihm möchte ich ganz herzlich danken für diesen wichtigen Einsatz für den Frieden auf dem Balkan. Es ist gut, dass Deutschland diese verantwortungsvolle Position mit dem diplomatisch erfahrenen Christian Schmidt besetzen konnte. Er muss auf unsere Unterstützung bei seiner Arbeit für Frieden und Stabilität in Bosnien und Herzegowina zählen können. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Dr. Gysi, ich würde Sie bitten, Ihre Maske aufzusetzen. – Herr Gysi, Ihre Maske! ({0}) Wir kommen zum nächsten Redner in der Debatte: Josip Juratovic von der SPD-Fraktion. ({1})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, und der Bosnien-Krieg war das Ergebnis des gesellschaftlichen und politischen Versagens des ehemaligen Jugoslawiens in den 80er-Jahren. Während sich die kommunistische Spitze des Staates nicht einigen konnte, wie sie die Transition in eine demokratische Gesellschaft vollziehen soll und gleichzeitig die Macht erhalten kann, fand eine Anarchie in Ex-Jugoslawien in brutalster Form statt. Die Folge war: Die alten Machthaber mit Unterstützung der nationalistischen Bewegungen konnten unter dem Deckmantel „Selbstbestimmung der Völker“ den Regimewechsel vollziehen und gleichzeitig ihr korruptes Dasein zum Teil bis heute erhalten. Der Preis dafür: Hunderttausende Tote und Millionen Vertriebene auf allen Seiten. – Das sagt uns, dass uns die Nationalisten im Unterschied zu Demokraten zwangsläufig, früher oder später, in den Krieg treiben. ({0}) Das hat leider auch die internationale Gemeinschaft seinerzeit nicht sofort erkannt, sondern sie hat vielmehr, je nach Konstellation, entweder versucht, den Zerfall Jugoslawiens aufzuhalten, oder unter dem Motto „Selbstbestimmung der Völker“ eine der Seiten eingenommen. Die Selbstbestimmung der Völker kann aber nur in einer multinationalen Gesellschaft funktionieren, wenn man gleichzeitig die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen zur Grundlage nimmt. Vukovar in Kroatien schon vorher und später Sarajevo, Ahmici, Bugojno bis hin zum Genozid in Srebrenica waren jeweils ein Kolo des Grauens, währenddessen auf allen Seiten Kriegsverbrecher ihr Unwesen trieben. Kolo ist ein Volkstanz der Westbalkanvölker, bei dem man sich im Kreise dreht. Nach dem Genozid in Srebrenica und während der Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft schloss man das Dayton-Abkommen, mit dem man zwar das Grauen des Krieges beendete, aber dafür bis heute die korrupten Nationalisten anscheinend belohnte. Deswegen hat in Bosnien und Herzegowina bis heute keine Seite weiße Handschuhe an; leider oft auch wir selbst nicht. „Demokratie statt Stabilokratie“ muss unsere Devise sein. Es ist enorm wichtig, dass wir aus der freien demokratischen Welt uns zur demokratischen Grundordnung in Bosnien und Herzegowina und auch auf dem Westbalkan bekennen und uns mit den demokratischen Kräften vor Ort aktiv solidarisieren. Wir müssen diese demokratischen Kräfte beim Aufbau der demokratischen Grundordnung sowie bei der Funktionalität der demokratischen Institutionen aktiv unterstützen. Dabei reicht es nicht aus, allein auf die zivile Gesellschaft zu bauen, sondern es müssen auch diesbezüglich die politische Entschlossenheit und die Geschlossenheit in der EU vorhanden sein. ({1}) Vor allem aber darf es kein Handel mit den Nationalisten um unsere demokratischen Grundwerte geben; denn nur Demokraten aller Couleur, vernetzt auf dem Westbalkan, können den Frieden sichern und in die EU führen. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, das Allerwichtigste ist jedoch, dass wir unsere Einstellung in unseren Köpfen verändern. Adis, dem heute mein besonderer Dank gilt – auch für diese Aktuelle Stunde hier –, aber auch Jasmina, ich, Luiza, Boris, Irene und viele andere Kolleginnen und Kollegen hier unter uns, die aus dem Westbalkan stammen, tun ihr Bestes für unsere gemeinsame Heimat Deutschland. ({3}) Es sind viele Serben, Kroaten, Bosniaken, Montenegriner, Nordmazedonier, Albaner unter uns in Deutschland und Europa, die friedlich Schulter an Schulter mit ihren persönlichen Fähigkeiten unser Land bereichern, ohne dass wir ihre nationalen Unterschiede erkennen. Warum ist das in Deutschland und in der EU möglich und nicht auf dem Westbalkan? Meine Antwort darauf ist: Es liegt am System und nicht an den Menschen. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den Menschen in Bosnien und Herzegowina und auf dem Westbalkan auf ihrem Weg in die EU das System ändern.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind wir vielen tapferen Demokratinnen und Demokraten in Bosnien und Herzegowina und auf dem Westbalkan schuldig; denn spätestens Putins Angriff auf die Ukraine hat uns gezeigt, dass die Sicherheit des Westbalkans auch unsere eigene Sicherheit ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte: Renata Alt, FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren begann die Belagerung der schönen bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Es war der blutigste Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als 2 Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. An die 100 000 Menschen verloren ihr Leben. Viele von uns – auch hier im Deutschen Bundestag; ich persönlich auch – waren Zeitzeugen dieses Krieges. Ich hätte nie geglaubt, dass es auf dem europäischen Kontinent noch einmal einen Krieg geben wird. Einen Krieg mitten in Europa darf es nie mehr geben. Dafür müssen wir alle uns heute mehr denn je einsetzen. ({0}) Von der Katastrophe, die diese Region erschüttert hat, sieht man heute kaum mehr etwas. Wenn man in Sarajevo flaniert, dann sieht man verschiedene Kulturen, die in einer Koexistenz friedlich nebeneinander leben. Der Okzident und der Orient reichen sich hier die Hand. Doch die Erinnerungen an den Krieg in Bosnien und Herzegowina haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es sind Erinnerungen an Belagerung und Völkermord, an ein unvorstellbares Leid, das so viele unschuldige Menschen ereilte. Es sind gerade die Bilder, die uns heute aus Butscha und Mariupol erreichen, die in Bosnien und Herzegowina diese so traumatischen und schmerzhaften Erinnerungen wecken. Meine Damen und Herren, Bosnien und Herzegowina sieht sich heute mit seiner schwersten existenziellen Bedrohung der Nachkriegszeit konfrontiert; Josip Juratovic hat es gerade angesprochen. Schon seit Jahren befeuern bosnisch-serbische Politiker, wie Milorad Dodik, mit nationalistischer Rhetorik die ethnischen Konfliktlinien im Land. In den vergangenen Monaten haben sie ihre separatistischen Bemühungen verstärkt. Mit der Gründung einer eigenen Armee, einer eigenen Steuerbehörde und eines eigenen Justizapparats für die Republika Srpska will Dodik die Nachkriegsordnung auseinanderreißen. Er will all das zerstören, was in den letzten 27 Jahren aufgebaut wurde – und das mit großer Unterstützung aus Moskau. Aber auch seitens der EU gibt es Versäumnisse. Die EU hat mit ihrer Uneinigkeit dem Nationalismus von Dodik Auftrieb gegeben. Sie hat es damit Staaten wie Russland ermöglicht, die Ressentiments gegenüber Brüssel auszunutzen. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine muss jetzt für uns alle ein Weckruf sein. ({1}) Die deutsche und europäische Außenpolitik müssen endlich zeigen, dass sie dazugelernt haben. Wir dürfen Hinweise, dass Russland die bosnischen Serben militärisch in Stellung bringt, nicht ignorieren. Wir brauchen eine klare europäische Strategie, keine Fortsetzung der Appeasement-Politik. ({2}) Der Hohe Repräsentant Christian Schmidt muss Dodik rote Linien aufzeigen und hierfür seine legitimen Befugnisse nutzen. Jetzt ist, meine Damen und Herren, die Zeit, ein Dayton II zu verhandeln. Wir müssen die Länder des Westbalkans, die sich zu unseren europäischen Werten bekennen, mehr wirtschaftlich an die EU anbinden. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kreml mithilfe von Dodik und seinen Freunden eine weitere Front der Destabilisierung auf dem Balkan errichtet. Die Schrecken der 90er-Jahre dürfen sich nie wiederholen. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte: Johannes Huber. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Eure Exzellenz! Während wir hier des Ausbruchs und der Folgen des blutigen Krieges in Bosnien gedenken, steht das Land in diesem Moment am Rande des nächsten Krieges. Der russische Botschafter Igor Kalabuchow droht unverhohlen mit einem ukrainischen Szenario, falls Bosnien den europäischen Weg einschlagen sollte. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Die Geschichte wiederholen Menschen. Wie vor 30 Jahren steht auch heute die westliche Wertegemeinschaft verwirrt daneben und träumt weiter von einem bosnischen EU- oder NATO-Beitritt. Doch das aus den Nöten des Krieges eilig zusammengezimmerte Dayton-System hat sich in der Zwischenzeit in etwas Surreales entwickelt: in ein kompliziertes System aus staatlichen, kantonalen und republikanischen Ebenen plus den Distrikt Brcko. Dieses System beschäftigt so viele Minister und Abgeordnete wie kein anderes Land in Europa. Über die Hälfte des BIP geht an diese Verwaltung, die in sich so korrupt und ineffizient ist, dass sie nur noch mehr Chaos schafft – ein Chaos, das dieses schöne Land leider so unlebenswert macht, dass Bosnien weltweit an der dritten Stelle bei der Talentabwanderung steht. Wenn jemand die Möglichkeit hat, verlässt man das Land – es sei denn, man kann nicht oder man ist in das Klientelnetzwerk der ethnopolitischen Clans eingebunden. Diese Clans können nur in diesem Biotop existieren, und so tun sie auch nichts, um die Situation für die Menschen im Land zu verbessern. Im Gegenteil: Sie verhindern seit Jahrzehnten, dass Bosnien ein Wahlrecht bekommt, in dem jeder bosnische Bürger das gleiche Wahlrecht hat, unabhängig von Ethnie und Religion. Eine der wichtigsten Machtsäulen ist zudem der Hass gegen die andere Ethnie. Also wird versucht, das Prinzip der ethnischen Matrize in jeden Aspekt des Lebens zu zwängen. Diese bosnische Misere ist nun schon seit 27 Jahren am Glimmen, und es hätte vielleicht noch 30 Jahre so weitergehen können. Doch jetzt stehen wir vor einer komplett neuen Ausgangssituation; denn die persönlichen und finanziellen Verbindungen von Dodik nach Russland sowie das Auftreten von Putins Diplomaten auf dem gesamten Balkan sprechen nicht dafür, dass es beim Glimmen bleibt. Ich schließe daher mit einem Appell an den Hohen Repräsentanten Christian Schmidt, den mir bosnische Bürger persönlich zugetragen haben: Befreien Sie – so sagten sie mir – die bosnischen Bürger aus der Geiselhaft dieser ethnopolitischen Clans, und nutzen Sie dafür die Bonner Befugnisse! Ansonsten müssen wir alle zusehen, wie Europa in einen weiteren Krieg mit allen bekannten Konsequenzen hineingezogen werden kann. Das muss uns bewusst sein. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich das Wort Philip Krämer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Philip Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005114, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der anwesenden Delegation! Vor 30 Jahren, im April 1992, begann mit der Belagerung Sarajevos der sogenannte Bosnien-Krieg in Bosnien und Herzegowina. Dieser ist zwar seit annähernd 20 Jahren beendet, die zugrundeliegenden ethnischen Spannungen sind jedoch bis heute präsent. Die aktuellen Sezessionsbestrebungen der serbischen Teilautonomieregionen zeigen die Gefahr einer erneuten Eskalation in Bosnien und Herzegowina. Sie ist vermutlich größer als noch vor einigen Jahren und darf auch vor dem Hintergrund des aktuellen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht unterschätzt werden. Im Gegenteil: Die Aggressionen und Destabilisierungsversuche Russlands bestärken all jene, die zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele auch vor militärischen Mitteln nicht zurückschrecken. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung erscheint es mir wichtig, dass die deutsche Beteiligung an der Durchsetzung des Dayton-Abkommens mindestens bestehen bleibt, besser aber noch ausgebaut wird. Das heißt, es sollte ernsthaft geprüft werden, ob sich die Bundeswehr wieder an der EUFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina beteiligt und ob eine personelle Aufstockung der Mission insgesamt sinnvoll ist. ({0}) Die internationale Gemeinschaft muss aber unabhängig davon in der Lage sein, kurzfristig auf einen aufflammenden Konflikt in dieser Region reagieren zu können. Daher ist auch die Aufstockung der Reserveeinheiten zu befürworten. Dies darf aber natürlich nicht zulasten des Engagements der Bundeswehr bei der KFOR-Mission im benachbarten Kosovo gehen. Bei der KFOR-Mission sind bis heute deutsche Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, für deren Friedensdienst ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte. ({1}) Wir müssen die Sicherheitslage in der Region im Auge behalten und mit allen Parteien im Austausch bleiben. Europa kann sich keinen zweiten Krieg leisten. Die Menschen auf dem Westbalkan haben ein Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit verdient. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte: Volkmar Klein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Krieg war für die Menschen in Bosnien und Herzegowina eine Katastrophe. Das ist durch viele Beiträge hier schon deutlich geworden. Er war eine Katastrophe für die politische Entwicklung in der Region. Die Bilder haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt – die Bilder von Srebrenica, die jetzt durch Butscha wieder ganz brutal in Erinnerung gekommen sind. Dieser Krieg ist aber auch wirtschaftlich eine Katastrophe für die Menschen in Bosnien und Herzegowina gewesen, und das bis heute. Auf der Homepage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist über das Land zu lesen: Während des Krieges kam die Wirtschaft von Bosnien und Herzegowina fast zum Erliegen. Bis heute gehört sie zu den schwächsten Volkswirtschaften Europas. – Leider stimmt es: Das Leben ist immer noch viel zu stark von den Kriegsereignissen geprägt. Wenn uns das nicht von vielen anderen Regionen dieser Welt eh klar wäre, dann würde an Bosnien und Herzegowina besonders beispielhaft deutlich: Sicherheit und Entwicklung bedingen einander, sind zwei Seiten einer Medaille. Ohne Sicherheit wird es keine Entwicklung geben, und ohne Entwicklung wird es keine Sicherheit geben. ({0}) Dem Mangel an Entwicklung folgen Vulnerabilität und Unsicherheit. Menschen, die zu wenig Perspektive haben, die überhaupt keine Perspektive haben, werden leichte Beute von Scharfmachern auf verschiedenen Seiten im Land, die eh alles für Fehlentwicklungen halten und die Leute mit Falschinformationen ködern. Ohne diesen Mangel, mit besserer Entwicklung, wäre das Geschäft für Dodik ganz sicherlich schwieriger. So ist er leicht erfolgreich. Im Übrigen: Unsicherheit als Ergebnis mangelnder Entwicklung wird am Ende nicht nur für die Menschen in Bosnien und Herzegowina ein Problem sein, sondern auch für uns überall in Europa. Bosnien und Herzegowina dürfen nicht erneut zu einem Pulverfass im Balkan werden, was sich am Ende natürlich auf ganz Europa auswirken würde. ({1}) Nächster Punkt. Mangel an Sicherheit verhindert Entwicklung. Das ist ganz offensichtlich so bei der militärischen Sicherheit. Deswegen ist es auch richtig, wie es Peter Beyer eben schon betont hat, dass, wenn es zu einem neuen Mandat der Bundeswehr käme, wir dies als Opposition sicherlich sehr positiv und wohlwollend prüfen würden. Aber es ist nicht nur die Frage von militärischer Sicherheit, sondern es ist auch die Frage von politischer Verlässlichkeit – Good Governance – in diesem komplexen Gebilde Bosnien und Herzegowina. Heute sehen wir: Es gibt viel zu wenig – zumindest zu wenig erfolgreichen – Kampf gegen Korruption. Auch Josip Juratovic hat es noch mal ganz deutlich gemacht: Auch das ist ein Mangel an Verlässlichkeit und Sicherheit. Die Sicherheit ist aber auch wichtig in anderen Bereichen: Energie und Infrastruktur. Das sind Bereiche, in denen wir als Deutschland schon seit einiger Zeit erhebliche Beiträge leisten. Die Energieversorgung wird über die KfW finanziert. Unsere GIZ ist mit rund 100 Leuten in diesem Land tätig. Es geht um Beschäftigungsförderung, um Energieeffizienz, um die Reform der öffentlichen Verwaltung und um bessere regionale Zusammenarbeit mit den anderen Ländern im Westen des Balkans. Dayton gibt ein Stück Stabilität, und Christian Schmidt leistet als Hoher Repräsentant eine sehr, sehr gute Arbeit. Die ganze Lage ist dennoch fragil. Deswegen sollte dieser Jahrestag uns dazu bringen, zu mehr Engagement aufzurufen. Wir als Europäer müssen aufgerufen werden zu mehr Bereitschaft, auf die Region zuzugehen; aber in dem Land selbst muss eindeutig auch mehr an Vorarbeit geleistet werden. Wenn uns das gelingt – das Potenzial ist groß, sowohl für die Sicherung der Sicherheit wie auch für die Entwicklung –, ist das gut für die Menschen in Bosnien und Herzegowina. Das ist am Ende aber auch gut für die Menschen überall in Europa. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort der Kollegin Jasmina Hostert, SPD-Fraktion. ({0})

Jasmina Hostert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005088, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich weiß, dass sehr viele von ihnen zuschauen, sage ich heute auch: Liebe Bürgerinnen und Bürger von Bosnien und Herzegowina! Dragi gradjani Bosne i Hercegovine! Es ist der 6. April 1992. Ich bin zu Hause in Sarajevo mit meinem Vater und meiner Oma. Es ist der Tag, an dem ein grausamer, nicht vorstellbarer Krieg in meiner Heimatstadt und in meinem Heimatland beginnt. Dieser 6. April vor 30 Jahren steht für eine Zeitenwende für mich persönlich, aber auch für alle Bosnierinnen und Bosnier. Vor 30 Jahren wurde Sarajevo eingekesselt. Vor 30 Jahren habe ich im Alter von neun Jahren meinen Arm durch einen Granatenangriff verloren. Ich habe mein geliebtes Zuhause und meine unbeschwerte Kindheit verloren. Die Gelegenheit, heute hier dazu zu sprechen, ist eine sehr besondere für mich, Privileg und Verantwortung zugleich. Ich möchte sie nutzen, um ein Signal zu senden: Sicherheit und Stabilität in Bosnien und Herzegowina müssen bewahrt werden. Wir müssen jetzt unseren Blick auf dieses Land werfen und nicht erst dann, wenn es wieder zu spät ist! ({0}) Nicht erst seit dem Ukrainekrieg ist die Situation in meiner ersten Heimat angespannt; aber der Krieg in Europa verschärft die Lage. Und der Krieg in der Ukraine zeigt, wie schnell Tatsachen geschaffen werden: Wenn der erste Schuss fällt, hört der Krieg nicht so schnell wieder auf. Die Bilder aus der Ukraine erinnern mich an meine eigenen Kriegserfahrungen: an die Angst, wenn Granaten fielen; an die Nächte, die wir in den Kellern verbrachten; an die Nahrungs- und Wasserknappheit, an zerstörte Fassaden, an verletzte Menschen. Nichts ist abscheulicher und brutaler als ein Krieg, und wir müssen alles dafür tun, dieses unermessliche Leid in der Ukraine zu beenden und Putins Krieg zu stoppen! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für ein friedliches Bosnien und Herzegowina brauchen wir gefestigte demokratische Strukturen. Eins möchte ich ganz klar sagen: Wir stellen uns entschieden gegen diejenigen, die die Integrität und Souveränität von Bosnien und Herzegowina infrage stellen und mit Abspaltungen drohen. Wir sehen euch, und wir beobachten die Lage sehr genau! Allen Nationalisten und Populisten muss klar sein, dass Sanktionen sie hart treffen können und wir bereit sind, diese einzusetzen. ({2}) Bosnien braucht auch endlich eine EU-Perspektive. Wir müssen ein klares Signal senden: Bosnien und Herzegowina, aber auch die ganze Region gehören zu uns, zu Europa! Viele Menschen setzen ihre Hoffnung in die EU. Europa ist nach wie vor der Leuchtturm für den Westbalkan. Ich erinnere mich an meine Erlebnisse und sehe, wie heute in der Ukraine Mariupol und andere Städte eingekesselt werden; ich sehe, wie Erwachsene und auch Kinder schwer verletzt oder getötet werden. Ich sehe, wie Kriegsverbrechen begangen, Menschen einfach ausgelöscht werden – in Butscha heute genauso wie in Prijedor oder Srebrenica vor 30 Jahren. Wir müssen alles dafür tun, dass es auf dem Westbalkan keinen neuen Krieg gibt. Ich möchte, dass nie wieder ein Kind seinen Arm, seine Heimat oder seine Kindheit verlieren muss. ({3}) Dafür müssen Deutschland und die EU einstehen, mit einer starken Präsenz und einer starken Perspektive. Aber dafür müsst auch ihr, liebe Bosnierinnen und Bosnier, einstehen. Ihr habt es auch in der Hand! Lasst es nicht zu, dass euch Nationalisten in Bosniaken, Kroaten und Serben spalten. Schafft Perspektiven für eure Jugend, die massenweise das Land verlässt. Wählt progressive Parteien, die die Gesellschaft verbinden. Erhebt eure Stimme, und bringt euer Land, dieses wunderschöne Bosnien und Herzegowina, voran! Ihr könnt dabei auf unsere Unterstützung zählen. Racunajte na nas! Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Vielen Dank, Frau Hostert, dass Sie uns an Ihrem persönlichen Schicksal haben teilnehmen lassen. Ich habe gemerkt, dass die breite Mitte des Hauses dies goutiert hat. Vielen Dank dafür! ({0}) Der nächste Redner in der Debatte ist Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht der Krieg des russischen Diktators Putin gegen die Ukraine ist der erste große Krieg nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Der erste Krieg war der des nationalistischen serbischen Diktators Milosevic gegen Bosnien, gleich nach seinen Kriegen gegen Kroatien und Slowenien. Es war ein Völkermord. Als ich als einer der ersten ausländischen Studenten nach dem Krieg in Sarajevo war, habe ich für die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ viele Interviews mit Überlebenden des Genozids geführt, vor allem mit Frauen aus Srebrenica. Diesen Horror werde ich nie vergessen; der ist eingebrannt! Diese Blume, die ich hier hochhalte, ist die Blume der Erinnerung für Srebrenica. Ich freue mich, dass Christian Schwarz-Schilling oben auf der Tribüne bei uns ist. Er kennt diese Blume sehr gut. Wir dürfen an einem solchen Tag auch nicht die „kleinen Srebrenicas“ vergessen: Prijedor, Trnopolje, Omarska, Keraterm. Liebe Kolleginnen und Kollegen, während Bosnier zu Tausenden selektiert, teils wie mit Judenstern markiert und systematisch vernichtet wurden, hat Europa viel geredet, wenig getan und war unfähig zum Handeln. Der Vertrag von Dayton hat sogar die Völkermörder und Extremisten gestärkt, die Demokraten verdrängt und den Frieden fragil gemacht. Milosevic fühlte sich als Sieger, begann den nächsten Genozid, dieses Mal gegen Kosova, das Kosovo. Bis heute verehrt der serbische Präsident Vucic diesen Kriegsverbrecher Milosevic – dessen Propagandaminister er war. Von Dodik in Bosnien über Vucic in Serbien bis Putin in Russland gibt eine gefährliche, kriegsfähige Achse. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schlimm ist nicht nur, dass der russische Botschafter in Sarajevo dieser Tage den Bosniern öffentlich mit dem Schicksal der Ostukraine gedroht hat, falls sie sich für den Westen entscheiden; schlimm ist, dass wir so schwach sind, dass dieser Mann sich das traut. ({0}) Und ich frage uns: Wollen wir so weitermachen? Wollen wir warten, bis Putin und seine Proxies, seine Komplizen, die Extremisten von Vucic bis Dodik und Covic, den Balkan von der jetzigen Krise in den nächsten Krieg stürzen? Mit einem kleinen Funken, den es gerade noch braucht? Als unsere neue Außenministerin in Sarajevo war, haben viele viel erhofft. Und viele waren auch am Ende sehr enttäuscht über tönerne Sätze, über oberflächliche Symbolpolitik. Es wäre wirklich ein Werk des Friedens, liebe Frau Baerbock, wenn es endlich eine weniger oberflächliche und dafür inhaltlich neue Balkanpolitik gäbe. Ich bin mal direkt: Wir alle müssen diese verdammte Oberflächlichkeit ablegen, müssen endlich anders, zielstrebiger analysieren, müssen klarer agieren. Dazu zählt dann auch, um direkt zu bleiben: Die Außenministerin muss beim Thema Balkan ihr Ministerium und auch die EU mit steuern, nicht umgekehrt, Frau Schütz im Auswärtigen Amt und Frau Eichhorst für die EU die neue Frau Baerbock. Niemand darf sich nach dem Überfall auf die Ukraine mehr auf alte Rezepte verlassen, sich selber froh machen – und dabei die wirklichen Gefahren übersehen. Wir dürfen nicht wie Schlafwandler in einen Krieg taumeln. ({1}) Dieses Mal würde er anders, weil Russland das Russland Putins geworden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir dieses Mal bitte früher wach! Hören wir endlich denen in Bosnien-Herzegowina zu, die einen normalen europäischen Staat wollen. Stoppen wir alle faulen, gefährlichen Kompromisse mit gefährlichen Extremisten, die enge Kontakte nach Moskau und anderswohin pflegen. Es wäre richtig und wichtig für den Frieden – und eine Premiere: Es wäre das erste Mal, dass Europa nicht zu spät kommt. Deutschland, Baerbock und Scholz, tragen hier große Verantwortung. Wir setzen auf Ihre Einsicht. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brand. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Adis Ahmetovic, SPD-Fraktion. ({0})

Adis Ahmetovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005005, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Am 4. April 1992 brach ein dunkles Kapitel über die Geschichte Europas herein. Es war ein Angriffskrieg gegen einen modernen europäischen Staat mit dramatischen Folgen für das Land und seine Menschen: mehr als 100 000 Tote, darunter Großeltern, Väter und Mütter, brutale Kriegsverbrechen wie die Vergewaltigung von Frauen und die Ermordung von Kindern, das Massaker in Prijedor, die jahrelange Belagerung von Sarajevo, der Völkermord von Srebrenica. Insgesamt wurden in den vier Jahren Krieg über 2 Millionen Menschen vertrieben. Es war ein Krieg gegen die europäischen Werte, der Einheit in Vielfalt. In der Stunde der Not hofften die Menschen in Bosnien-Herzegowina auf Europa, auf Deutschland. Zu den Kriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina – erlauben Sie mir an dieser Stelle, etwas persönlich einzubringen – zählten auch meine Eltern und mein großer Bruder. Vor 30 Jahren sind meine Eltern mit meinem Bruder aus der multiethnischen Stadt Kotor Varos über Zagreb nach Hannover geflohen. In diesem Krieg haben wir auch unseren Großvater verloren – einer der Verschollenen; er wurde erst 2015 in einem Massengrab wiedergefunden. Deutschland ist seitdem unsere neue Heimat. Ich kam vor 28 Jahren in Hannover zur Welt und habe jetzt das Glück und die Chance, hier vor Ihnen zu sprechen. Ich bin nicht nur dafür dankbar, sondern es ist ein historisch wichtiges Signal, was wir hier aus diesem freiheitlich-demokratischen Haus entsenden, weil wir uns fraktionsübergreifend darauf verständigt haben, diese Debatte zu führen. Von Herzen sage ich dafür Danke, liebe Demokratinnen und Demokraten. ({0}) Uns haben in den letzten Tagen die blutigen Bilder aus Butscha fassungslos gemacht; viele sprechen vom neuen Srebrenica. Angesichts des aktuellen brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine müssen wir uns auch die Frage stellen: Welche Auswirkungen hat dieser Krieg eigentlich für den Westbalkan und speziell für Bosnien-Herzegowina? Im vergangenen Monat hat der russische Botschafter in Sarajevo angedroht, dass dem Land Selbiges wie der Ukraine widerfahren wird, wenn es sich zu einem NATO-Beitritt entscheiden sollte. – Dies ist eine völkerrechtswidrige Drohung und ein weiterer Versuch der Destabilisierung des Westbalkans, des Mittelmeerraums und damit auch von ganz Europa. In der Region nutzen genau diese Unruhen die ethnonationalistischen Kräfte aus, um Hoffnung auf Demokratie und eine friedliche Zukunft zu zerstören. Meine Damen und Herren, wir brauchen einen konkreten Plan für Wohlstand, Frieden und Demokratie. Erstens. Der westliche Balkan muss fester Bestandteil unserer Außen- und Sicherheitspolitik werden. Zweitens. Wir dürfen nicht in Hinterzimmern verhandeln, sondern nur mit denen, die an Demokratie und an Europa glauben. Drittens. Wir müssen für Sicherheit einstehen, indem wir EUFOR-Althea stärken. Viertens. Wir müssen den Hohen Repräsentanten stärken – Christian Schmidt, der live zuguckt –, dass er diejenigen von der Macht fernhält und sanktioniert, die für Unfrieden sorgen. Und fünftens. Wir brauchen eine klare EU-Perspektive. Bosnien-Herzegowina und seine Nachbarn müssen in die Europäische Union aufgenommen werden, liebe – – ich hätte fast schon Genossinnen und Genossen gesagt, meine Damen und Herren. ({1}) Sie merken: Das Thema geht mir nahe. Ich habe natürlich Persönliches damit verbunden. Es ist, wie gesagt, ein starkes Zeichen, das wir heute hier entsenden. Die Mehrheit der Menschen auf dem Westbalkan sind europäisch, sie fühlen europäisch, und sie denken europäisch. Und das ist das Wichtigste, meine Damen und Herren. Zum Schluss – Herr Präsident, ich weiß, ich habe noch zehn Sekunden – habe ich einen Wunsch. Wenn in 30 Jahren hier im Deutschen Bundestag wieder auf Bosnien-Herzegowina oder auf die Ukraine zurückgeblickt wird, steht dann hier am Rednerpult eventuell ein Kind ukrainischer Flüchtlinge, das in Deutschland geboren ist. Für dieses Kind wünsche ich mir, dass es auf Europa ohne einen neuen brutalen Krieg blickt. Es liegt in unserer Hand. Lassen Sie uns dafür arbeiten! