Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/17/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Not found (Minister:in)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Keines – keines! – der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung wird bis 2030 erreicht werden, wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen. So steht es im Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung vom letzten Jahr. Aber diese Regierung hat nicht vor, weiterzumachen wie bisher. Ich werde das Tempo deutlich erhöhen. ({0}) Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele sind die Richtschnur auch für die deutsche Entwicklungspolitik. Ein Nachhaltigkeitsziel möchte ich hier heute in dieser Debatte ganz besonders hervorheben, und das ist das SDG 5 – das sind gleiche Rechte und gleiche Chancen für die Geschlechter –, denn das ist ein wirklich essenzielles Ziel für eine starke, für eine resiliente Gesellschaft. Gleichzeitig ist das SDG 5 ein Schlüsselfaktor für die gesamte Nachhaltigkeitsagenda. Die Überwindung von Armut und Hunger können wir beispielsweise ohne eine echte Gleichstellung nicht erreichen. Ich werde deshalb eine feministische Entwicklungspolitik vorantreiben. ({1}) Das werden wir gemeinsam tun mit unseren Partnerinnen und Partnern in den Ländern des Globalen Südens, aber auch in den Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit. Geschlechterungleichheit ist das Ergebnis diskriminierender Strukturen, diskriminierender Normen, diskriminierender Rollenbilder. Ich bin fest davon überzeugt: Wer die menschliche Gesellschaft will, der muss die männliche überwinden. ({2}) Das Ziel einer feministischen Entwicklungspolitik ist die gleiche politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe aller Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, von Geschlechtsidentität, ({3}) von sexueller Orientierung, und dafür braucht es gleiche Rechte, mehr Ressourcen und eine bessere Repräsentanz. Die Voraussetzung für eine echte Gleichstellung sind natürlich gleiche Rechte. ({4}) Ich werde mich dafür einsetzen, dass diskriminierende Gesetze aufgehoben und Frauen und Mädchen in allen Lebensbereichen rechtlich gestärkt werden. Das müssen leider auch Sie vonseiten der AfD aushalten. Ich will den politischen Dialog zu Menschenrechtsfragen suchen und zivilgesellschaftliche Organisation in unseren Partnerländern fördern. ({5}) Eine feministische Entwicklungspolitik braucht aber auch angemessene Ressourcen. Sowohl bilateral als auch multilateral werde ich neue Schwerpunkte setzen und mehr für die Gleichstellung tun, um auch mehr für die Gleichstellung zu erreichen. Ein weiterer Punkt ist: Die Repräsentanz von Frauen auf allen Ebenen muss gestärkt werden. Wir brauchen Frauen am Tisch, egal ob es um internationale Verhandlungen, neue Strategien oder die Konzeption eines neuen Vorhabens geht. Mit mir wird es keine Entscheidung über Frauen ohne Frauen geben. ({6}) Meine Damen und Herren, das Ziel unserer Entwicklungspolitik ist die Gleichstellung, nicht nur, weil es gerecht ist, sondern auch, weil die Ergebnisse dann deutlich besser sind. Ich will nur ein Beispiel herausnehmen, nämlich die Landwirtschaft – vielleicht ein Bereich, in dem sie das nicht vermuten. Aber wenn Frauen den gleichen Zugang zu Land haben, dann erhöht sich die landwirtschaftliche Produktion. Das Ziel ist natürlich insgesamt die uneingeschränkte Wahrnehmung der Menschenrechte für alle zum Beispiel im Bereich der Gesundheit, das Recht auf Gesundheit, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit für Frauen. Vor anderthalb Wochen war der Internationale Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung. Durch die Coronapandemie sind herbe Rückschläge bei der Bekämpfung dieser schweren Form geschlechtsbasierter Gewalt zu verzeichnen. Mindestens 200 Millionen Frauen weltweit müssen mit den lebenslangen körperlichen und psychischen Folgen leben. Zwar sind in zahlreichen Ländern diese Praktiken verboten, aber es fehlt noch immer an den nötigen Schutz- und Strafverfolgungsmechanismen. Es fehlt an der Unterstützung für die betroffenen Mädchen und Frauen. Das Thema „weibliche Genitalverstümmelung“ muss in die Präventionsarbeit gegen geschlechtsbasierte Gewalt unbedingt einbezogen werden. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt also noch viel zu tun. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, wird mein Ministerium dafür einen umfassenden Gender-Aktionsplan unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeiten. Es geht mir nicht um warme Worte, sondern ganz konkret um die Bereitstellung von finanziellen Mitteln. In Kanada, das schon seit vielen Jahren eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik verfolgt, fördern 92 Prozent der öffentlichen Entwicklungsleistungen auch die Gleichstellung der Geschlechter. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Aber ich werde alles dafür tun, um die Hebel umzusetzen, und dafür setze ich auch auf ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Georg Kippels. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Schulze! Es wundert mich nicht, dass es Ihnen ausgesprochen schwergefallen ist, bis nahezu unmöglich war, den Entwicklungspolitischen Bericht tatsächlich auf seine Wertigkeit hin zu erkennen und so zu interpretieren. Entgegen Ihrer Interpretation will ich ausdrücklich sagen, dass hinter uns eine entwicklungspolitische Phase liegt, die man als Erfolgsgeschichte bezeichnen kann – eine Erfolgsgeschichte von Minister Müller und unserer Bundeskanzlerin. ({0}) Wichtig bei der Entwicklungspolitik ist vor allen Dingen Kontinuität. Es macht keinen Sinn, wenn innerhalb von einer Legislaturperiode ein Themenbereich herausgegriffen, massiv überhöht und alles andere, was in den vergangenen Jahren an Ansätzen geliefert worden ist, nicht weiter verfolgt wird. Kontinuität und vor allen Dingen strukturiertes Vorgehen in allen Bereichen, die die Entwicklungspolitik ausmacht, ist das Geheimrezept einer erfolgreichen Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen rund um den Globus. Wir haben im Januar 2021 aus Anlass des Davoser Wirtschaftsforums einen Redebeitrag unserer ehemaligen Bundeskanzlerin wahrnehmen können, der auf Seite 2 des Berichts mit einem Zitat wiedergegeben worden ist. Gerade in den kritischen Phasen von Pandemien und Krisen ist es nicht angezeigt, die Tätigkeit zu reduzieren oder auszusetzen, sondern ganz im Gegenteil: Es muss, wie es da so schön steht – Zitat –, eine Schippe draufgelegt werden. – Und das werden wir in Zukunft tun müssen. Verehrte Frau Ministerin, wir werden natürlich schauen, ob es Ihnen gelingt, diesen furiosen Aufwuchs der letzten acht Jahre von 6,3 Milliarden Euro Haushaltsvolumen auf 12,4 Milliarden Euro – dies ist fast eine Verdopplung – umzusetzen oder fortzusetzen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg in den Haushaltsberatungen mit Ihrem Finanzminister Christian Lindner, der immerhin einer Partei angehört, die in der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 eigentlich alles darangesetzt hatte, das BMZ abzuschaffen. Viel Erfolg und viel Vergnügen bei diesem Unterfangen! Wir werden Sie an diesen Leistungen messen. ({1}) Ich will aber kurz referieren, was in diesem Bericht zu Recht ausgeführt worden ist und wo die wesentlichen Punkte einer erfolgreichen Entwicklungspolitik liegen. Man hat sich dem Hunger, dem Ausbau der Bildung, der Bekämpfung der Armut, der Ausrottung der Krankheiten, der Reduzierung der Müttersterblichkeit und natürlich auch dem Zurückdrängen der uns immer noch belastenden Krankheit HIV/Aids gewidmet. Ja, richtig, der Erfolg ist noch nicht vollendet – das ist allerdings bei dieser enormen Herausforderung auch mehr als nachvollziehbar –, und es gibt leider immer wieder Rückschläge wie 2014 etwa die Ebolakrise und auch jetzt die Coronapandemie. Aber die Arbeit muss fortgesetzt werden. Aus meiner Sicht sind in den vergangenen Jahren vollkommen zu Recht vier Säulen aufgebaut worden, um das Dach der Entwicklungspolitik zu stützen: Stärkung der Eigeninitiative durch Bildung, Gleichberechtigung und Armutsbekämpfung, Stärkung auch privater Investitionen – denn ohne die Privatwirtschaft lässt sich eine nachhaltige Wirtschaftsbelebung in Entwicklungsländern nicht realisieren –, Innovations- und Technologietransfer – moderne Möglichkeiten wie die Digitalisierung sind unverzichtbarer Bestandteil in der Entwicklungspolitik – und natürlich und nicht zuletzt der Aufbau von fairem Handel; denn wirtschaftliche Tätigkeit besteht natürlich auch im Austausch von Leistungen. Dazu haben wir in der letzten Legislaturperiode das Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht. Mein Kollege wird dazu noch Weiteres ausführen. Ein grundlegender Erfolg soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Das 0,7-Prozent-Ziel ist erreicht worden. Lange Jahre haben wir darauf hingearbeitet, in der letzten Legislaturperiode ist es gelungen. ({2}) Also: versprochen und gehalten. Die CDU hat verlässliche Entwicklungspolitik gemacht. ({3}) Nun kann ich in der verbleibenden Redezeit sicherlich nicht die gesamten 388 Seiten referieren und vorstellen. Deshalb will ich aufgrund meiner persönlichen Tätigkeit im Rahmen der globalen Gesundheit gerne die Aktualität der Entwicklungspolitik im Rahmen der Coronapandemiebekämpfung kurz skizzieren. Das ist keine Aufgabe, die wir in Deutschland alleine leisten können. Wir brauchen verlässliche und vor allen Dingen vernetzte Partner. Da haben wir seit Jahren auf die Zusammenarbeit und die Unterstützung von GAVI, der internationalen Impfallianz, dem GFATM, aber vor allen Dingen auch der WHO gesetzt, die koordinierend weltweit die Pandemiebekämpfung vorantreiben muss. UNAIDS oder UNFPA waren Partner, die von der Bundesrepublik mit signifikanten Mitteln gestützt wurden und die auf diese Art und Weise zuverlässig weltweit und für alle Menschen auf diesem Planeten Leistungen erbringen können. Wir waren auch in der Lage, auf Ereignisse schnell zu reagieren. Im Juni 2020 ist aufgrund des Fortschreitens der Coronapandemie sofort ein weltweites Coronasofortprogramm mit einem Volumen von 4,7 Milliarden Euro aufgelegt worden, um die zur Verfügung stehenden Mittel zielgenau einzusetzen. ({4}) Alleine schaffen wir die Bewältigung der Aufgaben, die es weltweit gibt, sicherlich nicht. Wir brauchen Partner. Wir brauchen Zusammenarbeit. Wir brauchen Vernetzung. Aber eines ist auf jeden Fall klar – das ist vielleicht der einzige Satz, den ich auf den Antrag der AfD verschwenden will –: Entwicklungspolitik ist Zukunftspolitik, und Entwicklungspolitik ist Friedens- und Sicherheitspolitik. ({5}) Es ist unter keinen Umständen vertretbar, da in irgendeiner Form einen Strategiewechsel eintreten zu lassen; denn damit würden die Erfolge, die in den vergangenen acht Jahren unter Gerd Müller und Angela Merkel erzielt worden sind, zunichtegemacht werden. Da nützt es auch nichts, als aktuellen Titel eine „feministische Entwicklungspolitik“ zu wählen. Sie brauchen strukturierte Politik, bei der alle Menschen, alle Gruppen, alle Kontinente gleichermaßen Berücksichtigung finden. Nur so wird es gelingen, ein nächstes Kapitel in dieser Erfolgsgeschichte zu schreiben. Wir werden Sie an den Aussagen und an den Ankündigungen messen. Aber wir sind durchaus schon skeptisch, ob das nach diesen ersten Ansätzen überhaupt gelingen wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben völlig recht: Bei dem, was in diesem Bericht beschrieben wird, muss sich einiges ändern, muss einiges besser werden. Aber in der Tat, Herr Kollege Kippels, es gibt durchaus einige Lichtblicke. Einen haben Sie erwähnt: das Lieferkettengesetz. Aber wenn ich mich recht entsinne, ist dieses über Jahre hinweg gerade aus dem Kanzleramt, aus dem Wirtschaftsministerium blockiert worden, weil es nicht unbedingt das Herzensprojekt der CDU/CSU war. Viele in diesem Haus haben – auch zusammen mit der Zivilgesellschaft, mit den Kirchen und mit Unternehmen – große Widerstände überwunden, dass es endlich kommt. Der nächste wichtige Schritt ist, dieses Lieferkettengesetz zu europäisieren, ihm dadurch mehr Wirkkraft zu verleihen und dafür zu sorgen, dass Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzung kein Geschäftsmodell der Zukunft mehr sein können. ({0}) Herr Kollege Kippels, Sie haben recht: Es ist sicherlich ebenfalls ein Lichtblick, dass das Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, nach 50 Jahren endlich erreicht worden ist. Aber auch hier lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen. Denn wenn wir uns anschauen, was die alte Bundesregierung mit ihrer mittelfristigen Finanzplanung vorgelegt hat, sehen wir eine fallende Linie. Es geht nicht darum, die 0,7 Prozent zu sichern, solange Herr Müller im Amt ist, sondern in einer Welt, in der die Krisen zunehmen, in der es eine Pandemie gibt, in der es eine Klimakrise gibt, in der Armut, Hunger und Krieg wieder zunehmen, braucht es ein Mehr an internationaler Gerechtigkeit, ein Mehr an Solidarität. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag verankert, dass wir mindestens diese 0,7 Prozent in Zukunft garantieren wollen und dass wir auch bei der Klimafinanzierung drauflegen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man diesen mehrere Hundert Seiten langen Bericht durchliest, dann gewinnt man folgenden Eindruck – den hatte ich auch in den vergangenen Jahren hier in unseren Debatten –: Da war immer ein Minister, der schöne Bücher geschrieben hat, tolle Termine in anderen Ländern, in den Wahlkreisen gemacht hat, flammende Appelle hier gehalten hat, und eine Bundesregierung mit sehr vielen Ressorts, die sich nicht so sehr um die Fragen von globaler Gerechtigkeit und internationaler Solidarität gekümmert haben. Der nächste Bericht dieser neuen Bundesregierung muss ein Bericht der gesamten Bundesregierung werden; denn in einer hochvernetzten Welt hat alles, was wir tun, und auch alles, was wir nicht tun, immer wieder auch Auswirkungen auf anderen Kontinenten der Welt. Deshalb ist globale Gerechtigkeit, sind die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 nicht die Aufgabe eines Ressorts, sondern Leitmotiv für die ganze Bundesregierung. ({2}) Da bin ich bei dem, was sich ändern muss. Wir müssen mehr für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit tun. Wir sehen doch, dass es die Industriestaaten sind, die den Großteil der Emissionen verursachen, und dass es die Menschen im Globalen Süden sind, die am meisten unter den Klimaschäden leiden. Wir müssen mehr tun, indem wir bei uns unsere Emissionen reduzieren. Daran arbeiten in dieser Bundesregierung viele Häuser gemeinsam zusammen und nicht mehr gegeneinander. Wir müssen aber auch mit Entwicklungs- und Klimapartnerschaften gemeinsam Gewinn für alle generieren und natürlich auch mehr im Bereich „Loss and Damage“ tun. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Brugger, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nein.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch globale Gesundheit müssen wir stärken. Da danke ich wirklich der Zivilgesellschaft, die einerseits natürlich immer wieder anerkennt, dass Deutschland hier schon viel tut, aber andererseits auch sehr deutlich macht, dass wir mehr tun müssen für die globale Impfgerechtigkeit. Frau Ministerin, wir freuen uns natürlich sehr, dass Sie hier so prominent eines unserer Herzensanliegen, das sich ja auch sehr prominent im Koalitionsvertrag wiederfindet, angesprochen haben: eine feministische Perspektive in der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist genau der Gedanke, der dahintersteht: eine Politik für Entwicklung, für Nachhaltigkeit, von der am Ende alle profitieren, die gesamte Gesellschaft, bei der wir aber auch im Blick haben, dass es gerade Frauen, Mädchen und marginalisierte Gruppen sind, die von den Krisen anders, oft auch stärker, betroffen sind. Das sehen wir auch in der Pandemie. Es sind die Frauen, die sehr stark im Gesundheitssektor vertreten sind, es sind die Mädchen, die vielleicht nicht wieder zur Schule gehen können, nachdem der Schulbetrieb ausgesetzt worden ist. Deshalb freuen wir uns auf das Kapitel zur feministischen Entwicklungspolitik im neuen Bericht der Bundesregierung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir auch für diesen neuen Bericht, dass es kein Bericht wird, in dem sich eine Bundesregierung selber auf die Schultern klopft, sondern dass es ein Bericht wird, der eine klare Analyse enthält, in dem auch eine ehrliche Evaluation dessen vorgenommen wird, was wir vielleicht nicht erreicht haben, warum wir es nicht erreicht haben und was besser werden muss, in dem eine Strategie für die Zukunft festgeschrieben wird. Ich wünsche mir, dass es ein Bericht wird, der klarmacht: Das Handeln der ganzen Bundesregierung fühlt sich der globalen Gerechtigkeit, den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen und der internationalen Solidarität verpflichtet. Vielen Dank. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dietmar Friedhoff. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum Start etwas Parlamentspoesie: Völker dieser Welt in Asien, in Lateinamerika, in Afrika, schaut auf unser Land, das ohne Not gefahren wird vor die Wand. Wer fährt es vor die Wand und macht es krank? Erst die alte und nun auch die neue Regierungsbank. Mit Deutschland klappt es nicht so richtig. Deswegen rettet auch die neue Ministerin gleich die ganze Menschheit. Wichtig! ({0}) Wagen wir nach neun Jahren Minister Müller einen Blick in das Illusionstheater der gedruckten entwicklungspolitischen Erfolglosgeschichten, und Vorhang auf für die Welt der Realität. Afrika ist fragiler und zerrissener denn je. Kriege, Ausbeutung, Hunger und Armut wie nie. Das reichste afrikanische Land, Nigeria mit 200 Millionen Einwohnern, hat eine geringere Wirtschaftsleistung als Belgien, und das, obwohl Nigeria zu den rohstoffreichsten Ländern Afrikas gehört. Die gesamte Wirtschaftsleistung Afrikas ist geringer als die Noch-Wirtschaftsleistung Deutschlands. Afrika benötigt die Unterstützung zur Gestaltung eines geschlossenen Binnenmarktes, Aufbau von Wertschöpfungsketten im Bereich der Rohstoffveredlung und für die Umsetzung der Agenda 2063 der Afrikanischen Union. Will Deutschland, will Europa nicht zwischen den Machtblöcken der USA und China zerrieben werden, bietet sich der afrikanische Kontinent für einen gemeinsamen partnerschaftlichen Wirtschaftsaufschwung nahezu an. Und ja, der Kontinent bietet nicht nur Chancen, er hat vor allen Dingen viele Herausforderungen. Dabei müssen wir endlich aufhören, den Kontinent zu bevormunden. Wer echte Teilhabe will, muss mit dem eurozentristischen, klimafeministischen, quergegenderten links-grünen Kulturkolonialismus endlich aufhören. ({1}) 60 Jahre Entwicklungspolitik und kein bisschen weise, könnte man da ein wenig mitsummen. Afrika ist eben auch durch eine falsch verstandene Hilfspolitik korrupter denn je. Der politische Islam mit seinen Kampftruppen ist wieder erstarkt, und die Bevölkerungsexplosion, das größte Problem der Entwicklungsländer, entzieht jedem gedachten Erfolg gleich wieder den Boden, so auch, Herr Dr. Hoffmann, im Bereich der Waldwirtschaft. So landen die Bäume Afrikas nicht nur in China, sondern eben auch in einem ungeheuren Tempo unter den Kochtöpfen Afrikas. Damit wir in der Realität bleiben: Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerungszahl in Afrika um 1,2 Milliarden Menschen steigen. Sie steigt an um 1,2 Milliarden Menschen! Das sind mehr Menschen, als in den nordamerikanischen Staaten, in Europa und Russland zusammen leben. Sie kommen einfach dazu. Ich glaube, wer das nicht bedenkt, hat wirklich Realitätsverlust. ({2}) Aber nun haben wir durch die neue Bundesregierung einen echten Vorteil. Die 17 Nachhaltigkeitsziele wollen ja, dass die Lebensrealitäten der Menschen sich annähern. Liebe Schwellenländer, wenn ihr noch etwas wartet, kann ich euch versprechen: Wir sind bald bei euch angekommen. ({3}) Deutschland ist im Bereich der Digitalität absolutes Entwicklungsland, weltweit abgeschlagen. Und die neue Entwicklungsministerin sieht gerade in unserer Digitalkompetenz ungeheure Möglichkeiten. Das ist kein Scherz. Die Fähigkeiten unseres Staates, auf Katastrophen zu reagieren, sind eine absolute Katastrophe. Das Ahrtal beweist einmal mehr: Deutschland kann es in vielen Bereichen nicht mehr. Das sehen wir übrigens auch im Bereich der deutschen Infrastruktur, der Energieversorgung, der Bildung und gerade auch in unserem veränderten Demokratieverständnis. Deutschland wird Entwicklungsland. Gesamtentwicklungspolitisch sollten Afghanistan, Mali, Äthiopien und Burkina Faso Mahnung, Warnung und gerade auch Anstoß zum Umdenken sein für eine resiliente Entwicklung. Werte Frau Ministerin, stoppen Sie endlich das Entwicklungsillusionstheater und beenden Sie den linken Ideologiebetrieb! Starten Sie endlich den humanen Wirtschaftsteilhabevernunftbetrieb zum Wohle der Menschen, zum Wohle der Welt und vor allen Dingen zum Wohle Deutschlands! Danke schön. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: aus der FDP-Fraktion Knut Gerschau, den ich zu seiner ersten Rede hier im Hause am Rednerpult herzlich begrüße. ({0})

Knut Gerschau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005064, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Der Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung bietet mit fast 400 Seiten viel Lesestoff, ist bunt bebildert und grafisch ansprechend. Die äußere Hülle ist dabei aber das eine, der Inhalt das andere. Der Bericht benennt viele Erfolge, aber er zeigt auch Schwachstellen auf. Wir Freien Demokraten haben klare Vorstellungen über die Schwerpunkte der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode. Vier Aspekte möchte ich darstellen, die mir besonders wichtig sind. Doch vorher möchte ich einen Grundsatz vorausschicken, den ich durch meine Erfahrungen in der Entwicklungspolitik gelernt habe: Wenn man Menschen die Chance gibt, ihr Leben und ihr Umfeld selbst in die Hand zu nehmen, so ist das besser als jede staatliche Hilfe mit der Gießkanne. ({0}) Multilateralismus. Eine internationale Zusammenarbeit ist nötiger denn je. Die ersten Ansätze zeigt der Bericht auf. In manchen Ländern setzt Deutschland nicht mehr auf bilaterale Kooperation, sondern beteiligt sich an multinationalen Strategien. Wir setzen auf starke Allianzen, um Entwicklungspolitik effizienter zu machen. Erfolge lassen sich so auch besser bewerten. Klimapolitik. Für das Klima gilt: Wir retten es weltweit oder gar nicht. Dazu müssen wir alles daransetzen, um die Nutzung erneuerbarer Energien in Afrika und Lateinamerika voranzubringen. Wir fordern aber auch eine bessere globale Verknüpfung der Vorschriften zum Zertifikatehandel mit Emissionen, um die Interessen der Entwicklungsländer einzubringen. ({1}) Gerade im Klimabereich sehe ich eine große Chance für eine Beteiligung der Privatwirtschaft. Diese besitzt die Mittel und das Know-how, um eine Energiewende zu unterstützen. Frauen und Mädchen. Das ist ein Punkt, den wir mehr in den Fokus rücken wollen: die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen. Dies hat nichts mit Gender-Zeitgeist zu tun, sondern mit einem klaren Blick auf die Fakten. Fehlendes Wissen um Familienplanung, mangelhafte Gesundheitsvorsorge, eine nach wie vor hohe Müttersterblichkeit – das sind die Fakten. Wir werden reproduktive und sexuelle Rechte von Frauen fördern, ({2}) durch Informationsoffensiven, durch Dienste zur Familienplanung, durch Kontrazeptiva. Auch dazu ist ein international abgestimmtes Vorgehen nötig. Dabei dürfen wir übrigens nicht vergessen, die Männer auf diesem Weg mitzunehmen. Beteiligung der Privatwirtschaft. Es gilt, den Teil „wirtschaftliche Zusammenarbeit“ in der Bezeichnung des Ministeriums klarer herauszustellen. Erste Ansätze wie der Compact with Africa haben bislang noch nicht die geplante Resonanz gehabt. Es bestehen immer noch viele Sorgen und Vorurteile, wenn es um Investitionen in Afrika geht. Seien wir aber ehrlich, meine Damen und Herren: Alle Mittel der Entwicklungspolitik, ob aus Deutschland, aus Europa oder global, können den wirtschaftlichen Fortschritt in Entwicklungsländern und Schwellenländern nicht allein voranbringen. Wir brauchen dazu auch privatwirtschaftliches Engagement. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren, ein Gedanke sollte dabei immer sein – damit komme ich auch zum Schluss –: Entwicklungspolitik soll unterstützen und helfen; Entwicklungspolitik darf aber nicht auf Dauer abhängig machen. Manche Länder und Organisationen gewöhnen sich sehr schnell an regelmäßige Zahlungen. Wir wollen eine Entwicklungspolitik, bei der die Länder immer eigenverantwortlicher und selbstbewusster ihre Zukunft in die Hand nehmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herzlichen Dank. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Cornelia Möhring. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schulze! Auch Die Linke will deutlich mehr Tempo und eine feministische Entwicklungszusammenarbeit. Aber gerade deshalb würden wir sie anders ausrichten: Wir würden die Interessen und Bedürfnisse der Menschen in den unterstützten Ländern in den Mittelpunkt rücken, orientiert an den Gedanken von Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit. Und statt in erster Linie den Wirtschaftsinteressen der Geberländer und den Konzernen Vorrang einzuräumen, würden wir eine globale Umverteilung einleiten, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen. ({0}) Sie machen das leider nicht so oder nicht konsequent genug. Ein dramatisches Beispiel dafür ist Afghanistan. Die Verantwortung für die zurückgelassenen Arbeitskräfte liegt auch bei Ihrem Ministerium. Die Lage der Zivilbevölkerung wird immer katastrophaler. Die Wirtschaft des Landes ist weitgehend zusammengebrochen. Viele haben ihren Job verloren. Die meisten Menschen haben kaum noch Geld und leiden unter extremem Hunger. Übergriffe gerade gegenüber Frauenaktivistinnen sind an der Tagesordnung. Und mittendrin im Elend und in der zunehmenden Gefahr Tausende zurückgelassene ehemalige Ortskräfte und ihre Familien, die nun um ihr Leben bangen. Und was macht das BMZ? Das BMZ lehnt Ausreiseanträge ab, weil die Betroffenen „nur“ einen Honorarvertrag hatten. Das ist unverantwortlich. ({1}) Die Taliban machen nämlich keinerlei Unterschiede zwischen Arbeitsvertrag und Honorartätigkeit, Frau Schulze. Und da sich – Frau Kollegin Brugger hat es vorhin erwähnt – die ganze Bundesregierung zuständig fühlt: Es braucht jetzt Visa nach Ankunft und eine doppelte Luftbrücke: Hilfsgüter hin, Bedrohte zurück. Verhandeln Sie die Aufnahme der Direktflüge, und sorgen Sie dafür, dass humanitäre Hilfe schnell bei den Betroffenen ankommt! ({2}) Ich finde es schon sehr enttäuschend, wie behäbig die von SPD und Grünen geführten Ministerien hier agieren. Das gilt auch für das Thema Impfgerechtigkeit. Während hier geboostert wird – was ja gut ist –, waren im Januar 2022 nur 5 Prozent der Menschen in ärmeren Ländern vollständig geimpft, nur 11 Prozent hatten die erste Impfung. In einer solchen Situation wird Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zum Umfaller des Monats und ändert nach einem Gespräch mit der Pharmaindustrie seine Haltung zur Patentaussetzung. Ich finde das unglaublich. ({3}) Der schnelle Ausbau von Produktionskapazitäten ist wichtig, um die Verfügbarkeit zu erhöhen, und zwar nachhaltig, auch um schnell auf notwendige Anpassungen an neue Varianten reagieren zu können. In Kapstadt gibt es jetzt zwar Fortschritte bei der Entwicklung eines eigenen Impfstoffes. Mit Patentfreigabe wäre das aber deutlich schneller möglich gewesen, und ohne diese wird weiterhin wertvolle Zeit verloren gehen. ({4}) Nach Presseberichten hat BioNTech sogar versucht, die Erforschung eines afrikanischen Impfstoffes zu verhindern. ({5}) Angesichts des Profits von 1 000 Dollar pro Sekunde kein Wunder. Ein Unternehmen bleibt eben ein Unternehmen, und diese schalten lieber Konkurrenz aus, als sie neben sich zu dulden. Aber genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt, warum wir Forschung, Pharmazie, Gesundheit nicht dem Markt überlassen dürfen. Darüber kann im Übrigen auch das gestrige Werbeevent von BioNTech in Marburg, das Sie so abfeiern, nicht hinwegtäuschen. Unter dem Deckmantel des Technologietransfers wird mit Fabrikcontainern die eigene Produktion ausgebaut. Das Ganze dauert zudem viel zu lange; es wird nämlich zwei Jahre dauern. Die Pandemie legt aber keine Pause ein. Anders als Sie behaupten, gibt es mindestens 120 Pharmafirmen im Globalen Süden, die in deutlich kürzerer Zeit die Produktion aufnehmen könnten, wenn es denn den Technologietransfer gäbe. Für die Logik des Marktes gilt: Profite vor Gesundheit. Deshalb muss die Gesundheit dem Markt entzogen werden. Geben Sie endlich die Patente frei! ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Rebecca Schamber, die ich auch zu ihrer ersten Rede ganz herzlich hier im Hause begrüße. ({0})

Rebecca Schamber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005202, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Jahr werden 274 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein. Vergangenes Jahr waren 84 Millionen Menschen auf der Flucht. 45 Millionen Menschen droht eine Hungersnot. Die Lage ist dramatisch. Wir dürfen uns an diesen Zustand nicht gewöhnen, nicht abstumpfen, sondern wir müssen immer wieder genau hinsehen; denn über viele Krisen wird kaum mehr berichtet. Sie werden schlicht vergessen. Was also tun angesichts dieses globalen Ausnahmezustands? Der 16. Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung stellt richtigerweise fest: Entwicklungspolitik ist Zukunfts- und Friedenspolitik. Damit Frieden aber nachhaltig Bestand hat, braucht es in Zukunft eine bessere ressortübergreifende Zusammenarbeit und einen systematischen Ansatz der Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung. ({0}) Wir werden uns jetzt gemeinsam mit unseren Koalitionspartnerinnen und ‑partnern genau auf diesen Weg begeben. Mehr noch, es wird einen grundlegenden Wandel in der Entwicklungspolitik geben: im Stil und in der Sache. Wir werden Schluss machen mit ressortspezifischen Eitelkeiten. Daher möchte ich mich an dieser Stelle bei den drei Ministerinnen Svenja Schulze, Annalena Baerbock und Christine Lambrecht bedanken, die bereits sehr deutlich gemacht haben, dass Entwicklungs-, Außen- und Verteidigungsministerium künftig mit gemeinsamer Stimme sprechen werden. Uns geht es um kohärentes internationales Handeln und darum, Deutschlands Rolle bei der Entschärfung internationaler Krisen weiter auszubauen. ({1}) Die Leitlinien zur Krisenprävention sind hierfür eine hervorragende Grundlage. Wir werden den vernetzten Ansatz weiter stärken und mit Leben füllen. Und – die Ministerin hat es gesagt – unsere Entwicklungspolitik wird feministisch sein. Mir ist bewusst, dass sich der eine oder andere hier im Raum noch mit diesem Begriff anfreunden muss. Ich will Ihnen aber gerne erläutern, warum eine feministische Entwicklungspolitik genau der richtige Schritt ist, um auch Frieden zu fördern. Die Zahlen sind eindeutig: Wenn Frauen an Friedensverhandlungen – und zwar von Beginn an – beteiligt sind, steigt die Chance, dass es erstens überhaupt zu einem Friedensvertrag kommt, und zweitens, dass der Frieden länger hält. Um es noch mal deutlich zu machen: Handeln Frauen Friedensabkommen mit aus, steigt die Chance, dass der Frieden länger als zwei Jahre hält, um 20 Prozent. ({2}) Mit der Resolution 1325 aus dem Jahre 2000 wurde das auch von den Vereinten Nationen anerkannt. Ziel dieser Resolution ist es, dass Frauen an Friedensverhandlungen beteiligt sind und so geschlechterspezifische Perspektiven einbezogen werden. Über 20 Jahre später müssen wir feststellen, dass Friedensverhandlungen immer noch überwiegend von Männern geführt werden. Leider hat auch Deutschland in der Vergangenheit nicht viel daran mitgewirkt, dass sich dieser Zustand ändert. Genau deshalb braucht es jetzt eine feministische Entwicklungspolitik, weil es schlicht und ergreifend Sinn macht. ({3}) Als neugewählte Abgeordnete freue ich mich daher, dass wir sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Besonders freut mich, dass dieser Wandel auch auf der Regierungsbank sichtbar ist: Entwicklungs-, Außen- und Verteidigungsministerium in der Hand von drei kompetenten Frauen. ({4}) Es geht aber nicht nur um mehr Frauen in Verantwortung, sondern darum, das Thema Gleichstellung ins Zentrum zu stellen, ungleiche Machtstrukturen in den Blick zu nehmen und gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern zu verändern. Meine Damen und Herren, die globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind immens. Die Zahlen sind schlicht nicht hinnehmbar. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir einen entscheidenden Beitrag dazu leisten können, ja sogar leisten müssen, diesen weltweiten Krisen zu begegnen. Jetzt ist die Zeit für gemeinsames Handeln – hier in Deutschland, in Europa, aber vor allem auf Augenhöhe mit unseren Partnerinnen und Partnern im Globalen Süden. Jetzt ist die Zeit für eine Entwicklungszusammenarbeit, die sich eben nicht als karitative Hilfe versteht, sondern tatsächliche Transformation – also einen grundlegenden Wandel – im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele anstrebt. Herzlichen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, ein kurzer Hinweis. Wir verlängern auf Wunsch verschiedener Fraktionen den Wahlgang von heute Morgen auf circa 11 Uhr, sodass Sie das Ihren Kolleginnen und Kollegen in Ihren Fraktionen mitteilen können. Um 11 Uhr schließen wir dann den Wahlgang für die geheimen Wahlen. Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Wolfgang Stefinger. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf damit beginnen, meiner Freude dahin gehend Ausdruck zu verleihen, dass wir dieses wichtige Thema der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung zu so prominenter Zeit diskutieren. Internationale Zusammenarbeit und wirtschaftliche Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellenländern hat nämlich sehr viel mit Respekt und partnerschaftlichem Handeln, mit Fragen der Menschenwürde, mit Fragen zum Schutz des Planeten und auch mit Friedenssicherung zu tun: ({0}) Themen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die uns als Union wichtig sind, und Themen, die auch Minister Müller und die unionsgeführte Bundesregierung in den letzten Jahren massiv vorangebracht haben. Leider muss ich mich allerdings fragen – hier war ja von kohärentem Handeln die Rede; die Kollegen von den Grünen und von der SPD haben angesprochen, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien hier sei –: Wo ist die Verteidigungsministerin? Wo ist die Außenministerin? Die Regierungsbank ist nicht bzw. nur mit Staatssekretären besetzt. ({1}) Ich kann mir auch nicht erklären – deswegen frage ich mich schon, welche Rolle diese wichtigen Themen in dieser Ampelregierung spielen –, dass in der gestrigen Abstimmung im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entschieden wurde, die Sitzungen dieses Ausschusses ab sofort auf den Nachmittag zu verlegen. Damit wird dieser Ausschuss zu einem Rumpfausschuss, was die zeitliche Behandlung von Themen betrifft. ({2}) Für alle, die die Geschäftsordnung nicht kennen: Wir können dann nur noch Themen behandeln, wenn nichts Wichtigeres im Plenum behandelt wird. ({3}) Das wird dieser Verantwortung nicht gerecht. ({4}) Das heißt nämlich, dass die Themen „Menschenwürde“, „Respekt“ und „Schutz des Planeten“ nur noch dann auf die Tagesordnung kommen, wenn halt im Plenum nichts Wichtigeres besprochen wird. ({5}) Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird vor allem auch den moralischen Ansprüchen, die ja insbesondere die Fraktion der Grünen immer so gerne vor sich herträgt, nicht gerecht. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Ich darf nur an die Debatten erinnern, die wir hier in der letzten Wahlperiode zum Thema „Transparenz und Lobbyismus“ geführt haben. Aber jetzt ziehen ja neuerdings die Aktivisten auch ins Haus ein. Offenbar ist der neue Leitsatz der Grünen: Wir reden nicht mit Lobbyisten, wir verbeamten sie in unseren Häusern. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gerd Müller hat das Thema der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung wie kein Minister vor ihm in die Öffentlichkeit getragen und auch hier ins Parlament. ({7}) Wir haben den Haushalt massiv erhöht: unter der Regierungszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel verdreifacht und in den acht Jahren von Gerd Müller verdoppelt. Frau Ministerin, ich bin gespannt, ob Ihre Regierung Ähnliches hinbekommt. Sollten Sie das schaffen, haben Sie meinen Respekt verdient. Ich bin gespannt. Die Haushaltswoche im März wird es zeigen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bericht der Bundesregierung macht eines ganz klar: Wir als Union sind unserer Verantwortung in den vergangenen Jahren gerecht geworden. Die Zahl der Hungernden hatte sich bis zum Einsetzen der Coronapandemie massivst reduziert, die Gesundheitsversorgung wurde ausgebaut, die Bildungsangebote wurden gestärkt, die Mittel für Klima- und Umweltschutz sind erhöht worden – übrigens von 2 Milliarden auf mehr als 5 Milliarden Euro. Und hier wird es spannend sein, Frau Ministerin, ob Sie sich mit Ihren beiden Kollegen von den Grünen nicht gegenseitig auf den Füßen stehen werden, wenn es darum geht, wer der größere Klimaschützer ist. Besonders spannend ist ja aktuell auch die Schlagzeile: „Baerbock fliegt Linie“. Ich kann nur eines sagen: Ich finde es interessant, dass man darauf hinweisen muss, dass eine grüne Ministerin Linie fliegt. Gerd Müller übrigens ist in der Vergangenheit meistens Linie geflogen. Das war selten eine Schlagzeile. Aber offenbar wird diese Schlagzeile der Wählerklientel und insbesondere der grünen Klientel gerecht, weil es dort wohl eher unüblich ist, Linie zu fliegen, sondern vielleicht eher der Privatjet genommen wird. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns in dem Ziel einig, dass wir die Entwicklungsländer unterstützen und stärken müssen, dass wir auch Win-win-Situationen haben und hier gemeinsam profitieren können. Ich kann Ihnen nur sagen: Es wird mit staatlicher Unterstützung alleine nicht gehen. Frau Ministerin, Sie finden einen Marshallplan mit Afrika vor, Sie finden den Entwicklungsinvestitionsfonds vor. Hier sind große Leitplanken gesetzt worden. Der Reformprozess „BMZ 2030“ ist eingesetzt. Ich kann Sie nur auffordern: Bauen Sie auf diesem starken Fundament von Gerd Müller auf! Das Haus ist gut bestellt. Es liegt an Ihnen, etwas daraus zu machen. Vielen Dank. ({9})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Jan-Niclas Gesenhues. ({0})

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Entwicklungszusammenarbeit zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie sich konsequent an den echten Bedarfen der Partnerländer ausrichtet. Das Problem ist: In den vergangenen Jahren ist an ganz, ganz vielen Stellen an den echten Bedarfen der Partnerländer vorbeigearbeitet worden. Der Bericht der Vorgängerregierung zeigt übrigens auch die Gründe dafür. Punkt eins: An ganz vielen Stellen ist die Entwicklungszusammenarbeit für nationale Interessen instrumentalisiert worden. Und Punkt zwei: Da, wo gute Ansätze da waren, sind sie ganz oft durch wirtschaftliche Lobbyinteressen verwässert worden. Daran hatte die Union einen großen Anteil. Das ist keine global gerechte Politik. Das ist unglaubwürdig, und das werden wir beenden, meine Damen und Herren. ({0}) Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben, was wir dringend ändern müssen. Um an erster Stelle direkt mit einem Mythos aufzuräumen: Es ist eben nicht genug für Klimaschutz und Biodiversitätsschutz getan worden. Die Bedarfe sind hier viel, viel größer, und wir müssen hier mehr tun. ({1}) Ein anderes Thema, das Sie ja auch sehr herausgestellt haben, ist die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft in der Entwicklungspolitik. Ich habe selber in diesem Bereich gearbeitet und kann sagen: Da gibt es auch gute Einzelprojekte. Das Problem ist aber, dass an ganz vielen Stellen viel zu sehr auf Masse und nicht auf Qualität gesetzt worden ist. So geht es nicht weiter. Passend dazu auch das Thema Lieferkettengesetz; das ist hier ja vorhin auch schon ein bisschen abgefeiert worden. Die Wahrheit ist doch, dass am Ende für Umwelt und Menschenrechte zu wenig erreicht worden ist, übrigens auch, weil wirtschaftliche Lobbyinteressen, unter anderem auch vorgetragen durch die Union, dazu geführt haben, dass dieses Gesetz verwässert worden ist. Was wir jetzt brauchen, weil das ja auf europäischer Ebene im Moment verhandelt wird, ist ein wirksames Lieferkettengesetz der EU für Menschen und Umwelt weltweit. Das wäre ein großer Beitrag zu mehr globaler Gerechtigkeit. ({2}) Ich will abschließend noch ein ganz großes Problem ansprechen – Frau Brugger hat es vorhin schon thematisiert –: das Thema Finanzen. Ich finde, es ist an Scheinheiligkeit wirklich nicht zu überbieten, wenn Sie sich hierhinstellen und Ihren ehemaligen Minister über den grünen Klee loben, während die Wahrheit doch ist, dass der Haushalt des BMZ nach Ihrer Finanzplanung in den nächsten Jahren massiv zusammengeschrumpft werden soll. ({3}) Das ist keine seriöse Politik. Das ist scheinheilig, meine Damen und Herren! Und so geht es nicht weiter. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Entschuldigung, Herr Gesenhues, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Stefinger aus der CDU/CSU-Fraktion?

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in der letzten Bundesregierung unter Unionsführung der Finanzminister von der SPD, der heutige Bundeskanzler, derjenige war, der diese Finanzplanung vorgelegt hat? Würden Sie außerdem zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die Unionsfraktion als auch die Entwicklungspolitiker der SPD-Fraktion den Finanzminister damals für diesen vorgelegten Finanzplan kritisiert haben? ({0}) Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass die jetzige Entwicklungsministerin im Kabinett diesem Plan zugestimmt hat und nur Entwicklungsminister Müller eine entsprechende Protokollnotiz abgegeben hat? ({1}) Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen! ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie haben das Wort.

Dr. Jan Niclas Gesenhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Stefinger, vielen Dank für die Frage. – Ich will Ihnen in einem Satz antworten: Wenn Sie mit dem Finger auf diese Bundesregierung zeigen, dann zeigen mindestens drei Finger auf Sie zurück. ({0}) Denn Sie waren an der letzten Bundesregierung beteiligt, Sie waren verantwortlich, Sie haben den zuständigen Entwicklungsminister gestellt. ({1}) Meine Damen und Herren, wir wollen das in Zukunft besser machen. Wir stellen die echten Bedarfe der Partnerländer in den Mittelpunkt: Klima, Menschenrechte, Biodiversität, Geschlechtergerechtigkeit, Bildung, Armutsorientierung, ({2}) oder kurz gesagt: die globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Das ist unsere Richtschnur, damit der nächste entwicklungspolitische Bericht besser ausfällt. Vielen Dank. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Edgar Naujok, den ich auch zu seiner ersten Rede hier im Hause begrüße. ({0})

Edgar Naujok (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005166, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen Abgeordnete! Liebe Bürger! Ich bin seit über 30 Jahren selbstständiger Unternehmer in Mitteldeutschland und darf mich seit meiner Direktwahl mit der deutschen Entwicklungspolitik auseinandersetzen. Das ist, zugegeben, noch nicht allzu lange. Doch das, was ich hier bisher beobachten konnte, muss bei jedem vernünftigen Bürger grundsätzliche Fragen aufwerfen. Um was geht es heute eigentlich? Alles, was wir hier bisher zum Thema Entwicklungspolitik gehört haben, ist, mit Verlaub, reine Selbstbeweihräucherung der alten und neuen Bundesregierung, ({0}) gewürzt mit irrsinnig weltfremden Globalisierungsphantasien und linker Klimahysterie. Meine verehrten Damen und Herren, es ist Zeit, sich ehrlich zu machen: Die deutsche Entwicklungspolitik ist an sich selbst gescheitert. Wäre sie so erfolgreich, wie es im Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung im Hochglanzformat dargestellt wird, so müsste sie doch nach über 60 erfolgreichen Jahren überflüssig geworden sein. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. ({1}) Die Ausgaben für Entwicklungshilfe sind weltweit kontinuierlich angestiegen. Allein Deutschland hat im Jahr 2020 fast 25 Milliarden Euro Steuergelder dafür ausgegeben. ({2}) Was ist also das Ergebnis Ihrer so erfolgreichen Politik? Man sehe sich um in Afghanistan, in Mali oder Burkina Faso: Wurden die Millenniumsentwicklungsziele im Jahr 2015 erreicht? Nein. Werden die so hoch gepriesenen 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen sein? Nein, und das gibt mittlerweile selbst die UN zu. Ich sage Ihnen, was das Ergebnis Ihrer Politik ist: Ergebnis ist ein überbordender Verwaltungsapparat. Ergebnis ist eine staatlich voll finanzierte Entwicklungshilfeindustrie mit sogenannter Zivilgesellschaft und linken NGOs. ({3}) Ergebnis Ihrer Politik ist die konsequente Abwendung vom Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe und damit vom Kern der christlichen Soziallehre. Das Ergebnis ist also eine völlige Alleinstellung Ihrer eigenen Weltanschauung – ganz zur Freude einer dekadenten Wohlstandsgeneration, der Sie das kleine nutzlose Afrika-Abenteuer bereitwillig bezahlen. Bestes Beispiel für diese Weltanschauung ist aber allein schon die Überschrift des Berichtes: „EINEWELT – unsere Verantwortung“. ({4}) Nein, Deutschland ist nicht für die Welt verantwortlich, ({5}) und die eine Welt gibt es ohnehin nicht. Deutschland ist in erster Linie für seine eigenen Bürger verantwortlich, so wie jeder andere Staat der Erde es auch für sich und seine Bürger ist. ({6}) Angesichts der aktuellen Herausforderungen, vor denen unser Land und unsere Bürger stehen, ist es ratsam, wieder zu einer rationalen Politik zurückzukehren, also zurückzukehren zu einer Politik, die ganz natürlich eigene Interessen verfolgt. Ich möchte betonen, dass das Verfolgen eigener Interessen eben nicht dem Grundgedanken der Entwicklungspolitik widerspricht. Im Gegenteil: Eine Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse ist näher an der Realität und verspricht mehr Erfolg. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu der Stammtischrede gerade eben möchte ich jetzt einfach nichts sagen; ({0}) das macht überhaupt keinen Sinn. ({1}) Ich empfehle, erst mal an den Sitzungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit wirklich teilzunehmen, sich dort einzubringen. Da können Sie noch viel lernen. ({2}) Der Entwicklungspolitische Bericht zeigt, was Entwicklungspolitik leisten kann. Aber er zeigt auch, wo die Defizite liegen. Zwei Dinge müssen sich dringend ändern. Wir brauchen klare Linien und klare Ziele statt Spontaneität und mangelnder Kohärenz. Die Ministerin hat ja gerade heute ein solches Ziel vorgegeben. Ich bin dankbar, dass wir hier ein klares Ziel formuliert haben. Die GroKo hat eher ein Agenda-Surfing betrieben: Alles, was gerade modern war, wurde in den Blick genommen. Wir hatten die Migrationskrise, wir hatten die Klimakrise, wir hatten die Covid-Krise. Da gab es immer spontane Initiativen, die hinterher auch sehr publikumswirksam positioniert worden sind. Aber das ist doch kein Erfolg. Herr Stefinger, wenn Sie jetzt sagen, dass die weltweiten Erfolge in der Hungerbekämpfung auf einen CSU-Minister zurückgehen, ist das, glaube ich, schon ziemlich vermessen. Es war letztendlich die Globalisierung dieser Welt, in der der Reichtum insgesamt gestiegen ist, die dazu geführt hat, dass es bessere Zustände in diesen Ländern gibt. Bei all diesen Themen der Entwicklungspolitik ist klar, dass es im Zentrum um Armutsbekämpfung geht. Es ist dieser elende Teufelskreis von „Hunger schafft Konflikte“ und „Konflikte schaffen Hunger“; und den müssen wir beenden. Das können wir tun, wenn wir es wirklich wollen und hier auch alle mal zusammenstehen. ({3}) Deutschland kann das nicht allein schaffen. Deshalb sind die spontanen bilateralen Ansätze, die Herr Müller so gepflegt hat, nicht der richtige Ansatz. Vielmehr müssen wir uns mehr multilateral vernetzen, mehr mit der EU und den internationalen Gebern zusammenstehen. Dann haben wir eine Chance, die Situation deutlich zu verbessern. Sie haben es in der Rede der Ministerin gehört: Wir als Ampel werden das Silodenken beenden und kohärent handeln. ({4}) Wir werden Ziele verfolgen, statt spontane Projektaktionen durchzuführen und publikumswirksam zu feiern. ({5}) Die Ministerin hat völlig recht: Die Frauenförderung zum Beispiel ist wirklich eine Waffe gegen den Hunger in dieser Welt und damit eine Waffe zur Lösung der Konflikte. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, würde ich nicht gerne machen. ({0}) Das Zweite, was wir ändern müssen: Wir müssen mehr strategisch denken und die EZ-Mittel so einsetzen, dass sie zu Hebeln werden, dass sie zu Verstärkern werden und so privates Kapital wirklich mobilisiert werden kann. Meine Damen und Herren, das ist wirklich entscheidend: Der Glaube, dass die öffentlichen Mittel in einer Art und Weise die Welt verändern werden, ist ein Irrglaube. Das wird nie und nimmer stattfinden. Dafür sind die öffentlichen Mittel einfach viel zu gering, egal wie groß unser Haushalt wird. Wir müssen zusehen, dass die EZ-Mittel zum Hebel werden, dass wir mit den EZ-Mitteln Instrumente installieren, worauf private Mittel folgen. ({1}) Die geopolitischen Verschiebungen auf dieser Welt sind dieser Tage ja unglaublich spürbar. Deutschland braucht viele Freunde, ja, sehr viele Freunde auf dieser Welt. Aber wir neigen eher dazu, uns in fein verästelten innenpolitischen Themen aufzuhalten und ihnen den Vorzug zu geben. Meine Damen und Herren, das ist falsch, und das ist nicht gut für unser Land. Die Entwicklungszusammenarbeit wird oft unterschätzt; dabei ist sie das zentrale Thema, wenn es um politische Stabilität, um die Klimafrage und um die Energiefrage geht. Hier spielt die Entwicklungszusammenarbeit die entscheidende Rolle. Ich glaube, die Entwicklungszusammenarbeit verdient mehr Aufmerksamkeit im Deutschen Bundestag, aber auch im Bundeshaushalt. Deshalb werden wir dafür kämpfen, dass die Ziele, die im Koalitionsvertrag verankert sind, auch so realisiert werden. Herzlichen Dank. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, hat das Wort zu einer Kurzintervention der Abgeordnete Frohnmaier aus der AfD-Fraktion.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Hoffmann, ich muss hier schon noch einmal einhaken, gerade was die Wertschätzung der Entwicklungszusammenarbeit hier im Haus anbelangt. Folgendes haben wir gestern als Ausschussmitglieder erlebt: Die FDP-Fraktion hatte am Anfang auch noch dafür gestimmt, dass wir unsere Sitzungen vormittags durchführen. ({0}) Gestern haben wir erlebt – das muss ich an der Stelle sagen; so fair muss man sein: mit Herrn Ramsauer hätte es das nicht gegeben –, dass ganze Tagesordnungspunkte abgesetzt werden mussten oder es zu Verschiebungen von 20 bis 30 Minuten kam, weil Herr Annen nicht anwesend sein konnte. Das ist Ihre Wertschätzung für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hier im Hause. Das muss man an der Stelle ganz klar sagen. Zum Bericht – dann komme ich auch gleich zum Ende – haben wir heute gar nichts gehört. Wir haben wieder irgendwas von feministischer Außenpolitik gehört und von Solarzellen auf Lehmhütten. Und dann glauben Sie, Sie werden die Lebensverhältnisse der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent so verbessern!

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Frohnmaier, Entschuldigung! Das ist kein Redebeitrag. Beziehen Sie sich bei Ihrer Kurzintervention bitte auf die Rede Ihres Vorredners. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das mache ich auch; Sie müssen mich einfach weitersprechen lassen, dann würde ich das gleich tun. Herr Hoffmann, ich muss Sie fragen: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass die Entwicklungszusammenarbeit wieder den Stellenwert hier im Haus erhält, den sie verdient? Wird die FDP dafür sorgen, dass wir wieder ganz normal vormittags tagen und die Funktionsfähigkeit unseres Ausschusses hergestellt wird? ({0}) Vielen Dank. ({1})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Hoffmann, möchten Sie antworten?

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das will ich gerne. – Sie haben gesagt, Sie müssten hier einhaken. – Sie müssen nicht. ({0}) Sie haben gesagt, die Präsidentin müsste Sie jetzt weiterreden lassen. – Das muss sie nicht. ({1}) Sie verkennen Ihre Rolle. ({2}) Das Zweite, das ich Ihnen sagen will: Wenn Sie hier zugehört hätten, hätten Sie mitbekommen, dass ich genau skizziert habe, was wir in der Ampel in der Entwicklungspolitik gemeinsam bewerkstelligen werden. Aber Sie halten sich auf mit kleinteiligen Geschichten wie Tagesordnungen oder Sitzungsterminen. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist Manuel Gava, den ich auch zu seiner ersten Rede hier im Hohen Hause begrüße. ({0})

Manuel Gava (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005062, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Kurzintervention versuche ich, wieder zur Sache zu kommen; denn am Ende des Tages geht es, glaube ich, nicht darum, wann die Orga stattfindet, sondern es geht um den Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung, und darauf kommt es an. ({0}) Gerecht und nachhaltig wirtschaften, das ist die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Die Einbindung in globale Lieferketten bietet gerade Ländern aus dem Globalen Süden große Chancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung – jedoch nur, wenn diese Integration nach fairen und sozialen Maßstäben gelingt. ({1}) Viele Unternehmen verlagern ihre Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländer und verfrachten somit ihre anfallenden Sozial- und Umweltkosten dorthin. Dabei werden Milliarden erwirtschaftet und gleichzeitig Menschen- und Kinderrechte häufig missachtet. Wenn wir weiter so wirtschaften, wächst die Schere zwischen Arm und Reich weltweit immer weiter. Dabei haben wir uns mit der Agenda 2030 – Frau Ministerin Schulze hat darauf hingewiesen – den Nachhaltigkeitszielen auch innerhalb der deutschen Politik verpflichtet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir überteuerte Produkte kaufen, heißt das noch lange nicht, dass diese Produkte unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Produkte wie beispielsweise Kaffee aus Brasilien, Tee aus Indien oder Wein aus Südafrika werden nicht selten unter Missachtung von Menschen- und Kinderrechten hergestellt – ganz zu schweigen von Problemen der Umweltzerstörung. Wir importieren Kaffee- und Kakaobohnen und exportieren soziale Ungerechtigkeit. Wir nehmen Hungerlöhne, schlechte Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung von Menschen jeden Tag an der Supermarktkasse in Kauf. Und mir ist besonders wichtig: Das ist keine Kritik an den Konsumentinnen und Konsumenten; vielmehr ist politisches Handeln hier erforderlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Aber das Gute ist, dass viele Menschen uns dabei unterstützen; denn bei vielen wächst das Interesse daran, herauszufinden, wo das Kaffeepulver in der Kaffeemaschine herkommt, und die Nachfrage nach nachhaltig und fair hergestellten Produkten nimmt weiter zu. Das erhöht nämlich auch automatisch den Druck auf die Unternehmen, die Verantwortung für die Bedingungen innerhalb ihrer Lieferketten zu übernehmen und klar darzustellen. ({3}) Doch gesetzgeberisches Handeln ist erforderlich. Wir kommen als Politik nicht umhin, für fairere Bedingungen entlang der gesamten Lieferkette zu kämpfen. Wie sich alle in diesem Hause, glaube ich, einig sind, herrscht bei uns in Europa Konsens, dass unsere soziale Marktwirtschaft hohe Standards zu Menschenrechten, Umweltfragen und Arbeitsbedingungen umfasst. Und genau aus dieser Überzeugung heraus haben wir als Bundesrepublik mit dem Lieferkettengesetz eine Vorreiterrolle bei der Durchsetzung fairer und nachhaltiger globaler Lieferketten auf europäischer Ebene übernommen. Herzlichen Dank an dieser Stelle auch an alle Initiativen, NGOs, an alle aus der Zivilgesellschaft, die das ermöglicht haben, und auch ganz besonders an den SPD-geführten Teil der letzten Großen Koalition, der sich mit großen Schwierigkeiten und großen Widerständen bei der Union auseinandersetzen musste und das hinbekommen hat. Besten Dank an dieser Stelle! ({4}) - „Peinlich“ höre ich von der AfD; das ist immer ein gutes Zeichen dafür, dass die Rede nicht ganz so schlecht sein kann. ({5}) Wir werden uns auch für eine EU-weite Regelung einsetzen. Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, das auf den UN-Menschenrechtsprinzipien basiert und gleichzeitig kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, verbindliche Regelungen in globalen Lieferketten, existenzsichernde Löhne, gerechte Arbeitsbedingungen und Umweltverträglichkeit sind das Fundament deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Wer dagegen verstößt, verliert seinen Anspruch auf staatliche Zuwendungen und im Extremfall auch seinen Marktzugang; und das ist auch gut so. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ziel ist, die gesamte Lieferkette transparent, rückverfolgbar sowie fair und nachhaltig zu gestalten – von der Produktion über den Handel bis hin zum Verkauf im Geschäft. An dieser Stelle: Vielen Dank, dass ich meine erste Rede in diesem Hohen Haus halten durfte; das ist ziemlich imposant. Ich danke der Ministerin Schulze, dass das Thema des gerechten und nachhaltigen Wirtschaftens einen großen Teil des Entwicklungspolitischen Berichtes ausmacht. Auf beste Zusammenarbeit! Vielen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Nicolas Zippelius, den ich übrigens auch sehr herzlich zu seiner ersten Rede hier begrüße. ({0})

Nicolas Zippelius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005266, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Verwirklichung des fairen Handels zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern gehört zu einer der vier Säulen der deutschen Entwicklungspolitik. Fairer Handel ist hierbei das entscheidende Stichwort. Gemeinsam mit anderen Staaten, entwicklungspolitischen Partnern und der Wirtschaft wollen wir daran arbeiten, nachhaltige globale Liefer- und Wertschöpfungsketten verstärkt zu verbessern, Nachhaltigkeit und Menschenrechte als unabdingbare Grundpfeiler des globalen Handels weiter zu verankern und somit eine gerechte sowie nachhaltige Globalisierung weiter auf den Weg zu bringen. ({0}) Das wollen wir als CDU/CSU. Dafür haben wir als Union gemeinsam mit dem ehemaligen Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, erfolgreich in den vergangenen Jahren die entscheidenden Weichen gestellt. Und dafür werden wir uns auch in dieser Legislatur weiter starkmachen. ({1}) Die Erfolge aus der vergangenen Legislaturperiode werden im Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung sichtbar, und die können sich sehen lassen: Im Juli 2021 wurde unter der alten Bundesregierung das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz beschlossen. Die Gewährleistung und Sicherstellung von Menschenrechten, von Sozial- und Umweltstandards innerhalb der globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten ist ein Anliegen, für welches wir uns als Union auch auf EU-Ebene weiter starkmachen werden. ({2}) Es bringt nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampelkoalition, es so darzustellen, als würden Sie jetzt einen völlig neuen politischen Grundsatz präsentieren. Das bereits bestehende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ist eine wichtige Blaupause für eine europäische Richtlinie zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten von Unternehmen, und es zeigt, dass die neue Bundesregierung auf einer richtungsweisenden deutschen Entwicklungspolitik aufbauen kann. Und dafür haben wir als Union gesorgt. ({3}) Und das war nur ein Beispiel für die geleistete Arbeit in den letzten Jahren. Das staatliche Textilsiegel Grüner Knopf soll und wird nachhaltigen Konsum weiter prägen. Damit wurde ein zentrales Ziel der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung umgesetzt. Wie im Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung beschrieben, hat sich die Zahl der teilnehmenden Unternehmen mit insgesamt 78 seit Programmeinführung vor knapp zwei Jahren fast verdreifacht, und hundert weitere Unternehmen haben das Siegel bereits beantragt. Das ist ein gutes Zeichen, und das ist ein wichtiges Zeichen, meine Damen und Herren. ({4}) Nicht zu vergessen ist die Gründung des Weltnaturerbefonds im Jahr 2021. Dieser Fonds wird bis zum Jahr 2030 zur weltgrößten Naturschutzstiftung heranwachsen. Das BMZ unterstützt dabei 660 Schutzgebiete mit einer Größe von 2 Millionen Quadratkilometern, beteiligt sich am Schutz von 130 Millionen Hektar Wald. Alles in allem zeigt der Bericht, Frau Ministerin, wo Sie an die erfolgreiche Arbeit Ihres Vorgängers anknüpfen können und auch anknüpfen sollten. ({5}) Damit kommen wir zu Ihren Hausaufgaben, Frau Ministerin. Im Koalitionsvertrag herrscht leider gähnende Leere, wenn es um das Engagement der Wirtschaft in Entwicklungsländern geht, und wenn es darum geht, wie dieses Engagement unterstützt werden soll. Es ist daher von enormer Bedeutung, dass das EU-Projekt Global Gateway von der Bundesregierung nach Kräften protegiert wird. Bis zu 300 Milliarden Euro sollen dafür von Mitgliedstaaten und Institutionen mobilisiert werden: Geld, das hilft, wichtige Projekte der Privatwirtschaft in Entwicklungsländern abzusichern. Wie wichtig die unternehmerische Ebene für Entwicklungspolitik ist, hat doch gestern erst wieder das Unternehmen BioNTech gezeigt, das schlüsselfertige mobile Produktionsanlagen nach Afrika bringen möchte, um vor Ort mRNA-Impfstoffe herstellen zu können. Und wenn Rot-Grün unternehmerisches Engagement immer nur als Teil des Problems sieht, dann bitte ich, dann bitten wir doch wenigstens die Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dieses Engagement als wichtigen Teil der Lösung anzuerkennen. ({6}) Was die öffentlichen Entwicklungsausgaben Deutschlands betrifft, haben Sie, Frau Schulze, in Ihrer letzten Rede von einem starken Zeichen im Koalitionsvertrag gesprochen. Das ist aber nicht mal ansatzweise Ihr Verdienst. Ihr Vorgänger, Frau Ministerin, hat Ihnen diese optimale Ausgangslage ermöglicht; denn Deutschland hat bereits 2020 die internationale Messgröße, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungsleistungen aufzuwenden, erreicht. Dass zum Beispiel die Grünen das jetzt kritisieren und sagen, dass mehr dabei hätte rauskommen können – okay. Aber dass die SPD dabei mitklatscht, das ist wirklich der größte Hohn. Da kann man wirklich nur den Kopf schütteln. ({7}) Frau Ministerin, das hätte übrigens noch mehr werden können, auch mittelfristig, wenn der damalige Finanzminister, Ihr Parteikollege Olaf Scholz, einer Erhöhung der Ausgaben nicht den Riegel vorgeschoben hätte. Sich mit fremden Federn zu schmücken, wenn es passt, aber ansonsten die Schuld nur bei anderen zu suchen, das lassen wir Ihnen mit Sicherheit nicht durchgehen. Lassen Sie sich das von uns gesagt sein. ({8}) Frau Ministerin, Sie haben viel zu tun. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden Ihnen gerne ein Kompass für erfolgreiche Politik im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung sein. Trauen Sie sich! Herzlichen Dank. ({9})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Deborah Düring. ({0})

Deborah Düring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005045, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Bilanz der Müller-Jahre müssen wir über das Reformkonzept 2030 diskutieren. Das Ziel der im Bericht hochgelobten Reform war, Entwicklungspolitik strategischer, effizienter und wirksamer einzusetzen. Ob dies gelungen ist, darüber lässt sich an anderer Stelle gerne mal diskutieren. Auf jeden Fall lässt sich aber festhalten, dass die strategische Komponente in Müllers Sinne umgesetzt wurde. Leider! Denn Entwicklungspolitik stand in den letzten Jahren immer mehr im Dienst von geopolitischen und innenpolitischen Interessen Deutschlands. ({0}) Das sehen wir zum Beispiel an der neuen Länderliste. Während neun sogenannte Least Developed Countries einfach rausgestrichen wurden, bleiben vor allen Dingen die Länder, die auf den Flucht- und Migrationsrouten nach Europa liegen, als Partner weiter drin, ungeachtet ihrer oftmals autoritären Regierungsführung. Menschenrechtliche Kriterien oder Bedürftigkeit spielten in vielen Fällen anscheinend eher eine untergeordnete Rolle. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, widerspricht nicht nur den selbstformulierten Ansprüchen, sondern ist das Gegenteil einer Entwicklungspolitik, die effizient und wirksam für globale Gerechtigkeit kämpft. ({1}) Was passiert, wenn deutsche Entwicklungspolitik Probleme erzeugt, die es ohne sie nicht gäbe, sieht man beispielsweise im Niger. Das BMZ unterstützte das Land bei der – ich zitiere – „Gestaltung einer kohärenten Migrationspolitik“ und lobte die Schaffung von kurzfristigen Jobs als Fluchtursachenbekämpfung. Wanderbewegungen im Niger sind seit Jahrhunderten Teil der gesellschaftlichen Normalität dort. Die lokale Wirtschaft lebt von Dienstleistungen für Migrantinnen und Migranten. 2015 wurde dann die Migration durch den Niger von der EU als Problem gebrandmarkt. Geld floss an die Regierungen, um die Migration zu kontrollieren – mit verheerenden Folgen für die Migrantinnen und Migranten und massiven Jobverlusten für die Menschen vor Ort. ({2}) Wenn wir Fluchtursachen und nicht die Flüchtenden bekämpfen wollen, dann müssen wir anfangen, an die strukturellen Ursachen von Armut und Ungleichheit ranzugehen, und wir müssen endlich die Bedürfnisse, die Rechte und den Schutz von geflüchteten Menschen voranstellen. ({3}) Ich bin sehr froh, dass wir klar im Koalitionsvertrag formuliert haben: Entwicklungszusammenarbeit darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob ein Land in der Migrationseindämmung kooperiert. Stattdessen müssen wir sichere und legale Fluchtwege schaffen, humanitäre Visa ermöglichen und das Resettlement-Programm ausweiten. Ich freue mich darauf, genau das in vier Jahren im Weißbuch der Entwicklungspolitik lesen zu dürfen. ({4})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Knapp ein Zehntel der Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent ist derzeit vollständig gegen Corona geimpft. Das ist besorgniserregend; denn diese Pandemie besiegen wir weltweit oder gar nicht. ({0}) Die Große Koalition hat in der letzten Legislaturperiode bereits bedeutende Fortschritte erreicht, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Ich nenne hier nur drei Beispiele: Das BMZ hat jährlich rund 2 Milliarden Euro in Ernährungssicherung, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung investiert. Seit 2020 setzt Deutschland ein weltweites Corona-Sofortprogramm von sage und schreibe 4,7 Milliarden Euro um. Und über 1 Milliarde Euro werden jährlich zusätzlich in globale Gesundheit investiert. Die Bundesregierung ist der zweitgrößte Geber der Covax-Initiative, die für globale Impfstoffgerechtigkeit gegründet wurde. Für den Aufbau der Coronaimpfstoffproduktion in Afrika wurden rund 500 Millionen Euro investiert. Der Ausbau der lokalen Impfstoffproduktion ist entscheidend, um den Globalen Süden unabhängiger von Impfstoffimporten zu machen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb vier afrikanische Länder, hier unter anderem das Institut Pasteur in Dakar im Senegal, beim Aufbau einer eigenen Produktion. Das ist ein erster Schritt, um den afrikanischen Kontinent als souveränen, qualifizierten Akteur wahrzunehmen. In der aktuellen Pandemie hat sich der afrikanische Kontinent als effektiver Pandemiemanager bewiesen, besonders durch regionale Zusammenarbeit und Initiativen der Afrikanischen Union. So wurden unter anderem eine eigene Seuchenschutzbehörde und eine gemeinsame digitale Beschaffungsplattform für medizinische Ausrüstung gegründet. Damit zeigt sich der afrikanische Kontinent als fähiger Partner in der Entwicklungszusammenarbeit. Das nimmt uns in die Verantwortung; denn auch wir müssen uns neu ausrichten, hin zu einer Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe, einer globalen Strukturpolitik. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, aktuell wirft uns die Pandemie in der Erreichung der Agenda 2030, der Nachhaltigkeitsziele – der SDGs – enorm zurück. Wir sollten daher die Zeit nach der Pandemie nutzen, um einen neuen Weg der nachhaltigen Entwicklung einzuschlagen. Die aktuellen Herausforderungen des Klimawandels und globaler Pandemien können wir nur gemeinsam bewältigen. Hier können – ganz im Sinne des vernetzten Ansatzes – Investitionen in internationale Forschung hilfreich sein. Auch die Potenziale der Digitalisierung sollten wir nutzen, um beispielsweise den universellen Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. An diesem Punkt können wir von unseren Partnern auf dem afrikanischen Kontinent lernen. Fest steht: Die Herausforderungen des Klimawandels und globaler Pandemien können wir nur gemeinsam bewältigen. Diese Ziele der Agenda 2030 müssen unsere Richtschnur für die Entwicklungspolitik der kommenden Jahre sein. Packen wir das an! ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es droht Krieg in Europa. Wir haben uns das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, auch nach den dramatischen Ereignissen des Jahres 2014, als Russland die Krim rechtswidrig annektierte und in einem hybriden Ansatz bewaffnete Konflikte im Osten der Ukraine initiierte, die bis heute andauern, nicht vorstellen können. Russische Streitkräfte in einem Ausmaß, dass sie ohne Weiteres in der Lage sind – nach wie vor, bedauerlicherweise –, die Ukraine zu überfallen, dort eine militärische Invasion durchzuführen, befinden sich an den Grenzen dieses zweitgrößten europäischen Landes. Das Modell einer Ukraine, die demokratisch, parlamentarisch funktioniert, in der es freie Presse und unabhängige Gerichte gibt, wird von der russischen Führung offensichtlich als Bedrohung angesehen. Friedrich Merz hat in der letzten Debatte hier schon darauf hingewiesen, welche Entwicklung es in Russland gegeben hat: Nachdem Wladimir Putin hier noch 2001 dem Westen eine Zusammenarbeit anbot – die wir auch nicht vollständig angenommen haben –, hat er 2008 auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Hier sieht man offenkundig die Motive der russischen Führung. Das ist nur eine Erklärung, keine Legitimierung und keine Legalisierung des russischen Vorgehens, was wir in und um die Ukraine sehen. Einem solchen Vorgehen, das Russland seit 2014 in der Ukraine zeigt und jetzt wieder durch diese Truppenmassierung androht, muss die freie Welt entgegenstehen; hier muss Deutschland gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und den Vereinigten Staaten für Frieden, für die Einhaltung der regelbasierten Ordnung und für die internationale Rechtsordnung einstehen. ({0}) In diesem Sinne hat die Bundesregierung in den letzten Wochen gehandelt. Ich danke der Außenministerin ausdrücklich, auch für ihre Reise an die Kontaktlinie, für ihre Reise nach Kiew, für ihre klaren Aussagen dort. Ich danke auch dem Bundeskanzler, der jetzt in Kiew und dann auch im Beisein von Wladimir Putin nach einem ausführlichen Gespräch klargemacht hat, dass Deutschland dieses Verhalten nicht akzeptiert, dass wir diesem gemeinsam, geschlossen mit den Vereinigten Staaten, mit unseren europäischen Partnern, mit den baltischen Staaten, mit Polen, mit allen Anrainerstaaten dort entgegenstehen. Dieses verantwortungsvolle Handeln der Bundesregierung unterstützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({1}) Wir haben allerdings zu der Form des Vorgehens und zu Ihrer Kommunikation Anmerkungen zu machen. Die erste Anmerkung betrifft das Fehlen des Bundeskanzlers in dieser Debatte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es droht nicht weniger als Krieg. Und der Bundeskanzler hat zu Recht in Moskau gesagt, es sei die „verdammte Pflicht“, politisch dagegenzuarbeiten. Aber ich sage auch: In einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland ist es die erste Pflicht des Bundeskanzlers, seine Politik in dieser Krise hier vor dem Deutschen Bundestag zu erläutern. Wo sind Sie, Herr Scholz? ({2}) Er hat ja deutlich gemacht, dass er die Verfassungsordnung kennt, und darauf hingewiesen, dass er und nicht Gerhard Schröder der aktuelle Bundeskanzler ist. Aber unser Verfassungsrecht regelt ja nicht nur die Funktionsweise der Exekutive, sondern das Parlament ist der erste Ort, wo Politik erklärt, gerechtfertigt und dargelegt werden muss, und ich muss sagen: Ich begrüße sehr, dass die Frau Bundesaußenministerin jetzt hier ist. Aber das Fehlen des Bundeskanzlers ist nicht zu rechtfertigen. Und er hätte auch früher klare Worte finden müssen. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für seine Rede auf der Bundesversammlung. ({3}) Er hat klargemacht – das wäre die Aufgabe des Bundeskanzlers gewesen –, wo Deutschland steht. ({4}) Der Bundeskanzler ist unklar geblieben – bedauerlicherweise – an der Seite eines amerikanischen Präsidenten, der – angefochten insbesondere durch die Republikaner, die derzeit wieder vor dem Sprung stehen, mehr Einfluss zu bekommen in den USA – wie kein anderer in Amerika an der Seite Europas steht und betont, er wolle gemeinsam mit Deutschland Politik machen. Aber sich dorthinzustellen und es dem amerikanischen Präsidenten zu überlassen, zu erklären, dass Nord Stream 2 zu einem Sanktionspaket natürlich dazugehört, das war eine Situation, die schon demütigend für den deutschen Bundeskanzler war und den amerikanischen Präsidenten – der an unserer Seite steht – in den USA in zusätzliche politische Schwierigkeiten gebracht hat, die wir einmal bereuen könnten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das war ein großer Fehler. ({5}) Das Verhalten ist auch gegenüber der Ukraine rechtfertigungsbedürftig. Natürlich gehört Deutschland nicht zu den ersten Ländern, die Waffen liefern; das ist vollkommen klar. Dass man dabei Zurückhaltung übt, ist gute deutsche Tradition. Aber verstehen wir nicht, wie es auf die Ukrainer, die einer derartigen militärischen Aggression gegenüberstehen, wirken muss, wenn die erste Zusicherung, die wir ankündigen, Lazarette sind? Verstehen wir nicht, dass das in der Ukraine fast als zynisch verstanden wird? Wenn wir dann noch unseren NATO-Partnern wie den Esten in den Arm fallen, die ein paar veraltete Artilleriesysteme liefern wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das keine Position der Solidarität mit der Ukraine. Das war und das bleibt ein großer Fehler der Bundesregierung. ({6}) Zu Herrn Vizekanzler Habeck muss man sagen: Wer als Parteivorsitzender Defensivwaffen für richtig hält, der darf sich, wenn er dann ein Staatsamt innehat, nicht ein Schweigegelübde auferlegen. Das passt nicht zu dem politischen Anspruch, den wir von ihm kennen. Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt: Die Souveränität der Ukraine ist unantastbar. – Aber auch die Entscheidung der Ukraine und des Bündnisses selber, irgendwann über einen Eintritt der Ukraine in die NATO zu entscheiden, muss unantastbar bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sage ich nicht nur mit Blick auf die Ukraine – denn da steht das nicht auf der Tagesordnung –; das sage ich auch – ich komme aus Schleswig-Holstein, einem Ostseeanrainer – mit Blick auf Schweden und Finnland. Wir dürfen uns von Russland nicht vorschreiben lassen, wer sich unseren defensiven, friedlichen Bündnissen anschließt; das muss klare deutsche Position sein. ({7}) Abschließend ein Wort zu Russland: Friedrich Merz hat öffentlich richtigerweise gesagt: „Russland ist nicht unser Feind.“ Das, glaube ich, sehen wir hier alle auch so. Insbesondere das russische Volk steht uns eher nahe aufgrund einer langen Historie und der langen kulturellen Beziehungen. Durch den letzten Krieg hat Deutschland eine besondere Verantwortung, dass das russische Volk nicht erneut in kriegerische Handlungen verstrickt wird; aber diese Verantwortung hat Deutschland auch für das ukrainische Volk. Denn dort haben die schlimmsten Kriegshandlungen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Wir müssen in der Lage sein, zwischen dem russischen Volk und denjenigen, die die Führung dort innehaben, einer kleptokratischen Clique, zu unterscheiden. Wir stehen an der Seite des russischen Volkes. Wir sind ein Freund Russlands. Gerade Deutschland – bei aller Realpolitik, die natürlich verlangt, mit der Regierung zu verhandeln – muss beachten: Wir haben in Russland viel Schuld auf uns geladen, und wir sind dem russischen Volk und dem ukrainischen Volk verpflichtet, jeden Einsatz für Frieden in dieser Region zu leisten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, begrüße ich auf der Tribüne Seine Exzellenz Herrn Dr. Andrij Melnyk für die Botschaft der Ukraine. Herzlich willkommen! ({0}) Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist Dr. Ralf Stegner, den ich zu seiner ersten Rede hier im Hause begrüße. ({1})