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will jetzt niemanden animieren, länger zu reden als gedacht. Aber wenn es blinkt und die Zeit abgelaufen ist, gibt es immer noch 10 bis 15 Sekunden obendrauf, damit Sie zu einem Ende kommen können. Aber das heißt jetzt nicht, dass Sie die Redezeiten überschreiten sollen. Die Debatte ist damit beendet.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja hier im Deutschen Bundestag schon häufiger darüber gesprochen, wie belastend die letzten beiden Jahre besonders für die Familien in unserem Land waren, weil der Alltag neu organisiert werden musste, weil Kinderbetreuung, weil Erwerbsarbeit neu aufgeteilt und neu verteilt wurden. Doch das war eben für Alleinerziehende ganz oft nicht möglich, weil Alleinerziehende die doppelte Verantwortung tragen, die doppelten Sorgen tragen – nicht immer das doppelte Glück. Aber sie tragen, weil sie so viel Verantwortung tragen, unserer Meinung nach auch dazu bei, dass unser Land läuft, und deswegen haben sie auch die doppelte Entlastung verdient, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Wir haben in Deutschland rund 2,7 Millionen alleinerziehende Mütter und Väter – mehr Mütter. Fast die Hälfte lebt mit ihren Kindern in prekären Verhältnissen. Das heißt, jede fünfte Familie betrifft das Ganze. Deswegen sagen wir: Alleinerziehende gehören viel zu oft zu den Alleingelassenen unserer Gesellschaft. Wir als Union wollen sie genauso wie in der letzten Legislaturperiode noch stärker in den Mittelpunkt stellen. ({1}) Das haben wir gegen die SPD durchgesetzt. ({2}) – Ich freue mich, dass Sie es durch Ihr Gelächter bestätigen. – Es war nämlich sehr traurig, dass wir das anschieben mussten. Aber das Familienministerium war in der letzten Legislaturperiode ja auch nicht gut – und dann auch nicht mehr besetzt. Deswegen haben wir schon in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt, dass der Steuerfreibetrag deutlich erhöht wird, weil wir uns an den realen Bedürfnissen orientieren. Genau deshalb liegt Ihnen unser Antrag vor: weil wir eine Entlastungsinitiative brauchen, eine Unterstützungsoffensive für die Alleinerziehenden. ({3}) Sie sehen es ja, wenn Sie einkaufen gehen: Wenn die Butter jetzt schon über 2 Euro kostet, dann mag das bei den lachenden SPD-Kolleginnen so sein, dass sie das vielleicht etwas schmerzt, ({4}) aber bei Alleinerziehenden ist es so, dass sie dann einfach keine Butter mehr auf dem Frühstückstisch haben, dass Kinder dann eben nicht mehr die gesunde Nahrung erhalten, die sie brauchen. Wir haben eine Rekordinflation. Die Verbraucherpreise im März lagen sage und schreibe 7,3 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Das ist die höchste Inflationsrate seit über 40 Jahren. ({5}) Vor allem die Heizkosten, die Preise für Lebensmittel haben sich verteuert – von den hohen Spritkosten ganz zu schweigen –, aber auch die Mieten und die Immobilienpreise. Deswegen wollen wir gerade die Alleinerziehenden in den Fokus nehmen, weil alleinerziehende Eltern eben oft von Armut bedroht sind, zumal die meisten von ihnen auch berufstätig sind. Beispielsweise sind unter den alleinerziehenden Müttern 71 Prozent berufstätig; fast die Hälfte arbeitet in Vollzeit oder nahe daran. Darum sagen wir als Union: ({6}) Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein, und deswegen haben die Alleinerziehenden unsere Unterstützung verdient. ({7}) – Ich finde es schön, dass hier so viel rumgeplärrt wird. Sie regieren doch! Dann tun Sie doch mal was, anstatt hier nur so rumzuplärren! ({8}) – Also wirklich! Nur Reden nutzt halt nichts. Handeln wäre einfach mal schön! Deswegen haben wir konkret vier Maßnahmen vorgesehen: Wir wollen den steuerlichen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende auf 5 000 Euro anheben. Wir wollen das Kindergeld nur hälftig auf den Unterhaltsvorschuss anrechnen. Wir wollen einen Kinderbonus in Höhe von 150 Euro einführen; Sie kommen immer mit so einem Sofortzuschlag; das ist weder sofort noch ein Zuschlag, das ist peinlich. Und wir wollen den Freibetrag beim Wohngeld für Alleinerziehende auch noch mal um 20 Prozent anheben. Wir wollen es aber nicht nur bei der Hebung des Entlastungsbetrags belassen, sondern wir regen zusätzlich und perspektivisch auch noch an, die Umwandlung des Entlastungsbetrags in einen Steuerabzugsbetrag zu prüfen; denn Entlastungsbetrag heißt: „Vom zu versteuernden Einkommen abziehen“, und Steuerabzugsbetrag heißt: „Von der zu zahlenden Steuer abziehen“. Das Zweite ist viel effektiver, und vor allem ist es auch viel ehrlicher. Deswegen soll ganz besonders den Alleinerziehenden mehr in der Tasche bleiben. ({9}) Ein Zuschlag auf das Wohngeld flankiert das. Und nein, es wird keine neue Bürokratie entstehen, wenn wir den Alleinerziehenden einen höheren Zuschlag im Rahmen des Wohngelds gewähren. Das Wohngeld ist grundsätzlich ein marktwirtschaftliches Instrument; anders als die Mietpreisbremse greift das Wohngeld aber nicht in die freie Preisbildung ein. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich finde es wirklich traurig, dass hier gerade vonseiten der SPD so höhnisch gelacht wird, weil das, was wir fordern, für die Gruppe der Alleinerziehenden eine echte Entlastung ist; denn wir sind der Meinung, dass Alleinerziehende Enormes leisten, ({10}) und wir sind der Meinung, dass sie diesen Goldstandard verdient haben. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von den die Regierung tragenden Fraktionen: Wenn Sie es ernst meinen mit der Unterstützung der Alleinerziehenden in unserem Land, dann können Sie nur eines tun: unseren Antrag unterstützen. Herzlichen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bär. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Jasmina Hostert, SPD-Fraktion. ({0})

Jasmina Hostert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005088, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum ist die Union in der Opposition, schon entdeckt sie das Thema Alleinerziehende für sich. ({0}) In der Großen Koalition haben Sie doch bei so vielen Dingen blockiert. Wenn jemand irgendjemanden getrieben hat, um irgendwas im Bereich „Familie und Alleinerziehende“ zu tun, dann war es die SPD, die Sie getrieben hat, ({1}) und nicht die Union die SPD. ({2}) Und wir lachen nicht, weil wir die Alleinerziehenden auslachen wollen, sondern weil wir uns sehr lustig machen über das, was Sie gerade gesagt haben; denn es glaubt Ihnen kein Mensch, dass Sie jetzt, wo Sie in der Opposition sind, etwas für die Alleinerziehenden tun wollen. ({3}) Das einzig Gute an Ihrem Antrag ist, dass wir heute uns tatsächlich mal dem Thema widmen und Ihnen aufzeigen können, wie wir in der Ampelkoalition Alleinerziehende ernsthaft entlasten werden. Sehr geehrte Damen und Herren, Mutter und Vater zugleich sein, einkaufen, kochen, sich um den ganzen Haushalt kümmern, Kinder betreuen, ihnen bei den Hausaufgaben helfen und gleichzeitig einem Beruf nachgehen, um Geld zu verdienen: So sieht ein typischer Alltag von Alleinerziehenden aus. Aus eigener Erfahrung kenne ich diesen Alltag ziemlich gut; denn auch ich habe zeitweise meine Tochter alleine großgezogen. Alleinerziehende tragen alleine die Gesamtverantwortung und sind so oftmals doppelt und dreifach Belastungen ausgesetzt. Ich möchte aber nicht, dass wir hier in Mitleid verfallen. Ich möchte, dass wir diese enorme Leistung von Alleinerziehenden anerkennen. Liebe Alleinerziehende, ihr seid unsere Heldinnen und Helden im Alltag, und ich habe den größten Respekt vor euch und eurer Power. ({4}) Es ist alarmierend, dass so viele Alleinerziehende in Vollzeit berufstätig sind, teilweise mehreren Jobs gleichzeitig nachgehen und trotzdem an ihre finanziellen Grenzen kommen. Um diesen Missstand zu beheben, haben wir im Koalitionsvertrag wichtige Weichen gestellt. Wir schaffen Rahmenbedingungen für eine bessere Infrastruktur. Wir setzen uns für faire Löhne und für flächendeckende Tarifverträge ein. Wir heben den gesetzlichen Mindestlohn noch in diesem Jahr auf 12 Euro an. ({5}) Wir verbessern die Rechte im Zusammenhang mit Vollzeit- und Teilzeitarbeit. Und wir schaffen Abhilfe im Steuerrecht, das Alleinerziehende endlich nicht mehr benachteiligt. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende haben wir im Zuge der Pandemie bereits mehr als verdoppelt. Wir haben dafür gesorgt, dass dieser nun auch über die Pandemie hinaus dauerhaft gilt. Wer also seine Kinder großzieht, kann einen steuerlichen Freibetrag in Höhe von bis zu 4 008 Euro für das erste Kind in Anspruch nehmen. Für jedes weitere Kind erhöht sich der Betrag um 240 Euro. Mit dem Entlastungsbetrag senken wir die Steuerbelastung spürbar und ermöglichen so mehr Netto für Alleinerziehende. Zudem werden wir in der Ampelkoalition eine Steuergutschrift für Alleinerziehende umsetzen, die für weitere finanzielle Entlastung sorgen wird. Wir sind also auf dem richtigen Weg und setzen unsere Worte in Taten um, weil uns die Unterstützung von Alleinerziehenden wichtig ist und weil wir sie nicht im Stich lassen werden. ({7}) Und das ist noch nicht alles. Eine besondere Entlastung wird zudem die Kindergrundsicherung mit sich bringen. Sie ist ein wichtiges Instrument für die Bekämpfung von Kinderarmut, von der insbesondere Kinder von Alleinerziehenden betroffen sind. Die Kindergrundsicherung wird ein Kraftakt, ja, aber wir packen sie an, weil wir es nicht hinnehmen wollen, dass in einem wohlhabenden Land wie Deutschland jedes fünfte Kind in Armut lebt. ({8}) Nebenbei erwähnt: Die SPD will die Grundsicherung schon lange. Mit der Union wäre die Einführung einer Kindergrundsicherung niemals möglich gewesen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass wir sie nun in der Ampelkoalition angehen und umsetzen werden. ({10}) Außerdem werden wir den Anspruch auf Kinderkrankentage über die Pandemie hinaus dauerhaft erhöhen: pro Kind und Elternteil auf 15 Tage und für Alleinerziehende sogar auf 30 Tage. Damit schaffen wir eine wichtige Entlastung, wenn Kinder krank werden und betreut werden müssen. ({11}) Wir packen auch den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen an. Eine verlässliche Kinderbetreuung ist gerade für Alleinerziehende eine notwendige Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit und damit auch für das Sicherstellen des Lebensunterhalts. Wenn Eltern wissen, dass ihre Kinder gut aufgehoben sind, dann können sie auch guten Gewissens ihrer Arbeit nachgehen. Nicht nur langfristig, sondern auch in der aktuellen Situation haben wir Familien und Alleinerziehende im Blick. Die stark gestiegenen Kosten für Strom, Lebensmittel, Heizung und Mobilität sind gerade für sie eine große Belastung geworden. Dem stellen wir zwei umfassende Entlastungspakete entgegen. Damit unterstützen wir unbürokratisch und schnell vor allem die Bürgerinnen und Bürger, die besondere finanzielle Unterstützung brauchen. Dazu zählen zum Beispiel der Einmalbonus von 300 Euro für Arbeitnehmer/-innen und Selbstständige, der Einmalbonus für jedes Kind in Höhe von 100 Euro oder der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfängerinnen und ‑empfänger, um hier nur mal drei Beispiele aus dem Maßnahmenpaket zu nennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Alleinerziehende im Blick. Deshalb werden wir ihnen anhand der aufgeführten Vorhaben die nötige Unterstützung geben, damit sie entlastet werden und damit ihre enorme Leistung anerkannt wird. Vielen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hostert. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CDU/CSU legt heute einen Antrag vor, in dem sie vorgibt, Alleinerziehende und damit Kinder und Familien wirksam zu unterstützen. Discounter erhöhen die Lebensmittelpreise um bis zu 50 Prozent, die Inflationsrate wird zweistellig, und Sie fordern einen Kinderbonus von 150 Euro und Steuererleichterungen, die bei den Betroffenen kaum ankommen. Wir wissen aber, dass auch das Wenige, was Sie tun, gegebenenfalls unterstützenswert ist. In Ihren Regierungsjahren haben Sie sich nämlich letzten Endes einen Dreck um Kinder- und Familienarmut geschert. Im Gegenteil: Die völlig sinnlosen Coronamaßnahmen haben Familien am härtesten getroffen. „Das Familienministerium ist nicht wichtig“, sagte eines Ihrer Fraktionsvorstandsmitglieder vor der Wahl 2017. Darum hier eine kurze Bilanz Ihrer desaströsen Familienpolitik: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm; das sind mehr als 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. 2,2 Millionen Kinder wachsen mit einem Elternteil auf. Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden liegt bei 68 Prozent. 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien sind einkommensarm. Immer mehr Familien werden von Wohnungsnot bedroht; ihr Anteil liegt mittlerweile bei 30 Prozent. Der Bedarf an Wohnungslosenheimen für Familien ist groß. Familien werden dort in einem Zimmer, teilweise mit 18 Quadratmetern, untergebracht. Das ist beschämend für Familien und Kinder. ({0}) Familien mit Kindern sind kinderlosen Paaren ungleichgestellt. Das Durchschnittsnettoeinkommen von Familien mit Kindern liegt um 21 Prozent unter dem von kinderlosen Paaren. Die heutige feministische Regierung – aber das gilt auch für die CDU-geführte – bekämpft angesichts dieser dramatischen Zahlen allerdings lieber ein herbeifabuliertes Gender-Pay-Gap zwischen Frauen und Männern, meine Damen und Herren. ({1}) Eine nachhaltige und spürbare Entlastung von Familien und Kindern gibt es bis heute nicht. Meine Damen und Herren von der CDU, das ist Ihre Verantwortung. ({2}) Dass die Familienarmut nicht noch höher ist, liegt daran, dass die paar Familien in den letzten Jahrzehnten durch Ausweitung ihrer Berufstätigkeit ihre Betroffenheit von Armut selbst verringert haben. Früher nannten Linke so etwas „Manchester-Kapitalismus“; heute nennt man das feministisch „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ oder „Gleichstellung“, meine Damen und Herren. ({3}) Und ja, Feministen und Sozialisten schaffen Gleichstellung, nämlich die im Elend. ({4}) Ein-Eltern-Familien können ihre Erwerbstätigkeit aber nicht ausbauen; denn schon jetzt gehen alleinerziehende Mütter häufiger einer Beschäftigung nach als andere Mütter und arbeiten auch mehr Vollzeit. 40 Prozent der Alleinerziehenden im SGB-II-Bezug üben eine Erwerbstätigkeit aus, häufiger als der Durchschnitt der Leistungsempfänger. Das bedeutet: arm trotz Arbeit. Und das sind Folgen Ihrer Regierungsjahre, meine Damen und Herren von der CDU. ({5}) Sie haben damit begonnen, die Energie- und Kraftstoffpreise in die Höhe zu treiben, und fordern nun in Ihrem Antrag, die am meisten Betroffenen vor den Folgen Ihrer eigenen Politik zu schützen. Da schreit der Dieb am lautesten: Haltet den Dieb! ({6}) Bereits in der letzten Legislatur haben wir von der AfD den Antrag gestellt, die Mehrwertsteuer auf Produkte des Kinder- und Familienbedarfs auf 7 Prozent abzusenken. Wir werden diesen Antrag wieder stellen. Dann können Sie von der CDU einmal beweisen, ob Sie wirklich familienfreundlich sind, und mit uns stimmen. Das werden Sie aber nicht tun; denn Sie haben es durch Anbiederung zugelassen, dass die Familie geschwächt wird und von den Linken letztlich zerstört. Sie haben die Grundlage dafür geschaffen, dass unsere Familien heute im rot-grünen Teuerungs- und Inflationssumpf versinken, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Reichardt. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Nina Stahr, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Nina Stahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005227, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Alleinerziehend? Das wünsche ich mir auch manchmal. Da hast du ja jedes zweite Wochenende frei.“ – „Alleinerziehend? Die ist bestimmt selber schuld.“ – Meine Damen und Herren, über Alleinerziehende gibt es eine Menge Vorurteile. Und ich kann Ihnen sagen: Die meisten davon, die allermeisten, sind einfach nicht wahr. ({0}) Was aber stimmt: Alleinerziehende leisten einen unschätzbar wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft. Sie halten Hände, sie trocknen Tränen, machen Essen, lesen vor, putzen kleine Zähne und sorgen dafür, dass die Zahnfee Bescheid weiß, wenn die Zähne ausfallen. Sie lachen mit ihren Kindern, und sie weinen mit ihren Kindern. Sie kleben Pflaster auf blutige Knie, sie helfen beim Aufstehen und geben den Mut, wieder loszurennen. Sie waschen, putzen, kaufen ein. Kurz: Sie ziehen Kinder groß, und das in verschiedenen Modellen, von tatsächlich kompletter Verantwortungsteilung mit dem Partner über verschiedene Stufen von Verantwortungsteilung bis hin zur komplett alleinigen Verantwortung bei einem Elternteil. Jeder, der selber Kinder hat, weiß, wie anstrengend das ist, wenn man all das – Butterbrote schmieren, Pflaster kleben, Tränen trocknen, bei den Hausaufgaben helfen und, wenn die Kinder dann im Bett sind, noch waschen, putzen, bügeln und irgendwann auch noch Geld verdienen – komplett alleine leisten muss. Keine Pause. Keine Zeit für sich selbst. Und das betrifft in Deutschland über 2 Millionen Menschen. Ganz besonders während der Pandemie sind Alleinerziehende noch mehr über ihre Grenzen gegangen. Seit mehr als zwei Jahren wuppen sie zusätzlich noch Homeschooling und Kinderbetreuung parallel zum Job – und wieder: Ganz alleine! All diesen Eltern gilt zuallererst mein großer Dank für die wichtige Aufgabe, die sie für unsere Gesellschaft übernehmen. ({1}) Deshalb haben Alleinerziehende die beste Unterstützung verdient, die wir ihnen geben können. Wie sehr wir als Gesellschaft darauf angewiesen sind, dass Menschen Kinder großziehen, das muss ich hier nicht erklären. Dass wir in einer immer älter werdenden Gesellschaft mehr Kinder brauchen, das wissen wir alle. Und doch: Ausgerechnet Kinder zu haben, gehört zu den größten Armutsrisiken. Und die Gruppe, die das allergrößte Armutsrisiko hat, sind die Alleinerziehenden. Sie sind bis zu fünfmal häufiger von Armut betroffen als Paarfamilien. Das ist eine untragbare Situation, das ist eine ungerechte Situation, und das ist eine Situation, von der wir alle, aber besonders Alleinerziehende und ihre Kinder, in den letzten Jahren erwartet hätten, dass sich daran etwas ändert. Stattdessen: 16 Jahre Stillstand. ({2}) Und jetzt, Frau Bär, kommen Sie um die Ecke, und Ihnen fällt ein, dass Sie auch mal was für Alleinerziehende tun wollen – nach 16 Jahren. 16 Jahre, in denen es Ihr Job gewesen wäre, die Situation von Alleinerziehenden zu verbessern. ({3}) 16 Jahre wurden verschwendet! Da können Sie jetzt noch so sehr meckern. ({4}) 16 Jahre lang haben die Eltern darauf gehofft, dass endlich was passiert, ({5}) und stattdessen wurden Kinder ihrer Chancen beraubt, Frau Bär. Davor können Sie jetzt die Augen verschließen, aber das ist so. 16 Jahre lang haben Sie die Kinder ihrer Chancen beraubt. ({6}) Denn wir wissen, dass Armut sich weitervererbt. Und damit muss endlich Schluss sein! ({7}) Schluss sein muss auch damit, dass Frauen nach wie vor immer noch massiv benachteiligt sind. Neun von zehn Alleinerziehenden sind Frauen. Obwohl alleinerziehende Mütter häufiger einer Beschäftigung nachgehen und häufiger in Vollzeit arbeiten, leben sie dennoch so häufig in Armut. 40 Prozent der Alleinerziehenden im SGB-II-Bezug üben eine Erwerbstätigkeit aus, und trotzdem müssen sie aufstocken. Arm trotz Arbeit – auch damit muss endlich Schluss sein! ({8}) Deshalb ist es gut, dass die Ampelkoalition jetzt endlich anpackt. Frau Hostert hat das eben auch schon aufgegriffen: Mit der Kindergrundsicherung werden wir einen Paradigmenwechsel einleiten und Kinderarmut endlich konsequent bekämpfen. ({9}) Gerade die Entbürokratisierung und die automatische Auszahlung werden Alleinerziehenden zugutekommen; denn die haben dann wertvolle Zeit für ihre Kinder, statt sie mit Anträgen zu verbringen. ({10}) Gerade Alleinerziehende, die am stärksten von Armut betroffen sind, entlasten wir mit einer Steuergutschrift. Die Partnermonate beim Basiselterngeld werden wir um einen Monat erhöhen, und natürlich gilt das auch für Alleinerziehende. Mit der Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen unterstützen wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Natürlich holen wir besonders Alleinerziehende aus der Armut, indem wir den Mindestlohn erhöhen und die Brückenteilzeit für mehr Menschen zugänglich machen. ({11}) Wir stellen Geschlechtergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt her, indem wir uns für Entgeltgleichheit einsetzen und das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln. Und nicht zuletzt leistet der Ausbau einer qualitativ hochwertigen Kita und Ganztagsbildung einen wesentlichen Beitrag für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ganz besonders für Frauen und Alleinerziehende. ({12}) Mit dem Entlastungspaket helfen wir auch jetzt schon ganz konkret und ganz schnell: Heizkostenzuschuss, Einmalzahlung für Transferleistungsbeziehende, 100 Euro pro Kind, Vergünstigung bei Kraftstoffen und beim ÖPNV. All das sind Maßnahmen, von denen natürlich auch Alleinerziehende in besonderem Maß profitieren. Und ganz ehrlich: Die schmalen Forderungen der Union, die Sie in Ihrem Antrag hier vorlegen, erscheinen mir im Vergleich dazu wirklich nicht ausreichend, wenn man die Bedürfnisse von Alleinerziehenden in den Blick nehmen möchte. Ich freue mich trotzdem sehr, dass die CDU/CSU jetzt auch endlich sieht: „Beim Thema Alleinerziehende muss mehr passieren“, und freue mich sehr auf Ihre Unterstützung bei unseren Vorhaben, die wir als Ampelkoalition durchbringen werden. Vielen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Stahr. – Liebe Kollegen aus der Union, manchmal kommen einem Reden ziemlich lange vor, ({0}) wenn sie viel Inhalt haben. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke. ({2})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alleinerziehende machen einen wesentlichen Bestandteil der Familien in Deutschland aus. Viele Alleinerziehende befinden sich in der Armut oder stehen kurz davor. Die bisherigen Bundesregierungen haben es versäumt, ihnen ernsthaft zu helfen, auch die Regierungen, an denen die Union beteiligt war. Es war die Politik der Union, die mit ihrer Ignoranz gegenüber den Alleinerziehenden dazu beigetragen hat, dass Generationen von Kindern in unserer Gesellschaft in Armut aufgewachsen sind. ({0}) Die Union fordert in ihrem Antrag unter anderem, das Kindergeld nur hälftig auf den Unterhaltsvorschuss anzurechnen. Diese Forderung haben wir als Linke hier jahrelang aufgestellt, und die Union hat es immer wieder abgelehnt. ({1}) Deshalb ist es scheinheilig, dass ausgerechnet die Unionsfraktion sich hierhinstellt und sich als großer Unterstützer von Alleinerziehenden aufspielt. Sie haben in Ihrer langen Regierungszeit kläglich versagt und versäumt, hier wirksame Maßnahmen voranzubringen. Alleinerziehende sind nicht nur wegen der aktuell steigenden Inflation massiv von Armut bedroht; denn bereits vor der Inflation lag das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden bei über 40 Prozent. Die Bundesregierung muss jetzt handeln und verhindern, dass noch mehr Alleinerziehende in die Armut abrutschen. Laut dem Koalitionsvertrag möchte die Bundesregierung Alleinerziehende mittels einer Steuergutschrift entlasten. Das fordert die Union ebenfalls in ihrem Antrag. Steuergutschriften bringen jedoch den wenigsten Alleinerziehenden etwas. Wie kann eine Steuergutschrift Alleinerziehenden helfen, die kaum Erwerbseinkommen haben und auf Transferleistungen angewiesen sind? Es wäre eine wesentlich bessere Unterstützung, wenn die Koalition stattdessen den Unterhaltsvorschuss endlich verbessern würde. Das würde vielen Alleinerziehenden und vor allem den betroffenen Kindern wirklich helfen. ({2}) Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist gerade für Alleinerziehende schwieriger zu gestalten als bei anderen Familien. Die Kita- und Schulschließungen während der Coronakrise haben insbesondere die Alleinerziehenden in große Schwierigkeiten gebracht. Daher ist es dringend notwendig, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf endlich wirksam zu verbessern. Die Union hat in den letzten Jahren auch hier nichts unternommen, um wirklich Abhilfe zu schaffen. Es ist aber die Aufgabe einer sozialen und vor allem modernen Familienpolitik, diese Rahmenbedingungen für Alleinerziehende endlich zu verbessern. Wir fordern flächendeckende kostenfreie Kitas, damit alle Familien in unserer Gesellschaft entlastet werden. ({3}) Etwa 88 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen, die oftmals in unsicheren Arbeits- und Wohnbedingungen leben. Der Gender Pay Gap liegt dieses Jahr bei 18 Prozent, ({4}) und die sogenannten Frauenberufe sind im Vergleich zu Männerberufen immer noch schlechter bezahlt. Daher sagen wir: Wer Alleinerziehende unterstützen möchte, muss auch die geschlechtsspezifischen Lohndiskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt wirksam bekämpfen. ({5}) Vor allem benötigen gerade viele Mütter Weiterbildung und Qualifizierung, damit sie auch berufliche Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt bekommen. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Akbulut. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich kann nicht mehr“ – diesen Satz habe ich in den letzten beiden Jahren sehr häufig von Familien gehört. Nach den coronabedingten Belastungen sind viele von ihnen am Limit, und ganz besonders sind es die Alleinerziehenden. Der Drahtseilakt zwischen Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung hat Spuren hinterlassen. Obendrauf kommen bei nicht wenigen von ihnen finanzielle Belastungen aufgrund der steigenden Inflation. Deshalb können sich die Alleinerziehenden in unserem Land sicher sein, dass wir sie unterstützen werden. Wir haben sie auf dem Schirm – was sie leisten und insbesondere was sie herausfordert! ({0}) Von unseren Entlastungspaketen profitieren auch die Alleinerziehenden: erstens über die Einmalzahlung von 100 Euro pro Kind, zweitens über die Energiepreispauschale von 300 Euro und drittens über den Zuschuss von 200 Euro für diejenigen, die Sozialhilfe beziehen. Immerhin 40 Prozent der Alleinerziehenden müssen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken. So sieht finanzielle Entlastung aus – konkret und akut, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. ({1}) Darüber hinaus haben wir im Koalitionsvertrag weitere zahlreiche Vorhaben verankert, damit Alleinerziehende aus eigener Kraft für sich und ihre Familien sorgen können. Davon möchte ich heute drei vorstellen. Erstens werden wir mit der Kindergrundsicherung den 2,2 Millionen Kindern der getrennt- und alleinerziehenden Eltern gleiche und faire Chancen ermöglichen. Mit einem echten Neustart in der Familienförderung bündeln wir die verschiedensten familienpolitischen Leistungen wie das Kindergeld, Leistungen aus dem SGB II und XII für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Kinderzuschlag. Sicherlich, das ist ein recht komplexes Unterfangen. Aber genau deshalb führen wir bis dahin auch einen Sofortzuschlag für alle von Armut betroffenen Kinder ein. Der kommt im Juli 2022 und ist bereits beschlossene Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Zweitens werden wir steuerliche Anreize setzen und Verbesserungen vornehmen. Mit einer Steuergutschrift – als Abzugsbetrag von der Steuerschuld bis hin zu einer tatsächlichen Steuergutschrift – senden wir ein klares Signal und schaffen eine spürbare Erleichterung – nicht nur in