Dr. Ralf Stegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn ich in dieser Woche nicht auf dem Juso-Gruppenfoto meiner Fraktion dabei sein durfte und auch nicht zur Senkung des Altersdurchschnitts in diesem Hause beitrage, ist es meine erste Rede als Mitglied des Deutschen Bundestages. Das ist für mich eine große Ehre – und dann geht es gleich um den Frieden in Europa. Neben der Coronakrise steht unsere Koalition vor einer ersten großen Bewährungsprobe. Der massive russische Militäraufmarsch an den ukrainischen Grenzen und die Spannungen in den letzten Wochen bedrohen den Frieden in einer Weise, wie es kaum einer von uns für möglich gehalten hätte. In dieser Situation kommt die neue Oppositionsfraktion mit einem Antrag daher, der mich dann doch wieder in die Juso-Zeiten zurückführt. Das, was Sie in Ihrem Papier zusammengeschrieben haben, werte Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist der Retrosound „Alle Wege führen nach Moskau“. Da passt es ins Bild, wenn der Kollege Ploß unsere Ministerpräsidentin Manuela Schwesig diffamiert, nur weil sie seine Meinung nicht teilt. Es fehlen eigentlich nur noch die „vaterlandslosen Gesellen“ in Ihrem Antrag. ({0}) Wenn oben auf Ihrem Antrag nicht „20. Wahlperiode“ stehen würde, Herr Oppositionsführer, könnte man meinen, das, was da steht, stamme aus Ihrer ersten Amtszeit. ({1}) Ich will einen Satz daraus zitieren, den Sie aber nicht an die Bundesregierung richten sollten, sondern an sich selbst. Denn: Nach Ihrem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, „ihren gefährlichen Schlingerkurs in der Russlandpolitik zu beenden“. Aber der bayerische Ministerpräsident hat sich ganz anders geäußert, als Sie das in Ihrem gemeinsamen Antrag von CDU und CSU hier eingebracht haben. Bei Herrn Söder ist es wahrscheinlich eine Frage der Uhrzeit, was gerade gilt, was seine Position angeht. Nun mag man Ihnen, lieber Kollege Wadephul, Ihre Rollenfindung zugutehalten. Aber wenn Sie gestern mit uns gegen Waffenlieferungen und heute für Waffenlieferungen sind: Wofür sind Sie dann eigentlich morgen? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wenn es um Krieg und Frieden geht, ist eine solche Schaukelpolitik gefährlich. ({2}) Zum Glück sitzen weder Herr Merz noch Herr Söder im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt, sondern Olaf Scholz und Annalena Baerbock, und das ist gut so. ({3}) Gute Außenpolitik braucht Verlässlichkeit, Disziplin und ein felsenfestes Wertefundament. Genau das haben der Bundeskanzler und Sie, Frau Außenministerin, in den letzten Wochen in Kiew, in Moskau, in Brüssel, in Washington vorzüglich bewiesen. Herzlichen Dank dafür. Übrigens: Der Bundeskanzler ist entschuldigt, weil er die baltischen Staaten gerade über seine Gespräche in Moskau informiert, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Einigkeit der Alliierten, Zurückhaltung bei der öffentlichen Kommunikation und Geduld für Diplomatie: Zur Professionalität gehört es übrigens auch, dass Diplomatie nicht in Interviews betrieben wird, sondern hinter verschlossenen Türen. Die Schachspieler unter Ihnen sollten wissen: Wer die nächsten fünf Züge vorher ankündigt, der verliert wahrscheinlich die Partie. Das ist nicht schlau – transparent ja, aber nicht schlau. ({5}) Bundeskanzler Scholz hat im Sinne einer wertebasierten und realitätsbezogenen Außen- und Sicherheitspolitik genau das Richtige gesagt: Für uns in Deutschland und Europa kann es nachhaltige Sicherheit nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland geben. – Entsprechend hat sich übrigens auch der französische Staatspräsident Macron geäußert. Im Koalitionsvertrag heißt es: Eine konsistente europäische Politik gegenüber Russland muss die unterschiedlichen Perzeptionen von Bedrohung einbeziehen. – Rolf Mützenich hat recht: Man muss die russischen Positionen nicht teilen, um diese Perspektiven nachvollziehen zu können. Natürlich haben sich die Verhältnisse gegenüber der Ostpolitik von Willy Brandt und Walter Scheel geändert. Was sich aber nicht geändert hat, sind Geschichte und Geografie. In den letzten Tagen war auch von den richtigen Lehren die Rede, die wir zu ziehen hätten. Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg angezettelt, halb Europa verwüstet und war verantwortlich für das monströse Verbrechen des Holocausts mit Millionen von Opfern in Polen, Russland, der Ukraine und in vielen anderen Ländern. Nach 1945 wurden wir wieder in die Völkerfamilie aufgenommen. Wir haben wie kein anderes Land vom Frieden in Europa profitiert. Natürlich müssen wir Verantwortung für Sicherheit und Frieden übernehmen; aber das kann doch nicht heißen, dass Deutschland ein Lieferant von Waffen in Krisengebiete wird, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Nein, Deutschland hat eine andere Rolle. Wir müssen mehr als jeder andere für Frieden kämpfen. Wir müssen mehr als jeder andere die Ukraine wirtschaftlich unterstützen. Wir müssen mehr als jeder andere vom Normandie-Format über die OSZE bis hin zu Minsk alles, aber auch wirklich alles dafür tun, dass die Diplomatie Erfolg hat. ({7}) Das heißt: Ausgleich berechtigter Interessen auf der Basis von Menschenrechten, Demokratie, Souveränität und territorialer Integrität der Staaten Europas. Die Bundesregierung handelt geeint und im Einklang mit unseren Verbündeten. Joe Biden hat bei der Pressekonferenz mit Olaf Scholz in Washington gesagt, dass es keinerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit der deutschen Bundesregierung gäbe. Was sagt der Oppositionsführer? Das zeige die Zweifel an der deutschen Bundesregierung. Ich bewundere Ihre dialektischen Fähigkeiten, Herr Kollege Merz. Ich will gar nicht wissen, was Sie gesagt hätten, wenn Herr Biden das nicht erwähnt hätte – wahrscheinlich das Gegenteil. ({8}) Es ist doch klar: Sollte es zu einer militärischen Eskalation kommen, müsste Russland einen hohen Preis zahlen. Dann würden die westlichen Alliierten gemeinsam, schnell, geeint und hart handeln. Aber bevor nichts mehr geht, heißt es für uns immer wieder: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“ Das hat übrigens ein kluger sozialdemokratischer Altkanzler gesagt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9}) Bundeskanzler Olaf Scholz hat in Moskau zur Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine betont, diese Frage stehe auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung. Es gehe darum, pragmatische Lösungen zu finden, die beide Seiten tragen können, ohne die Grundsätze aufzugeben. So hat es John F. Kennedy klugerweise in der Kuba-Krise gehalten. Das war die Logik der Ostpolitik, und das gilt auch heute, wenn es um Frieden und Krieg in Europa geht. Den Antrag der Union werden wir ablehnen. Ja, lieber Olaf Scholz, es ist unsere verdammte Pflicht, für den Frieden einzutreten. Oder wie es Ihr Amtsvorgänger Willy Brandt formuliert hat: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts.“ ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich möchte noch einmal kurz daran erinnern, dass wir um 11 Uhr den Wahlgang schließen. Sollte also noch jemand hier im Raum oder im Hause sein, der noch nicht gewählt hat, dann schnell. Nächster Redner für die AfD-Fraktion ist Dr. Alexander Gauland. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen wir uns einmal vor, wir schreiben das Jahr 2040, und Kanada hätte aus wirtschaftlichen Gründen eine Annäherung an China vollzogen und sei bereit, eine Militärkonvention abzuschließen und der chinesischen Flotte eine Basis auf Neufundland zur Verfügung zu stellen. Wären die USA noch eine Großmacht, würden sie die Monroedoktrin aufrufen und deutlich machen, dass eine fremde Macht auf dem amerikanischen Kontinent mit den Sicherheitsinteressen der USA unvereinbar ist. Wahrscheinlich würde China die USA darauf hinweisen, dass Kanada souverän und frei sei, die Wahl seiner Militärbündnisse selbst zu bestimmen, und China nur friedliche Absichten hege. Großen Eindruck würde dieses Argument in Amerika wohl kaum machen. Denn es ist das eine, nach dem Völkerrecht ein theoretisches Recht zu haben, und das andere, in einer Staatenordnung, wie sie nun einmal ist und auch bleiben wird, seinen Platz mit Klugheit zu behaupten. Auch wenn uns das ungerecht erscheint: Malta und China sind nun einmal nicht gleich an Gewicht und Macht. Daher ist es für Malta notwendiger als für China, seine Außenbeziehungen möglichst geschmeidig zu gestalten. Dazu gehört eben auch, mächtige Nachbarn nicht unnötig zu reizen. Die Ukraine ist für Russland kein x-beliebiges Land, sondern Teil einer gemeinsamen Vergangenheit, wurzelnd in einer gemeinsamen Identität. Auch geopolitisch ist Odessa in fremder oder gar feindlicher Hand für Russland nur schwer erträglich, ist es doch das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum. Es geht hier nicht um Werte oder Ideologie oder Regierungsform, sondern um Interessen. Es geht um Geopolitik. Das haben wir Deutschen leider verlernt. Deshalb wäre es klug, Lösungen zu finden, die für die Großmacht Russland annehmbar und für die Ukraine akzeptabel sind. Eine NATO-Mitgliedschaft dieses Landes ist es nicht, wohl aber ein wie auch immer garantierter neutraler Status, wie ihn in unterschiedlicher Weise Finnland und Österreich genießen. ({0}) Auch in der Außenpolitik kann manchmal ein Weniger ein Mehr sein und eine gesicherte Existenz zwischen den Fronten heilsamer als ein unendlicher Konflikt. Ja, die Ukraine hat das Recht, ihre Bündnisse frei zu wählen. Doch wie sie davon im Angesicht ihrer Nachbarn Gebrauch macht, entscheidet über Erfolg und Misserfolg des noch jungen Staatswesens. Deshalb sollte der Westen alles vermeiden, was diese Krise zum Instrument eines billigen Triumphes über Russland macht, und der Ukraine dringend abraten, geopolitisch Teil des Westens zu werden. ({1}) Auf Dauer ist eine europäische Friedensordnung nur mit Russland und niemals gegen seine Interessen zu verwirklichen. Den CDU/CSU-Antrag werden wir deshalb natürlich ablehnen. Beim Antrag der Linken werden wir uns enthalten; denn er enthält richtige Elemente. Ich bedanke mich. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 20 Jahren, am 8. Februar 2002, lief in der „Tagesschau“ folgende Meldung – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Präsident Putin lobt bei einem Treffen mit CDU-Chefin Merkel die guten deutsch-russischen Beziehungen. Für einen Beitritt Russlands zur NATO sei die Zeit aber noch nicht reif. Aus heutiger Sicht erscheint das alles so unfassbar weit weg, viel weiter weg als 20 Jahre. Denn in diesen Tagen müssen wir uns ernsthaft die Frage stellen, ob der gleiche Wladimir Putin kurz davor ist, einen Befehl zu einem militärischen Großangriff auf unsere Freunde in der Ukraine zu geben, einen Befehl, der viele Verletzte und Tote zur Folge hätte. Da wird das internationale Recht sehr schnell nicht theoretisch, sondern sehr konkret. Ein solcher Angriff wäre aber auch eine Attacke auf unsere gemeinsam vereinbarte Friedensordnung auf unserem gemeinsamen Kontinent. Wenn wir jetzt aber zurückschauen, was in diesen 20 Jahren passiert ist, dann gehört sicherlich auch die selbstkritische Frage dazu, ob nicht auch vonseiten der europäischen Staaten, der USA, der NATO Chancen versäumt und Fehler begangen wurden: War es immer richtig, wie wir auf russische Gesprächsangebote reagiert haben? Haben wir sie vielleicht manchmal zu früh abgetan? War es klug, dass Präsident Obama Russland als Regionalmacht verspottet hat? Und hat uns der Streit um die Raketenabwehr am Ende unterm Strich wirklich mehr Sicherheit gebracht? Aber, meine Damen und Herren, nichts davon rechtfertigt auch nur ansatzweise das, was wir in den letzten Jahren beobachten müssen: den Völkerrechtsbruch mit der Annexion der Krim, den Krieg in der Ostukraine und nun die Aufrüstung und Truppenkonzentration in Belarus, im Schwarzen Meer und an der Grenze der Ukraine. ({0}) So gehört für mich im Rückblick auch die Frage dazu, ob die alte Bundesregierung in den letzten Jahren nicht zu wenig klar und nicht konsequent genug war, als wir eigentlich schon lange erkennen konnten und mussten, dass Wladimir Putin eine Demokratie zu einer Autokratie umbaut, dass er nicht davor zurückschreckt, mutige Stimmen für die Freiheit mundtot zu machen, und seine Machtansprüche immer wieder eiskalt mit militärischen Mitteln durchsetzt. Diese Aggressionen des Kreml der letzten Jahre im Inneren und nach außen sind auch kein Ausdruck von Stärke, sondern sie stehen für eine Antwort der Angst – Angst vor Werten wie Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie und ihrer Strahlkraft. ({1}) Meine Damen und Herren, ich bin es auch wirklich leid, immer wieder von der „Ukraine-Krise“ zu lesen. Diese Krise ist nicht von der Ukraine mitverursacht. Sie ist auch nicht von der NATO ausgelöst, sondern sie ist das Ergebnis russischer Aggression. ({2}) Es ist der Versuch, mit Militär geopolitische Einflusssphären über die Köpfe unserer mittel- und osteuropäischen Partner hinweg durchzusetzen. Einer solchen Haltung, die die Rechte unserer Freunde mit Füßen tritt und unsere gemeinsame europäische Friedensordnung zerstört, werden wir uns gemeinsam entschieden entgegenstellen. Vor diesem Hintergrund wird unsere Solidarität mit der Ukraine nur noch größer, nehmen wir die Sorgen unserer mittel- und osteuropäischen Partner umso ernster. Daher ist es richtig, die Präsenz in Litauen zu verstärken und die wirtschaftliche, sicherheitspolitische Unterstützung für die Ukraine weiter auszubauen. Frau Ministerin, ich möchte Ihnen danken, dass Sie in dieser schwierigen Lage nicht nur beschlossen haben, das deutsche Personal in der OSZE-Mission zu belassen, sondern dass Sie jetzt sogar prüfen, es zu verstärken. Ich glaube, das ist ein wichtiges Zeichen. ({3}) Ich danke Ihnen und dem Bundeskanzler, dass Sie all diese Werte, all diese Überzeugungen und das internationale Recht mit Klarheit verteidigt haben auf Ihren Reisen, die zu Recht in Kiew und nicht in Moskau begannen, und in so vielen Gesprächen und Begegnungen mit unseren Verbündeten in Europa und über den Atlantik hinweg. Mit ebenso großer Klarheit lässt die Bundesregierung aber auch keinen Zweifel daran, dass eine weitere russische Aggression und ein erneuter militärischer Angriff auf die Ukraine mit sehr harten wirtschaftlichen und politischen Sanktionen beantwortet wird und dass dabei alles auf dem Tisch liegt – ja, auch Nord Stream 2. Der Kreml müsste und würde eine solche Attacke bitter bereuen. Meine Damen und Herren, diese Drohung steht nicht im Raum, um zu eskalieren, sondern sie steht im Raum, um die Gefahr abzuwenden und dafür zu sorgen, dass die Konflikte – und sie sind groß – mit Worten und nicht mit Waffen ausgetragen werden. Unsere Einigkeit und unsere Entschiedenheit sind unsere größten Stärken in dieser Auseinandersetzung. Einer der größten Gefallen, die wir Wladimir Putin tun könnten, wäre, sie zu zerreden und uns spalten zu lassen, und diesen Gefallen dürfen wir ihm nicht tun. ({4}) Leider können wir noch keine echte Entspannung der Lage beobachten; die Situation bleibt brandgefährlich. Es ist jetzt an Präsident Putin, glaubwürdige Belege für den angekündigten Truppenabzug zu liefern. Leider lesen wir ja heute von anderen Hinweisen. Aber wir nehmen auch sehr aufmerksam wahr, wenn er bei der Pressekonferenz mit Bundeskanzler Scholz ankündigt, über die Antworten und Kooperationsangebote, die die NATO für ein echtes Mehr an Sicherheit, für Transparenz, für Rüstungskontrolle gemacht hat, sprechen zu wollen. Dieser Gesprächsfaden wird ganz sicher nicht von unserer Seite abreißen. Meine Damen und Herren, in Russland leben über 144 Millionen Menschen, mit denen wir in guter Nachbarschaft leben wollen. Zu ihnen gehören aber auch die kritische Journalistin, die Nachfragen stellt und Korruption aufdeckt, der Bürger, der bei Unregelmäßigkeiten bei der Wahl auf die Straße geht, der Mitarbeiter der renommierten Menschenrechtsorganisation Memorial, die verboten wurde. ({5}) Wir wissen: Langfristige Sicherheit in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben, aber auf der Basis des Völkerrechts und der Menschenrechte. Es gäbe so viele wichtige Themen wie Klimaschutz, Rüstungskontrolle, globale Gesundheit, wo wir eigentlich zusammenarbeiten könnten und müssten. So weit unsere Hand zur Kooperation mit den Menschen in Russland ausgestreckt ist, so hart werden aber die Konsequenzen sein, wenn Präsident Putin unsere europäische Friedensordnung, unsere Freundinnen und Freunde in der Ukraine angreift und andere Staaten bedroht. Das ist unsere klare gemeinsame Botschaft: über den Atlantik hinweg und aus der Mitte Europas heraus. Vielen Dank. ({6})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer die Rede von der Gefahr des ersten heißen Krieges nach Ende des Kalten Krieges in Europa. Aber das ist falsch. Den ersten heißen Krieg führte die NATO gegen Serbien, und zwar auch noch völkerrechtswidrig. ({0}) Wir sind uns aber einig, dass es keinen zweiten heißen Krieg in Europa geben darf. Die Regierung verlässt sich gerne auf Informationen der US-Geheimdienste, ich mich nicht. ({1}) Ich erinnere daran: Der Grund für den Irakkrieg – laut US-Geheimdiensten und übrigens auch mithilfe des BND – bestand darin, zu sagen, dass der Irak unter Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Später wurde gesagt: Nö, die hatten keine. – Das heißt, die Begründung des Kriegs war unglaubwürdig und der Krieg damit völkerrechtswidrig. ({2}) Und jetzt haben die US-Geheimdienste gesagt, dass bis gestern russische Truppen in die Ukraine einmarschieren werden. Sie sind aber nicht einmarschiert. Ich glaube, mein Misstrauen ist berechtigter als Ihr fester Glaube an diese Geheimdienste. Sie werfen Russland eine Völkerrechtsverletzung durch die Annexion der Krim vor, und zwar zu Recht. Das stimmt. Deshalb gibt es ja auch tiefgreifende Sanktionen gegen Russland. Nur, die zwei von mir genannten Kriege, einmal von der NATO und einmal von einem wichtigen Mitglied der NATO, waren völkerrechtswidrig. In der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates vom 10. Juni 1999 – sie gilt heute noch – steht, dass das Kosovo eine hohe Autonomie benötigt, aber Bestandteil Serbiens bleiben muss. Dann hat die NATO gesagt: Das interessiert uns nicht, wir trennen das Kosovo ab. – Das NATO-Mitglied Türkei hat nicht nur seine Truppen nahe der Grenze Syriens aufgestellt, sondern ist völkerrechtswidrig einmarschiert. ({3}) Natürlich darf B nicht stehlen, weil A schon gestohlen hat. Aber wie kommen Sie darauf, dass A sich moralisch derart meilenweit über B stellen darf? Die NATO ist nicht der moralische Gott gegenüber Russland wegen einer Völkerrechtsverletzung, nachdem sie selbst oder Mitglieder der NATO vorher schon so oft das Völkerrecht verletzt haben. ({4}) Nur: Der Westen muss bei Völkerrechtsbruch keine Sanktionen fürchten, Russland schon. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Russland fordert einen Sicherheitsabstand, der den USA immer zugebilligt wird. Ich wiederhole: Niemals würden die USA schwerbewaffnete russische Soldaten auf Kuba und in Mexiko zulassen. Warum billigen Sie Putin keinen Sicherheitsabstand zu? Ich verstehe es nicht. ({5}) Putin steht auch unter Druck. Und wissen Sie auch, weshalb? Durch den Zerfall der Sowjetunion wurden 27 Millionen Russinnen und Russen von einem Tag auf den anderen zu Ausländerinnen und Ausländern. Von einer Mehrheit wurden sie zu einer Minderheit. Und ihnen werden keine gleichen Rechte und keine Chancengleichheit gewährt. ({6}) Das fängt schon an bei der Staatsbürgerschaft. Viele haben kein Wahlrecht, und die vorhergehende Regierung hat nicht einmal dafür gesorgt, die diplomatischen und anderen Beziehungen zu nutzen, um Chancengleichheit und Gleichberechtigung gerade für diese Russinnen und Russen herzustellen. Das werfe ich ihr vor, wie den anderen westlichen Regierungen auch. Sie sagen, Russland denke in alten Kategorien von Einflusssphären. Aber es war doch die NATO, die entgegen einem Versprechen von 1990 14 Staaten aus Ost- und Mitteleuropa aufnahm, also die eigene Einflusssphäre deutlich erweiterte. ({7}) Die NATO denkt in den alten Blockkategorien: Der Westen gegen Russland und China. Übrigens hat Russland nach Herstellung der deutschen Einheit über 100 000 Soldaten aus Deutschland abgezogen. Die Bundesregierung dagegen hat immer mehr Soldaten in andere Länder entsandt. Ich nenne beispielhaft nur Litauen, Mali, Kosovo. ({8}) Der US-Politologe John Mearsheimer sagt jetzt: „Die NATO hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.“ Natürlich kann jedes Land im Rahmen seiner Souveränität selbst entscheiden, ob es Mitglied der NATO werden will oder nicht; aber die NATO muss ja nicht jedes Land aufnehmen. ({9}) Die CDU-Forderung nach Geschlossenheit des Westens ignoriert die vorhandenen Interessengegensätze zwischen den USA und Europa. ({10}) Die USA und wenige europäische Staaten und auch die Grünen wollten ja nie Nord Stream 2. Und man darf die jetzige Situation nicht missbrauchen, um dieses Ziel auf anderem Wege zu erreichen. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin gleich fertig. – Übrigens frage ich mich, was die USA Nord Stream 2 angeht. Also, wir müssen weg von der Konfrontation, von Sanktionen, von Aufrüstung und Eskalation. Wir brauchen das Gegenteil. Europäische Sicherheit gibt es weder ohne noch gegen Russland. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ulrich Lechte hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der Diktatur zur Freiheit; sprich: wieder zur Sache. ({0}) Wir alle sind ja bestimmt sehr erleichtert über die letzten Entwicklungen in der Russlandkrise. Seit dem Besuch unseres Bundeskanzlers Scholz in Kiew und Moskau gibt es erste Zeichen der Entspannung. Die Krise ist damit zwar noch lange nicht vorbei, aber die Lage sieht doch weniger bedrohlich aus als noch vor wenigen Tagen. Der für gestern vorhergesagte Einmarsch hat Gott sei Dank nicht stattgefunden. Das zeigt aber auch, dass unser Kurs in der Russlandpolitik der richtige war. ({1}) Wir haben nämlich auf das richtige Verhältnis von Diplomatie und Abschreckung gesetzt. Wir haben gleichzeitig Gesprächsbereitschaft und Härte gezeigt. ({2}) Denn alle Optionen lagen und liegen auf dem Tisch. Und was am wichtigsten war: Wir haben gezeigt, dass wir als NATO-Verbündete zusammenstehen und uns nicht auseinandertreiben lassen; denn das war ja das Hauptziel von Putin. ({3}) Er wollte Zwietracht zwischen uns säen und sehen, wie weit er damit kommt. Aber wir haben ihm die Grenzen aufgezeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass seine Forderungen nach angeblichen Sicherheitsgarantien nichts mit Sicherheit zu tun haben, Herr Kollege Gysi, sondern völlig aus der Zeit gefallene Forderungen nach Einflusssphären sind, die mit unserer heutigen regelbasierten Weltordnung nicht vereinbar sind. ({4}) Putin – und offensichtlich auch die Ränder des Hauses – wünscht sich offenbar eine Zeit zurück, in der es noch die Sowjetunion gab und man von Moskau aus den Sowjetrepubliken die Politik diktieren konnte. Aber diese Zeiten sind vorbei. Herzlich willkommen im 21. Jahrhundert! ({5}) Es ist Russland und ausschließlich Russland, das seine eigenen Sicherheitsgarantien gegenüber der Ukraine gebrochen hat. Im Budapester Memorandum von 1994 hat sich Russland gegenüber der Ukraine völkerrechtlich verpflichtet, die Souveränität und die Grenzen der Ukraine zu achten. Mit der Annexion der Krim und der Intervention im Donbass hat Russland genau diese Verpflichtungen verletzt und das Völkerrecht gebrochen – Punktum, Feierabend. ({6}) Die Ausführungen von Putin am Dienstag dazu, er hätte einen Völkermord verhindern wollen, so wie die NATO damals einst im Kosovo, sind hanebüchener, geschichtsvergessener Unsinn. ({7}) Wir als Freie Demokraten sind Bundeskanzler Scholz dankbar, dass er diesen grotesken Aussagen von Putin sofort und unmissverständlich widersprochen hat. ({8}) Meine Damen und Herren, international stehen wir als NATO-Verbündete zusammen und haben Putin die Grenzen aufgezeigt. Diese Einigkeit besteht auch weitgehend innenpolitisch. Nur am rechten und linken Rand dieses Hohen Hauses gibt es ja bekanntlich ein paar viele Putin-Versteher. Das sieht man erneut an den Anträgen von AfD und Linken und auch am Klatschverhalten heute. Die AfD hat keine Ahnung von Völkerrecht, und Die Linke möchte die Schuld an der Russlandkrise der Ukraine und der NATO zuweisen, obwohl doch sonnenklar ist, dass russische Truppen in der Ukraine stehen und nicht umgekehrt. ({9}) Mit der CDU/CSU besteht eigentlich weitgehend Einigkeit über die Russlandpolitik, zumindest mit den Fachleuten. Kollege Hardt zum Beispiel ist da immer sehr eindeutig. Ich habe am Dienstag den Kollegen Merz, der immerhin Partei- und Fraktionsvorsitzender ist, so verstanden, dass die Außenpolitik für die Union eigentlich kein Angriffspunkt für die Oppositionsarbeit sei, weil die Ampel da sehr verantwortungsvoll agiert. Dieser Antrag, den Sie hier und heute vorlegen, ist offenbar vor dieser Aussage Ihres neuen Chefs entstanden. ({10}) Beim Titel „Russlands Politik mit der Geschlossenheit des Westens entgegentreten“ sind wir uns ja einig; haben wir genau gemacht. Aber wenn Sie der Bundesregierung einen gefährlichen Schlingerkurs vorwerfen, dann verlassen Sie selbst diese Geschlossenheit des Westens und der NATO ({11}) und fahren offenbar selbst einen Schlingerkurs; tut mir leid. Anscheinend müssen Sie sich auch hier grundlegend in der Opposition sortieren und finden. Aber jetzt seid ihr ja unter neuer Führung. Schauen wir mal; das wird dann schon.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kurzum: Wir werden alle drei Anträge heute ablehnen. Die Russlandpolitik der Ampel ist gut und richtig, und das haben die letzten Tage auch gezeigt. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Unionsfraktion erteile ich dem Kollegen Jürgen Hardt das Wort. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Redezeit nutzen, den einen oder anderen Aspekt anzusprechen, der in dieser Debatte vielleicht noch nicht so benannt worden ist. Ich fand es sehr bemerkenswert, zu sehen, wie der Kollege Uli Lechte für die FDP windig einen tiefen Tunnel gebuddelt hat, um zu sagen, warum die FDP unserem Antrag nicht zustimmen kann. Ich glaube, Sie würden sich nicht vertun, wenn Sie dem Antrag zustimmen würden; denn er ist eine gute Bestandsaufnahme unserer aktuellen Situation in Bezug auf Russland und ein wirklich konstruktiver Beitrag zur Auseinandersetzung. Deswegen glaube ich, dass das ein ausgezeichneter Antrag ist. ({0}) In dieser Debatte fehlt der Bundeskanzler. Er hat sich mit wichtigen außenpolitischen Terminen entschuldigt. Ich möchte an dieser Stelle dennoch darauf hinweisen, dass wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unsere Bundeskanzlerin immer dazu gebracht haben, dass sie vor wichtigen EU-Gipfeln, vor wichtigen außenpolitischen Entscheidungen hier vor dem Deutschen Bundestag oder zumindest vor dem Europaausschuss einen entsprechenden Bericht abgibt. Wir haben uns damit keine Freunde im Kanzleramt gemacht, weil das natürlich immer schwierig ist für diejenigen, die die Termine organisieren müssen; aber wir haben es immer hinbekommen. Ich kann Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, nur ermutigen, das auch bei Ihrem Kanzler einzuklagen. Wir hätten in dieser Woche mit Sicherheit einen Zeitpunkt gefunden, wo der deutsche Bundeskanzler im Bundestag über seine Russlandpolitik Rechenschaft ablegt. ({1}) Ich hätte zum Beispiel auch eine Frage zu Nord Stream 2. Das ist ja nun wirklich in den Augen vieler unserer mittel- und osteuropäischen Partner total wichtig. Der amerikanische Präsident hat in der Pressekonferenz mit Olaf Scholz in Washington gesagt: Wenn Russland in der Ukraine einmarschiert, werden wir das beenden. Ich hätte den deutschen Bundeskanzler gerne gefragt: War das „wir“ ein Ergebnis des Gesprächs? „Wir“: Olaf Scholz und ich; die beiden standen ja da. Dann hätte Olaf Scholz auch sagen können: „I agree with Joe“, und wir hätten gewusst, wo wir stehen. Oder war das „wir“ bezogen auf Amerika: „Wir, Amerika, werden das beenden“? Dann würde das auf einen Dissens zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten hinweisen. Das hätte ich zum Beispiel gerne gewusst. Allein die Frage bleibt jetzt unbeantwortet; jeder mag sich einen Reim darauf machen. Dann finde ich in dieser Debatte die 2 G sehr bemerkenswert: Gysi und Gauland, vereint an der Seite Russlands gegen den Rest des Hauses. ({2}) Ich möchte darauf hinweisen, dass wir hier im Deutschen Bundestag in der Opposition diametral unterschiedliche Auffassungen über die richtige Russlandpolitik haben und dass wir deshalb, so wie es mein Kollege Wadephul ja auch dargelegt hat, der deutschen Bundesregierung nur viel Erfolg und viel Kraft wünschen können, in dieser schwierigen Zeit für uns alle diese Kuh vom Eis zu holen und einen Beitrag zur Befriedung der Situation zu leisten. Dann möchte ich die Gelegenheit nutzen, noch mal auf die Wanderlegende einzugehen, die vielfach, gerade eben wieder von Herrn Gysi, vorgetragen wird, es hätte eine Zusage gegenüber Russland gegeben, die NATO würde sich nicht nach Osten erweitern. Ich bitte Sie jetzt mal, mit mir ein kleines Gedankenexperiment zu machen. Halten Sie es wirklich für plausibel, dass der Generalsekretär der KPdSU und Chef der Sowjetunion mit seinem Außenminister im September 1990 die Vertreter des Westens zur Seite nimmt und sagt: „Aber eins ist ja wohl klar: Wenn die Sowjetunion auseinanderbricht und einzelne ehemalige Sowjetrepubliken unabhängig werden, dann werdet ihr doch verhindern, dass die in die NATO kommen“? Ich halte das für so absurd, dass ein Generalsekretär der KPdSU zu diesem Zeitpunkt überhaupt an die Möglichkeit gedacht hätte, dass das eintreten könnte. Deswegen glaube ich schlicht nicht, dass das überhaupt Thema war. ({3}) Es ging um Ostdeutschland; aber es ging eben nicht um den Rest Mittel- und Osteuropas.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Hardt, würden Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion zulassen?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Ich möchte diesen Punkt weiterführen und fragen: Warum soll denn der KPdSU-Generalsekretär im November 1990 die Charta von Paris unterschreiben, wo explizit die freie Bündniswahl drinsteht? Warum soll ein Präsident beziehungsweise Ministerpräsident Putin bei jeweiligen Jahrestagen der feierlichen Unterzeichnung der Charta von Paris genau dieses Ergebnis gemeinsamer europäischer Friedenspolitik feiern, anstatt dort an dieser Stelle zu reklamieren, dass man eine andere Sicht hat? Das ist eine komplette Umdeutung der Realität, die einfach nur Sand in die Augen der Menschen streuen soll, die einen realistischen, kritischen Blick auf die Russlandpolitik haben, und den werden wir uns als Opposition bewahren. Ich kann uns nur alle auffordern, jeden Politiker in Deutschland, jeden Abgeordneten in Deutschland, dass wir uns diesen kritischen Blick bewahren, damit wir in Europa den Frieden bewahren und nicht ins Unglück reisen. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank. – Dem Kollegen Bystron gebe ich jetzt das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Kollege Hardt, Sie machen hier genau dasselbe, was gestern auch schon ntv gemacht hat: Sie stellen eine falsche Frage und geben sich dann auf diese falsche Frage eine richtige Antwort. 1990 ging es nicht darum, dass man der Sowjetunion versprochen hätte, die NATO keinen Zentimeter weiter auszudehnen. Der US-Außenminister Baker hat versprochen – es ging um uns, es ging um Deutschland, es ging um unsere deutsche Wiedervereinigung –, die Amerikaner haben den Russen versprochen: Die NATO wird sich nicht über die Grenzen Deutschlands ausweiten. – Dafür gibt es Zeugen, Professor Teltschik – das ist Ihr Parteifreund – und andere; es ist protokolliert. Also: Bitte leugnen Sie das nicht! ({0}) Die NATO hat seitdem 14 Staaten aufgenommen; das hat der Kollege Dr. Gysi hier richtig gesagt. Also: Bitte verdrehen Sie hier nicht die Geschichte! Danke. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Hardt zur Erwiderung.

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte darauf nur antworten, dass ich bei meiner Position bleibe und dass ich immer wieder in Diskussionen in der Öffentlichkeit mit diesem Argument konfrontiert werde. Und wenn ich dann sage: „Bitte schickt mir mal per E-Mail die Belege dafür, die angeblichen Videos, die Aussagen, die es gibt“, stelle ich nachher fest: Ich bekomme keinen Eingang. Es bleibt eine Wanderlegende. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herzlichen Dank. – Der Kollege Axel Schäfer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste in dieser Debatte an dem heutigen Tag ist, dass die sehr große Mehrheit in diesem Hause sich einig ist, dass wir alles tun müssen, um den Frieden in Europa zu erhalten, und dass wir das partnerschaftlich tun müssen, natürlich mit der Ukraine, natürlich auch mit Russland. Was der Bundespräsident am Sonntag bei seiner Wiederwahl in unüberbietbarer Klarheit ausgeführt hat, das wird von der großen Mehrheit dieses Hauses hier geteilt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Deshalb richte ich hier auch von meiner Seite noch mal den Dank an den Bundeskanzler, an die Bundesaußenministerin und an alle, die sich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten immer wieder engagiert haben. Das hat oft nicht vor Kameras stattgefunden und war nicht ständig sichtbar. Ich finde es schon fair, dass Sie, Kollege Wadephul und Kollege Hardt – wir haben auch schon sehr lange miteinander zu tun –, das ausdrücklich loben. Ich verstehe aber auf der anderen Seite die Intention dieses Antrages nicht, in dem es letztendlich darum geht, diese Politik zu diskreditieren, indem man von „Schlingerkurs“ spricht, obwohl wir uns hier als SPD, als Grüne und als FDP geradlinig und geschlossen verhalten haben. ({1}) Ich will aber auch einmal darlegen, worum es bei der Solidarität mit der Ukraine – der Botschafter ist ja anwesend – ganz konkret geht: Meine Stadt Bochum hat seit 30 Jahren eine Partnerschaft mit Donezk. Seit 30 Jahren kämpfen wir dafür, dass die Kinderklinik vor Ort mit Medikamenten und anderen Hilfen für leukämiekranke Kinder gut versorgt wird. Die Überlebenschancen der ganz Kleinen sind von nur 5 Prozent auf mittlerweile über 80 Prozent gestiegen. Das ist Solidarität, Partnerschaftlichkeit und zeigt vor allen Dingen langjährige Verlässlichkeit. Es blutet mir wirklich das Herz, zu sehen, dass es zurzeit durch die Situation, die Russland im Donbass zu verantworten hat, und auch aufgrund bürokratischer Schwierigkeiten in Kiew, fast unmöglich ist, das durchgehend fortzusetzen. Ich danke der Organisation „Dr. Lisa“ in Moskau ausdrücklich, die dabei behilflich ist, dass die Medikamente – die überlebensnotwendigen Medikamente – tatsächlich immer noch in Donezk ankommen. ({2}) Was Russland anbelangt: Es gibt nur Frieden in Europa mit Russland. Es gibt auf der anderen Seite eine Notwendigkeit des Zusammenspiels, die wir als Westen – das heißt konkret die Europäische Union, die NATO und als wichtiger Teil wir Deutsche – jetzt aufgezeigt haben. Sagen wir es einmal offen: Dieses Zusammenspiel ist jetzt viel stärker als zum Beispiel beim großen westlichen bzw. NATO- oder innereuropäischen Konflikt im Irakkrieg. Das ist doch ein wichtiger Fortschritt. Es war übrigens damals gut, dass wir als deutsche Bundesregierung, damals Rot-Grün, nicht gefolgt sind und uns nicht beteiligt haben. Das ist auch eine wichtige Erfahrung, auf die wir heute noch einmal hinweisen müssen; denn Geschichte und „Demokratie“ – das hat Kurt Schumacher gesagt – ist auch „eine Frage des guten Gedächtnisses“. ({3}) Was bedeutet das für die Praxis? Ich bin für das Russland-Monitoring im Europarat zuständig. Nein, ich vertrete Deutschland, die sozialdemokratische Fraktion, und meine Kollegin Ria Oomen-Ruijten vertritt die Niederlande, die Christdemokraten. Wir sind im Vorgehen ganz eng beieinander. Wir werden in Kürze wieder in Moskau sein, und wir werden dort natürlich mit der Regierung, mit dem Gerichtshof, mit Oppositionsgruppen, mit Journalistinnen und Journalisten reden und darauf beharren, dass die Dinge, die Russland in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Antidiskriminierung zugesagt hat, auch umgesetzt werden. Dafür stehen wir. Dafür ist es wichtig, dass wir als Deutsche in den europäischen Institutionen engagiert sind. Vieles läuft dort parteiübergreifend. Das ist unsere Linie. Die Linie des Antrags der CDU/CSU-Fraktion können wir nicht mittragen. Deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu seiner ersten Rede erteile ich dem Kollegen Eugen Schmidt das Wort. ({0})

Eugen Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005209, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Chotjat li russkie wojnyj? – Wollen die Russen Krieg? Das sind die Worte aus einem bekannten russischen Lied. Die Antwort ist einfach: Sicher nicht. Genauso wenig wie wir einen Krieg in Europa wollen. Und was möchte die Union? In ihrem Antrag spricht sie von einem Dialog mit Russland. Doch der Inhalt offenbart das Gegenteil. Was in dem Antrag steht? Wolkige Propaganda nach dem Motto „Böse Russen, guter Westen“. Russland wird die alleinige Verantwortung für die aktuellen Spannungen zugeschrieben. ({0}) Und? Steht ein russischer Angriff bevor? Gestern sollte doch schon wieder einer stattfinden. Aber: wieder nicht. Tatsächlich hat sich der Westen über Jahrzehnte arrogant über russische Sicherheitsinteressen hinweggesetzt. Der Westen wollte nicht einmal ernsthaft darüber sprechen. Ja, nun reagiert der russische Bär gereizt. Russland wird vorgeworfen, die Grenzen anderer Staaten zu missachten. ({1}) Das kann man so sehen. Auf der anderen Seite hat die NATO mit deutscher Beteiligung 1999 Serbien angegriffen. Sie erinnern sich: der erste Angriffskrieg, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von deutschem Boden ausging – ({2}) befohlen von einer rot-grünen Regierung. Damals, im Kosovokonflikt, wurde mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker argumentiert. Doch bei der Krim und im Donbass gilt dieser Grundsatz offenbar nicht. ({3}) Doppelmoral wird hier zum Markenzeichen der Union. Die Union stellt Nord Stream 2 infrage und somit unsere sichere Gasversorgung. Wiegen die Interessen der USA schwerer als die des deutschen Volkes? Es wäre verantwortungslos, Waffen in diese Region zu schicken. Der politische Ansatz von CDU und CSU widerspricht den nationalen und wirtschaftlichen Interessen unseres Landes. ({4}) Gute Beziehungen zu Russland sind für den Frieden und den Wohlstand auf unserem Kontinent unverzichtbar. Wir lehnen den Antrag der Unionsfraktion ab. Chotjat li russkie wojnyj? Njet. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Robin Wagener hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Robin Wagener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es ist doch eine groteske außenpolitische Fehlwahrnehmung, die ich bei Ihnen immer wieder beobachten muss, wenn Sie die Ukraine und die NATO für die außenpolitischen Aggressionen Russlands und die Truppenkonzentration verantwortlich machen wollen. Was glauben Sie eigentlich, wie Sie Ansprechpartner für Fragen von Dekolonialisierung und Antiimperialismus sein können, wenn Sie so vollkommen blind sind für die fortwährenden imperialen Aggressionen und fortwährenden Völkerrechtsverletzungen Russlands? ({0}) Am schlimmsten – und das wird in Ihrem Antrag deutlich – und am gefährlichsten für den aufrichtigen demokratischen Diskurs hier im Hause ist: Ihr Antrag formuliert gezielte Desinformation, wenn Sie schreiben, dass die Ukraine über 100 000 Soldaten und schwere Waffen an der Frontlinie im Donbass zusammenzieht. Das sind Informationen, die Sie vielleicht von Russia Today haben, aber nicht aus den Monitoringberichten der OSZE. Sie konstruieren den Vorwurf eines schwerwiegenden Bruchs des Minsker Abkommens, den es aufseiten der Ukraine in der Form nicht gibt. Ich frage mich, ob Sie eigentlich wissen, wessen Spiel Sie da spielen, wenn Sie das machen. Das zeigt, wie wichtig die objektiven Beobachtungen der OSZE vor Ort sind und welchen wichtigen Beitrag die OSZE zur Friedenssicherung leistet. Da schließe ich mich ausdrücklich dem Dank der Kollegin Brugger an die Außenministerin an. ({1}) Und: Liebe Linke, tun Sie sich noch einen weiteren Gefallen: Überwinden Sie endlich Ihre Obsession mit der NATO, und erkennen Sie die Tatsachen an! 2014 gab es keinen NATO-Maidan in der Ukraine; es gab einen Euromaidan. Die Menschen in der Ukraine sind auf die Straße gegangen, weil sie für Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingetreten sind und die Orientierung Richtung EU wollten. ({2}) Das ist es, was die Menschen wollten. Das ist es, wogegen der Kreml seit 2014 mit voller Härte vorgeht. Eine Integration der Ukraine in die NATO steht im Moment überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Es ist noch ein langer Weg dahin, aber wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, dann wird der Tag kommen, an dem die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine durch ukrainische Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten sind. Das ist und bleibt das Ziel, und daher wollen wir diesen Weg weiter beschreiten und an den Voraussetzungen arbeiten. Aber über dieses Ziel und diesen Weg wird nicht in Moskau entschieden, sondern in Kiew und in Brüssel und überall sonst in Europa. ({3}) Jetzt kommen wir zum Antrag der Unionsfraktion. Der Antrag zeigt eine starke euroatlantische Allianz, die wichtig ist in diesen Fragen, und er zeigt auch, dass wir in wesentlichen Grundzügen eine große Übereinstimmung in diesem Haus haben, was die Antwort auf die russische Aggression angeht. Erstens. Die Klarheit in Bezug auf Nord Stream 2, die Sie im Antrag formulieren, hätten wir uns auch schon in der letzten Legislaturperiode gewünscht, und die hätten wir uns auch von der früheren Bundeskanzlerin gewünscht. Dann wären manche Diskussionen vielleicht heute nicht so, wie sie sind. ({4}) Zweitens. Herr Wadephul, vielleicht erkundigen Sie sich auch mal bei den Menschen in der Ukraine und bei ukrainischen Militärs, wie dankbar sie dafür sind, dass die Bundesaußenministerin zu Besuch im Militärkrankenhaus war, wie dankbar sie dafür sind, dass mit deutscher Technik und mit deutscher Unterstützung verwundete Soldaten behandelt werden und dass wir ein neues mobiles Militärkrankenhaus dahin liefern, weil immer wieder – auch heute wieder – Krieg herrscht in der Ostukraine und immer wieder verwundete Soldaten behandelt werden müssen. Es ist grotesk, das nicht anzuerkennen. Da bin ich der Außenministerin sehr dankbar, dass sie mit ihrem Besuch in der Ostukraine ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht hat. ({5}) Das Hauptproblem des Antrags ist – und das ist ein Problem, das wir insgesamt im Diskurs haben –: In Ihrem Antrag wird die Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft erst an zehnter Stelle erwähnt. Wir reden über taktische Bataillone, Haubitzen, Panzerverbände, Artilleriestellungen, Iskander-Raketen, Blutkonserven und solche Dinge. Die außenpolitische Aggression des Kremls ist aber nur eine Facette der Machtsicherung des Apparats. Im Inland wird die Repressionsschraube immer enger gegen die demokratische Zivilgesellschaft angezogen. ({6}) Auch darauf müssen wir trotz der Ablenkung durch militärische Aggression weiterhin einen aufmerksamen Blick haben. Wir müssen den Blick darauf werfen, wenn die individuelle Repression stattfindet durch Mordanschläge, durch willkürliche Haft und Terrorlisten; und da ist Alexej Nawalny nur ein trauriges prominentes Beispiel. Wir müssen einen Blick haben auf die strukturelle Repression, wenn mit dem grotesken Vorwurf der ausländischen Agentenkennzeichnung wichtige Stimmen und Organisationen auf Dauer von der Bildfläche verschwinden sollen, was wir im Moment besonders deutlich bei Memorial sehen. Wir müssen den Blick darauf richten, wenn der Kreml die Deutsche Welle schließen lässt, nicht etwa wegen einer vermeintlichen Reaktion auf Dinge, die wir hier tun – was schon in medienrechtlicher Hinsicht Quatsch ist –, sondern weil jegliche unabhängige Berichterstattung in Russland unterdrückt werden soll, weil man das Feindbild über den Westen aufbauen will und die Deutsche Welle dabei stört. ({7}) Wir müssen den Blick darauf richten und klar benennen, dass der Kreml ein diktatorisches Regime in Belarus unterstützt, das 1 061 politische Gefangene zu verantworten hat und kommende Woche mit einem illegitimen Referendum eine Pseudoverfassung ändern und gegen den Willen der Bevölkerung die Herrschaft zementieren will. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Truppenaufmarsch schafft eine Diskursdominanz für den Kreml. Die Aggression richtet sich gegen die europäische Friedensordnung, und wesentlicher Teil dieser Friedensordnung ist das friedliche Zusammenleben der Völker. Den Zivilgesellschaften müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Sie und ihren Einsatz müssen wir unterstützen und damit eine neue strategische Widerstandsfähigkeit gegen Aggression und Autokratie entwickeln. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion ergreift jetzt Dr. Marcus Faber das Wort. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wladimir Putin hat seine modernsten Raketensysteme und Kampfflugzeuge nach Belarus verlegt. Die beiden Staaten führen dort derzeit das größte gemeinsame Manöver seit dem Zerfall der Sowjetunion durch. Knapp 150 000 russische Soldaten wurden an der ukrainischen Grenze konzentriert. Panzerlandungsboote warten im Schwarzen Meer auf ihren Auftrag. 140 Kriegsschiffe der Russischen Föderation werden jetzt ihre Übungen im östlichen Mittelmeer, in der Nordsee und in anderen Regionen antreten. Das alles ist viel, aber nicht deeskalierend. Die Situation ist sehr ernst, und so müssen wir sie auch behandeln. Ich habe die Hoffnung, dass wir hier zu einer geschlossenen Position kommen können, wenn wir uns auf zwei Prämissen einigen. Die erste ist: Frieden ist besser als Krieg. Die zweite ist: Demokratie ist besser als Diktatur. Wenn wir uns darauf einigen können, habe ich die Hoffnung, dass wir uns auch darüber einig sind, dass wir nicht neutral sein können, wenn eine Diktatur ihrer benachbarten Demokratie mit Krieg droht. Wir haben eine moralische Verpflichtung für den Frieden in Europa, für Stabilität in Europa, und wir haben auch eine moralische Verpflichtung, Demokratien in unserer Region zu unterstützen, meine Damen und Herren. ({0}) Die Lage ist leider ernst. Das ist nicht neu. Wir haben 2008 erlebt, wie das Regime Putin in Georgien einmarschiert ist. Wir haben 2014 erlebt, wie das Regime Putin die Krim besetzt und einen dauerhaften Konflikt in der Ostukraine provoziert hat. Da ist es natürlich klar, dass wir den Aggressor auch jetzt ernst nehmen müssen, dass die Ukrainer das tun, dass auch die baltischen Staaten, unsere Bündnispartner, das tun. Wir haben als größte Volkswirtschaft im Zentrum Europas die Verantwortung, das auch zu tun und unseren Beitrag zu leisten für Frieden und Stabilität in Europa. Wir haben dazu drei Möglichkeiten. Wir haben drei Mittel, die wir einsetzen müssen: Erstens. Wir müssen diplomatische Mittel nutzen, um zu deeskalieren. Deswegen bin ich dem Bundeskanzler und der Bundesaußenministerin sehr dankbar, dass sie diese Mission in den letzten Tagen umgesetzt und ernst genommen haben. Ich denke, da können wir den beiden als gesamtes Haus dankbar sein. ({1}) Zweitens. Wir müssen die wirtschaftliche Dimension nutzen. Wir haben auf der einen Seite die Möglichkeit, die Ukraine zu unterstützen. Wer investiert denn in einem Land, das permanent von Krieg bedroht wird? Es ist ja gerade das Kalkül von Putin, hier wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand zu verhindern. Diese Dimension müssen wir nutzen. Wir müssen aber auch gegenüber Russland die Sanktionen klar benennen, damit wir sie nicht anwenden müssen, weil es nicht zu einer Invasion kommt. Ein drittes Mittel kommt hinzu – mein Vorredner hat es schon erwähnt –: Alle Optionen müssen auf dem Tisch liegen. Das heißt auch, wer den Frieden in Europa bricht, indem er einen Krieg vom Zaun bricht, der zerstört die Grundlage für die Friedensordnung, der zerstört die Grundlage für die NATO-Russland-Grundakte. Das ist die ernste Situation, in der wir sind. Deswegen finde ich es gut, dass die Unionsfraktion heute diesen TOP aufgesetzt hat. Ich bin allerdings nicht ganz so glücklich über die Anträge, die ich hier von der Opposition sehe. Von der Linkspartei bekommen wir viel Folklore und Russland-Verständnis; das ist nicht ganz neu. Die Allianz mit der AfD ist neu, und das ist eine interessante Beobachtung. Dass Sie kleineren Ländern die Souveränität absprechen, ist zwar auch nicht neu, aber das finde ich wirklich einfach verantwortungslos. ({2}) Was mich allerdings wirklich überrascht hat, ist der Unionsantrag. Die Überschrift ist toll: „Geschlossenheit des Westens“; da sind wir alle beieinander. Aber Ihr mehrseitiger Forderungskatalog ist im Wesentlichen eine Auflistung der Versäumnisse, die Sie acht Jahre lang in der Regierungsverantwortung aufgetürmt haben – acht Jahre lang, seit der Invasion auf der Krim. Deswegen lege ich Ihnen nahe, sich zuerst mit Ihrem eigenen Forderungskatalog zu beschäftigen, uns dann Ihr Ergebnis mitzuteilen und danach vielleicht diese Regierung, die noch keine 100 Tage im Amt ist, zu kritisieren. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Johannes Huber das Wort.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitbürger! Eure Exzellenz! Aus der Geschichte lernen bedeutet, die Geschichte anzuerkennen. Als jemand, der den Eisernen Vorhang aktiv miterlebt hat, fühlt sich der russische Präsident Putin durch die NATO-Osterweiterung entgegen mündlicher Absprachen betrogen. Aber Putin muss anerkennen, dass die Mitgliedstaaten nach 1997 dem Bündnis aus freier Selbstbestimmung beigetreten sind und der Warschauer Pakt nicht mehr existiert. Wenn Putin in seinen Vertragsentwürfen über Sicherheitsgarantien faktisch ein Ende der NATO fordert und die Stationierung jeglicher ausländischer Truppen in den 14 neuen Mitgliedstaaten untersagt, dann ist eine solche Garantie unrealistisch und nicht im deutschen Interesse. Anders verhält es sich bei der Forderung, eine weitere Ausweitung der NATO auf Georgien und die Ukraine zu unterbinden. Dem Ersuchen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, den bis heute anhaltenden Bürgerkrieg in der Ostukraine mit einem NATO-Beitritt zu lösen, muss das Bündnis verbindlich eine Absage erteilen. Es liegt weder im deutschen noch im eurasischen Interesse, die NATO als Konfliktpartei in den ukrainischen Bürgerkrieg mit anderen – Stellvertreterkonfliktpartei: Russland – hineinzuziehen. Das wäre die Auslösung eines Flächenbrandes, den viele Bürger als dritten Weltkrieg befürchten. Angesichts einer militärischen Niederlage der Ukraine im Falle einer russischen Invasion liegt es auch im ukrainischen Interesse, am Minsker Abkommen festzuhalten und das Normandie-Format auszubauen. Friedliche Verhandlungen ohne angelsächsische Beteiligung haben 2015 die ukrainische Armee vor einem Zusammenbruch gerettet. Wenn Kiew heute einen Krieg verhindern und obendrauf die vollständige Kontrolle über die Staatsgrenze wiedererhalten möchte, dann muss Selenskyj Punkt neun aus dem Minsker Abkommen umsetzen und mit den Vertretern der Oblaste Donezk und Luhansk regionale Wahlen und eine Verfassungsreform abstimmen. Von dieser Entscheidung über Dialog oder Konfrontation hängt ab, ob ganz Europa das Risiko eines Flächenbrandes eingeht oder nicht. Vielen Dank.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nina Scheer spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze ist eine Bedrohung für die Sicherheit und den Frieden in Europa. Insofern bin ich der Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz, dankbar für die in den letzten Tagen erreichten Zeichen der Entspannung. Dies zeigt, dass es sich bewährt, auf Diplomatie zu setzen und sich nicht zu eskalierenden Schritten antreiben zu lassen. Das sage ich auch ausdrücklich in Richtung CDU/CSU. Herr Wadephul, es ist nicht auszumalen, wie sich die Lage entwickelt hätte, wenn etwa dem Ruf nach Waffenlieferungen nachgegeben worden wäre. ({0}) Jenseits der akuten Bedrohung – ich betone: jenseits –, die von den militärischen Aufmärschen Russlands ausgeht, gilt es, eine Betrachtung objektiver Sicherheitsinteressen aller Beteiligten im Kontext völkerrechtlicher Gegebenheiten in den Blick zu nehmen, natürlich auf der Seite der Ukraine, der EU und der USA, aber eben auch auf russischer Seite. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau klargestellt hat, ist es für unsere Generation „unsere verdammte Pflicht und Aufgabe“ – „verdammt“ wurde vielleicht aus dem Protokoll gestrichen, aber ich fand den Begriff griffig –, dass Krieg in Europa verhindert wird. ({1}) In diesem Sinne möchte ich aber auch noch auf eine weitere Bedrohungslage eingehen, die innerhalb dieses aktuellen Konflikts spürbar wird, aber auch über den Konflikt hinausgeht. Es ist eine sicherheitspolitische Aufgabe, die weltweite Abhängigkeit von fossilen Energieressourcen – dazu gehört übrigens auch Uran – durch den schnellstmöglichen Umstieg auf erneuerbare Energien zu überwinden. Im Falle einer militärischen Eskalation könnte ebendiese Abhängigkeit zu einer existenziellen Gefahr durch Energieversorgungsnöte führen. Neben den bekannten Klimafolgeschäden geht es hierbei um explodierende Energiepreise; diese würden die heutigen Preissprünge um ein Vielfaches übersteigen. ({2}) Knapp 55 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammen aus Russland. Aber zum Beispiel auch die USA beziehen Öl aus Russland. Neben aktuellen Maßnahmen zur Vorhaltung gefüllter Gasspeicher und einer künftigen Gewährleistung entsprechender Füllstände ist es richtig und wichtig, eine strategische Reserve in staatlicher Gewähr zu schaffen. Denn Energieversorgung ist Daseinsvorsorge und darf weder zum Spekulationsobjekt noch zum Erpressungsinstrument werden. Auch wenn Russland zu jedem Zeitpunkt, selbst im Kalten Krieg, geschlossene Lieferverträge eingehalten hat, müssen wir uns Folgendes vor Augen führen: Diese 55 Prozent unserer Abhängigkeit können kurzfristig – kurzfristig ist durchaus über Jahresspannen zu betrachten – nicht ersetzt werden, auch nicht durch LNG-Lieferungen. Bereits jetzt führt die weltmarktgetriebene Entwicklung der Energiepreise zu ökonomischen und sozialen Härten. Auf diese reagieren wir: Wir haben Heizkostenzuschüsse beschlossen, und auch eine Absenkung der EEG-Umlage ist derzeit in Prüfung. Die Maßnahmen verdeutlichen aber auch, dass sie nur in akuten Ausnahmefällen und zur Abfederung geleistet werden können. Um Energiesicherheit zu gewährleisten, brauchen wir den beschleunigten und systemischen Umstieg auf erneuerbare Energien, und zwar schnell, verknüpft mit Speichern, darunter auch für Wasserstoff. ({3}) Dies ist ein sicherheits- wie friedenspolitischer Auftrag, übrigens auch für einen kontinental-europäischen Verbund. Dass die Bezahlbarkeit von Energie nur durch erneuerbare Energien zu garantieren ist, haben wir letztes Wochenende gesehen. Am Sonntag wurden 95 Prozent des Strombedarfs über erneuerbare Energien gedeckt, und das hat sich auch auf die Börsenstrompreise ausgewirkt. Wir waren billig wie selten bis nie. In Frankreich war dies übrigens aufgrund des Anteils von Atomstrom dort nicht der Fall. ({4}) Die Ampelkoalition hat sich die Energiewende zum Ziel gesetzt und arbeitet unter Hochdruck daran. Ich schließe mit den Worten: Friedenspolitik ist auch Energiewendepolitik. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Reinhard Brandl hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Zeiten des Warschauer Pakts war die Ukraine immer wirtschaftlich stärker als ihr Nachbar Polen. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts ging es für Polen steil nach oben. Polen hat seine Wirtschaftskraft in der Zeit fast verzehnfacht, während sich die Ukraine nur auf einem niedrigen Niveau langsam nach oben entwickelt hat. Dieser Vergleich zeigt die wahre Bedrohung von Putins Russland. Wenn die Ukraine einen ähnlichen Weg nehmen würde wie Polen ihn genommen hat, dann könnte er in seinem Land die Geschichte der Überlegenheit des russischen Systems nicht mehr erzählen. Er will deswegen um jeden Preis die Annäherung der Ukraine an Europa verhindern. Aber das allein reicht ihm nicht. Mit dem Truppenaufzug, den wir im Moment an der Grenze zur Ukraine sehen, will er vor allem die NATO und Europa spalten. Das ist sein strategisches Ziel. Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht vor allem auch um uns, und das muss uns bewusst sein. Mit der konkreten Ankündigung eines Krieges will er uns zwingen, unsere eigenen Werte zu verraten und ihm das Recht zuzugestehen, über andere Länder zu bestimmen und zu herrschen. Er hat jetzt an der Grenze alles zusammengezogen, was er dafür braucht, und er wird damit spielen, monatelang, jahrelang. Wir haben es doch jetzt gerade in diesen Tagen erlebt. Am Wochenende lässt er einen Einmarsch für Mittwoch planen und erhöht damit massiv den Druck. Am Mittwoch lässt er den Druck wieder raus, indem er ankündigt, Truppen zurückzuziehen. Er wird dieses Spiel weiterspielen. Wenn er sieht, dass wir unter diesem Druck auseinanderbrechen, dann wird er den Druck erhöhen, immer weiter. Nur wenn er sieht, dass mehr Druck nur teurer für ihn wird, dann wird er ablassen. Deswegen ist die strategische und große Herausforderung für uns – so ist es auch in unserem Antrag formuliert –, dass wir dem Druck entgegenwirken, dass wir uns nicht spalten lassen und im Bündnis entschlossen und geschlossen wirken. Meine Damen und Herren, ich finde es ausdrücklich gut, dass Bundeskanzler Scholz in Kiew, in Moskau und in Washington war. Aber ich hätte es auch sehr gut gefunden, wenn er heute hier im Deutschen Bundestag seine Politik erklärt hätte und die Zweifel an der Geschlossenheit und der Entschlossenheit der deutschen Bündnistreue mit erklärt hätte. Denn es stehen natürlich Fragen im Raum: Wie hält es die neue Bundesregierung mit dem 2‑Prozent-Ziel der NATO?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Brandl, Sie haben die anderen Fragen wahrscheinlich noch im Kopf. Ich muss Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage von Herrn Bystron zulassen möchten.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde sie nicht zulassen und ihn bitten, nachher eine Kurzintervention zu machen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Darum kann Herr Bystron bitten, und ich kann überlegen, ob ich es zulasse oder nicht. – Aber jetzt sprechen erst mal Sie weiter.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann machen wir das so. – Ich war bei Olaf Scholz. Er hätte nämlich Fragen klären müssen. Er hätte Fragen klären sollen, die im Raum stehen: Wie hält es die Bundesregierung mit dem 2-Prozent-Ziel der NATO? Wie hält es die aktuelle Bundesregierung mit Nord Stream 2? Wie hält es die aktuelle Bundesregierung mit dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine? Indem er diesen Fragen kontinuierlich ausweicht, sät er Zweifel im Bündnis und nimmt unserem Beitrag die Glaubwürdigkeit. Unsere Partner erwarten von uns natürlich mehr als 5 000 Helme. Ich war auch dagegen, dass man der Ukraine Waffen liefert. Um es an diesem konkreten Beispiel klarzumachen: Das hätte man dann aber auch klar benennen sollen und hätte nicht das Bundesverteidigungsministerium prüfen lassen dürfen, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass wir gar nicht mehr liefern können. Das macht uns unglaubwürdig. Das ist auch falsch, schadet der Bundeswehr und bedient genau das Narrativ der fehlenden Entschlossenheit und Glaubwürdigkeit Deutschlands. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hätte heute hier auch die Chance nutzen müssen, sich von seinem unseligen Amtsvorgänger Gerhard Schröder zu distanzieren. ({0}) Gerhard Schröder wird aus Russland bezahlt. Er ist eine schwere Belastung für die Diplomatie Deutschlands. Ich würde mir wünschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie, dass Sie bei den Haushaltsverhandlungen unserem Antrag folgen und die Mittel für das Büro von Gerhard Schröder hier in diesem Haus streichen. ({1}) Sie müssen sich um ihn keine Sorgen machen. Er bekommt genügend Geld aus Russland. Er ist gut versorgt. Er braucht den deutschen Steuerzahler nicht. Für Sie wäre es aber eine Chance, Haltung zu zeigen, ({2}) und für Deutschland wäre es eine Chance für politische Hygiene. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstes gebe ich das Wort dem Kollegen Adis Ahmetovic für die SPD-Fraktion zu seiner ersten Rede hier im Haus. ({0})

Adis Ahmetovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005005, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist mir eine große Ehre, heute hier und jetzt vor Ihnen zu stehen und als junger Abgeordneter zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zu sprechen. Das Thema aber, zu dem ich heute meine erste Rede halten darf, ist ein sehr besorgniserregendes und sehr bedrohliches. Die Gefahr eines Krieges auf europäischem Boden ist so groß wie seit den 90er-Jahren nicht mehr. Mehrere Generationen in der EU und in weiten Teilen Europas sind mit der Abwesenheit von Krieg aufgewachsen. Frieden ist für sie etwas Selbstverständliches – auch wenn wir immer wieder davon ausgehen mussten, dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen kann. Das sehen wir gerade im aktuellen Ukraine-Konflikt. Diese immer größer werdende Gefahr eines militärischen Konflikts nehmen die Menschen unseres Landes wahr. Täglich bekommen wir viele Zuschriften. Die Menschen fordern uns auf, für Stabilität und Frieden zu sorgen. Und das, meine Damen und Herren, dürfen die Menschen auch zu Recht erwarten. Eine liberale Demokratie, wie sie die Bundesrepublik Deutschland ist, wie sie sie lebt und auch ausfüllt, hat den Auftrag, unbeirrbar für Frieden und Stabilität in Europa zu sorgen. ({0}) Wir müssen jeden diplomatischen Schritt bis zum Letzten ausreizen und die Türen für die friedliche Beendigung dieses Konfliktes bis zum Schluss offenhalten, ohne dass wir unsere Werte aufgeben. ({1}) Keine Seite wird aus diesem Konflikt als Gewinner hervorgehen. Deshalb wollen wir keinen Krieg, sondern Frieden mit Diplomatie. ({2}) Auch wenn der Weg der Diplomatie oft steinig ist und von einigen gar als Zeichen der Schwäche, Nachgiebigkeit oder Nachsichtigkeit gegenüber Russland verstanden wird: In diesem Fall ist die Diplomatie der einzig richtige Weg und ein klares Signal für Mut und Entschlossenheit. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Hass und jede Form von Gewalt ausgehend von Autokratien und Diktaturen niemals, aber auch wirklich niemals stärker sein werden als die Kraft der Demokratie und das Zusammenspiel aller demokratischen Staaten in Europa. ({3}) Um es aber mit aller Deutlichkeit zu sagen, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Sollte es durch Russland eine neue militärische Aggression gegen die Ukraine geben, die ihre territoriale Integrität und Souveränität weiter untergräbt, muss Russland mit harten Sanktionen und Reaktionen rechnen, die wir gemeinsam und geschlossen mit unseren Verbündeten in Europa und in der NATO umgehend verabschieden werden. ({4}) Ich bin dankbar, dass wir über diese akute Bedrohungslage heute wieder im Parlament sprechen. Ich bin mir sicher, dass wir uns alle einig sind, was das Ziel angeht: Wir wollen keinen Krieg in der Ukraine, wir wollen Frieden in ganz Europa. Anders aber als die Oppositionsparteien wählen wir als Regierungsfraktionen einen anderen Weg. Wir reagieren nicht mit Gegenaggressionen auf Aggressionen oder stellen uns parteiisch auf die Seite Russlands. Wir kommen nämlich nur dann einen Schritt voran, wenn sich alle Verhandlungspartner auf Augenhöhe begegnen. Ich bin froh, dass wir einen Kanzler wie Olaf Scholz haben und eine Außenministerin wie Annalena Baerbock, die in den vergangenen Tagen und Wochen einmal mehr bewiesen haben, was Besonnenheit und Ruhe bewirken können in der internationalen Politik. Dieser Erfolg der letzten Tage ist ein Erfolg von Annalena Baerbock und von Olaf Scholz, meine Damen und Herren. ({5}) Beide haben ganz klar dem Dialog und der Diplomatie eine neue, positive Qualität verliehen. Sie haben gezeigt, dass es auch noch auszuschöpfendes Potenzial gibt: Einhaltung und vollständige Umsetzung des Minsk‑II-Abkommens, Rüstungskontrolle zwischen der NATO und Russland, vereinbarte kontinuierliche Dialoge im NATO-Russland-Rat sowie im Normandie-Format und auch zivilgesellschaftliche Lösungen wie eine Visaliberalisierung für junge Russinnen und Russen, um den Austausch zwischen Ost und West voranzutreiben. Was wir für die Zukunft brauchen – daran müssen wir in den nächsten Jahren aktiv und intensiv arbeiten, meine Damen und Herren –, ist eine gemeinsame Sicherheitsstruktur und ‑architektur, bei der wir Russland nicht ausschließen. Wenn wir jetzt mit unseren diplomatischen Bemühungen scheitern, wird die steigende Anspannung zu einem Dominoeffekt führen und zu einem Brandbeschleuniger für andere Konflikte in Europa werden, wie zum Beispiel auf dem Balkan. Herr Gysi, ich schätze Sie eigentlich, bin aber fassungslos über Ihre Ausführungen. Ich würde Sie gerne einmal in den westlichen Balkan mitnehmen, ob nach Kroatien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina. Lassen Sie uns schauen, was zwischen 1991 und 1999 dort passiert ist. Über 200 000 Tote hat der Jugoslawien-Krieg gefordert. Hätte man 1999 nicht agiert, hätte es eine Fortsetzung des Mordens gegeben. Deswegen war das eine richtige Entscheidung; das hat Olaf Scholz in Moskau auch klargemacht. ({6}) Zum Schluss möchte ich klar betonen – Frau Präsidentin, ich weiß, meine Redezeit ist zu Ende –: Wenn es zu Grenzverschiebungen in der Ukraine, in Montenegro oder in Bosnien und Herzegowina oder anderswo in Europa kommen sollte, werden wir das nicht hinnehmen. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam vereint die Stärke und Strahlkraft dieses Parlamentes nutzen, um den Frieden und die Freiheit in Europa zu verteidigen. Es schlägt die Stunde der Diplomatie und Friedenspolitik. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank, Herr Ahmetovic. Diese Gelassenheit hinsichtlich der Ausweitung der Redezeit gibt es nur bei der ersten Rede hier, aber das ahnen Sie sicher schon bzw. das hat Ihnen Ihre Fraktion schon mitgeteilt. Frau von Storch, Sie bitte ich herzlich, zu Ihrem Schutz und dem der anderen die Maske richtig zu tragen. – Danke schön. Ich schließe die Aussprache.