Krisenzeiten, sondern langfristig. Einen echten Fortschritt nennt das übrigens die Bundesvorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter. Und für haushaltsnahe Dienstleistungen wird es ein Zulagen- und Gutscheinsystem geben. Das ist eine Unterstützung, die tatsächlich im Alltag und auch im eigenen Geldbeutel ankommt. ({3}) Drittens wollen wir für die 2,5 Millionen Getrennt- und Alleinerziehenden mehr Zeit für ihre Familie und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Deshalb werden wir flexiblere Arbeitszeitmodelle stärken, die Bezugsdauer des Basiselterngeldes um einen Monat erhöhen und den Kündigungsschutz nach der Rückkehr aus der Elternzeit auf drei Monate ausweiten. Auch bei den Kinderkrankheitstagen legen wir nach: 15 Tage pro Kind und Elternteil, das heißt 30 Tage für Alleinerziehende. Und für die sensibelste Phase unmittelbar nach der Geburt eines Kindes gibt es ebenfalls mehr Unterstützung, nämlich eine bezahlte zweiwöchige Auszeit für eine nahe angehörige Person der Mutter respektive der Alleinerziehenden. All das zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben die Alleinerziehenden in unserem Land im Blick, wir lassen sie nicht allein. Wir tun eine ganze Menge für getrennt- und alleinerziehende Familien, und zwar zielgenau; die Liste ist noch viel länger. Wir wollen allen Kindern in unserem Land faire Chancen eröffnen, damit sie unabhängig vom Elternhaus ihre Talente entfalten können. Wir wollen gerade die unglaubliche Leistung ihrer alleinerziehenden Eltern anerkennen und wertschätzen – neun von zehn von ihnen sind Frauen. Und schließlich wollen wir eine moderne Gesellschafts- und Familienpolitik. ({4}) Denn eine solche Politik sorgt für echte Gleichberechtigung und schafft Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Genau das brauchen wir. Das muss auch Teil dieser Debatte sein. Ich freue mich auf den Neustart mit Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ohne Familie kein Staat. Als Unionsfraktion wissen wir genau, was in den Familien geleistet und getragen wird. Nicht nur deswegen liegt uns das Wohl der Familien ganz besonders am Herzen, das Wohl aller Familien, Herr Kollege Reichardt. ({0}) Die aktuelle Lage stellt Eltern – da scheinen wir uns wohl einig zu sein – vor große Herausforderungen, ganz besonders aber – darum auch unser Antrag – die Alleinerziehenden; denn sie tragen die Lasten alleine. Die Fakten sind wiederholt zitiert worden: 2,5 Millionen Eltern sind alleinerziehend, überwiegend Frauen, aber auch ein immer größerer Anteil Männer. 40 Prozent gelten als einkommensarm, ein Drittel ist im Bezug von SGB-II-Leistungen. Aus Sicht der Kinder: Insgesamt fast 50 Prozent aller Kinder im SGB‑II-Bezug leben in einer alleinerziehenden Familie. Diese Zahlen erschrecken, und sie zeigen gleichzeitig einen großen Handlungsbedarf. Kinder sind ein Glück. Kinder sind ein Geschenk. ({1}) Sie alleine großzuziehen, darf kein Armutsrisiko sein. Kinder müssen die gleichen Chancen haben, ob sie in einer kleinen oder großen Familie mit Vater und Mutter oder mit nur einem Elternteil aufwachsen. Und was tut die Ampel, außer dass sie im Koalitionsvertrag schreibt – ich zitiere –: „Alleinerziehende, die heute am stärksten von Armut betroffen sind, sind zu unterstützen“? Wo bleibt die Entlastung, meine Damen und Herren? Frau Kollegin Hostert, Sie sprechen davon, dass die Kindergrundsicherung bald eingeführt wird. Bald, bald? Wann? Am Ende dieser Legislatur oder danach? Genauso schnell wie der sogenannte Sofortzuschlag? ({2}) Alleinerziehende brauchen Entlastung, und sie brauchen sie jetzt. Denn sie haben in der Coronapandemie schmerzlich zu spüren bekommen, was es heißt, auf Kinderbetreuung aufgrund geschlossener Kitas verzichten zu müssen, was es heißt, Homeoffice mit Homeschooling zu vereinbaren, oder was es heißt, vielleicht den Job zu verlieren oder mit Kurzarbeitergeld auszukommen. Viele haben in dieser Zeit ihr Erspartes aufgezehrt und ihre Reserven verbraucht. Jetzt kommen auch noch die Preissteigerungen dazu: im Bereich der Energie schon lange, im Bereich Wohnen und jetzt auch noch bei den Lebensmitteln. Wir wissen, dass von diesen Preissteigerungen besonders einkommensschwache Haushalte betroffen sind; das sind eben im Wesentlichen die Haushalte von Alleinerziehenden. Deswegen und genau deswegen haben wir die Forderung aufgestellt, ihnen sofort zu helfen: durch eine nochmalige Erhöhung des Entlastungsbetrages, durch die Anhebung des Freibetrages im Wohngeldgesetz und einen einmaligen Kinderbonus von 150 Euro. Jetzt sagen Sie als SPD: Ja, wir haben doch gerade 100 Euro auf den Weg gebracht. – Aber wir wissen schon heute, dass angesichts der weiter steigenden Preise auch diese 100 Euro mit Sicherheit nicht ausreichend sind. Besser wäre statt einer einmaligen eine strukturelle Verbesserung, vielleicht als vorgezogene Anpassung des monatlich zu zahlenden Kindergeldes. Das würde allen Familien und allen Kindern helfen. ({3}) Aber wir fordern auch – darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen – die nur hälftige Anrechnung des Kindergeldes auf den Unterhaltsvorschuss. Dies ist lange überfällig. Und wenn Sie, Frau Akbulut, das für Die Linke auch so sehen, dann freue ich mich auf Ihre Unterstützung bei diesem Antrag. Denn es ist nicht gerecht, dass für Kinder, für die Unterhaltsvorschuss gezahlt wird, weniger Geld zur Verfügung steht als für Kinder, die Mindestunterhalt vom anderen Elternteil bekommen. ({4}) Ihnen fehlt der Betrag in Höhe des halben Kindergeldes, der sonst zusätzlich im Haushalt des betreuenden Elternteils zur Verfügung steht. Hier können wir schnell helfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen für Familien sind erheblich, gerade in der aktuellen Zeit und im Einzelfall auch sehr unterschiedlich. Die Leistungen und Lasten von Eltern, zumal wenn sie die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder allein übernehmen, verdienen unsere Anerkennung. Unsere höchste Anerkennung! ({5}) Aber auch unsere Unterstützung. Sie brauchen diese Unterstützung jetzt. Wenn Sie, meine Damen und Herren, das genauso sehen, dann unterstützen Sie unseren Antrag – jetzt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Tebroke. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Anke Hennig, SPD-Fraktion. ({0})

Anke Hennig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005081, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich freue mich, dass Sie die Nöte der Alleinerziehenden in Deutschland erkannt haben und sich ihrer wirklich annehmen wollen. ({0}) Auch wir haben diese ganz klar im Blick. Sie wissen, dass Sie in Bezug auf Unterstützung von Alleinerziehenden und Familien bei uns in der SPD und den Ampelfraktionen offene Türen einrennen. Vielen Dank! ({1}) Wir sehen die Nöte von Alleinerziehenden, nicht zuletzt, weil wir selbst Betroffene sind oder waren. Ich selbst war nach der Geburt meiner Tochter 1990 fünf Jahre alleinerziehend, und ich weiß ganz genau, wovon ich rede. Als ich nach ein paar Monaten arbeiten gehen musste, waren die Hürden so hoch wie heute: wenig Unterstützung in Ämtern, Vorwürfe an die betroffenen Frauen und eine Masse an Anträgen. Das ist auch im Jahr 2022 gängige Praxis. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, Ihre Stoßrichtung ist falsch. In Bezug auf tatsächliche Unterstützung Alleinerziehender in Deutschland braucht es neben kurzfristigen Entlastungen nachhaltige Reformen und vor allem keine Überschriftenpolitik. ({2}) Damit ist niemandem geholfen, schon gar nicht den alleinerziehenden Müttern und Vätern in Deutschland. Ganz klar ist: In der Familienpolitik in Deutschland muss und wird es tatsächliche Reformen geben. ({3}) Diese Reformen in der Familienpolitik werden nachhaltig sein und über kurzfristige Entlastungen und Unterstützung im Klein-Klein hinausgehen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Bereiche, in denen Unterstützung besonders gebraucht wird, indem wir unter anderem eine Kindergrundsicherung einführen. ({4}) Damit verbessern wir die Chancen für Kinder und Jugendliche und konzentrieren uns neben dem Garantiebetrag durch den gestaffelten Zusatzbetrag auf diejenigen, die am meisten Unterstützung brauchen. Durch Entbürokratisierung und Digitalisierung stellen wir sicher, dass Leistungen auch bei den Kindern ankommen. Diese Maßnahmen helfen, Kinder aus der offenen und verdeckten Armut zu holen. ({5}) Um Familien im Alltag zu entlasten, sorgen wir für die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen. Damit stärken wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und schaffen den Familien Freiräume für mehr Zeit mit ihren Kindern. Diese Inanspruchnahme familien- und alltagsunterstützender Dienstleistungen erleichtern wir durch ein Gutscheinsystem. Davon profitieren vor allem Alleinerziehende. ({6}) Natürlich braucht es neben langfristigen Hilfen in der aktuellen Situation auch zielgenaue Unterstützung. Hierzu dient der Familienzuschuss. Das war ein kleiner Einblick in die geplanten Maßnahmen, mit denen wir eine tatsächliche Trendwende in der Familienpolitik herbeiführen werden. Doch zuletzt möchte ich noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt und bei dem wir auf Ihre Mithilfe angewiesen sind, um die Situation von Alleinerziehenden und vor allem von Kindern in Deutschland zu verbessern. Unterstützen Sie uns in dem Anliegen, Kinderrechte in unserer Verfassung zu verankern! ({7}) Das ist wichtig, damit Kinder in allen Fällen gehört werden. Denn die Umsetzung der Kinderrechte ist in Deutschland durch die aktuelle Rechtslage nicht hinreichend abgesichert. Die Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte in Deutschland bestätigt, dass Normanwenderinnen und Normanwender dazu tendieren, die Kindesinteressen und Beteiligungsrechte zu übersehen, wenn diese gesetzlich nicht explizit geregelt sind. Aber Kinder brauchen eine starke rechtliche Stimme. ({8}) Sie wissen, dass wir für eine Grundgesetzänderung, die dies erreichen würde, eine Zweidrittelmehrheit hier im Bundestag und auch im Bundesrat brauchen werden. Unterstützen Sie Alleinerziehende und Familien, indem Sie die Rechte unserer Kleinsten und die junger Menschen nachhaltig stärken! Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung, liebe Union. Vielen Dank. ({9})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Seit nunmehr neun Jahren warnen wir als AfD vor dem jetzigen Szenario der hohen Inflation im Euroraum. Dafür wurden wir zunächst von allen Parteien, die hier schon länger sitzen, als Populisten oder Panikmacher verspottet. Und wie so häufig hat meine Partei recht behalten. ({0}) Wir warnten vor dem permanenten Rechtsbruch und der anhaltenden Schuldenfinanzierung der Südstaaten durch die EZB, und jetzt ist es passiert, meine Damen und Herren: Der Euro befindet sich nun tatsächlich aus meiner Sicht im finalen Todeskampf, nämlich mit der Inflation. ({1}) – Da brauchen Sie nicht so überheblich zu lachen. ({2}) Im Klartext: Wer 100 Euro Kaufkraft vor einem Jahr hatte, hat jetzt noch eine Kaufkraft von 92,50 Euro bei 7,5 Prozent Inflation im Euroraum. Wenn Sie da noch lachen, meine Damen und Herren, dann tut es mir um Sie wirklich leid. ({3}) Die Groteske ist insoweit perfekt: Laut Statista lag die durchschnittliche Sparquote in Deutschland zwischen 1991 und 2019 bei etwa 9,3 bis 12,9 Prozent, im Jahr 2020 sogar bei 16,2 Prozent – ein absoluter Höchstwert, sicherlich Ihrer wunderbaren Pandemiepolitik geschuldet. Genau diese Sparguthaben – dazu kommen wir gleich noch – werden gerade massiv entwertet. Das kann man auch „finanzielle Repression“ nennen, meine Damen und Herren. Mittlerweile – das ist eine Umfrage von YouGov – ist jeder siebte Erwachsene in Deutschland kaum noch in der Lage, seine eigenen Lebenshaltungskosten durch Arbeit zu tragen. Diese Umfrage zeigt eins ganz deutlich: Sie haben ein großes Herz für die Welt, aber die eigenen Menschen lassen Sie buchstäblich verhungern. ({4}) Die Inflation betrifft vor allem die sozial Schwächeren, die sich irgendwann nicht einmal mehr das Nötigste leisten können, und den Mittelstand. Aber den haben Sie von der SPD, von der Linken und von den Grünen ja sowieso nicht auf dem Zettel. Dies wollen wir als AfD hier im Hohen Hause nicht mehr länger hinnehmen. Deswegen wollen wir Sofortmaßnahmen und nicht Ihre Politik „Die Operation ist erfolgreich, der Patient ist tot“. Unsere wichtigsten Forderungen für die Menschen da draußen – wir wollen helfen – im Einzelnen sind: Erstens. Wir wollen die vorübergehende Absenkung der Umsatzsteuer für Kraftstoffe auf null. Als Vorbild steht hier ganz klar Polen. Der Kollege Dobrindt hat es hier im Hohen Hause vor ein paar Wochen gesagt. Sie brauchen jetzt bitte nicht wieder auf europäische Richtlinien und europäisches Recht abzustellen. ({5}) Polen hat es vorgemacht, die EU-Kommission schweigt, es ist nichts passiert. Das ist gut so. Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren! ({6}) Zweitens. Wir brauchen dringend eine umgehende Aussetzung der ideologischen CO2-Abgabe auf Benzin, Dieseltreibstoff sowie Gas. Zudem wollen wir darauf hinarbeiten, dass das Brennstoffemissionshandelsgesetz abgeschafft wird. Hiermit wollen wir eine weitere sofortige Reduzierung der Kraftstoffpreise ermöglichen, meine Damen und Herren. ({7}) Und drittens. Die Umsatzsteuer auf Grundnahrungsmittel wie Brot – ja, so weit sind wir in Deutschland gekommen –, verarbeitetes Fleisch und Milchprodukte soll zumindest vorübergehend ausgesetzt werden, damit die deutlichen Preissteigerungen auch hier abgefedert werden, meine Damen und Herren. ({8}) – Ja, das ist Handeln und nicht Aussitzen, bis die Leute verarmt sind, wie Sie es machen. Das ist nämlich Ihr typisches Merkmal, meine Damen und Herren. ({9}) Im Rahmen eines Gesamtpaketes schlagen wir außerdem vor, den Preiswettbewerb an Tankstellen für Benzin und Diesel anzukurbeln. Viele Bürger machen nämlich auch die Beobachtung – und das schon seit 16 Jahren und Sie handeln nicht –, dass die Preise an den Tankstellen sehr schnell steigen, wenn der Ölpreis in die Höhe schießt, allerdings, wenn der Ölpreis sinkt, keine signifikante Senkung eintritt. Das ist auch kein Wunder, wenn nämlich die Gefahr besteht, dass Mineralölkonzerne die Preisänderungen ihrer Wettbewerber in Echtzeit mitverfolgen können. Wir schlagen daher vor, dass der Wirtschaftsminister – er ist nicht hier; das zeigt das Interesse dieser Regierung – in einer solchen Situation die Möglichkeit hat, die Preistransparenz für eine gewisse Zeit per Verordnung auszusetzen, wenn zu befürchten ist, dass die Preisdaten missbräuchlich verwendet werden, meine Damen und Herren. Insoweit: Handeln Sie! Schließen Sie sich unseren Vorschlägen an!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Handeln Sie in Verantwortung für die Menschen und lassen Sie dabei das Märchen von der braunen oder fossilen Inflation! Zum Schluss lassen Sie mich noch sagen – –:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Immerhin das Gendern ist Ihnen an dieser Stelle gelungen. Frau Lagarde ist nämlich die Totengräberin des Euro, meine Damen und Herren, und damit vieler Menschen auch hier in Deutschland. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gottschalk. Sie haben gesehen, ich war sehr großzügig mit Ihrer Redezeit; ({0}) man muss auch das mal hören. Nächster Redner ist der Kollege Armand Zorn, SPD-Fraktion, und ich bemerke: Das ist seine erste Parlamentsrede. ({1})

Armand Zorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Inflation ist in Deutschland im März mit 7,3 Prozent auf den höchsten Wert seit 40 Jahren gestiegen. Die coronabedingten Teuerungseffekte werden zunehmend von den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine überlagert. Die zentralen Treiber der Teuerungsrate, liebe AfD, sind nämlich die gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise und nicht das, was Sie gerade hier erzählt haben. ({0}) Um die Inflation wirksam zu bekämpfen, ist es wichtig, nicht nur die Ursachen zu verstehen, sondern auch tatsächlich die Auswirkungen. ({1}) Inflation hat enorme Umverteilungseffekte. Insbesondere die Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind stark davon betroffen. Deswegen ist es für uns als Ampelkoalition klar und wichtig, dass wir vor allem diese Menschen unterstützen werden. ({2}) Das haben wir zur zentralen Aufgabe dieser Bundesregierung gemacht. Um der hohen Inflationsrate zu begegnen, bedarf es geldpolitischer und fiskalpolitischer Maßnahmen. Ich finde es richtig und wichtig, dass wir hier im Parlament heute über die notwendigen fiskalpolitischen Maßnahmen reden. Aber liebe AfD, ich muss es noch mal sagen: Dieser Antrag hilft nicht. Dieser Antrag zeigt, dass Sie das Problem nicht verstanden haben. ({3}) Vielmehr offenbart er, dass Sie lieber Politik machen basierend auf Falschinformationen und Populismus. Das ist die Methode der AfD. ({4}) Sie schlagen vor, das Emissionshandelsgesetz und somit auch die CO2-Abgabe außer Kraft zu setzen. ({5}) Dieser Vorschlag ist nicht nur unsinnig, sondern auch gefährlich. Die Klimakrise zeigt uns doch jedes Jahr immer dringlicher, dass wir unseren CO2-Ausstoß reduzieren müssen. ({6}) Zeitgleich zeigt uns aber auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine, wie destruktiv unsere Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen ist – geopolitisch, wirtschaftlich, aber auch ökologisch. ({7}) Das heißt, anstatt jetzt weiter in CO2-intensive Ressourcen zu investieren, brauchen wir einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, und das machen wir als Ampelkoalition. ({8}) Wir wollen sowohl die Menschen jetzt in diesen schwierigen Zeiten unterstützen, als auch zeitgleich die dringend gebrauchte sozial-ökologische Transformation vorantreiben. ({9}) Falls es Ihnen von der AfD entgangen ist: Die Bundesregierung hat dazu bereits zwei Entlastungspakete auf den Weg gebracht. Dazu gehören viele gute Maßnahmen wie eine Erhöhung der Pendlerpauschale, ein Heizkostenzuschuss und steuerliche Erleichterungen. Diese Maßnahmen sind sehr präzise und werden somit ihre Wirkung nicht verfehlen. Wir unterstützen diesen Kurs. Das ist richtig, und das ist auch gut so. ({10}) Zur Inflationsbekämpfung bedarf es natürlich auch geldpolitischer Instrumente. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch mal daran erinnern, dass wir als Deutscher Bundestag nicht für die Geldpolitik im Euroraum zuständig sind. Deswegen ist es ratsam und klug, sich mit Forderungen im Hinblick auf die Zinspolitik zurückzuhalten. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist ein elementarer Bestandteil einer wirksamen Geldpolitik, und daran dürfen wir nicht zweifeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Aber, liebe Union, einen kleinen Seitenhieb muss ich mir doch leisten: Ehrlich gesagt war ich sehr überrascht, als ich letzte Woche gelesen habe, dass der bayerische Ministerpräsident Markus … ({12}) – Markus Söder! Ich hätte beinahe „Seehofer“ gesagt. Nein, Markus Söder heißt er immer noch. – Ich war sehr überrascht, als er eine Zinserhöhung gefordert hat. Das kann man ja machen. Aber so schnell, wie Markus Söder seine Meinung ändert, frage ich mich, ob seine Forderung diese Woche noch aktuell ist; das würde mich mal interessieren. ({13}) Vielleicht können Sie das mal in Erfahrung bringen und in der nächsten Sitzungswoche darüber berichten. ({14}) In der letzten Sitzung des EZB-Rats am 10. März hat die EZB beschlossen, dass wir bald aus der aktuellen Zinspolitik herauskommen werden. Und zwar wurde beschlossen, die Anleihekaufprogramme zu reduzieren. Das ist eine notwendige Voraussetzung, um tatsächlich die Zinserhöhung zu vollziehen. Wir als Ampelkoalition – und damit komme ich zum Schluss, sehr geehrter Herr Präsident – haben Vertrauen in die Arbeit der Europäischen Zentralbank und werden das, was wir machen müssen, als Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch tun, um die Menschen in dieser schwierigen Lage zu unterstützen. Vielen lieben Dank. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Zorn. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Ausgangssituation: Wir befinden uns in Deutschland aktuell auch wirtschaftlich in einer sehr herausfordernden Lage. Die Coronakrise hat uns härter und länger erfasst, als viele das anfangs erwartet hatten. Im internationalen Vergleich allerdings hat Deutschland die Krise gleichwohl gut gemeistert; da stimme ich also einigen Vorrednern ausdrücklich nicht zu. Entsprechend günstig waren die Prognosen für die deutsche Wirtschaft zum Jahresende 2021. Der seinerzeit zu verzeichnende Preisanstieg war noch vergleichsweise gering und insbesondere auf Nachholeffekte auch auf dem Energiemarkt zurückzuführen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen allerdings erheblich verschlechtert, erkennbar auch an deutlichen Preissteigerungen. Nach vielen, vielen Jahren – allen Unkenrufen zum Trotz – mit niedrigen Inflationsraten von 1 bis 2 Prozent ist die Inflation in den letzten Monaten auf durchschnittlich 5 Prozent gestiegen, im März auf 7,3 Prozent, und wir befürchten, dass das Ende der Fahnenstange längst nicht erreicht ist. Das ist ein deutlicher Anstieg. Die Ursachen müssen wir im Einzelnen sorgfältig analysieren und – da stimme ich meinem Vorredner Herrn Zorn ausdrücklich zu – darauf die Maßnahmen basieren. Ein wichtiger Punkt an dieser Stelle: Ein entscheidender Preistreiber ist sicherlich die Entwicklung an den Energiemärkten. Die Preise für Energieprodukte und auch für Kraftstoffe haben im Euroraum um etwa 40 Prozent zugelegt und Agrarprodukte in der Folge um 20 Prozent. Auf der einen Seite werden einzelne Hersteller, auch Vermögende, möglicherweise von der Preissteigerung profitieren. Wo dies durch unzulässige Preisabsprachen oder andere unzulässige Methoden geschieht, ist dem mit Nachdruck, aber mit geeigneten Mitteln zu begegnen, Herr Gottschalk. Auf der anderen Seite ergeben sich je nach Gewicht des individuellen Warenkorbes für viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen ganz unterschiedliche, zum Teil erhebliche, manchmal sogar existenzbedrohliche Belastungen aus dieser Inflation. Da – und da stimme ich auch dem mutmaßlichen Anliegen der Antragsteller zu – muss Politik handeln, aber zielgerichtet und effizient, meine Damen und Herren. ({0}) So sehen wir auf der einen Seite völlig überzogene, unwirksame oder möglicherweise widerrechtliche Vorschläge, etwa wenn der Finanzminister zu einem Rechtsbruch durch eine unzulässige Aussetzung von Umsatzsteuer aufgefordert wird, mit der Rechtfertigung, dass ein anderer – etwa ein polnischer Finanzminister – das ja auch so mache. Hauptsache, es wird der Eindruck erweckt, die tun oder die fordern irgendetwas, egal wie sinnvoll und zulässig. ({1}) Auf der anderen Seite sehen wir Vorschläge, etwa der Ampelparteien, bei denen man noch nicht ganz sicher ist, ob der Ernst der Lage erkannt wird, wann denn die Instrumente, die angekündigt werden, endlich eingesetzt werden und ob die Wirkung der Instrumente tatsächlich zu Ende gedacht wird. Ich möchte nur auf die Idee einer Energiepreispauschale verweisen, die Rentnern, die steuerpflichtig sind, zugutekommt, aber den Rentnern, die weniger Geld haben und keine Steuern zahlen, nicht. Hier ist die Ampel sicherlich noch in Erklärungsnot. Wir haben als Union eine Große Anfrage vorbereitet, weil wir zu diesen und anderen Maßnahmen einiges zu klären haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spaniel aus der AfD-Fraktion?

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, dass Sie das zulassen, Herr Kollege. – Sie fordern ja selber eine Spritpreissenkung um – ich zitiere – 40 Cent pro Liter. Sie haben hier mit den Methoden, die Sie vorschlagen, allerdings nicht aufzeigen können – oder wir haben es bisher noch nicht gehört –, wie Sie diese 40 Cent pro Liter realisieren wollen. Denn über die Energiesteuersenkung – und das wissen Sie sehr wohl – können Sie, wenn Sie das EU-rechtskonform machen, eben gerade nicht diese 40 Cent erreichen. ({0}) An dieser Stelle haben wir eben, wie gesagt, den Vorschlag aufgegriffen, den die Polen da gemacht haben, nämlich bei der Mehrwertsteuer eine temporäre Senkung vorzunehmen. Dass das eigentlich auch nicht zulässig ist, ist uns sehr wohl bekannt. Das sollte Ihnen aber auch bekannt sein. Das Gleiche trifft ja auf die Energiesteuer zu, die Sie an dieser Stelle um 14 Cent reduzieren wollen. Wir wissen nicht, wo Sie Ihre 40 Cent herkriegen wollen. Das heißt, Sie kritisieren hier unseren Vorschlag, haben aber selber keine Lösung. Wie sieht die denn aus?

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege, für die Rückfrage. – Wenn Sie unsere Anträge sehr sorgfältig gelesen haben – deswegen haben Sie sicherlich auch diese Frage gestellt –, haben Sie auch vernommen, dass wir von 40 Eurocent als Zielmarke sprechen und eine zulässige Absenkung der Energiesteuer und eine Reduzierung der Umsatzsteuer mit einbeziehen, vorausgesetzt, dass die EU-rechtlichen Vorgaben entsprechend geändert worden sind. Das ist ein entscheidender Punkt. Im Übrigen haben wir über eine Reduzierung auf den ermäßigten Steuersatz abgestellt. Sie dagegen, wenn ich Ihren Antrag richtig gelesen habe, wollen die Umsatzsteuer komplett aussetzen, ohne Bezugnahme auf eine Energiesteuerrichtlinie oder andere Bedingungen im EU-Rechtsrahmen. ({0}) Wenn Sie, meine Damen und Herren, lieber Kollege, unsere Anträge genauer anschauen, dann werden Sie feststellen, dass wir schon lange das Thema sehr ernst genommen und uns beeilt haben, viele Anträge diesbezüglich zu stellen. Ich weise auf den Antrag aus dem Februar 2022 „Explosion bei den Energiepreisen bekämpfen“ oder den Antrag aus dem März 2022 „Für eine sichere, bezahlbare und souveräne Energieversorgung“ hin. Da werden Sie diese Ausführungen, die ich aus der Erinnerung zitiert habe, nachlesen können. Das gilt auch für den Antrag „Alleinerziehende in der aktuellen hohen Inflation nicht allein lassen“, den wir vorhin beraten haben. Wir setzen bei den Ursachen der Preissteigerungen an und fordern deswegen eine Diversifizierung der Energieversorgung, Souveränität bei der Energieversorgung und den Ausbau der Kapazitäten der Erneuerbaren. ({1}) Wir zeigen auch auf, wie die Kostenexplosion bei den Energiepreisen abgefedert werden kann, etwa durch die Abschaffung der EEG-Umlage, die Erhöhung der Fernpendlerpauschale oder die Anpassung des Steuertarifs an die Inflation. ({2}) Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, dass die Ampelkoalition diese Vorschläge mittlerweile aufgegriffen hat. Viele andere finden Sie in diesen und anderen Anträgen, die wir wiederholt zur Beratung gestellt haben. Gerne kommen wir auf diese Vorschläge im Zuge der Beratung anderer Anträge zurück. Meine Damen und Herren, Inflation ist normal und in Maßen auch gewünscht. Dann aber, wenn sie – wie aktuell – in einzelnen Bereichen zu hoch ausfällt und einzelne Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern oder Unternehmen zu sehr belastet, eventuell sogar existenzbedrohend wird, dann müssen wir als Politik handeln. Das tun wir. Wir haben viele konkrete Vorschläge unterbreitet. Wir sind gern bereit, mit Ihnen über unsere Vorschläge, aber auch über jeden anderen Vorschlag zu debattieren, wenn er gut und rechtlich zulässig ist. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nyke Slawik, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Nyke Slawik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005224, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es braucht Entlastung, aber in dieser Debatte konzentrieren sich viele – leider wieder völlig zu Unrecht – vor allem auf die Spritpreise. Dabei sind nicht alle Menschen in Deutschland mit dem Auto unterwegs. ({0}) Viele sind auf den ÖPNV angewiesen, vor allem diejenigen, die die Entlastungen am nötigsten haben: 50 Prozent der untersten Einkommensgruppe, Menschen im Niedriglohnsektor, haben kein Auto, ({1}) weil sie sich kein Auto oder keinen Führerschein leisten können oder weil sie körperliche Einschränkungen haben und nicht Auto fahren können. Die Preise auf Kraftstoffe noch weiter zu senken, würde vor allem diejenigen belohnen, die große, verbrauchsintensive Autos wie SUVs fahren. ({2}) Die Erzieherin, die täglich in ihrem Kleinwagen zur Arbeit fährt, oder die Reinigungskraft, die mit dem Bus zur Arbeit pendelt, profitiert davon kaum. ({3}) Deswegen ist das, was Sie hier vorschlagen, weder sozial gerecht, noch nutzt es dem Klima. ({4}) Wir brauchen Entlastungen für alle Menschen in diesem Land – das hat die Koalition in den Blick genommen –: auch die Menschen ohne Auto, auch die Menschen, die täglich ihre Bus- und Bahnfahrt bezahlen müssen. ({5}) Deswegen senken wir eben nicht nur die Energiesteuer und bringen ein umfangreiches zweites Entlastungspaket auf den Weg, sondern wir führen auch für drei Monate das 9‑Euro-Ticket ein. Damit wird der ÖPNV in diesem Sommer nicht nur eine günstige Alternative für viele Menschen, die umsteigen wollen, sondern wir entlasten auch die Bestandskundinnen und ‑kunden im ÖPNV, indem wir den Rabatt an sie weitergeben. Lassen Sie mich damit schließen: Wer Öffis statt Auto fährt, hilft dem Klima und reduziert unsere Abhängigkeit von Putins Öl. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, ({6}) zu der wir jetzt alle einen Beitrag zu leisten haben. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Slawik. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Spätestens seit dem ersten Quartal 2022 erleben wir an den Tankstellen sehr stark gestiegene Kraftstoffpreise; einige reden auch von einer Explosion der Preise. Das betrifft – sosehr ich Ihnen in vielem zustimme – auch diejenigen, die wenig Geld verdienen, die sich vielleicht kein neues, spritsparendes Auto leisten können, ({0}) sondern mit einer 15 oder 20 Jahre alten Karre herumfahren. Also, den sozialen Aspekt würde ich angesichts der Preise an der Tankstelle nicht ganz ausklammern wollen. Ich gebe Ihnen bei vielen Punkten zum ÖPNV usw. – das kommt in den Anträgen hier von rechts außen überhaupt nicht vor – durchaus recht. Richtig ist auch, dass die Senkung der Mehrwertsteuer höchst umstritten ist, weil höchst fraglich ist, ob eine Preissenkung auch tatsächlich bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommt. Wenn man die Energiesteuer, früher: Mineralölsteuer, betrachtet und zurückspult zu der Zeit, als der Sprit an der Tankstelle noch 1,20 Euro kostete, stellt man fest, dass die Steuersätze bei der Mineralölsteuer nicht viel niedriger waren, als sie es heute bei der Energiesteuer sind. Also, die Preistreiberin war die Energiesteuer nun fürwahr nicht. Hauptverursacher sind die Mineralölkonzerne, die offensichtlich Mitnahmeeffekte nutzen, die ausprobieren, wie viel Gewinn man machen kann, ohne dass das Fass überläuft. Ich denke, da muss endlich Einhalt geboten werden, und das können Sie mit marktwirtschaftlichen Instrumenten, wie es hier vorgeschlagen wird, nicht umsetzen. ({1}) Hier funktioniert nämlich das normale marktwirtschaftliche Instrument von Angebot und Nachfrage überhaupt nicht. Es gibt einzelne Großkonzerne, die auf dem Markt sind. Jeglicher Wettbewerb ist hier seit Jahren ausgehebelt. Sie vertreten unabgesprochen dieselben Interessen. Ich respektiere, dass Herr Minister Habeck das Problem erkannt hat. Ich bezweifle aber, dass allein über die Monopolkommission eine dauerhafte Lösung gefunden werden kann. Ich glaube, es reicht nicht aus, nur an den Symptomen rumzudoktern; hier muss man an die Ursachen gehen. ({2}) Was ist also zu tun? Manchmal hilft ein Blick über den Tellerrand, Stichwort „Großherzogtum Luxemburg“; für meine Begriffe ein Vorzeigestaat der freien Marktwirtschaft und alles andere als eine sozialistische Volksrepublik. Dort werden einmal am Tag, nämlich alle 24 Stunden, die Kraftstoffpreise staatlich festgelegt. Es gibt dort keine täglichen Schwankungen – vormittags 15 Cent teurer als nachmittags –; solche Sachen sind dort völlig unbekannt. Dort wird der Preis festgelegt, und die Konzerne können den Kraftstoff plus/minus 1 Cent verkaufen. Meine Botschaft an der Stelle ist klar und deutlich: Wir brauchen eine staatliche Regulierung der Preise, weil die Marktwirtschaft für meine Begriffe vollkommen versagt hat. ({3}) Letzter Satz: Wenn Sie sich an dieser Stelle allen Ernstes zum Anwalt der kleinen Unternehmen machen, kann ich nur sagen: Reden Sie mal mit Taxiunternehmen, mit den kleinen Spediteuren, mit den Vertretern des ÖPNV! Die sagen Ihnen alle etwas völlig anderes zum Thema Steuersenkung. Die Maßnahmen, die Sie hier vorschlagen, führen komplett am Thema vorbei. Vielen Dank für die 17 Sekunden. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lutze. – Das Problem mit solchen Erwähnungen ist, dass alle anderen dann das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen. ({0}) Insofern: Sagen Sie nicht, um wie viel Sie überzogen haben, sondern sparen Sie es lieber ein! Nächster Redner ist der Kollege Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion. ({1})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist völlig richtig und dem Ernst der Debatte angemessen, dass wir darüber sprechen: Wie können wir nicht nur die Folgen der Sanktionen, sondern auch die Folgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit der Inflation – vieles davon wurde angesprochen – bremsen? Und wir als Ampelkoalition handeln auch. Ich durfte in meiner letzten Rede zu den Energiepreisen das Entlastungspaket I preisen; jetzt darf ich das Entlastungspaket II preisen. ({0}) So zu tun, als würden wir nichts Seriöses und nicht das rechtlich Mögliche tun, das ist, glaube ich, der Sache nicht angemessen und auch unrealistisch. ({1}) Sie können ja die eine oder andere Rede schwingen, aber am Ende sollen wir im Bundestag nach Ihrem Wunsch die vorgelegten Anträge beschließen. Es lohnt sich, die Anträge, die andere stellen, zu lesen, um zu sehen: Wie ernst meinen die es eigentlich mit ihrem Anliegen? Es liegen zwei Anträge und ein Gesetzentwurf vor. Auf die Anträge möchte ich jetzt eingehen. Ich habe sie mal nebeneinandergelegt: Einer ist vom 16. März, der andere vom 6. April. Da stehen teilweise ähnliche, teilweise gleiche Sachen drin. In dem einen fordern Sie, es solle zeitweise die Mehrwertsteuer auf Kraftstoffe ausgesetzt werden, im anderen haben Sie schon einen konkreten Zeitraum benannt. Dann sprechen Sie einmal davon, dass das Brennstoffemissionshandelsgesetz abgeschafft werden soll, dann wiederum soll es – das kann auch zeitweise sein – außer Kraft gesetzt werden. Mir drängt sich da ein Verdacht auf: Sie haben dem Deutschen Bundestag einen Antrag im Entwurfsstadium vorgelegt und den dann noch bearbeitet. Das wird dem Ernst der Sache nicht im Ansatz gerecht. Das ist Quatsch und erst recht nicht seriös. ({2}) Dieses ganze Wirrwarr komplettiert sich, wenn man die Historie Ihrer Antragskaskade, die Sie da vorgelegt haben, ein bisschen kennt. Denn gestern Abend durfte ich sehen: Um 20.04 Uhr haben Sie noch einen Titel geändert. Der Titel hieß bis gestern Abend „Dieselpreis um 1 Euro senken“. Den haben Sie geändert. ({3}) Wahrscheinlich haben Sie gemerkt, dass sich die Mehrwertsteuer mit dem Grundpreis verändert und man deswegen nicht seriös sagen kann, dass man den Dieselpreis um 1 Euro senkt. Das passt aber: Auf der einen Seite sprechen Sie von rechtswidrigen Maßnahmen wie der Aussetzung der Mehrwertsteuer. Wir wissen mittlerweile alle, dass in der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie – Anhang III oder Artikel 102 – die Stoffe genannt werden, bei denen das möglich ist; Kraftstoffe gehören leider nicht dazu. Also europarechtswidrig und Populismus. Auf der anderen Seite wollen Sie Preise regulieren. Jetzt auch noch Planwirtschaft. Ihre Anträge vereinen wirklich das Dämlichste von beidem. ({4}) – Ich habe gar nichts gegen Steuersenkungen; aber ich lasse sie nicht gerne von Gerichten wieder kassieren, lieber Kollege; denn das wird dem Ernst der Sache nicht wirklich gerecht. Also, die Anträge, die Sie gestellt haben, werden dem Ernst der Sache nicht im Ansatz gerecht. Wir können den Menschen eines sagen: Das Blaue vom Himmel werden wir ihnen nicht versprechen können; aber wir werden tun, was notwendig ist, und weiterhin dafür sorgen, dass wir die Folgen der Pandemie wie auch der Sanktionen zumindest etwas dämpfen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mordhorst. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Tim Klüssendorf, SPD-Fraktion. ({0})

Tim Klüssendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Antrag der AfD so anschaue ({0}) – ich spreche aber speziell zum steuerpolitischen Antrag –, ({1}) unabhängig von meiner grundsätzlichen Ablehnung – Sie können auch weiterreden; ich habe das Mikro, ich bin lauter –, ({2}) dann stellen sich mir zwei Fragen, zum einen nach der Absicht, nach der Motivation und zum anderen nach dem Handwerk, nach der Umsetzbarkeit. Ich will mit der Umsetzbarkeit anfangen. Wir haben eben schon eine Menge gehört; der Kollege Mordhorst hat ja fein säuberlich ausgearbeitet, wie es mit dem Handwerk aussieht. Um noch mal auf Europa einzugehen: Dass Polen das jetzt versucht, heißt nicht, dass es dadurch rechtmäßiger wird. Alle anderen europäischen Staaten versuchen nämlich andere Wege, den Weg, den wir auch eingeschlagen haben, nämlich den zulässigen Weg über die Energiesteuer, und zwar über eine Absenkung und nicht über eine Abschaffung bzw. Aussetzung. Das ist auch der richtige Weg, der wird uns weiterbringen, und deswegen vertreten wir ihn auch. ({3}) Was mich aber an dieser Debatte wirklich ärgert – deswegen möchte ich darüber auch ein bisschen ausführlicher sprechen –, ist, dass Sie – das hat auch Herr Gottschalk hier sehr ausführlich dargelegt – sich immer als Vertreter des kleinen Mannes und der kleinen Frau verkaufen. ({4}) – Das sind Sie eben nicht. ({5}) Wenn man nämlich die Wissenschaft zurate zieht – und ich weiß ja, dass Sie weder Freund der Wissenschaft noch der Demokratie sind –, ({6}) dann sollte man sich das Gutachten des ZEW aus dem letzten Jahr anschauen, das die Steuerprogramme der unterschiedlichen Parteien nebeneinanderlegt. Dann kann man nämlich sehen, welche Auswirkungen die gesamten steuerpolitischen Forderungen auf das verfügbare Jahreseinkommen haben. Ich habe mir vorhin noch mal die Zahlen angeschaut. Für alle Bruttojahreseinkommen bis 40 000 Euro werden Ihre Steuerentlastungen gerade mal 85 Euro mehr verfügbares Jahreseinkommen bringen. ({7}) Bei den Jahreseinkommen bis 30 000 Euro werden es nur noch 22 Euro sein. Und bei Jahreseinkommen bis 20 000 Euro brutto gewinnen die Leute gerade mal 4 Euro dazu. Auf der anderen Seite: Bei einem Jahreseinkommen von 250 000 Euro plus sorgen Sie für 18 000 Euro mehr im Jahr. – Das ist Ihre Politik. Das ist wirklich eine Umverteilung von unten nach oben, wie sie nicht mal die FDP zu ihren besten Zeiten vorgeschlagen hat. ({8}) Wenn Sie sich hierhinstellen und über Inflation sprechen und darüber, wie sehr die kleinen Leute darunter zu leiden haben, dann kann ich nur sagen: Ihr Antrag ist unglaubwürdig, weil er überhaupt nicht in Ihr steuerpolitisches Konzept passt. Wenn man sich nämlich anschaut, welche Steuern Sie alle abschaffen wollen – Grunderwerbsteuer, Grundsteuer, Erbschaftsteuer – und dass Sie die Vermögensteuer nicht wieder einsetzen wollen, ({9}) dann ist klar, dass dadurch die Abhängigkeit von der Umsatzsteuer noch viel, viel größer würde. Und die wollen Sie jetzt absenken? Sie haben eh schon den Vorschlag mit dem größten fiskalischen Loch. Es stimmt hinten und vorne nicht. Das kann man nur ablehnen. ({10}) Ihr Antrag ist also weder gut gemeint noch gut gemacht. Und die letzten fünf Sekunden gebe ich Ihnen noch zum Nachdenken. Herzlichen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Klüssendorf. Schöner Ansatz, fünf Sekunden werden aber nicht reichen. ({0}) Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Klaus Wiener, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Gottschalk, zu Beginn kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen: Sie sagten, dass Sie seit neun Jahren Inflation prognostizieren. Das erinnert mich an die goldene Regel aller Prognostiker: Sie nennen eine Größe oder einen Zeitpunkt, nie beides; irgendwann haben sie dann automatisch recht. – So ist es dann jetzt wohl gekommen. ({0}) Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Wir haben es hier mit einer Reihe von Anträgen zu tun, in denen es eigentlich um Inflation und um Entlastung geht. Steuerliche Entlastungen sehe ich grundsätzlich eigentlich sehr positiv; denn unsere Staatsquote ist mit 50 Prozent viel zu hoch. ({1}) Gleiches gilt für die Belastung gerade der mittleren Einkommen durch Steuern und Abgaben. Sie alle kennen den Steuerkeil. Nach Belgien sind wir das Land, das im ganzen OECD-Bereich am zweithöchsten besteuert. ({2}) Wenn ich die Pläne der Ampel sehe – wenn ich das hier mal sagen darf – und den Koalitionsvertrag lese, habe ich auch keine Hoffnung, dass sich daran bald irgendwas zum Besseren ändern wird. Richtig ist auch: Das Entlastungspaket der Regierung hat viele Unzulänglichkeiten. Entlastungen für das verarbeitende Gewerbe? Fehlanzeige. Die Energiepauschale ist ein bürokratisches Monster, und sie unterliegt der Einkommensteuer. Der Familienbonus in Höhe von 100 Euro pro Kind wird auf den Kinderfreibetrag angerechnet. ({3}) Damit macht die Ampel übrigens viele Kinder zu Kindern zweiter Klasse, weil ihre Eltern weniger von diesem Bonus haben werden. ({4}) Und schließlich: Das Programm ist auch nur auf drei Monate angelegt. Ich glaube, niemand hier geht davon aus, dass in drei Monaten die Situation entspannt ist. Das ist kein Sprint, das ist ein Marathon, was wir hier vor uns haben. Dennoch: Die vorliegenden Anträge der AfD weisen in die falsche Richtung, und zwar aus mehreren Gründen. Die Neuverschuldung in Deutschland ist bereits extrem hoch. In diesem Jahr sind es 250 Milliarden Euro neue Schulden. Das sind 250 000 Millionen Euro, um das noch mal plastischer zu machen. Da müssen wir auch aufpassen, denke ich, dass die Tragfähigkeit der Staatsschulden erhalten bleibt, gerade in einer Situation wie dieser, in der wir erleben, dass die Zinsen steigen, und zwar nicht durch die EZB – leider, muss man sagen –, sondern die Kapitalmarktzinsen im Zehnjahressegment. Das ist jetzt fast 1 Prozentpunkt mehr, und ich glaube, das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Was ist stattdessen erforderlich? Wir brauchen passgenaue Entlastungen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Gewerbepreis für Diesel oder mit einem Industriestromtarif? Das frage