Not found (Minister:in)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Zuhörende! Wir sind mit der Plenardebatte zum Internationen Frauentag einerseits früh dran; denn er ist erst in 19 Tagen. Und das Motto am 8. März lautet: „Each for Equal“, jede und jeder für Gleichberechtigung. Andererseits frage ich mich natürlich, warum wir so spät dran sind, warum Frauen nach mehr als einhundert Jahren Frauentag noch immer nicht gleichberechtigt und gleichgestellt sind ({0}) und warum wir vielmehr erst einen Tag vorher, am 7. März, den Equal Pay Day haben, mit dem wir darauf aufmerksam machen, dass Frauen 2022 weltweit statistisch 65 Tage umsonst arbeiten müssen, weil sie im Schnitt 19 Prozent niedrigere Stundenlöhne haben als Männer. In Deutschland stehen wir mit 18 Prozent nicht viel besser da. Das Weltwirtschaftsforum hat vorgerechnet, dass wir Gleichstellung erst in 135 Jahren erreichen, wenn wir in diesem Tempo weitermachen. Und wir wollen nicht so weitermachen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ministerin, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau von Storch zulassen?

Not found (Minister:in)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte sehr. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie ist auch sehr kurz. – Ich würde gerne von Ihnen wissen, weil Sie gerade gesagt haben, die Gleichberechtigung der Frauen sei nicht erreicht: Welche Rechte – Rechte! – haben Frauen in Deutschland nicht, die Männer haben? Ganz konkret: Welches Recht haben wir nicht, das die Männer haben? Ich meine nicht die Gleichstellung, sondern die Gleichberechtigung. ({0})

Not found (Minister:in)

Sehr geehrte Abgeordnete, ich bin ja eben in meiner Rede bereits darauf eingegangen, und ich möchte das im weiteren Verlauf meiner Rede gerne noch weiter ausführen. Meines Erachtens sollte jede Frau in der Bundesrepublik das Recht haben auf gleiche Bezahlung mit den Männern. Das heißt: Für gleiche Arbeit muss es gleiche Bezahlung geben. Dieses Recht ist in der Bundesrepublik nach wie vor nicht verwirklicht. Genau daran müssen wir weiter arbeiten. ({0}) Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete und liebe Zuhörende, sollten wir so nicht weitermachen. Wir sollten nicht weiter unter unseren Möglichkeiten bleiben; denn noch nie hatten wir eine besser ausgebildete Frauengeneration als heute: gebildet, qualifiziert und hochmotiviert. Wir sollten dafür sorgen, dass diese Frauengeneration sich genauso einbringen kann wie die Männer. ({1}) Bleiben wir also als Land nicht weiter unter unseren ökonomischen, unter unseren kreativen und unter unseren politischen Möglichkeiten, sondern schöpfen wir unser Potenzial aus – jede und jeder nach Talent und Zeit, Frauen und Männer auf Augenhöhe, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob mit oder ohne Behinderung. Das ist mein Verständnis von Intersektionalität und Feminismus. Das ist es – auf den Punkt gebracht – doch, was Gleichberechtigung und Gleichstellung bedeuten. ({2}) Dazu gehört selbstverständlich, dass Frauen zur Hälfte an allen relevanten Entscheidungen beteiligt werden und dass sie genauso viel Einkommen erzielen können wie Männer. Darum bringen wir mehr Frauen in Führungspositionen. Darum werden wir das Entgelttransparenzgesetz überarbeiten. Darum werden wir auch Familien unterstützen, unbezahlte Arbeit im Haushalt, mit Kindern und in der Pflege partnerschaftlich auf mehreren Schultern zu verteilen. Darum werden wir auch den Kampf gegen Armut von Frauen, insbesondere gegen Altersarmut, in dieser Gesellschaft aufnehmen. ({3}) Diese Themen wollen wir auch in Europa setzen, damit auch Europa nicht unter seinen Möglichkeiten bleibt. ({4}) Wir beenden die Blockade bei der Führungspositionenrichtlinie. Wir werden die Lohntransparenzrichtlinie aktiv unterstützen. Und wenn die Kommission demnächst eine europäische Strategie für Pflege und Betreuung vorlegt, dann sind wir gut vorbereitet; denn Gleichberechtigung macht Europa stark. Es ist übrigens kein Zufall, dass es Autokraten sind, die das Rad zurückdrehen wollen. In demokratischen, in starken und in gleichberechtigten Gesellschaften hätten sie keine Chance. ({5}) Wir in Deutschland haben den Gleichstellungscheck vereinbart, dem sich alle Vorhaben unterziehen müssen. So haben wir gute Chancen, dass Gesetze dazu beitragen, die Potenziale von Frauen und Männern gleichermaßen zu heben und ihren Bedürfnissen gleichermaßen gerecht zu werden. ({6}) Aber lassen Sie mich den Blick auf ein nach wie vor großes Problem in unserer Gesellschaft lenken. Das ist die alltägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft, Gewalt, die Frauen in ihren Grundrechten auf Leben, Freiheit und Gesundheit massiv beschränkt und die gesellschaftliche Teilhabe verhindert. Es macht fassungslos, dass in Deutschland an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird. Aber es macht uns nicht tatenlos; denn wir wollen das Hilfesystem verbessern und das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern und einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen. ({7}) Meine Damen und Herren, liebe Zuhörende, es ist allerhöchste Zeit für Gleichstellung, und ich werde als Frauenministerin dafür kämpfen, dass Deutschland nicht unter seinen Möglichkeiten bleibt. Aber getreu dem Motto, dass wir jede und jeden brauchen: Keine Frauenministerin, kein Frauenministerium schafft das alleine. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch all jenen danken, die sich tagtäglich hier in diesem Hohen Hause, aber auch in der ganzen Bundesrepublik für Frauenrechte und für Gleichberechtigung starkmachen. Denn nur zusammen werden wir dieses Ziel erreichen. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Mareike Lotte Wulf hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion und zu ihrer ersten Rede. ({0})

Mareike Lotte Wulf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005263, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich erst einmal sehr, dass das Präsidium sich entschieden hat, diese Debatte auf den Geburtstag von Rita Süssmuth zu legen, der ich an dieser Stelle ganz herzlich gratulieren möchte. Sie hat viel für Frauen in diesem Land getan und war sicherlich für viele Frauen Vorbild. ({0}) Liebe Frau Ministerin, vielen Dank für Ihre Rede. Ich muss Ihnen sagen: Bei vielen Themen stimmen wir überein. Bei vielen Themen hätte ich mir aber auch ein bisschen mehr als wohlwollende Appelle und Ankündigungen gewünscht, ein bisschen mehr Konkretes; das haben die Frauen in diesem Land verdient, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Ein bisschen mehr Konkretes, weil wir ganz konkret darauf schauen müssen: Wie geht es Frauen in diesem Land in dieser Zeit? Ich möchte sagen: Corona ist eine Krise der Frauen. Frauen schultern im Gesundheitswesen eine Hauptlast der Pandemie. Frauen haben im Lockdown die Versorgung von Kindern und die Arbeit im Homeoffice übernommen. Sie sind und sie waren in Grundschulen und in den Kitas dem Virus besonders ausgesetzt. Und das ist nicht nur ein Anlass, Danke zu sagen. Das ist ein Anlass, mal ganz konkret hinzuschauen: Wie geht es Frauen in diesen Berufen bzw. in den sogenannten Frauenberufen? Ich finde, im Bereich Pflege hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Der eine oder andere wird vielleicht sagen: Nicht genug. – Aber es gibt einen Bereich, nämlich den Mangelberuf der Erzieherin, in dem wir uns in diesem Land aus meiner Sicht unhaltbare Zustände leisten. In diesem Beruf sind 90 Prozent Frauen tätig. Ich glaube, es gibt keine deutsche Stadt oder Gemeinde, die nicht händeringend nach Erzieherinnen sucht. Aber wir bilden hier weiterhin vollschulisch aus. Das heißt am Ende nichts anderes, als dass wir Heerscharen von unbezahlten Praktikantinnen in den Kitas als billige Aushilfskräfte haben. Einige von denen – ich kenne einige von ihnen – arbeiten dann am Wochenende im Supermarkt, um sich ihre Ausbildung leisten zu können. Und deshalb wird es endlich Zeit, die Erzieherausbildung und die Sozialassistentenausbildung flächendeckend zu vergüten. Frau Spiegel, Sie haben da eine Initiative angekündigt. Aber wir werden Sie an den Ergebnissen messen ({2}) und sehen, ob am Ende der Bund die Länder zielgerichtet darin unterstützt, hier eine tarifliche Bezahlung zu gewährleisten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Coronakrise ist eine Krise der Frauen; denn Arbeitsplätze von Frauen sind betroffen, und sie sind auch gefährdet – anders als in anderen Krisen. Die Coronakrise hat einen zehnjährigen Aufbau von Arbeitsplätzen abrupt beendet. Und von diesem Aufbau von Arbeitsplätzen haben insbesondere die Frauen in diesem Land profitiert; denn ihr Beschäftigungsgrad ist kontinuierlich angestiegen. Von Corona sind erstmalig nicht nur die Bereiche der Industrie betroffen, sondern auch die Bereiche der Dienstleistungen, in denen Frauen vornehmlich tätig sind, zum Beispiel der Handel, die Touristik, die Messewirtschaft, die Gastronomie, die Friseure, aber auch der gesamte Bereich der Freizeit. Und während sich die Industrie mittlerweile langsam wieder erholt, sahen und sehen sich die Dienstleistungen weiterhin Beschränkungen ausgesetzt. Wenn wir im Herbst eine erneute Coronawelle bekommen, dann werden das auch die Bereiche sein, die als Erstes wieder reguliert werden. Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, finde ich, muss man solche sozialen Maßnahmen wie die Erhöhung des Mindestlohns eben relativ sehen, wenn es um Frauen geht. Zur Wahrheit gehört auch dazu, dass Frauen von einer guten Konjunktur und von besser bezahlten Jobs am meisten profitieren. Deshalb werden wir Sie, diese Regierung, daran messen, wie schnell Sie Beschäftigung für Frauen wieder aufbauen, wie schnell Sie gute, hochwertige, sozialversicherungspflichtige Jobs, gerne auch tariflich vergütete Jobs, für Frauen schaffen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Coronakrise ist eine Krise der Frauen. Denn ein sehr schweres Kapitel ist der Anstieg der sexualisierten Gewalt gegen Kinder, vornehmlich gegen viele Mädchen. Im Jahr 2020, also im Jahr des Lockdowns, ist die Verbreitung und der Konsum von Missbrauchsabbildungen oder, besser gesagt, Abbildungen sexualisierter Folter gegen Kinder um mehr als 50 Prozent gestiegen. Und wo Abbildungen sind, da sind auch Taten. Ich glaube, wir müssen alle rechtsstaatlichen Mittel nutzen, um diese Zustände zu bekämpfen. Lassen Sie mich sagen: Vor diesem Hintergrund ist die gezielte Vorratsdatenspeicherung ein wirklich wichtiges Mittel. Es ist fahrlässig, sich dem zu verweigern. ({4}) Deshalb, liebe Frau Spiegel, machen Sie nicht nur eine Kampfansage gegen Kinderarmut. Machen Sie nicht nur eine Kampfansage gegen Einsamkeit im Alter, wie Sie es eben gemacht haben. Machen Sie auch eine Kampfansage gegen Kindesmissbrauch! Überzeugen Sie Ihren Kollegen Herrn Buschmann, die sexualisierte Folter von Kindern im Netz zu bekämpfen und die Vorratsdatenspeicherung zur Missbrauchsbekämpfung möglich zu machen. ({5}) Die Kinder in diesem Land werden es Ihnen danken. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einstehen und gemeinsam für die Rechte von Frauen mutig eintreten! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ariane Fäscher hat auch zu ihrer ersten Rede hier im Haus jetzt das Wort. ({0})

Ariane Fäscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frauen! Liebe Kinder! Liebe Menschen! „Break the Bias!“, brechen wir die Voreingenommenheit! So lautet das Motto des diesjährigen Internationalen Frauentages. Er fußt auf dem Kampf der Frauen für ihr Wahlrecht. Die Feministin Clara Zetkin forderte damals keine Sonderrechte, sondern Menschenrechte für Frauen. Das war 1908. Und heute? Wie 1908! Wir fordern die Hälfte des Geldes. Wir fordern die Hälfte der Macht. Noch immer sitzen in deutschen Vorständen mehr Männer mit dem Namen „Thomas“ als Frauen. ({0}) Noch immer verdienen Frauen ungefähr 20 Prozent weniger als Männer. Mit dem Mindestlohn werden wir ab Oktober endlich einen entscheidenden Schritt weiterkommen, dieses Verhältnis anzugleichen, und auch Altersarmut wirksam bekämpfen können. ({1}) Wir Frauen wollen euch, liebe Männer, liebe Kollegen, aber gar keine Rechte wegnehmen. Wir wollen nur umgekehrt, dass Männlichsein nicht mehr automatisch privilegiert ist. Was wir, liebe Mitstreiter/-innen, hingegen nicht unterschätzen dürfen, das ist die gefühlte Bedrohung, die davon ausgeht, 50 Prozent der Macht abzugeben. Macht sichert Kontrolle und Überlegenheit. Das Gegenteil von Macht ist Ohnmacht, und ihr häufigstes Gegenmittel ist Gewalt. Daher durchzieht Gewalt, die oft struktureller Natur ist, in unendlich vielen Spielarten die allermeisten Frauenleben von Kindheit an: sexueller Missbrauch, weibliche Genitalverstümmelung, diskriminierende Sprache, die Frauen zum Objekt macht, Stalking, verschiedenste Formen sexueller Gewalt bis hin zum Mord. In der Pandemie wurde mehr als jede zehnte Frau von ihrem Partner bedroht, geschlagen und vergewaltigt. Die Zahlen korrelieren mit den Finanzsorgen, Ängsten und Depressionen ihrer Männer. Frauen mit Behinderung sind noch zwei- bis dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als andere Frauen. Und hier geht es nicht um Lust. Es geht um Dominanz. ({2}) Alle zwei bis drei Tage – Frau Spiegel hat das bereits erwähnt – wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Richter nennen das meistens eine „Beziehungstat“ und verurteilen deswegen maximal wegen Totschlag. Feministinnen hingegen nennen es Femizid. ({3}) Aber was können wir tun? Strafrecht kann das Problem nicht lösen. Denn egal welche Strafe ein Täter bekommt: Das Opfer hat bereits „lebenslänglich“. Im Koalitionsvertrag haben wir nach der Istanbul-Konvention den Anspruch auf Schutz für jede Frau formuliert. Das ist richtig und gut. Allerdings stehen den empfohlenen 21 400 Plätzen in Frauenhäusern heute faktisch nur 6 800 existierende Plätze gegenüber. Unsere Strategie besteht also momentan wesentlich darin, Hilfestrukturen für Opfer auszubauen. Aber das ist der gleiche, unglaublich teure und oftmals leider nur sehr begrenzt funktionierende Reparaturbetrieb, den wir uns im Gesundheitswesen, im Strafvollzug und in der Jugendhilfe leisten. Der beste Opferschutz ist daher Prävention. Sorgen wir dafür, dass niemand mehr aus Hilflosigkeit oder aus Angst zum Täter werden muss. Das erreichen wir durch niedrigschwellige Gesprächs- und Therapieangebote, die dabei helfen, die eigene Ohnmacht in gestaltende Kraft zu übersetzen, und durch ein Männerbild, das die Auseinandersetzung mit Ängsten und Gefühlen als Stärke und nicht als Schwäche interpretiert. ({4}) Begleiten wir zudem die Kinder ab der Kita beim gesunden Großwerden auch emotional, indem wir Psychologen und Sozialpädagogen fest in pädagogischen Teams verankern und diese die Nöte der Kinder auch als die Nöte der Familien betrachten und daran arbeiten. ({5}) Eine talentorientierte Bildung würde Menschen zudem ihre Stärken entwickeln lassen, damit sie sich selbstwirksam, fähig und zukunftsfest fühlen können. Das würde auch die gesellschaftliche Resilienz erhöhen und Menschen weniger anfällig für Angst, Verschwörungsmythen, Hass und Gewalt machen. Albert Einstein sagte: Man kann ein Problem nicht aus dem Geist heraus lösen, der es geschaffen hat. – Deswegen ist es Zeit für eine weiblichere Weltsicht. Es ist Zeit, auch hier mehr Fortschritt zu wagen. ({6}) Es ist Zeit für Liebe und Empathie als Kernkompetenzen für eine menschlichere Welt ohne Gewalt. Es ist Zeit für neue Geschlechterrollen. Ich bin für Frauen, die alles können dürfen, und für Männer, die nicht alles können müssen. Ich bin für Menschen, die einfach einzigartig anders sein dürfen. Denn Frauenrechte sind Menschenrechte. Break the Bias! ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Fäscher und Frau Wulf, wenn „Präsident“ – was dort, warum auch immer, in der männlichen Form immer noch steht – aufleuchtet, dann bedeutet das im Grundsatz, dass Sie Ihre Redezeit schon eine Weile überschritten haben. Das geht beim ersten Mal; aber bei den nächsten Malen werden wir als Präsidium strenger. Jetzt hat das Wort die Kollegin Mariana Harder-Kühnel für die AfD-Fraktion. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Als vor 111 Jahren der Weltfrauentag eingeführt wurde, ging es Frauen noch um die echten Frauenrechte, nämlich den guten und richtigen Kampf für die Gleichberechtigung und für die Freiheit der Frau. Heute werden vor allem Phantomdebatten geführt. Da geht es um die gendergerechte Verhunzung der deutschen Sprache oder immer wieder über das leidige Thema Frauenquote. Ein Blick auf die Regierungsbank reicht, um zu sehen, welche Folge diese Quote hat: ({0}) Eine Außenministerin, die von feministischer Außenpolitik schwadroniert. ({1}) Was bitte soll das sein, Frau Baerbock? Wollen Sie Tampons über Teheran abwerfen? ({2}) Eine Familienministerin, die die Familie abschaffen und durch eine Verantwortungsgemeinschaft ersetzen will. ({3}) Künftig wird es möglich sein, dass ein Kind einen Vater und drei Mütter hat. Damit wird die für Frauen katastrophale islamische Vielehe in Deutschland de facto legalisiert. ({4}) Unfassbar, Frau Spiegel! ({5}) Sie alle haben eines gemeinsam: Sie machen Frauen da zu Opfern, wo sie gar keine sind, und sie schweigen dröhnend laut dort, wo Frauen zunehmend zu Opfern werden. ({6}) Genderunsinn und Queer-Beauftragte werden eben nicht den über 100 000 Frauen helfen, die Opfer häuslicher Gewalt sind. Und sie werden ebenso wenig den Frauen helfen, die von Zwangsverheiratung, Ehrenmorden und sexuellen Übergriffen bedroht werden. All das passiert aber im angeblich besten Deutschland, das es je gab. Durch Ihr politisch korrektes kultursensibles Schweigen machen Sie sich mitschuldig – mitschuldig daran, dass die über Jahrhunderte hart erkämpften Rechte und Freiheiten der Frauen verloren gehen. ({7}) Deshalb ist es erforderlich, eine ganz neue Debatte über Frauenrechte zu führen; aber die muss verdammt noch mal ehrlich sein. Frauenrechte zu stärken, ist aktuell wichtiger denn je. Aber dabei geht es eben nicht um Genderwahn oder darum, wie man seine Eltern politisch korrekt benennt, sondern es geht darum, dass wir Frauen uns im Deutschland des 21. Jahrhunderts die Freiheit zurückerkämpfen müssen, angstfrei und ohne männliche Begleitung nachts auf die Straße gehen zu können. Es geht um die Freiheit, sich seinen Ehemann selber aussuchen zu dürfen, ihn nicht mit x anderen Frauen teilen zu müssen, oder darum, schon als Kind nicht zwangsverheiratet zu werden. Es geht um die Freiheit, sich als Frau und Mutter auch für drei Kinder und mehr entscheiden zu können, ohne sich dem Risiko von Altersarmut auszusetzen oder sich von kinderlosen Grüninnen als CO2-produzierendes Heimchen am Herd beschimpfen zu lassen. ({8}) Vor allem geht es um null Toleranz – null Toleranz bei der zunehmenden Gewalt gegen Frauen, ({9}) egal ob es sich um sexuelle oder häusliche Gewalt, um Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung oder Kinderehen handelt. ({10}) Aber statt sich um diese echten Probleme zu kümmern, wollen Sie eine Art neues Matriarchat einführen, ein Matriarchat, das so kultursensibel, so woke, so voller Selbsthass ist, dass es archaischen Kulturen aus der ganzen Welt die Tore öffnet. ({11}) Wundern Sie sich aber nicht, wenn Ihr Matriarchat plötzlich in einem Patriarchat ganz neuer Qualität aufwacht. Dies wird allerdings nicht so bunt und woke sein, sondern vermutlich burkaschwarz. ({12}) Daher mein Appell an Sie: Erinnern Sie sich an die Anfänge des Weltfrauentages, an den guten und richtigen Kampf echter Frauenkämpferinnen und an die Erfolge dieses Kampfes: Freiheit, Gleichberechtigung, Schutz vor Gewalt. – Massenmigration aus archaischen Kulturkreisen und der Kampf für diese Rechte sind schlicht inkompatibel. ({13}) Also beenden Sie die Massenmigration! Beenden Sie Ihren konstruierten Kampf der Geschlechter! Lassen Sie Leistung und Qualifikation entscheiden, keine Quote! Dann – und nur dann – werden Sie der einzigen Aufgabe gerecht, die Sie in diesem Hause haben, ({14}) nämlich dem Wohl des deutschen Volkes zu dienen, und zwar des ganzen Volkes: der Frauen wie der Männer. Vielen Dank. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

In einem Zwischenruf aus der AfD-Fraktion sind Mitglieder der Bundesversammlung – welche auch immer – diffamiert worden. Ich rate Ihnen, Herr Chrupalla – wenn ich das richtig gehört habe –, über diese Diffamierung noch mal nachzudenken. ({0}) Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Nicole Bauer für die FDP-Fraktion. ({1})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind unserer Zeit voraus, wenn wir bereits heute über den Internationalen Frauentag am 8. März sprechen. Unserer Zeit voraus! ({0}) Ich wünschte, ich könnte das auch über die gelebte, echte Gleichberechtigung in Deutschland sagen. Aber das ist leider durch 16 Jahre unionsgeprägter Regierung und trotz einer Kanzlerin nicht möglich, meine Damen und Herren. ({1}) Doch Dinge ändern sich zum Glück, und so auch die Regierungskonstellation in unserem Land. In unserem Koalitionsvertrag haben wir eine klare Ausrichtung auf eine moderne Gesellschaftspolitik. Als Ampel setzen wir die Segel neu in Richtung Aufbruch, ({2}) in Richtung Modernisierung. Wir verstehen uns als eine echte Fortschrittskoalition. ({3}) Wir wollen Veränderung, und wir machen progressive Politik, damit die Menschen in allen Lebenslagen – egal welchen Geschlechts – faire Verwirklichungschancen haben; denn darauf kommt es an, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir werden Menschen, insbesondere Frauen, im digitalen Raum und in der realen Welt stärker vor Gewalt schützen; denn nur ein gewaltfreies Leben ist die Grundlage für eine freie Entfaltung. Dafür wollen wir die Istanbul-Konvention vorbehaltlos umsetzen. ({4}) Es ist nur die Spitze des Eisberges, dass an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird – hier in Deutschland, mitten in unserer Gesellschaft. Alle 45 Minuten muss die Polizei wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Und wem das schon viel erscheint, dem möchte ich zurufen: Nein, es fängt viel früher an. Es fängt bei der respektvollen Begegnung auf Augenhöhe an, ohne sexistische Kommentare und Belästigungen. Leider müssen wir selbst hier im Parlament immer wieder erleben, ({5}) dass Respekt nicht für alle eine Selbstverständlichkeit ist. Das sage ich explizit in Richtung Ihrer Fraktion von der AfD. ({6}) Ihr Frauenbild – das haben Sie eben gezeigt – ist rückwärtsgewandt und alles andere als das, was Frauen wollen oder Frauen brauchen. ({7}) Sie brauchen nämlich die Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können, sich nach den eigenen Vorstellungen entwickeln zu können. Es geht der Frau darum, ob sie im sozialen Bereich eine Pflegekraft oder Ärztin sein will, eine Firma gründen oder an künstlicher Intelligenz forschen möchte, ob sie dabei aufsteigen und Führungsverantwortung übernehmen will, wie sie das mit ihrem Familienleben vereinbaren und mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin aufteilen möchte, und schließlich darum, ob sie überhaupt Kinder will. Im Ausnahmefall einer ungewollten Schwangerschaft muss das auch bedeuten, dass Frauen und Paare einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu seriösen Informationen aus medizinischer Hand haben. Und genau deshalb streichen wir § 219a. ({8}) Verantwortungsvolle und mündige Entscheidungen kann eine Frau nur dann treffen, wenn wir ihr es auch zutrauen. Also trauen wir den Frauen in unserem Land mehr zu! Schaffen wir faire Chancen für eine unabhängig vom Geschlecht gelebte Gleichberechtigung, für individuelle Verwirklichung, für ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben, für finanzielle Unabhängigkeit, für die Möglichkeit, in der Zukunft mitzugestalten. Schaffen wir faire Chancen für gelebte Gleichberechtigung! ({9}) Dies ist eine Debatte zum Weltfrauentag. Aber doch wissen wir längst, dass es dazu auch Männer braucht, die erkennen, was sie dabei gewinnen können. Artikel 3 Grundgesetz ist ein ständiger Auftrag. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Weltfrauentag. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Heidi Reichinnek das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidi Reichinnek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich sehr gerne an die Wurzeln des Internationalen Frauentages. Er entstand nämlich auf Initiative sozialistischer Feministinnen – ich finde, das kann man hier durchaus erwähnen –, ({0}) und zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg, mit dem Ziel, für Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frauen zu kämpfen. Über 100 Jahre also – mit Unterbrechung in der Zeit des Faschismus – begehen wir in Deutschland in Ost und West den Frauentag. Ich finde, das ist eine gute Gelegenheit, zu schauen, was wir erreicht haben. ({1}) Fakt ist, dass nur 35 Prozent der Mitglieder dieses Hauses Frauen sind. Fakt ist, dass 40 Prozent aller Mädchen und Frauen in Deutschland über 16 Jahre körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben. Fakt ist, dass Frauen immer noch durchschnittlich 18 Prozent weniger als Männer verdienen, Frauen mit Migrationshintergrund sogar noch mal 20 Prozent weniger als herkunftsdeutsche Frauen. Ja, es gibt 18 Prozent Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen. Ich weiß, die Ersten hier verspüren den Drang, zu rufen: Ja, das ist aber nur so, weil sie unterschiedliche Jobs machen. Wenn das der gleiche ist, ist das ganz anders. Und Frauen entscheiden sich nun mal für schlechter bezahlte Jobs. – Wirklich? Ist das eine angemessene Reaktion? Wir können uns doch nicht damit zufrieden geben, dass Frauenberufe eben schlechter bezahlt sind und direkt in die Altersarmut führen. ({2}) Frau Ministerin Spiegel, Sie sagen, Sie nehmen den Kampf auf. Aber ich frage mich: Wie denn? Es wird zwar an Feiertagen darüber geredet, aber seit Jahrzehnten ändert sich an der Situation kaum etwas. Die strukturelle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bleibt. Warum ist das eigentlich so? Sorge-, Pflege-, Haus- und Erziehungsarbeit wird in Berufen geleistet, ohne die eine Gesellschaft niemals funktionieren kann und in denen traditionell Frauen überrepräsentiert sind, weil es angeblich typische Frauenberufe sind. Kümmern ist eben eine weibliche Aufgabe, sagen vor allem viele Männer gern. Am liebsten würde man dieses Kümmern, diese Fürsorge zur reinen Privatangelegenheit – also von Frauen natürlich – erklären, statt sie als gesellschaftliche Aufgabe anzuerkennen. Und dieses Kümmern ist dann auch angeblich keine Leistung, sondern liegt den Frauen halt im Blut; entsprechend sieht es bei der Vergütung von Berufen in diesen Bereichen aus. Der neuen Bundesregierung ist das genauso bekannt wie der alten. Vielleicht tun Sie auch mal etwas dagegen. Ich fände das super. Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, ist meine Hoffnung allerdings gering. Umso wichtiger ist, dass Verdi in den nächsten Tagen in die Tarifkämpfe im Bereich Sozial- und Erziehungsdienst einsteigen wird. ({3}) Ich war viele Jahre in der Jugendhilfe tätig. Soweit ich weiß, gilt das für recht wenige hier im Haus; hier sind wenige aus dem sozialen Bereich vertreten. Daher möchte ich die einmalige Chance nutzen, meinen Kolleginnen für die Tarifverhandlungen viel Kraft und Erfolg zu wünschen und ihnen an dieser Stelle für ihre Leistung zu danken. ({4}) Ob im Kindergarten, im Jugendtreff, in der Schulsozialarbeit – überall, wo ihr euch kümmert, leistet ihr Unglaubliches, liebe Kolleginnen, und dieses Kümmern ist keine einfache Arbeit: wenn ihr vor Erschöpfung kaum noch aufrecht stehen könnt, weil in der Kita Personalmangel herrscht, eure Überstunden sich stapeln, ihr aber eine gute Betreuung für alle Kinder wollt, wenn ihr in den frühesten Morgenstunden und bis tief in die Nacht für die Menschen da seid, weil ihr unbedingt noch der Schülerin helfen wollt, die Angst hat, am nächsten Tag in die Schule zu gehen, und wenn ihr keinen Schlaf findet, weil ihr den Gedanken nicht verdrängen könnt, dass eine der Familien, die ihr betreut, vielleicht aus der Wohnung geworfen wird. Und das sind keine fiktiven Beispiele. Liebe Kolleginnen, ihr verdient mehr Geld und Anerkennung sowie bessere Arbeitsbedingungen. Es braucht endlich politische Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel. ({5}) Euer Kampf ist auch ein feministischer Kampf, ein Kampf um die Anerkennung und Wertschätzung von Sorge, Pflege und Erziehungsarbeit. Das sind die zentralen Kampffelder, nicht irgendwelche Genderdebatten, die Sie hier immer wieder aufziehen wollen. ({6}) Ihr kämpft nicht nur für euch, liebe Kolleginnen, sondern stellvertretend für eine solidarische, gerechte und gleiche Gesellschaft. Ja, wir führen diese feministischen Kämpfe seit Jahrzehnten. Ich bin es auch leid und hätte hier lieber eine Festrede gehalten, aber dafür gibt es noch viel zu viel zu tun. Trotzdem schließe ich gern mit etwas Positivem: Dass die Bedeutung des 8. März und der damit verbundenen Kämpfe im rot-rot-grün regierten Berlin durch die Einführung eines Feiertages gestärkt wurde, ist ein wichtiges Zeichen, und auch, dass das rot-rot regierte Mecklenburg-Vorpommern das Gleiche plant. Links wirkt! Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr bietet uns der Internationale Frauentag eine Chance, nämlich die, ehrlich auf die Lage von Frauen zu schauen und daraus politisches Handeln abzuleiten. Als Grüne sind wir in der Koalition mit SPD und FDP angetreten, genau dies zu tun: handeln und dem Stillstand in puncto Gleichstellung, der viel zu lange geherrscht hat, ein Ende bereiten. Dass der Aufbruch der Ampelkoalition auch ein feministischer ist, haben sehr viele in unserem Land aufatmend begrüßt. Mit einer engagierten Feministin als Frauenministerin ({0}) und mit einer Außenministerin, die aktiv ein Zeichen mit feministischer Außenpolitik setzt, wird klar: Auch das Empowerment von Frauen und Menschenrechte stehen im Mittelpunkt. Das ist ein positives Zeichen für die Frauen auch in unserem Land. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört auch, dass die Coronasituation aktuell negativ auf die Geschlechtergerechtigkeit wirkt. Die strukturelle Ungleichheit führt laut einer neuen Studie des WSI dazu, dass es gerade die Frauen sind, die ihre Arbeitszeit reduzieren und Homeschooling und Kinderbetreuung auf sich nehmen. Anfang dieses Jahres hat jede fünfte Mutter ihre Arbeitszeit wegen der pandemischen Lage reduziert. Das ist alarmierend. Den Müttern gehen massiv die Kräfte aus. Und es geht nicht, Frauen weiter still und mit unentgeltlicher Leistung auszulagern. Wir müssen Frauen jetzt entlasten. Wir brauchen mehr als nur Kinderkrankentage; die alleine helfen nicht. Was hilft, ist die Stärkung von flexiblen Arbeitszeitmodellen wie etwa der Brückenteilzeit; denn die ermöglicht es Frauen, die Arbeit partnerschaftlicher aufzuteilen. Durch eine faire Aufteilung der Care-Arbeit, durch die Abschaffung der Steuerklassen III und V, durch zwei Wochen Schutzzeit für den zweiten Elternteil nach der Geburt, durch die Weiterentwicklung des Elterngeldes verschaffen wir Frauen wieder Perspektiven, und die brauchen sie zügig. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den größten Ungerechtigkeiten gehört nach wie vor die Lohnlücke von 18 Prozent bei Frauen, und darum sind ein verbessertes Entgelttransparenzgesetz und das Verbandsklagerecht unerlässlich. Uns ist es ein Anliegen, die Lage der Frauen mit prekären Beschäftigungen, die von Ausbeutung und von Armut bedroht sind, zu verbessern. Da ist der Mindestlohn wichtig, aber auch die Reform des AGG ist unerlässlich; denn gerade für Frauen mit Rassismuserfahrung oder Mehrfachdiskriminierung, für Transfrauen, Lesben, Frauen mit Behinderungen oder Kopftuchträgerinnen ist das ein ganz wichtiger Schritt. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist für uns ein Selbstverständnis, dass wir für die Rechte aller Frauen in ihrer ganzen Vielfalt und Würde einstehen, nicht nur am Frauentag, sondern immer und uneingeschränkt. Unser Feminismus ist solidarisch und intersektional. Das gilt beim Gewaltschutz und bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention genauso wie bei der Selbstbestimmung. Mir liegt besonders am Herzen, reproduktive Rechte und die körperliche Selbstbestimmung aller Frauen und gebärfähigen Menschen zu erreichen. Die Streichung des § 219a ist auf dem Weg; das ist gut so. ({4}) Wir machen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche für alle Betroffenen zugänglich und schaffen Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte. Aber auch für die bereits verurteilen Ärztinnen und Ärzte, deren Klagen beim Bundesverfassungsgericht liegen, wollen wir eine Lösung bzw. eine Form der Entschädigung anbieten; denn sie haben so viel Druck ausgehalten. Und ich sage: Ihnen gilt hier unser Dank. ({5}) Die Streichung des § 219a ist frauenpolitisch ein wichtiges Signal. Sie löst aber nicht die prekäre Versorgungslage beim Schwangerschaftsabbruch in Deutschland, zu deren Absicherung wir im Bund und in den Ländern verpflichtet sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Darum müssen wir das dringend verbessern. Es gibt immer weniger Ärztinnen und Ärzte dafür. Schwangerschaftsabbrüche müssen Teil der ärztlichen Ausbildung werden. Als Ampelkoalition werden wir in der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung nach Lösungen suchen, sodass sich an der Kriminalisierung ungewollt Schwangerer und ihrer Ärztinnen und Ärzte endlich etwas ändern kann. ({7}) Es ist wirklich Zeit, eine gesellschaftliche Debatte über reproduktive Selbstbestimmung zu führen, und zwar sachlich, faktenbasiert und ergebnisoffen, und die Forderungen aus der UN-Frauenrechtskonvention zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland endlich umzusetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun. Ich kann sagen: Ich freue mich auf den feministischen Aufbruch gemeinsam mit allen engagierten Partnerinnen und Partnern und einer Regierung, die frauenpolitisch den Unterschied macht. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Unionsfraktion ergreift jetzt Mechthild Heil das Wort. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie steht es aktuell mit uns Frauen in Wissenschaft, in Forschung und in technischen Berufen? Freundlich formuliert: Es könnte wirklich viel, viel besser sein. Der Internationale Frauentag und manch andere Initiative wie der Girls’ Day, die Initiativen Klischeefrei oder YouCodeGirls sind Vorzeigeprojekte und uns allen bekannt. Aber anscheinend entfalten sie nicht die erhoffte Wirkung, weder in den Kindergärten oder der Kita noch in der Schule, auch nicht bei der Wahl des Ausbildungsberufes oder des Studienfachs. Dieser Befund muss uns in Alarmbereitschaft versetzen; denn unsere Arbeitswelt hier, mitten in Deutschland, ist im Wandel, und eine solide MINT-Bildung ist die Grundlage für den Reichtum in unserem Land, für unseren Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland. ({0}) Wir haben kluge Köpfe in unserem Land. Beim Abitur liegen die Frauen schon weit vor den Männern. Junge Frauen sind heute so gut ausgebildet, wie sie es noch nie in unserer Geschichte waren. Das ist eine frauenpolitische Erfolgsgeschichte. ({1}) Aber die Frage bleibt: Warum ergreifen dann nur wenige Frauen technische oder naturwissenschaftliche Berufe? Was hindert uns Frauen eigentlich daran? Was schränkt uns ein? ({2}) Was sind die Vorurteile in unserer Gesellschaft? Wer muss an der Stelle was tun? ({3}) Der richtige Blickwinkel ist entscheidend. Die Frage muss lauten: Wie müssen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verändert werden, damit Frauen zukunftsweisende, technisch orientierte Berufe ergreifen und dann auch in diesen Berufen Karriere machen können? Ich will Ihnen drei Aspekte nennen: Fangen wir in der Kita und in der Schule an. Natürlich werden da die Grundsteine gelegt, im MINT-Bereich wie in jedem anderen Bereich auch. Mädchen und Frauen können natürlich Mathematik, ({4}) sie können Informatik, sie können Natur- und Ingenieurwissenschaften oder Technik. Die Schulen und die Umwelt können diese Fähigkeiten stärken oder eben auch verkümmern lassen. Unsere ehemalige Bundesministerin Anja Karliczek hat dafür das Programm MissionMINT eingeführt. Ich bin gespannt, was die Ampel daraus macht und ob sie es weiterführt. ({5}) Richten wir den Blick nun auf die Hochschulen; wir könnten auch sagen: auf die Politik. Wir brauchen weibliche Vorbilder und eine gezielte Förderung von Frauen in der Wissenschaft. Deshalb haben sich Bund und Länder auf das Professorinnenprogramm geeinigt. Das Geld dafür ist bis 2022 eingestellt. Ich bin gespannt, ob die Regierung die Finanzierung über das Datum hinaus sicherstellen wird. Ganz wichtig ist der dritte Punkt, der in der Debatte immer vergessen wird. Wir müssen schauen, was Industrie und Gewerbe machen. Wir Frauen brauchen ein Betriebsumfeld, das für uns Frauen genauso passt, wie es für die Männer über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg passend gemacht wurde. Das gilt für die Gestaltung von Werkzeugen, von Materialien und Maschinen, die wir haben. Das gilt für die Größe, für die Gewichte, für ganz furchtbar viele Dinge. Und das gilt natürlich auch für die Vorstände und die Aufsichtsräte. Wenn in der aktuellen Diskussion ein großer Konzern sagt: „Wir können uns eine Frau im Vorstand vorstellen, aber nur im Bereich Einkauf; in der Entwicklung von Motoren können wir uns das nicht vorstellen“, dann ist das ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft und dieser Vorstände. ({6}) Wie einige von Ihnen wissen, bin ich selber Architektin, bin ich selber Ingenieurin. Als ich in diesen Beruf reinfinden wollte, war es so gut wie unmöglich, in der Baubranche eine Praktikumsstelle zu bekommen, geschweige denn einen Ausbildungsplatz. Seitdem hat sich zum Glück viel geändert; aber manches ist noch genauso. Suchen Sie einen Bauleiter auf der Baustelle, finden Sie ihn sofort, aber eine Bauleiterin finden Sie ganz selten. Von einer gleichberechtigten Teilhabe ist noch lange nicht die Rede. Wir als CDU/CSU-Fraktion setzen uns weiter für eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe ein. Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile für die SPD-Fraktion dem Kollegen Erik von Malottki das Wort zu seiner ersten Rede hier im Haus. ({0})

Erik Malottki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es ist für mich eine große Ehre, dass ich heute anlässlich des Internationalen Frauentages meine erste Rede im Deutschen Bundestag halten darf. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Ihnen von drei Frauen zu berichten, deren Engagement mich nachhaltig beeindruckt hat. Ich bin davon überzeugt, dass wir eine Menge von diesen Frauen lernen können. Ich möchte Ihnen von Marlies Heinze, einer ehemaligen Gebäudereinigerin aus Pasewalk, berichten. Marlies engagiert sich in ihrer Nachbarschaft für eine Familie, die von Abschiebung bedroht ist. Ich habe Marlies bei einer Demonstration für faire Löhne für Reinigungskräfte in Greifswald kennengelernt. Mit 72 Jahren setzt sich Marlies immer noch in ihrer Gewerkschaft für andere ein. Sie kämpft für bessere Arbeitsbedingungen für ihre ehemaligen Kolleginnen, von denen immer noch viel zu viele im Niedriglohnsektor feststecken. Lassen Sie uns für Marlies und für Millionen andere Frauen dafür sorgen, dass jahrelanges ehrenamtliches Engagement mit einer höheren Rente belohnt wird. ({0}) Es kann nicht sein, dass sich Frauen gegen ein Ehrenamt entscheiden, weil sie Angst vor Altersarmut haben. Es kann nicht sein, dass Frauen das größte Risiko für Altersarmut haben. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die wir beenden werden. ({1}) Ich möchte Ihnen von Peggy Lehm erzählen. Sie ist Wirtschaftsjuristin und Mutter eines tollen schwerbehinderten Sohnes. Peggy setzt sich mit einer unglaublichen Entschlossenheit für bessere Arbeitsbedingungen und kleinere Gruppen in den Kitas in Mecklenburg-Vorpommern ein. Hierfür hat sie mit anderen Engagierten über 14 000 Unterschriften für erfolgreiche Bürgerbegehren in der Region Rostock gesammelt. Als Ergebnis werden mehr als 100 Stellen für Erzieherinnen neu geschaffen. ({2}) Für Frauen wie Peggy müssen wir die Bedingungen in den Kitas deutlich verbessern. Wir werden das Gute-KiTa-Gesetz weiterentwickeln und ein Bundesqualitätsgesetz schaffen. Das heißt konkret: mehr Erzieherinnen und eine bessere frühkindliche Bildung für unsere Kleinsten. ({3}) Und da ist Luisa Kunath, Erzieherin und alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter. Luisa setzt sich mit Herzblut und gegen alle Widerstände für einen fairen Lohn und mehr Mitbestimmung in ihrer Kita ein. Heute ist sie Vorsitzende des Betriebsrats, und ihre Kolleginnen haben einen Tarifvertrag. ({4}) Sie hat dafür gekämpft, dass mehr als 160 Erzieherinnen aus dem Niedriglohnsektor rauskommen, und sie hat gewonnen. ({5}) Frauen wie Luisa müssen wir bei ihrem Einsatz für gute Löhne und Mitbestimmung noch mehr unterstützen. Wir werden die Rahmenbedingungen für Tarifverträge verbessern und so die Tarifbindung erhöhen. Wer keinen Tariflohn zahlt, braucht nicht auf öffentliche Aufträge zu hoffen. ({6}) Wir werden uns darum kümmern, dass niemand bei der Gründung eines Betriebsrats ausgebremst wird. Wer demokratische Mitbestimmung im Betrieb verhindert, bekommt Post von der Staatsanwaltschaft. ({7}) Marlies, Peggy und Luisa eint die Entschlossenheit, sich für ihre Mitmenschen einzusetzen, auch ohne Aussicht auf Anerkennung. Sie hätten es verdient, hier an meiner Stelle im Deutschen Bundestag zu stehen. Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein persönliches Versprechen abgeben. Der zu geringe Anteil von Frauen auf allen Ebenen der Politik ist ein Skandal. Umso besser ist es, dass es hier im Bundestag in fast allen Fraktionen engagierte Kolleginnen gibt, die mit so viel Power die Spielregeln der Politik verändern. Sie arbeiten daran, dass zukünftig keine gläsernen Decken und keine Männerbünde mehr verhindern, dass Frauen ihre Träume verwirklichen. Sie und ihr könnt euch sicher sein, dass wir euch bei diesem Kampf unterstützen werden. Danke. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Beatrix von Storch das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Frauen werden abgeschafft!“, das ist der Titel eines Beitrags in der „EMMA“ von der Harry-Potter-Erfinderin J. K. Rowling, und das genau betreiben Sie fast alle hier. Sie fast alle hier sind Frauenabschaffer, weil Sie fast alle hier der Genderideologie anhängen. ({0}) Sie behaupten, das Geschlecht habe mit Biologie nichts zu tun und jeder könne sein Geschlecht irgendwie selbst bestimmen. Das Selbstbestimmungsgesetz kommt demnächst auch in diesem Theater; wir warten schon mit Freude darauf. ({1}) Rowling hat es begriffen. Die Genderideologie gefährdet vor allem Frauen und Mädchen: Männer brechen Rekorde im Frauenschwimmen, Männer in der Damenumkleide, Sexualverbrecher im Frauengefängnis, weil sie sich gerade als Frauen fühlen. Rowling lehnt diesen Quatsch ab und wird deswegen mit obsessivem Hass verfolgt. ({2}) Die Transideologie ist totalitär, und sie ist zwangsläufig totalitär. Wer so offenkundig die Natur, die Wahrheit leugnet, der muss die Wahrheit selbst zum Verbrechen erklären und jeden, der die Wahrheit ausspricht, zum Verbrecher. Der Bundestag liefert ein gutes Beispiel. Wenn der Kollege Markus Ganserer Rock, Lippenstift, Hackenschuhe trägt, ({3}) dann ist das völlig in Ordnung; es ist aber seine Privatsache. Biologisch und juristisch ist und bleibt er ein Mann. Und wenn er als solcher über die grüne Frauenquote in den Bundestag einzieht ({4}) und hier als Frau geführt wird, dann ist das schlicht rechtswidrig. ({5}) Ich bin Markus Ganserer aber für zwei Dinge dankbar: erstens, weil sein Beispiel uns so schön vor Augen führt, dass es einen Unterschied macht, ob man sich als Frau verkleidet oder ob man eine Frau ist, ({6}) und zweitens, weil er die Frauenquote final ad absurdum geführt hat. ({7}) Hätte sich Robert Habeck im richtigen Moment als Roberta bezeichnet, dann wäre Roberta vermutlich jetzt Bundeskanzlerin. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, meint, jeder, der Herrn Ganserer nicht als Frau akzeptiere, sei transphob. ({8}) Transphob ist offensichtlich ein anderes Wort für „nicht blöd“. Nicht blöd sind auch die Initiatoren von „Geschlecht zählt“. Das sind ausdrücklich Feministinnen und Grüne, die gegen Ganserers Mandat nun klagen. Sie verstehen, dass es ohne Biologie keine Frauen gibt und ohne Frauen auch keine Frauenrechte. Der Weltfrauentag ist ein guter Moment, um festzustellen: Ein Fisch ist kein Fahrrad, ein Mann ist keine Frau, und Gender ist gaga. ({9}) Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht, und in diesem Parlament ist das die AfD. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau von Storch, Sie haben dieses Parlament vorhin als Theater bezeichnet. Ich bitte Sie sehr, über diesen Begriff noch einmal nachzudenken. Sie sind ja selbst Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Ansonsten bitte ich Sie auch persönlich um Respekt vor der Kollegin Tessa Ganserer. ({0}) Jetzt gebe ich das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Das, was sich die Abgeordnete Storch gerade in diesem Haus erlaubt hat, ist niederträchtig, ({0}) bodenlos, homophob und zutiefst menschenverachtend. ({1}) Aber dieses Haus ist ein Haus der Demokratie und der freien Rede, und deshalb konnte sie das hier sagen. ({2}) Es erschüttert mich zutiefst, dass jemand über eine Kollegin im Deutschen Bundestag so abscheulich und niederträchtig spricht, meine Damen und Herren. Das ist erschütternd. ({3}) Ich wende mich wirklich an Sie alle: Tessa Ganserer ist eine von uns. Sie ist meine und unsere Kollegin, ({4}) sie ist eine vom 59-Prozent-Anteil Frauen in dieser Fraktion, ({5}) und niemand von uns hat darüber zu richten oder darüber zu reden oder zu entscheiden, wie diese Frau ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnimmt. ({6}) – Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie durch Ihren Applaus der Öffentlichkeit zeigen, dass Sie diese Haltung teilen. Das ist ein gutes Gefühl, und das ist eine Unterstützung für meine Kollegin Tessa Ganserer. Ich danke Ihnen von Herzen dafür. Wir sollten zusammenstehen – bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache – als demokratische Kräfte, wenn eine solche Menschenverachtung hier im Haus passiert. Stellen wir uns dem entgegen! Danke dafür. ({7})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich finde, das ist eine außerordentlich interessante Debatte. Das zeigt, wohin es führt. Ich habe ausdrücklich gesagt: Jeder kann privat machen, was er möchte. Und es gibt bestimmte Voraussetzungen, unter denen man juristisch sein Geschlecht wechseln kann. Markus Ganserer ist als solcher im Bayerischen Landtag geführt worden und hat sich ausdrücklich dagegen entschieden, die juristischen Wege zu gehen, die es benötigt, um sein Geschlecht zu wechseln. ({0}) Er ist also juristisch weiterhin ein Mann, und er ist biologisch ein Mann. ({1}) Wir wissen, dass das Selbstbestimmungsgesetz kommt, nach dem jeder in diesem Land sein Geschlecht per Sprechakt ändern können soll. Das halten wir für absurd. Und es ist eben auch absurd, wenn ein Mann nach Abgabe einer entsprechenden Erklärung eine Frauenquote in Anspruch nehmen kann. Genau dagegen klagen Feministinnen und Grüne. Es ist eben gegen die Frauenrechte, wenn ein Mann, der sich selbst zur Frau erklärt, diese Quote in Anspruch nehmen kann. ({2}) Es ist nicht die AfD, es sind Grüne und Feministen, die dagegen klagen, weil sie genau das nicht wollen. ({3}) Das Geschlecht ist eine biologische Tatsache. Sie möchten das jetzt aufladen, weil Sie es juristisch trennen wollen. Aber diesen Weg ist Markus Ganserer bisher nicht gegangen. Deswegen sage ich noch einmal: Was jemand in seiner Privatheit macht, steht ihm völlig frei; darüber ist nicht zu urteilen. Es ist seine Entscheidung, wie er sein Leben führen möchte. Aber die Gesellschaft kann nicht gezwungen werden, jemanden, der juristisch ein Mann ist und der biologisch ein Mann ist, einfach als Frau annehmen zu müssen ({4}) und die Frauenquoten für ihn zu öffnen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nachdem Sie noch einmal Gelegenheit hatten, auf die persönlichen Anwürfe zu reagieren, geht die Debatte jetzt weiter. Ich freue mich, dass die Kollegin Tessa Ganserer im Haus ist, ({0}) gebe aber jetzt der Kollegin Gyde Jensen für die FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau von Storch, Sie haben sexuelle Identität nicht verstanden. Ich glaube, das ist das Problem. ({0}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „All I’m askin g, is for a little respect“ – 1967 hat Aretha Franklin in einer feministischen Hymne einfach ein bisschen mehr Respekt eingefordert. Knapp 50 Jahre später schrieb Beyoncé vermutlich die feministische Hymne für das 21. Jahrhundert: „Who run the world? Girls!“ Wir wollen nicht einfach nur Respekt, wir wollen auch nicht einfach nur am Tisch sitzen; wir wollen die Welt regieren. Ja, ich weiß, wenn Frauen solche Ansprüche hier oder woanders stellen, macht das im Jahr 2022 noch vielen Menschen Angst. Bei manchen löst diese Anspruchshaltung gar unbändigen Hass aus. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir mit dieser neuen Bundesregierung, mit dieser neuen Koalition Ihnen allen zeigen können, dass es dafür nicht den geringsten Grund gibt. Bei unseren Vorhaben im Bereich Gleichstellung – das kann jeder in unserem Koalitionsvertrag nachlesen – geht es nicht darum, dass Feministinnen die Welt unterjochen wollen. Es geht darum, dass jede Frau, dass jedes Mädchen an ihr Leben in dieser Welt die gleichen Ansprüche stellen darf wie jeder Mann und jeder Junge, dass sie die gleichen Träume träumen darf und dass sie die gleichen Chancen hat, genau diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Es bedeutet auch, dass wir einer Bürgerin die gleiche Mündigkeit zusprechen wie einem Bürger dieses Landes: die Fähigkeiten, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie versuchen mit aller Kraft – auch hier in der Debatte –, immer wieder umzudeuten, was wir mit der Abschaffung von § 219a erreichen möchten. Deswegen erkläre ich noch mal kurz, worum es dabei für die Frauen vor allen Dingen geht und warum diese es als Befreiungsschlag empfinden werden: Es geht darum, dass wir im Jahr 2022 Frauen zutrauen, fachliche Informationen von Ärztinnen und Ärzten zu verstehen und einzuordnen. Und es geht darum, dass wir im Jahr 2022 Frauen zutrauen, eine der schwersten Entscheidungen überhaupt eigenverantwortlich und mit allen Konsequenzen zu treffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein Level Playing Field. Dafür bin ich angetreten, dafür sind wir angetreten. Wir wollen keinen Startvorsprung, wir wollen die gleichen Schuhe, und wir wollen den gleichen Trainingsplan. Dazu gehört es, dass wir etwas ändern, wenn gesellschaftliche Klischees und Normen Frauen ihres Potenzials berauben. Es kann nicht sein, dass Mädchen denken, Mädchen können kein Mathe. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine Bundesbildungsministerin haben, die sich damit nicht abfinden wird. ({1}) Wenn wir, wie in den vergangenen zwei Jahren Pandemie, merken, dass die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die wir derzeit haben, offenbar nur unter Optimalbedingungen funktionieren – manchmal auch unter Normalbedingungen, aber auf gar keinen Fall unter Ausnahmebedingungen; da brechen sie regelrecht zusammen –, dann werden wir das anpacken. Gleichberechtigung werden wir dann erreichen, wenn ich hier nicht mehr von „wir“ spreche und alle wissen, wer gemeint ist. Wir werden sie dann erreichen, wenn wir Frauen als Individuen wahrnehmen und nicht mehr als Stellvertreterinnen ihres Geschlechts: wenn unsere Außenministerin Annalena Baerbock nicht mehr die Frau ist, die es mit autokratisch herrschenden Männern in der Welt aufnehmen kann, wenn unsere Ministerin Nancy Faeser nicht mehr die Frau ist, die ein hartes Ressort besetzt, wenn eines Tages nicht mehr Frauen als Stellvertreterinnen ihres Geschlechts die Welt regieren, sondern Angela Merkel, Jacinda Ardern, Theresa May, Sanna Marin und viele mehr. Genau dann ist für uns als Liberale das Versprechen auf Gleichberechtigung erfüllt. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Vizepräsidentin Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4 458 – das ist meine Schreckenszahl der Woche. 4 458: zu viele Fälle von Angriffen, Beleidigungen und Bedrohungen gegen Politiker und eben Politikerinnen. Diese Zahl hat das Bundeskriminalamt 2021 gezählt. Die Gewalt gegen Frauen ist ein großes und ein wachsendes Problem in der analogen und insbesondere auch in der digitalen Welt. Vor allem politisch argumentierende, politisch aktive Frauen sind Ziel von Herabwürdigungen, Bedrohungen bis hin zu Mordaufrufen. Frauen erleben zudem diese Angriffe stärker als Männer in sexualisierter Form. Laut einer aktuellen Studie der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft gemeinsam mit Allensbach haben 77 Prozent der Politikerinnen auf Landesebene und 98 Prozent der Politikerinnen auf Bundesebene diese Erfahrung vor allem in Bezug auf die sozialen Netzwerke bereits gemacht. Wahrscheinlich können wir alle hier ein trauriges Lied davon singen. Dass den Ankündigungen in der virtuellen Welt leider auch immer häufiger Untaten im wirklichen Leben folgen, zeigen die Zahlen des Bundeskriminalamtes. Die Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger haben sich in den vergangenen vier Jahren fast verdreifacht. Grund dafür ist auch die durch Corona bedingte Radikalisierung in den sozialen Netzwerken, zum Beispiel auf Telegram. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe die große Gefahr, dass sich Frauen aus dem Netz zurückziehen oder ihre politischen Ambitionen fallen lassen. Gerade auf kommunaler Ebene, wo wir nur 9,5 Prozent Landrätinnen und 10 Prozent Bürgermeisterinnen in Deutschland haben, ist das ein fatales Signal. Ich sehe dadurch ein großes gesellschaftliches Problem auf uns zukommen; denn es ist auch ein Schlag gegen die Demokratie. Die Demokratie steht damit auch auf dem Spiel. Dagegen müssen wir aus meiner Sicht etwas tun, und zwar mehr als bisher. Wir brauchen wirklich die aktive Bündelung aller Kräfte aus Gesellschaft, aus Politik, aus Justiz und von den Plattformbetreibern. Es ist gut, dass die Innenminister von Bund und Ländern im vorigen Jahr zwei wichtige Beschlüsse gefasst haben, zum einen eine frauenspezifischere Kriminalstatistik auf den Weg zu bringen und zum anderen aber auch konsequenter gegen Straftaten zum Nachteil von Amts- und Mandatsträgern vorzugehen. Das ist wichtig. Denn es braucht neben klarer Haltung auch ein konsequentes Vorgehen. ({0}) Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz und mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität hat die Union in den letzten zwei Legislaturperioden wichtige Instrumente zur Bekämpfung von Hetze und zur Strafbarkeit von Taten im Netz beschlossen. Deutschland hat damit eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen. Mit neuen hassverbreitenden Plattformen wie Telegram oder schlimmeren Exzessen müssen die Gesetze gegebenenfalls nachgeschärft werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel: Hier dürfen wir eben nicht rückwärtsgehen. ({1}) Da reichen keine schönen Reden und Bekenntnisse zur wehrhaften Demokratie, die ich immer lese. Nein, da brauchen wir konkrete und wirkungsvolle Instrumente. Ein Recht auf völlige Anonymität im Internet und auch die Ankündigung von Bundesjustizminister Buschmann, die Vorratsdatenspeicherung abzuschaffen, ohne Lösungsvorschläge zu bringen, stehen im krassen Widerspruch zu den Erfordernissen der Kriminalitätsbekämpfung im digitalen Raum. ({2}) Die Strafverfolgungsbehörden benötigen eben gerade ein Mehr und nicht ein Weniger an Ermittlungsbefugnissen und natürlich auch mehr Personal in dieser Frage. Zu oft wird der Datenschutz ins Feld geführt, um den Behörden größeren Handlungsspielraum zu verwehren. Opferschutz, meine Damen und Herren, muss im Vordergrund stehen. ({3}) Die Plattformen müssen nach wie vor stärker ihrer Verantwortung für das gerecht werden, was auf ihren Seiten gepostet wird. In Anbetracht der rasant steigenden Zahlen des BKA bin ich auch dafür, dass wir uns noch mal ernsthaft über das Thema „Klarnamenpflicht im Internet“ verständigen, dazu vielleicht auch noch mal diskutieren. Die Anonymität senkt immer die Hemmschwelle, auch Hasskommentare abzuschicken. Lassen Sie uns diesen Weg beschreiten! Abschließend, meine Damen und Herren, ein Zitat von Rita Süssmuth: „Feministin zu sein, ist das Mindeste, was eine Frau tun kann.“ Von mir auch einen herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle an Rita Süssmuth; wir haben ihr viel zu verdanken. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Magwas. Alles Gute! – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sarah Lahrkamp, SPD-Fraktion, mit ihrer ersten Parlamentsrede. ({0})

Sarah Lahrkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005120, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Weltweit werden zum Weltfrauentag am 8. März schöne Reden gehalten. Diesen müssen auch Taten folgen. Einiges haben wir in Deutschland schon erreicht, aber es gibt auch noch viel zu tun; daran erinnert der Weltfrauentag. Es geht um faire Chancen, es geht um Gerechtigkeit, und es geht um Respekt – für Mütter zum Beispiel. Als Mutter von vier Kindern weiß ich, was viele Frauen jeden Tag leisten: morgens früh aufstehen, die Kinder fertig machen, zur Schule bringen, zur Arbeit hetzen, zum Einkaufen, bei den Hausaufgaben helfen, die Wäsche machen und, und, und. Am Ende des Tages bleibt kaum mehr Zeit für sich selbst. Und ich, ich klage noch auf hohem Niveau; denn ich habe einen wirklich tollen Mann, der sich um die Kinder kümmert, während ich hier zu Ihnen sprechen darf. ({0}) Doch das ist im Jahre 2022 in Deutschland häufig immer noch die Ausnahme von der Regel. Veraltete Rollenbilder und Strukturen stehen Frauen im Weg, im ländlichen Raum häufig noch mehr als in der Großstadt. Sie ignorieren auch die Vielfältigkeit moderner Familienkonstellationen. Zum Beispiel tragen Alleinerziehende allein die Verantwortung für ihre Familie und arbeiten quasi nebenbei. In der Regel betrifft das Frauen. Respekt, Gerechtigkeit und faire Chancen verlangen auch, dass wir etwas dagegen unternehmen, dass Frauen durchschnittlich 18 Prozent weniger je Stunde verdienen als Männer. Sie arbeiten häufig in schlechter bezahlten Berufen und verdienen selbst dort noch weniger als ihre männlichen Kollegen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung diese Frauen mit einem deutlich höheren Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde stärken will. ({1}) Frauen profitieren am meisten davon. Aber mit dem höheren Mindestlohn wäre noch nichts für die Frauen getan, die Care-Arbeit in der eigenen Familie unentgeltlich leisten. Frauen wenden pro Tag im Schnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Deshalb arbeiten sie häufiger in Teilzeit, zahlen weniger in die eigene Altersvorsorge ein und sind am Ende stärker von Altersarmut bedroht. Es darf nicht sein, dass Sorgearbeit, also der Dienst an Familie und Gesellschaft, zu Armut im Alter führt. ({2}) Frauen brauchen flexiblere Strukturen, um am Wirtschaftsleben teilzuhaben. Mit der Brückenteilzeit haben wir 2019 ein wichtiges Instrument eingeführt. Frauen, die Kinder erziehen, Angehörige pflegen oder sich ehrenamtlich engagieren wollen, haben größere Spielräume bekommen. Die Möglichkeit zur Brückenteilzeit besteht übrigens auch für Männer. Vielleicht ist das auch ein weiterer Anreiz, damit sie mehr Care-Aufgaben übernehmen. Manche tun das schließlich richtig gerne. Gute Frauenpolitik dient also auch Männern und hilft ihnen, aus unfreiwilligen Rollen auszubrechen. Gute Frauenpolitik ist gute Familienpolitik, die die Vielfältigkeit von Familienformen in unserem Land stärkt und es Frauen wie Männern ermöglicht, flexibel auf veränderte Lebensumstände zu reagieren. Daran werden wir weiter arbeiten, damit Frauen, Mütter und Familien so leben können, wie sie es möchten, und die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lahrkamp. – Als Nächstes erhält das Wort die Kollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen, in der heutigen Debatte möchte ich den Scheinwerfer auf eine Gruppe richten, die oft im Dunkeln bleibt, obwohl sie zahlenmäßig im Rampenlicht stehen müsste: Ich rede von den älteren Frauen. Es gibt in Deutschland etwa 13,2 Millionen Frauen im Alter über 60. Natürlich sind ihre Lebenswege und damit auch ihre Lebenssituationen im Alter sehr unterschiedlich, und zum Glück erleben wir, dass sich der Blick der Gesellschaft auf ältere Frauen allmählich wandelt. Während früher zum Beispiel Schauspielerinnen jenseits der 40 einfach von den Leinwänden verschwanden, sind ältere Frauen heute in Kino und Film wesentlich prominenter vertreten. Ich erinnere zum Beispiel an die großartige, kleine und grauhaarige Judi Dench, die 2012 mit damals Mitte 70 große Erfolge als weibliche Hauptrolle im James-Bond-Film „Skyfall“ feierte. ({0}) Aber das Leben ist kein Kinofilm. Die Lebensrealität der meisten älteren Frauen in Deutschland sieht leider anders aus. Gerade ältere Frauen müssen ausbaden, was vor allem in der Bonner Republik versäumt wurde. Sie wurden oft nicht zu beruflichen Karrieren ermutigt, sie wurden in schlecht bezahlte Berufe oder auch in Minijobs abgedrängt und müssen jetzt in der Folge mit sehr kleinen Renten leben. Die Grundrente hat vielen von ihnen geholfen; im Schnitt erhalten die berechtigten Frauen 37 Prozent mehr Rente. Aber dennoch sind Restaurant- und Kinobesuch oder eine neue Brille keine Selbstverständlichkeiten. Der Gender Pension Gap liegt immer noch bei knapp 60 Prozent; in keinem anderen europäischen Industrieland ist er größer. Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Altersarmut in Deutschland ist weiblich. Frauen sind im Rentenalter noch zusätzlich sehr stark mit Care-Arbeit belastet. Die Kinder mögen aus dem Haus sein; aber sehr viele Frauen übernehmen in diesem Alter Pflegetätigkeiten. Sogenannte junge Seniorinnen sind die größte Gruppe bei den pflegenden Angehörigen. Die beiden letzten Jahre der Pandemie waren eine gewaltige Belastung: Tagespflegen waren geschlossen, Pflegedienste konnten nicht kommen, Beratungsstellen waren nur eingeschränkt zugänglich. Mit diesen zusätzlichen Pflegebelastungen hatten und haben vor allem Frauen zu kämpfen. Lassen Sie uns deshalb beim Internationalen Frauentag auch die Frauen in den Blick nehmen, die von neuen gleichstellungspolitischen Initiativen nicht mehr direkt profitieren können. Sie profitieren aber sehr wohl von einer guten sozialen Infrastruktur, funktionierenden Unterstützungssystemen für pflegende Angehörige, Mehrgenerationenhäusern und Angeboten zur Überwindung von Einsamkeit und Isolation. Das muss das Ziel sein, und daran arbeiten wir gemeinsam als Koalition! ({1}) Aus diesem Grund streben wir eine umfassende Förderung seniorengerechter Ansätze an: für mehr Partizipation, Engagement, Alltagshilfen sowie Bildungs- und Begegnungsangebote. All das verdient unser aller Unterstützung, gerade mit Blick auf die Frauen 60 plus. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bahr. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält das Wort die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin Spiegel, wir denken heute ja an den Internationalen Frauentag – er wird erst in ein paar Tagen sein –; deshalb habe ich gedacht, dass wir auch einen kleinen Blick auf die internationale Situation werfen. Ich habe lange überlegt, ob ich etwas zu Afghanistan sage; aber da hätten meine drei Minuten Redezeit nicht gereicht. Ich habe gedacht, ich schaue 100 Kilometer östlich – dann landet man in Polen, von uns aus erreichbar in anderthalb Stunden mit dem Auto – und berichte vom 21. Dezember letzten Jahres, als die 37‑jährige Agnieszka, Mutter von drei Kindern, schwanger mit Zwillingen ins Krankenhaus mit dem wunderbaren Namen „Zur heiligen Jungfrau Maria“ in Tschenstochau eingeliefert wurde. Ein paar Tage später starb ein Fötus ihrer beiden Zwillinge, die sie im Bauch hatte, und die Ärzte dieser Klinik weigerten sich, sie zu operieren, wegen des restriktiven Abtreibungsrechts in Polen. Eine Woche später starb der zweite Fötus. Weitere zwei Tage lang haben sich die Ärzte geweigert, die Frau zu operieren. Das haben sie dann nach zwei Tagen gemacht. Derweil war die Sepsis so weit fortgeschritten, dass diese Mutter von drei Kindern am 25. Januar dieses Jahres starb. Jetzt können wir hier wohlfeile Reden halten über Solidarität mit den Frauen in Polen – das sage ich aus tiefstem Herzen –; aber ich glaube, was wir hier als deutsches Parlament tun können, ist, unsere eigenen Hausaufgaben zu machen und uns nicht von denjenigen beeindrucken zu lassen, die auch bei uns ein restriktiveres Schwangerschaftsrecht wollen und alles, was wir an Fortschritten verabredet haben, boykottieren. Deshalb bin ich froh, auch für die Frauen in Polen, aber auch für die Frauen in Europa und für die Frauen in Deutschland, dass wir den § 219a jetzt streichen. ({0}) Das ist aber noch nicht das Ende der Fahnenstange. Wir Frauen in Deutschland haben es so satt, dass wir bevormundet und gegängelt werden, insbesondere wenn dabei immer mit dem Deckmäntelchen des Schutzes des ungeborenen Lebens argumentiert wird. Das dient nur dazu, die Frauen zu gängeln. ({1}) Wir schützen kein ungeborenes Leben, indem wir den Frauen Strafe androhen. Wir schützen dann ungeborenes Leben, wenn wir ausreichend Wohnraum zur Verfügung stellen. Wir schützen ungeborenes Leben, wenn wir ordentliche, gut bezahlte Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Wir schützen ungeborenes Leben, wenn wir eine partnerschaftliche Teilung der Familienarbeit haben. ({2}) Wir schützen ungeborenes Leben mit einem gescheiten Mindestlohn. Das ist das, was wir brauchen. Deshalb müssen wir diese Debatte führen. Ulle Schauws hat es gesagt: Was machen wir da eigentlich im Strafrecht? – Aber wir müssen dann eben auch weitergehen; ich denke an kostenlose Verhütungsmittel usw. Jetzt leuchtet der Herr Präsident mich schon an. Deshalb komme ich jetzt zum Schluss ({3}) und sage: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Gleichstellung der Geschlechter ist die Hauptspeise der Demokratie und nicht der Nachtisch. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – In der Tat hat die Elektronik Sie angeleuchtet; aber auch ich habe Sie von hinten angeleuchtet bei Ihren Ausführungen. Damit schließe ich die Aussprache.

Jakob Blankenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005025, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist ein Aspekt, der heute bei allen Gesetzen mitgedacht wird. Das war aber nicht immer so. Lassen Sie uns gemeinsam zurückschauen in das Jahr 2004. In diesem Jahr wurde der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ins Leben gerufen. Für den Deutschen Bundestag war das eine besondere Stunde. Nachhaltigkeit war damals nämlich eben kein selbstverständliches Ziel. Nachhaltigkeit war ein Nischenthema. Mein Düsseldorfer Kollege Michael Müller unterstrich dies im Rahmen der Debatte zur erstmaligen Einsetzung des Parlamentarischen Beirats. Er warb dafür, nicht mehr nur auf Tagespolitik und Krisenmanagement zu schauen. Stattdessen sollte sich das Parlament zentralen langfristigen Themen zuwenden. Nachhaltigkeit sollte also zur Richtschnur politischen Handelns werden. Heute, 18 Jahre später, haben wir einiges erreicht. Nachhaltigkeit hat mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung einen festen Platz bei uns im Parlament. Und längst ist es nicht mehr so, dass es langfristige Themen nicht auf die Agenda schaffen. Ganz im Gegenteil: Nachhaltigkeit ist Teil der Überschrift des Koalitionsvertrags der Ampel. Dieser Koalitionsvertrag definiert zahlreiche langfristige Ziele wie zum Beispiel die Klimaneutralität bis 2045 und den Kohleausstieg idealerweise bis 2030, und er stellt die Frage, wie wir die Welt späteren Generationen hinterlassen. Ohne Nachhaltigkeit gibt es keine Zukunft für uns, und das haben wir alle längst verstanden. Daran hat auch der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung seinen Anteil. Er initiiert Fachgespräche und Positionspapiere. Er stößt Debatten an. Er füllt den manchmal doch recht sperrigen Begriff der Nachhaltigkeit mit Leben. Der Parlamentarische Beirat wird in Hinblick auf die Nachhaltigkeitspolitik häufig als sogenannter Wachhund beschrieben, und das Bild passt gut. Der Parlamentarische Beirat hat ein Auge auf die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung auf nationaler Ebene, in der EU und im Rahmen der Vereinten Nationen, und er schlägt Alarm, wenn Nachhaltigkeitsaspekte in der Gesetzgebung aus dem Blick geraten. ({0}) Das ist gut, liebe Kolleginnen und Kollegen; aber es geht noch besser. Dafür wird der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung Mitte der Legislaturperiode Vorschläge auf den Tisch legen. Um im Bild zu bleiben: Der Wachhund wird schärfere Zähne bekommen und Nachhaltigkeit wird so noch verbindlicher. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Felix Schreiner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Kein anderer Begriff prägt die globalen Entwicklungen derzeit so sehr wie der Begriff der Nachhaltigkeit. Für uns ist klar: Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hier im Bundestag darf kein Feigenblatt sein. Er ist gerade deshalb überfraktionell, weil es um das gemeinsame Ziel einer politischen Kohärenz in der Nachhaltigkeitspolitik geht. Wir formulieren heute auch unseren parlamentarischen Anspruch: Deutschland soll weiterhin Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit sein. Die nachhaltige Entwicklung unseres Landes, Europas und der internationalen Gemeinschaft erfordert die Notwendigkeit, in großen Dimensionen zu denken. Dabei geht es nicht nur um die Berücksichtigung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele. Sie zwingt uns Parlamentarier auch dazu, Politik stärker vom Ende her zu denken, von einer soliden Haushaltsführung über die Reduzierung der CO2-Emissionen bis hin zur Betrachtung verschiedener Handlungsfelder auf europäischer und internationaler Ebene. Das ist die große Chance dieses Beirats. Dieses Thema ist viel mehr als nur Umwelt- und Klimaschutz; das zeigen die Nachhaltigkeitsziele auch. Es geht um die Bekämpfung von Armut. Es geht um Teilhabe. Es geht um Bildung. Es geht um neue Technologien. Aber es geht auch um Gerechtigkeit und um finanzielle Solidität. Als christdemokratischer Abgeordneter ist mir wichtig, zu betonen, dass Nachhaltigkeit vor allem ein Thema der Generationengerechtigkeit ist. ({0}) Eine Politik, die an morgen denkt, muss im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Die nachhaltige Revolution braucht Maßstäbe, die hier in diesem Haus besprochen und auf den Weg gebracht werden müssen. Es darf uns nicht egal sein, ob am Ende noch Ressourcen auf der Erde vorhanden sind und eine Lebensqualität, die diesen Namen auch verdient. Nein, unser gemeinsames übergeordnetes Ziel ist es, dass wir die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes mit dem Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen vereinen. Mit Technologieoffenheit und Innovationen werden wir diesen Weg auch schaffen. Sehr geehrte Damen und Herren, wie der Vorredner bereits gesagt hat: Der Beirat hat sich in den letzten Jahren bewährt. Er ist ein wichtiger und lebendiger Bestandteil dieses Parlaments. Es ist besonders wichtig, dass aus diesem Beirat heraus wichtige gesellschaftliche Debatten in diesem Land angestoßen werden. Deshalb müssen wir auch darüber sprechen, wie wir den Beirat künftig parlamentarisch noch weiterentwickeln, ({1}) wie wir ihm mehr Handlungsspielraum geben können, dass er eine echte Alarmanlage für die nachhaltige Entwicklung in Deutschland wird. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Nachhaltigkeit darf keine Floskel sein. Es darf nicht nur ein Lippenbekenntnis sein. Diesen Begriff mit Leben zu füllen, das ist unsere Aufgabe in diesem Beirat und es ist die Aufgabe von uns hier im Deutschen Bundestag miteinander. Nur wenn es uns gelingt, dass wir die wirtschaftliche Stärke erhalten, auf der anderen Seite aber beim Verbrauch von Rohstoffen und anderen Schätzen der Erde Rücksicht auf nachfolgende und künftige Generationen nehmen, dann werden wir auch international beachtet und dann werden uns auch andere Länder auf der Welt folgen; denn auch darum geht es bei diesen wichtigen Themen. Die Unionsfraktion wird dafür Sorge tragen, dass das Thema Nachhaltigkeit dort platziert wird, wo es hingehört: in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Daher freuen wir uns auch ausdrücklich auf die Zusammenarbeit mit allen Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Haus. Danke schön. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schreiner. – Ich freue mich, nun der Kollegin Tessa Ganserer für ihre erste Parlamentsrede das Wort erteilen zu dürfen. ({0})

Tessa Ganserer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005060, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! Wie Sie sicher alle wissen, wurde der Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft entlehnt, und so ist es mir als studierte Försterin eine besondere Ehre, meine erste Rede hier im Deutschen Bundestag zur Einsetzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung halten zu dürfen. ({0}) Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich definiert und im Sprachgebrauch bisweilen deutlich überstrapaziert. Deswegen ist es mir ein Anliegen, noch mal daran zu erinnern, dass der Erfinder der forstlichen Nachhaltigkeit, Hans Carl von Carlowitz, eigentlich Oberberghauptmann im Erzgebirge war. Der Reichtum des damaligen kurfürstlichen Sachsens war im Wesentlichen auf das Bergwerks- und Hüttenwesen gegründet, wofür gigantische Mengen Holz als Baustoff und Energieträger benötigt wurden. Carlowitz’ Ansinnen war es, mit einer geregelten forstlichen nachhaltigen Nutzung dafür zu sorgen, dass Holz dauerhaft als Grundlage für soziales und wirtschaftliches Wohlergehen auch zukünftigen Generationen gesichert bleibt. Es war also ökonomische und soziale Weitsicht, die ein ökologisches Handeln zwingend notwendig hat werden lassen. ({1}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, das war im 18. Jahrhundert. Und wo stehen wir heute, im 21. Jahrhundert? Seit 2002 gibt es die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Zwei Jahre später, im Jahr 2004, hat der Deutsche Bundestag den PBnE zum ersten Mal eingesetzt, um die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung auf parlamentarischer Ebene themenübergreifend zu begleiten. Seit 2006 steht uns ein ausführlicher Indikatorenbericht zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland zur Verfügung. Liebe Kollegen und Kolleginnen, das alles war in Deutschland schon da, als im Jahr 2006 der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Sir Nicholas Stern, seinen berühmt gewordenen Bericht zum Klimawandel veröffentlicht hat. Seitdem ist klar, dass das Nichtstun auf Dauer deutlich teurer wird, als jetzt die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. ({2}) Was aber ist in der Zwischenzeit geschehen? Die Union, die sich sonst eigentlich so wirtschaftskompetent gibt, ist in den letzten 16 Jahren weniger durch ökonomische, weitsichtige Entscheidungen, sondern vielmehr durch Nichtstun aufgefallen. ({3}) Schauen wir uns unsere heutigen Lebens- und Wirtschaftsweisen an, so drängt sich die Vermutung auf, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ und das nachhaltige Prinzip außerhalb der Forstwirtschaft noch gar nicht richtig verstanden worden ist. Ein weiteres Beispiel ist der Boden. Er ist die Grundlage für die Lebensmittelproduktion und ein nicht vermehrbares Gut. Trotzdem verschwinden hier bei uns in Deutschland täglich 56 Hektar unter Asphalt und Beton. Wir entziehen somit nahezu täglich einem landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieb die Existenzgrundlage; das sind im Jahr durchschnittlich 324 Vollerwerbsbetriebe in Deutschland, denen wir buchstäblich den Boden unter den Füßen wegreißen. Das ist nicht nachhaltig. ({4}) Nachhaltige Entwicklung ist eben nicht nur eine Aufgabe, die in der Südhalbkugel zu leisten ist, sondern auch wir hier in Deutschland haben als Industrienation eine gigantische Aufgabe vor uns. Deswegen hat die Ampelkoalition sich das Ziel gesetzt, verbindliche Nachhaltigkeitsstrategien, ‑ziele und ‑programme im konkreten Regierungshandeln einzuhalten und diese schon bei der Erstellung von Gesetzen zu berücksichtigen. ({5}) Unterstreichen möchte ich hier, dass dabei alle Ministerien gefordert sind und ihren Beitrag leisten müssen. ({6}) Doch so wie in der Forstwirtschaft braucht es auch in der Politik eine Institution, die fernab vom operativen Tagesgeschehen über die Einhaltung dieser Nachhaltigkeitsziele wacht und notfalls zum Nachjustieren mahnt. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung verfolgt diese Aufgabe seit 18 Jahren, und er hat sich in dieser Aufgabe bewährt. Ebenso bewährt hat sich die interfraktionelle Zusammenarbeit. In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit im PBnE. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Ganserer. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Der vorliegende Antrag behandelt die erneute Einsetzung des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung, und die AfD-Fraktion wird diesem Antrag zustimmen. Einige Bemerkungen dazu seien aber dennoch gestattet. Im Unterschied zum Einsetzungsbeschluss der 19. Wahlperiode sieht der jetzige Antrag keine Beschäftigung mit der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie mehr vor. An deren Stelle wurde einfach der Green Deal gesetzt, der jedoch eine einseitige Ausrichtung auf CO2-Reduktionen vorsieht. Die sonstigen Belange der Nachhaltigkeit, die uns die Agenda 2030 der Vereinten Nationen vorgibt, wie die Bekämpfung von Armut und Hunger, der gesicherte Zugang zu Bildung und funktionierendem Gesundheitswesen, der Schutz von Leben an Land und im Wasser, kommen in diesem Green Deal jedoch nur als nachrangige Ziele vor, die sich der CO2-Reduktion kategorisch unterzuordnen haben. Die angekündigte Politik der jetzigen Regierung liegt aber natürlich im kollektivistischen europäischen Trend. Statt sich um den guten Zustand der Wälder zu kümmern, müssen diese den Interessen der Windkraftlobby weichen. Statt die Herausforderung sauberer Meere anzunehmen, sollen unsere Meeresbecken zu Windradmonokulturen umgewandelt werden mit irreparablen Auswirkungen auf die europäische Meeresflora und ‑fauna. ({0}) Statt anhaltendes umfassendes wirtschaftliches Wachstum in Deutschland und Europa zu etablieren, beschließt diese Regierung den Weg in eine staatsgelenkte Planwirtschaft, in der volkswirtschaftlich produktive Arbeitsplätze durch dauersubventionierte Scheinbeschäftigung inklusive eines parasitären Zertifizierungswesens ersetzt werden. ({1}) Zu diesem Zweck werden die Vermögen der Bürger Europas aufgezehrt und Schuldenberge auf den Schultern zukünftiger Generationen angehäuft. Diese Ihre Politik ist nicht nachhaltig. Ich sehe die Aufgabe meiner Fraktion in der kommenden Legislatur im Beirat darin, zu den ursprünglichen Zielen und Idealen der Agenda 2030 zurückzukehren. Dies ist primär die Bekämpfung von Armut, und dieser Kampf beginnt heute hier bei uns zu Hause und nicht irgendwo anders auf der Welt. ({2}) Dies ist die Bekämpfung von Hunger durch Produktion von mehr Lebensmitteln statt eines Produktionsrückgangs durch falschgrüne flächenfressende Wohlfühllandwirtschaft. Dies ist der Kampf für die Gleichberechtigung beider Geschlechter ({3}) statt des Erfindens von neuen ({4}) verbunden mit – nein, nicht mit einer feministischen – einer rein antimännlichen Spaltung der Gesellschaft. Dies ist der Kampf für sichere und stabile Städte und Gemeinden statt der Kapitulation vor Clans und Drogendealern aus aller Herren Ländern. Und dies ist der Kampf für den Zugang zu einer preiswerten und zuverlässigen Energieversorgung anstatt der uns offerierten angebotsorientierten überteuerten Energiemangelwirtschaft, die uns die Koalition als Vision feilbietet. Ihre Politik ist aber weder nachhaltig noch ist sie eine positive Vision, sondern der Weg in eine autokratische Dystopie, ({5}) und dieser Weg ist der falsche. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kraft. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Harzer, FDP-Fraktion, mit ihrer ersten Parlamentsrede. ({0})

Ulrike Harzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005076, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Idee der nachhaltigen Entwicklung kam zunächst auf dem UN-Gipfel 1992 auf. Damit kam es damals zur Errichtung von neuen Gremien und Strukturen, die den Gedanken der Nachhaltigkeit beförderten. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat nun schon eine lange Tradition im deutschen Parlament. Vorher war das Thema Nachhaltigkeit in der Regierung und nicht im Parlament angesiedelt. Der Beirat hat die Aufgabe, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie dauerhaft parlamentarisch zu begleiten und natürlich weiterzuentwickeln. Dazu werden alle Gesetzesvorhaben auf ihre langfristige Wirkung hin überprüft und die Nachhaltigkeitsstrategien der Bundesregierung, der Europäischen Union hinsichtlich des Green Deals und der Vereinten Nationen inhaltlich begleitet. Die Stärke des Beirates ist die ganzheitliche und zukunftsorientierte Betrachtung mit einem internationalen Bezug; denn Nachhaltigkeitspolitik geht weit über das kurzfristige Denken in Wahlperioden hinaus. ({0}) Sie erfordert eine weitgehend konsensorientierte Arbeitsweise, um auch nach der nächsten Wahl zu bestehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir teilen alle gemeinsam die Überzeugung, dass ein Querschnittsthema wie Nachhaltigkeit auch ein breit angelegtes Gremium braucht. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass der Beirat inhaltlich umfassend aufgestellt ist, aber nun mit 20 Mitgliedern und 20 stellvertretenden Mitgliedern auch personell breit aufgestellt ist; ({1}) denn Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Kriterium für gute Politik. Dieser Grundkonsens sollte auch in dieser Legislaturperiode für die Arbeit des Beirates gelten. Wirtschaftliches Handeln sollte stets mit dem Blick stattfinden, dass wir auch an die zukünftigen Generationen denken, die Generationen unserer Kinder und Enkelkinder, die bereits mit zunehmend lauterer Stimme diese Nachhaltigkeit von uns einfordern. Liebe Kollegen und Kolleginnen, 2050 werden mehr als 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben. International bedeutet Nachhaltigkeit, für lebenswerte Grundlagen dieser 9 Milliarden Menschen zu sorgen. ({2}) Die EU hat sich vorgenommen, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dafür bleibt noch viel zu tun. Wir befinden uns nun, um mit den Worten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu sprechen, in einer Dekade des Handelns. Das bedeutet, dass wir zum Beispiel aus dem Wald nur so viel Holz herausholen können, wie wir mindestens neu anpflanzen, dass wir der Natur nur so viel zumuten können, wie sie auch verkraftet. Das wusste übrigens schon, wie gerade erwähnt, der Chemnitzer Hans Carl von Carlowitz. Vor über 300 Jahren prägte er damit als Erster den Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist also ein sächsischer Gedanke, und ich als gebürtige Sächsin bin stolz darauf. ({3}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, derjenige, der heute die Umwelt schützt, der schützt auch den Wohlstand von morgen. „Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört eine Umwelt in bestem Zustand.“ Sie werden es sicherlich kennen; denn so steht es im Kapitel über die Umweltpolitik der Freiburger Thesen von 1971. Nachhaltigkeit im Sinne der Freiheit und der Chancen jetziger und kommender Generationen muss sozial und ökologisch zugleich sein, damit niemand auf der Strecke bleibt; denn Nachhaltigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nicht nur ein Projekt der Politik und derjenigen, die es sich leisten können. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Harzer. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Magazin „Der Spiegel“ hat eine bemerkenswerte Umfrage veröffentlicht: Unter den Jugendlichen wankt die Unterstützung für den Kapitalismus. – Also: Wenn wir ernsthaft über Nachhaltigkeit sprechen wollen, dann müssen wir über den Kapitalismus sprechen. ({0}) Nachhaltigkeit und Kapitalismus schließen einander aus. Das hat die junge Generation inzwischen erkannt. Bei den Klimademonstrationen wird ganz laut gerufen: Man muss das System ändern, nicht das Klima. ({1}) Also, wir müssen unser kapitalistisches Wirtschaftssystem ändern, wenn wir nicht unser eigenes Grab schaufeln wollen. Kapitalismus ist von Natur aus nicht auf die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen gerichtet, sondern auf Profite, und das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Schauen wir uns die Praxis an. Ich habe die Bundesregierung gefragt, ob sie die Meinung der EU-Kommission teile, dass Rüstungsunternehmen eben nicht nachhaltig seien. Die Antwort lautet – ich zitiere –, man wolle weitere Prozesse eng zu diesem Thema begleiten. Dabei ist doch ganz klar: Kriege sind niemals nachhaltig. ({2}) Krieg heißt maximale Umweltzerstörung, und das darf nicht sein, meine Damen und Herren. ({3}) Ich frage auch: Warum bleibt die Bundesregierung hinter der EU-Kommission zurück? Ein anderes Beispiel: Im Jahr 2021 wurden 3,4 Milliarden Euro Steuergelder an Käufer von Elektroautos ausgereicht. Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. Das ist Wirtschaftsförderung für die Autoindustrie. Das ist pures Greenwashing, meine Damen und Herren! ({4}) Den Beirat gibt es seit vielen Jahren; das ist schon gesagt worden. Er darf kein zahnloser Tiger sein. Der Beirat sollte die Bundesregierung nicht nur begleiten, sondern auch klare Ansagen machen. Gut wäre es, wenn er nicht nur ein Beirat für nachhaltige Entwicklung wäre, sondern auch ein Beirat gegen Greenwashing. Das ist das, was wir brauchen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Nächster Redner ist der Kollege Helmut Kleebank, SPD-Fraktion, mit seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Helmut Kleebank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005105, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch wenn das spannende Ansätze der Kapitalismuskritik waren, bitte ich um Nachsicht, wenn ich darauf nicht eingehe. ({0}) – Vielleicht beim nächsten Mal. Was mit dem Tagesordnungspunkt „Einsetzung des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung“ erst einmal äußerst unspektakulär daherkommt, berührt inhaltlich und im Kern eine der entscheidenden Aufgaben der Politik in den kommenden Jahren – nicht nur in unserem Land, sondern in Europa und weltweit. Die, wie ich meine, zentrale Herausforderung für die gesamte Politik dieser und kommender Wahlperioden ist immer noch Nachhaltigkeit. Es geht im Kern um nicht weniger als die Frage: Welche Welt wollen wir unseren Kindern und unseren Enkelkindern hinterlassen? Und: Wird diese Welt ein gutes Leben ermöglichen, oder wird im schlimmsten Fall menschliches Leben kaum noch möglich sein? So titelte eine Berliner Tageszeitung vor zwei Tagen und wissenschaftlich belegt: „Das Zeitfenster für eine klimaresiliente Welt schließt sich“. Dieser Satz illustriert die Dringlichkeit, speziell den Klimawandel zu bekämpfen. Aber natürlich gehören zu den großen bedrohlichen Szenarien ebenso das Artensterben und die Vermüllung unserer Welt mit Plastik. Natürlich sind es auch die großen sozialen Fragen wie zum Beispiel Armut und Gleichstellung, die in den Nachhaltigkeitszielen enthalten sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle für die Worte unserer Bundesministerin Svenja Schulze heute Morgen, die hier den Akzent gesetzt hat, und für die vielen guten Beiträge in der vorangegangenen Debatte zum Frauentag. Mit diesem Hintergrund ergibt sich für uns eine klare Aufforderung: Alle großen Weichenstellungen, über die wir hier entscheiden, müssen nachhaltig sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Nachhaltigkeit ist, wie bereits angedeutet, nicht nur Klima und Umwelt. Ich will hierfür ein Beispiel geben, das mich als Bürgermeister immer wieder sehr bewegt hat. Das UN-Nachhaltigkeitsziel 11 macht deutlich, dass Städte und Wohnraum nicht nur sicher, widerstandsfähig und klimafreundlich, sondern auch inklusiv geplant werden sollen. Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist nämlich kein optionales Add-on, sondern durch die UN-Behindertenrechtskonvention eine Verpflichtung und geltendes Recht in unserer Bundesrepublik Deutschland. Wohngebäude und Wohnungen können nämlich bei einer von Anfang an zielgerichteten Planung ohne wesentliche Mehrkosten und ohne Zeitverzögerungen barrierefrei gestaltet und gebaut werden. Hunderttausende neue Wohnungen werden in den kommenden Jahren entstehen. Diese neuen Wohnungen werden round about 100 Jahre stehen. Lassen Sie uns daher in diesen Neubauprojekten auch rollstuhlgerechte Wohnungen errichten und so auf Jahrzehnte denjenigen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ein neues und bedarfsgerechtes Zuhause schaffen. Das ist Nachhaltigkeit, meine Damen und Herren. ({2}) Der Beirat hat spezielle Aufträge: Er begleitet, prüft und bewertet die Nachhaltigkeitsstrategien und die Nachhaltigkeit der Politik auf den verschiedenen Ebenen. In diesem Sinne arbeitet er den Fachausschüssen zu. Dann aber – das ist nun meine große Bitte an Sie, die Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses – muss die Frage der Nachhaltigkeit bei den Fachberatungen in den Fachausschüssen auch immer mitgedacht, mitbedacht und vor allen Dingen im Sinne der 17 Ziele der Nachhaltigkeit umgesetzt werden. Es wäre daher die falsche Haltung, mit dem heutigen Beschluss das Nachdenken über Nachhaltigkeit und die Verantwortung für nachhaltige Politik alleine an den Parlamentarischen Beirat quasi zu delegieren. Lassen Sie uns dieser Aufgabe, lassen Sie uns der Sorge für Nachhaltigkeit gemeinsam neue Impulse und neuen Schwung verleihen! Ich freue mich sehr, dass wir heute die Einsetzung des Beirates auch für diese Wahlperiode beschließen werden und dass auch an eine Weiterentwicklung der Arbeit des Beirates gedacht worden ist. Ich danke daher allen sehr herzlich, die an diesen Verhandlungen mitgewirkt haben. Vielen Dank an diese Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung – letzter Satz, Ehrenwort; mir geht noch die Debatte über Hanau von gestern nach, deswegen ein einziger Satz –: Der Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für die Demokratie in unserem Land und muss daher bekämpft werden. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kleebank. – Es gilt der Grundsatz – Parlamentsbrauch –, dass wir bei einer ersten Rede weder Zwischenfragen zulassen noch auf die Redezeit gesondert achten. Das sollte aber nicht dazu führen, sie dramatisch zu überschreiten. Bei der ersten Rede geht das, aber bei weiteren nicht. Wir lassen auch eigentlich keine Kurzinterventionen zu, aber ich bin von der AfD-Fraktion darauf hingewiesen worden, dass das Präsidium eine Zwischenfrage übersehen hat, die der Kollege Dr. Kraft zur Rede von Frau Lötzsch stellen wollte. Deshalb lasse ich, Frau Kollegin Lötzsch, eine Kurzintervention zu, die Sie beantworten werden, zu Ihrem Redebeitrag. Wie gesagt, das liegt einfach daran, dass wir nicht immer nach oben schauen, obwohl wir auf göttlichen Segen hoffen. – Herr Dr. Kraft, Sie haben das Wort.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich glaube, es liegt daran, dass Sie immer ganz keck die Brille auf der unteren Nasenspitze haben und das obere Gesichtsfeld vielleicht ein bisschen eingeschränkt ist. Frau Lötzsch, Sie haben die Nachhaltigkeit des Kapitalismus kritisiert. Ich will Ihnen deswegen einfach Gelegenheit geben, uns die Segnungen der Nachhaltigkeit des Sozialismus am Beispiel des Bitterfelder Silbersees, der vom Kapitalismus weggeräumt worden ist, zu erklären, oder vielleicht auch am Beispiel der nuklearen Lagerstätten in Russland, in Majak, oder an den schwermetallhaltigen Schlackebergen in Saporischja in der heutigen Ukraine, oder am Atom-U-Boot-Friedhof in Poljarnyi in Russland. Wo sind denn die Vorzüge der Nachhaltigkeit der von Ihnen präferierten sozialistischen Weltordnung? Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das dachte ich mir, dass Sie antworten wollen.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, selbstverständlich, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Unterschied zur AfD blicken wir in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit. ({0}) Wir gestalten gemeinsam die Zukunft. Dafür gibt es auch dieses Gremium, diesen Beirat, und dafür gibt es den Deutschen Bundestag. Die Beispiele, die Sie genannt haben, sind Beispiele, die der Umwelt und der Zukunft geschadet haben, und die muss man überwinden. ({1}) Ich finde es ziemlich phantasielos, hier solche Fragen zu stellen. Unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag ist es, die Zukunft zu gestalten und dafür zu sorgen, dass sich Fehler nicht nur nicht wiederholen, sondern dass unsere Kinder und Enkelkinder in Frieden und in guten Verhältnissen leben können. Von daher, glaube ich, zeigt Ihre Frage, dass Sie als Partei nur der Vergangenheit verhaftet sind. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit ist das auch geklärt. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Alexander Engelhard, CDU/CSU-Fraktion. Auch er hält seine erste Parlamentsrede. ({0})

Alexander Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der Einsetzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung müssten wir heute eigentlich die Korken knallen lassen; denn er erreicht in diesem Jahr die Volljährigkeit. Sein 18. Geburtstag wäre unter anderen Umständen sicherlich ein Grund, ausgelassen zu feiern, zumindest aber auf das Erreichte und auf das Kommende zu blicken. In den vergangenen 18 Jahren hat der Beirat schon viele Meilensteine erreicht. Ich denke zum Beispiel an die jährliche Plenarwoche „Nachhaltigkeit und Klima“ hier im Deutschen Bundestag, die die Kontrollaufgabe des Parlaments gegenüber der Bundesregierung stärkt. Hier geht es vor allem darum, darauf zu achten, dass Ökologie, Ökonomie und Soziales gleichberechtigt berücksichtigt werden. ({0}) Dazu gibt es allen Anlass. Bei der Energiepolitik wird das Handeln mittlerweile zu einseitig von der ökologischen Seite aus getrieben. Das spüren wir zum Beispiel an den explodierenden Energiepreisen, die gerade für energieintensive Unternehmen eine Produktion unrentabel machen, was wiederum zu Lieferengpässen führt. Mich würde es nicht wundern, wenn dies die Inflation weiter befeuert – existenzbedrohend nicht nur für den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern auch für den Geldbeutel des deutschen Sparers. Deshalb appelliere ich an Minister Habeck, dass er auf dem Weg der Transformation zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft die Unternehmen und Bürger nicht im Stich lässt. ({1}) Wir als CDU/CSU-Fraktion haben einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgelegt, um die Explosion bei den Energiepreisen zu bekämpfen und damit die sozialen und ökonomischen Aspekte zu berücksichtigen. Nicht zu Unrecht gehört zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, den Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle zu sichern. Ich freue mich sehr, dass die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag die parlamentarischen Kontrollrechte im Kontext der Nachhaltigkeit stärken will. An diesem Anspruch werden wir Sie messen. Der Beirat wird nicht nur volljährig, sondern muss auch vollwertiger werden. Als CDU/CSU werden wir im Beirat für nachhaltige Entwicklung der Regierung auf die Finger schauen, ob sie umweltbezogene, wirtschaftliche und soziale Ziele gleichberechtigt umsetzt und die Wechselwirkung zwischen ihnen beachtet. Ich wünsche allen, die heute in diesen Beirat entsandt werden, die nötige Überzeugungskraft, das nötige Durchhaltevermögen und vor allem die Fähigkeit, alle drei Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit gleichwertig zu berücksichtigen. ({2}) Darüber hinaus müssen wir es schaffen, dass wir alle nicht nur positiv über Nachhaltigkeit denken, sondern auch entsprechend handeln. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das manchmal schwer sein kann. Vor über 20 Jahren war ich einer der ersten Biomüller Deutschlands. Das hört sich ökologisch sehr vorbildlich an, aber ehrlich gesagt habe ich es damals aus rein ökonomischen Gründen gemacht. Mittlerweile mache ich es aus voller Überzeugung. ({3}) Es zeigt, dass wir Prozentziele wie im Ökolandbau nicht staatlich verordnen können, sondern die ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen müssen. Und nicht zu vergessen die Akzeptanz der Menschen: Nur wenn die Menschen von sich aus mit Überzeugung und Freude nachhaltig handeln und aus freien Stücken sagen: „Ja, ich will“, werden wir unsere Ziele erreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Engelhard. – Als letzte Rednerin in der Debatte erhält das Wort die Kollegin Dr. Franziska Kersten, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Tag, Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was bedeutet Nachhaltigkeit? Wir haben heute schon sehr viel gehört, und ich möchte dazu sagen, dass der Ursprung der Nachhaltigkeit durch den vor 300 Jahren tätigen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz mit dem forstwirtschaftlichen Prinzip installiert wurde: nur so viel Holz schlagen, wie man auch tatsächlich nachpflanzt. Was mein Kollege von der CDU/CSU gerade in seiner Rede gesagt hat, finde ich gut. Ich hoffe, dass Sie das mehr in Ihre Fraktion einbringen können; denn das war bis jetzt nicht unbedingt das Markenzeichen der CDU/CSU. ({0}) Also perfekt. Zu Herrn Dr. Kraft möchte ich noch sagen: Ich finde es super, dass Sie die Probleme der nuklearen Endlager erkannt haben, und ich würde Sie ermuntern, dass Sie sich in Ihrer Fraktion dazu gern noch mal Gedanken machen. Denn das ist wirklich keine Nachhaltigkeit. ({1}) Nachhaltigkeit bedeutet, nicht auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben. Das ist eine Jahrhundertaufgabe, die wir fraktions- und ausschussübergreifend bearbeiten müssen. Wir müssen also die planetaren Grenzen beachten. Wir dürfen erneuerbare Naturgüter und Böden nur im Rahmen ihrer Regenerationsfähigkeit nutzen. Da wir wahrscheinlich nicht alle über Privatwald verfügen und da die Nachhaltigkeit zum Thema machen können, würde ich gern auf etwas hinweisen, was uns alle betrifft: die Ernährung. Der WWF beziffert den CO2-Ausstoß im Ernährungssektor auf 210 Millionen Tonnen und damit auf mehr als die gesamte Emission im Verkehrssektor. Jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin sind gehalten, in ihrer Ernährung ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Wir brauchen einen bewussteren Umgang mit Lebensmitteln, weniger Abfall, weniger weggeworfene Lebensmittel sowie weniger tierische Produkte und mehr pflanzliche Produkte. Dann haben wir auch mehr Regionalität. Mein Schlusssatz: Wir haben als gewählte Abgeordnete die Chance und die Verantwortung, diesen Nachhaltigkeitsbeirat wirklich mit Leben zu füllen und dort darauf hinzuwirken, dass für die Zukunft ein Leben lebenswert ist. Danke. ({2})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Erlauben Sie mir zuerst eine persönliche Botschaft: Alles Gute, Muttern, zum Geburtstag! Alles Gute für weitere Jahre! – Sie wird 87. Sehen Sie es mir nach. Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die AfD-Fraktion einen Antrag eingebracht, um eine Indexierung der Tarifeckwerte in der Einkommensteuer zu ermöglichen, die dauerhaft auf Grundlage der Inflation die kalte Progression abschafft. Ich kann mich noch gut an die Debatte erinnern, meine Damen und Herren. Die damalige GroKo war der Meinung, dass es das Problem mit der kalten Progression so ja nicht mehr gebe. Man war sich also einig: Eine Anpassung über etwaige Steuergesetze sei ausreichend. Uns wurde damals – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – vorgeworfen, hier eine „Meisterschaft im Populismus“ zu betreiben – ja, das können wir, wir sind einfach die besseren Redner und bringen die Zitate auf den Punkt – und ein – ich zitiere weiter – „längst gestorbenes Thema künstlich weiterzubeatmen“. Uns war schon damals klar, dass dies falsch ist, weil wir faktengetrieben sind und nicht ideologiegetrieben. ({0}) Die Auferstehung der Inflation. Whatever it takes. Danke, EZB! Danke, Super-Mario! ({1}) Richtig ist, dass im Herbst 2020 Tarifanpassungen beschlossen wurden. Gerechnet wurde für das Jahr 2021 – es waren Sozen, die waren an der Macht – mit 1,2 Prozent; geworden sind es 3,1 Prozent. Man könnte sagen, knapp daneben ist auch vorbei. Dieser Unterschied führt für alle Steuerzahler in Deutschland zu einer Mehrbelastung von über 1 Milliarde Euro. Spannend sind in diesem Zusammenhang auch die Aussagen des Bundesfinanzministers Lindner; er ist immer nicht da, wenn man ihm gute Empfehlungen geben möchte. Mitte Januar hieß es nämlich noch bei ihm, die sogenannten Inflationsgewinne könnten nur zum Teil an die Steuerzahler zurückgegeben werden. Einen Monat später, am 15. Februar, lässt derselbe Bundesfinanzminister verlautbaren, er wolle die Steuerzahler über den Einkommensteuertarif entlasten. Vielleicht hat diese schnelle Kehrtwende ja etwas mit unserem heutigen Antrag zu tun, meine Damen und Herren von der FDP. ({2}) Ich erinnere Sie an Ihr eigenes Wahlprogramm – Sie sind ja jetzt in der Regierung –, in dem Sie selbst den Tarif auf Rädern fordern, um automatische Anpassungen im Steuersystem vorzunehmen. Es war die FDP, die damals in Richtung der CDU von „Wählertäuschung der Fleißigen in unserem Lande“ sprach. Darum lassen Sie mich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit in Richtung FDP adressieren: Beginnen Sie damit, Ihre Wähler nicht zu täuschen und damit auch zu enttäuschen! Am Ende noch eine persönliche Bemerkung. Herr Lindner hatte gestern mit seiner koketten Anmerkung sicherlich recht, ein kritischer Abgeordneter solle vorsichtig sein, wenn zu einem Automatismus, der dazu noch haushaltsrelevant sei, aufgerufen werde. Aber seine Seitensprünge eben: Innerhalb eines Monats ändert er seine Meinung. Auf Gutdünken also die Steuerzahler eventuell mit der Hälfte, ein wenig und dann auch noch zeitverzögert entlasten zu wollen, zeigt doch gerade, wie notwendig unser Antrag ist, meine Damen und Herren. ({3}) Es ist doch auch wirklich so: Wenn wir jedes Jahr manuell per Jahressteuergesetz Inflationsanpassungen machen, die dann eben, wie gesagt, dem Goodwill der Regierung unterworfen sind, dann kann man es doch eigentlich auch wie nach diesem Tarif automatisch und transparent vornehmen. Und kommen Sie mir nicht mit den Grundfreibeträgen! Da tun Sie nur das, was verfassungsrechtlich eh geboten ist, meine Damen und Herren. ({4}) Lassen Sie uns das also – auch das höre ich immer hier im Parlament – mit der bürgerlichen Mehrheit im Finanzausschuss machen. Die haben wir, und dazu zählt auch die AfD-Fraktion. ({5}) Hören Sie also mit Ihrem Framing „die demokratischen Fraktionen“ auf! Wir sitzen hier im Parlament, weil uns mehr als 5 Millionen Menschen gewählt haben, und sind, glaube ich, mehr als demokratisch legitimiert, hier mitzureden. Also, lassen Sie uns im Finanzausschuss durch ein vernünftiges Gesetz die Menschen dauerhaft, transparent, automatisch und vor allen Dingen zeitnah von der Inflation entlasten! Stimmen Sie bitte unserem Antrag zu! Die CDU wollte es ja eigentlich auch. Bitte schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. ({0}) – Ich kann Ihre Rede nicht verhindern. Also, ich habe sie nicht zugelassen, Ihre Fraktion hat sie angemeldet, Herr Kollege Gottschalk. Nächster Redner ist der Kollege Michael Schrodi, SPD-Fraktion. ({1})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Dienstag bin ich zunächst über den Titel Ihres Antrags gestolpert. Da hieß es: „Kalte Progression durch Inflation stoppen“. Ich fand dieses Vorgehen spannend. Das ist so ähnlich wie „Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“ oder „Hetze mit Höcke bekämpfen“. Das alles gibt wenig Sinn, auch Ihr Antrag. ({0}) In Zukunft gilt also auch für Sie aus der AfD-Fraktion: Augen auf beim deutschen Satzbau. Gerade bei Ihnen sollte das doch klappen. Den Titel haben Sie noch geändert, der Inhalt ist nicht besser geworden. Der Antrag beginnt schon in der Begründung mit einer Falschaussage. Sie schreiben dort, die Einkommensteuer sei in den letzten Jahren – da geben Sie sich in der Begrifflichkeit ganz volksnah – diskretionär angepasst worden, also, wenn ich das übersetzen darf, nach Gutdünken. Das ist falsch. Es gibt seit 1996 alle zwei Jahre den Existenzminimumbericht, es gibt seit 2012 den Progressionsbericht, ({1}) und danach wird im Deutschen Bundestag entschieden, dass wir den Grundfreibetrag, den Kinderfreibetrag und natürlich auch die Frage der Progression entsprechend angehen. Wie ist es denn beispielsweise im Jahr 2020 abgelaufen? Da kommen wir zur nächsten Falschaussage der AfD-Fraktion. Ich zitiere aus der „WirtschaftsWoche“ vom Februar dieses Jahres: 2020 hatte der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz ... die finale Deutungsmacht über die kalte Progression. Heute zeigt sich, dass er im unteren Einkommensteuertarif für eine übermäßige Kompensation sorgte, also niedrige und mittlere Einkommensbezieher stärker entlastete, als dass es die Preisentwicklung erforderte. ({2}) Für höhere Einkommen fiel der Ausgleich der kalten Progression jedoch zu mickrig aus. Zumindest für die „WirtschaftsWoche“ ist das: Gelebte SPD-Politik. Ja, wir haben damals als Koalition bewusst die politische Entscheidung getroffen, den Grundfreibetrag stärker anzuheben, als das im Existenzminimumbericht vorgesehen war. ({3}) Das entlastet nämlich gleichmäßiger vor allem auch kleine und mittlere Einkommen. Dafür haben wir die stärkeren Schultern ein Stückchen mehr belastet, indem wir die Progression nicht vollständig ausgeglichen haben. Ich finde, das ist eine kluge und gerechte Entscheidung, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Wenn es nach dem Antrag der AfD geht, dann würde es in dieser Frage aber einen Automatismus geben. Was würde das bedeuten? Für dieses Parlament zum Beispiel hieße das, dass wir nicht mehr die Möglichkeit hätten, darüber zu entscheiden, ob wir Ent- oder Belastungen wirklich vornehmen wollen. Wir entscheiden aber hier; wir sind der Souverän, meine sehr geehrten Damen und Herren. Außerdem würden Sie damit vornehmlich Spitzenverdiener entlasten. Dazu können Sie sich viele Studien anschauen, zum Beispiel die von Dr. Stefan Bach, DIW, zur Verteilungswirkung. Erstens zahlt die Hälfte der Menschen keine Steuern, Herr Gottschalk; die entlasten Sie auch nicht durch eine Änderung bei der Einkommensteuer.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Schrodi, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, erlaube ich nicht. – Zweitens müssten sich 90 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit der Hälfte des Betrags, der zurückerstattet wird, begnügen, während 10 Prozent, also diejenigen mit Spitzeneinkommen, die andere Hälfte dieser Entlastung bekommen würden. Das ist das Gegenteil von kluger und gerechter Politik, sondern eine Umverteilung von unten nach oben. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das alles ist nichts Neues; die AfD-Fraktion macht das seit Jahren hier in diesem Parlament. Dazu gibt es eine interessante Studie der Otto Brenner Stiftung, die ich allen ans Herz lege. Darin heißt es: „Die soziale Rhetorik“ der AfD ist „oberflächliche Fassade … In ihrer parlamentarischen Praxis argumentiert, streitet und – nicht zuletzt – stimmt sie weitgehend gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland.“ Dieser Antrag ist wieder ein Beleg dafür: Sie haben ein großes Herz für Spitzenverdiener, aber wenig für die arbeitende Mitte in unserer Gesellschaft übrig. ({1}) Wir werden die Menschen in Deutschland entlasten, und zwar gezielt dort, wo es notwendig ist. Wir wissen, dass es durch die Energiepreise Belastungen gibt. Das müssen die Menschen bewältigen. Die gezielten Maßnahmen sind auf dem Weg, zum Beispiel der Heizkostenzuschuss oder die Frage der Abschaffung der EEG-Umlage. Aber wenn wir über diese inflationären Tendenzen sprechen, dann müssen wir auch sagen: Das ist eine fossile Inflation. Es geht um fossile Energieträger, die gerade die Preise steigern. Wenn wir da mittel- und langfristig etwas tun wollen, dann müssen wir das tun, was Sie hier die ganze Zeit kritisieren und zu behindern und verhindern versuchen: Wir müssen für einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien sorgen. Das sind die kostengünstigsten Energieträger, die wir haben. Die müssen wir ausbauen, dann tun wir auch was für die Menschen in diesem Land und für das Klima. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Gottschalk, bitte, das ist im Parlament bei uns nicht üblich. Ich lasse auch nicht zu, dass das hier einreißt. – Sie haben eine Ausschusssitzung, da können Sie das auch noch mal vorbringen. Sie können es auch draußen machen; aber dass jetzt hier solche Aktionen stattfinden, lasse ich nicht zu. ({0}) Ich bitte darum, das jetzt zur Kenntnis zu nehmen und auch zu beachten; denn sonst muss ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD – nichts Neues –, den Einkommensteuertarif automatisch an die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes anzupassen, hat inzwischen schon einen etwas längeren Bart. Dennoch bin ich dankbar, dass das Thema heute aufgesetzt wird; dennoch ist es wichtig, dieses Thema heute zu debattieren. Denn es ist natürlich richtig, dass sich die kalte Progression bei einer derzeit stark erhöhten Inflation deutlich verschärft hat. Und es ist richtig, dass die Bundesregierung hier dringend aufgefordert ist, diese inflationsgetriebenen, schleichenden Mehrbelastungen bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schleunigst auszugleichen. ({0}) Der Finanzminister ist jetzt gefordert – er ist nicht da, aber die Staatssekretärin Hessel wird es ihm sicherlich ausrichten –, den fünften Bericht zur Steuerprogression wesentlich früher vorzulegen als ursprünglich geplant. Wir brauchen ihn nicht im Herbst, wir brauchen ihn jetzt; denn dieser Progressionsbericht ist die Grundlage für die Neujustierung des Einkommensteuertarifs, und zwar proaktiv, durch Vorlage der Regierung hier und durch dieses Parlament. Die von der AfD geforderte dauerhafte automatische Anpassung ist der falsche Weg. Warum? – Weil ein solcher Tarif auf Rädern automatisch ein ganzes Räderwerk in Gang setzt. Er würde dazu führen, dass auch weitere Regelungen innerhalb und außerhalb des Steuerrechts zu indexieren sind. Ich will hier nur an die Erfahrungen erinnern, die man in den 70er-Jahren in Italien gemacht hat ({1}) mit der Scala mobile, der automatischen Lohntreppe, bei der Löhne und Gehälter automatisch der Inflationsentwicklung angepasst wurden. Die Folgen waren fatal; denn das Ergebnis einer automatisierten Anpassung, eines automatisierten Ausgleichs ist am Ende eine Beschleunigung der Inflation, eine weitere Erhöhung der Inflation. Das kann ja nun tatsächlich niemand wollen. ({2}) Ich gebe zu dieser Automatik noch etwas zu bedenken, Herr Gottschalk: Als Gesetzgeber können wir doch hier nicht sehenden Auges unsere Gestaltungshoheit, unsere Gestaltungsmöglichkeiten einschränken. Es muss doch auch das Selbstverständnis von uns Parlamentariern sein, dass wir auf den jeweiligen Bericht der Steuerprogression hin in den Tarif eingreifen und durch entsprechende Gesetze regelmäßig einen angemessenen Ausgleich vornehmen. ({3}) Dieses Vorgehen zum Abbau der kalten Progression hat ja in den letzten zehn Jahren auch tatsächlich gut funktioniert. Wir haben es vor knapp zehn Jahren zusammen mit der FDP hier eingeführt, und es hat sich bewährt. Aber unabhängig von dieser Schnapsidee der Indexierung stellt sich auch die Frage, wie sich die bisher fehlende systematische Anpassung des Tarifverlaufs auswirkt. Wir haben heute einen Tarifverlauf, der wesentlich steiler ist, als wir ihn in der Vergangenheit hatten. Und die aktuelle, im Wesentlichen grüne Inflation, die wir ja überall spüren, unterstreicht es noch mal. Der Finanzminister ist hier dringend aufgefordert, auch die Tarifgrenzen anzupassen. Lieber Herr Lindner, nochmals – Sie richten es ihm bitte aus; vielleicht guckt er auch zu –: Wo bleibt denn die Umsetzung des Chancentarifes der FDP, die ja noch vor wenigen Monaten zu Recht intensiv gefordert wurde? Wo bleibt Ihr Chancentarif? Legen Sie hier endlich ein entsprechendes Papier vor! ({4}) Die weitere Glättung des Einkommensteuertarifs ist jedenfalls überfällig. Und wenn ich dann höre, dass Sie hier die kleinen Einkommen entlastet haben: ({5}) Wir haben ab Herbst einen Mindestlohn von 12 Euro. Das bedeutet bei den aktuellen Tarifen für diese Lohngruppe eine Einkommensteuererhöhung von 84 Prozent. 84 Prozent Einkommensteuererhöhung, meine Damen und Herren; das können Sie wunderbar nachlesen beim Bund der Steuerzahler, die haben das exzellent aufgerechnet. Entlastung niedriger Einkommen, Leistungsgerechtigkeit – das sieht sicherlich anders aus. ({6}) Ich schließe mit einem Appell, Herr Präsident. – Herr Finanzminister, reagieren Sie jetzt! Reagieren Sie nicht erst 2023, wie angekündigt, sondern schaffen Sie jetzt zügig die Grundlage für die dringend notwendige Tarifanpassung, auch rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Legen Sie den entsprechenden Progressionsbericht nicht im Herbst, sondern jetzt vor! Dann werden wir hier im Parlament handeln. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gutting. – Es ist immer schön, wenn man sagt: Ich komme jetzt zum Schluss. – Und das dauert dann eine Minute. ({0}) Das ist nicht nur bei dem Kollegen Gutting so, es ist bei allen Kolleginnen und Kollegen so. Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Sascha Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zu seiner ersten Parlamentsrede. ({1})

Sascha Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005162, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die gestiegene Inflationsrate beschäftigt uns alle. Sie besorgt uns alle, aber sie betrifft uns nicht alle gleichermaßen. Viele Menschen schauen auf die Preisentwicklung, insbesondere bei den Energiepreisen, und sorgen sich ganz akut, ob das Geld am Ende des Monats noch ausreicht. Sie sind es, die derzeit die Belastung am stärksten zu spüren bekommen, da sie kaum Spielräume haben, ihr Alltagsleben zu bestreiten, keine Rücklagen haben. Das zeigten erst gestern die aktuellen Berechnungen des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Und nein, der Ausgleich der kalten Progression ist kein geeignetes Mittel, um diesen Menschen akut zu helfen. ({0}) Wenn wir noch mal auf die Ursachen der aktuellen Inflation schauen, dann stimmt es eben, dass Inflationstreiber – das ist ein weltweites Phänomen – zum Großteil die fossilen Energieträger sind. Deswegen ist es nun einmal sehr berechtigt, Herr Gutting, dass wir von einer fossilen Inflation sprechen. Daher ist es richtig, dass zur Bekämpfung der Folgen und dann auch der Ursachen zunächst einmal genau dort angesetzt wird. ({1}) Genau das macht diese Bundesregierung. In der Koalition haben wir viele Maßnahmen vorgesehen, die die Menschen zielgenau entlasten werden. Zum Teil haben wir erste davon schon auf den Weg gebracht. Dazu gehören – und ich nenne es an dieser Stelle gerne noch einmal – der Heizkostenzuschuss beim Wohngeld und die faire Aufteilung des CO2-Preises beim Heizen zwischen Mietern und Vermietern, die wir angehen und die nebenbei zusätzliche Impulse für Investitionen in energieeffizientes Sanieren bringt und damit ebenfalls den hohen Energiekosten, den hohen Heizkosten entgegenwirkt. Wir bereiten aus der CO2-Bepreisung ein Energiegeld vor. Dazu kommen der Kindersofortzuschlag, die baldige Erhöhung des Mindestlohnes und die baldige Abschaffung der EEG-Umlage, die den Antragstellern hier im Haus in der Vergangenheit ja nicht schnell genug gehen konnte. Gestern haben Sie sie bagatellisiert; da müssen Sie sich auch mal entscheiden. ({2}) Die EEG-Umlage, damals unter Rot-Grün eingeführt, hat ja dazu gedient, Strom aus Sonne und Wind in den Markt zu bekommen, und sie war sehr erfolgreich. Sie hat im Wortsinn ihren Zweck erfüllt und kann abgelöst werden. Windenergie ist heute mit die günstigste Energieform. Wenn wir viel Windenergie im Netz haben, senkt das den Börsenstrompreis. Daher wäre es – das sage ich mit Blick auf meine Kolleginnen und Kollegen von der CSU – gut gewesen, wenn wir auch bei mir daheim in Bayern einen deutlich höheren Anteil an Windstrom gehabt hätten. ({3}) Das wäre gut für den Klimaschutz, gut für die Versorgungssicherheit, gut für bezahlbare Strompreise. Wir sind gespannt, welche Vorschläge unser bayerischer Ministerpräsident unserem Bundeswirtschaftsminister dazu machen wird; er hat sie ja noch für diesen Monat angekündigt. Jetzt aber zum vorliegenden Antrag zur kalten Progression. Kalte Progression entsteht immer dann, wenn Gehaltssteigerungen durch die damit einhergehende Erhöhung des Einkommensteuersatzes nicht mehr ausreichen, um die infolge der Inflation gestiegenen Lebenshaltungskosten auszugleichen. Daraus lässt sich schon ableiten, dass ein Entgegenwirken der kalten Progression eben kein geeignetes Mittel ist, um vor allem die Menschen mit geringem Einkommen, die die aktuelle Inflation besonders hart trifft, gezielt zu entlasten. Der Grund: Sie werden mit ihrem geringen Grenzsteuersatz durch eine einfache Verschiebung im Einkommensteuertarif eben weniger entlastet als Menschen beispielsweise mit hohen Einkommen. Der Ausgleich der kalten Progression steht also gerade nicht auf der Agenda und muss da auch nicht stehen. ({4}) Denn seit 2012 gibt es ja ein eingeübtes Verfahren: Alle zwei Jahre legt die Bundesregierung einen Progressionsbericht vor, auf dessen Basis dann der Bundestag Änderungen zum Ausgleich vornimmt. ({5}) Das nächste Mal ist das in diesem Herbst wieder so weit; der Bundesfinanzminister hat es gestern hier im Plenum angekündigt. Warum also die Aufregung? Ja, natürlich, es ist richtig: Die Schätzung der Inflationsrate im letzten Progressionsbericht lag etwas daneben. Die Inflation im Jahr 2021 war mit 3,1 Prozent deutlich höher als die damals geschätzten 1,2 Prozent – was für einen Normalverdiener übrigens bei der Einkommensteuer eine Unterkompensation von 30 Euro ausmacht, für das ganze Jahr wohlgemerkt. Das ist die Größenordnung, über die wir hier reden. Zur Wahrheit gehört eben auch, dass in der Vergangenheit durch Änderungen am Einkommensteuertarif oft eine Überkompensation vorgenommen wurde. Hinzu kommt, dass der Bundesfinanzminister gestern hier im Hohen Haus – ich glaube, zu Recht – davor gewarnt hat, dass die einfache Indexierung der Anpassung an die kalte Progression, wie im vorliegenden Antrag vorgesehen, selber wieder inflationstreibend wirken kann. Ich komme also zum Schluss und sage ganz deutlich: Rasche zielgenaue Hilfe und strukturelle Maßnahmen, um der fossilen Inflation entgegenzuwirken, sind gut und richtig. Genau dies geht diese Bundesregierung an. Aktionismus in Sachen kalte Progression ist dagegen fehl am Platz. Der Bundesfinanzminister hat gestern angekündigt, im Herbst, wenn es wieder ansteht, einen fairen Vorschlag zu machen. Wir werden uns ihn anschauen, dann in der Koalition zusammen darüber beraten, unsere Vorstellungen abgleichen. Ich bin sicher: Wir werden auch hier dann zu einem gemeinsamen guten Verfahren finden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Janine Wissler, Fraktion Die Linke. ({0})

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit ihrem Gerede von der angeblich so dramatischen kalten Progression versucht sich die AfD als Anwältin der Beschäftigten aufzuspielen, als sei das das große Problem der Menschen mit geringen und mittleren Einkommen. ({0}) Alleine eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, meine Damen und Herren, in der Einkommensteuer würde für deutlich mehr Steuergerechtigkeit sorgen als das, was Ihre kleinteilige Anpassung des Steuersystems zum Ausgleich der Inflation ({1}) jemals bewirken könnte. ({2}) Wer Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen besserstellen will, der sollte nicht über die inflationsbedingte kalte Progression schwadronieren, sondern der muss sich für ein gerechtes Steuersystem einsetzen ({3}) und vor allem auch Vermögen umverteilen, meine Damen und Herren. ({4}) Und angemerkt: Menschen mit wirklich niedrigen Einkommen, die zu Niedriglöhnen arbeiten, haben überhaupt nichts von Ihren Vorschlägen. Aber von sozialem Ausgleich kann bei der AfD ja sowieso keine Rede sein. Sie fordern jetzt hier in Ihrem Antrag einen Enteignungsschutz; so nennen Sie das ja. ({5}) Ja, bei den enorm gestiegenen Mieten fällt Ihnen aber nicht auf, dass dies auch eine Form von Enteignung ist, eine viel stärkere Form von Enteignung. Wenn Mieterinnen und Mietern durch immer weiter steigende Mieten das Geld aus der Tasche gezogen wird, ({6}) dann interessiert das die AfD überhaupt nicht. Das zeigt doch, wie instrumentell Ihr ganzes Vorgehen hier ist, meine Damen und Herren. ({7}) Ein bundesweiter Mietendeckel: Das wäre mal ein tatsächlicher Enteignungsschutz. Aber an dieser Stelle ist Ihnen das ja völlig egal. Und Ihre vorgetragenen Forderungen nach Steuerentlastung nützen doch sowieso nur den Menschen, die hohe Einkommen haben. ({8}) Als Anwalt der kleinen Leute ist die AfD genauso unbrauchbar wie in jedem anderen Politikfeld auch, meine Damen und Herren. ({9}) Eine gerechtere Besteuerung in diesem Land ist notwendig. Deswegen schlägt die Linke eine Einkommensteuerreform vor, bei der alle Menschen, die weniger als 6 500 Euro pro Monat verdienen, stärker entlastet und Spitzenverdiener stärker besteuert werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, Sie haben recht. Ich komme zum Schluss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, ich wollte nur fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gottschalk zulassen. Dann können Sie auch weiter reden.

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, ich möchte keine Zwischenfrage der AfD zulassen. Vielen Dank. Ich komme auch zum Schluss; denn damit ist alles gesagt zu dem Unfug, den die AfD hier beantragt hat. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich wollte Ihnen nur Gelegenheit geben, vielleicht noch längere Ausführungen zu machen, aber Sie haben darauf verzichtet. ({0}) – Sehr schön. Nun begrüße ich für seine erste Parlamentsrede den Kollegen Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion. ({1})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache gar keinen Hehl daraus: Auch die FDP – das ist ja seit Längerem bekannt – setzt sich für einen Tarif auf Rädern ein. Aber Ihr Antrag lässt mich wirklich an dieser Position zweifeln. Man muss es schon richtig machen: nichts zu haushaltswirksamen Leistungen, nichts zu dem Triggereffekt, der eben eintreten kann und der an einigen Stellen bewiesen ist. Also ja, grundsätzlich ist Automatisierung in Ordnung, aber bitte nicht so. ({0}) Deswegen werden wir ja – ich glaube schon, dass es richtig ist, an die kalte Progression heranzugehen – auch handeln; das hat Christian Lindner gestern sehr deutlich gesagt. Wir werden uns aber auf den Progressionsbericht beziehen, auf die Daten und Fakten, die uns dann vorliegen. Dann werden wir seriös Vorschläge machen, wie wir den Tarif anpassen, wie wir den Grundfreibetrag erhöhen. So geht seriöse Finanzpolitik, auf die sich die Menschen in Deutschland verlassen können. ({1}) Ich wundere mich im Zuge dessen, wie zurzeit auch aus anderen Reihen leider über Steuersenkungsfantasien gesprochen wird, so als wären es irgendwelche bösen Gedanken, in einer sowieso schon wirtschaftlich und sozial schwierigen Lage Menschen vor allem in der Mitte und bei geringen Einkommen entlasten zu wollen. Ich glaube, im Höchstabgabenland, im Land mit den höchsten Steuern weltweit und im Land mit den höchsten Strompreisen ist es soziale Pflicht, dass wir die Menschen in der Mitte der Gesellschaft und mit geringen Einkommen entlasten. Wir sollten da ganz dringend ansetzen. Ich glaube, das ist kein Nebenthema, das ist kein böser Gedanke, keine Fantasie. Es ist dringend notwendig. ({2}) Ich habe mich auch über Ihre Position, Herr Gutting, ein bisschen gewundert. Es ist ja schön, dass Sie jetzt wieder sehen, dass die kalte Progression existiert. Sie haben noch 2019, damals in anderer Funktion, die kalte Progression weggeredet, gesagt, sie sei quasi verschwunden. ({3}) Ich zitiere aus Ihrer eigenen Rede mit Erlaubnis des Präsidenten: Es gibt dieses Phänomen ... schon seit 2012 nicht mehr, weil wir schon seit 2012 immer wieder – mittlerweile schon zum dritten Mal – bei der kalten Progression nachgesteuert, korrigiert haben. Die kalte Progression gehört seitdem der Vergangenheit an. ({4}) Ich glaube, das Problem ist aktuell. Und ich glaube, es ist unabhängig davon aktuell, ob man in der Regierung oder in der Opposition ist. ({5}) Der solide, verlässliche Weg, den wir jetzt eingeschlagen haben, mit den Kompromissen, die in einer Ampelkoalition nun einmal zu machen sind, ist genau der richtige Weg. Wir werden ihn weiter beschreiten. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass wir die Auswirkungen von Inflation, von kalter Progression sorgsam und nachhaltig abdämpfen. Und ich glaube, so funktioniert vernünftige und nachhaltige Finanzpolitik in Deutschland. Vielen Dank, dass Sie meiner ersten Rede gelauscht haben. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mordhorst. Das Zeitmanagement war vorbildlich, wenn ich das sagen darf. Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Andres, SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005009, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Dieser Antrag von rechts ist sowohl handwerklich als auch inhaltlich schlecht gemacht. Man versucht, uns mal wieder alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen, klaut dazu einfach mal eine Idee, ohne den Urheber zu nennen. Aber gut, das hat mit Charakter und Anstand zu tun. Und wer von uns hätte den bei diesem Antragsteller vermutet. ({0}) Das wurde ja auch eben eindrucksvoll bewiesen. (Kay Gottschalk [AfD]: Fangen Sie doch inhaltlich an! Und lassen Sie die Ideologiemütze weg! – Hören Sie zu. Sie können davon nur lernen. ({1}) Es gibt Gründe, warum dieser Tarif auf Rädern, als er vor vielen Jahren diskutiert wurde, letztendlich zu Recht verworfen wurde. Die einsetzenden Preissteigerungen beziehen sich auf Energiekosten wie Gas, Öl, Benzin und Strom. Und damit reden wir hier volkswirtschaftlich gar nicht über eine Inflation, sondern wir reden über einen Preisschock. ({2}) Das ist eine einmalige wirtschaftliche Verschiebung, von der derzeit noch gar nicht abzusehen ist, ob sie zu einer dauerhaften Inflation führen wird. Ein Tarif auf Rädern wäre volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Wie das Bundesfinanzministerium bereits 2010 zutreffend ausführte, heizt ein solcher Tarif auf Rädern eher die Inflation an, was wiederum zu einer Anpassung des Tarifs führen würde usw. Damit sind wir in einer Spirale: Ein Tarif auf Rädern führt zu einer Inflation auf Rädern. Verfassungsrechtliche Bedenken hat die AfD natürlich nicht. ({3}) Eine der zentralen Befugnisse des Parlamentes ist die Budgethoheit. Durch einen Tarif auf Rädern würde die Höhe der Steuereinnahmen aber an einen außerparlamentarischen Index gekoppelt. Mit anderen Worten: Das Parlament verliert die Kontrolle über die Einnahmenseite. ({4}) Ob dies überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, wage ich – als Nichtjuristin – ({5}) zu bezweifeln. Fazit: Ganz abgesehen davon, dass eine unterjährige oder sogar, wie beantragt, rückwirkende Änderung des Tarifs das totale Bürokratiemonster und in der Finanzverwaltung nicht zu stemmen wäre, ist eine Kopplung der Steuerprogression an die Inflationsrate ungeeignet. Dazu möchte ich Herrn Professor Dr. Ralph Westerhoff von der Hochschule Koblenz zitieren: Mit anderen Worten wird hier mit ungeeigneten Instrumenten auf ein aktuelles Problem reagiert. Das ist Populismus. Und auch da sind wir nichts anderes von der AfD gewöhnt. ({6}) Klar ist, dass wir die Steigerung der Energiekosten und damit das Sinken der Reallöhne nicht einfach hinnehmen werden. Wir halten uns dabei allerdings an echte Fakten und nicht an anekdotische Evidenz. Wie der Bundesminister der Finanzen bereits gestern hier mehrfach und deutlich ausgeführt hat – und zwar so deutlich, dass das alle hätten verstehen können –, werden wir der kalten Progression mit geeigneten Methoden begegnen, ({7}) nämlich: Erstens haben wir schon den Heizkostenzuschuss für Wohngeld- und BAföG-Empfänger beschlossen. ({8}) Zweitens diskutieren wir, die EEG-Umlage zum zweiten Halbjahr dieses Jahres vollständig abzuschaffen. ({9}) – Wenn Sie mal zuhören würden. Aber egal; das erwartet man von Ihnen tatsächlich nicht. ({10}) Drittens werden wir ein Klimageld einführen, mit dem wir die CO2-Bepreisung an Bürgerinnen und Bürger zurückgeben werden. ({11}) Viertens werden wir eine neue Kindergrundsicherung einführen. Und fünftens werden wir natürlich auf den turnusgemäßen Progressionsbericht im Herbst angemessen reagieren und den Grundfreibetrag und den Steuertarif entsprechend anpassen. ({12}) Das alles ist besser als eine schon lange ausdiskutierte Schnapsidee von einem Tarif auf Rädern. Danke für die Aufmerksamkeit. ({13})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen bewegten Zeiten ist es ja auch schön, wenn Dinge gleich bleiben; das gibt Halt. Deswegen ist es schön, dass auch die Arbeitsmoral der AfD gleich bleibt. Sie bleiben also Ihrem Motto treu: „Zu viel arbeiten im Bundestag ist nicht so unser Ding.“ Sehen wir uns mal den vorliegenden Antrag an: Er ist abgeschrieben von einem Antrag aus 2019, der wiederum abgeschrieben war vom Bund der Steuerzahler. ({0}) Wir haben den Antrag 2019 abgelehnt, und wir werden ihn auch im Zuge dieser Beratungen ablehnen. Neu ist, dass die FDP mittlerweile eine etwas andere Auffassung hat. Noch vor wenigen Wochen und Monaten wurde immer wieder über den Tarif auf Rädern diskutiert. Gestern in der Regierungsbefragung haben wir auf einmal gesehen, dass der Bundesfinanzminister mittlerweile ausweicht und die Argumentation, die wir über viele Jahre hatten – dass nämlich der Deutsche Bundestag die kalte Progression regelmäßig ausgleichen muss –, auch noch bestätigt hat. Daran sieht man: Auch da gibt es einen Lerneffekt. ({1}) Das ist auch kein Wunder. Wenn man sich diesen Koalitionsvertrag anschaut, dann stellt man fest, dass der Begriff „kalte Progression“ gar nicht vorkommt. Darüber habe ich mich, ehrlich gesagt, gewundert; denn in den Koalitionsverträgen, die wir ausgehandelt hatten, kam das Thema immer vor, und zwar aus guten Gründen. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung der letzten vier Jahre Große Koalition berichten: Viel Spaß bei den Verhandlungen mit der SPD. Die SPD wird sich gegen jede Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, die nicht im Koalitionsvertrag steht, wahnsinnig wehren. ({2}) Heute haben die Kollegen Schrodi und Müller ja schon mal angeschnitten, wie schwierig das sein wird. Viel Spaß in den Berichterstattergesprächen! ({3}) Im Übrigen steht das auch in dem „WirtschaftsWoche“-Bericht, auf den Michael Schrodi sich vorhin bezogen hat. ({4}) Darin steht – Zitat –, es „droht Zoff“; denn Sie machen eines nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie gleichen die kalte Progression des aktuellen Jahres nicht aus, weil vor zwei Jahren nicht klar war, dass die Inflation so ansteigt. ({5}) Sie machen im laufenden Jahr nichts, sondern Sie werden nur für die Jahre 2023 und 2024 etwas machen. Das hat der Bundesfinanzminister gestern sogar in der Regierungsbefragung gesagt. Von daher gehe ich davon aus: Sie sind an dieser Stelle wortbrüchig! ({6}) Man muss auch sagen: Das Thema wurde so ein bisschen weggewischt – auch von Frau Wissler – nach dem Motto: Kalte Progression ist gar nicht so wichtig. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ausgleichen der kalten Progression ist doch eine Frage der Gerechtigkeit. Hier geht es um die Leute, die jeden Morgen aufstehen, die arbeiten gehen, die ihre Steuern zahlen. Bei denen tritt jetzt folgender Effekt ein: Sie kriegen eine Lohnerhöhung, die durch die Inflation ausgeglichen wird. Trotzdem kommt man in einen höheren Einkommensteuertarif und muss mehr Steuern zahlen. Deswegen ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Das müsste eigentlich auch im Sinne der SPD sein. ({7}) Ich rufe Ihnen zu: Gleichen Sie es auch in diesem Jahr aus! ({8}) Ganz am Schluss müssen wir natürlich auch darüber sprechen: Wie können wir eigentlich gegen die Inflation vorgehen?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen vor dem Hintergrund, dass Sie von Entlastungen sprechen. Wir alle haben ja einen Wahlkampf geführt, in dem auch die Auswirkungen der Vorschläge, die die einzelnen Parteien machen, berechnet wurden. Die SPD ist dabei genauso wie wir ganz dezidiert für Entlastungen eingetreten, die im unteren und mittleren Bereich greifen und für die wir entsprechenden Ausgleich vorgesehen haben. Bei Ihnen ist es ausschließlich um das Umverteilen von unten nach oben gegangen. ({0}) Das kann natürlich kein Ausgleich für untere und mittlere Einkommen sein, sondern das ist schlicht und ergreifend das Gegenteil dessen, was Sie hier erzählen. ({1})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege, für die Frage, die mir noch mal Gelegenheit gibt, auf einen Punkt hinzuweisen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bleiben Sie freundlicherweise stehen.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, herzlichen Dank, dass Sie stehen bleiben; das sind die Gepflogenheiten hier bei uns im Parlament. – Ich glaube, selten hat der Satz besser gepasst: ({0}) Die Ampel ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. ({1}) Das passt genau zu den Vorschlägen, die Sie gemacht haben. Ich kann Sie ja mal daran erinnern: Sie sind jetzt an der Regierung. ({2}) Sie können jetzt die Entlastungen beschließen. Aber unser Problem ist doch Folgendes: Wir haben jetzt die Inflation. Deswegen müssen wir jetzt gegen die Inflation vorgehen. Wir müssen jetzt zu Entlastungen kommen. Und Sie werden morgen Gelegenheit haben, die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Denn morgen wird die CDU/CSU-Fraktion hier einen Antrag einbringen, wo es um die hohen Energiepreise in Deutschland geht. ({3}) Ich lade Sie herzlich ein, morgen zuzustimmen, wenn es um die Frage geht, die EEG-Umlage schneller abzuschaffen, die Stromsteuer abzusenken, die Umsatzsteuer auf Strom, Gas und Fernwärme zu reduzieren. Das trifft alle: Das trifft die kleinen und mittleren Einkommen, das trifft die Sportvereine, die gerade große Sorgen wegen der Beheizung ihrer Hallen haben, das trifft aber auch die vielen Firmen in Deutschland, die die Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die wir brauchen. ({4}) In diesem Sinne ist es, glaube ich, wichtig, dass wir die Folgen der Inflation nicht bagatellisieren. Viele Menschen in Deutschland spüren sie jeden Tag: beim Einkaufen, beim Tanken, bei der Frage, wie man Investitionen tätigt. Deswegen: Hören Sie auf, das zu bagatellisieren! Legen Sie uns vielmehr – Sie sind jetzt an der Regierung – konkrete Vorschläge vor, wie wir zu einer Entlastung kommen können. Dann haben Sie uns auch an Ihrer Seite, Ihnen dabei mitzuhelfen, diese Entlastung umzusetzen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steiniger. – Bevor wir zur Abstimmung kommen, noch ein Hinweis: Es ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit, dass der Fragende stehen bleibt, sondern es hat damit zu tun, dass auch die Millionen Menschen, die uns zuschauen, dann besser identifizieren können, wem die Antwort gilt. Damit ist die Aussprache beendet.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke bringt heute einen Antrag ein, um den dramatischen Fachkräftemangel in den Kitas und an den Schulen anzugehen. Sie, liebe Ampelparteien, reden viel von Fortschritt und von Chancen; ({0}) die neue Ministerin kündigt sogar eine Bildungsrevolution an. Das klingt auch alles gut – Fortschritt und Revolution mögen wir Linke natürlich auch sehr gerne, klar –, aber es darf eben nicht nur gut klingen, sondern am Bildungssystem muss sich auch tatsächlich etwas ändern. Es muss sich auch endlich mal etwas tun in der Realität. ({1}) Und in der Realität gibt es ein paar Baustellen, die in Ihrer Rhetorik noch nicht einmal auftauchen. Eine davon ist eben der krasse Fachkräftemangel in der Bildung. Die Schulen und Kitas sind am Limit angekommen. Die Lehrkräfte und die Erzieherinnen und Erzieher haben den Kanal mittlerweile gestrichen voll; so viel kann man sagen. ({2}) Die Situation in Schulen und Kitas war schon vor Corona eine Zumutung. Seit der Pandemie ist es einfach nur noch irre. Und wenn jetzt nichts getan wird – das ist die Situation –, dann wird das alles noch mal schlimmer, dann werden in drei Jahren über 45 000 Lehrkräfte an Schulen fehlen und bis 2030 über 200 000 Erzieherinnen und Erzieher. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen, geht es jetzt um eine politische Offensive, um eine bundesweite Ausbildungsoffensive von Bund und Ländern für mehr Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher. ({3}) Jahr für Jahr wurde das Thema verschleppt, auch hier im Hause, und die Folgen sind verheerend: Eltern und Kinder leiden unter Unterrichts- und Betreuungsausfall. Neue Kitagruppen können nicht eröffnet werden; in meiner Heimatstadt, in München, werden gerade Kitas wieder geschlossen, weil es kein Fachpersonal gibt. Und die Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher werden verbrannt; denn sie müssen ja diesen Mangel, der wirklich nichts anderes ist als politisches Versagen, Tag für Tag ausbaden und durch Mehrarbeit ausgleichen. Die Folgen sind ein hoher Krankheitsstand, Burnout, Anträge auf Verkürzung der Arbeitszeit, vorzeitiges Aussteigen aus dem Beruf. Das kann so nicht bleiben, Kolleginnen und Kollegen. ({4}) In wenigen Tagen startet die Tarifrunde der Sozial- und Erziehungsdienste. Da kämpfen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die Erzieher/-innen, die Kinderpfleger/-innen, die Schulassistenzen um Wertschätzung und um Anerkennung, für eine bessere Eingruppierung und mehr Lohn, aber eben auch für eine Verringerung der Arbeitsdichte, also für Entlastung und Qualität. Wir, die Politik, sollten sie dabei unterstützen. Das ist nach zwei Jahren Pandemie wirklich das Mindeste, was wir tun können, Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Auch die Lehrkräfte an Schulen müssen bei der Bezahlung endlich alle gleichgestellt werden. Ich meine, was ist das eigentlich für ein Irrsinn, dass die Arbeit an Grundschulen oder an Mittelschulen weniger wert sein soll als die an Gymnasien? Das ist feudales Denken. Das kann wirklich endlich mal weg. ({6}) Weg, Kolleginnen und Kollegen, muss auch das Kooperationsverbot. Große Bildungsaufgaben müssen von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam angegangen werden. Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, zeigen Sie jetzt, dass Sie nicht nur blumige Rhetorik können, sondern legen Sie bitte endlich los. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Gohlke. – Ich rufe auf die Kollegin Katrin Zschau, SPD-Fraktion. ({0})