ich bewusst auch die Bundesregierung. Deutsche Unternehmen sind im internationalen Wettbewerb benachteiligt, und in der aktuellen Situation lässt die Ampel sie komplett im Regen stehen. Wir brauchen passgenaue Entlastungen. Die Zeit des finanzpolitischen „Wumms“ – so hat es ja mal der ehemalige Finanzminister genannt – ist auf jeden Fall vorbei, wenn es diese Zeit überhaupt jemals gegeben hat. Fiskalpolitik mit der Gießkanne ist immer falsch. ({5}) Das gilt übrigens auch für die Forderung der AfD, den Dieselpreis pauschal um 1 Euro zu senken. Das ist weit über alles hinaus, was man sich erlauben kann. Was Ihren Gesetzentwurf zu den Wettbewerbsbeschränkungen angeht, nur so viel: Es ist richtig, zum Funktionieren einer Marktwirtschaft gehört möglichst vollständiger Wettbewerb. Dazu gehört auch Markttransparenz. Daraus abzuleiten, dass es zu Preisabsprachen kommt, weist allerdings in die Irre. Vielleicht müssen wir einfach mal zur Kenntnis nehmen, dass der Benzinpreis vor allem wegen der geopolitischen Lage so hoch ist und auch wegen des sehr schwachen Euro. Stünde der noch da, wo er 2008 war, dann wäre der Ölpreis in Euro gerechnet um ein Drittel niedriger. Abschließend ein paar weitere Beobachtungen zu Ihren Anträgen. Sie wollen die CO2-Abgabe komplett abschaffen. Das wäre falsch. Ich sage Ihnen, dass der auf Prinzipien der Marktwirtschaft beruhende Emissionszertifikatehandel genau das richtige Instrument ist, um den Klimawandel zu bekämpfen. Sie sprechen in Ihrem Antrag auch – und hier zitiere ich – von den „schweren ökonomischen Verfehlungen“ der letzten Jahre. Diese Auffassung teile ich schon gar nicht, sonst wäre Deutschland wohl kaum vom kranken Mann Europas im Jahr 2005 zur stärksten Volkswirtschaft Europas avanciert. Was allerdings jetzt nach 2021 passiert, das werden wir sehen. Und vor allem: Wohlstand entsteht nicht dadurch, dass wir – hier zitiere ich wieder aus Ihrem Antrag – jederzeit einfach verfügbare und kostengünstige Energie für jedermann haben. Energie ist eine knappe Ressource. Das war auch vor dem Russland- und Ukrainekrieg schon so. Stattdessen entsteht Wohlstand, wenn wir es schaffen, mit knappen Ressourcen effizient umzugehen. So wird da ein Schuh draus. ({6}) Unterm Strich: Man merkt an Ihren Anträgen, dass es Ihnen weniger um die Sache geht. Vielmehr nutzen Sie den Inflationsschub, den wir leider erleben, um Ihre ganz grundsätzliche Ablehnung der Wirtschafts- und Klimapolitik der letzten Jahre zu Papier zu bringen. Und da gehen wir nicht mit. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wiener. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Sebastian Schäfer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Sebastian Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005201, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiepreisentwicklung belastet die Bürgerinnen und Bürger und unsere Unternehmen sehr. Wir haben als Regierung in zwei Schritten reagiert, mit den beiden Entlastungspaketen, und wir werden diese Entlastungen jetzt auch schnell parlamentarisch umsetzen. Ich will aber hier noch einmal sehr deutlich machen: Wir werden als Staat nicht alle Belastungen kompensieren können. Wir verlieren durch unsere Abhängigkeit von den fossilen Energien real Wohlstand. Deshalb ist es so dringend, dass wir auf dem Weg zur Unabhängigkeit von fossilen Energien endlich vorankommen. ({0}) Das Bundeskabinett hat heute dem Osterpaket von Wirtschaftsminister Habeck zugestimmt. Damit machen wir beim Ausbau der Erneuerbaren endlich einen großen Schritt. Wir fördern die Freiheitsenergien, wir wagen mehr Fortschritt. ({1}) Mit dem zweiten Entlastungspaket der Koalition wird jetzt ein Auszahlungsmechanismus für das Klimageld entwickelt. Das Klimageld setzt die Anreize, die uns helfen, uns aus fossilen Abhängigkeiten zu befreien, und unterstützt die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen gleichzeitig zielgenauer als andere Entlastungswege. Wir geben jetzt dem Kartellamt mehr Rechte zur Kontrolle der Benzin- und Dieselpreise. Das ist notwendig, damit dieser von einem Oligopol geprägte Markt besser funktioniert. ({2}) Preissenkungen für Öl auf dem Weltmarkt sind nicht weitergegeben worden an die Bürgerinnen und Bürger. Hier wurden von Raffinerien und Tankstellen Übergewinne erzielt. Wir werden temporär auch die Energiesteuer absenken. Das ist Teil des Kompromisses in der Koalition. Die Wirtschaftswissenschaft ist sich in der negativen Einschätzung dieser Maßnahme ungewöhnlich einig. Dagegen schafft die Absenkung der Preise für den ÖPNV sinnvolle Anreize und wird von ökonomischer Seite sehr begrüßt. ({3}) Das müssen wir bei künftigen Entscheidungen berücksichtigen. Wir müssen die ÖPNV-Entlastung jetzt pragmatisch und schnell umsetzen. ({4}) Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schäfer. – Nun erhält das Wort der Kollege Carl-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Millionen von Bürgerinnen und Bürgern leiden unter hohen Spritpreisen, besonders wenn sie nicht auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen können. ({0}) Deshalb senkt die Fortschrittskoalition die Energiesteuer auf das zulässige Minimum und bringt eine einmalige Energiepauschale von 300 Euro auf den Weg. ({1}) Der Gesetzentwurf der AfD fordert dagegen die Aussetzung der Tätigkeit der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe. Ja, so ist das: Die AfD schleift die Markttransparenz, wir entlasten die Menschen ganz konkret; das ist der Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ihre umfangreichen Untersuchungen in Ehren, aber Sie übersehen dabei ein wichtiges Detail: Tankstellen füllen ihre Tanks nur alle zwei bis drei Wochen auf. Erst wird eingekauft, dann wird verkauft. Kalkuliert wird mit historischen Einkaufspreisen. Verkaufspreise laufen den Einkaufspreisen zeitversetzt nach. So etwas sollte man wissen, wenn man mit vielen Zahlen um sich schmeißt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Die AfD leitet aus ihren Analysen den Verdacht eines rechtswidrigen Kartells ab. Das Bundeskartellamt tut das nicht; seit Jahren gibt es keine wesentliche Beanstandung. Dass Sie dabei übersehen, dass mehr als die Hälfte der Tankstellen, mehr als 7 000, von unabhängigen Pächtern betrieben wird – geschenkt. Dass Sie aber ausgerechnet die Marktüberwachung einschränken wollen, um die Kartellbildung zu verhindern, das legt wohl eher Zeugnis von lebhafter Fantasie als von Sachverstand ab, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ja, vielleicht machen die Mineralölkonzerne zurzeit gute Geschäfte an den Zapfsäulen. Aber vergessen wir nicht, dass sie gleichzeitig ihre Milliardeninvestitionen in Russland vollständig abschreiben müssen. Außerdem steigen sie aus russischem Rohöl aus. Das ist gut und richtig, führt aber zunächst zu höheren Kosten in der Raffinerie. Für den Ausstieg aus dem Russlandgeschäft sollten wir die Konzerne nicht schelten. Wir sollten zusammenstehen, und wir sollten auf jeden Fall darauf verzichten, Teile der Wirtschaft unter Generalverdacht zu stellen. ({4}) Putins Versuch, uns zu spalten, muss und wird scheitern. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Cronenberg. – Das Wort erhält nunmehr der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es mir nicht so schwer fiele, dann müsste ich mich bei der AfD bedanken für die Anträge, den Gesetzentwurf und diese Debatte ({0}) – warten Sie es ab, bevor Sie klatschen –, ({1}) weil sie nämlich sehr deutlich machen, wie unterschiedlich wir mit der aktuellen Situation umgehen. Wir erleben in der Tat – und das erleben viele Millionen Menschen jeden Tag, wenn sie tanken müssen, oder bei ihren Abschlagszahlungen für Energie – vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine teils wirklich dramatische Preissprünge, wobei sich aber – der Kollege Cronenberg hat es eben beschrieben – das, was Menschen an der Tanksäule erleben, fundamental von der realen Entwicklung der Rohölpreise entkoppelt hat. Und was fällt an dieser Stelle der AfD dazu ein? Sie möchte sozusagen die Transparenz abschaffen. ({2}) Wir haben eine Markttransparenzstelle für Kraftstoffe beim Bundeskartellamt, an die in Echtzeit Mengen und Preise – bzw. bisher nur Preise – gemeldet werden müssen, weil das eine wichtige Grundlage dafür ist, dass Menschen Transparenz über die Preisentwicklung haben, und weil das eine wichtige Grundlage dafür ist, dass das Kartellamt untersuchen kann, ob hier Spekulanten ihre Marktmacht missbrauchen oder ob es hier wettbewerbsmissbräuchliches Verhalten gibt. ({3}) Da sagt die AfD: Diese Transparenz brauchen wir nicht. – Das ist ein wirklich abenteuerliches Verständnis, wie Märkte und wie Wettbewerb in diesem Land funktionieren, meine Damen und Herren. ({4}) Wir haben eben von Herrn Dr. Wiener gehört, dass offensichtlich für die Fraktion der CDU/CSU Entlastungen von Bürgerinnen und Bürgern im Umfang von 30 Milliarden Euro kein Wumms sind. Ich sage: Wenn wir Menschen in diesem Land, und zwar gerade die, die geringe Einkommen haben, die darauf angewiesen sind, ihr Auto zu benutzen, weil sie als Auszubildende im ländlichen Raum zu ihrer Ausbildungsstelle fahren müssen und nicht auf den ÖPNV umsteigen können, in Summe um 30 Milliarden Euro entlasten, dann ist das ein echter Wumms, meine Damen und Herren, dann ist das eine Entlastung, die die Bürgerinnen und Bürger in dieser schwierigen Zeit verdient haben. ({5}) Die Debatte gibt mir aber auch die Chance, deutlich zu machen – es ist eben angesprochen worden –, was unsere Vorstellung ist, wie wir mit der Frage von Spekulation und dem Missbrauch von Marktmacht umgehen wollen. Wir wollen nicht die Markttransparenzstelle einschränken oder sie für einige Zeit stilllegen, sondern wir wollen ihre Befugnisse erweitern. Wir wollen nämlich, dass die Markttransparenzstelle nicht nur darauf schauen kann, was an der Tankstelle passiert, sondern auch die gesamte Wertschöpfungskette von der Raffinerie bis zur Zapfsäule in den Blick nehmen kann. Denn durch mehr Transparenz, durch mehr Information haben wir auf der einen Seite die Chance, viel besser zu kontrollieren, ob hier Spekulanten ihre Marktmacht missbrauchen, und wir haben auf der anderen Seite sehr viel mehr Möglichkeiten, dass Verbraucherinnen und Verbraucher am Ende Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen treffen können und nicht auf der Grundlage von Vernebelung, wie die AfD sich das vorstellt. ({6}) Meine Damen und Herren, es ist auch – davon bin ich fest überzeugt – Zeit, dass das Bundeskartellamt eine Sektoruntersuchung für den Bereich der Raffinerien unternimmt. Das ist ein Vorhaben, das schon längere Zeit im Raum steht. Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir mit dem Bundeskartellamt die gesamte Wertschöpfungskette besser untersuchen? Für genau diese Untersuchung ist die Markttransparenzstelle eben eine wichtige Grundlage. ({7}) Meine Damen und Herren, wir sehen sehr deutlich: Für die einen sind 30 Milliarden kein Wumms; die anderen glauben, dass man mit Vernebelung und Intransparenz Wettbewerb schafft. Wir sind davon überzeugt, dass wir die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land ganz praktisch entlasten müssen. Wir sind überzeugt, dass Wettbewerb dazu führt, dass die Preise sinken. Das ist das Rezept der Ampel. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mohrs. – Als nächster Redner hat der Kollege Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Vorweg: Das zentrale Paket für eine künftige Entlastung von Mittelstand und Bürgern haben wir heute durch das Bundeskabinett gebracht: das Osterpaket für den Ausbau der erneuerbaren Energien, für Energieeffizienz. ({0}) Es ist die große Chance für Wettbewerbsfähigkeit und Entlastung. Damit werden wir dauerhaft stabile Preise in diesem Land organisieren, dem Klima etwas Gutes tun und die Unabhängigkeit von Autokraten voranbringen. ({1}) Ich würde aber gern einen Blick auf die Märkte richten; denn das kam mir in der heutigen Diskussion ein bisschen zu kurz. Fangen wir mit dem Ölmarkt an, auf dem ja mit den Leitsorten Brent Crude und WTI Crude gehandelt wird. Kurz nach Ausbruch des Krieges stieg ihr Preis in einem extremen Schub auf 138 Euro. Jetzt sind wir teilweise schon wieder bei unter 100 Euro. Sie können ja mal die Adresse tankstellenpreise.de eingeben und Ihre Stadt aussuchen. Sie finden dort Benzinpreise von unter 2 Euro pro Liter. Das liegt natürlich über dem Niveau des letzten Jahres; aber wir müssen momentan sehen – Herr Schäfer hat es ja gesagt –: Mit dem jetzigen Paket entlasten wir, ausgehend von einem Niveau von 1,90 Euro, auf 1,60 Euro pro Liter. Die Union möchte mit einem Benzinpreis von 1,50 Euro dauerhaft entlasten. Ist das das Opfer, das wir gegen Putin bringen wollen? Ich glaube, wir müssen die Märkte ein bisschen im Blick behalten und sagen: Entwicklungen, die volatil sind, können wir nicht ständig abfedern; denn sie sind nun mal volatil. ({2}) Dann schauen wir uns den Gasmarkt an: Der Gasmarkt hat sich vom Ölpreis entkoppelt. Wenn Sie heute, wie sehr viele Bürger in Deutschland, eine Gasheizung haben, dann stehen Sie vor der Sorge, dass sich der Preis bei künftigen Verträgen – die Stadtwerke müssen Verträge zum Teil heute abschließen – im Vergleich zum Beginn des Jahres 2021 verdrei- oder vervierfacht. Das heißt: Das ist wirklich ein soziales, ein existenzielles Problem für viele Haushalte. Wenn sich das nicht bessert – und die Aussichten sind nicht gut –, dann werden wir da noch mal gezielt rangehen müssen. Im Vergleich zu Öl ist Gas das größere Problem. ({3}) Abschließend: Wenn Sie an der Strombörse auf die Day-Ahead-Preise schauen, dann sehen Sie, was günstig ist – und das ist meine Abschlussbotschaft –: Es sind die erneuerbaren Energien. Ich habe gestern geschaut: Sie kaufen eine Megawattstunde in Deutschland für 75 Euro ein, in Polen für 90 Euro, in Frankreich aktuell für 550 Euro, in der Schweiz für 350 Euro, in Österreich für 200 Euro. Die Lösung lautet: erneuerbare Energien, Effizienz.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das haben Sie von der AfD nie verstanden, und das werden Sie auch heute nicht verstehen. Sie stehen immer auf der falschen Seite der ökonomischen Diskussion. Danke schön. ({0})