Katrin Zschau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005268, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Ministerin! Sehr geehrte Abgeordnete! Als vormalige Geschäftsführerin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Mecklenburg-Vorpommern bin ich gemeinsam mit meinen Kollegen im Rahmen unserer Kampagne „resPEKt“ für bessere Lern- und Lehrbedingungen im Bildungssystem meines Landes eingetreten. Mit 74 Forderungen, die von der Lehramtsausbildung bis hin zum Berufsaufstieg, von den grundständig ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen bis hin zu den Lehrkräften im Seiteneinstieg reichten, haben wir Reformbedarf angemeldet. Ganz im Sinne von „Auf die Lehrkraft kommt es an“ haben wir vor allem auf den drohenden Lehrer/-innenmangel aufmerksam gemacht. Bis 2030 werden etwa zwei Drittel der jetzt in MV Unterrichtenden in den Ruhestand wechseln. Sie gilt es zu ersetzen, sowohl in den Universitätsstädten wie auch auf dem Land, insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern, vor allem in unseren Grund- und Regionalen Schulen. Es brauchte Ausdauer und einen offenen Dialog mit der Landesregierung und den Abgeordneten, damit ein geteiltes Verständnis für die aktuelle Lage an den Schulen wachsen konnte. Im April 2021 haben Landesregierung, Gewerkschaften und Verbände die gemeinsame Vereinbarung „Bildungspakt für Gute Schule 2030“ unterzeichnet, jetzt verankert im Koalitionsvertrag. Gemeinsam sollen alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um ausreichend Lehrkräfte für die Schulen zu finden, zu halten und auszubilden. Und darauf bin ich stolz, gleichermaßen auf meine GEW wie auf meine Partei in Regierungsverantwortung. ({0}) Mir ist es wichtig, voranzustellen, dass die Verantwortung bei der Fachkräftegewinnung in den Händen der Länder liegt. Dabei geht es nicht zuletzt um die Deckung des mittelfristigen Bedarfs an Studienabsolventinnen und ‑absolventen, um eigene Bedarfe zu decken. Mir ist es jedoch gleichwichtig, zu fragen, ob die Länder über ausreichend finanzielle und Steuerungsmöglichkeiten verfügen, um dem prognostizierten Mangel an Lehrkräften und weiteren pädagogischen Professionen begegnen zu können. Wir müssen uns als Abgeordnete auf Bundesebene fragen, ob wir im Jetzt und Morgen den Bildungs- und Betreuungsbedarf für Kinder und Jugendliche an jedem Ort dieser Republik sicherstellen können, und dies in qualitativ guter Weise, und ob die Lehrer/-innen und Erzieher/-innen, auf die es ankommt, das in einem guten Arbeitsumfeld leisten können. Es macht das Wesen dieser Koalition aus, eben deshalb in den wissenschaftlichen und politischen Dialog einzutreten. Von daher begrüße ich die aktuelle Untersuchung von Professor Klaus Klemm, die leider zu anderen Ergebnissen kommt als die Prognose der KMK. Politisch wird es mit Mark Rackles, der die strukturellen Probleme in der deutschen Lehrer/-innenbildung analysiert, den ich sinngemäß zitiere: Es wird sowohl zu wenig als auch am Bedarf der konkreten Fächer und Schularten vorbei ausgebildet. – Er empfiehlt unter anderem, den Lehrkräftemarkt nicht als regionalen, sondern als bundesweit größten Teilmarkt des öffentlichen Dienstes anzuerkennen, länderübergreifend zu betrachten und dementsprechend Instrumente zu entwickeln. Dabei geht es um eine länderübergreifende Kapazitätsplanung, gemeinsame Vorgaben oder verbindliche Verabredungen zur Erfassung der Bedarfe und Methodik der Prognosen. Zu Beginn habe ich verdeutlicht, dass es einen ersten wichtigen Schritt darstellt, sich auf eine gemeinsame Problemanalyse zu verständigen. Im Anschluss daran werden meist finanzielle Ressourcen freigesetzt und Verantwortlichkeiten neu sortiert. So wollen wir als Ampel verfahren. Es geht uns um eine neue Kultur und um eine neue Form in der Bildungszusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, in der wir uns über Baustellen und gemeinsame ambitionierte Bildungsziele verständigen. Diesem Ansatz folgen wir bei der Evaluierung des DigitalPakts Schule, mit der Einrichtung einer bundesweit agierenden Koordinierungsstelle Lehrkräftefortbildung und der bundesweiten Qualitätsentwicklung des Seiten- und Quereinstiegs. Gemeinsam mit den Ländern und allen relevanten Akteuren entwickeln wir eine Gesamtstrategie, um den Fachkräftebedarf für Erziehungsberufe zu sichern, und streben einen bundeseinheitlichen Rahmen für die Ausbildung an. Ich schließe mit einem weiteren Rackles-Zitat: Es hat „nur bedingt Sinn, einfach mehr Geld in das bestehende System zu geben“. Es ist zu fragen, „welche strukturellen Veränderungen auf welcher Ebene erfolgen müssen, damit das … System der Lehrkräftebildung bedarfsgerechter ausbildet“. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank Frau Kollegin Zschau. – Nächster Redner ist der Kollege Lars Rohwer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Coronakrise hat viele Probleme an den Schulen aufgedeckt und manchmal auch verschärft. In diesen Zeiten macht sich der Lehrer- und Erziehermangel in den Schulen und in den Kitas besonders bemerkbar. Trotzdem ist Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Linken, für mich blinder Aktionismus, ({0}) da er kurzfristig keine Lehrer und Lehrerinnen in die Schulen bringt. ({1}) Denn eine missliche Lage hier in Berlin, wo vom Senat offensichtlich nicht vorausschauend gearbeitet wurde, wird in den Bundestag gehoben, und ihre Behandlung soll gleich noch die Verfassungsänderung hinter sich herziehen. Nach der föderalen Ordnung des Grundgesetzes sind die Länder für die Schulen zuständig. Dazu gehört insbesondere auch die Bereitstellung personeller Ressourcen zur Aufrechterhaltung der Unterrichtsversorgung; mein Kollege Norbert Altenkamp wird in seinem Redebeitrag darauf noch näher eingehen. Die CDU-geführte Bundesregierung hat in den letzten Jahren unter Anja Karliczek und Johanna Wanka die Länder massiv im Bereich Bildung unterstützt. Immer wieder haben wir das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern gelockert. ({2}) Doch damit nicht genug. Mit der Qualitätsoffensive Lehrerbildung stellt der Bund bis Ende 2023 eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung, um die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern zu fördern. ({3}) Die Programme werden evaluiert und im Falle einer positiven Bewertung eben auch gefördert. Wir haben damit strukturelle Verbesserungen im Bereich der Lehrerbildung bewirkt. Es werden bis 2023 91 Projekte unter Einbindung von 72 lehramtsausbildenden Hochschulen in ganz Deutschland gefördert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, das Problem lässt sich nicht einfach durch eine Bundesfinanzspritze lösen. So leicht ist es wahrlich nicht. Wir müssen die Lage differenziert betrachten: Es gibt einen Lehrerüberschuss an Gymnasien. Die Prognosen deuten auf Schwierigkeiten in den Grundschulen hin; aber wir werden auch da eine Trendumkehr vor uns haben. Problematisch ist die Ausbildung im MINT-Bereich. Hier fehlen Lehrer. Für diese Fächerkombinationen müssen wir verstärkt unter den Studenten werben. Das hat auch der „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ der Bertelsmann-Stiftung festgestellt. Statt also immer wieder am Grundgesetz herumzuschrauben, sollten wir erfolgreiche Gesetze wie das Gute-KiTa-Gesetz über 2022 hinaus verlängern, damit wir mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung haben.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Rohwer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gohlke, Fraktion Die Linke?

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade selber die Ungleichverteilung bei der Lehrkräfteausbildung und den Überhang im Gymnasialbereich beklagt. Ich habe in meiner Rede davon gesprochen, dass es begrüßenswert wäre, Lehrkräfte hinsichtlich der Bezahlung gleichzustellen. Nun weiß ich, dass wir das jetzt hier nicht zu bestimmen haben, aber mich würde Ihre persönliche Haltung dazu interessieren. Was spricht denn dagegen, alle Lehrkräfte einheitlich nach E13/A13 zu bezahlen? Ich frage mich nämlich schon: Was ist die Begründung dafür, dass Lehrkräfte, die Mittelschülerinnen und Mittelschüler oder Grundschülerinnen und Grundschüler unterrichten, schlechtergestellt sind? Mich würde Ihre Haltung und die Haltung Ihrer Fraktion dazu interessieren.

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für Ihre Frage. – Ich komme aus dem Sächsischen Landtag hier in den Deutschen Bundestag. Diese Debatte haben wir im Sächsischen Landtag natürlich auch geführt, genau über diese Angleichung. Wir sind schon Schritte in diese Richtung gegangen, und wir sehen natürlich auch den Erfolg. Insofern bin ich dabei, wenn es darum geht, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt werden soll. Aber das liegt in der Entscheidungshoheit der Länder. Wir sollten sie dabei unterstützen; aber die Länder entscheiden und nicht der Deutsche Bundestag. ({0}) Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen, zumal wir in der jetzigen Situation eine Art Wellenbewegung in der Lehrerschaft haben. Wir dürfen die aktuelle Rentenwelle nicht panisch mit einer neuen Welle beantworten. Das würde das Problem in der Zukunft nur reproduzieren. Wir brauchen Kontinuität und Augenmaß. Wir brauchen deshalb auch Seiteneinsteiger, auch wenn nicht jeder Seiteneinsteiger gleich ein perfekter Lehrer ist. Wir müssen die Seiteneinsteiger unterstützen und sie als eine Möglichkeit sehen, genau diese Wellenbewegung zu durchbrechen. Ich komme zum Schluss. Wir wollen die Länder bei der Sanierung ihrer Schulgebäude und bei der Digitalisierung weiter unterstützen. Das ist die verfassungsrechtliche Möglichkeit, die wir laut Grundgesetz haben. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Laura Kraft, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Laura Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005113, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Linken macht durchaus auf ein wichtiges Thema aufmerksam; denn klar ist: Gute Kita und gute Schule brauchen ausreichend Lehrkräfte und Erzieher/‑innen. Mit guter Bildung Lebenschancen schaffen, nicht weniger sollte unser Anspruch sein. Wie wir Schule und Kitas fördern, das bestimmt auch maßgeblich die Richtung und die Zukunft in unserem Land. ({0}) Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher versuchen bereits seit zwei Jahren, dafür zu sorgen, dass Kitas und Schulen auch mitten im Ausnahmezustand weiterhin gelingen. Das sollten wir wirklich mehr würdigen. Die Pandemie hat Kinder und Jugendliche erheblich belastet, und sie hat Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher ausgebrannt. Wenn Lehrerinnen und Lehrer ihren einstigen Traumberuf verlassen, weil er für sie zum Albtraum geworden ist, dann sollten wir als Politik wirklich die Notbremse ziehen. ({1}) Die Thematik ist nicht neu, die Probleme sind hinlänglich bekannt; aber in der Pandemie hat sich die Situation nochmals verschärft. Doch die Lösungen für die strukturellen Probleme waren bisher eher halbherzig. Was man dazu auch sagen muss: Ein digitales Endgerät macht noch lange keinen guten Unterricht. ({2}) Ein wesentliches Problem – das wurde hier schon angesprochen – ist nach wie vor der massive Lehrkräftemangel. Schon längst können nicht mehr alle offenen Stellen an Schulen besetzt werden. Wir sollten hierbei aber nicht nur an den Bereich der Grundschulen oder der weiterführenden Schulen denken, wir sollten auch die Berufsschulen mit in den Blick nehmen. ({3}) Die anstehende Pensionierungswelle wird das Problem noch vergrößern. Lehrkräfte haben mit der Digitalisierung viele neue Aufgaben dazubekommen. Sie haben weniger Zeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich auf die Schülerinnen und Schüler. Sie brauchen jetzt Unterstützung, und sie brauchen Entlastung. Das geht auch langfristig am besten mit multiprofessionellen Teams, mit zusätzlichen Schulsozialarbeitern, IT-Fachleuten, Sonderpädagogen, Integrationshelfern; denn je weniger Personal da ist, desto mehr werden die noch verbliebenen Lehrkräfte belastet. Was wir jetzt wollen und was wir jetzt brauchen, das ist, dass sich Lehrerinnen und Lehrer wieder auf ihre Kernkompetenzen fokussieren können, dass sie wieder Pädagoginnen und Pädagogen sein dürfen. Eines muss an dieser Stelle auch gesagt werden: Die Kompetenzen im Bereich Schule und Lehrkräfteausbildung – das wurde auch schon gesagt – liegen maßgeblich bei den Ländern. Das berücksichtigt der Antrag der Linken leider nicht ausreichend. Wir als Ampel haben im Koalitionsvertrag Optionen geschaffen, um genau da anzusetzen, wo wir als Bund unterstützend wirken können. Der Bund kann das Problem nicht alleine lösen. Unser Ansatz ist darum, dass wir einen steten Austausch mit den Ländern, mit den Kommunen, mit den Schulen haben. Ein zentraler Weg zur Entlastung von Schulen und Lehrkräften ist auch die Förderung von Nachwuchsfachkräften. Wir werden deshalb mit allen Ebenen zusammenarbeiten, um die Studienbedingungen zu verbessern und den Übergang in den Beruf zu begleiten. ({4}) Außerdem schaffen wir eine Koordinierungsstelle zur Lehrkräftefortbildung, und wir vernetzen Weiterbildungsangebote. Damit wollen wir die vielen guten Ansätze und die Konzepte in den Ländern vernetzen. Wir wollen dafür sorgen, dass alle Länder voneinander profitieren können. Zusätzlich wird die Ampelkoalition die Qualitätsoffensive Lehrerbildung erheblich weiterentwickeln. Wir bringen die Lehrkräftebildung damit auf den neuesten Stand, und auch eine bundesweite Qualitätsentwicklung des Seiten- und Quereinstiegs – das ist auch wichtig – wollen wir so voranbringen. Davon können dann eben auch Berufsschulen profitieren. Schule bedeutet mehr als nur Wissensvermittlung. Wir wollen, dass in Schulen mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen arbeiten können. Die brauchen wir so dringend. Wir sorgen für eine passgenaue Betreuung und unterstützen hinsichtlich Integration, erweitertem Förderbedarf und einer über den Schulunterricht hinausgehenden Betreuung. Wir werden außerdem 4 000 Schulen in benachteiligten Regionen gezielt und dauerhaft mit Stellen im schulischen Sozialarbeitsbereich unterstützen. Wir werden das gemeinsam mit den Ländern, gemeinsam mit den Schulen anpacken. Mit unseren Ansätzen stellen wir als Ampelkoalition die Weichen für eine engagierte Bildungspolitik. Sie haben gesagt, wir sollen es anpacken. Wir packen es jetzt an. Ich bin da ganz zuversichtlich. Vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, dem Patienten Schule geht es nicht gut. Die Diagnose der Linksfraktion ist auch nicht ganz falsch. Nur, die Therapie, die Sie uns empfehlen wollen, ist leider auch nicht ganz richtig, und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Sie selber an der Entstehung der Krankheit nicht ganz unschuldig sind, meine Damen und Herren. ({0}) Warum haben wir denn eigentlich Lehrermangel? Die banale Antwort – Sie haben sie auch vorgetragen – lautet: Na ja, wir haben schlichtweg zu wenige Lehrer ausgebildet; wir bilden zu wenige Lehrer aus, nach wie vor. Aber warum entscheiden sich denn immer weniger junge Menschen dafür, den Lehrerberuf zu ergreifen, obwohl sie eigentlich geeignet sind? Sie sagen schlichtweg, mit Blick auf den Zustand unserer Schulen: „Das tue ich mir gar nicht erst an!“ Und zunehmend sagen ältere Kollegen: „Ich halte das gar nicht mehr aus!“, sie lassen sich frühpensionieren, sie gehen in Teilzeit. All das verschärft natürlich das hier adressierte Problem. Schuld daran ist natürlich auch eine seit Jahren betriebene links-grüne Gesellschaftspolitik, die jetzt bei uns in den Schulen angekommen ist. ({1}) – Gehen Sie einfach einmal in eine Brennpunktschule in unseren Großstädten – da sehen Sie, wohin die Reise geht –, und unterrichten Sie da mal! Da möchte ich mal sehen, wie lange Sie das aushalten, meine Damen und Herren. ({2}) Wir erleben einen massiven Verlust der Autorität des Lehrers. Wir erleben einen Leistungsverfall. Lehrer können sich nicht mehr darauf verlassen, dass Normen und Werte, die früher noch als selbstverständlich galten, heute noch eingehalten werden. All das ist auch Teil des links-grünen Gesellschaftswandels, meine Damen und Herren, der in den Schulen jetzt voll durchschlägt. Was empfehlen Sie uns nun als Lösung? Mehr Zentralismus wagen, einmal wieder. Das mag zu tun haben mit Ihrer DNA als ehemalige SED-Staatspartei. ({3}) Aber ich glaube, wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen bis in die DDR; wir müssen nur einmal auf die letzte Legislaturperiode blicken. Was ist denn aus dem mit viel Tamtam angekündigten DigitalPakt geworden? Er hat sich doch als Ladenhüter entpuppt. Die ins Schaufenster gestellten Mittel mussten Sie den Ländern anbieten wie sauer Bier. Noch immer ist ein Großteil der Mittel gar nicht abgerufen worden. ({4}) Und warum sind die Mittel nicht abgerufen worden? Weil Sie am tatsächlichen Bedarf vor Ort schlichtweg vorbeigeplant haben. ({5}) Und genau dieses Rezept wollen Sie jetzt wiederholen. Das ist falsch. Das lehnen wir ab. Wir sind die Partei des Föderalismus und stehen damit auch – im Gegensatz zu Ihnen – auf dem Boden des Grundgesetzes, meine Damen und Herren. ({6}) Ja, natürlich brauchen wir mehr Lehrer, natürlich müssen wir mehr Lehrer ausbilden. Natürlich kostet das Geld. Die gute Nachricht ist, meine Damen und Herren: Das Geld wäre sogar da. Wir müssen nur die Prioritäten anders setzen: weniger links-grüne Genderprojekte, weniger „Kampf gegen rechts“, der sich bei näherer Betrachtung als Quersubventionierung der Antifa entpuppt, ({7}) und dafür Geld an die Schulen, Geld für die Lehrer, Geld für unsere Kinder. Dann geht es dem Patienten Schule bald besser, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Heidt, FDP-Fraktion. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Bildungssystem ist nicht erst seit der Coronapandemie aus der Zeit gefallen. Ohne einen modernen Bildungsföderalismus und ein Kooperationsgebot – und das fordern wir Freie Demokraten in der Tat schon lange – können wir unseren Kindern kein adäquates Bildungsangebot mehr machen. Insofern geht Ihr Antrag durchaus in die richtige Richtung; aber er reicht eben nicht. Mit Blick auf das Kooperationsgebot und das derzeit noch bestehende Kooperationsverbot hat unsere Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger gestern im Ausschuss für Bildung und Forschung Stellung genommen und gesagt, dass jetzt ein Gesprächsangebot an die Länder geht. Das deutsche Schulsystem wird so, wie es ist, den neuen Lebensverhältnissen nämlich nicht mehr gerecht. Das müssen und das werden wir ändern. Liebe Frau Gohlke, wir sind nun wirklich erst ein paar Tage in Amt und Würden. Deshalb: Die Zeit dürfen Sie uns schon zubilligen. Bund und Länder müssen sich vernetzen, um zumindest in Teilgebieten wirklich zusammenzuarbeiten. Wir Freie Demokraten wollen insgesamt eine Stärkung des Lehrerberufs. Für erfolgreiches Lernen sind der Lehrer und sein Umfeld entscheidend. Hochqualifizierte und engagierte Lehrerinnen und Lehrer sind damit einer der wichtigsten Chancenmotoren für die Zukunft unserer Kinder. Es mangelt aber in Deutschland schon an der Basis, in Kindergärten und Grundschulen. Corona hat die Situation nur noch verschärft. Deutschland fehlen nun in der Tat Zehntausende von Lehrern; wir haben da viel nachzuholen. Noch aus der Opposition heraus haben wir Freie Demokraten viele Anträge, viele Vorschläge unterbreitet; diese gilt es nun schnellstmöglich umzusetzen. An den Schulen gibt es eine enorme Vielfalt von Bedürfnissen, Talenten, Interessen, von Begabungen, aber auch sozialen Problemen. Nur durch einen konstruktiven Umgang mit all diesen Diversitäten und die individuelle Förderung aller Kinder kann eine Bildungsgerechtigkeit erreicht werden. Lehrkräfte benötigen hierfür die Unterstützung durch professionelle Fachkräfte. Die Schule der Zukunft muss ein Ort der multiprofessionellen Teams werden. Durch den dauerhaften Einsatz der Teams können die Kinder bestmöglich gefördert werden, eventuelle Problemlagen gemildert bzw. vermieden werden. Die Zusammenarbeit dieser multiprofessionellen Teams erfordert immer ein gemeinsames Arbeiten. Essenziell ist zudem die Unterstützung der Schulleitung durch die Bereitstellung dieser Ressourcen und Strukturen. Unsere Lösung ist ein Vierstufenmodell für die beste Lehrerqualität, um Lehrkräfte dabei zu unterstützen, noch besser zu unterrichten, und die besten Absolventen für den anspruchsvollen Lehrerberuf zu gewinnen. Wir brauchen attraktive Arbeitsbedingungen, eine spitzenmäßige Aus- und Fortbildung, transparente Aufstiegsmöglichkeiten sowie eine Bezahlung, die eben Engagement belohnt. Mit unserem Vierstufenmodell für beste Lehrerqualität wollen wir den wichtigsten Job für Bildung auch zum begehrtesten Job der Republik machen. ({0}) Eine Dauerbaustelle der Schulpolitik bleibt die praxisferne Lehrerausbildung. 60 Prozent der angehenden Lehrer fühlen sich nicht auf die digitalen Anforderungen von Schule vorbereitet. Über 30 Prozent wollen nach ihrem Studium nicht in einer Schule arbeiten. Das heißt, wir müssen die Attraktivität des Lehrerberufs deutlich und dauerhaft verbessern. Angehende Lehrerinnen und Lehrer haben das Recht, besser auf ihren Beruf vorbereitet zu werden. Digitalkompetenzen, die Chancen der künstlichen Intelligenz für Lernprozesse und digitale Lern- und Lehrmethoden müssen fester Bestandteil der Lehrerausbildung werden. Digitale Anwendungen können Routineaufgaben schnell und einfach erledigen. Der DigitalPakt ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber der Digitalpakt 2.0 muss jetzt folgen. Nicht zuletzt wollen wir duale Professuren für das Lehramtsstudium einrichten. Durch ein duales Lehramtsstudium, in dem sich Theorie und Praxis abwechseln, könnte das Referendariat entfallen. Außerdem könnte ein berufsbegleitender Studiengang Quereinsteiger passgenau qualifizieren. Gerade Quereinsteiger können mit unverstelltem Blick innovative Impulse in das Schulsystem bringen. Ihren Antrag lehnen wir ab; er ist zu kurz gedacht. Die Ampel ist heute schon viel weiter. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich das Wort Holger Mann, SPD-Fraktion. ({0})

Holger Mann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005140, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bildung ist entscheidend für Lebenschancen und Lebenswege. Was wie eine Binsenweisheit klingt, habe ich familiär erfahren: Meine Mutter war das erste und blieb das einzige von zehn Arbeiterkindern, das Abitur machte und dann studieren durfte. Dies setzt sich leider viel zu häufig in zweiter Generation fort. Laut Bildungsstatistik nehmen Kinder von Eltern, die nicht studiert haben, dreimal seltener ein Studium auf, sie beenden es viermal seltener erfolgreich. Und bei den folgenden Qualifizierungsschritten und ‑stufen verschärft sich dieses Missverhältnis auf 1 zu 10. Noch dramatischer aber ist diese Chancenlücke bei Menschen, die überhaupt keinen formalen Bildungsabschluss besitzen. Deshalb wollen wir von der Ampel hier bessere Bildung und gerade die ersten Entwicklungsschritte erleichtern. ({0}) Ja, man muss sagen: Die Pandemie wirkt hier leider wie ein Bremsklotz. Die Bildungs- und Gesundheitsforschung zeigt: Ohne ein stabiles Bildungssystem, ohne regelmäßige soziale Kontakte, ohne die Vermittlung von Kompetenzen entstehen vor allem bei den Kindern Entwicklungsdefizite, die ohnehin die höchsten Hürden zu nehmen haben. Die Koalition hat sich auch deshalb dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit verschrieben. Wir werden die Kindergrundsicherung einführen und das BAföG grundlegend reformieren, um mehr Menschen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. ({1}) Wir wollen einen Ausbau des Ganztags und der Qualität der Bildungsangebote. Und – es kam schon zur Sprache –: Wir werden Schüler stärken und Lehrerinnen dort entlasten, wo die größten Herausforderungen bestehen. Hier ist im Koalitionsvertrag klar vereinbart, dass wir 4 000 Schulen mit dem „Startchancen“-Programm besonders fördern und Schulsozialarbeit dauerhaft ausbauen. ({2}) Mit den letzten Projekten ist das Thema der Lehrerversorgung oder, wie es die Fraktion Die Linke thematisiert, des Lehrerinnen- und Lehrermangels eng verbunden. Professor Klaus Klemm legte dazu gerade wieder eine aktuelle Studie zur Entwicklung des Lehrerinnen- und Lehrerbedarfs bis 2030 vor. Man muss sagen: Diese zeichnet ein durchaus differenziertes, aber kein dramatisches Bild. Fast alle Bundesländer haben in den letzten Jahren ihre Lehramtskapazitäten gerade in der Primarstufe und Sekundarstufe II ausgebaut. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir haben ein Problem im Feld der beruflichen Bildung. Wer Ausbildungschancen und Fachkräfte erhalten will, der muss genau hier ansetzen. Die Ampel wird deshalb die Qualitätsoffensive Lehrerbildung weiterentwickeln und vor allen Dingen das Berufsschullehramt stärken. Wir wollen die Lehrkräftefortbildung auch durch digitale Bildungsangebote ausbauen und den Seiten- und Quereinstieg erleichtern. Wir Sozis stehen für ein echtes Kooperationsgebot. Ja, wir wollen weg vom bisherigen weitgehenden Verbot und wollen dafür einen Bildungsgipfel einberufen. Klar ist aber auch – das sei auch gesagt –: Auch die Länder müssen ihren vor zwei Jahren übernommenen Verpflichtungen zum Ausbau der Lehramtskapazitäten nachkommen. Ich kann sagen: Das ist möglich. In Sachsen habe ich selber daran mitwirken können, die Lehramtsstudienplätze in den letzten zehn Jahren von 900 auf 2 700 zu verdreifachen. Genau hier haben wir die Mittel des Bundes, des Hochschulpaktes und des Zukunftsvertrages sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt. Die Zeit von Abwerbekampagnen zwischen den Bundesländern ist jedenfalls vorbei. Das Gebot der Stunde ist mehr Kooperation. ({3}) Koordinierte Planung, polyvalente Bachelor, qualifizierte Seiteneinstiege und auch das Anerkennen von ausländischen Lehramtsabschlüssen können ihren Beitrag dazu leisten, dass wir den Lehrerinnen- und Lehrerbedarf decken. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dass die Bildungsabschlüsse und die Herkunft der Eltern in der Generation unserer Kinder nicht mehr über Lebenswege vorentscheiden. Lassen Sie uns bitte gemeinsam daran arbeiten. Danke. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Norbert Altenkamp, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich den Antrag „Bildung am Limit“ gelesen habe, habe ich mich als Erstes gefragt: Warum diskutieren wir heute im Bundestag darüber? Denn die Ausbildung von Lehrern und Erziehern liegt ja in der ureigenen Kompetenz der Länder. Natürlich ist die Analyse im Antrag grundsätzlich richtig: Wir haben einen Fachkräftemangel in den Schulen und Kitas, besonders in den MINT-Fächern. Und er wird sich verstärken, wenn wir künftig mehr Ganztagsbetreuung, mehr Fachkräftezuwanderung, mehr Hilfe für Brennpunktschulen und mehr Inklusion haben wollen. Aber von einem Teufelskreis und der skizzierten Bildungs- und Betreuungskatastrophe sind wir weit entfernt. Wo der von den Linken zitierte Bildungsforscher ein Defizit von bis 155 000 Lehrkräften bis 2030 vorausberechnet hat, sieht die KMK eine Lücke von rund 14 000 Lehrkräften. Dabei sind die zugrundegelegten Parameter allerdings auf beiden Seiten nicht unbedingt zwingend. Wie dem auch sei: Der Handlungsbedarf ist da; aber in das übliche Lamento der Linken stimmen wir nicht ein. Vor allem gilt: Nicht der Bund, sondern die Länder halten hier das Heft des Handelns in der Hand. Sie sind und bleiben gemäß unserer Verfassung zuständig für die Schulen und Kitas in unserem Land, und sie alle sind aufgefordert, ihre Hausaufgaben zu machen – gerade auch ein Land wie Thüringen, wo Die Linke regiert und das seit Jahren seine Lehrkräfte weder bedarfsdeckend noch bedarfsgerecht ausbildet. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Lieber Kollege Altenkamp, lassen Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke zu?

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Nein, okay.

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich, dass die aktuelle KMK-Vorsitzende, Karin Prien, kürzlich betont hat: Alle 16 Länder sind sich der Lage bewusst und ergreifen länderspezifische Maßnahmen, um die Personalnot an den Schulen zu lindern. – Zu den Maßnahmen müssen aus meiner Sicht auch eine realistische Bedarfsberechnung, die Qualität der Lehrerbildung, mehr Wege für Quereinsteiger ins Lehramt und eine bessere Zusammenarbeit der Länder untereinander gehören. Natürlich hilft der Bund gerne, wenn es notwendig und sinnvoll ist. Das haben wir mit der unionsgeführten Bundesregierung in den letzten Jahren mit mehr als einem Bund-Länder-Programm erfolgreich bewiesen. Ich denke nicht, dass sich der Bund nun auch noch an der Finanzierung zusätzlicher Lehramtsstudienplätze für alle Schulformen beteiligen oder ein weiteres Sonderprogramm für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern auflegen sollte, wie Die Linke es fordert. Nein, das sprengt einfach den Rahmen und würde die Länder zu stark aus der Verantwortung entlassen. Nicht nur an die Linken, auch an die Ampel gerichtet sage ich: Wir dürfen das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern bei der Bildung im Grundgesetz nicht ganz aufheben oder weiter aufweichen. Die Länder bilden den Bund und sind keine nachgeordneten Bundesbehörden. Ich nehme die Ampelregierung beim Wort, wenn sie in ihrem Koalitionsvertrag sagt: „Um die Leistungsfähigkeit“ des Föderalismus „zu erhöhen, braucht es Klarheit bei den Aufgaben und der Finanzierung“. Ministerin Stark-Watzinger hat das gestern erfreulicherweise auch im Forschungsausschuss betont. ({0}) Ich bin mir aber nicht sicher, wie das zu der Absicht der Ampelregierung passt, dass hier unter dem Stichwort „Kooperationsgebot“ eine „engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation“ mit den Ländern, unter anderem im Bildungsbereich, ansteht. Darüber müssen wir beim geplanten Bildungsgipfel und im Ausschuss noch intensiv diskutieren. ({1}) Wir sind in jedem Fall dabei, wenn es darum geht, erfolgreiche Bundesprogramme wie die Qualitätsoffensive Lehrerbildung inhaltlich weiterzuentwickeln und mehr bundesweite Bildungskompetenzzentren aufzubauen, damit neue Ideen aus der Bildungsforschung schneller für die Lehrerbildung genutzt werden können, oder wenn es darum geht, die nationale digitale Bildungsplattform weiterzuentwickeln und damit auch die Digitalkompetenz von Lehrkräften weiter zu stärken. Einem Prinzip werden wir jedoch auf jeden Fall treu bleiben: Für eine gute Bildung brauchen wir klare föderale Zuständigkeiten und Kompetenzen. Alles andere ist der Weg in die organisierte Unverantwortlichkeit. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Liebe Frau Kollegin Dr. Sitte, ich bitte Sie, noch mal über Ihre Wortwahl, nachdem Herr Altenkamp Ihnen die Frage verwehrt hat, nachzudenken und das beim nächsten Mal nicht so zu machen. ({0}) Jetzt haben Sie die Möglichkeit, sich in Ihrer Kurzintervention dafür zu entschuldigen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sagen wir mal so, Frau Präsidentin: Ich denke darüber nach. – Sie haben meine Kurzintervention nicht nur mit Ihrem Redebeitrag insgesamt, sondern vor allem mit Ihrem Beispiel Thüringen provoziert. In den Jahren vor der jetzigen Landesregierung bzw. vor dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, in denen die CDU regiert hat, sind keine Lehrer eingestellt worden. Schon in der ersten Legislatur unter Bodo Ramelow hat Thüringen 3 500 neue Lehrerinnen und Lehrer eingestellt. Jetzt kommen wir mal zu Sachsen-Anhalt. Dort gibt es ja eine CDU-geführte Regierung und einen Ministerpräsidenten der CDU. Dort wurden wiederum Kürzungen im Hochschulbereich beschlossen. Das bedeutet zum Beispiel für die Martin-Luther-Universität in meinem Wahlkreis, die seit vielen Jahren Lehramtsausbildung praktiziert, dass sie vermutlich, wenn der Haushalt so beschlossen wird, wie das jetzt geplant ist, ihre Ausgaben um 21 Millionen Euro kürzen muss. Das heißt – Sie sagen ja selbst, die Länder seien dafür verantwortlich und nicht der Bund –, dass dieses CDU-geführte Land zwar die Kohle aus den Programmen des Bundes, die in den letzten Legislaturperioden aufgelegt worden sind, nimmt, aber gleichzeitig an seinen Universitäten kürzt. Das heißt, wir wollten zusätzlich Geld bereitstellen, und die von Ihrer Partei geführte Landesregierung sorgt dafür, dass dieses Geld nicht dort ankommt, wofür es gedacht ist. Das für Sie mal zum Nachdenken, bevor Sie anfangen, hier zu sagen: Nicht der Bund, sondern das Land ist verantwortlich. – Ja, dann müssen Sie natürlich Ihre Hausaufgaben machen. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Lieber Herr Kollege Altenkamp, Sie haben die Möglichkeit zum Antworten.

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, natürlich ist es unstreitig so, dass ich nicht jede Entscheidung in den Bundesländern gut finde. Aber das, was Sie gerade geschildert haben, ist doch geradezu ein Beweis für meine Fraktion, ({0}) dass es keinen Sinn macht, weiter an dieser Stelle Bundesgeld in die Länder zu schütten, damit sie sich der Verantwortung an anderer Stelle entziehen. Insofern bleiben wir auch hier Verfechterin des Föderalismus. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Sandra Detzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005039, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gerade in diesen Tagen stellen wir wieder schmerzlich fest, dass der Friede in Deutschland, in Europa leider keine Selbstverständlichkeit ist. Wir befinden uns in Europa in einer der schwersten militärischen Krisen dieses Jahrhunderts. Das Sondervermögen zum Wiederaufbau Deutschlands, über das wir jetzt hier diskutieren, ist im Wissen um die Zerstörungskraft eines Weltkrieges entstanden, und es ist dem Frieden gewidmet. Es hat dazu beigetragen, dass wir in Deutschland eine lange Phase der Prosperität erleben durften. Ich glaube, es ist gut, an dieser Stelle noch einmal all denjenigen zu danken, die im Rahmen des Marshallplans diese Erfolgsgeschichte ermöglicht haben. ({0}) Der Geist des European Recovery Program, des ERP, das heute auf der Tagesordnung steht, ist bis heute geblieben: durch Investitionen in die Zukunft Wohlstand und Frieden zu erarbeiten, mit der Unterstützung von Gründungen von kleinen und mittleren Unternehmen die Wertschöpfung in der Breite der Gesellschaft zu ermöglichen und damit die Gesellschaft, das politische System zu stabilisieren. Das ist auch exakt das, was sich die Ampelkoalition zum Ziel gemacht hat, genau diese Investitionen, private und öffentliche, zu ermöglichen, um die Stärke dieses Landes weiter auszubauen und um das Land zukunftsfähig zu machen. Und ja, das European Recovery Program fördert traditionell kleine und mittlere Unternehmen in allen Branchen; es unterstützt Gründungen, Digitalisierung, das Exportgeschäft und erleichtert die Innovationsfinanzierung. Ganz zentral dabei ist – gerade in der Phase der Transformation, in der wir uns jetzt befinden –: Es ermöglicht Investitionen in Klimaschutz und in die klimaneutrale Wirtschaft der Zukunft. Zwei Aspekte sind uns Grünen darüber hinaus noch ganz wichtig. Das eine ist, dass dieses Förderprogramm ganz entscheidend zur Transformation der Unternehmen im ländlichen Raum beitragen kann. Wir brauchen die starke Wirtschaftskraft dieses Landes in der gesamten Fläche; denn wir wissen: Nur mit starken ländlichen Räumen ist auch der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft gesichert. ({1}) Ganz besonders wertvoll – und das ist ein Punkt, der verständlicherweise oft hinten runterfällt; aber ich will ihn trotzdem nennen – ist, dass dieses Programm auch Stipendienprogramme für Studierende in osteuropäischen Staaten und den USA finanziert. Hier tragen wir wirklich spürbar zum nachhaltigen Frieden bei; denn Menschen, die sich kennen, vertragen sich eher. Und indem wir die Zivilgesellschaft stärken und mit diesen Programmen den Austausch zwischen den Menschen erleichtern, tragen wir auch zum Frieden in Europa und auf der Welt bei. Kurz und gut, der Marshallplan hat uns gelehrt, wie mühevoll der alltägliche Aufbau des Friedens ist, und genau deswegen ist es in diesen Tagen, glaube ich, sinnvoller denn je, dieses traditionsbewährte Förderprogramm erneut aufzulegen. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und als nächstem Redner erteile ich das Wort Jan Metzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jan Metzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004352, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mit einem kleinen geschichtlichen Exkurs beginnen; denn – meine Vorrednerin hat es bereits deutlich gemacht – der heute zu debattierende Punkt hat einen historischen Bezug. Am 5. Juni 1947 stellte US-Außenminister George C. Marshall ein umfangreiches Hilfsprogramms in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Der US-Kongress billigte es am 3. April 1948, und 16 Länder wurden einbezogen, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Sinnstiftend war, die internationale Wirtschaftsordnung nach diesem verheerenden Krieg zu stabilisieren. Den Marshallplan kennt jedes Kind – so sollte es zumindest sein –; beim European Recovery Program, kurz: ERP, bin ich mir nicht ganz so sicher. Aber nicht nur deswegen führen wir heute diese Debatte; vielmehr unterstützt dieses Programm, kurz: ERP, den Mittelstand in Deutschland seit nunmehr 70 Jahren. Und der Mittelstand wird zu Recht als das Rückgrat der Wirtschaft in Deutschland bezeichnet. ({0}) – Danke schön, das tut immer gut. – Und gerade dieser Mittelstand, die KMUs, ist im Vergleich zu Großunternehmen, wenn es um die Finanzierung geht, strukturell benachteiligt. An dieser Stelle setzt das ERP mit seinen einzelnen Programmen seit vielen Jahren an, zum Beispiel mit besonders günstigen Zinsen. Hervorzuheben sind die langen Laufzeiten der Programme, die Haftungsfreistellungen für Hausbanken, der Verzicht auf Tilgungsleistungen in den ersten Jahren, die jederzeit mögliche Rückzahlung und nicht zuletzt der teilweise kapitalersetzende Charakter der sogenannten Mezzanine-Kapitalien, die zur Verfügung gestellt werden. Ich glaube, dass nicht nur diese Aspekte wichtig sind; vielmehr glaube ich, dass das ERP gerade deswegen, weil es eines der wirksamsten Instrumente aufgrund der oben genannten Punkte ist, letztlich auch fraktionsübergreifend eine allgemeine Unterstützung erfährt, die es sich sozusagen aus sich selbst heraus ein Stück weit erarbeitet hat. Und so wundert es nicht, dass dieses Programm über die letzten Jahre immer wieder – zuvor im Unterausschuss, jetzt auch im Wirtschaftsausschuss – fraktionsübergreifend auf Zustimmung stößt. Das Wirtschaftsplangesetz dieses Jahres trägt noch ganz maßgeblich die Handschrift der Vorgängerregierung. Das heute zu debattierende Gesetz wurde am 21. Juli letzten Jahres im Bundeskabinett und am 17. September im Bundesrat verabschiedet. Es fördert im Schwerpunkt vier Bereiche: Erstens Förderung von Existenzgründungen und Wachstumsfinanzierungen, zweitens Innovationsförderung, drittens Exportfinanzierung, viertens Förderung von Beteiligungskapital in einem Gesamtvolumen von 9,8 Milliarden Euro, während auf das Sondervermögen ein Anteil von 901 Millionen Euro entfällt. Was hat sich im Vergleich zu den letzten Jahren verändert? Insbesondere im Bereich der Existenzgründungen haben wir einen Mittelaufwuchs von 50 Prozent, das Ganze mit einem Gesamtvolumen von jetzt nunmehr 6,4 Milliarden Euro. Das liegt insbesondere daran, dass diese Mittel zukünftig nicht mehr nur Unternehmen, die sich in der Gründung befinden, zur Verfügung gestellt werden, sondern auch bereits am Markt etablierten Unternehmen. Das ist ein wichtiger Punkt. ({1}) Die Programmstruktur ist ein weiterer wichtiger Punkt. Der grundsätzliche Tenor hier ist – so auch in den Debatten im Wirtschaftsausschuss –, diese Programmstruktur so zu vereinfachen, dass die Eintrittsbarriere, diese Programme auch wahrzunehmen, abgesenkt wird, sodass sich der Mittelabfluss in Zukunft nicht mehr verstetigt, sondern erhöht. Ein letzter Punkt, der allen Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern über viele Jahre hinweg ein wirklich wichtiges Anliegen war, ist, das Fördern nicht mehr an Himmelsrichtungen auszurichten, sondern im Rahmen einer gesamtdeutschen Förderkulisse vorzunehmen. All das erfüllt dieses Programm. Neben den coronabedingten Sonderprogrammen sind es gerade diese Programme, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, unseren Mittelstand, die KMUs in Deutschland auch nach dieser Krise zu stabilisieren. Es wird mir eine Freude sein, in einem Jahr gemeinsam mit Ihnen gewissermaßen rückblickend zu bewerten, ob diese Veränderungen, so hoffe ich, auch allesamt gewinnbringend gefruchtet haben. Deswegen wünsche ich dem ERP für die Zukunft und im kommenden Jahr alles Gute; auf die Strafprozessordnung wird mein geschätzter Kollege Axel Müller eingehen. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Wir werden zustimmen. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Verena Hubertz, SPD-Fraktion. ({0})

Verena Hubertz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005089, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Dinge, die haben ihre Wurzeln in der Nachkriegszeit, wie zum Beispiel das ERP, das European Recovery Program. Damals ging es ganz konkret nach einem Weltkrieg um den Wiederaufbau unserer deutschen Wirtschaft. Die Phase liegt zum Glück sehr weit zurück, und deswegen geht es heute nicht mehr um Kriegsschäden. Aber ein wichtiges Ziel des ERP ist geblieben, und das ist, Investitionen in die Zukunft zu ermöglichen. ({0}) Man kann das Programm so zusammenfassen: Wir verabschieden jedes Jahr hier gemeinsam einen Wirtschaftsplan. Der umfasst dieses Mal 900 Millionen Euro, und die speisen sich aus dem ERP-Sondervermögen. Damit gehen wir ganz unterschiedliche Dinge an; das haben wir eben schon gehört. Es geht um mittelständische Unternehmen, also die KMUs, in unserem Land; es geht aber auch um Freiberufler. Denen stellen wir über die KfW zinsgünstige Darlehen zur Verfügung. Und wir sorgen neben dem Fremdkapital auch für Eigenkapital, also für Beteiligungen. Das Ganze hat ein Volumen von fast 10 Milliarden Euro. Es ist ganz wichtig, dass wir Existenzgründungen in diesem Land ermöglichen, das Wachstum bestehender Unternehmen fördern und in Innovation und Digitalisierung investieren. Und ja, da können wir uns auch ehrlich machen: Es geht nicht nur ums Vorantreiben, sondern auch darum, den ein oder anderen Mangel bei der Digitalisierung vielleicht endlich mal anzugehen. ({1}) Wir statten Venturecapital-Fonds mit sogenanntem Wagniskapital aus. Es gibt Seed Capital für Frühphaseninvestoren im Bereich HTGF, dem High-Tech Gründerfonds. Wir haben Coparion als sehr erfolgreichen und am Markt etablierten öffentlichen VC-Fonds, aber eben auch den Zukunftsfonds. Wenn wir mal einen Blick herüberwerfen in die USA und nach Asien, dann wird eins ganz klar: dass wir in Deutschland und in Europa nicht genug investieren in Innovationen, insbesondere in den späteren Phasen, also dann, wenn das Geschäftsmodell eigentlich schon funktioniert, das Produkt am Markt ist und es nur noch darum geht, zu skalieren. Deswegen unterstützen wir mit dem ERP den sogenannten Zukunftsfonds der KfW Capital. Da müssen wir in diesem Land einfach noch viel mehr investieren. Das ist mir besonders wichtig als ehemalige Gründerin; denn da sind wir einfach noch viel zu langsam und viel zu vorsichtig. Es muss mehr in Zukunft investiert werden. ({2}) Man könnte sagen, dieses Programm macht zwei Dinge, die Hand in Hand gehen, sehr gut: auf der einen Seite die Innovationsförderung, auf der anderen Seite das bewährte Unterstützen von kleinen und mittleren Unternehmen. Wir haben eben gehört: Es geht auch um Exporte, es geht um Stipendien – jede Menge wird damit unterstützt –, aber auch um regionale Wirtschaftsförderung. Wenn wir uns die Transformation anschauen, dann stellen wir fest: Es geht natürlich auch um regionale Themen, darum, da zu unterstützen, wo Strukturen im Aufbruch sind, wo die Transformation stattfindet, dort zu investieren. Ich habe mal für meinen Wahlkreis Trier die Daten analysiert. Es wurden im letzten Jahr über die ERP-unterstützten KfW-Kreditzusagen Fördermittel in Höhe von insgesamt fast 10 Millionen Euro investiert, und ich finde, das kann sich für unsere Region sehr sehen lassen. Meine Damen und Herren, das ERP ist nicht geschaffen worden, um eine pandemiebedingte Wirtschaftskrise zu überwinden. Es gibt es seit 70 Jahren – wir reinvestieren die Erträge immer wieder sehr erfolgreich –, und es ist daher ein sehr erprobtes und langfristiges Vehikel. Es wird uns helfen, nach Corona weiter in internationale, aber auch in regionale Zukunftsprojekte zu investieren. Daher bitte ich Sie gleich gemeinsam mit unserer Fraktion und allen anderen hier um Zustimmung zum ERP-Wirtschaftsplangesetz 2022. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in dieser Debatte ist Enrico Komning, AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Staatssekretär Kellner, schön, dass Sie heute da sind und diesem wichtigen Thema mit Ihrer ersten Rede die Bedeutung verleihen, die auch notwendig ist. Ich hoffe für Ihre erste Rede, dass sie nicht so hohl und phrasenreich wie die Ihrer Kollegin Detzer wird, sondern etwas inhaltsvoller. ({0}) Wir als AfD-Fraktion wollen dem ERP-Wirtschaftsplangesetz in seiner Ursprungsform zustimmen, aber eben auch nur in dieser, zwar mit Bauchschmerzen, aber aus Verantwortung für den Mittelstand hier in Deutschland; denn der Mittelstand ist das wirtschaftliche Rückgrat in Deutschland. Der Mittelstand ist es, der die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft. Wir als AfD, meine Damen und Herren, sind der letzte Sachwalter der Interessen des Mittelstandes, ({1}) nachdem die FDP zu den Linkspopulisten übergelaufen ist. ({2}) Sie von der Bundesregierung scheinen schlicht und ergreifend überhaupt gar keinen Bock auf eine gesunde heimische Wirtschaft zu haben. Ich verstehe einfach nicht, wie wenig ambitioniert, wie geradezu lustlos Sie mit diesem Sondervermögen umgehen. Coronaunabhängig wird Ihre für 2022 geplante Förderleistung mit 221 Millionen Euro um mehr als 143 Millionen Euro, also fast 40 Prozent, unter der Mindestfördersumme liegen; da kann der Bundesrechnungshof noch so viel Besserung einfordern. Liebe Bundesregierung, halten Sie sich endlich an die Vorgaben! Für mehr Arbeitsplätze, für breiteren Wohlstand hier in Deutschland! Das gesamtgesellschaftliche Scheitern Ihrer für den Mittelstand verhängnisvollen Coronapolitik müsste doch eigentlich gerade jetzt alle Förderkräfte entfesseln. Nichts davon ist zu merken, auch nichts von Bemühungen, die Förderung effizienter zu gestalten. Von den Ausgaben der Programmförderung 2020 in Höhe von 210 Millionen Euro waren 76 Millionen Euro Vergütungskosten der KfW; das sind 36 Prozent. Hier gelobt die KfW seit Jahren Besserung; auch in diesem Jahr wird sich daran wohl nichts ändern. Der ERP-Unterausschuss aus der letzten Legislatur, der der KfW hier immer auf die Finger schauen konnte, wurde vorsichtshalber für diese Legislatur vollständig abgeschafft. Das, meine Damen und Herren, ist ein schlechtes Zeichen für potenzielle Unternehmensgründer und Kreditnehmer. ({3}) Einzig für parlamentarische Taschenspielertricks scheint das ERP-Wirtschaftsplangesetz für Sie zu taugen. Sie machen hier ein Mantelgesetz daraus, wollen vollkommen artfremde Regelungen der Strafprozessordnung quasi mitverabschieden, damit bewusst dem Rechtsausschuss die Zuständigkeit entzogen wird. Das ist beschämend, das ist absolut unseriös, das lassen wir Ihnen nicht unwidersprochen durchgehen. ({4}) Als AfD fordern wir Sie auf, dem Mittelstand endlich die Bedeutung zu geben, die er verdient. Das dient dem Wohl des deutschen Volkes, das zu wahren Sie alle geschworen haben. Handeln Sie entsprechend! Vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Gerald Ullrich, FDP-Fraktion. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der weiterhin angespannten wirtschaftlichen Lage verstetigen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Förderprogramme aus dem ERP-Vermögen. Kurz zu den Fakten: Im Jahr 2022 ist eine Förderleistung von 220 Millionen Euro geplant. Das sind in der Tat 143 Millionen Euro weniger als die festgelegte Mindestförderung in Höhe von knapp 370 Millionen Euro. Das bedeutet für uns, wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, was wir an diesem Programm in Zukunft vielleicht ändern müssen, damit wir wieder auf die volle Förderleistung kommen. Zum 31. Dezember 2020 betrug das Vermögen 21,2 Milliarden Euro. Damit liegt es bereits 5,1 Milliarden Euro über der Mindestgröße. Der Gewinn des Sondervermögens wächst weiter. Sie wissen: Das ERP-Programm wurde eigentlich als Wiederaufbauprogramm aufgelegt; das wurde heute schon mehrfach gesagt. Die ERP-Mittel waren somit immer dann von großer Bedeutung, wenn in der Wirtschaft sozusagen der Resetknopf gedrückt wurde, und das war schon zweimal der Fall: Das war einmal in der alten Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. Das war aber auch zu Zeiten der Wiedervereinigung 1989 in den ostdeutschen Ländern der Fall; das dürfen wir nicht vergessen. Denn auch da lag die Wirtschaft komplett am Boden, und wir waren damals sehr froh, dass wir dieses Instrument hatten. Auch die Firma meiner Familie hat davon profitiert. Es ist die Frage, ob es uns sonst heute in dieser Form als Familienbetrieb so geben und ob ich heute so vor Ihnen stehen würde. Momentan leben wir in Zeiten von enormen wirtschaftlichen Veränderungen. Diesen Veränderungen muss sich auch die ERP-Förderung anpassen; denn das Vermögen sollte nicht wachsen, wenn gleichzeitig die Wirtschaftsleistung zurückgeht wie in den letzten beiden Jahren. Deshalb brauchen wir wirklich neue Ideen: Erstens. Die Gründerförderung muss weiter ausgebaut werden. Die Eigenkapitalhilfen müssen wir in den Vordergrund rücken. Das hat uns nach der Wiedervereinigung extrem geholfen und kann nach Corona auch ein Mittel sein. Vereinbart haben wir das ja auch in unserem Koalitionsvertrag – Zitat –: „Wir stärken die Start-up- und Gründerförderung.“ Zweitens. Wir müssen die Nachfolgethematik in der Wirtschaft mit politischer Hilfe beherzt angehen. In Studien heißt es zurzeit immer wieder: Nachfolgen ist das neue Gründen. – Auch Sie haben das sicher schon sehr oft gehört. Und es ist auch so; denn mehr als 230 000 Unternehmen suchen in den nächsten Jahren Nachfolger für die Inhaber. Das ist ein deutlicher Arbeitsauftrag für uns. Aus diesem Grunde müssen wir die Gründerprogramme für Nachfolgegründungen öffnen und spezifische Kreditprogramme für die Nachfolgethematik bei Unternehmen entwickeln; denn Unternehmensübernahmen können sich je nach Bereich auch erheblich unterscheiden. Schließlich müssen wir auch die Existenz dieser Programme und die Möglichkeiten, die sie bieten, in der Unternehmerschaft deutlicher kommunizieren. ({0}) Drittens. Wir müssen den Strukturwandel in Deutschland unterstützen. Hierzu brauchen wir besonders in den Kohleregionen – aber nicht nur dort – nicht nur neue Straßen und neue Brücken, sondern vor allen Dingen auch neue Ideen und Geschäftsmodelle. Zu deren Unterstützung lässt sich der ERP-Fonds sehr gut heranziehen. Hier können die ERP-Mittel wirklich helfen und auch für eine stetige Erneuerung sorgen. Viertens. Wir müssen den Fluss von Wagniskapital beschleunigen – das ist mir sehr wichtig –; denn besonders die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Start-ups muss im internationalen Vergleich erhöht werden. Die extra hierfür gegründete KfW Capital hat vergangenes Jahr erstmals mit voller Kapazität gearbeitet. Jetzt gilt es, hier Impulse zu setzen und die Dinge zu verstetigen. ({1}) Fünftens. Wir sollten auch im begrenzten Bereich der ERP-Förderung wieder mehr Platz zum Experimentieren einführen. So können wir auf die neuen Gegebenheiten reagieren. In den Bereichen der Wachstumsinvestitionen oder der Förderung von Schwarmfinanzierungen sind die Möglichkeiten groß, die staatlichen Erfahrungen bisher aber sehr gering. Letztlich bleibt das Ziel der ERP-Programme die Stärkung der deutschen Wirtschaft. Veränderung braucht immer Wagemut. Lassen Sie es uns angehen! Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Danke. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja sehr viel Einigkeit in der Debatte, was die Zustimmung zum ERP-Wirtschaftsplangesetz angeht. Es ist natürlich vollkommen richtig, dass wir gerade dann, wenn die Wirtschaft vor einer großen Transformation, dem sozial-ökologischen Umbau, steht, auch die kleinen und mittleren Unternehmen unterstützen müssen, sei es bei der Digitalisierung, bei Gründungen, beim Wagniskapital oder auch bei Fragen der Übernahme von Unternehmen. Das alles ist vollkommen richtig. Viele Vorredner haben das auch schon gesagt. Aber: Worauf wir als Bundestag noch viel mehr achten müssen, auch wenn wir uns bei der Zustimmung einig sind, ist: Wir können nicht damit zufrieden sein, dass, obwohl das Sondervermögen immer weiter anwächst, immer weniger Mittel abfließen und die Gelder gar nicht beansprucht werden, die zur Verfügung gestellt werden. Da hat meines Erachtens auch die letzte Bundesregierung versagt. Herr Kellner, ich hoffe, dass die neue Bundesregierung besser darauf achtet, dass die Mittel auch abfließen. Denn es nutzt nichts, wenn wir hier Sonntagsreden halten und sagen, wie toll wir die kleinen und mittleren Unternehmen unterstützen, diese aber faktisch die Gelder nur unzureichend beantragen. Dann haben wir zwar etwas gewollt, aber nichts gekonnt. ({0}) Deshalb sage ich auch: Es kann nicht sein, dass die Kritik daran nicht hier aus dem Hause kommt, sondern wir uns nur einmal im Jahr anschauen, was mit diesem Programm passiert. Bisher hat ausschließlich der Bundesrechnungshof Kritik daran äußert. Ich glaube, angesichts der Tatsache, dass zu wenig Gelder abfließen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, warum die KfW so viel Geld für die Organisation dieser Maßnahmen beansprucht. Wenn teilweise 38 Prozent der Gelder bei der KfW landen, dann ist der größte Profiteur von Mittelstandsförderung die KfW. Das müsste eigentlich auch verändert werden; denn wir wollen mit diesem Programm die kleinen und mittleren Unternehmen unterstützen und nicht die KfW. ({1}) Ich komme zum Schluss; meine Redezeit ist nun mal leider nur kurz. Wir müssen dieses Programm auch mit zwei anderen Dingen verzahnen. Wir als Linke sagen immer: Wirtschaftsförderung muss einhergehen mit guter Arbeit, mit Tarifbindung, Mitbestimmung. Nur solche Betriebe sollten unterstützt werden mit staatlichem Geld. Zweitens. Der sozial-ökologische Umbau braucht dringend viele, viele Investitionen. Die KMUs werden darunter leiden, wenn sich ab dem nächsten Jahr die FDP durchsetzen und auf die Einhaltung der Schuldenbremse und die schwarze Null dringen sollte. Wir brauchen viel mehr Investitionen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dafür muss der Staat auch viel mehr tun. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat das Wort Michael Kellner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Michael Kellner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005102, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich: Im Wirtschaftsausschuss haben alle demokratischen Fraktionen dem ERP-Wirtschaftsplangesetz für 2022 zugestimmt. Das ist ein starkes Zeichen für dieses Gesetz. Und vielleicht wichtiger noch: Es ist in diesen aufgeregten politischen Zeiten ein Zeichen für Gemeinsamkeit. Ich schätze das sehr, und ich danke Ihnen dafür, weil wir bei allem notwendigen Streit eben auch die Gemeinsamkeiten der Demokratinnen und Demokraten brauchen. ({0}) Die Förderung aus dem ERP-Sondervermögen gehört zu den schlagkräftigsten Instrumenten der Wirtschaftsförderung für mittelständische Unternehmen in Deutschland. Die Auswirkungen der Pandemie haben viele Mittelständler hart getroffen, und sie treffen sie bis heute ganz unterschiedlich. Deshalb verlängert die Bundesregierung die Coronahilfsprogramme bis Juni. Das ist wichtig für alle, die unverschuldet in Not geraten sind. Doch mit dem ERP ziehen wir den Rahmen weit über Corona hinaus. Mit diesem Gesetz können kleine und mittlere Unternehmen von zinsgünstigen Krediten sowie Beteiligungskapital in Rekordhöhe von insgesamt rund 9,8 Milliarden Euro profitieren. Das ERP ist auch eine Startrampe für Gründung und Unternehmensnachfolge. Wir unterstützen mit den ERP-Mitteln nachhaltiges Wachstum und Digitalisierung, und zwar branchenoffen, zielgerichtet und effektiv. Unternehmen in strukturschwachen Regionen besonders, aber eben nicht nur in Ostdeutschland profitieren dabei von besonders günstigen Konditionen. Wir brauchen diese Unterstützung zum Durchstarten nach der Pandemie. Ich freue mich, dass Bund und Länder gestern erste Öffnungen vereinbart haben, ohne in Leichtsinn zu verfallen. Das ermöglicht Perspektive und Planbarkeit. Es ist gerade richtig, dass zuerst die Maßnahmen wie 2 G und 2 G Plus gelockert werden, die mit besonders hohen Kosten verbunden sind. Mit den verlängerten Hilfen, der gezielten Öffnung und dem ERP-Plan bieten wir deswegen gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen die erforderliche Verlässlichkeit, die sie für ihre Planungen benötigen. Der ERP-Wirtschaftsplan wird nach meiner Überzeugung seinem Ziel gerecht, den Mittelstand bestmöglich aus der Krise zu begleiten und dabei zukunftsweisende Impulse zu setzen. Gerade als Mittelstandsbeauftragter der Bundesregierung ({1}) ist mir das ein großes Anliegen, und ich würde mich sehr über eine breite Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf freuen. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache, wie es mein Kollege Jan Metzler angekündigt hat, ausschließlich Ausführungen zu Artikel 2 des vorgelegten Gesetzentwurfs. Darin geht es um eine Änderung der Strafprozessordnung; mit dem übrigen Gesetzesinhalt hat das nichts zu tun. Der Hintergrund ist Folgender: Am 24. Juni 2021 hat die Große Koalition in der letzten Legislaturperiode das Strafgesetzbuch geändert und neben der Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten auch den Besitz von Anleitungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern ergänzend unter Strafe gestellt. Zur verbesserten Aufklärung erforderliche Ermittlungshandlungen von Polizeibeamten – auch „Keuschheitsprobe“ genannt –, die allerdings strafrechtliche Vorschriften tangieren können, wurden von der Strafbarkeit ausgenommen. Weil das rechtlich heikel ist, muss es vorher von einem Ermittlungsrichter genehmigt werden. Die Regelung findet sich in § 110d der Strafprozessordnung. Im Nachhinein haben wir festgestellt, dass bei den dort aufgeführten Vorschriften, für die dieser Richtervorbehalt gilt, aufgrund eines Versehens eine Vorschrift nicht ganz bzw. in ihrer alten Fassung zitiert wurde. So etwas nennt man ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers. Das ist eigentlich kein großer Akt, sondern eher eine Lappalie, deren Korrektur allerdings keinen Aufschub verträgt, zumal es hier um die Aufklärung abscheulicher Verbrechen gegenüber Kindern, mithin den Schwächsten unserer Gesellschaft, geht. Daher hat meine Fraktion baldmöglichst einen entsprechenden gesetzlichen Korrekturantrag eingebracht. Meine Damen und Herren, echte Fehlerkultur verlangt, dass man zu seinen Defiziten steht und diese bestmöglich beseitigt, und dem wollten wir Rechnung tragen. Unser Vorschlag wurde nunmehr aber erst nach mehr als zwei Monaten inhaltlich eins zu eins in den heute von der Ampelkoalition vorgelegten Gesetzesvorschlag übernommen. Konstruktiv, wie wir sind, haben wir unseren Vorschlag für erledigt erklärt. Meine Damen und Herren von der Ampelkoalition, das hätten Sie wirklich einfacher und vor allen Dingen schneller machen können, wenn Sie uns gefolgt wären. Statt von Anfang an unserem Vorschlag beizutreten, wurde er mit Ihren Stimmen ohne Angabe von Gründen zweimal von der Tagesordnung des Rechtsausschusses genommen. Dabei ging es ja nicht um eine Staatsaffäre, sondern um die Korrektur eines Schreibversehens. Diese Art von Machtdemonstration ist umso weniger verständlich, als die davon abhängenden Ermittlungen dem Schutz der Kinder dienen. Das verdient keinen zeitlichen Aufschub. Meine Damen und Herren von der Ampelkoalition, Ihr Koalitionsvertrag trägt ja nun die Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“. Im Duden steht zum Begriff „Fortschritt“: „positiv bewertete Weiterentwicklung; Erreichung einer höheren Stufe der Entwicklung“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich überlasse es Ihnen, zu beurteilen, ob diese Vorgehensweise, die die Ampelkoalition hier an den Tag gelegt hat, ihrem selbstgesetzten Ziel gerecht wird. Ich bedanke mich. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in der Debatte ist Hannes Walter, SPD-Fraktion. ({0})

Hannes Walter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht schlecht gestaunt: Den Marshallplan, den ich persönlich aus dem Geschichtsunterricht kenne, gibt es noch. Wie wir heute schon das eine oder andere Mal gehört haben, gibt es ihn heute noch in Form der ERP-Programme der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Durch Zins und Zinseszins sind diese ERP-Mittel auf rund 22 Milliarden Euro angewachsen und unterstützen die deutsche Wirtschaft seit mehr als 70 Jahren. Das ist Nachhaltigkeit im besten Sinne. ({0}) Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass in diesem Jahr ERP-Mittel in Höhe von etwa 901 Millionen Euro zur Unterstützung der Wirtschaft bereitgestellt werden. Mithilfe dieser Förderung können zinsverbilligte Kredite mit einem Gesamtvolumen von gut 9,8 Milliarden Euro auf den Weg gebracht werden. Das ist ein Betrag, der sich sehen lassen kann. Getreu der Idee des Marshallplans geben wir Hilfe zur Selbsthilfe. Wir wollen wichtige Impulse geben für mehr Innovation, für mehr Gründungen und für die Modernisierung bestehender Unternehmen in Ostdeutschland und in regionalen Fördergebieten. Das ist gerade jetzt ein wichtiges Signal für unsere mittelständische Wirtschaft; denn diese trägt zu rund 61 Prozent der gesamten Nettowertschöpfung bei und stellt 55 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland. Eine der großen Herausforderungen in der Krise ist es, die Liquiditätsengpässe im Mittelstand zu überbrücken. Hier setzt die ERP-Förderung an. Insbesondere die günstigen Zinsen, die langen Kreditlaufzeiten und die Haftungsfreistellung machen die ERP-Mittel attraktiv. Es sind diese kostengünstigen Konditionen, die letztlich auch dazu beitragen, dass unsere mittelständischen Unternehmen gut durch die Krise kommen. Gleichzeitig wird der Blick auch auf längerfristige förderpolitische Maßnahmen gelegt. Sie bilden einen wichtigen Beitrag zur klimaneutralen und digitalen Transformation unserer Wirtschaft. In dieser Dimension ist die deutsche Förderkulisse weltweit einzigartig. Neben finanzieller Unterstützung braucht unser Mittelstand aber auch weniger Bürokratie bei der Beantragung von Fördermitteln. Die ERP-Förderung wurde daher im Bereich der gewerblichen Mittelstandsfinanzierung neu aufgestellt und weiterentwickelt. Die Förderhilfen wurden zu Jahresbeginn in Kredite für kleine und mittlere Unternehmen einerseits sowie für große Mittelständler andererseits unterteilt. Dadurch wollen wir eine noch höhere Kreditnachfrage und einen besseren Mittelabfluss ermöglichen. ({1}) Besondere Unterstützung durch verbesserte Konditionen bekommen dabei junge Unternehmen und solche in den regionalen Fördergebieten. Das finde ich ganz besonders begrüßenswert. Gerade im Strukturwandel bekommen Start-ups eine neue Bedeutung. Für die Lausitz zum Beispiel, die nach wirtschaftlichen Wegen für die Zeit nach dem Kohleausstieg sucht, sind junge Existenzgründerinnen und ‑gründer eine Antwort. Hier kann der Keim für einen neuen Mittelstand liegen. Diesen Pioniergeist braucht unsere Region dringend für die Emanzipation von der Kohle. Damit setzen wir die richtigen Akzente und verfolgen eine vorausschauende Politik. Diese bildet den Wohlstand von morgen und atmet den Geist des Marshallplans. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Damit schließe ich die Aussprache.

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die ganz große Mehrheit von uns in diesem Hause steht für den Schutz verfolgter Menschen und von Menschen, die durch bewaffnete Konflikte bedroht sind. Festzustellen ist aber auch, dass ein Großteil der Asylbewerber, die zu uns kommen, keinen Anspruch hat. Unser humanitärer Ansatz kann auf Dauer nur funktionieren, wenn wir dem vielfachen Missbrauch gegensteuern. ({0}) Das aktuelle Gemeinsame Europäische Asylsystem, das GEAS, ist hier nur bedingt tauglich. Die Erfassung und Registrierung an den EU-Außengrenzen ist mangelhaft. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für die Bearbeitung der Anträge ist rein zufällig und hängt von dessen geografischer Lage ab. In den Mitgliedstaaten bestehen erhebliche Unterschiede, bezogen auf die Aufnahmebedingungen, Leistungen und Anerkennungsquoten. Zudem gibt es keine dauerhafte Zuständigkeit eines Mitgliedstaats. Deshalb ist eine effektive Sicherung der EU-Außengrenze dringend erforderlich, damit Antragsteller auch verlässlich registriert werden. Zuständigkeit und Lasten der Asylmigration müssen zwischen den Mitgliedstaaten fair verteilt werden. ({1}) Grenzverfahren mit einer Asylvorprüfung müssen hier die Regel werden. ({2}) Antragsteller, die offensichtlich keinen Anspruch haben, sind schnellstmöglich von der EU-Außengrenze abzuschieben. ({3}) Für einen Asylbewerber muss ein Mitgliedstaat dauerhaft zuständig sein. Asylbewerberleistungen sind nur in dem zuständigen Mitgliedstaat zu gewähren. Zweitasylanträge in einem anderen Land sind auszuschließen. Wie wichtig wäre es jetzt, dass sich die Bundesregierung mit Nachdruck für diese erforderlichen Änderungen, wie vorgetragen, einsetzen würde. ({4}) Stattdessen formuliert die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag, dass sie mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten vorangehen will. ({5}) Gut, dass Innenministerin Faeser gestern im Innenausschuss zurückgerudert ist; denn bei dieser Politik besteht das Risiko, dass sich in der Folge nicht weniger, sondern mehr Menschen auf den teilweise gefährlichen Weg in die EU machen, sich in die Hände von Schleppern begeben und ihr Leben riskieren. Frau Ministerin Faeser, bringen Sie die europäische Asyl- und Migrationspolitik voran, aber bitte nicht einseitig zulasten Deutschlands! ({6}) Dann haben Sie auch die Union an Ihrer Seite. Vielen Dank. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Hakan Demir, SPD-Fraktion. ({0})

Hakan Demir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ordentliches Mitglied im Innenausschuss und habe gestern wahrgenommen, dass unsere Innenministerin sich ganz klar für eine humanitäre Asylpolitik ausgesprochen hat. Dazu gehört auch eine Koalition der Aufnahmewilligen, und das ist gut so. ({0}) Wir brauchen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik eine doppelte Solidarität: eine Solidarität mit den Ländern, in denen Geflüchtete ankommen und Asyl beantragen, und wir brauchen eine Solidarität mit den Geflüchteten, die vor Gewalt und Tod fliehen. ({1}) Das ist unser Verständnis von einer menschenrechtsorientierten Politik. Und unsere Solidarität darf nie an unseren Außengrenzen enden – nein, unsere Solidarität muss grenzenlos bleiben. ({2}) Ich war selbst zwischen dem 1. und 3. Dezember mit den Kolleginnen Jessica Rosenthal, Reem Alabali-Radovan und Lars Castellucci in Polen, und wir sind bis fast an die belarussische Grenze gefahren. Wir haben dort Organisationen getroffen, und wir haben mit Konrad Sikora, einem stellvertretenden Bürgermeister einer kleinen polnischen Stadt, gesprochen. Dieser Mann hat 16 Stunden pro Tag für seine Stadt gearbeitet, ist dann nach seiner Arbeit noch mal zu den Migrantinnen und Migranten gefahren und hat ihnen Decken und Essen gebracht. Mit glasigen Augen hat er uns berichtet, wie es ihn berührt, dass Menschen in den Wäldern sterben – bis dahin waren es 17. Einer von diesen Toten ist Kawa al-Jaf, 25 Jahre alt. Er arbeitete auf einem Markt im Nordirak. Freunde erzählten ihm, dass man über Belarus in die EU gelangen könne. Er zögerte nicht und ging. Er träumte von einem besseren Leben. Sechsmal versuchte er, nach Polen zu gelangen; sechsmal wurde er wieder zurückgeschubst – Stichwort „Pushback“ –, das erzählte er seinem Vater. Irgendwann gelang es ihm doch, nach Polen zu kommen. Mit einer Gruppe von Menschen wollte er weiter nach Deutschland. ({3}) Der Vater bekam den Anruf, dass es ihm nicht mehr gut ginge, und flehte die Gruppe, die schon in Polen war, an, Kawa ins Krankenhaus zu bringen. Aber die Berichte, die wir bekommen haben, besagen, dass die Menschen aus den Krankenhäusern rausgezogen und dann wieder zurückgeführt werden, zurückgeschubst werden. Deshalb hat die Gruppe Kawa nicht ins Krankenhaus gebracht. Der letzte Anruf, den der Vater bekommen hat, war, dass sein Sohn tot sei. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Hakan Demir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind die Schicksale unserer Welt. Man müsste schon aus Stein sein, um nicht zu verstehen, warum diese Menschen ihr Land verlassen und was sie erleiden müssen. Ob Kawa Asyl bekommen hätte, wissen wir nicht. Vielleicht hätte er auch legale Einreisewege für Arbeit oder Ausbildung gebraucht. Aber auch darum bemühen wir uns hier in der Koalition: legale Wege zu schaffen. ({0}) Einige Regierungen in der EU verweigern sich der Aufnahme von Geflüchteten komplett. An der polnisch-belarussischen Grenze, aber auch in Kroatien und im Mittelmeer, hören wir immer wieder von illegalen Pushbacks. Darauf kann man natürlich auf zwei Arten reagieren: Man kann sich freuen, dass die Staaten an der Außengrenze Geflüchtete zurückhalten, auch mit Pushbacks und unter unhaltbaren humanitären Zuständen. Oder man erkennt an, dass man vorangehen muss, um das Recht auf Asyl in Europa zu schützen, und das hat unsere Bundesministerin Nancy Faeser auch gemacht: eine menschenrechtsorientierte Politik. Wir gehen mit Frankreich da voran. Alleine in Deutschland gibt es 294 Städte, die sich zu sicheren Häfen erklärt haben; sie würden sofort Menschen aufnehmen. Aus diesen Städten kommen auch die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Wir alle wollen einheitliche Standards und Aufnahmebedingungen in der Europäischen Union, hohe und menschliche Standards natürlich. Aber die Realität sieht anders aus. Zurzeit können wir aufgrund von Rückführungsverboten keine Menschen nach Italien und Griechenland zurückschicken. Das wäre rechtswidrig, wie auch der EuGH und Verwaltungsgerichte aus mehreren Bundesländern festgestellt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine abgeschotteten Internierungslager. Wir wollen keine Pushbacks. Wir wollen gemeinsame europäische Standards, aber wir erkennen auch die Realität an und gehen in der Zwischenzeit voran. Was sollen wir sonst machen? Ich will irgendwann wieder den stellvertretenden Bürgermeister Konrad Sikora treffen, ihm in die Augen schauen und sagen: Wir haben verstanden. Wir helfen. Wir sind da. – Das ist der Weg der Sozialdemokratie. Danke schön. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Dr. Gottfried Curio, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr Verdrängung von Schuld war nie. Die entmachtete Union fordert jetzt die Beseitigung der Missstände, die sie selbst verursacht hat: Effektiver Grenzschutz – Fehlanzeige! Geltendes Recht – gebrochen; Dublin III. Und was lesen wir nun? Wortreich beschreibt der Unionsantrag das Scheitern Ihrer Asylpolitik: Die EU-Außengrenze steht offen, Erstaufnahmeländer registrieren nur sporadisch, Rücküberstellung findet kaum statt. Wir lesen: „Dem vielfachen Missbrauch des Schutzsystems ist entgegenzuwirken.“ Na, da fällt der Union ja was auf. Kaum in der Opposition – ganz neue Einsichten! ({0}) Sie hatten 16 Jahre Zeit, dem entgegenzuwirken. Asylmissbrauch und Überlastung Deutschlands sind auf Ihrem Mist gewachsen. ({1}) Die Union schreibt, dass die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht funktioniert. Bitte, das war die Unterdrückung geltenden Rechts, Dublin III, durch Ihre Kanzlerin, durch Sie gewollt oder geduldet. Niemand anders als diese Union hat die europäische Asylpolitik im Alleingang zerstört. ({2}) Aber die CDU kann nicht aus ihrer Haut. Sie schreibt: „Deutschland hat sich … so humanitär und solidarisch gezeigt wie nur wenige Länder“. Man betont, dass die CDU-Regierung ganz viel getan hat – zulasten Deutschlands. Dass man die Asylpolitik von 2015 als vorbildlich darstellt, zeigt, dass man gar nichts gelernt hat: Immer noch die Moralselbstbelobigungsnummer statt Politik für Deutschland, meine Damen und Herren. ({3}) Und man spielt Opposition: Faesers Koalition der Willigen, der aufnahmebereiten Staaten, eine alte Seehofer-Idee, nennt man jetzt „realitätsfremd“ und „gefährlich“. Und wenn jetzt ausgerechnet Sie empfehlen, deutsche Alleingänge, die den Migrationsdruck erhöhen, zu unterlassen, dann heißt das de facto: Wählen Sie auf keinen Fall die Union! ({4}) Die Wahrheit ist: Sie haben das Narrativ befeuert, dass da vor allem Flüchtlinge kämen und nicht Wirtschaftsmigranten. Sie entlarven sich selbst. Forderung Nummer 1 – Steuerung, Ordnung, Begrenzung der irregulären Migration –, schon dieser schönfärberische Euphemismus „irregulär“ für „einfach illegal“ verrät Sie doch. Illegale Handlungen sind nicht weißzuwaschen und zu ordnen oder zu begrenzen, sondern zu beenden! ({5}) Und die Abwehr von Sekundärmigration kann nicht erst in der EU beginnen. Wer Schutz sucht, kann nicht erst durch zig sichere Drittstaaten ziehen, der muss beim Erstzutritt im sicheren Nachbarland den Antrag stellen. Alles andere ist Asyltourismus. ({6}) Aber ist die Merz-CDU nun anders? Was war denn bei Merkels Grenzöffnung 2015? Merz war dafür. Was war beim UN-Migrationspakt mit grenzenloser Migration als Grundprinzip? Merz ist dafür. Merkel kriegt zwar die CDU aus sich raus, aber die CDU nicht Merkel. ({7}) Es macht nicht den kritischen Unterschied, ob man nun über die Klippe hinausrast wie die Ampel oder das wie die Union mit angezogener Handbremse tut: Man zerschellt unten. Sie haben jetzt die Wahl: Mit der Ampel mit Volldampf in den Abgrund, Zerstörung Deutschlands bis 2025, mit der Union bis 2029, mit der AfD Rettung Deutschlands als Heimat und Staat. Die Alternative heißt nur noch: Verschwinden Deutschlands im Globalismus der forcierten Völkerwanderung oder Freiheit für eine souveräne deutsche Nation. Wir wählen die Freiheit! ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort zu seiner ersten Rede hier im Deutschen Bundestag dem Kollegen Julian Pahlke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Julian Pahlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005173, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Während wir heute hier im Parlament debattieren, warten auf dem Mittelmeer 247 aus Seenot gerettete Menschen auf einen sicheren Hafen. Nach monatelanger Flucht vor Bürgerkrieg und Verfolgung, Folter in den libyschen Gefängnissen und einer lebensgefährlichen Irrfahrt über das Mittelmeer hoffen sie in diesem Moment auf einen sicheren Hafen, ein sicheres Zuhause und ein Leben in Würde. Ich war selbst als Seenotretter auf dem Mittelmeer, und ich habe mit eigenen Augen gesehen, was es bedeutet, wenn Menschen auf der Flucht nicht wissen, wo sie einen sicheren Ort finden. Für diese Menschen ist Europa das Versprechen auf Sicherheit und einen funktionierenden Rechtsstaat. Aber diese Sicherheit gerät täglich in Gefahr. Wenn Geflüchtete an Land gehen, werden sie oft in prekären Lagern untergebracht; Familien verbringen den Winter in Zelten. Nach den schrecklichen Erlebnissen auf der Flucht gibt es oft keinen Rückzugsraum, keine sanitären Anlagen, keinen Strom. Die Lager werden immer mehr zu Gefängnissen mit meterhohen Mauern und Stacheldraht. Dem gegenüber steht die riesige Solidarität in unserer Gesellschaft und in vielen anderen EU-Staaten. Alleine in Deutschland haben sich Hunderte Kommunen zu sicheren Häfen erklärt und wollen Geflüchtete bei sich aufnehmen. Drei Bundesländer setzen sich schon heute mit eigenen Landesaufnahmeprogrammen dafür ein und wollen ein sicherer Ort für Geflüchtete werden. Genau deshalb ist diese Koalition der Solidarität so zentral; denn der Grundstein unserer liberalen Demokratie, unser Grundgesetz, und unsere europäischen Grundrechte geben uns genau diesen Auftrag, das Leben, die Würde und die universellen Rechte zu schützen. ({0}) Und damit sind wir nicht alleine. In Deutschland und in ganz Europa stehen Städte bereit; von Marseille über Palermo oder Straßburg wollen die Städte endlich etwas tun. Wenn wir jetzt den ersten Schritt machen, ist die größte Hürde genommen. Andere EU-Staaten können sich schon heute vorstellen, diesem Beispiel zu folgen. Aber Sie von der CDU versuchen mit aller Kraft, den Zerfall der Europäischen Union herbeizufantasieren. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wenn Deutschland und andere dazu bereit sind, werden Staaten wie Griechenland oder Italien merken, dass sie eben nicht alleingelassen werden. ({1}) Anstelle von Rechtspopulismus und Panikmache gibt es eine Bewegung der europäischen Solidarität, die alle EU-Staaten näher zusammenbringen kann, und die Geflüchteten, die in diesem Moment bei 2 Meter hohen Wellen an Bord der „Ocean Viking“ auf einen sicheren Hafen warten, bekommen eine Perspektive anstelle eines Feldbettes in einem unwürdigen Lager. So wird die Würde des Menschen vom Konjunktiv zur Realität. Nach 16 Jahren Verhinderungspolitik der Union, dem Feixen von Horst Seehofer über 69 Abgeschobene und den Forderungen der sogenannten Christdemokratinnen, die Retter/-innen auf den Schiffen doch einfach zu verhaften, muss ich sagen: Endlich, endlich ist der Aufbruch da. Endlich geht dieses Land voran. Endlich übernehmen wir Verantwortung und verschließen nicht mehr die Augen vor dem Leid, das an unseren Außengrenzen entsteht. ({2}) Wenn die Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion in ihrem Antrag jetzt von „gekaufter Solidarität“ sprechen, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie etwas ganz Grundsätzliches überhaupt nicht verstanden haben. Denn Solidarität kann man nicht kaufen; Solidarität ist eine Haltung. Solidarisch ist man, sowohl mit den Ländern an den EU-Außengrenzen als auch mit den Menschen auf der Flucht. ({3}) Aber was anderes habe ich von Ihnen auch gar nicht erwartet. Es war doch immer die Haltung der CDU, mit dem Finger auf andere Staaten zu zeigen und zu sagen: „Aber die anderen, die machen ja auch nicht mit.“ Was ist das denn für ein Anspruch an Politik? Was ist das für ein Verständnis von universellen Grundrechten? Weil es andere nicht tun, müssten wir es auch nicht? Das, liebe Union, ist brandgefährlich. Es ist doch unsere Pflicht, die Würde und die Rechte eines jeden Menschen zu verteidigen, egal ob jemand in Papenburg oder in Aleppo geboren wurde. ({4}) Denn hinter jeder Zahl stecken Menschen mit individuellen Geschichten, mit Erfahrungen, mit Wünschen und Träumen, die selbstverständlich einen sicheren Ort in diesem Land und in dieser Gesellschaft haben. Es sind Menschen wie mein lieber Freund Tareq Alaows, der monatelang zu Fuß aus Syrien geflohen ist, der in Deutschland eine neue, eine sichere Heimat gefunden hat und dem ich es von Herzen gewünscht hätte, heute und hier diese Rede zu halten. ({5}) Was wir brauchen, sind würdevolle Fluchtwege, die das Leid endlich verhindern. Und genau dieser Weg beginnt mit der Aufnahmebereitschaft; denn mit der Koalition der aufnahmebereiten Staaten handeln wir nicht aus Mut. Wir handeln aus Verantwortung, aus Selbstverständlichkeit und aus Solidarität. Vielen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Auch zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich das Wort Clara Bünger, Fraktion Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Union und AfD überbieten sich in dieser Debatte mal wieder gegenseitig in ihrer Unmenschlichkeit. ({0}) Dabei verwenden sie einfach falsche Zahlen und unsachliche Argumente in ihren Anträgen, darunter den immer wiederkehrenden Mythos des Pull-Faktors. Es gibt immer noch keine einzige wissenschaftliche Studie, die einen solchen belegt. ({1}) Diese Debatte zeigt einmal mehr, dass weder die Union, aber auch nicht die jetzige Bundesregierung bisher eine Antwort auf die drängendste Frage bei der EU-Asyl- und Migrationspolitik hat. Jeden Tag werden Menschenrechte an der EU-Außengrenze gebrochen, Menschen ertrinken im Mittelmeer oder erfrieren an der Grenze – und niemand handelt. Stattdessen gibt es einen Normalisierungseffekt von Menschenrechtsverletzungen. Das ist doch der eigentliche Skandal! ({2}) Während „Pushback“ zum Unwort des Jahres 2021 gewählt wurde, praktizieren viele EU-Staaten diese Pushbacks jeden Tag, wie wir heute wieder einer Meldung des „Spiegel“ entnehmen mussten. Für einige ist „Pushback“ nur ein unschönes Wort; für viele Schutzsuchende ist es eine bittere Realität, die viel zu oft tödlich endet. Mindestens 21 Menschen haben in den letzten Monaten an der polnisch-belarussischen Grenze ihr Leben verloren. Eine von ihnen ist Avin Irfan Zahir. Zusammen mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern war sie aus dem Irak ins polnisch-belarussische Grenzgebiet geflohen. ({3}) Tagelang musste die Familie in den Wäldern ausharren. Zahir ging es immer schlechter. Als polnische Aktivisten sie fanden, war sie kaum noch ansprechbar. Ärzten gelang es nicht, Zahir und ihr ungeborenes Kind zu retten. Sie starb drei Wochen später im Krankenhaus. Dass Menschen wie Zahir sterben müssen, ist kein Unglück, sondern direkte Folge der skrupellosen Abschottungspolitik der EU. ({4}) Dennoch fordern Union und die Menschenfeinde hier rechts außen eine weitere Aushöhlung des EU-Asylrechts. ({5}) Wir brauchen aber das Gegenteil: keine menschenrechtswidrigen Grenzverfahren unter Haftbedingungen, sondern ein starkes Aufnahmesystem, bei dem die Rechte der Schutzsuchenden im Mittelpunkt stehen. Vielen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Stephan Thomae, FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war, ehrlich gesagt, ein bisschen überrascht, dass die Union heute einen Antrag eingebracht hat, in dem sie sich mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beschäftigt. Denn mein Eindruck in der letzten Wahlperiode war viel zu häufig, dass man sich in der Union genau mit diesem Thema, dem GEAS, viel zu wenig auseinandergesetzt hat. ({0}) Auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat die Union nicht genutzt, um hier voranzukommen. Das wird die Koalition aus SPD, Grünen und FDP besser machen, meine Damen und Herren. ({1}) Auch in diesem Antrag bleibt die Union einer rückwärtsgewandten Negativbilanz verhaftet: Deutschland habe in der Flüchtlingskrise 2015/2016 die Hauptlasten, die alleinigen Lasten getragen; Deutschland habe mehr geleistet als alle anderen; ({2}) das sei ungerecht, und jetzt seien mal die anderen dran. Ja, Deutschland hat in den Jahren 2015 und 2016 viel geleistet, Herausragendes. Aber einer konzeptionellen Antwort auf die Frage, wie wir als europäische Rechts- und Wertegemeinschaft das Thema „Migration, Flucht, Asyl“ gemeinsam dauerhaft in den Griff bekommen wollen, sind wir in Wahrheit keinen Schritt näher gekommen, und zwar gerade wegen dieser larmoyanten Mischung aus Unzufriedenheit und Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren. ({3}) Die alten Wege in der Migration haben nicht funktioniert. Wir müssen deswegen neue Wege wagen. Und diese neuen Wege wagen wir als Ampelkoalition, meine Damen und Herren. ({4}) Denn eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist dringend geboten. Das Dublin-System überfordert Erstankunftsländer, die Grenzstaaten wie Italien, Griechenland, Malta, Zypern, die für einen ganz überwiegenden Teil der Schutzsuchenden zuständig sind. Die Notlage dieser Länder führt zu einer Politik des Durchwinkens und in der Folge zu einer unkontrollierten Sekundärmigration in Europa, die wir alle nicht wollen können, meine Damen und Herren. Andere Staaten wie etwa Dänemark oder Schweden nehmen zeitweise oder auch dauerhaft Zurückweisungen an ihren Grenzen vor, wieder andere entziehen sich der Lastenteilung komplett. Dazu kommt, dass wir höchst unterschiedliche Asylsysteme und Anerkennungspraktiken in Europa haben. All das führt zu einer ungesteuerten Sekundärmigration innerhalb Europas. Dazu kommt noch, dass die Rückführungsmechanismen, die im Dublin-System eigentlich angelegt sind, so nicht funktionieren. All diese Themen müssen wir anpacken, meine Damen und Herren. ({5}) Als einen Teil davon haben wir mit SPD und Grünen vereinbart, dass wir eine Koalition aufnahmebereiter Mitgliedstaaten schmieden wollen. Da sagen Sie jetzt – das ist Ihr Mantra –, dass ein solches Bündnis im Widerspruch zu einer gesamteuropäischen Lösung in der Asylpolitik stehe, ein nationaler Alleingang sei. Aber genau das ist nicht der Fall. Genau das ist doch das Ziel: den Migrationsdruck von Deutschland zu nehmen und diese Pull-Effekte nicht auszulösen. Da war Ihr eigener Innenminister Horst Seehofer im März 2020 schon mal weiter, der damals aktiv für eine Koalition der Willigen geworben hat. ({6}) Deswegen ziehe ich das Fazit, meine Damen und Herren von der Union: Sie entwickeln in Sachen Gemeinsames Europäisches Asylsystem Ihre Programmatik fort; das ist anzuerkennen. Aber in Sachen Koalition aufnahmebereiter Staaten war Ihr Innenminister in der letzten Wahlperiode schon einmal weiter, als Sie es heute sind. Insofern ist Ihr Antrag ein kleiner Schritt nach vorn, aber zugleich ein großer Schritt zurück. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Liebe Frau Kollegin Bünger, der Kollege der AfD-Fraktion hat mich darauf hingewiesen, dass Sie die AfD als „Menschenfeinde“ bezeichnet haben. Ich würde mir das Protokoll geben lassen, um das noch mal nachzulesen, und erlaube mir, mir ordnungsrechtliche Maßnahmen vorzubehalten. ({0}) Ich erteile das Wort dem nächsten Redner: Josef Oster, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte heute Nachmittag macht vor allem eines wieder einmal deutlich: Die einzige Fraktion in diesem Hause, die verstanden hat, dass der Schutz verfolgter Menschen und eine geordnete Asylpolitik Hand in Hand gehen müssen, ist die CDU/CSU-Fraktion, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Man kann es gar nicht oft genug sagen: Deutschland hat in dieser Hinsicht Erstaunliches geleistet. Fast 2 Millionen Menschen haben in den vergangenen sechs Jahren hier Schutz gefunden. Auch aktuell sind es jeden Tag im Durchschnitt noch 300. Die Behauptung, Deutschland würde zu wenig tun, ist also vollkommen unbegründet. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Unser Land leistet mehr als nahezu jedes andere Land der Welt. ({1}) Aber genau dieses Signal sendet die neue Regierung aus: Wir müssen mehr tun; wir müssen noch mehr Menschen in Deutschland aufnehmen. – Hier hat sich ganz offensichtlich die ideologiegetriebene Migrationspolitik der Grünen durchgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie tun mir in dieser Hinsicht tatsächlich ein bisschen leid, weil Sie das hier mit verteidigen müssen. ({2}) Das, was wir jetzt in der Migrationspolitik erleben, ist eine falsche Botschaft nach innen, und es ist eine fatale Botschaft in Richtung Europäische Union. Was wird die Folge sein? Alle anderen Länder werden sagen: Das Thema Migration ist jetzt endgültig ein deutsches Thema. Wir lehnen uns zurück und lassen die Deutschen machen. – Das dürfen wir nicht zulassen! ({3}) Vor allen Dingen dürfen wir die EU nicht spalten, sondern müssen sie zusammenführen. Es gibt in der Europäischen Union keine Koalition der Willigen, ({4}) sondern es gibt eine ganz große Koalition der Unwilligen. ({5}) Das müssen wir ernst nehmen, ob uns das gefällt oder nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({6}) Und wir nehmen das sehr ernst. Mit dieser Initiative tragen Sie zu einer weiteren Spaltung der EU bei, und das in einer Zeit internationaler Krisen, in der es mehr denn je darauf ankommt, dass die Europäische Union zusammenhält. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich tatsächlich, mit wem diese Initiative abgestimmt ist; zu einer Koalition gehören ja typischerweise mehrere. ({7}) Mit unserem wichtigsten Partner Frankreich offensichtlich nicht; denn fast zeitgleich zu der Initiative der Ministerin verkündet Macron etwas ganz anderes, ({8}) nämlich dass er sich für einen intensiven und verbesserten europäischen Grenzschutz einsetzen will. Das ist genau der richtige Weg, den Macron hier einschlägt, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({9}) Das ist der richtige Weg, weil es darum geht, den europäischen Grenzschutz zu stärken und zu geordneten Verfahren an unseren Außengrenzen zu kommen. Darin liegt der Schlüssel für eine geordnete, aber auch für eine humane europäische Asylpolitik. Ich kann deshalb an Sie, verehrte Regierungskoalition, nur appellieren: Beschreiten Sie in dieser Frage keinen deutschen Sonderweg! Setzen Sie sich dafür ein, dass wir uns in dieser Hinsicht gemeinsam engagieren und dass wir auf einer Basis – dafür ist unser Antrag hervorragend geeignet – die Migration steuern und begrenzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({10})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Gülistan Yüksel, SPD-Fraktion. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein Einwanderungsland. Um das zu sehen, reicht schon ein Blick ins Parlament: Hier sitzen gerade seit Beginn dieser Legislaturperiode viele neue Kolleginnen und Kollegen mit Migrationsgeschichte. Auch wenn manche in diesem Hause noch immer daran zweifeln: ({0}) Deutschland ist ein vielfältiges und buntes Land, und das ist auch gut so. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, man kann es in der aktuellen Debatte nicht oft genug sagen: Menschen, die vor Gewalt, Krieg und Unterdrückung zu uns fliehen, muss Zuflucht und Schutz gewährt werden. Das Grundrecht auf Asyl ist für uns nicht verhandelbar. ({2}) Diese Realität anzuerkennen, ist eine Grundvoraussetzung für jede ernsthafte Diskussion über Asyl- und Migrationspolitik. Dabei können wir nur in gemeinsamen Absprachen mit unseren europäischen Partnern und mit einer grundlegenden Reform des Europäischen Asylsystems die Herausforderungen der Migration fair aufteilen und gut bewältigen. Wir setzen uns für rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten im Rahmen des Europa- und Völkerrechts ein. Wir wollen die Aufnahme- und Transitländer dauerhaft unterstützen. Und wir wollen mehr legale und sichere Einwanderungsmöglichkeiten schaffen, damit sich weniger Menschen auf lebensgefährliche Fluchtwege begeben. Dabei leitet uns immer der Wert der Solidarität. Wir sind solidarisch mit unseren europäischen Partnern und solidarisch mit den flüchtenden Menschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 1995 mache ich Integrationspolitik, und seit 2013 gehöre ich dem Deutschen Bundestag an. In all dieser Zeit habe ich immer wieder von den Lasten und den Herausforderungen der Migration gehört. Darüber müssen wir natürlich auch reden. Aber ich finde: Wir sollten endlich auch mal über das Positive der Migration sprechen. ({3}) Menschen mit verschiedenen Perspektiven und Know-how sind eine Chance und eine Bereicherung für unser Land – gesellschaftlich, kulturell und auch wirtschaftlich. Statt Energie darauf zu verwenden, mit dieser Tatsache zu hadern, sollten wir all unsere Kraft dafür einsetzen, Menschen für unser Land, für unser Einwanderungsland zu gewinnen und sie gut zu integrieren. Wir sehen Einwanderung und Vielfalt als Stärke, liebe Kolleginnen und Kollegen. Statt einem konservativen Koalitionspartner weiter die Realitäten erklären zu müssen, können wir in der neuen Regierung endlich an pragmatischen Lösungen arbeiten. ({4}) So werden wir beispielsweise Kettenduldungen beenden. Stattdessen sollen Menschen, die die Voraussetzungen erfüllen, eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen. Wir entwickeln außerdem die Fachkräfteeinwanderung weiter und setzen auch in diesem Zusammenhang auf pragmatische Lösungen im Sinne aller; denn einerseits Fachkräfte anzuwerben und andererseits gut integrierte Arbeitskräfte wieder abzuschieben, ergibt keinen Sinn. Menschen, die Arbeit gefunden und sich gut integriert haben, sollten auch bleiben dürfen. Diejenigen, die nach unserem Recht nicht bleiben dürfen, müssen unser Land natürlich auch wieder verlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle, die wir hier als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sitzen, haben die Pflicht, uns für die Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, einzusetzen. Dabei sollte es vor allem um Menschlichkeit und Solidarität gehen, Menschlichkeit und Solidarität, wie sie jede und jeder von uns erfahren sollte, wenn sie oder er in Not ist. Herzlichen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die letzte Rednerin in der Debatte ist Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Humanität und Ordnung, Steuerung und Begrenzung, Fördern und Fordern – ja, das sind elementare Grundprinzipien einer erfolgreichen Migrationspolitik. Und eigentlich – so dürfte man meinen – sind das Punkte, über die man nicht streiten müsste. Ja, aber die letzten Wochen haben uns gezeigt, dass die neue links-liberale Regierung diesen Prinzipien nicht mehr viel abgewinnen kann. Wenn die Bundesinnenministerin von einer Koalition der Aufnahmewilligen spricht – ich kann es nicht mehr hören; Herr Seehofer hat es im Einzelfall, im Notfall und nicht als generelle Leitlinie einer Migrationspolitik gemeint – ({0}) und sie damit das fatale Signal „Der Weg für jeden nach Deutschland ist frei“ sendet und zugleich einen Alleingang in Europa auslöst ({1}) und viele unserer europäischen Partner vor den Kopf stößt, wenn anstelle einer ordentlichen Identitätsprüfung zukünftig die Abgabe einer Erklärung an Eides statt, also eine rein persönliche Zusicherung, zur Feststellung der Identität ausreichen soll, wenn Geduldete unter 27 Jahren bereits nach drei Jahren ein Bleiberecht bekommen können – wohlgemerkt: eine Duldung ist eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung von grundsätzlich ausreisepflichtigen Personen –, ja, dann ist die Sprache ganz klar: Es ist ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik, ({2}) allerdings ein Kurswechsel, der – wenn man die Realitäten betrachtet – die sozialen Spannungen in unserem Land verschärfen wird. Und es wundert mich immer wieder, wenn ganz von links dieses „Alle können kommen“ kommt; denn die Menschen, die ich kenne, haben sehr wenig, müssen besonders häufig um Wohnungen kämpfen und sind oft ganz besonders kritisch – leider, leider. Und was tun Sie? Sie treiben – und das wissen Sie doch selbst – diese Menschen ganz nach rechts. Und das macht uns Sorge; denn Sie verschärfen die Positionen am rechten Rand. ({3}) Wie gesagt: Wir stehen zur Humanität. Wir sehen nicht nur die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration, sondern auch, dass Migration uns natürlich in vielerlei Hinsicht bereichert. Schließlich brauchen wir Fachkräfte. Aber der Weg der neuen Links-Liberalen ist nicht richtig: Alle dürfen kommen, und die Wirtschaft sucht sich die Besten heraus. Für den Rest zahlt der Sozialstaat. ({4}) Nein, wir wollen es anders. Bereits vorher sollten Sprachkenntnisse – möglichst im Land – erworben und fachliche Kompetenzen – vielleicht in Kooperation mit Wirtschaftsverbänden – vermittelt werden. Vielleicht sollten die Betreffenden schon vorher eine konkrete Stelle in Aussicht haben. Aber nicht: Alle einfach mal rein, und damit weltweit falsche Signale aussenden. ({5}) Meine Redezeit ist leider um. Ich will nur noch etwas zu Herrn Pahlke sagen. Das war ja seine erste Rede, und man hat seine Leidenschaft gemerkt. Nur so viel zu Ihren Ausführungen zur Haltung anderer EU-Länder zur Migrationsfrage: Idealismus ist gut, Realismus ist besser. Vielen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich schließe die Aussprache.

Siemtje Möller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004826

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb unserer internationalen Gemeinschaft werden wir immer wieder mit Krisen konfrontiert, Krisen, in denen es gilt, nicht wegzuschauen, sondern Hilfe zu leisten für Menschen in Not. Eine ebensolche Krise finden wir momentan in Südsudan vor, einem der noch immer fragilsten Staaten unserer Erde. Trotz des breiten internationalen Engagements ist der Südsudan von einer der drängendsten humanitären Krisen weltweit betroffen. Mit über 4 Millionen vertriebenen Menschen spielt sich dort die drittgrößte Flüchtlingskrise weltweit ab. Von etwa 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind derzeit circa 8,4 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Fast zwei Drittel der Bevölkerung sind von akuter Nahrungsmittelknappheit bedroht. Hinzu kommen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und der verheerenden Überflutungen im Sommer 2021 mit über 850 000 betroffenen Menschen. Trotz positiver Entwicklung und Einbindung fast aller Gruppierungen in den Friedensprozess ist die sehr wichtige Sicherheitssektorreform nicht ausreichend vorangekommen. Die Sicherheitslage im Land bleibt fragil und ist an vielen Orten von einem hohen Maß an Gewalt geprägt, auch zwischen den Volksgruppen. Die dabei zunehmende Zersplitterung der politischen und militärischen Kräfte gefährdet die im Friedensabkommen festgehaltene Machtbalance. Daher bleibt ein erhebliches Risiko für eine erneute, auch plötzliche Lageverschlechterung in den einzelnen Bundesstaaten und im Gesamtstaat. Selbst ein Scheitern des Friedensprozesses kann nicht ausgeschlossen werden. Der Südsudan ist daher weiterhin auf intensive Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. In einem Land, in dem das tägliche Leben noch immer von Hunger, Gewalt und bitterster Armut geprägt ist, ist es unsere Verantwortung, einem Mitglied dieser internationalen Gemeinschaft zu helfen, und die Bundesrepublik tut dies im Rahmen der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen sind zugegebenermaßen ein nicht fehlerfreies Instrument, aber ein unersetzliches zur Schaffung von Frieden und Sicherheit. ({0}) Trotz aller Mängel bei der Umsetzung ist das Friedensabkommen der zentrale Ansatzpunkt für einen nachhaltigen Friedensprozess. Es bildet die Basis für langfristige Entwicklungsperspektiven der Bevölkerung. UNMISS hat dabei unverändert die Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu schützen, humanitäre Hilfe zu leisten sowie Beobachtungs- und Untersuchungstätigkeiten auf dem Gebiet der Menschenrechte durchzuführen. Die Mission erfüllt ihr Mandat auch unter den aktuellen, durch die Pandemie erschwerten Bedingungen. Für die erfolgreiche Umsetzung des VN-Mandats ist eine Fortsetzung der Unterstützung auch durch die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland notwendig. Wir beabsichtigen daher, uns weiterhin bei einer unveränderten Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten – aktuell haben wir 11 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt – mit Einzelpersonal in den Stäben und Hauptquartieren sowie Beratungs-, Verbindungs- bzw. Beobachtungsoffizieren an dieser wichtigen Mission zu beteiligen. Darüber hinaus kann deutsches Personal im Bedarfsfall die Aus- und Fortbildung von Missionsangehörigen temporär unterstützen. Dies ist wichtig, weil neben einem breiten zivilen Engagement für humanitäre Hilfe, das direkt den Menschen zugutekommt, auch militärische Unterstützung zur Stabilisierung des Landes unabdingbar ist. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist im deutschen Interesse, Lösungswege für eine der größten humanitären Krisen weltweit zu suchen und an der Stabilisierung der Region mitzuwirken. ({2}) UNMISS ist weiterhin der zentrale Anker zur Unterstützung des Friedensprozesses und bedarf unverändert unserer Unterstützung. Der deutsche Beitrag zu UNMISS mit gut ausgebildeten Kräften genießt international hohe Wertschätzung und ist zudem ein wichtiges und sichtbares Zeichen unserer Unterstützung für die Vereinten Nationen und ihren Beitrag für eine sichere und friedliche Welt. Ich möchte an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten, die gegenwärtig bei UNMISS eingesetzt sind, für ihren wichtigen Einsatz danken. Kommen Sie alle gesund und wohlbehalten an Leib und Seele zurück! Ich danke an dieser Stelle für den Dienst. Die Kolleginnen und Kollegen bitte ich um Zustimmung. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin Möller. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich grüße Sie und rufe sofort die nächste Rednerin auf. Das ist Annette Widmann-Mauz für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs verbanden die Menschen im Südsudan mit der Unabhängigkeit und der Staatsgründung vor elf Jahren die Hoffnung auf Frieden, politische Stabilität und Entwicklung. Wir wissen heute: Der Weg dorthin ist lang und steinig. Wir dürfen aber dennoch nicht wegschauen, wenn es darum geht, was im Südsudan geschieht, wo die drittgrößte Flüchtlingskrise der Welt stattfindet, wo 70 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wo 1,4 Millionen Kinder und eine halbe Million Schwangere und stillende Mütter unterernährt sind und die jüngsten Überschwemmungen die Lage noch weiter verschlimmert haben. Die Region ist den Folgen des Klimawandels voll ausgesetzt, und die Verteilungskonflikte, die humanitäre Lage und die politische Instabilität verschärfen sich dadurch zusätzlich. Der Südsudan braucht die internationale und unsere Aufmerksamkeit. UNMISS ist für den Südsudan unverzichtbar, seien es die Einsätze für den Schutz der Zivilbevölkerung, die Beobachtung der Menschenrechtssituation oder die Sicherung des Zugangs zu humanitären Hilfen. Dabei geht es zum Beispiel um Unterstützung bei der Aussöhnung zwischen rivalisierenden Dörfern und Ethnien, um Patrouillen von VN-Soldatinnen, die Mädchen und Frauen schützen, die Opfer von unvorstellbarer sexualisierter Gewalt geworden sind, oder um den Schutz der Angehörigen der Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit vor Ort. Von Beginn an hat die Bundeswehr den UNMISS-Einsatz mit Stabspersonal und Militärbeobachtern unterstützt. Deutschland leistet derzeit mit elf exzellent ausgebildeten Kräften einen im Verhältnis zu anderen Nationen zwar zahlenmäßig kleinen, aber hochwertigen Beitrag. Das deutsche militärische Engagement steht neben umfangreichen humanitären Hilfen; seit 2017 sind es mehr als 370 Millionen Euro. Das Beispiel des Südsudan zeigt: Es braucht militärische Unterstützung, wenn wir elementare Menschenrechte schützen und den Zugang zu humanitärer Hilfe ermöglichen wollen. Damit ist es aber nicht getan, wenn es uns um mehr als um Nothilfe, nämlich um nachhaltige und selbsttragende Strukturen geht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lage im Südsudan ist nach wie vor extrem fragil. Die Gesellschaft ist noch immer zerrissen, die Gewalt flammt immer wieder auf. Institutionell steht das Land noch immer am Anfang: Die Arbeit des Parlaments kommt nur schleppend voran. Die gesetzlichen Grundlagen, die für den weiteren Friedensprozess erforderlich sind – eine neue Verfassung, ein Wahlgesetz –, müssen dringend geschaffen werden. Auch die Reform des Sicherheitssektors und die Vereinigung der Sicherheitskräfte bleiben zentrale Herausforderungen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen: Der Waffenstillstand hält im Großen und Ganzen. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr fast halbiert, und im letzten November kam es zum ersten Mal seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2018 dazu, dass hochrangige Regierungsmitglieder aller zehn Bundesstaaten zu Gesprächen zusammengekommen sind. Jetzt kommt es darauf an, den Friedensprozess mit aller Kraft voranzutreiben und auch den politischen Druck auf die Parteien vor Ort zu erhöhen; denn nächstes Jahr soll es Wahlen geben. Die kommenden Monate werden also kritisch für den Transitionsprozess dieses jungen Landes sein. Angesichts der äußeren Einflüsse – ich denke allein an die Präsenz von Chinesen im Südsudan – und angesichts der komplexen Lage am Horn von Afrika sowie der Unruhen im benachbarten Sudan ist es wichtiger denn je, dass der Südsudan stabil bleibt. UNMISS und die Bundeswehr leisten dazu einen wichtigen Beitrag, und wir als Union stehen weiter zu diesem Mandat und zu unseren Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz. ({0})

Jamila Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005200, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen feiert der südsudanesische Film „No Simple Way Home“ – kein einfacher Weg nach Hause – seine Premiere auf der Berlinale. Darin erzählt die südsudanesische Filmemacherin Im Südsudan spielt sich aktuell die größte Geflüchtetenkrise Afrikas ab. Von den etwa 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes – das haben wir gerade schon gehört – sind 8,5 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Klimakrise verschlimmert mit noch nie dagewesenen Dürren, Ernteausfällen und Jahrhundertüberflutungen die ohnehin prekäre Situation der Menschen im Südsudan. Tausende Frauen und Mädchen leiden unter sexualisierter Gewalt. Proteste werden niedergeknüppelt, und Medien, die darüber berichten, werden zensiert. Die Lage im jüngsten Land der Welt ist – man kann es nicht anders sagen – katastrophal. Die Macherin des Films, Akuol de Mabior, berichtete uns gestern hier in Berlin, dass die vielen jungen Menschen im Südsudan, die ihr Land aufbauen wollen, neben humanitärer Hilfe vor allem eines brauchen: sichere Orte, an denen sie ohne Angst ihre Ideen entwickeln können, an denen sie ohne Angst eine Zukunft für sich erdenken und an denen Frauen und Mädchen ohne Angst aufwachsen können. Genau hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich, wie wichtig, ja, wie lebensnotwendig die Arbeit der Vereinten Nationen in dieser Region ist. ({0}) Heute sprechen wir über die UN-Mission im Südsudan. Im Zentrum der Mission steht, sichere Orte in dem Land zu schaffen und die Menschenrechte zu schützen, gerade außerhalb der halbwegs sicheren Städte, gerade für Mädchen und Frauen. Deutschland beteiligt sich mit einer Gruppe erfahrener und hochqualifizierter Soldatinnen und Soldaten in zentralen Führungsposten an der Mission, und das ist gut so. ({1}) An dieser Stelle aus dem Haus einen ganz herzlichen Dank an diese Soldatinnen und Soldaten und an die vielen Helferinnen und Helfer aus 73 weiteren Staaten für ihren Dienst! ({2}) Deutschland, wir alle, trägt eine Verantwortung dafür, dass die Menschen im Südsudan und in der gesamten Region in Sicherheit leben können, und das gerade in einer Region, die mit dem Krieg in Äthiopien und einem Militärputsch im Sudan sehr schwer gezeichnet ist. Wir tragen diese Verantwortung, weil wir als Staat, als Gesellschaft den Anspruch haben, dass jeder Mensch in Würde und Freiheit leben kann. Das gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen, hierzulande genauso wie außerhalb unserer Grenzen. ({3}) In der dramatischen Situation, in der sich der Südsudan befindet, wäre es ein fatales Signal, unsere Unterstützung für die UN-Friedensmission in dem Land zurückzuziehen. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung neben der Beteiligung an der UN-Mission die umfangreichen finanziellen Hilfen für den Südsudan fortsetzen möchte. Ich werbe deshalb mit Nachdruck: Unterstützen Sie die Verlängerung des Mandats! Heute beginnt der Gipfel zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union. Füllen wir doch hier gemeinsam die dortigen Versprechen von vertiefter Kooperation und Zusammenarbeit mit Leben. Heute haben wir die Gelegenheit dazu. Und falls Sie in dieser sehr vollen Woche in Ihren Kalendern noch anderthalb Stunden Zeit finden, dann schauen Sie sich „No Simple Way Home“ an. Diesen kleinen Werbeblock möchte ich mir hier erlauben. Vielen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Abgeordnete. – So richtig langweilen tun sich die Abgeordneten hier ja nicht; aber das ist trotzdem ein guter Hinweis. Für die AfD-Fraktion erhält jetzt der Abgeordnete René Springer das Wort. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und falls Soldaten anwesend sind: Herzlich willkommen, verehrte Kameraden! Der vorliegende Antrag zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Südsudan erscheint auf den ersten Blick etwas wenig ausbalanciert. Immerhin debattieren wir hier über einen deutschen Beitrag von maximal 50 Soldaten in einer UN-Mission, an der bis zu 18 000 Soldaten aus anderen Staaten beteiligt sind – 18 000! Das ist eine Größenordnung, und das weist vielleicht auch schon auf das Problem hin, das es im Südsudan gibt. Der Südsudan zählt zu den fragilsten Staaten der Welt, mit einem internen Konflikt, der seit 2013 andauert und bislang unvorstellbare rund 400 000 Menschenleben gekostet hat. Drei Viertel der Einwohner Südsudans sind heute von humanitärer Hilfe abhängig, obwohl das Land über Ölquellen verfügt, deren Erlöse allerdings überwiegend als Transitgebühren im Südsudan verbleiben oder bei chinesischen Produzenten. Rund 2,2 Millionen Menschen sind in Nachbarländer geflohen, etwa 1,5 Millionen haben als Binnenvertriebene ihre Heimat verlassen müssen. Wenn wir – und damit meine ich insbesondere meine Fraktion – davon sprechen, Fluchtursachen in den Blick zu nehmen, um Massenmigration zu verhindern, dann ist der Südsudan ein Ort, wo unser Engagement Sinn macht. ({0}) Der Abschluss eines Friedensabkommens im Jahr 2015 sowie die Bildung einer neuen Einheitsregierung im Jahr 2020 sind Hoffnungszeichen in einer insgesamt äußerst schwierigen Situation. Es ist unser spezifisches deutsches Interesse, einen Beitrag dazu zu leisten, der Bevölkerung eine Zukunft im eigenen Land zu bieten, um die Migration nach Europa und Deutschland zu verhindern. ({1}) Daher ist die UN-Mission im Südsudan bis auf Weiteres ein wesentlicher Faktor für die Stabilisierung und Befriedung des Südsudans. Auch wenn nur wenige unserer Soldaten dort im Einsatz sind und auch besonderen Risiken ausgesetzt sind, ist auf ihre Sicherheit besonderes Augenmerk zu richten. Daher ist die Bundesregierung aufgefordert, insbesondere das Funktionieren der Rettungskette zu jeder Zeit sicherzustellen. Niemand möchte am Ende der Welt sterben, nur weil ein Arzt oder Rettungssanitäter nicht rechtzeitig zur Stelle war. Aber ebenso wichtig wie die Versorgung im Einsatz ist die Nachsorge, und das wird hier bei Auslandseinsätzen regelmäßig komplett ausgeblendet. Seit Jahren steigen die Zahlen der einsatzbedingten psychischen Erkrankungen; das betrifft alle Auslandseinsätze. Dass es bis heute keine umfassende Strategie zur Behandlung und Versorgung von einsatzbedingten psychischen Erkrankungen bei Soldaten gibt, ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, die regelmäßig Verantwortung heuchelt. ({2}) Meine Damen und Herren, grundsätzlich sehen wir als AfD-Fraktion den Nutzen der UN-Mission im Südsudan und werden der Mandatsverlängerung für die Beteiligung der Bundeswehr zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch mal zurück auf die Rede von Clara Bünger zu TOP 13. Ich darf im Namen von Vizepräsidentin Magwas die Abgeordnete bitten, über ihren Sprachgebrauch noch einmal nachzudenken, und rüge in ihrem Namen eine Ausformulierung als unparlamentarisch. Wir fahren fort in der Debatte. Es erhält das Wort der Abgeordnete Jens Beeck für die FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in den Mandatstext schaut und sich die vier Säulen ansieht, um die es geht – Schutz der Zivilbevölkerung, Flankierung des Friedensprozesses, aber auch Monitoring, also Aufnahme von schweren und schwersten Menschenrechtsverstößen, die im Südsudan die Regel sind, und das Schaffen überhaupt erst der Voraussetzungen für humanitäre Hilfe, auf die 8,5 Millionen der 12 Millionen Menschen im Südsudan angewiesen sind –, dann weiß man, weshalb es in diesem Haus guter Brauch ist, unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz für ihre aufopferungsvolle Tätigkeit zu danken. Ich will das zu Beginn meiner Rede tun. ({0}) Wenn wir uns die Rahmenbedingungen anschauen – eine Bevölkerung, die im Grunde seit den späten 80er-Jahren nichts anderes als Gewaltexzesse, wenig sichere Räume, sexualisierte Gewalt und Hungersnöte kennt; in der jüngsten Zeit haben leider auch noch Klima- und Umweltkatastrophen zu weiteren Binnenvertreibungen geführt, von über 850 000 Menschen –, dann ergibt sich das Bild eines Landes im Elend, sodass man sich geradezu abwenden möchte. Das genau aber tun wir nicht; wir stellen uns dieser Verantwortung. Und wir stellen uns, Herr Kollege Springer, dieser Verantwortung nicht, weil wir Angst vor Flüchtlingsströmen haben, sondern weil das unserem tiefen Verständnis von einer werteorientierten Politik in einer internationalen Staatengemeinschaft und unserer Verantwortung im Multilateralismus entspricht. ({1}) Wir tun das aber auch, weil sich über den Südsudan auch eine andere Geschichte erzählen lässt; denn wenn Sie alle diese Rahmenbedingungen, die auch die Vorredner angesprochen haben, in den Blick nehmen, dann ist es doch erstaunlich, dass es gelungen ist, trotz all dieser schwierigen Bedingungen nach einer sechsjährigen Phase einer autonomen Region – 2005 bis 2011 – zu einer Staatengründung zu kommen, dass es gelungen ist, die in der Anfangszeit noch starke Zersiedelung und die Gewaltexzesse zu überwinden und 2018 zu einem Friedensvertrag zu kommen, der natürlich nicht umfassend, aber doch weitgehend hält, dass es gelungen ist, in einem Land mit einer jahrzehntelangen Politik des Gegeneinander und der Gewaltexzesse zu einer gemeinsamen Regierung der wesentlichen Parteien zu kommen, und dass es gelingt, nach einem Zeitraum von möglicherweise nur zwölf Jahren – wenn wir das Ziel 2023 erreichen – zu freien Wahlen in diesem Land und einer neuen Verfassung zu kommen. Das ist eine schöne Vision eines Landes, das im Übrigen sehr wohl in der Lage wäre – das ist angesprochen worden –, in der Staatengemeinschaft eigenständig zu agieren. Nicht nur Erdöl, auch Gold, Diamanten und seltene Metalle, Wolfram, finden sich in diesem Land. Wenn es gelänge, eine Staatlichkeit herzustellen und Korruption zu bekämpfen, dann gäbe es gute Möglichkeiten, dem Südsudan eine Perspektive zu geben. Das zu tun, ist auch deswegen angemessen, weil der Südsudan bei all der Binnenmigration, bei all den eigenen Flüchtlingen schon heute auch Flüchtlinge aus anderen Ländern aufnimmt. Einen solchen Prozess zu begleiten, damit mit freien Wahlen und einer Verfassung eine der größten Staatskrisen überwunden wird – das ist die Vision, und diesen Prozess der Verfassungsreform begleitet und forciert Deutschland –, ist eine der Aufgaben, die man sich als Außenpolitiker, als Entwicklungspolitiker, als politisch denkender Mensch besonders gerne auf die Fahne schreibt. Man möchte an dieser Stelle helfen. Wir tun das mit dieser Mission, mit – das ist angesprochen worden – maximal 50 Soldaten im Rahmen von UNMISS. Wir tun das aber auch durch die Begleitung des Verfassungskonvents. Wir tun das durch die Unterstützung des Friedensprozesses, mit über 16 Millionen Euro in den vergangenen Jahren. Und wir haben für das Haushaltsjahr 2022 bereits 23 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Wir sind sicherlich in der Lage, mehr zu tun, wenn die Lage vor Ort den Einsatz zulässt. Kurzum: Insgesamt ist das eine Mission, die sich lohnt, der wir uns verpflichtet fühlen. Deswegen stimmen wir sehr gerne zu. Wir bedanken uns bei den Soldatinnen und Soldaten und ausdrücklich auch bei den zivilen Einheiten der Hilfsorganisationen vor Ort. Vielen Dank, Frau Präsidentin. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Für die Fraktion Die Linke erhält das Wort nun Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von den 12 Millionen Menschen im Südsudan sind 8 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen, als Folge eines jahrzehntelangen blutigen Bürgerkriegs. Erst kämpfte die südsudanesische Unabhängigkeitsbewegung gegen die damalige Zentralregierung im Sudan. Nach der Unabhängigkeit 2011 kämpften verschiedene Fraktionen dieser Bewegung untereinander. Verschärft werden die Kriegsfolgen durch Naturkatastrophen wie Dürre und Überschwemmung. Die Menschen im Südsudan brauchen also dringend unsere Hilfe. Aber welche? Politische Unterstützung bei der Umsetzung des erneuerten Konfliktlösungsabkommens und bei der Vorbereitung von freien Wahlen ist ebenso wichtig wie humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. ({0}) Aber Militär ist das falsche Instrument dafür. ({1}) Das UN-Mandat UNMISS sieht den Einsatz militärischer Gewalt vor, und zwar nicht nur zur Selbstverteidigung, sondern auch zur Durchsetzung der Mandatsziele. In Wirklichkeit ist es so, dass die Blauhelme immer wieder von einzelnen Konfliktparteien an Patrouillen gehindert werden; 27‑mal kam das allein von September bis November letzten Jahres vor. Aber sollten die UN-Soldaten ihre Mission mit Waffengewalt durchsetzen, wie es das Mandat ihnen erlaubt? Das wäre doch brandgefährlich, und es würde zudem die wichtige politische Vermittlerrolle, die die UN hat, beschädigen. Deswegen sagen wir als Linke Nein zu diesem Militäreinsatz. ({2}) Aber wir sind ja eine konstruktive Opposition. Deshalb möchte ich schon noch zwei Sachen herausarbeiten, die größeres Augenmerk verdienen. Das eine ist die Bekämpfung der Kleptokratie, also der Ausbeutung des Landes durch kleine Herrschercliquen, das andere ist die Kontrolle der Waffeneinfuhr. Statt Soldaten in den Südsudan zu schicken, sollten wir alle verfügbaren Mittel für die zivile Bearbeitung der Konflikte und für die Verbesserung der humanitären Situation einsetzen und damit den Menschen wieder Hoffnung geben. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält für die SPD-Fraktion der Abgeordnete Jürgen Coße das Wort. ({0})

Jürgen Coße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004639, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 2011 ist die Mission UNMISS im Einsatz im Südsüdan, und eine Verlängerung des Einsatzes wird nun angestrebt. Die Mission umfasst den Schutz der Zivilbevölkerung, die Sicherung von humanitärer Hilfe und den Einsatz zur Achtung von Menschenrechten. UNMISS unterstützt den Friedensprozess und die Umsetzung des Friedensabkommens. Deutschland hat aktuell elf Spezialistinnen und Spezialisten entsandt. Die deutsche Beteiligung beläuft sich auf maximal 50 Soldatinnen und Soldaten. Der Auftrag wird unverändert fortgeschrieben. Deutsche Streitkräfte beteiligen sich an UNMISS auf der Grundlage der UN-Resolution 1996 aus dem Jahr 2011 sowie der entsprechenden Folgeresolutionen. Die Einsätze basieren also auf dem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit nach Artikel 24 Absatz 2 unseres Grundgesetzes. Auch ich möchte mich an dieser Stelle bei den Männern und Frauen, die im Rahmen von UNMISS dienen und gedient haben, herzlich bedanken. Sie leisten eine verantwortungsvolle Arbeit in einer herausfordernden Region. Ich glaube, das ist im Sinne aller Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Wieso sind Streitkräfte im elften Jahr in Folge im Südsudan? Dazu möchte ich drei Punkte ansprechen: Erstens. Der deutsche Einsatz vor Ort wird hoch geschätzt. Deutsche militärische Führungskräfte unterstützen bei wichtigen Koordinationen, Beratungen und Beobachtungen. Deutsches Personal kann so maßgeblich zur Ausbildung vor Ort beitragen. Zweitens. Der Friedensprozess ist weiterhin stockend und gefährdet. Die internationale Gemeinschaft muss sich solidarisch mit der Bevölkerung zeigen und den wichtigen Weg zum Frieden im Südsudan im Rahmen aller ihrer Möglichkeiten unterstützen. Dazu gehört beispielsweise die Einbeziehung der Zivilgesellschaft beim Aufbau weiterer demokratischer Prozesse. Drittens. Die humanitäre Lage im Südsudan ist katastrophal. Durch die anhaltende Coronapandemie hat sich die Lage nochmals drastisch verschlechtert. Die Grundversorgung ist nicht gewährleistet. Gut zwei Drittel der 12 Millionen Einwohner Südsudans sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, 4 Millionen sind vertrieben, und die Hälfte davon ist ins Ausland geflüchtet. Die stärker werdende Auswirkung des Klimawandels zeigt sich auch im Südsudan. Ein Beispiel ist die schlimme Sturzflut im Dezember 2021. Sie gefährdete viele Menschenleben. Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt ist nicht die Zeit, sich von den Menschen im Südsudan abzuwenden, im Gegenteil. ({1}) Die Entwicklung der Lage im Land ist auch entscheidend für die gesamte Region. Das Horn von Afrika ist momentan einer der größten Konfliktherde – darüber reden wir leider viel zu wenig –: In den Nachbarstaaten drohen politische Instabilitäten, humanitäre Krisen, die über Grenzen hinweg um sich greifen können. Auch das müssen wir beachten. Umso wichtiger ist es, dass beim Einsatz deutscher Kräfte und Gelder ganzheitliche strategische Ideen umgesetzt werden. Der vernetzte Ansatz ist seit Jahren Richtlinie deutscher Außenpolitik. Mit großer Freude darf ich nach vier Jahren außerhalb des Bundestages nun miterleben, dass mit dieser Legislaturperiode und mit dieser Koalition die Häuser Verteidigung, Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie Außen konstruktiv, vorausschauend und vor allem gemeinsam arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ein Grund für diese Entwicklung könnte aber auch sein, dass wir drei Ministerinnen an der Spitze dieser Häuser haben. Auch kommen wir bereits jetzt unserer Selbstverpflichtung aus dem Koalitionsvertrag nach, jeden Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten sorgfältig zu prüfen. Die persönlichen und engagierten Diskussionsbeiträge meiner Kolleginnen und Kollegen zu den Einsätzen zeigen, dass der Einsatz deutscher Kräfte wohlüberlegt ist und immer abgewogen wird. Sehr geehrte Damen und Herren, abschließend würde ich mich freuen, wenn wir nach unseren Beratungen den Antrag der Bundesregierung unterstützen können. Danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Herr Kollege Coße. – Als letzter Redner in dieser Debatte erhält das Wort der Kollege Markus Koob für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Beim letzten Redner in einer Debatte kommt selten noch etwas Neues. Deshalb fange ich auch mit dem an, was uns in diesem Haus geeint hat in dieser Debatte, nämlich die ernsthafte Sorge um die Menschenrechte vor Ort, um die Hungersituation der Menschen vor Ort, um die Extremwettersituationen, die die Menschen im Südsudan seit Jahren erleiden. Es ist unser aller Aufgabe, sich für diese Menschen einzusetzen. ({0}) Ich schließe mich deshalb auch ausdrücklich dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort an, schließe aber auch alle zivilen Vertreter der NGOs ein, vor allem auch der NGOs – sie sind in der heutigen Debatte tatsächlich noch gar nicht erwähnt worden –, die sich um ein Relikt kümmern, das den Menschen dort vor Ort die tägliche Arbeit erschwert, nämlich das Beseitigen von Minen, von Munitionsrückständen. Ich glaube, wir sollten uns hier im Deutschen Bundestag noch einmal verstärkt anschauen, wie wir mit diesem Thema speziell in den nächsten Jahren umgehen können. ({1}) So traditionell der Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten und die NGOs – aus gutem Grund – ist, so traditionell ist meine Verwunderung über die Haltung der Linken. Sie hatten eigentlich einen guten Einstieg, was die Beschreibung der Situation vor Ort angeht. Aber als konstruktive Opposition müssen Sie mir, einem anderen Oppositionspolitiker, wirklich einmal erklären, wie man in einem – laut VN-Lagebericht – der gefährlichsten Länder der Erde komplett ohne militärischen Beistand humanitäre Hilfe leisten soll. Das ist ja eine Diskussion, die wir hier bei allen Auslandseinsätzen führen, ob das Mali ist, ob das Südsudan ist. Ich glaube, das funktioniert nicht. Aber vielleicht können Sie mir ja erklären, wie das funktionieren soll.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen; aber Sie haben mich ja auch direkt angesprochen. Ich war Ende 2010, kurz vor dem Referendum, im Südsudan. Damals war schon absehbar, wie die Entwicklung weitergehen könnte. Wir haben da mit vielen Akteuren gesprochen. Und wir haben auch Aktivistinnen und Aktivisten getroffen, die uns ganz klar gesagt haben: Hier sind die Konfliktlagen. Wenn man uns stärker unterstützen würde, zivil zu handeln, dann könnten wir sehr, sehr viel machen. – Wir haben Aktivisten der Nonviolent Peaceforce getroffen, die tatsächlich in der Situation, als die UNMISS-Truppen abgezogen wurden 2013 und in den Weihnachtsurlaub gingen, weil es zu brenzlig wurde, ihren Weihnachtsurlaub abgebrochen haben und in die Dörfer wieder reingegangen sind. Viele wichtige Hilfsorganisationen sagen uns immer wieder: Wir können da am besten arbeiten, wo das Militär am weitesten weg ist. – Das sollten Sie und das sollten auch alle anderen Fraktionen hier im Haus endlich einmal zur Kenntnis nehmen. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Erklärung; aber ich muss Ihnen sagen: Die reicht mir nicht. Vielleicht reden wir einfach mit unterschiedlichen Entwicklungshelfern. Die, mit denen ich rede, sagen mir – ob das Mali ist oder Südsudan –: Ohne militärische Präsenz können wir unsere Arbeit nicht machen. – Keiner von uns hier in diesem Haus ist der Meinung, dass wir nur einen militärischen Ansatz brauchen; keiner ist der Meinung, dass das Primat sein sollte. Aber dass wir in diesen Regionen komplett ohne militärische Mittel auskommen sollen, diese Meinung haben Sie in diesem Haus wirklich exklusiv für sich alleine. ({0}) Ich fasse als letzter Redner dieser Debatte, wie gesagt, die wesentlichen Herausforderungen zusammen – erwähnt worden sind sie alle –: Die humanitäre Lage im Südsudan ist dramatisch. Unsere Überzeugung ist es, dass wir genau aus diesem Grund nicht wegschauen dürfen, nicht sagen dürfen: „Jetzt ist der Zeitpunkt, Militär abzuziehen“, sondern dass wir uns dazu bekennen müssen, dass dieser Einsatz – der ja auch von den Soldatinnen und Soldaten vor Ort als äußerst sinnvoll erachtet wird – fortgesetzt wird, dass wir unserer Verantwortung auch gerecht werden. Als Außenpolitiker dürfen wir auch diesen Teil der Erde, der im Moment nicht im Fokus ist – weil andere Regionen stärker im Fokus sind –, nicht aus den Augen verlieren, sondern müssen uns weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, auch diesen Konflikt, der tatsächlich einer der prekärsten unserer Erde ist, zu lösen. Außerdem – das ist auch schon gesagt worden – gibt es vor Ort nach wie vor viele Probleme. Es geht hier nicht darum, sich die rosarote Brille aufzusetzen oder etwas schönzureden. Ja, die Gewalt im Südsudan ist nach wie vor extrem; wir haben es mit sexualisierter Gewalt, wir haben es mit Waffengewalt, wir haben es mit immer wieder aufflammender Gewalt zu tun. Auch dort – das ist meine Überzeugung – machen UN-Blauhelme den Unterschied. Militärische Präsenz vor Ort trägt dafür Sorge, dass diese Gewalt wenigstens eingedämmt werden kann. Auch deshalb sprechen wir uns weiterhin für eine Beteiligung an diesem Einsatz aus. Die Arbeit des UNHCR – auch das ist meine Überzeugung – ist ohne eine militärische Schutzkomponente bei diesem Einsatz ebenfalls undenkbar; das ist ein weiteres Argument dafür, diese Mission mit unserer Unterstützung fortzusetzen. Deshalb – das war ja heute eine seltene Einmütigkeit in diesem Haus, von den Linken einmal abgesehen – spricht alles dafür, diesen Einsatz entsprechend zu verlängern und fortzusetzen. Das war ja heute erst die Einbringung. Aber ich darf für meine Fraktion schon ankündigen, dass wir dem Antrag der Bundesregierung für diesen Einsatz zustimmen werden. Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung. Vielen Dank. ({1})

Annalena Baerbock (Minister:in)

Politiker ID: 11004245

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit im südlichen Mittelmeerraum hat für Deutschland und für Europa eine herausragende Bedeutung. Die Region leidet an Gewalt und Konflikten, was ganze Staaten destabilisieren kann. Das haben wir in den vergangenen Jahren gerade in Libyen gesehen, wo aktuell die politischen Lager wieder gefährlich auseinanderdriften. Das ist fatal für die Menschen vor Ort in der Region. Solche Instabilität schafft Rückzugsräume für Terroristen und Kriminelle unmittelbar an der Südgrenze der Europäischen Union und der NATO, in einer Meeresregion, über die ein Drittel des globalen Warenhandels und ein Viertel aller weltweiten Öltransporte fließen. Deshalb handeln wir gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Verbündeten, um in dieser Region für Stabilität und Frieden zu sorgen. ({0}) Ein Baustein unseres Engagements ist dabei die Operation Sea Guardian der NATO. Die Schiffe und Flugzeuge der Operation erstellen Lagebilder und überwachen den Seeraum. Darüber hinaus hat die Operation die besondere Befugnis, verdächtigte Schiffe anzuhalten und zu kontrollieren. Sea Guardian hat damit eine starke, vor allen Dingen präventive Wirkung gegen Waffenschmuggler, gegen kriminelle Netzwerke und gegen Terroristen. Diese Wirkung haben ich wie auch meine Fraktion in der Vergangenheit immer unterstützt. Sicherlich wird – ähnlich wie beim Irak-Mandat – gleich wieder der Einwand kommen: Aber Sie haben damals mit Nein gestimmt. ({1}) Das stimmt. Das hat meine Fraktion und das habe auch ich persönlich getan, nicht aber, weil wir die Ziele dieses Einsatzes nicht geteilt haben, ({2}) – und ja, ich finde es wichtig, auch so etwas genau zu erklären, und zwar sehr transparent –, ({3}) sondern: Unsere wichtige Verantwortung als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ist, dass wir Bundeswehreinsätze grundsätzlich mit Blick auf die Ziele, mit Blick auf den Sinn und Zweck dieser Mandate, aber eben auch mit Blick auf die Rechtsgrundlagen und vor allen Dingen in der Verantwortung, dass Mandate immer klar, präzise und vor allen Dingen eng gefasst sein müssen, mandatieren. In diesem Sinne evaluieren wir. ({4}) Bei dieser neuen Bundesregierung ist neu: In diesem Sinne evaluieren wir alle Mandate, ganz unabhängig davon, wie die Regierungsfraktionen früher abgestimmt haben. Das haben wir beim Irak-Mandat getan, und das machen wir jetzt auch beim Sea-Guardian-Mandat. Das ist Ausdruck von außen- und sicherheitspolitischer Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) In diesem Sinne hat diese Bundesregierung das Mandat überarbeitet. Erstens. Das neue Mandat ist jetzt in seinem Einsatzgebiet klar begrenzt. Es umfasst nur noch das Mittelmeer ohne die Küstenmeere. Das ist wichtig. Denn es bedeutet, dass einem Einsatz in Küstenmeeren von Staaten, die nicht NATO-Mitglied sind, zukünftig nicht nur der Nordatlantikrat und der jeweilige Staat zustimmen müssen, sondern auch der Deutsche Bundestag. Das ist eine wirkliche Veränderung dieses Mandates. ({6}) Zweitens. Wir haben das Mandat nun präzisiert, und zwar mit Blick auf den Kapazitätsaufbau von Anrainerstaaten, den sie vorher mit in diesem Mandat hatten. Das haben wir jetzt aus diesem Mandat gestrichen, weil es vollkommen offen ließ, was das eigentlich bedeutet und was auf dieser Grundlage getan wird. Deswegen ist dieses Mandat an dieser Stelle jetzt präzise gefasst. Drittens. Wir haben es an die Einsatzrealität angepasst. Das heißt, die Mandatsobergrenze haben wir auf 550 Soldatinnen und Soldaten abgesenkt, denen ich auch an dieser Stelle herzlich danken möchte. ({7}) Wie gesagt, damit endet unsere Aufgabe nicht, sondern wir werden diese Mandate immer wieder evaluieren. Auch das ist außen- und sicherheitspolitische Verantwortung. Wenn sich die Lage sich vor Ort verändert, wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen, dann müssen wir auch selbstkritisch sagen: Wir müssen Änderungen an unserem Mandat vornehmen. Darüber hinaus – und da bin ich dem Kollegen Koob von der Union dankbar, weil er das bei der vorangegangenen Debatte über den Südsudan deutlich gemacht hat – kann es eine militärische Antwort allein niemals geben, sondern Sicherheit ist immer komplex, und deswegen müssen unsere Antworten auch komplex und politisch umfassend sein. Das betrifft ganz besonders die Region Nordafrika und den Nahen Osten. Aus diesem Grund arbeiten wir an diplomatischen Lösungen für die Konflikte in der Region. Im politischen Prozess in Libyen bleiben wir als deutsche Bundesregierung – das möchte ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen – engagiert; denn es gab ja in den vergangenen zwei Jahren positive Entwicklungen. Jetzt ist es unsere Verantwortung, dass diese positiven Entwicklungen nicht zurückgedreht werden. ({8}) Wir müssen verhindern – auch das gehört zu einer verantwortungsvollen Außen-, aber auch zu einer verantwortungsvollen Sicherheitspolitik –, dass Konflikte überhaupt entstehen bzw. dass sie weiter eskalieren. In diesem Sinne – ja, auch das ist neu – haben wir gerade in der Klimaaußenpolitik eine besondere Verantwortung; denn die Klimaaußenpolitik ist auch Sicherheitspolitik. Der Kampf um Wasser wird eine der zentralen Gefahren in der Region in den nächsten Jahrzehnten sein. In diesem Sinne stärken wir die Arbeit der Zivilgesellschaft und die Arbeit derjenigen Regierungen, die sich dieser globalen Menschheitsherausforderung stellen. Ein Beispiel dafür sind unsere Ta’ziz-Partnerschaften, mit denen wir in Tunesien und im Libanon Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern. Wir treten entschieden für Menschenrechte und die Rechte von Frauen ein. Auch das möchte ich hier einmal sehr explizit in die rechte Richtung des Plenums sagen. Wir hatten heute ja interessante Debatten zum Internationalen Frauentag in diesem Raum. Frauenrechte sind Menschenrechte und ein Gradmesser für den Zustand von Demokratien und vielleicht auch von politischen Parteien. ({9}) In diesem Sinne habe ich nicht nur heute im Bundestag, sondern auch bei meinem Besuch in Ägypten deutlich gemacht, wie wichtig die Einhaltung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und eben auch Frauenrechten für Kooperation zwischen Staaten ist. ({10}) In diesem Sinne werden wir uns weiterhin verlässlich im Mittelmeer engagieren: als Bündnispartner im Rahmen von Sea Guardian, im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit zur Stärkung von Frieden und Stabilität für die Menschen in der Region. Ich bitte um die Unterstützung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({11})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Bundesministerin Baerbock. – Als nächster Redner folgt der Abgeordnete Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mittelmeer ist seit Jahrtausenden der Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Kulturen und Völker in der Region, und es gibt dort schon seit jeher die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Strukturen und Kulturen. Wir wissen, dass es am Mittelmeer bis heute sehr starke, sehr prosperierende Staaten gibt, aber eben auch Staaten, die fragil sind, die schwierig sind und die von Terrorismus und Schmuggel bedroht sind und sich dessen nicht selbst erwehren können oder nicht selbst erwehren wollen: Syrien, der Libanon auf der Ostseite des Mittelmeers und im Süden des Mittelmeers zum Beispiel Libyen. Wir wissen aus der Beobachtung der letzten Jahre, dass wir als NATO den internationalen Terrorismus zwar in vielen Teilen der Welt erfolgreich bekämpft haben, aber dass die heutigen IS-Kräfte, denen wir im Norden des Irak, teilweise auch in Syrien und auch in Afghanistan, wo es al-Qaida war, die Basis entzogen haben, nun einen Unterschlupf in Afrika suchen. Deswegen ist das Mittelmeer durchaus ein zentraler Ort, über den Terroristen, Waffen und Unterstützung für Terroristen bewegt werden, und deswegen ist es total wichtig, dass wir als NATO dieses Mandat Sea Guardian weiter aufrechterhalten. Lagebilderstellung, Verhinderung von Schmuggel und Verhinderung von Terrorismus, das sind ganz wichtige Aufgaben, auch wenn sie nicht jeden Tag im Brennpunkt stehen. Wir als Union haben diese Mission stets unterstützt. Wir wissen heute zum Beispiel, dass die Fregatte „Bayern“ dort unterwegs ist. Wir wissen auch, dass immer mal wieder zwei oder gar drei deutsche Schiffe in diesen Verband hineingemeldet werden. Es war immer ein wichtiger Beitrag für das entsprechende Lagebild. Was mich jetzt an dem neu vorgelegten Mandatstext der Bundesregierung wundert, ist zunächst einmal die Absenkung der Obergrenze um 100 Soldaten. Wir waren uns immer darüber im Klaren, dass die Obergrenze großzügig bemessen ist. Aber warum soll sie nicht so bleiben? Drei deutsche Schiffe, da kann man durchaus auch mal die Grenze von 550 Soldaten übersteigen. Deswegen mache ich daran ein Fragezeichen, würde aber die grundsätzliche Zustimmung meiner Fraktion zu dem Mandat jetzt nicht gefährden. Zweitens. Was mich mehr beunruhigt, ist die Herausnahme der Küstengewässer. Wir wissen, dass Schmuggel und Terrorismus nur wirksam bekämpft werden können, wenn diejenigen, die das betreiben, nicht immer sich sozusagen im Schutz der Küste zurückziehen können. Sie haben gesagt: Für den Fall, dass das passiert, muss der Deutsche Bundestag im Zweifel einen solchen Einsatz genehmigen. – Ich stelle mir das jetzt mal ganz munter vor, dass der Fregattenkapitän als Kommandant einer deutschen Fregatte an der Zwölfmeilenzone eines Landes haltmacht, stoppt, in Potsdam beim Einsatzführungskommando anruft und sagt: Ihr müsst jetzt mal schnell den Bundestag zusammenrufen; denn gerade eben ist dort ein Schiff mit mutmaßlichem Sprengstoff unterwegs. Ich darf es nicht verfolgen, weil es der Mandatstext ausschließt. ({0}) Das zeigt für mich, dass das vielleicht ein Zugeständnis an diejenigen in Ihrer Koalition ist, die bei NATO-Einsätzen skeptisch sind, dass das aber praktisch schwer umsetzbar ist. Sie erinnern sich vielleicht: Wir haben beim Atalanta-Mandat – da ging es um Bekämpfung von Piraterie – zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich das Mandat ausgeweitet, nicht nur auf die Küste, sondern sogar auf den Küstenstreifen, weil wir gesehen haben, dass diejenigen, die dort ihr Unwesen treiben, genau wissen, wo sozusagen die Grenze liegt, und dass es deswegen sehr gut ist, wenn man gerade die Küstengewässer mit einbezieht. ({1}) Ich habe im Übrigen auch keine völkerrechtlichen Bedenken, weil ich glaube, dass sowohl die NATO-Beschlusslage als auch die UN-Beschlusslage dazu eindeutig ist. Ich glaube auch nicht, dass wir Probleme damit hätten, wenn wir dies so fortführen würden, wie es bisher geschehen ist. Ich habe die Befürchtung, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren neue Herausforderungen in Bezug auf Terrorismus in der Region erleben werden und dass wir vielleicht auch als NATO und EU – die ja auch mit einem eigenen Mandat dort unterwegs ist – entsprechend mehr gefordert sind. Deswegen würde ich mir wünschen, dass das Mandat tatsächlich wieder die alte, ursprüngliche Form bekommt. Dafür werden wir uns in den Ausschussberatungen einsetzen. Dann werden wir ja in der zweiten Lesung sehen, ob das Mandat tatsächlich von der Bundesregierung noch mal angepasst wird oder ob Sie bei dieser Linie bleiben, die wir für zu kurz gesprungen halten. Herzlichen Dank. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Als nächster Redner in dieser Debatte erhält das Wort der Kollege Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Mittelmeer verbindet drei Kontinente miteinander. Es ist daher von zentraler Bedeutung für Frieden, Sicherheit und Stabilität. Es ist eine Verkehrsader für globalen Handel, eine Kommunikationsverbindung und ein Raum für Wissensaustausch. Umso entscheidender ist es, dass wir auf geopolitische Spannungen in der Region schnell und entschlossen reagieren. Organisierte Kriminalität wie Waffenschmuggel oder Menschenhandel, aber auch Terrorismus stellen nicht nur für uns, sondern insbesondere auch für die Anrainerstaaten eine ernsthafte Bedrohung dar. Krisenherde wie im Norden von Afrika oder in Westafrika können Auswirkungen auch auf Europa haben. Es ist davon auszugehen, dass die im Dezember gescheiterten Wahlen in Libyen erneut Unruhe nach sich ziehen werden. Ohne ein verantwortungsvolles Agieren im Mittelmeerraum wird Libyen abermals zu einem Rückzugsort von Terroristen. Die Stabilität Nordafrikas und des gesamten Mittelmeerraums muss in unseren ureigenen Interessen liegen. Denn ein gescheiterter Staat in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU wäre auch für Europa eine direkte Bedrohung. Mit der Fortsetzung der deutschen Beteiligung an Sea Guardian leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit in der Region. Wir schützen Menschen vor Ort vor kriminellen Netzwerken, wir sorgen für Sicherheit auch in Deutschland, und wir unterstützen unsere Verbündeten und Partner. ({0}) Ich finde, dass es auch eine Frage unserer Glaubwürdigkeit ist, der Welt zu zeigen, dass wir ein verlässlicher Partner sind und weiterhin Verantwortung übernehmen. Also: Keine Abschottung, sondern kluges und vorausschauendes Handeln muss das Gebot der Stunde sein. ({1}) Wir können mit großer Gewissheit sagen, dass die Beteiligung der Bundeswehr an Sea Guardian eine wichtige Arbeit im Mittelmeer darstellt. Dafür unseren herzlichen Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten! ({2}) Welchen Auftrag hat Sea Guardian? Sea Guardian, das auf der einschlägigen UN-Resolution basiert, kann im Kampf gegen Terrorismus und Waffenschmuggel Schiffe anhalten und durchsuchen, Befragungen durchführen und Schiffe umleiten, Lagebilder erstellen und Informationen mit anderen Staaten austauschen. Die Präsenz von Sea Guardian dient darüber hinaus der Abschreckung vor kriminellen Handlungen, und selbstverständlich sind alle Schiffe zur Seenotrettung befähigt. An dieser Stelle sei noch einmal gesagt: Die Rettung von Menschen in Seenot ist nicht nur ein geltendes Seerecht, sondern auch die solidarische Verpflichtung eines jeden Menschen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aus meiner Sicht richtig, dass Sea Guardian mit folgenden Anpassungen um ein weiteres Jahr verlängert wird: Die Operation wird regelmäßig evaluiert – das hat die Ministerin schon gesagt –; das Einsatzgebiet beschränkt sich auf den Mittelmeerraum außerhalb der Küstengebiete; die Obergrenze der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten wird um 100 abgesenkt. Sea Guardian ist der einzige multilaterale Einsatz im Mittelmeer. Die Operation kann krisenhafte Entwicklungen und Terrorismus frühzeitig erkennen und ist ein präventiver Ordnungsfaktor. Mit Sea Guardian leisten wir mit unseren NATO-Partnern einen entscheidenden Beitrag zur maritimen Sicherheit. Deshalb bitte ich um Unterstützung für diesen Antrag. Danke schön. ({4})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Dr. Diaby, natürlich ist es unser aller Pflicht, Menschen, die in Seenot geraten, zu retten; aber wir würden sie eben nach Libyen zurückbringen und Sie sie nach Deutschland. Das ist der große Unterschied. ({0}) Der eine oder andere mag sich an die unmittelbaren Folgen von Nine Eleven erinnern, an das Wort des Kanzlers Gerhard Schröder von der „uneingeschränkten Solidarität“ und an den Beginn des Kampfes gegen den Terror. Der Beitrag der NATO war damals die Operation Active Endeavour mit einem robusten Mandat für das Mittelmeer. Diese Operation wurde 2016 dann durch die Nachfolgeoperation ersetzt, die sich Sea Guardian nannte und immer noch nennt. Sie war ebenfalls ausgestattet – und ist es immer noch – mit einem robusten Mandat für den Kampf gegen den Terrorismus und gegen Waffenschmuggel. Gegenüber dem aktuellen Mandat, das noch gilt, beinhaltet der vorliegende Antrag nun einige Änderungen: Die Obergrenze wurde von 650 Soldaten auf 550 Soldaten reduziert, der Kapazitätsaufbau in den Anrainerstaaten ist nicht mehr enthalten, und die Küstenmeere gehören auch nicht mehr zum Einsatzgebiet. Soso, das ist also die Kosmetik, die die Grünen benötigen, um nun als Regierungspartei dem Antrag zustimmen zu können, den sie bisher regelmäßig abgelehnt haben, ({1}) übrigens – und Sie sagten es ja schon – auch Sie, Frau Außenministerin. Der heutige grüne Staatsminister Lindner bezeichnete das Mandat vor etwa zwölf Monaten noch abfällig als „Pappkamerad“, weil es eine Auftragserfüllung gegen Terroristen und Waffenschmuggler vortäusche, die nicht der Realität entspreche. Ich zitiere: Wer es mit parlamentarischer Kontrolle ernst meint, kann ein solches Mandat nicht beschließen. Recht hat er. ({2}) Die wesentliche Leistung von Sea Guardian war und ist – wir haben es schon gehört – die Erstellung eines Lagebildes im Mittelmeer; aber dafür braucht es dieses Mandat nicht. Wir haben genug Marineverbände im Transit, die das übernehmen könnten. Einsätze gegen Terroristen – das war ja das ursprüngliche Ziel – konnten in all den Jahren nicht verzeichnet werden, und ein substanzieller Beitrag zur Bekämpfung des Waffenschmuggels kann auch nicht nachgewiesen werden. Mit dieser Operation wird nur Steuergeld verbrannt, Steuergeld, das anderswo für gute und moderne Ausrüstung bei der Bundeswehr fehlt. Dieses Mandat hat keinen Nutzen, es hat keinen Wert. Ein Parlament, das dieses Mandat mitträgt, blendet die Wirklichkeit aus und will sich offenbar selbst täuschen. Als jemand, der zwölf Jahre bei der Marine gedient hat, kann ich Ihnen sagen: Es ist genau diese Ignoranz und Selbsttäuschung, die Ihnen keinen Respekt bei der Bundeswehr verschafft, sondern vielmehr Ihrem Ansehen als Parlamentarier schadet, und das ist schade. ({3}) Frau Außenministerin, die AfD-Fraktion folgt Ihrer Empfehlung aus dem letzten Jahr und wird die Mandatsverlängerung für die Operation Sea Guardian ablehnen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächster Redner erhält für die FDP-Fraktion der Kollege Christian Sauter das Wort. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland beteiligt sich mit der Bundeswehr seit 2016 an der NATO-geführten maritimen Sicherheitsoperation Sea Guardian im Mittelmeer. Schon in der Vorgängermission hat Deutschland einen wichtigen Beitrag geleistet. Wir diskutieren heute die Fortsetzung der NATO-Mission, und ich werbe schon an dieser Stelle für Zustimmung zu diesem Mandat. Deutschland leistet in der Operation einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung der Allianz an der Südflanke in Europa. Ziel des Mandates ist, ein Lagebild zu erstellen und an der Bekämpfung von Terrorismus und Waffenschmuggel zu wirken. Ein möglichst konkretes Lagebild zu erhalten, ist ein wichtiger Baustein. 2021 wurden über 30 000 Schiffe im Rahmen der Operation identifiziert. Dazu konnten Schiffe im Mandatsgebiet angehalten und kontrolliert werden. In 2021 war dies zwar nur dreimal der Fall; aber die präventiv abschreckende Wirkung der bloßen Präsenz internationaler Einheiten ist bei der Bewertung des Einsatzes zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang muss auch die Wichtigkeit der Sicherung von Handelsrouten im Mittelmeerraum betont werden, die für Deutschland als führende Export- und Handelsnation ein wichtiges Interesse darstellt. Deutschland ist und bleibt ein Stabilitäts- und Ordnungsfaktor in der Mittelmeerregion; auch das ist eine wichtige Botschaft. ({0}) Derzeit ist, so meine Kenntnis, die Fregatte „Lübeck“ in das Einsatzgebiet gemeldet. Zuvor leistete die „Bayern“, die morgen aller Voraussicht nach zurückerwartet wird, auf ihrer erfolgreichen Präsenz- und Ausbildungsfahrt im Indopazifik ihren Beitrag zu Sea Guardian. In der Regel werden sich im Transit durch das Mandatsgebiet befindliche Einheiten oder in der NATO-Überwachungsmission der Ägäis eingesetzte Schiffe in Sea Guardian eingemeldet. Der Mittelmeerraum ist für die NATO von Bedeutung. Die instabile Lage im Nahen Osten, in Nordafrika, der Sahelzone bietet Nährboden für Terroristen und Extremisten, die eine empfindliche Bedrohung für das Sicherheitsgefüge darstellen. Deutschland agiert hier stets multilateral, und das, Kolleginnen und Kollegen, hat sich bewährt. Wir stehen fest an der Seite unserer Bündnispartner, der NATO. Die Operation Sea Guardian unterstreicht das. Das aktuell vorliegende Mandat hat die Bundesregierung angepasst und gestrafft und hierdurch eine Präzisierung erreicht. Die Reduzierung der Mandatsobergrenze von 650 auf 550 stellt eine Anpassung an die tatsächlich benötigten Kräfte dar. Das Mandatsgebiet selbst wurde konkretisiert und die Ziele des Mandates gestrafft. Neben der Anpassung ist auch die Zusage, Einsätze einer regelmäßigen Evaluierung zu unterziehen, ein notwendiger Ansatz, den wir als FDP-Fraktion wiederholt auch von dieser Stelle eingefordert haben, wohlwissend, dass die Marine als Teilstreitkraft durch die Einsätze stark belastet wird. An dieser Stelle muss es unser Anliegen sein, den Soldaten für ihren Einsatz zu danken. ({1}) Mit der Mandatsverlängerung verdeutlichen wir unseren Beitrag zu den Bündnisverpflichtungen als verlässlicher Partner. Das ist gerade in der aktuellen Situation einmal mehr ein gutes Signal. Vielen Dank. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin in dieser Debatte erhält das Wort Zaklin Nastic für Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeswehreinsatz Sea Guardian richtet sich laut Bundesregierung gegen den Terrorismus zur See und Waffenschmuggel. Aber weder Sea Guardian noch seine Vorgängermission Active Endeavour haben jemals im Mittelmeer terroristische Aktivitäten noch Waffenschmuggel aufgedeckt. Meine Damen und Herren, das ist pure Augenwischerei. ({0}) Frau Baerbock, wenn Sie hier von Transparenz sprechen, dann geben Sie doch auch offen zu, dass sich diese Mission unter anderem gegen Geflüchtete im Mittelmeer richtet. ({1}) Diese Abschottungspolitik lehnen wir Linken ab. ({2}) Was ist denn bei den Grünen passiert, seit sie noch vor einem Jahr diese Mission völlig zu Recht abgelehnt haben, so wie damals den Einsatz im Irak? ({3}) Sie regieren jetzt mit. Damit gehen für die Grünen anscheinend sprichwörtlich Menschenrechte und das Recht auf Asyl im Mittelmeer über Bord. ({4}) Meine Damen und Herren, geben Sie es zu: Hier geht es auch um handfeste geopolitische Machtinteressen. Die Bundesregierung definiert das selbst als – Zitat – Präsenz zeigen, als präventiven Ordnungsfaktor. Die NATO beansprucht hier also für sich, als globaler Ordnungsfaktor im Mittelmeer zu agieren. Diese Ausweitung und Sicherung von imperialen geopolitischen Machtinteressen lehnen wir Linken ab. ({5}) Für uns ist ganz klar: Wer durch NATO-Kriege, eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, durch Klimazerstörung und Waffenexporte Menschen zur Flucht zwingt, dem geht es weder um Terrorbekämpfung noch um Waffenschmuggel oder Menschenrechte. Sie verursachen Flucht selbst. ({6}) Wir Linken sagen ganz klar: Wir lehnen diesen Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer ab. Fluchtursachen gehören bekämpft, und nicht Geflüchtete. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält das Wort in dieser Debatte Dr. Joe Weingarten für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Joe Weingarten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist keine neue Erkenntnis; aber wir tun gut daran, es uns stets aufs Neue vor Augen zu führen: Frieden muss immer wieder gesichert werden, er bedarf des Dialoges, aber auch der Absicherung. Wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, stehen zu diesen beiden Pfeilern: ständiger Dialog und entschlossene Absicherung. ({0}) Das gilt insbesondere in einer so kritischen Region wie dem Mittelmeer, dort, wo massive soziale, ethnische und wirtschaftliche Konflikte aufeinandertreffen, wo Groß- und Regionalmachtinteressen deutlich werden. Ein Grundpfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik der letzten Jahrzehnte ist, dass es für Europa keinen dauerhaften Frieden und keine Sicherheit geben kann, wenn es im Mittelmeer keinen Frieden und keine Sicherheit gibt. Dieser Gedanke, Frau Kollegin Nastic, ist ganz weit weg von imperialen Gedanken; dabei geht es um den Schutz von Menschen. ({1}) Auch deshalb betrauen wir seit rund zwei Jahrzehnten die Bundeswehr mit der Sicherung von Frieden und offenen Wegen im Mittelmeer und unterstützen seit 2016 Sea Guardian. Dazu stehen wir auch weiterhin und wollen dort, befristet bis zum 31. März 2023, weiter Verantwortung übernehmen. „Verantwortung übernehmen“ bedeutet praktisch, dass wir zu einem klaren Lagebild im Mittelmeer beitragen, dass wir ermitteln, wer sich wo bewegt, und das auch im Einzelfall durch unsere Schiffe und Seefernaufklärer kontrollieren. Das ist keine kleine Aufgabe. Allein im Jahr 2021 haben sich mehr als 30 000 Schiffe in diesem Raum bewegt. „Verantwortung übernehmen“ bedeutet auch, dass wir auf die Einhaltung des Internationalen Seerechts achten und damit Terrorismus, Menschen- und Waffenhandel konsequent unterbinden. „Verantwortung“ bedeutet schließlich auch – da gibt es keine Einschränkung, wer wohin geht –, dass unsere Schiffe Menschen in Seenot helfen. Auch dazu stehen wir mit einem klaren Bekenntnis. Es ist mit den Werten und mit dem Menschenbild Europas in keiner Weise zu vereinbaren, dass wir Menschen sterben lassen, die in Europa Zuflucht suchen. ({2}) Zu alldem brauchen wir unsere Soldatinnen und Soldaten, wie aktuell die Besatzung der Fregatte „Lübeck“, um im Auftrag des Deutschen Bundestages für diese Ziele und Werte einzustehen; denn ohne den Einsatz der deutschen Marine im Mittelmeer wären alle Forderungen nach Sicherheit an der Südgrenze Europas nur Lippenbekenntnisse. Deshalb gilt unser erster Dank den Soldatinnen und Soldaten, die hier zur Sicherheit unseres Kontinents beitragen. ({3}) Wir sehen, unter welch widrigen Umständen sie gerade in der Coronapandemie ihre Arbeit verrichten. Kaum Landgang, keine Möglichkeit, ihre Familien zu sehen, Feiertage in fremden Häfen, das alles stellt an jeden Einzelnen und jede Einzelne hohe Herausforderungen. Aber die Soldatinnen und Soldaten, auch in den Führungsstäben in Deutschland und bei der NATO, sollen wissen: Wir sehen Ihren Einsatz, und wir würdigen ihn! ({4}) Für uns als sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist aber auch klar: Eine Einsatzverlängerung darf keine Routine sein. Deshalb hinterfragen wir stetig den Sinn und den Umfang unseres internationalen Engagements. Wir wollen Sea Guardian deshalb nicht einfach verlängern, sondern konzentrieren uns auf den notwendigen Kern durch eine Reduzierung der Einsatzkräfteobergrenze und den Verzicht auf Ausbildungsmissionen von Anrainerstaaten und eine Beschränkung auf das Mittelmeer außerhalb der Küstengewässer. Das ist, Herr Kollege Hardt, auch durchaus sinnvoll; denn wir fassen in diesen Dingen keine Vorratsbeschlüsse im Deutschen Bundestag, die möglichst weite Ziele umfassen, sondern wir wollen präzise die Aufgaben beschreiben. Das erhöht auch das Vertrauen der Menschen und der Soldatinnen und Soldaten in dieses Parlament. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sea Guardian ist kein Selbstzweck, sondern Teil der Politik der Bundesregierung zur wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Stabilisierung des Mittelmeerraums. Deshalb bitte ich Sie, dem Überweisungsvorschlag zuzustimmen und Sea Guardian in den Ausschüssen besonnen zu diskutieren. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Röwekamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005193, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Debatte lässt mich ratlos, nachdenklich und auch ein bisschen sauer zurück. ({0}) Warum „ratlos“? Ich habe weder in dieser Debatte noch in der vorherigen Debatte die Position der Fraktion Die Linke so richtig verstanden; denn Sie vermitteln hier den Eindruck, als ob es irgendein Mandat der Bundeswehr geben könnte, dem Sie als Linksfraktion zustimmen würden. ({1}) Das Gegenteil ist doch der Fall, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wer sich das Programm und die Beschlüsse der Linken anschaut, der sieht: Sie wollen die Auflösung der NATO. Sie wollen die Reduzierung der Bundeswehr. Sie wollen, dass alle Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten aus internationalen Einsätzen abgezogen werden. Wer so etwas will, kann keinem Mandat zustimmen; das gebe ich zu. Aber dann erwecken Sie doch hier nicht den Eindruck, als ob es irgendeine Mission der Bundeswehr im Rahmen der NATO geben würde, der Sie Ihre Zustimmung geben würden. Das Gegenteil ist der Fall: Sie wollen diese Einsätze nicht, egal wo, egal aus welchem Grund und egal aus welcher Motivation. Ich finde, es gehört zur Klarheit dazu, das auch hier im Deutschen Bundestag zu sagen, meine Damen und Herren. ({2}) Empört bin ich ein bisschen über das Verhalten der AfD; das will ich an dieser Stelle auch einmal in aller Deutlichkeit sagen. Denn es stellt sich natürlich die Frage: Welche Voraussetzungen muss ein Mandat eigentlich erfüllen, dem Sie Ihre Zustimmung geben können? ({3}) – Genau. – Ich wäre schon froh, wenn Ihre Positionen durchdacht wären. ({4}) Aber wenn Sie sie einmal durchdenken würden, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der AfD-Fraktion, dann müsste man Ihnen sagen: Werfen Sie einmal einen Blick in Ihr eigenes Programm! Da steht doch ausdrücklich drin: Sie wollen, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten nur an Einsätzen beteiligt werden, die auf den Hoheitsgebieten der NATO-Mitgliedstaaten stattfinden. Das heißt, wenn Sie das wirklich wollten, dann müssten Sie auch sagen: Es darf überhaupt keinen einzigen Bundeswehreinsatz im Rahmen der NATO geben; denn es findet auf dem Gebiet der NATO-Mitgliedstaaten keine einzige militärische Auseinandersetzung statt. Mit dieser Begründung versuchen Sie nur zu verschleiern, dass Sie in Wahrheit unaufrichtige Anwälte der Soldatinnen und Soldaten sind. Sie versuchen, den Eindruck zu vermitteln, dass Sie an ihrer Seite stehen, aber verweigern die Antwort darauf, was für einen Einsatz Sie von der Bundeswehr und den Soldatinnen und Soldaten eigentlich verlangen. Wenn es der Einsatz sein sollte, den Sie beschreiben, dann hätte die Bundeswehr überhaupt kein Mandat für eine Aufgabenwahrnehmung, weder in Deutschland noch in der NATO noch auf der Welt, und das finde ich, ehrlich gesagt, unaufrichtig, meine Damen und Herren. ({5}) Ich sage das auch deswegen, weil die Soldatinnen und Soldaten es nicht verdient haben, von Ihnen als vermeintlicher Anwalt betreut zu werden. Wenn Sie in Ihrem Programm schreiben, die Bundeswehr soll wieder einen starken Korpsgeist leben, Tradition, ({6}) Militärgeschichte, ({7}) es soll wieder militärisches Liedgut und Brauchtum innerhalb der Bundeswehr geben, ({8}) dann sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Der Auftrag der Bundeswehr ist zumindest aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion, aber, ich denke, auch aus Sicht des ganzen übrigen Hauses, mit dieser eingeschränkten Wahrnehmung gerade nicht beschrieben. ({9}) Wir erwarten von unseren Soldatinnen und Soldaten, dass sie sich für den Frieden und die Freiheit einsetzen, die andere für uns seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet haben. Wir erwarten von ihnen, dass sie in solchen internationalen Missionen ihren Beitrag dazu leisten, dass weltweit Menschenrechte und Frieden gewahrt werden und für ein anständiges Leben auf der ganzen Welt gesorgt wird. Das wird eben nicht nur in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verteidigt, sondern auf der ganzen Welt, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Abgeordneter, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.

Thomas Röwekamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005193, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. ({0}) Sehr geehrte Frau Außenministerin, nur einen Satz kurz zu Ihnen. Sie haben jetzt gesagt, Sie hätten den Einsatz – –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Nein, Herr Abgeordneter, bitte jetzt einen letzten Satz.

Thomas Röwekamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005193, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Sie sagen, Sie hätten den Einsatz evaluiert. Die Wahrheit ist doch, Frau Außenministerin: Alles, was Sie evaluiert haben, ist Ihre eigene Meinung. Herzlichen Dank. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten zwei Jahren gab es hier viele Debatten. Da standen besondere Menschen im Mittelpunkt, nämlich Ärzte, Arzthelfer, Krankenpfleger, Betreuer von Behinderten, Intensivpfleger, Altenpfleger, Rettungssanitäter und viele andere mehr. Sie standen zu Recht im Fokus der Debatte hier, weil sie in den letzten zwei Jahren Dinge geleistet haben, die sie regelmäßig an ihre Grenzen gebracht haben, und dafür gebührt ihnen Respekt. ({0}) Nun aber droht vielen davon der Jobverlust. Warum ist das so? Weil Sie hier vor mir, die große Mehrheit des Deutschen Bundestages, im Dezember eine einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen haben. Was heißt das? Bis zum 15. März müssen Beschäftigte im Gesundheitssektor einen gültigen Impfschutz nachweisen. Andernfalls droht ihnen ein Beschäftigungsverbot, Lohnausfall und sogar die Kündigung. Wir reden hier nicht von 10 000 oder 20 000 Betroffenen. 5,1 Millionen Beschäftigte arbeiten im Gesundheitssektor und im Sozialwesen. Wenn wir annehmen – das sind die Zahlen, auf die wir uns stützen können –, dass 10 Prozent nicht geimpft sind – vermutlich sind es eher mehr –, reden wir von 500 000 Beschäftigten, die hier von einer Kündigung betroffen sind. Meine Damen und Herren, Sie beklatschen hier zwei Jahre lang diese Menschen und drohen ihnen dann am Ende, nur weil sie nicht geimpft sind, ihnen ihre Existenz wegzunehmen. Das ist nicht nur heuchlerisch, das ist niederträchtig. ({1}) Aber es gibt immer noch jemanden bei Ihnen, der noch einen draufsetzen kann. Ich nehme nur einmal den Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Er droht, dass diejenigen, die dann ihren Job verlieren, auch noch eine Sperre beim Arbeitslosengeld bekommen. ({2}) Hier geht es um die soziale Existenz von Menschen. Ich glaube, dass das von Ihnen hier einfach vergessen wird. ({3}) Ich sage Ihnen noch etwas: Angst, Druck, Zwang, Berufsverbote – das, was wir hier in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben –, das sind keine Mittel demokratischer Regierung; das sind Mittel autoritärer Herrschaft, und diese autoritäre Herrschaft werden wir hier in diesem Land immer bekämpfen, jedenfalls von dieser Seite aus. ({4}) Das Gesetz wird massive Auswirkungen auf den Gesundheitssektor haben. Die Caritas, der größte Bundesverband in diesem Bereich, hat nicht nur mich angeschrieben, sondern auch Sie. Sie sagt in ihrem Schreiben: Die Sicherstellung der Versorgung im Gesundheits- und Sozialwesen ist erheblich gefährdet. – Die Volkssolidarität schreibt in einem Schreiben, das Sie auch bekommen haben: Es gibt massive Einschränkungen der Versorgungssicherheit. Es wird Personalverlust geben, nicht nur bei den Ungeimpften, sondern auch bei den Geimpften. – Denn wenn die Ungeimpften nicht mehr arbeiten können, dann werden die Arbeitsbedingungen für die Geimpften noch schlechter, die Arbeitsbelastung noch höher. Es werden noch mehr Menschen diese Berufe verlassen. Sie werden abwandern in andere Berufe oder sogar ins Ausland. Anfang der Woche schrieben 450 Feuerwehrleute der Berliner Feuerwehr an die Senatsverwaltung. Ich zitiere: Die Impfpflicht wird in Berlin „ab dem 16. März 2022 zu einer dramatischen und nicht beherrschbaren Sicherheitslage führen“. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Politik. Diese Leute denken sich das nicht aus. Sie haben Angst. Sie haben Angst, dass sie den Beruf nicht mehr ausüben können, der ihnen wichtig ist. ({5}) Was uns droht, wenn dieses Gesetz greift, ist der Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Das, was das Coronavirus nicht geschafft hat, das schaffen Sie mit einem einzigen Gesetz, und dafür sollten Sie sich schämen. ({6}) Ich habe das Thema auch im Ausschuss aufgesetzt und gefragt: Wie soll denn der Fachkräftemangel behoben werden? Da ist die Antwort allen Ernstes: Wir werden eine Änderung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in Betracht ziehen. – Das ist doch nicht Ihr Ernst. Sie verdrängen hier Leute aus dem Job und importieren dann Fachkräfte aus dem Ausland? Das ist doch keine seriöse Politik. Das ist verräterische Politik, meine Damen und Herren. ({7}) Da die vier Minuten zu kurz sind, komme ich direkt zum Schluss. ({8}) Wir müssen uns ehrlich machen. Dieses Gesetz darf nicht kommen. Wir können uns die Auswirkungen dieses Gesetzes nicht erlauben. Deutschland braucht keine Impfpflicht. Deutschland braucht keine Lockdowns und keine Kontaktbeschränkungen. ({9}) Deutschland braucht seine Grundrechte zurück. Vor allem braucht Deutschland eines, und das ist Freiheit. ({10}) Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält die Kollegin Heike Engelhardt für die SPD-Fraktion. Es ist ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Heike Engelhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger, ganz besonders aus meinem Wahlkreis Ravensburg und aus dem Bodenseekreis! Was hier gerade eben vorgetragen und vorgerechnet wurde, muss ich doch entschieden in den Bereich der Fabel verweisen. Bevor ich zu diesem Antrag komme, eine kleine Anmerkung zu meinem Vorredner und seiner Fraktion, die mir in meiner ersten Rede hoffentlich gestattet ist. Wie kann es sein, dass Sie sich als Rechtsstaatspartei sehen und dabei den Rechtsstaat so mit Füßen treten? ({0}) Andauernd tauchen Ihre Fraktionsmitglieder auf dubiosen, nicht angemeldeten, verbotenen Demonstrationen auf. ({1}) Sie marschieren dort bewusst auch mit Rechtsextremen auf, ({2}) teilen deren Positionen und machen unseren Polizistinnen und Polizisten das Leben schwer. ({3}) Wie kann es sein, dass Sie es nicht schaffen, die einfachsten Regeln für eine gelungene Zusammenarbeit einzuhalten? Sie führen sich auf wie Kleinkinder, wenn es darum geht, eine Maske zu tragen. ({4}) Obwohl: Nein, selbst kleine Kinder erkennen den Nutzen der Maske. ({5}) Sie tragen sie mit Stolz, weil sie erkannt haben, dass sie damit ihre Freundinnen und Freunde ({6}) oder auch ihre Großeltern schützen. Sie hingegen haben es noch nicht einmal geschafft, sich richtig testen zu lassen, um an der Bundesversammlung teilzunehmen. ({7}) Sie gefährden wissentlich und willentlich die Arbeitsfähigkeit dieses Hauses. ({8}) Jetzt aber zum Antrag. Die Blaubraunen von rechts außen würden am liebsten die beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht abschaffen. ({9}) Das ist an sich keine Neuigkeit und auch nicht weiter beachtenswert. Es setzt die Tradition fort, dass alles, was schlecht für die Gesellschaft ist, gut für die AfD ist. Sie da drüben und auf dem Virenbalkon da oben, Sie nehmen ohne Rücksicht viele Tote und Langzeitkranke in Kauf. Sie nähren sich wie eh und je von Krankheit, Missgunst und Neid. ({10}) Dass dabei in diesem Antrag auch noch mehrfach ein rechtspopulistisches Onlinemagazin zitiert wird, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. ({11}) Wenn ich hier sagen würde, was ich von Ihnen allen und Ihren Anträgen halte, würde ich mir in meiner ersten Rede im Bundestag direkt meine erste Rüge einfangen. ({12}) Was ich aber ganz klar sage: Wir von der SPD-Fraktion stehen zu dieser einrichtungsbezogenen Impfpflicht. ({13}) Ausbrüche in Krankenhäusern und Pflegeheimen haben gezeigt, wie drastisch die Auswirkungen einer ungeimpften oder nicht genügend geimpften Belegschaft sind. Ich sage aber auch, dass ich damit noch nicht ganz glücklich bin; denn diejenigen, die seit zwei Jahren unter teilweise schwierigsten Umständen den Laden am Laufen gehalten haben, diejenigen, die sich um die besonders Schutzbedürftigen gekümmert haben, sie sollen jetzt als einzige Bevölkerungsgruppe unter die Impfpflicht fallen. Da verstehe ich deren Unmut. Genau deshalb ist die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht, die wir aktuell im Parlament führen, so unglaublich wichtig. ({14}) Genau deshalb setze ich mich dafür ein, dass alle Menschen ab dem 18. Lebensjahr geimpft werden müssen. ({15}) Genau das müssen wir schnellstmöglich beschließen; denn das würde dafür sorgen, dass wir nicht noch einmal Weihnachten unter Pandemiebedingungen feiern müssen. Das würde auch diese Ungerechtigkeit zwischen dem Personal in den Gesundheitseinrichtungen und der übrigen Bevölkerung beseitigen. Wir haben es in dieser Woche nicht geschafft, die Anträge im Plenum zu behandeln, die für die Debatte notwendig sind. Ich würde mir wünschen, dass das nicht bis zur nächsten regulären Sitzungswoche aufgeschoben wird. Lassen Sie uns deshalb beherzt vorangehen! Einstweilen ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht die zweitbeste Lösung, aber sie ist die richtige, und sie ist unabdingbar. Ich bin überzeugt, dass auch die Länder diesen ersten Schritt mitgehen werden, und zwar verantwortungsvoll mitgehen werden. Nun freue ich mich auf die produktive und hoffentlich auch erfolgreiche Zusammenarbeit mit allen Abgeordneten der demokratischen Parteien, besonders im Gesundheitsausschuss. Vielen Dank. ({16})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort für die CDU/CSU Diana Stöcker. ({0})

Diana Stöcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005233, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen habe ich mit vielen Klinik- und Einrichtungsleitungen in meinem Wahlkreis gesprochen. Unisono wurde mir gesagt: Wir stehen hinter der sektoralen Impfpflicht und haben mit viel Engagement unsere Mitarbeitenden überzeugt, sich impfen zu lassen. Aber es gibt nach wie vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen können oder wollen. Was machen wir nun mit diesen hochgeschätzten Leistungsträgern? Müssen wir sie kündigen? Wo sollen wir am Arbeitsmarkt Ersatz bekommen? Wir können auf keine und keinen verzichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampelkoalition, im Dezember letzten Jahres, also vor über zwei Monaten, hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur sektoralen Impfpflicht beschlossen. In Anbetracht der damaligen Sachlage war es richtig, diese Entscheidung zu treffen. Aber Betreiber von Einrichtungen und auch unsere Unionsfraktion sind davon ausgegangen, dass im Vorfeld des Gesetzes die Umsetzung bereits mitgedacht wird und nach Beschluss zügig und ordentlich an Durchführungsbestimmungen und Handreichungen gearbeitet wird, ({0}) damit die Betreiber von Einrichtungen wissen, was zu tun ist, wenn Arbeitskräfte keinen Impfnachweis vorlegen, damit sie wissen, welche arbeits- und sozialrechtlichen Folgen auf sie zukommen, und damit sie nicht nur einen Fragen- und Antwortenkatalog auf einer Webseite suchen müssen. All diese Fragen wurden bis heute nicht geklärt. Sie sind Zeugnis einer überforderten Bundesregierung, die mit dem Versprechen angetreten ist, alles besser zu machen, und schon jetzt einsehen muss, dass sie dieses Versprechen nicht einhalten kann. ({1}) Was sind die Folgen? Die Beschäftigten, die während Corona an ihre Grenzen gekommen sind und für die wir geklatscht haben, sind total verunsichert, wie es mit ihnen weitergeht. Pflegekräfte, die einen anderen Beruf erlernt haben, gehen in diesen Beruf zurück. Andere weichen auf Berufszweige aus, die nicht der Impfpflicht unterliegen. In meinem Wahlkreis spielt auch die Nähe zum Schweizer Arbeitsmarkt, der eine hohe Sogwirkung hat, eine große Rolle. Mitarbeiter, die sich bisher ganz bewusst für deutsche Arbeitsverhältnisse entschieden haben, gehen in die Schweiz. All diese Menschen werden unserem Gesundheitssystem fehlen, nicht nur kurzfristig. Einmal umorientiert, wird es schwierig sein, sie wieder zurückzugewinnen. ({2}) Ja, wir haben einen eklatanten Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich, und es bedarf eines dringenden Sofortprogramms mit intelligenten Maßnahmen, um wieder mehr Menschen für diese Berufe zu gewinnen – unabhängig von Corona und unabhängig von der sektoralen Impfpflicht. Denn die Beschäftigten im Gesundheitsbereich haben bereits jetzt ein außerordentliches Maß an Impfbereitschaft an den Tag gelegt. Dafür und für den großen Einsatz in diesen Zeiten gebührt ihnen großer Dank. ({3}) Sie haben ein Recht darauf, zu wissen, was auf sie zukommt, wenn sie sich nicht impfen lassen, ebenso wie den Einrichtungsleitungen Handlungsspielräume aufgezeigt werden müssen; dies kann nicht dem Ermessen aller Gesundheitsämter im Land überlassen werden. Da gäbe es einige Möglichkeiten. Es liegt an der Regierung, ihre Hausaufgaben zu machen und zu liefern. Machen Sie sich an die Arbeit! ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort für Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Ziel aller Coronaschutzmaßnahmen war und ist, unsere Bürgerinnen und Bürger zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Mit der im Herbst und Winter grassierenden Omikron-Welle ist uns das weitgehend gelungen. Die schrecklichen Bilder der Überlastung von Pflegepersonal aus den ersten Wellen konnten vermieden werden. Die Infektionszahlen sind nach wie vor hoch, und viele Menschen liegen heute noch auf den Intensivstationen. Das wird auch in den nächsten Wochen so bleiben. Jetzt beginnt aber die Zahl der Neuinfektionen zu sinken. Daher ist es angemessen und geboten, bisher notwendige Einschränkungen von Freiheitsrechten ab dem 20. März wieder zu lockern, wie es Bund und Länder gestern beschlossen haben. Von einem Freiheitstag sind wir allerdings weit entfernt. Es besteht leider kein Anlass zu Sorglosigkeit oder gar Entwarnung. ({0}) Wir sollten aus den vergangenen zwei Jahren wirklich lernen, dass es immer wieder neue Virusvarianten geben kann, die zu Krankheit und Tod führen oder das Gesundheitswesen überlasten können. Der wirksamste Schutz davor war, ist und bleibt das Impfen. ({1}) Ich kann nur davor warnen, dass sich die Fehler von 2020 und 2021 wiederholen: dass man die Pandemie für beendet erklärt und im Herbst mit neuen Varianten in die nächste Katastrophe läuft. Mit Besonnenheit und Augenmaß werden wir mit Corona umgehen können. Auch auf diesem Weg steht vorrangig das Impfen: das Impfen besonders gefährdeter Menschen wie Hochbetagte, Menschen mit akuten oder chronischen Erkrankungen und pflegebedürftige Menschen. Sie, aber auch Menschen mit Behinderungen sind besonders gefährdet, wenn sie in Einrichtungen auf oft engem Raum zusammenleben; dort ist das Risiko besonders groß. Gerade diese Menschen haben das Recht auf den besonderen Schutz durch unsere Gesellschaft. ({2}) Wissenschaftlich belegt ist, dass die Delta-Variante Menschen trotz Impfung zwar infizieren kann, aber das Risiko einer schweren Erkrankung geringer und das Risiko der Übertragung des Virus deutlich reduziert ist. Daher kommt dem Personal in solchen Einrichtungen eine besondere Verantwortung zu. Denn sie stehen im engen und intensiven Kontakt mit den Menschen, die auf ihre Hilfe oder Pflege angewiesen sind, und mit deren Angehörigen, die sich in dieser Pandemie oft alleingelassen gefühlt haben. Ich rede hier bewusst nicht von Pflegepersonal; denn es gibt auch ungeimpfte Chefärzte, es gibt ungeimpftes Betreuungspersonal, und es gibt ungeimpfte Reinigungskräfte. Deshalb ist es richtig, dass das gesamte Personal geimpft sein muss, ({3}) und zwar nicht nur für den eigenen Schutz, sondern vor allem auch für den Schutz der Menschen, die sich ihnen anvertraut haben. Der professionellen Fachpflege kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Wissenschaftsbasierte Fachpflege muss endlich in Wert gesetzt werden, akut in dieser Pandemiebekämpfung und grundsätzlich mit dem Auftrag guter Pflege in einer alternden Gesellschaft. Schauen wir in die Nachbarländer: Überall, wo die Pflege ein wichtiger und anerkannter Akteur im Gesundheitswesen ist, steigen die Pflegekräfte nicht aus, und es gibt eine hohe Impfquote. Dort ist das Impfen selber auch nicht der Grund für den Ausstieg, genauso wenig wie das hier bei uns der Fall ist. Pflegekräfte sind sehr viel schlauer, als Sie uns hier weismachen wollen. ({4}) Wir haben in dieser Regierung beschlossen, den Pflegeberuf attraktiver zu machen, unter anderem mit besserer Bezahlung, mit besseren Arbeitsbedingungen, mit verbindlicher Personalbemessung, mit Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten. ({5}) Aber wir werden auch die Fachpflege aufwerten und um heilkundliche Tätigkeiten ergänzen sowie neue Berufsbilder in der Versorgung schaffen wie die Gemeindepflege mit der Community Health Nurse. Das sind die Herausforderungen, die wir haben. Wir brauchen Pflegefachkräfte, die Menschen in jedem Alter dabei unterstützen, soziale Teilhabe zu realisieren und gute medizinische und pflegerische Leistungen zu erhalten, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie in einer Einrichtung leben oder zu Hause. Das ist die Aufgabe hochprofessioneller wissenschaftsbasierter Pflege, und dafür setzen wir uns ein. Deswegen fordere ich Sie alle auf, gemeinsam dazu beizutragen, dass wir die Menschen in diesen Einrichtungen schützen. Das können wir am besten, indem wir für gute Impfquoten sorgen und uns endlich auf den Weg machen, die gute Pflege für alle und für die nächsten Jahrzehnte zu organisieren. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt erteile ich dem Kollegen von der Linken das Wort, der Ates Gürpinar heißt. Ich habe aber seit letztem Mal vergessen, wie er den Namen denn nun ausspricht. – Bitte schön. ({0})

Ates Gürpinar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005073, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich meine das wirklich ernst: Sie können den Namen besser aussprechen als ich. Tatsächlich war das richtig, und ich kann es nicht so gut. Sehr geehrte Damen und Herren! Letzte Woche hatte ich im Vorfeld der Präsidentenwahl die Ehre, ein Gespräch mit dem Intensivpfleger Ricardo Lange zu führen. Er war für uns bei der Bundesversammlung dabei. Die meisten kennen Ricardo Lange, weil er es insbesondere seit dem Beginn der Pandemie regelmäßig schafft, die prekäre Situation der Pflegekräfte in die Öffentlichkeit zu bringen. ({0}) Wie Verdi hat auch er die einrichtungsbezogene Impfpflicht kritisiert. Denn für was müssen Pflegekräfte eigentlich noch alles herhalten? Knapp zwei Jahre sind sie der Krankheit ausgesetzt wie niemand anderes. Als zu wenige Masken da waren, mussten sie in ständiger Gefahr der Ansteckung Menschenleben retten. Das berühmte und beinahe verspottende Klatschen blieb übrig. Weil die Regierung nun mit den aufsuchenden Impfkampagnen versagte, sollten sie beim viel zu schnell aufgesetzten Gesetz zur Impfpflicht als Probandinnen und Probanden herhalten und hatten plötzlich den Stempel der Pandemietreiber, ausgerechnet die müsse man nun zwingen. Das ist doch absurd! ({1}) Die Linke verlangte im Dezember, dass mit der Verpflichtung wenigstens eine Prämie verbunden wird. Das wäre ein Zeichen gewesen; das wäre mal was. ({2}) Aber selbst dieser Antrag wurde von den Koalitionsparteien abgelehnt, und bis heute haben Sie die Umsetzung des Versprechens einer Prämie nicht auf die Reihe bekommen. Sie versprechen weiter, wie wir gerade gehört haben. ({3}) Sie bekommen in zwei Monaten keine Prämie hin, aber ziehen in einer Woche die Impfpflicht für die Beschäftigten durch? Das ist doch wirklich absurd, liebe Koalition; das ist doch falsch. ({4}) Aber schlimmer gehtʼs immer. Der Pflegemangel ist insbesondere denen hier rechts jahrelang völlig egal. Und nun mussten die Pflegekräfte letzte Woche zuerst für Söders Aufmerksamkeitsdefizite herhalten, und jetzt sogar für die AfD. Söder, der seine Teams wechselt wie andere ihre Unterhosen, hat nach Team Vorsicht und Team Freiheit nun kurzzeitig das Trikot vom Team Pflege übergestreift. Und jetzt will die AfD da mitfischen. Nie dafür interessiert, aber wenn man ihn für seine Zwecke nutzen kann, dann existiert der Pflegemangel. ({5}) Deswegen, liebe Regierungskoalition: Geben Sie solchen Instrumentalisierungen keine Chance! Wenn Sie schon auf uns nicht hören wollen, hören Sie auf Verdi, hören Sie auf Ricardo, hören Sie auf seine Kolleginnen und Kollegen! Entlasten und entlohnen Sie die Pflegekräfte endlich richtig! Vielen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als Nächstes erhält für die FDP-Fraktion die Kollegin Nicole Westig das Wort. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat den Fachkräftemangel in der Pflege entdeckt und will ihn sogar beheben. Als Patentlösung schlägt sie die Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor. Diese Lösung ist ebenso schlicht wie ambitionslos. ({0}) Denn die Impfung ist der Ausweg aus der Pandemie. Seit über einem Jahr können wir uns glücklich schätzen, Impfstoffe gegen Covid-19 zu haben. Viele Einrichtungsleitungen haben sich direkt auf den Weg gemacht, um aufzuklären, um Beratungsgespräche zu führen und für die Impfung zu werben – mit Erfolg; denn in vielen Bundesländern haben wir gute Impfquoten beim Pflegepersonal. Beschäftigte in Pflege und Medizin bewegen sich auf dem Boden der medizinischen Fakten. Und Fakt ist: Die Impfstoffe sind sicher; sie schützen insbesondere vor einem schweren Verlauf einer Coviderkrankung. ({1}) Hinzu kommt das besondere Berufsethos von Pflegenden. Sie übernehmen grundsätzlich Verantwortung für sich selbst und wollen ihre Patienten schützen. Während der Omikron-Welle haben wir aus gutem Grund die kritische Infrastruktur im Blick. Und ja, auch in Pflegeheimen infizieren sich derzeit Beschäftigte. Auch das kann die Versorgungssicherheit beeinträchtigen. Ja, es trifft auch Geimpfte. Aber diese erkranken in der Regel nicht so schwer wie ihre ungeimpften Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Sie können die Arbeit schneller wieder aufnehmen und haben auch ein weitaus geringeres Risiko für Hospitalisierung oder eine mögliche Long-Covid-Erkrankung. ({3}) Der ohne Frage bestehende Pflegepersonalmangel wird jedenfalls nicht dadurch gelindert, dass wir die einrichtungsbezogene Impfpflicht wieder zurücknehmen. ({4}) Hier braucht es ambitioniertere Maßnahmen, ({5}) solche, wie wir sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben: bessere Arbeitsbedingungen, Personalbemessungsinstrumente, die greifen, und eine wirkliche Offensive für die Pflegeausbildung, zum Beispiel durch die Schaffung von Ausbildungsplätzen auch in Rehakliniken. Dabei dürfen wir nicht übersehen: Die Bekämpfung des Fachkräftemangels in der Pflege ist ein Mammutprojekt. Hier kann auch die Ampel nicht mit einem Federstrich ein Problem lösen, das sich über Jahrzehnte angestaut hat. Eines ist klar: Den Herausforderungen in der Pflege begegnet man nicht, indem man seine eigenen kruden Ideologien bedient, sondern indem man die Komplexität anerkennt und gemeinsam Lösungen sucht. Das unterscheidet uns von Ihnen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Freien Demokraten haben es uns bei der Frage der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nicht leicht gemacht. Uns ist die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen gegenüber den Eingriffen in die persönliche Freiheit wichtig. Wir haben dieser zielgerichteten Maßnahme zugestimmt, eben weil uns der Schutz der alten und kranken Menschen wichtig ist. ({7}) Die Regelung ist befristet und wird selbstverständlich evaluiert werden. ({8}) Wir sind froh, dass sich die Gesundheitsministerkonferenz nun auf ein kluges und abgestuftes Verfahren zur Umsetzung verständigt hat. Dabei geht es auch darum, dass Nichtgeimpfte übergangsweise weiter beschäftigt werden. Das Betretungsverbot ist die Ultima Ratio. Es bleibt dabei: Aufklärung und niedrigschwellige Impfangebote sind die stärksten Instrumente zur Steigerung der Impfquote. Genau diese auszubauen, sollte Priorität haben, damit es zu Betretungsverboten erst gar nicht kommen muss. Vielen Dank. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion Nezahat Baradari. ({0})

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Seit zwei Jahren leben wir in Deutschland, ja lebt die gesamte Weltgemeinschaft in einer Ausnahmesituation. Aus medizinischer Indikation mussten wir teils große Einschränkungen hinnehmen. Seit März 2020 befürchten wir, uns mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken und möglicherweise auch daran zu erkranken. Wir können froh sein, dass wir seit einem Jahr mit den vorhandenen Impfstoffen eine evidenzbasierte Sicherheit gegen schwere Covid-19-Erkrankungen haben. ({0}) – Ja, da darf ruhig geklatscht werden. Bei dem vorliegenden Antrag der AfD geht es darum, dass der § 20a des Infektionsschutzgesetzes gestrichen werden soll, ({1}) mit der Begründung, die Coronapandemie habe mit der Omikron-Welle ihren Scheitelpunkt erreicht, und eine einrichtungsbezogene Impfpflicht sei somit hinfällig. Sie würde sogar zu weiterer Personalflucht führen, so die Behauptung der AfD. In Deutschland arbeiten 1,7 Millionen Fachkräfte in der Pflege. Die Impfquote bei diesen Beschäftigten liegt erfreulicherweise bei 81 Prozent und bei den Bewohnern der Einrichtungen bei 91 Prozent, ist also besser als im bundesdeutschen Durchschnitt. Die Impfquoten im pflegerischen und medizinischen Bereich sind gut, aber sie reichen bei Weitem nicht aus, um Virusausbrüche bei den sogenannten vulnerablen Gruppen sicher zu verhindern. Die Konsequenz ist der Ausfall von Personal durch Krankheit, Isolation oder bestenfalls Quarantäne. Es gibt ohnehin schon einen Pflegenotstand, bedingt durch ungünstige Arbeitsbedingungen, schlechten Pflegeschlüssel, Unterbezahlung und Fachkräftemangel. Laut dem Antrag würde ein Wegfall der einrichtungsbezogenen Impfpflicht zu einer weiteren Zunahme des Pflegenotstandes führen. Als Ärztin, die auch im Bereich der Pflege gearbeitet hat, sage ich Ihnen eins: Die Beschäftigten in der Pflege und in der Medizin sehen in ihrer Tätigkeit nicht nur einen Beruf, sondern eine Berufung. ({2}) Sie kümmern sich aufopferungsvoll um die ihnen anvertrauten Menschen und tun alles, ja, sie tun alles für deren Schutz. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Ich möchte mich an dieser Stelle stellvertretend zumindest für meine Fraktion und alle anderen demokratischen Fraktionen – auch von Herrn Söder; das meine ich ironisch –, bei allen Beschäftigten in der Pflege, in der Medizin, in den Einrichtungen der Behindertenhilfe und auch bei allen Beschäftigten der kritischen Infrastruktur ganz herzlich für ihr Engagement bedanken; denn sie haben seit Beginn der Pandemie Großartiges für die Menschen geleistet, und daher verdienen sie unseren größten Respekt. ({0}) Seit Jahrzehnten muss medizinisches Personal für die Ausübung entsprechender Tätigkeiten gegen bestimmte Krankheiten wie Hepatitis B oder Masern geimpft sein. Das ist doch grundsätzlich nichts Neues. Übrigens hatten unsere europäischen Nachbarn sogar 2021 schon längst eine Impfpflicht im Gesundheitswesen eingeführt, zum Beispiel Frankreich, Griechenland oder Italien. Als impfende Ärztin kann ich nur jedem raten, sich bis ins letzte Detail über die Coronaimpfung beraten zu lassen und sich impfen zu lassen – zum Eigenschutz, zum Schutz der ihnen anvertrauten Personen und gegenüber ihren Berufskolleginnen und ‑kollegen. Von der AfD werden hier alternative Fakten und parallele Welten geschaffen, um Misstrauen und Angst zu erzeugen; denn das ist der Brandbeschleuniger in dem ohnehin vorhandenen Pflegenotstand. ({1}) Der Eilbeschluss des Bundesverfassungsgerichts – hören Sie gut zu! – hat doch gezeigt, dass gegen eine einrichtungsbezogene Impfpflicht – Zitat – „keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ bestünden. Und wir werden Ihnen auch eines zeigen, nämlich wie man so einen Antrag von Ihnen vollumfänglich ablehnt. Vielen Dank. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Und als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält das Wort Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Pandemie gilt wie im Allgemeinen politisch gesehen: Jede getroffene Maßnahme muss ein bestehendes Problem auch tatsächlich lösen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht, wie sie von dieser Bundesregierung vorgelegt wurde, wirft aber in der Umsetzung mehr Fragen auf, als dass sie Probleme löst. ({0}) Deshalb bin ich auch unserem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder dankbar, dass er diese Debatte noch mal aufgemacht hat. ({1}) – Das Thema ist leider zu ernst, und das wissen Sie genau. ({2}) Er hat die Debatte aufgemacht und das angesprochen, was viele hinter vorgehaltener Hand gesagt haben. Landräte, Gesundheitsminister aller Parteien, Einrichtungsvertreter, pflegende Angehörige – alle haben sich gefragt: Wie sieht es in der rechtlichen Umsetzung aus? Welche Konsequenzen hat es? Verliere ich meinen Beruf? Kann ich Pflege noch gewährleisten? Wie sieht es aus mit der Rechtssicherheit und der Handlungsklarheit? Deshalb ist es wirklich wichtig, dass wir heute darüber reden. Ich bin ihm auch deshalb dankbar, weil wir uns ja als Gesellschaft fest vorgenommen haben, dass wir auf die Pflege zukünftig hören werden, dass wir genau hinhören werden, was Pflege sagt. Da war es schon im letzten Dezember so, dass die Präsidentin des Deutschen Pflegerates gesagt hat, dass sie für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ist. Aber eine allgemeine Impfpflicht muss auf dem Fuße folgen. ({3}) Denn die Bewältigung der Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und keine Einbahnstraße. ({4}) Das hat auch viele neue Kollegen dazu bewogen, dieser einrichtungsbezogenen Impfpflicht zuzustimmen – die Protokollerklärungen liegen vor –, weil eben Kanzler Olaf Scholz gesagt hat: Die allgemeine Impfpflicht wird sofort folgen. – Und Fakt ist: Sie tut es nicht.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Bündnis 90/Die Grünen?

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Zeulner, ich habe Ihre Worte gehört. Sie sagen, ja, Sie stünden zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht; ihr müsse aber eine allgemeine Impfpflicht folgen. Kann ich aus dieser durchaus nachvollziehbaren Kette schließen, dass Sie erstens als Fraktion der Union dann einem Antrag oder den Gruppenanträgen zur allgemeinen Impfpflicht zustimmen werden? ({0}) Zweitens haben Sie gerade auch zu Recht betont, dass mit Ihren Stimmen sowohl im Bundesrat als auch hier im Bundestag die einrichtungsbezogene Impfpflicht ja für alle Fachkräfte, alle Beschäftigten in diesen Einrichtungen beschlossen worden ist. Und schon damals war klar, dass es natürlich Auswirkungen hat, beispielsweise auf ein Arbeitsverhältnis, wenn man das Arbeitsverhältnis gar nicht mehr einlösen kann, wenn man nicht die Sicherheit gewährleisten kann, als Beschäftigter auch tatsächlich eingesetzt zu werden. Also, diese Fragen waren ja bekannt, von Anfang an. Haben Sie diese Implikationen nicht gesehen, als Sie zugestimmt haben? Haben Sie das alles nicht gewusst, als Sie als CSU sogar sehr, sehr prominent die einrichtungsbezogene Impfpflicht gefordert haben? ({1})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin, ich persönlich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht, und ich bin auch gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. ({0}) Was sich hier dargestellt hat, ist, dass das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, einfach handwerklich schlecht gemacht ist. ({1}) – Nein, ich habe dem Gesetz nicht zugestimmt. Es ist nämlich nicht nur in Ihrer Partei so, dass wir natürlich Unterschiede in den Nuancen haben, sondern es ist eine gesamtgesellschaftliche Debatte, und die nimmt auf keine Fraktion, auf keine Partei Rücksicht. ({2}) Aber unabhängig davon ist es so – und das ist das, was ich auch formuliert habe –, dass die Bitte besteht, besser auf die Pflege zu hören. Und ich habe nur wiedergegeben, was die Pflegevertreter gesagt haben. Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates hat eben ganz klar formuliert: Wir stehen für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht; aber eine allgemeine Impfpflicht muss folgen. ({3}) Und das liefern Sie nicht; sonst hätten wir sie ja schon. ({4}) – Nein, es ist nicht ungeheuerlich, liebe Kollegin Baehrens, sondern ungeheuerlich ist, dass Sie wissen, dass Sie keine Mehrheit für eine allgemeine Impfpflicht haben; ({5}) aber anstatt diese vorzulegen und die Anträge wieder einzukassieren, halten Sie hier das Land in Geiselhaft und suggerieren, dass Sie in der Lage wären, eine allgemeine Impfpflicht durchzusetzen. ({6}) Das ist Teil der Wahrheit. 200 Stimmen für die Anträge oder für einen Antrag reichen am Ende des Tages nicht aus; Sie brauchen eine Mehrheit. Das ist das, was wir von den Regierungsfraktionen erwarten: Legen Sie etwas vor, und dann können wir uns damit kritisch auseinandersetzen. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen. ({7}) Ich hätte mir bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht einen vorwärtsgewandten Vorschlag gewünscht. Die Helden der Pandemie – so wird die Pflege bezeichnet –, das sind eben nicht nur die Pflegekräfte, die sich impfen lassen, sondern es sind auch die, die ihren Dienst geleistet haben, als es noch keine Impfung gab.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Erlauben Sie noch eine weitere Zwischenfrage, jetzt aus der FDP-Fraktion?

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Zwischenfrage reicht. ({0}) – Ja, die FDP braucht jetzt gar nicht so rumzustöhnen. Sie haben im Wahlkampf Werbung gegen die Impfpflicht gemacht, ({1}) und jetzt haben Sie komplett alles weggewischt. Das haben wir uns als Union nicht getraut; das haben Sie gemacht. Deswegen also ein bisschen Zurückhaltung, weniger Arroganz. ({2}) Die vorwärtsgewandte Lösung ist der § 23 im Infektionsschutzgesetz, und der besagt, dass in Bezug auf Infektionen, egal ob Corona, MRSA oder weitere Infektionen, natürlich alles getan werden muss, um zu verhindern, dass es zu einem Eintrag in die Einrichtungen kommt. Deshalb gibt der § 23 schon heute eine vorwärtsgewandte Lösung her, nämlich dass Pflegepersonal oder auch weitere Kräfte, die neu eingestellt werden, einen gewissen Impfschutz ja auch jetzt – das wurde angesprochen –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– vorweisen müssen, und da kann natürlich auch die Coronaimpfung mit dazukommen. Fakt ist aber auch: Das, was wir jetzt in der Diskussion haben, ist eine rückwärtsgewandte Debatte; denn wir laufen bei einem Beruf, der ein Mangelberuf ist, Gefahr, dass weitere Betten gesperrt werden müssen. Deshalb bitte ich Sie: Sammeln Sie Ihre Anträge ein, gehen Sie in Klausur, und kommen Sie nach einer Woche wieder, als staatstragende Fraktionen mit einem Vorschlag, –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Danke schön, Frau Kollegin.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– den wir auch besprechen können! Danke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das kommunale Vorkaufsrecht ist faktisch tot. Vier Monate ist es her, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes den Städten ihre schärfste Waffe gegen Spekulation genommen hat. Drei Wochen ist es her, dass wir als Linke hier im Bundestag gefordert haben, dass das Vorkaufsrecht sofort wiederhergestellt werden muss. Drei Wochen ist es auch her, dass SPD und Grüne und auch die Regierung, die Ministerin und die Staatssekretärin, signalisiert haben, ({0}) das Vorkaufsrecht schnellstmöglich wiederherzustellen. Aber bedauerlicherweise liegt bis heute nichts von der Regierung vor. Deswegen bringen wir heute als Linksfraktion einen Gesetzentwurf ein. Die Linke hilft gern, meine Damen und Herren. ({1}) Seit der Entscheidung im November wurden bereits Hunderte Wohnungen an Investoren verkauft. Tausende Mieterinnen und Mieter hängen dort, wo das Vorkaufsrecht noch beklagt wurde, in der Luft. Das Vorkaufsrecht muss deswegen sofort wiederhergestellt werden. Mieterinnen und Mieter und die Kommunen können nicht länger warten. ({2}) Genau deswegen zählt jeder einzelne Tag. Auf zahlreichen Kundgebungen in München und Berlin, in Hamburg und Frankfurt fordern die Betroffenen: Wir brauchen ein neues Vorkaufsrecht jetzt! ({3}) Bisher ist von der Ampel noch nichts vorgelegt worden, und ich finde, das geht wirklich nicht. ({4}) Wenn ich die Aussagen in der Presse ernst nehme, dann interpretiere ich das so, dass vor allen Dingen die FDP auf der Bremse steht. Die verehrte Frau Vorsitzende des Bauausschusses, Frau Weeser, sagte, man solle nichts überstürzen; der Kollege Föst sagt, er hat Zweifel, ob das Geld bei Käufen gemäß Vorkaufsrecht richtig angelegt ist. Aber, lieber Herr Kollege Föst, das können die Kommunen doch auch alleine entscheiden. ({5}) Wir Linke finden: Jeder Euro, der öffentlichen Wohnraum schafft, jeder Euro, der Häuser der Spekulation entzieht, ist gut angelegtes Geld. ({6}) Meine Damen und Herren, wir fordern als Linke übrigens deutlich mehr. Wir wollen, wie Sie vielleicht aus der letzten Legislaturperiode wissen, dass das Vorkaufsrecht im gesamten Stadtgebiet gezogen werden kann. Wir wollen, dass die Kommunen das zu fairen Preisen tun können; denn ansonsten zahlen sie sich ja dumm und dämlich. Und die Vorschläge, die gestern von den Mietervereinen der Großstädte gekommen sind, gehen genau in diese Richtung. ({7}) Aber diese Forderung stellen wir heute zurück. Wir wollen ja, dass dieses Gesetz, dieses dringend notwendige Gesetz, eine Mehrheit findet; denn die sofortige Wiederherstellung des kommunalen Vorkaufsrechts hat oberste Priorität. Deswegen orientieren wir uns an dem schlanken Gesetzesantrag des Landes Berlin, der in den Bundesrat eingebracht wurde. Das heißt, SPD und Grüne müssten an der Stelle auch mitgehen können. Ich freue mich sehr, in der Presse gelesen zu haben, dass auch die CSU in Bayern für die Wiederherstellung des Vorkaufsrechts ist. ({8}) Ich freue mich darüber, und ich schlage deswegen vor, dass wir den Fraktionszwang aufheben, ({9}) um gegebenenfalls auch gegen den Widerstand der FDP eine Mehrheit für diesen Gesetzentwurf zu finden; ({10}) denn die Spekulation mit Häusern, der Ausverkauf der Städte, das Wohnopoly muss beendet werden. Vielen Dank. ({11})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort für die SPD-Fraktion die Kollegin Isabel Cademartori. ({0})

Isabel Cademartori Dujisin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005036, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen in diesem Land leiden nicht nur unter der Pandemie und steigenden Preisen, sondern seit Jahren auch unter steigenden Mieten. Es ist also eine der großen Aufgaben, die vor uns liegt, sicherzustellen, dass jede Bürgerin und jeder Bürger weiterhin in seinem Heimatquartier wohnen kann. Wohnen darf nicht zu einem Luxus- oder einem Spekulationsgut verkommen. Unsere Aufgabe ist es, die Kommunen in ihren Handlungsoptionen zu stärken und zu stützen. Bei einem völlig überhitzten Immobilienmarkt, in dem eben buchstäblich der Markt nicht mehr regelt, ist die Erwartung von Bürgerinnen und Bürgern, dass die Politik für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgt. ({0}) Nicht nur in Berlin oder München haben wir es mit galoppierenden Grundstückspreisen zu tun. Auch in Kommunen wie in meinem Wahlkreis Mannheim stemmen sich die Rathäuser mit enormen Kraftanstrengungen gegen Wohnraumknappheit und tun mit den begrenzten Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, was sie können: mit Bodenfonds, Quoten, Sanierungssatzungen und vielem mehr. Aus meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung weiß ich auch ganz genau: Unsere Städte und Gemeinden brauchen mehr Handlungsspielraum, mehr Instrumente und natürlich auch mehr Mittel. Sie brauchen den Zugriff auf Grund und Boden, und zwar möglichst zum Verkehrswert und nicht zu völlig überhitzten Marktpreisen. ({1}) Für mich ist ganz klar: Perspektivisch braucht es ein allgemeines Vorkaufsrecht der Kommunen für Grundstücke auf dem eigenen Hoheitsgebiet. Nur so haben wir die Möglichkeit, die Wohnraumfrage langfristig in den Griff zu bekommen. Wir müssen den Kommunen die Möglichkeit geben, dafür zu sorgen, dass die Menschen in ihren Quartieren wohnen bleiben können. Die Milieuschutzsatzungen sind dafür ein wichtiger Baustein, welcher dann aber sinnvollerweise gemeinsam mit einem starken Vorkaufsrecht eingesetzt werden sollte. ({2}) Aber auch die Bundesländer sind hier gefragt. Sie müssen die bereits vorhandenen Instrumente auch zeitnah in Rechtsverordnungen umsetzen, ({3}) so wie es der Städtetag unlängst in einem dringlichen Appell an die Länder bekräftigte. ({4}) Neben den üblichen Verdächtigen Bayern und Hessen hat sich auch mein Bundesland, Baden-Württemberg, in dieser Frage bislang nicht mit Ruhm bekleckert. ({5}) Ich meine, ich will ja nicht ungerecht sein: Die grün-schwarze Landesregierung hat ja erst fünf Jahre Wohnraum-Allianz hinter sich und noch sieben Jahre Strategiedialog Wohnen vor sich. Mit einer Rechtsverordnung für ein kommunales Vorkaufsrecht lässt sie sich aber noch Zeit, ebenso wie mit einer Zweckentfremdungssatzung für Mietwohnungen. Genau das wäre aber gerade im Südwesten des Landes so wichtig; denn in Baden-Württemberg liegen 16 der 30 teuersten Kommunen Deutschlands. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus „The Länd“, damit darf man sich nicht abfinden. ({6}) Innerhalb der SPD-Fraktion sind wir uns jedenfalls einig: Wir werden schnellstens einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen. Das Ganze muss aber nicht nur zügig, sondern auch genau umgesetzt werden. Liebe Kollegen von der Linken, vielen Dank, dass Sie dieses Problem wiederholt aufgreifen. Aus unserer Sicht ist aber Ihr Vorschlag zu unbestimmt und damit potenziell auch streitanfällig, weshalb wir – das wird Sie nicht wundern – einen eigenen Gesetzentwurf vorbereiten und vorlegen werden. ({7}) Ich denke aber, dass wir uns einig sind, dass es eine wasserdichte Lösung braucht, mit der die Rathäuser dieser Republik auch verlässlich arbeiten können. Daran wollen wir gerne gemeinsam arbeiten, damit die Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft bezahlbar wohnen können. Vielen Dank. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner erhält in dieser Debatte das Wort Herr Enak Ferlemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Wiederherstellung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten. Man kann sagen: Dieser Gesetzentwurf ist an Sozialromantik gar nicht zu überbieten. ({0}) Was ist denn das Kernproblem? Das Kernproblem ist, dass wir es in den Städten mit steigenden Mieten zu tun haben, mit zu wenig Wohnraum, mit starkem Zuzug, mit anderen Lebensformen, die gewünscht werden. Darauf muss der Wohnungsmarkt eine Antwort geben. Die Antwort der Linken ist: Es muss eigentlich alles so bleiben, wie es ist. Es soll keine Veränderung geben. Deswegen greift man am besten in das Eigentumsrecht ein und verbietet jegliche Veränderung. Wenn dann ein Eigentümer veräußern und aus wirtschaftlichen Gründen sein Eigentum weitergeben will oder aus bestimmten Interessen, um vielleicht sein Kapital anders anzulegen, dann soll das verboten werden, ({1}) dann sollen die Kommunen die Möglichkeit haben, einzugreifen. Sie selber wissen, dass es zum Teil monatelange, wenn nicht sogar jahrelange Verhandlungen nach sich ziehen kann, ob eine Kommune das Vorkaufsrecht zieht oder nicht. Es kommt dann zu Vereinbarungen, ob man das macht oder nicht oder wie man es macht. Das alles verzögert das Bauen, verteuert das Bauen und wird dem Problem überhaupt nicht gerecht. ({2}) Weil man dieses Instrument in einigen großen Städten ausufernd genutzt hat, kam es eben zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Ich kann nur sagen: Die Richter haben sehr weise entschieden. Die Richter haben nämlich gesagt: Man kann nicht ein Vorkaufsrecht ausüben mit der Begründung, ein zukünftiger Eigentümer könne aus Sicht der Kommune etwas Falsches mit ebendiesem Grundstück machen, um es einmal vereinfacht auszudrücken. Genau das ist der Punkt. In einer Marktwirtschaft, auch und gerade in einer sozialen Marktwirtschaft, brauchen Sie den Schutz des Eigentums. Das ist ein ganz hohes Gut, ohne das die Marktwirtschaft nicht funktioniert. ({3}) Nun wird es manche bei den Linken geben, die vielleicht sagen: Wir wollen die Marktwirtschaft eigentlich so auch gar nicht. – Aber wir als Christdemokraten wollen die Marktwirtschaft. Sie hat dieses Land reich gemacht und nach vorne gebracht. ({4}) Insofern gilt es, das Eigentumsrecht zu schützen. Der Kernpunkt hier ist eben: Wie kann man jetzt beides zusammenbringen? Also auf der einen Seite das Eigentumsrecht zu schützen und eine geordnete Entwicklung der Städte voranzutreiben und auf der anderen Seite natürlich den Schutz der Mieterinnen und Mieter, die Bedürfnisse der Wohnbevölkerung, derjenigen, die lange in einem Viertel leben, auch zu berücksichtigen. Das kann man hinbekommen. Wir haben eine ganze Fülle von baurechtlichen Instrumenten wie die Bauleitplanung oder das Erlassen von Satzungen, etwa die Gestaltungssatzung. Von der Milieuschutzsatzung halte ich allerdings nicht allzu viel; denn sie zementiert einen Zustand, der heute vielleicht noch gewünscht ist, der aber in 10, 20 und erst recht in 30 Jahren völlig überholt sein kann. Warum soll die Mieterin im dritten Stock, die ältere Dame, nicht davon profitieren, dass ein Fahrstuhl eingebaut wird? ({5}) Das ist einfach sinnhaft. Wir werden bei einer älter werdenden Bevölkerung noch erleben, dass wir darüber viel mehr diskutieren werden, als wir das heute tun. Es gibt viele andere Dinge. So wollen Sie die Gebäude im Hinblick auf den Klimaschutz verändern.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von der Linken? ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage ermöglichen. – Ich gebe zu, Herr Ferlemann, dass ich Sie bislang nicht kannte. Deswegen habe ich gerade gegoogelt und habe dann bei Wikipedia gefunden, dass Sie geschäftsführender Gesellschafter der Dr. Mingramm Immobilien, Handel, Unternehmensberatung GmbH sind. Dann habe ich mich ganz kurz gefragt, ob Ihre Haltung, die Sie hier gerade vortragen und die sich übrigens eklatant unterscheidet von der Haltung Ihrer CSU-Kolleginnen und -Kollegen in München, die dort in Verantwortung sind und die das Vorkaufsrecht gerne wieder zurückhätten, ({0}) eventuell mit Ihren eigenen Interessen begründet sein könnte und ob da vielleicht sogar ein gewisser Interessenkonflikt vorliegen könnte, ({1}) der dazu führt, nicht im Interesse der Mieterinnen und Mieter handeln zu können. ({2})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schönen Dank für Ihre freundliche Frage. – Es wundert mich ein bisschen, dass Sie mich gar nicht kennen. Dann können Sie mit Verkehrsprojekten in den letzten Jahrzehnten ja nicht viel zu tun gehabt haben, sonst würden Sie das wahrscheinlich wissen. Aber sei es drum. ({0}) Wir haben eine neue Aufgabenzusammenstellung. Insofern werden Sie in den nächsten Jahren mit mir im Ausschuss vorliebnehmen müssen und mich des Öfteren in Debatten auch erleben. Und ich kann Ihnen sagen: Ein Interessenkonflikt liegt nicht vor; denn die Gesellschaft ist stillgelegt. Das musste ich machen, weil ich als Parlamentarischer Staatssekretär gar keine Geschäfte tätigen durfte. Und das ist bis zum heutigen Tage so. Insofern gibt es keinen Interessenkonflikt. Und zum anderen: Wir sind eine breite Volkspartei. Da gibt es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Ich bin Christdemokrat, und in meiner Partei ist das unumstritten, was ich sage. Wenn es andere Meinungen gibt, muss man das aushalten können. Die grundsätzliche Entscheidung bei den Christdemokraten ist immer für das Eigentum. Das war nie anders und ist auch bei Christsozialen so. Sie brauchen keine Sorgen haben und das auch gar nicht infrage stellen. ({1}) Zum Kern zurück. Wenn man das regeln will, muss man einen Gesetzentwurf für dieses schwierige Thema machen, der sich am Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes orientiert, das, wie ich finde, ein gutes Recht gesetzt hat. Es ist eine schwierige Aufgabe, eine solche Abwägung vorzunehmen. Und es wird eine schwierige Aufgabe der Regierungskoalition sein, angesichts der unterschiedlichen Konstellationen diese Abwägung hinzubekommen. Deswegen sind wir sehr gespannt auf den Gesetzentwurf der Regierung zu diesem Thema, zu dem wir dann in geeigneter Weise – auch im Ausschuss – Stellung nehmen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als Nächste erhält das Wort für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Canan Bayram. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der CDU/CSU muss man es immer wieder erklären: Im Grundgesetz steht nicht „Eigentum ist heilig“, sondern da steht „Eigentum verpflichtet“, und das sollten Sie sich vielleicht mal näher anschauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Denn die eigentliche Frage, die in dem Gesetzentwurf zum Vorkaufsrecht, der hier eingebracht wurde, aufgeworfen wird, ist doch: Wie gelingt es uns, die Kommunen, die öffentliche Hand in die Lage zu versetzen, Häuser so aufzukaufen, dass die Mischung der Bevölkerung, das sogenannte Milieu, erhalten wird? Und da kann ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Für uns als Grüne ist das eine unserer Kernforderungen, und an der halten wir auch fest. ({1}) Und wenn Sie hier den Eindruck erwecken wollen, dass das Bundesverwaltungsgericht eine Entscheidung getroffen hätte, die wir als Gesetzgeber nicht verändern könnten, liebe Kollegen von der CDU/CSU, muss ich Sie auch korrigieren: Wir sind der Gesetzgeber, und wir können sehr wohl dafür sorgen, dass es endlich wieder ein Vorkaufsrecht gibt. Und wir müssen dafür sorgen, weil die Menschen das brauchen. Tagtäglich sind Menschen von Verdrängung bedroht, weil Spekulanten, insbesondere in meinem Wahlkreis, in Friedrichshain-Kreuzberg, unterwegs sind. Und die kaufen Wohnungen, die wir ihnen nicht überlassen sollten. ({2}) Wir sollten entweder das Vorkaufsrecht in Anspruch nehmen oder mit einer Abwendungsvereinbarung verhindern, dass das Milieu sich verändert, dass Eigenbedarfskündigungen geltend gemacht werden. Dagegen richtet sich das Vorkaufsrecht. Das ist ein scharfes Schwert, und das wollen wir stärken, meine Damen und Herren. ({3}) Und den Entwurf der Linken kann man nur begrüßen. Gerade ich als Berlinerin sage: Es ist gut, dass dieser Entwurf im Bundesrat liegt. Dort wird er beraten. Und auch vom Bundesrat aus könnte er uns als Initiative hier vorgeschlagen werden. Es ist eine solide Grundlage, die wir beraten sollten. Das enthebt aber Frau Kiziltepe und Frau Geywitz nicht davon, dem Parlament einen gerichtsfesten Vorschlag als Formulierungshilfe vorzulegen. Darauf haben wir uns verständigt. Ich kann da nur sagen: Wir brauchen das schnell – auch ich verspüre den Druck –, damit wir die Menschen vor Verdrängung schützen, und das nicht nur in meinem Wahlkreis, sondern im ganzen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Das ist unsere Verantwortung als gewählte Abgeordnete, und dafür setzen wir uns ein. Vielen Dank. ({4})

Carolin Bachmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005014, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst drei Wochen sind vergangen, seit ich mich zu Ihren linken Plänen schon einmal geäußert habe. Noch immer sind Sie vom Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten überzeugt. Ihr Wunsch nach sozialistischen Verhältnissen scheint Ihnen ein inneres Bedürfnis zu sein. Denken Sie wirklich, dass nach der Wohnungsübernahme durch städtische Unternehmen paradiesische Zeiten für die Mieter anbrechen? ({0}) Stellen wir eines richtig: Milieuschutz ist kein Mieterschutz, sondern nur Ihr Klientelschutz. ({1}) Der Berliner Mieterverein hat bereits auf 31 Seiten Hunderte Straßenzüge mit Berliner Milieuschutzgebieten veröffentlicht. Doch die Gebietsausweisungen und Ihr kommunales Vorkaufsrecht garantieren weder Mietenstabilität, noch sind sie ein Wohlfühlgarant für die Bürger. ({2}) Besonders absurd wird es, wenn städtische Wohnungsunternehmen nach Ausübung des kommunalen Vorkaufsrechts die Mieterhöhung durchsetzen, die angeblich verhindert werden sollte. Berlin zeigt, was passiert, wenn der Staat zu weit in den Markt eingreift. Die „Berliner Morgenpost“ titelte am 18. Januar dieses Jahres: „Baustau in Berlin auf Rekordniveau“. – Mehr als 66 000 erteilte Baugenehmigungen für Wohnungen werden in Berlin derzeit nicht realisiert. Begrüßenswert wäre es, wenn die Linke Vorschläge unterbreiten würde, die tatsächlich zur Lösung der sozialen Wohnungsfrage beitragen, und zwar so, dass genug bezahlbarer Wohnraum für alle nachhaltig zur Verfügung steht. ({3}) Stattdessen reiten Sie auf dem kommunalen Vorkaufsrecht herum. Was heißt das in der Praxis? Wohnungsbaugesellschaften kaufen in Zukunft mit viel Steuergeld teure Bestandswohnungen auf, verhindern deren Sanierung und schaffen damit auch keine neuen Wohnungen. Und da die große rot-grüne Politik ihren Kurs wohl nicht korrigieren wird, sehe ich schon, wie Sie demnächst in allen Städten – und Sie haben das ja gerade angekündigt – Hunderte Straßen als Milieuschutzgebiete ausweisen werden. Ich sehe, wie das Vorkaufsrecht jeweils gezogen wird, und ich sehe, wie der Bestand unserer Immobilien nach und nach verfällt und unattraktiv für die Bürger wird, die darin wohnen. ({4}) Ihre scheinsoziale Idee trifft wieder den deutschen Steuerzahler. Die eigentliche Wohnungsnot aber bleibt bestehen. Ja, sie würde sich sogar verschlimmern. Unser Rat an Sie: Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen bitte ab! Suchen Sie nach echten Lösungen für den Wohnungsmarkt! Beheben Sie den Wohnungsmangel, und verhindern Sie Mieterhöhungen ganzheitlich und nachhaltig! Unterstützen Sie hierzu zum Beispiel unsere Positionen zur Inflationsbekämpfung, zum Eigentumsschutz, zu Steuer- und Energiepreissenkungen, und stoppen Sie mit uns die Migrationspolitik! ({5}) Schützen Sie nicht nur Ihre Mieterklientel, schützen Sie bitte die gesamtdeutsche Bevölkerung! Doktern Sie nicht an den Symptomen herum! Unterbreiten Sie, wie wir, ganzheitliche Lösungen! Das würde die Mieter und auch die Investoren der Immobilien freuen. Wir als AfD-Fraktion lehnen Ihren Gesetzentwurf daher ab. Vielen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als Nächstes erhält das Wort für die FDP-Fraktion der Kollege Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bachmann, wenn wir Ihr Zuwanderungskonzept durchsetzen, haben wir niemanden, der die Wohnungen baut, die wir brauchen. Die AfD ist immer so was von daneben! Das wirkt freiwillig so lächerlich! Das ist unglaublich. ({0}) Frau Bayram, wir waren ja gemeinsam in der Verhandlungsgruppe; das hat ja auch Spaß gemacht. Wir haben aber nicht festgehalten, dass wir einen Gesetzentwurf zum Milieuschutzgesetz vorlegen. Wir haben festgehalten: Wir prüfen, ob gesetzgeberisches Handeln notwendig ist. ({1}) Wenn wir also den Koalitionsvertrag zitieren, dann bitte richtig! ({2}) Es ist absoluter Konsens, dass wir bezahlbaren Wohnraum brauchen, gerade in Ballungsgebieten; da widerspricht ja keiner. Ich glaube, wir sind uns auch einig, dass es Sinn macht, gewisse gewachsene Strukturen in den Kommunen besonders zu schützen. Zwei Punkte muss ich aber doch zur Praxis des Vorkaufsrechts einfach mal erwähnen, weil das bis jetzt irgendwie noch keine Rolle gespielt hat: Erstens. Für das Vorkaufsrecht wurde in der Praxis unheimlich viel Steuergeld ausgegeben. In Berlin waren es in wenigen Jahren 530 Millionen Euro, in München in nur zwei Jahren 236 Millionen Euro. Das ist wirklich viel Geld. Und tatsächlich gebracht hat es ja nicht so viel. Man kann ja nicht sagen, dass die Mieterinnen und Mieter in Berlin sehr zufrieden mit der Entwicklung des Wohnungsmarktes wären. ({3}) Zweitens muss man auch mal festhalten – ich möchte es nur einmal erwähnen, damit es mal gesagt wurde –: Die Praxis des Vorkaufsrechts in den letzten Jahren war rechtswidrig. Das besagt das Urteil einer der höchsten gerichtlichen Instanzen in Deutschland. Im Kern des Urteils hieß es: Der Eingriff ins Eigentum muss besser begründet werden. – Das ist der Kern. Allein aus diesen zwei Gründen ist es richtig, dass wir wirklich mal genau hinschauen, was funktioniert, und dass wir genau prüfen, ob es einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf beim Vorkaufsrecht gibt. Und das werden wir auch tun. ({4}) Ich habe das Gefühl, wir müssen auch mal darüber reden, was das Ziel des Vorkaufsrechts ist. Wenn es darum gehen soll – das erwähnt die Linke ja immer so gerne –, die Mieten zu senken und sich gegen Mieterhöhungen zu wehren, dann wiederhole ich, was ich vorhin gesagt habe: Es funktioniert nicht. Die Mieten in Berlin sind doch alles andere als gesunken. ({5}) Man muss dann schon auch mal erläutern, was man mit diesen wirklich Hunderten Millionen tatsächlich macht. ({6}) Es tut mir wirklich leid: Wenn es darum geht, die Wohnkosten in den Griff zu bekommen, dann müssen wir mehr bauen, schneller bauen und günstiger bauen. Das ist die Lösung, um die Mieten in den Griff zu bekommen. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Entschuldigung. – Darf er?

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Frau Präsidentin, sehr gerne, auch wenn ich Plenumsdienst bis zum Ende des Tages habe. ({0}) – Jan-Marco Luczak, du weißt doch, wie das ist – ernsthaft.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Herr Föst, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Herr Föst, Sie haben jetzt noch mal gesagt, dass die Situation so wäre, dass die Kommunen für das Vorkaufsrecht Geld aus dem Fenster werfen würden. ({0}) Gleichzeitig kenne ich die FDP so, dass sie immer sehr stark für die Eigenverantwortung der Kommunen plädiert. Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Debatte hier auch noch mal einen Beschluss Ihres FDP-Parteivorstandes aus 2020 angeschaut, worin noch mal ausdrücklich betont wurde, dass eigenverantwortliche, innovative Leistungen der Kommune gelobt werden. Wenn Sie so gegen das Vorkaufsrecht der Kommunen wettern, stelle ich mir die Frage, ob Ihre Meinung zum Vorkaufsrecht und auch zur Eigenverantwortung nur dann gilt, wenn es der FDP und vielleicht auch der Immobilienlobby in den Kram passt, oder ob sie eben für alle Kommunen gilt – egal wie sie politisch geführt werden –, die bei sich dann möglicherweise verantwortlich so mit dem Steuergeld umgehen. Also, gilt das für alle, oder gilt das nicht für alle? Ein letzter Punkt, weil Sie gesagt haben, die Mieterinnen und Mieter würden davon nicht profitieren. Ich lade Sie gerne ein: Kommen Sie in meinen Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg — Prenzlauer Berg Ost! Wir haben dort sehr viele Häuser, in denen die Mieterinnen und Mieter tatsächlich durch das Vorkaufsrecht vor Verdrängung geschützt wurden. Alle, die dort wohnen, werden Ihnen sagen, dass sie froh sind, dass das Vorkaufsrecht ausgeübt wurde. Kommen Sie dorthin! Ich lade Sie ein. Machen Sie sich selbst ein Bild, statt hier zu behaupten, es wäre nicht im Interesse der Mieterinnen und Mieter! ({1})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Meiser, ernsthaft: Ich weiß jetzt wirklich nicht, wann ich gesagt habe: Es ist nicht im Interesse der Mieterinnen und Mieter. Was ich gesagt habe – und das wiederhole ich gerne, weil es schon später und die Aufmerksamkeitsspanne überschaubar ist –: Wir müssen prüfen, ob es das beste Instrument ist. Haben Sie gerade wirklich gesagt, das Vorkaufsrecht, das seit 1983 gilt, sei ein innovatives Instrument? Das wird seit fast 40 Jahren verwendet – laut Meinung des Bundesverwaltungsgerichts in den letzten Jahren rechtswidrig. ({0}) Für 530 Millionen Euro sind in Berlin 2 700 Wohnungen gekauft worden. Ich gönne es wirklich jedem, dass der Staat ihm Geld gibt, aber nachhaltig ist das nicht, und es lässt übrigens noch mehrere Millionen andere Mieterinnen und Mieter außen vor. ({1}) Wir müssen Mieter schützen, wir müssen Milieus schützen. Zu glauben, der Staat könne sich endlos vollsaugen mit Wohnungen und damit sei das Problem gelöst, ist in der Tat kurzsichtige linke, nicht nachhaltige und in keiner Weise innovative Politik. – Aber vielen Dank für die Frage. ({2}) Zum Thema „Mieten und Verdrängung“: Wir müssen prüfen – das haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten –, ob dieses teure städtebauliche Instrument im Kontext mit den anderen Mietregelungen auch wirklich funktioniert und wie es funktioniert. Es ist mitnichten so, dass das Vorkaufsrecht durch das Urteil abgeschafft wurde. Es ist auch mitnichten so, dass es im Milieuschutzgebiet keine Maßnahmen gibt. Nach wie vor ist es so: Jede Investition ins Gebäude, die zu einer Mieterhöhung führen könnte – nicht muss; führen könnte! –, steht unter Genehmigungsvorbehalt. Gleichzeitig gelten alle mietrechtlichen Vorgaben wie in jedem anderen Teil der Stadt auch: die Mietpreisbremse, die wir verlängern werden, die Kappungsgrenze, die wir nachschärfen. Es ist ja nicht so, dass die Gemeinden nicht geschützt sind. Wir müssen aber prüfen, ob das Vorkaufsrecht eine entscheidende Rolle spielt oder ob wir mit dem Geld nicht lieber Wohnungen bauen sollten. ({3}) Abschließend: Kollege Kevin Kühnert war so großzügig, in seinem Wahlkreis anzukündigen, die FDP zu loben, wenn wir schnell zu einer Lösung kommen. Ich mache ein Gegenangebot: Wir werden die SPD in ganz Bayern loben, wenn wir es ordentlich, zielgenau und nachhaltig machen. Das Milieuschutzgebiet Bayern hat frischen Wind nötig. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als nächster Redner in dieser Debatte erhält das Wort Brian Nickholz für die SPD-Fraktion. Es ist seine erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Brian Nickholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorab zur Klarstellung: Es braucht das Vorkaufsrecht für die Kommunen. Das ist ein ganz entscheidender Faktor in der Debatte. Uns allen ist auch klar: Wir brauchen eine rechtssichere und verlässliche Gesetzesgrundlage. Ich werde an dieser Stelle nicht noch einmal die gesamten Argumente wiederholen. Das haben Claudia Tausend und Kevin Kühnert vor zwei Wochen eindrucksvoll getan. Der Handlungsbedarf ist erkannt, die Bauministerin hat den Gesetzentwurf zugesagt, und wir wissen alle: Er wird zügig kommen. Wenn wir über Wohnungsnot sprechen, dann sprechen wir schon lange nicht mehr nur über Berlin, München, Hamburg oder Stuttgart. In meinem Wahlkreis Recklinghausen II sprechen wir über ganz andere Städte. Wir sprechen beispielsweise über Datteln, Haltern am See, Herten, Marl und Oer-Erkenschwick. Hier sind die unterschiedlichen Anforderungen und Voraussetzungen am Wohnungsmarkt greifbar erfahrbar und erkennbar. In Gesprächen in meinem Wahlkreis erlebe ich immer wieder, wie Familien daran verzweifeln, ein Baugrundstück zu finden, und wenn sie fündig werden, ist es kaum bezahlbar. Ich erlebe es, wie schwierig es für größere Familien ist, eine bezahlbare Mietwohnung zu finden. Ich erlebe, wie Menschen in Wohnungen leben, die so heruntergekommen sind, dass darin niemand mehr wohnen sollte, geschweige denn leben. Und ich erlebe die Ohnmacht, die manche überfällt, wenn Vermieter schneller als Mandatsträger wechseln. Sie fühlen sich alleine gelassen, im Stich gelassen, auch von der Politik. Um diese Menschen müssen wir uns kümmern. Für diese Menschen müssen wir da sein. ({0}) All diese Beispiele haben im Grunde eine Gemeinsamkeit: Es fehlt den Kommunen schlicht und ergreifend an Geld, auch um das Vorkaufsrecht überhaupt nutzen zu können. In über zwölf Jahren Kommunalpolitik habe ich erlebt, wie klein die Spielräume in Haushalten sein können. Und nicht nur in meinem Wahlkreis kämpfen die Städte um jeden Euro. So geht es auch zahlreichen anderen Kommunen in Deutschland. ({1}) Deshalb braucht es unbedingt ein umfangreiches Maßnahmenbündel, um diesen Herausforderungen vor Ort zu begegnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns eine ganzheitliche Wohnungspolitik entwickeln und unsere Ressourcen darauf konzentrieren; dafür braucht es übrigens auch kommunale Wohnungsbaugesellschaften, kann ich Ihnen berichten. ({2}) Gemeinsam packen wir die großen Aufgaben unserer Zeit an: den Bau von Wohnungen, den Klimaschutz im Wohnungssektor und den Umgang mit Wohnungslosigkeit. Unsere Maxime muss sein: Wohnen muss bezahlbar sein, ({3}) in den Großstädten wie im ländlichen Raum, in den strukturschwachen Regionen wie in den wachsenden Regionen. Wir sorgen gemeinsam mit gestärkten Kommunen für langfristige Verbesserungen für die Menschen vor Ort, und das konkret, verlässlich und für alle, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herzlichen Dank. – Als nächster Redner folgt für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe, ich bin jetzt ein bisschen verwirrt angesichts des Schauspiels, was uns die Ampel hier gerade geliefert hat. Die Ampel blinkt: mal rot, mal gelb, mal grün. ({0}) Man weiß gar nicht so richtig, in welche Richtung es geht. Einerseits wird im Koalitionsvertrag gesagt: „Wir prüfen das Vorkaufsrecht“, die anderen sagen: „Nein, das wird zügig kommen“; auch die Ministerin hat das zu einem ihrer prioritären Projekte erkoren. Die einen klatschen, die anderen klatschen nicht. Sie sind noch nicht mal 100 Tage im Amt, und man hat schon das Gefühl: Sie sind in der Schlussphase Ihrer Koalition. ({1}) In der Sache muss man schon sagen: Natürlich sind auch wir als Union gegen Verdrängung. Natürlich wollen wir gemischte, wir wollen bunte, wir wollen lebendige Kieze. Aber wir müssen doch mal ehrlich sein in der Debatte. Was sind denn die geeigneten Instrumente dafür? Und da muss man beim Vorkaufsrecht schon mal ein Fragezeichen dahinter setzen; denn das ist ein, finde ich, symbolhaft überhöhtes Instrument, das weit überschätzt wird im Kampf gegen die Wohnungsknappheit. Es ist am Ende ein teures Instrument. Es ist ein Instrument, das wenigen hilft. Es ist ein Instrument, das die Symptome, aber nicht die Ursachen bekämpft. Und es ist an vielen Stellen auch noch kontraproduktiv. Die Zahlen, was Berlin anbelangt, sind hier ja auch schon genannt worden: Seit 2015 hat man 2 674 Wohnungen über das Vorkaufsrecht in gemeindliches Eigentum überführt, 530 Millionen Euro hat man dafür ausgegeben. Und jetzt kann man ja mal rechnen: Was heißt denn das eigentlich? Das sind pro Wohnung fast 200 000 Euro. ({2}) Wenn man jetzt mal großzügig von einer Haushaltsgröße von zwei Personen ausgeht, dann bedeutet das: Wir haben 100 000 Euro pro Person ausgegeben; das sind Steuergelder, die wir ausgegeben haben. Jetzt frage ich: Was hätte man mit diesem Geld eigentlich sonst noch alles machen können? Wie viele Belegungsrechte hätte man kaufen können? Wie viel Subjektförderung, höheres Wohngeld hätte man finanzieren können? Nur mal als Beispiel: 250 Euro pro Monat über 30 Jahre hätte man jemandem zahlen können. Ich kann Ihnen sagen: Damit hätte man wirklich Menschen geholfen; aber doch nicht mit diesem Vorkaufsrecht auf Steuerzahlerkosten, das wirklich nur wenigen Menschen geholfen hat, ({3}) und viele andere haben nichts davon gehabt. Man könnte auch einen ganz verwegenen Gedanken haben: Was wäre, wenn wir diese halbe Milliarde in den Wohnungsneubau gesteckt hätten, in neue Wohnungen, was wirklich etwas auf den Wohnungsmärkten gebracht hätte? Nichts davon ist passiert. ({4}) Deswegen ist diese Debatte um das Vorkaufsrecht genau wie die Enteignungsdebatte: Sie ist ideologisch, sie ist populistisch, und am Ende ist sie wirkungslos. Noch ein Punkt: Am Ende ist es sogar oft noch kontraproduktiv. Denn was passiert unter Bezugnahme auf das Vorkaufsrecht? Die Käufer werden unter fragwürdigen und manchmal rechtsstaatlich durchaus bedenklichen Annahmen und Unterstellungen zum Abschluss von Abwendungsvereinbarungen genötigt. Und was steht in diesen Abwendungsvereinbarungen? Ich weiß nicht, wer sich das schon mal angeschaut hat. Ich habe mir das angeschaut: Da steht eine ganze Menge drin, und zwar vor allen Dingen Verbote, was man alles nicht machen darf. Wir haben schon vom Kollegen Ferlemann von den Fahrstühlen gehört.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Bernhard Daldrup aus der SPD-Fraktion?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, immer gerne; ich habe heute auch keinen Plenardienst mehr, Daniel Föst.

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Luczak, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Ich wollte eine kleine Relativierung vornehmen, weil wir jetzt im Ausschuss für Bauen, Wohnen und Stadtentwicklung zusammenarbeiten. Herr Ferlemann ist, glaube ich, auch dabei. Er hat ja gerade erklärt, wie die Einheit der Union so aussieht, dass es sozusagen politisch selbstständig denkende Menschen in der Union gibt.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mehr Einheit als in der Ampel, würde ich sagen.

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So viele Unterschiede merke ich da bei Ihnen nicht. Jetzt geht es hier um die Frage des Vorkaufsrechtes, um eine Regelung im Baugesetzbuch, um die Ausübung der kommunalen Planungshoheit, um kommunale Selbstverwaltung. Es geht um ein Vorkaufsrecht und nicht um eine Vorkaufspflicht. Warum sind Sie eigentlich so sehr dagegen? Oder besser gesagt: Warum sind Sie so sehr dafür, die Freiheit der kommunalen Selbstverwaltung einzuschränken? ({0}) Warum glauben Sie eigentlich, es wäre ein Akt von politischer Verantwortung, dass Sie den Kommunen vorschreiben können, was sie dürfen und was sie nicht dürfen? Es mag so sein, dass es Fehlentscheidungen beim kommunalen Vorkaufsrecht gibt. Es mag aber auch sein, dass soziales Milieu sozusagen für die Zukunft gesichert worden ist. Aber lassen Sie doch die demokratisch legitimierten Menschen auf kommunaler Ebene darüber entscheiden. Lassen Sie sie doch einfach dieses Recht wahrnehmen. Sonst sagen Sie doch auch immer: Die Kommunen sind nicht das Kellergeschoss der Demokratie, sondern ihr Kern. – Warum sind Sie da so halsstarrig? ({1})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup. – Drei Punkte möchte ich ganz gerne erwidern. Zum einen, was die Einheit der Union anbelangt, brauchen Sie sich bestimmt keine Gedanken zu machen. Wir sind deutlich einheitlicher als die Ampel, so wie sie sich heute hier präsentiert hat. ({0}) Zum anderen sind Sie ganz offensichtlich einem Missverständnis aufgesessen. Keiner von uns hat hier irgendwie gefordert, das Vorkaufsrecht abzuschaffen. ({1}) Ich habe das nicht gefordert, der Kollege Ferlemann hat das nicht gefordert, niemand hat das gefordert. Es geht vielmehr darum, dass das Vorkaufsrecht, so wie es jetzt im Baugesetzbuch steht, gilt – in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Es ist zu Recht vom Kollegen Föst von der FDP darauf hingewiesen worden: Es ist in den letzten Jahren rechtswidrig angewendet worden. Jetzt kann man ja darüber diskutieren – das wird in der Ampel ja auch offensichtlich gemacht –; aber ich möchte doch bitte klarstellen: Niemand von uns fordert, das Vorkaufsrecht abzuschaffen. Zum Dritten. Sie haben mich gefragt, was ich gegen starke Kommunen habe, was ich gegen freie Entscheidungen von Kommunen habe. Ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich will aber gerne zugestehen, dass ich ein wenig geprägt bin durch meine Heimatstadt Berlin. Da gibt es insbesondere einen Baustadtrat – Frau Kollegin Bayram, aus Ihrem Wahlkreis, aus Friedrichshain-Kreuzberg; ({2}) Florian Schmidt heißt er; das weiß ich, vielen Dank –, der dieses Vorkaufsrecht und viele andere Instrumente mit der DIESE eG als Aktivist genutzt hat, und zwar nicht nach rechtsstaatlichen Kriterien. ({3}) Und das hatte Einfluss auf mein Vertrauen in die Kommunen. Man sieht an den Diskussionsbeiträgen eigentlich aller Redner der Ampel hier – bis auf Herrn Föst, den ich an der Stelle lobend ausnehmen will –: Alle haben dieses Vorkaufsrecht in Zusammenhang mit Mieterschutz gebracht. Alle haben gesagt, dass es allein um Mieterschutz geht, dass wir das brauchen, um die Bezahlbarkeit des Wohnens herzustellen. Und es wurden viele andere Dinge genannt, die das Vorkaufsrecht in dieser Form aber nicht beinhaltet. Deswegen sage ich es noch mal: Wir haben nichts gegen das Vorkaufsrecht, wir haben nichts gegen starke Kommunen, wir wollen auch Menschen vor Verdrängung schützen, wir wollen aber die richtigen Instrumente dafür einsetzen, und an der Stelle ist das Vorkaufsrecht eben nicht das richtige Instrument. ({4}) Jetzt lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte sagen. Ich hatte ja gesagt, das Vorkaufsrecht hat mit Blick auf die Abwendungsvereinbarungen, die Käuferinnen und Käufern aufgenötigt werden, auch kontraproduktive Elemente. Denn was steht da drin? Wir haben von dem Fahrstuhl gehört. Enak Ferlemann hat darauf hingewiesen, dass die alte Dame, die vielleicht im vierten Stock ihre Wohnung hat, nach einer Hüftoperation eben nicht mehr raufkommt, wenn man keinen Fahrstuhl einbauen darf. Was ist mit den Familien, die händeringend nach größeren Wohnungen suchen, wenn sie noch ein Kind bekommen? Sie finden keine, weil man Wohnungen nicht mehr zusammenlegen kann. ({5}) Was ist mit der energetischen Modernisierung für den Klimaschutz? In Abwendungsvereinbarungen steht explizit drin: Es darf nicht energetisch modernisiert werden. Dann frage ich Sie von der Ampel mal nach der Konsistenz: Sie haben in den letzten Tagen ein Papier vorgestellt, nach dem Sie Eigentümer zur Sanierung von Wohnungen zwingen wollen; ansonsten werden Sie sie mit CO2-Mehrkosten belasten. Und jetzt sagen Sie gleichzeitig, Sie wollen das Vorkaufsrecht und damit verbunden Abwendungsvereinbarungen. Aber dadurch verhindern Sie genau das. Das ist doch eine widersprüchliche Politik. Das kostet Akzeptanz, das kostet Glaubwürdigkeit, und das kostet am Ende die Legitimation von Politik. Deswegen ist die Ampel an dieser Stelle nicht glaubwürdig. Und deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf, den Die Linke hier eingebracht hat, auch nicht zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin folgt für Bündnis 90/Die Grünen Hanna Steinmüller. ({0})

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich dachte eigentlich, nachdem wir das Thema vor drei Wochen schon mal hatten, dass mittlerweile ein bisschen mehr Sachkenntnis im Raum wäre. Ich habe den Eindruck, das ist nicht so. Von daher noch mal ganz klar zur Differenzierung: Wir brauchen Mieterinnen- und Mieterschutz, Sanierungsgebiete, und wir brauchen Neubau. Das alles ständig durcheinanderzumischen, führt nicht dazu, dass wir am Ende eine sachlichere Diskussion haben. ({0}) Die Argumente, was man alles im Bereich Neubau machen könnte, schließen sich nicht gegenseitig aus. Nichtsdestotrotz brauchen wir das Vorkaufsrecht. Herr Luczak, Sie haben gesagt, wie viel Geld das kostet. Wir beide wissen, dass meistens gar nicht die Immobilie zugunsten eines Dritten oder von der Kommune gekauft wird, sondern dass diese Abwendungsvereinbarungen geschlossen werden. Von daher geht es da gar nicht um Geld; das kostet nichts. Wir beide wissen auch, dass in Ihrem Wahlbezirk Tempelhof-Schöneberg – ich hatte letzte Woche ein Gespräch mit dem damals zuständigen Stadtrat Jörn Oltmann – energetische Modernisierungen genehmigt wurden. Das ist der Fall. Sie haben aber das Gegenteil behauptet. Fragen Sie im Bezirksamt Ihres Wahlkreises nach. Was Sie gesagt haben, ist nicht der Fall. ({1}) Jetzt aber zurück zum Vorkaufsrecht, worum es ja eigentlich gehen sollte. Ich glaube, im Ziel sind wir uns einig: Wir wollen wie Die Linke das Vorkaufsrecht wiederherstellen. Wir haben aber einige Fragen, die wir einfach noch klären müssen. Die erste ist: Reicht eine Änderung des § 26 Nummer 4 des Baugesetzbuches, um das Vorkaufsrecht nachhaltig wiederherzustellen, oder müssen wir vielleicht mehr machen? ({2}) Müssen wir vielleicht klarer definieren, wann ein Vorkaufsrecht nach § 24 Absatz 3 BauGB zum Wohl der Allgemeinheit in Erhaltungsgebieten gezogen werden kann? Müssen wir vielleicht in Fällen möglicher Spekulation, wo es das Vorkaufsrecht für die Gemeinden eben nicht gibt, nachschärfen, indem wir es zum Beispiel im Wohneigentumsrecht und beim Erbbaurecht neu einführen? Das sind Fragen, die wir klären müssen. Als Letztes, weil das Vorkaufsrecht so wichtig ist: Wir brauchen mehr Personal und mehr finanzielle Mittel für die Kommunen, damit das Vorkaufsrecht auch wirklich gezogen wird. Darüber müssen wir in den nächsten Wochen diskutieren. Deswegen braucht es, glaube ich, noch mehr Debatten. Dies wird nicht das letzte Mal sein, dass wir hier darüber sprechen. Aber im Sinne der Mieterinnen und Mieter sollten wir das tun. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält das Wort Franziska Mascheck für die SPD-Fraktion. ({0})

Franziska Mascheck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005144, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das ist ja hier eine ganz muntere Debatte. Da fragen sich doch die einen oder anderen, wozu nun dieses Vorkaufsrecht dienen soll. Vielleicht können wir das ja mal aus der ländlichen Perspektive betrachten und noch ein bisschen mehr Schwung in die Debatte bringen. Wir wechseln einfach mal den Fokus und gucken auf die ländlichen Regionen. Dort kann das Vorkaufsrecht nämlich als wirklich wichtiges Gestaltungsinstrument für Kommunen und aktive Wohnungs- und Bodenpolitik dienen. Zum einen können die Dorfkerne und Innenstädte lebendig gestaltet werden, und zum anderen – und das ist viel wichtiger – können Bürgerinnen und Bürger aktiv in diese Prozesse eingebunden werden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Entwicklung von Dorf- und Stadtkernen ist es nämlich manchmal notwendig, unbebaute Grundstücke und leerstehende Gebäude für eine zukunftsfähige Gemeinde nutzbar zu machen. Lassen Sie uns doch mal diesen Quartiersbegriff auf eine kleine Stadt oder auf ein Dorf anwenden. Ziel muss es doch sein, Wohnen, Leben, Nahversorgung an einem Ort zu haben. Ich muss morgens meine Kinder in die Kita bringen können, einen Arzt aufsuchen und einkaufen gehen können, und Sport- und Kulturangebote müssen zur Verfügung stehen. Und es muss doch für Kommunen möglich sein, in Stadtzentren gute Schulstandorte zu entwickeln oder für ältere Menschen zum Beispiel Wohnmöglichkeiten. Das hätte interessanterweise gleichzeitig den Vorteil, dass keine weiteren Flächen versiegelt würden, während Gebäude im Zentrum oder im Dorfkern leer stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teilhabe bedeutet auch, dass Kommunen mithilfe des Vorkaufsrechts gemeinsam mit ihren Bürgerinnen und Bürgern die Stadtentwicklung gestalten können. Das ist gelebte Demokratie, und das fördert auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Verantwortliche in Gemeinden und Kommunen ländlicher Regionen kennen unmittelbar die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger vor Ort und können deshalb besonders gut einschätzen, an welcher Stelle welche Maßnahmen notwendig sind. Lebendige Kleinstädte und Dörfer sind nämlich auch von der Mietpreissteigerung in den urbanen Zentren betroffen, und gleichzeitig brauchen sie mehr Entwicklungsspielräume. Dafür müssen sie die Bürgerbeteiligung fördern. Das wiederum stärkt das Vertrauen in die Demokratie und das Vertrauen, vor Ort wirklich etwas bewegen zu können. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, die SPD-Bundestagsfraktion, stehen für eine sozial gerechte Transformation in der Stadt und auf dem Land. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen wir die Kommunen begleiten, bestehende Kooperationen stärken und vielleicht manchmal einfach häufiger vom Dorf her denken. Auch in diesem Sinne werden wir das Vorkaufsrecht gemeinsam mit Bundesministerin Klara Geywitz zukunftssicher aufstellen. Dafür müssen wir es eben auch genau ausarbeiten. Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe damit die Debatte.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 15. März dieses Jahres soll die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft treten, doch nach wie vor sind zentrale Fragen zu ihrer Umsetzung unklar. Wir fordern deshalb heute mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, die einrichtungsbezogene Impfpflicht endlich solide vorzubereiten. ({0}) Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wurde am 10. Dezember hier im Bundestag beschlossen. Schon damals war klar, dass die Umsetzung von der Bundesregierung gründlich vorbereitet werden muss. Einrichtungen, Praxen, Gesundheitsämter, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, nicht zuletzt aber auch die Bundesländer warten seitdem auf klare Handlungsanweisungen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Es geht nach wie vor um die Frage eines bundesweit möglichst einheitlichen Vollzuges – Versorgungsengpässe in der Pflege müssen vermieden werden –, und eine Vielzahl an arbeits- und sozialrechtlichen Fragen mit Blick auf die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind nach wie vor ungeklärt. Vollkommen ungeklärt ist auch, wie die Gesundheitsämter vor Ort eigentlich ihr Ermessen ausüben sollen, wenn zum Beispiel Versorgungsengpässe entstehen können. Mittlerweile gibt es ein Informationsblatt des Ministeriums, das 23 Seiten mit Fragen und Antworten umfasst, aber genau die zentralen Fragen bis heute nicht beantwortet. Am Sonntag konnten wir bei „Anne Will“ vernehmen, wie eine Pflegedienstleiterin ganz klare praktische Fragen an den Bundesgesundheitsminister richtete; eine Antwort gab es nicht, stattdessen den Hinweis, er könne statt 23 auch 40 Seiten vorlegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht um die Masse der vorzulegenden Seiten, sondern um die Klasse der Antworten; hieran fehlt es. ({1}) Ich will Ihnen in dieser Situation eines sagen: Es kann nicht sein, dass die Umsetzung zulasten und auf dem Rücken von Gesundheitsämtern, Arbeitgebern, Arbeitnehmern oder gar Betroffenen ausgetragen wird. Das zerstört auch das Vertrauen in die Pandemiebekämpfung und in die Politik. Beim Genesenenstatus zeichnet sich ein ähnlich desaströses Bild. Die Bundesregierung muss auch hier endlich für ein klares Vorgehen, für eine klare Kommunikation sorgen. Die Bürger müssen wissen, woran sie sind. Man kann Versäumnisse doch nicht einfach auf das RKI abschieben und hier Lothar Wieler zum Sündenbock machen. Die Verkürzung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate ohne Rücksprache mit den Ländern und ohne Ankündigung hat viele verunsichert. In dieser Woche haben Sie jetzt eine halbe Rolle rückwärts gemacht: Geimpfte haben jetzt den Genesenenstatus verlängert bekommen – Ungeimpfte nicht; die nächste Verwirrung, die nächste Verunsicherung, die nächste Unklarheit. ({2}) Deshalb fordern wir Sie mit unserem zweiten Antrag auf, auch hier endlich für klare Verhältnisse zu sorgen. Die Menschen haben ein Recht auf Planungssicherheit, auch in der Pandemie. Ein solcher Zickzackkurs zerstört Vertrauen in die Pandemiebewältigung. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächste erhält das Wort für die SPD-Fraktion die Kollegin Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was für ein Schauspiel inszenieren Sie hier eigentlich, liebe Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion? ({0}) Planungssicherheit und solides Handeln fordern Sie in Ihren beiden Anträgen von der Regierung. Das elektrisiert mich geradezu – das will ich Ihnen sagen –; denn Planungssicherheit und solides Handeln sind es, was der CSU-Ministerpräsident Söder ein ums andere Mal sabotiert, ({1}) mal durch sein Vorpreschen, mal durch steile Ankündigungen und immer wieder durch bayerische Extravaganzen im Verlauf der Pandemie. ({2}) Und als reichte das nicht schon für unsolides Krisenmanagement, hat er nun auch noch eins draufgesetzt und mit der ganzen Union im Schlepptau geltendes Recht selbstherrlich infrage gestellt. ({3}) Mit einem medialen Paukenschlag wurde das von Ihnen selbst geforderte und beschlossene Gesetz ausgebremst. Das ist weder solide noch seriös, und es schadet der so notwendigen Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. ({4}) Sie haben damit den Einrichtungen die Planungssicherheit, die diese eigentlich brauchen, geradezu genommen. ({5}) Was sollen eigentlich die Krankenhaus- und Pflegeheimleitungen davon halten, die seit Monaten mit ihren Beschäftigten im Gespräch sind, um sie von der Notwendigkeit einer Impfung zu überzeugen? Was sollen eigentlich die vielen Pflegefachkräfte, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hauswirtschafts-, Reinigungsdiensten oder anderen Arbeitsbereichen, in Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Diensten denken, die sich haben impfen lassen, um Menschen zu schützen, die besonders gefährdet sind? Alles gar nicht so wichtig? War gar nicht so ernst gemeint? – Es beschädigt das Ansehen unseres Rechtsstaates, wenn so mir nichts, dir nichts von einem Ministerpräsidenten erklärt wird, er wolle ein Gesetz nicht umsetzen. ({6}) Nein, Herr Söder und alle, die ihm auf diesem Holzweg gefolgt sind, Sie haben hier nicht nur die Planungssicherheit beschädigt und unsolide gehandelt; Sie halten damit auch den Fortschritt bei der Pandemiebewältigung auf, und das ist unverantwortlich. ({7}) Das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht dient zuallererst dem Ziel, besonders verletzliche Menschen zu schützen. Es wurde im Dezember von einer breiten Mehrheit hier im Bundestag und einstimmig – man erinnere sich: einstimmig – im Bundesrat beschlossen. Jetzt stehen alle Länder in der Verantwortung und ihre Verwaltungsebenen in der Pflicht, es auch umzusetzen. ({8}) Die solide Vorbereitung, die Sie mit Ihrem Antrag einfordern, läuft seit Monaten. ({9}) Die Handreichung des Bundesgesundheitsministeriums wurde schon Mitte Dezember veröffentlicht, und sie wurde seitdem schon dreimal aktualisiert, anhand der Fragen, die gestellt wurden. ({10}) Das Bundesgesundheitsministerium und die Gesundheitsminister der Länder sind in engem Austausch zu allen Umsetzungsfragen. ({11}) Auch die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden konkretisiert die Ausführungsbestimmungen für die Landkreise und die öffentlichen Gesundheitsdienste – also kein Grund für Panik. ({12}) Und das sei hier auch erwähnt: Es gibt sehr wohl Bundesländer, die bereits digitale Erfassungsplattformen erstellt haben, um Einrichtungen und Gesundheitsämter zu unterstützen, die Handreichungen und Erlasse vorbereitet haben, um die Umsetzung vor Ort zu erleichtern und Rechtssicherheit zu gewährleisteten. Da mutet es einfach nur bizarr an, wenn der bayerische Ministerpräsident vor die Kamera tritt und wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen verkündet: Was kümmert mich, was ich mal gefordert und selbst beschlossen habe? – Die Wirkung ist fatal, und der Scherbenhaufen lässt sich auch nicht mehr dadurch kitten, dass das Land Bayern nun doch zur verzögerten Umsetzung bereit ist. Dieser populistische Ausrutscher wird mit dem heute vorliegenden Antrag nicht geheilt. Nein, im Gegenteil: Sie versuchen mit Ihren Fragen an die falschen Adressaten, das Vertrauen in die Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht weiter zu beschädigen. ({13})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion?

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Kollegin Baehrens, ich hätte nur eine kurze Frage, und zwar: Wenn die einrichtungsbezogene Impfpflicht kommt, mit wie viel Prozent der Pflegekräfte rechnen Sie, die den Beruf verlassen werden? ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Zeulner, ich bin erst mal erschüttert, dass Sie in der vorigen Debatte gesagt haben, diese Ampelkoalition würde das Volk in Geiselhaft halten. Das, muss ich sagen, hat mich tief erschüttert, ({0}) weil ich bisher angenommen habe, dass Sie zu den sachorientierten Gesundheitspolitikerinnen der CDU/CSU-Fraktion gehören. ({1}) Wir wissen aus anderen Ländern, die bereits eine einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt haben, dass das, was bezüglich des Verlassens dieser Berufe vorhergesagt wurde, so nicht eingetreten ist. ({2}) Wir wissen auch, dass es zum professionellen Selbstverständnis von Beschäftigten in diesen Arbeitsfeldern gehört, dass sie alles tun, um dem Hygieneschutz, aber vor allem auch dem Infektionsschutz zu dienen, und alles tun, um Menschen davor zu bewahren, dass sie an diesen Orten geschädigt werden. Das gehört zum Selbstverständnis dieser Einrichtungen, und das sollten wir fördern. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das war jetzt die Beantwortung der Frage. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch ein Satz zu der Beantwortung, bitte. – Sie haben ja vorhin auch zu dem Thema „allgemeine Impfpflicht“ Stellung genommen. Es sind gerade die großen Pflegeverbände Diakonie und Caritas, aber auch andere Pflegeeinrichtungen, die uns dringend auffordern, das Thema „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ in eine allgemeine Impfpflicht einzubetten. ({0}) Dafür sollten sich alle, denen das Wohl dieses Landes am Herzen liegt, einsetzen. ({1}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wir als Ampelkoalition übernehmen Verantwortung. ({2}) Aber ich sage noch mal: „Wir übernehmen Verantwortung“, das steht bei der CDU/CSU auf jeder Homepage. Diesem staatstragenden Anspruch werden Sie zurzeit nicht gerecht. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als Nächstes erhält das Wort Thomas Dietz für die AfD-Fraktion, und er spricht von oben. ({0}) – Entschuldigung, Herr Dietz, es ist Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. ({1})

Thomas Dietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005042, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Zuschauer! Vor wenigen Monaten hat das gesamte Hohe Haus mit Ausnahme der AfD und weniger Abweichler der anderen Fraktionen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht beschlossen. Und jetzt will die CDU/CSU dieses längst beschlossene Gesetz auf einmal „solide vorbereiten“ lassen? Haben Sie den Gesetzentwurf damals nicht gelesen, sondern nur blind den Arm gehoben? Statt die einrichtungsbezogene Impfpflicht noch heute vollständig und ersatzlos abzuschaffen, will man nun die arbeits- und sozialrechtlichen Folgen für die Beschäftigten und die Betriebe klären. Man fordert die Regierung auf, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, welche es den Einrichtungen und Krankenhäusern ermöglichen, ungeimpfte Mitarbeiter nach Belieben freizustellen und zu entlassen. Hauptsache in der Einrichtung steht genügend geimpftes Personal zur Verfügung. Sobald jedoch die Versorgungssicherheit der Patienten gefährdet ist, können plötzlich ungeimpfte Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte eingesetzt werden. Ihre Arbeitskraft kann dann weiterhin zur Verfügung stehen. Ist das Ihr Ernst? Erkennt das Virus Personalmangel? Dieser Antrag ist an Zynismus wohl kaum zu überbieten. ({0}) Die Beschäftigten, die sich aus persönlichen Gründen entschieden haben, sich nicht impfen zu lassen, aber auch die, die nun auf eine Boosterimpfung verzichten wollen, sind praktisch ab diesem Zeitpunkt in vakanten Beschäftigungsverhältnissen. Das ist untragbar und unsozial. ({1}) Deshalb gehört der § 20a des Infektionsschutzgesetzes umgehend abgeschafft. ({2}) Alle zurzeit eingesetzten Impfstoffe gegen Covid-19 können weder eine Ansteckung des Geimpften ausschließen noch die Weitergabe der Krankheitserreger an Dritte verhindern. Im Gesundheitswesen hat das zur Folge, dass der Patient durch die Impfung des Personals kaum geschützt werden kann. ({3}) Das heißt: Grundrechtseinschränkungen für das Personal trotz nicht existentem Schutz. ({4}) Dazu kommen immer häufiger auftretende Nebenwirkungen, die von Kanzler Scholz und den Altparteien in Deutschland negiert werden. Mit einer Impfpflicht, ob einrichtungsbezogen oder allgemein, werden Tür und Tor für Zwangsbehandlungen geöffnet. Wenn erst die letzten Hemmungen gefallen sind und die roten Linien überschritten, gibt es kein Halten mehr vor weiteren Grenzüberschreitungen. Deshalb lehnen wir als AfD-Fraktion diesen Antrag ab. ({5}) Die Herabsetzung des Genesenenstatus auf 90 Tage war von Anfang an rechtswidrig. Das hat das Berliner Verwaltungsgericht bereits in zwei Fällen entschieden. Der Bundestag wollte sich jedoch den sechsmonatigen Genesenenstatus nur für sich selbst exklusiv sichern, was durch den lauten Protest der AfD inzwischen wieder rückgängig gemacht wurde. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen: Die AfD wirkt. ({6}) Die Politik hat durch dieses Verhalten und ihre ständigen Kurswechsel in der Pandemiebekämpfung das Vertrauen der Bürger vollkommen verloren. Letztlich kann es nicht um Korrekturen, sondern nur um die völlige Abschaffung aller Maßnahmen gehen. Danke. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es folgt eine weitere erste Rede im Deutschen Bundestag, nämlich von Linda Heitmann für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Linda Heitmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005078, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Abgeordnete der Union, wir diskutieren hier heute in 40 Minuten zwei Anträge von Ihnen, die aber eigentlich drei Themen umfassen. ({0}) Es geht um die Verkürzung des Genesenenstatus, es geht um die Umsetzung der institutionsbezogenen Impfpflicht, und es geht Ihnen auch um die Quarantäneregeln für Reisende mit Kindern. Ich glaube, wir sind uns einig: Es wird diesen Themen nicht gerecht, sie alle in 40 Minuten zu diskutieren. Man könnte es auch zusammenfassen unter: Wir diskutieren heute mal alles, was der Union an der Pandemie gerade nicht passt. ({1}) Sie beklagen in Bezug auf die Verkürzung des Genesenenstatus, dass dieser innerhalb weniger Tage von sechs auf drei Monate herabgesetzt wurde. Ja, ich gebe zu: Die Kommunikation dazu war mehr als unglücklich. Aber, ich glaube, wir müssen einfach mal anerkennen, dass die Wissenschaft in dieser Pandemie in einem unglaublichen Tempo immer wieder zu neuen Erkenntnissen kommt. Daher ist es auch unsere Aufgabe als Politik, das mit einzubeziehen, das in unser politisches Handeln und in unsere politischen Entscheidungen mit aufzunehmen, wenn wir die Wissenschaft wirklich ernst nehmen, die seriös daran arbeitet, auch zu ergründen, wie lange eigentlich die Immunisierung durch eine Genesung vorhält. ({2}) Sie fordern in Bezug auf die institutionsbezogene Impfpflicht, die Bundesregierung möge dem Bundesland Bayern, das diese institutionsbezogene Impfpflicht selbst im Bundesrat mit angenommen hat, doch bitte einmal erklären, wie es die jetzt umzusetzen hat. Meine Damen und Herren, ich finde, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass genau jenes Bundesland, das sonst stets auf seine Souveränität pocht, jetzt plötzlich, wenn es die Möglichkeit hat, das Gesetz selbst vor Ort auszugestalten, von der Bundesregierung einfordert, alles haarklein vorgegeben zu bekommen. ({3}) Ich finde, das ist wirklich mehr als skurril. Ich möchte jetzt gern in dieser Debatte zu allem, was uns rund um Corona stört, zu der Fragestellung kommen, die mich seit Monaten umtreibt. Das ist die Fragestellung: Wie bekommen wir es hin, dass wir in diesem Land endlich wieder in eine Situation kommen, in der die Gesundheitsversorgung für alle wirklich wieder gut gewährleistet werden kann? ({4}) Bis Oktober letzten Jahres war ich in der Suchtkrankenhilfe tätig. Ich hatte mit verschiedensten Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe tagtäglich zu tun und habe gesehen, was die Pandemie und was dieser andauernde Ausnahmezustand dort eigentlich angerichtet hat. Gucken wir uns das einmal an: Menschen, die ein Suchtproblem haben, gehen in der Regel als Erstes zu einer Beratungsstelle. Dort können sie sich normalerweise überall in Deutschland ganz unkompliziert und kostenlos beraten lassen. Seitdem die Pandemie angefangen hat, ist dies vielfach nur noch per Video möglich. Es gibt viel weniger Termine, und ich glaube, sehr viele Menschen sind uns in dieser Pandemie an dieser Stelle wirklich verloren gegangen, weil sie mit der Technik nicht zurechtkommen, weil sie diese Anlaufstelle dann nicht mehr haben. Es geht in der Suchtkrankenhilfe weiter mit einem qualifizierten Entzug. Viele Stationen für einen qualifizierten Entzug wurden zu Beginn der Pandemie geschlossen, oder sie haben die Anzahl der Betten stark zurückgefahren und auch die Leistungen stark reduziert. Ein qualifizierter Entzug in der Suchtkrankenhilfe ist seit der Pandemie nur noch sehr bedingt möglich. Wenn wir uns auch die Reha danach angucken, dann sehen wir: Hier wurden viele Plätze reduziert, weil die Menschen alle in Einzelzimmern untergebracht werden müssen. Es gibt viele Sonderregelungen, und auch hier können eine normale Behandlung und Reha nicht mehr stattfinden. Zuletzt möchte ich den Blick auch noch auf die Suchtselbsthilfe lenken, auf genau das, was viele Menschen in der Sucht immer wieder am Leben hält und ihnen einen normalen Alltag ermöglicht. Hier sind viele persönliche Begegnungen in den letzten zwei Jahren weggefallen. Wir haben davon gehört, dass zahlreiche Menschen, die seit Jahren trocken waren, aufgrund dieses Wegfalls von persönlichen Begegnungen rückfällig geworden sind. Was möchte ich mit diesem Schlaglicht auf die Suchthilfe verdeutlichen? Ich möchte Ihnen verdeutlichen, dass wir hier wirklich mal den Fokus darauf legen sollten, dass die Behandlung auf allen Ebenen in unserem Gesundheitssystem seit fast zwei Jahren massiv eingeschränkt ist. Ich möchte wirklich dafür plädieren, dass wir hier als Parlament gemeinsam und konstruktiv darüber diskutieren, wie wir aus diesem Dauerausnahmezustand rauskommen. Ich lade Sie dazu ein, beispielsweise in der nächsten Sitzungswoche hier mit uns zu debattieren: Kann die Impfpflicht ein Weg zurück zur Normalität sein? Wenn ja: Wie muss sie ausgestaltet sein? Ich würde mich freuen, wenn Sie sich da konstruktiv einbringen, statt sich im Klein-Klein solcher Anträge zu verlieren, wie Sie sie hier heute vorgelegt haben. Vielen Dank. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Als Nächstes erhält das Wort für die Fraktion Die Linke die Abgeordnete Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier heute über zwei Anträge der Unionsfraktion, in denen neben einigem Richtigen auch so viel Unsinn steht, dass wir ihnen leider nicht zustimmen können. ({0}) Recht haben Sie teilweise jedoch in der Situationsbeschreibung. Da ist zum Beispiel der Bauarbeiter, geimpft mit Johnson & Johnson, der eines Januarmorgens feststellen muss, dass sein Impfstatus von jetzt auf gleich nicht mehr ausreicht, um mit dem Bus zur Arbeit zu fahren. Oder da ist die Frau mit der fortgeschrittenen Muskelatrophie, die um ihre Unabhängigkeit fürchtet, weil sich in ihrem achtköpfigen Assistenzteam zwei Menschen befinden, die sich partout nicht impfen lassen wollen, auf die sie aber eigentlich nicht verzichten kann. Das sind zwei von vielen Menschen, die die Bundesregierung mit den neuen Coronaregeln zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht und zum Immunitätsausweis vor riesige Probleme gestellt hat. Deshalb ist es richtig, dass die Frage, wer als geimpft und genesen gilt, wieder politisch entschieden und entsprechend gut vermittelt werden muss. Hier steht die Bundesregierung klar in der Pflicht. Aber, meine Damen und Herren von der Union, Sie haben doch beiden Regelungen hier im Haus und im Bundesrat zugestimmt. Und auch Ihre Ministerpräsidenten haben ja keine erkennbare Linie, sondern drehen sich wie das Fähnchen im Wind. Das schafft doch noch mehr Verunsicherung bei den Menschen. Der Herr Wüst in NRW zum Beispiel schafft es doch innerhalb von fünf Tagen, ({1}) dreimal seine Meinung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht zu ändern. Das geht doch gar nicht. Das geht doch wirklich nicht! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Impfungen sind das wichtigste Mittel, um aus dieser Pandemie rauszukommen. Da sind wir uns ja auf der seriösen Seite dieses Hauses eigentlich alle einig. ({3}) Aber ebenso wichtig – das will ich noch mal sagen – ist das Vertrauen der Bevölkerung, und da hat nicht nur die Union, sondern leider auch die Bundesregierung einen gewissen Nachholbedarf. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält das Wort für die FDP-Fraktion die Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir beraten heute zwei Anträge der CDU/CSU-Fraktion. Der eine befasst sich mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, der andere mit dem Genesenenstatus, und ich möchte gerne mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht beginnen. Ich möchte zuallererst etwas klarstellen, was mir in diesen Tagen besonders wichtig ist und was sowohl in der Debatte heute und in vorherigen Debatten als auch in der Öffentlichkeit immer wieder völlig falsch dargestellt wird: Die Impfnachweispflicht bezieht sich eben nicht auf einzelne Berufsgruppen, meine Damen und Herren. ({0}) Es ist vielmehr wichtig, dass jeder, der eine entsprechende Einrichtung betritt und darin mit den vulnerablen Gruppen in Kontakt kommt, geimpft ist. Das sind natürlich nicht ausschließlich die Pflegefachkräfte, sondern eben auch die Reinigungskraft, der Koch oder der Hausmeister. Warum ist das so? Im Mittelpunkt steht für uns immer der Schutz der vulnerablen Gruppen. ({1}) Das ist Sinn und Zweck dieses Gesetzes, das die Ampel richtigerweise vorgelegt hat und dem die Union und auch der Bundesrat zugestimmt haben. Denn eine hohe Impfquote beim Personal in den Gesundheitsberufen und in Berufen, die Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung betreuen, ist besonders wichtig, um das Risiko der Gefährdung dieser Menschen zu senken. Das hat das Bundesverfassungsgericht auch genau so bestätigt.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Abgeordneten Hilse von der AfD-Fraktion?

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0}) Meine Damen und Herren, wir erleben hier einen weiteren verzweifelten Versuch der Union, irgendwie in der Opposition Fuß zu fassen. Es ist doch aberwitzig, um nicht zu sagen: absurd, dass ausgerechnet die Union sich jetzt kritisch zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht äußert, und an vorderster Front natürlich mal wieder Markus Söder. ({1}) Bayern hat lautstark die einrichtungsbezogene Impfpflicht gefordert. Bayern hat der einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Bundesrat zugestimmt. Und Bayern möchte jetzt die einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht umsetzen. Finde den Fehler! Das passt doch alles vorne und hinten nicht zusammen, meine Damen und Herren. ({2}) Auch in Richtung Bayern: Es gibt doch tatsächlich Bundesländer, die die Hände nicht in den Schoß legen – so wie Bayern –, sondern Gespräche mit den Kommunen führen, mit allen Akteuren im Austausch stehen und auch für eine gute, möglichst digitale Umsetzung sorgen, so zum Beispiel mein Bundesland Schleswig-Holstein ({3}) und genauso auch Nordrhein-Westfalen. Es geht also. Sie müssen nur mal richtig hinschauen, meine Damen und Herren! ({4}) Selbstverständlich ist es in Bundesländern mit einer hohen Impfquote in den Gesundheitseinrichtungen leichter, die Nachweispflicht umzusetzen. Aber dafür wird den Gesundheitsämtern, die für Einrichtungen mit einer niedrigen Impfquote zuständig sind, ein Ermessensspielraum eingeräumt. Das haben wir ganz bewusst gemacht, und das ist auch gut so. ({5}) Anstatt wie Bayern eine bundesweite Aussetzung der Nachweispflicht zu verlangen, sollte man sich lieber um eine zeitnahe Umsetzung und um die Erhöhung der Impfbereitschaft kümmern. Das wären die richtigen Maßnahmen. ({6}) Deswegen ist es gut, dass ab nächster Woche ausreichend Novavax-Impfstoff zur Verfügung steht, der zunächst prioritär für Beschäftigte im Gesundheitswesen eingesetzt wird. Ich kann nur alle auffordern, die auf Novavax gewartet haben, sich jetzt zeitnah impfen zu lassen. Das ist die richtige Maßnahme, meine Damen und Herren! ({7}) Ich verstehe viele, die, so wie ich auch, sagen: Ich möchte nicht, dass meine Angehörigen in einer Einrichtung betreut werden, in der die Mehrzahl der Mitarbeiter ungeimpft ist. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die vulnerablen Gruppen wirklich zu schützen. Jetzt geht mir leider die Zeit aus; ich hätte noch viel zum Genesenenstatus sagen wollen, aber die Präsidentin ist leider dagegen; ({8}) wir können das vielleicht bilateral klären. Ganz herzlichen Dank. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Also, diese Bewertung weise ich zurück. Die Redezeit haben wir uns gemeinsam gegeben. Sie dürfen jetzt aber gleich noch antworten, nämlich nach der Kurzintervention des Abgeordneten Hilse. Bitte schön.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Aschenberg-Dugnus, ich verschaffe Ihnen jetzt noch ein bisschen mehr Redezeit. – Ich möchte gern eigentlich nur die Frage von meiner geschätzten Kollegin – also ich schätze sie zumindest für ihre Rede, die sie vorhin gehalten hat – wiederholen: Mit wie viel Personen aus dem medizinischen Bereich rechnen Sie, die aufgrund dessen, dass sie am 16. März nicht mehr zur Arbeit gehen dürfen, weil sie sich aus guten Gründen – sie haben sich darüber ja Gedanken gemacht – dafür entschieden haben, sich nicht impfen zu lassen? Ich sage Ihnen mal – ich habe es gestern schon der Staatssekretärin gesagt –, wie die Verhältnisse bei uns in Sachsen sind. Bei mir im Kreis sind 44 Prozent des Pflegepersonals nicht geimpft, im Kreis Görlitz sind es 49 Prozent. Da haben Sie schon mal einen Ansatz, wie viele Personen das Gesundheitswesen dann verlassen werden. Es gibt sogar Rettungswachen bei uns in Sachsen, in denen 80 Prozent der Rettungssanitäter nicht geimpft sind. Sie verweigern die Impfung nicht, weil sie stur oder stumpfsinnig sind, sondern weil sie jeden Tag mit den teilweise katastrophalen Nebenwirkungen zu tun haben. Also, mit wie viel Personen rechnen Sie, die ihren medizinischen Beruf niederlegen werden, weil Sie eine Impfpflicht für sie beschlossen haben? ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nur weil Sie immer irgendetwas behaupten, wird es nicht besser, Herr Kollege. ({0}) Wir alle kennen doch die Fake-News-Kampagne, die gestartet wurde, wo Stellengesuche von angeblichen Pflegekräften, die aufgrund der Impfpflicht ihren Beruf niederlegen wollten, in verschiedenen Zeitungen geschaltet wurden. Hinterlegt war die Handynummer 0160-12345678; das kann man in den Zeitungen nachlesen. Das Ausland und gerade Frankreich hat uns gezeigt – – ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir sind jetzt nicht im Dialog.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dass Sie nicht über den Tellerrand schauen, haben wir schon häufig wahrgenommen. ({0}) Wenn wir ins europäische Nachbarland, nach Frankreich, schauen, dann sehen wir, dass nur ein sehr kleiner Teil die Ankündigung, den Beruf aufzugeben, tatsächlich umgesetzt hat. Insofern sind wir sicher, dass nicht sehr viele ihren Beruf aufgeben werden; denn pflegende Fachkräfte, Beschäftigte in Pflegeberufen wissen, was für einen tollen Job sie leisten, sie haben auch ein Verständnis dafür, dass sie die vulnerablen Gruppen, Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, besonders schützen müssen. Deswegen bin ich sicher, dass wir jetzt auch mit Novavax einen erheblichen Teil derjenigen, die jetzt noch nicht geimpft sind, zum Impfen bewegen können. Hören Sie bitte auf mit ihren komischen Darstellungen. Das glaubt Ihnen doch sowieso keiner mehr. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte die ganze Debatte, zumindest was einige Redebeiträge betrifft, als „politisches Kabarett“ betiteln. ({0}) Ich sage Ihnen auch, warum. Ich finde es schon ein bisschen befremdlich, wenn sich meine durchaus geschätzte Kollegin der SPD hierhinstellt und mit einer moralischen Hybris all denjenigen, die bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht Bedenken haben und diese Bedenken auch äußern, unterstellt, sie seien nicht am Wohl und Wehe der Pfleger und der zu Pflegenden interessiert. Das, glaube ich, sollten wir uns hier nicht antun. ({1}) Ich möchte noch mal auf das Thema Genesenenstatus eingehen. Ich finde es wirklich besorgniserregend, dass hier so ein bisschen lapidar darüber hinweggegangen wird und man sagt: Na ja, dumm gelaufen, Schwamm drüber, es war halt so. ({2}) Wir debattieren hier ja zur Primetime, aber – ich sehe es gerade – der Minister ist leider nicht da. Ich darf Sie nur daran erinnern, dass diese Nacht-und-Nebel-Aktion keine Lappalie ist. Wir reden hier über Millionen von Menschen, deren Genesenenstatus über Nacht einfach geändert worden ist. ({3}) Wir als Union haben eine Kleine Anfrage gestellt; ich darf Sie daran teilhaben lassen, auch an den Antworten. Ich habe sie mir extra ausdrucken lassen. Man kann wirklich nur sagen: Es ist haarsträubend und an Dilettantismus eigentlich nicht mehr zu überbieten, was da offensichtlich passiert ist. Wir haben gefragt, wie es zu dieser Regelung über Nacht kam und wie man vor allen Dingen auf die Idee kommen konnte, das in dieser Form bekannt zu geben, und zwar über die Homepage. Darauf ist allen Ernstes die Antwort, dass die Verkürzung des Genesenenstatus an leicht zugänglicher Stelle mit hohem Verbreitungsgrad veröffentlicht worden sei. Da frage ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Glauben Sie wirklich, dass jeder jeden Morgen auf der Homepage des RKI – bei aller Wertschätzung – nachschaut, um die Gültigkeit des Genesenenstatus abzufragen? ({4}) Und es wird noch viel besser; von der Realität, in der Sie offensichtlich leben, will ich jetzt gar nicht weiter sprechen. Wir haben auch gefragt: Wann hat das RKI mit den Überlegungen zur Änderung des Status begonnen? – Das ist ja schon ganz interessant; der Minister kann sich offensichtlich nicht daran erinnern. Wenn er sich nicht daran erinnern kann, dann, finde ich, lässt das ziemlich tief blicken, oder er weiß nicht, was in seinem Haus passiert. Auf diese Frage hat das BMG ernsthaft geantwortet: Ein konkretes Datum kann nicht benannt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Bankrotterklärung. Entweder weiß man nicht, was im Haus passiert, man will es nicht wissen, oder man hat überhaupt keine Ahnung. Das ist erschreckend! ({5}) Der Gipfel des Dilettantismus – das will ich hier auch noch mal ganz klar sagen – ist, dass man sich offensichtlich überhaupt keine Gedanken gemacht hat, wie viele Menschen das betrifft. Bei der Überlegung, den Genesenenstatus zu ändern, muss man sich doch zumindest aufgrund der Eingriffstiefe Gedanken machen, wie viele Menschen das betrifft. Wir haben deshalb gefragt: Wie viele Menschen sind davon im täglichen Leben betroffen? – Darauf hat das BMG geantwortet: Der Bundesregierung liegen dazu keine Daten und Erkenntnisse vor. Da kann ich nur sagen: Heidewitzka! Wenn das Ministerium solche grundrechtsrelevanten Dinge auf der Homepage eines nachgeordneten Instituts, einer Behörde, veröffentlicht, ohne zu wissen, ({6}) wie viele Menschen das im täglichen Leben betrifft, dann ist das besorgniserregend, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Deshalb unsere Bitte an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen – lieber Herr Staatssekretär, richten Sie das bitte Herrn Lauterbach, dem Minister, aus –: Schließen Sie Ihre Wissenslücken, ändern Sie die Kommunikation, stellen Sie sie neu auf, wie es vorgeschlagen und auch zugesagt wurde, und stellen Sie vor allen Dingen den alten Genesenenstatus – 180 Tage – wieder her, so wie das in der ganzen Europäischen Union der Fall ist, und das bitte sehr, sehr schnell. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Christos Pantazis das Wort. ({0})

Dr. Christos Pantazis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005174, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der Union, Planungssicherheit geben, gemeinsam europäisch handeln, Dauer des Genesenenstatus auf 180 Tage anheben sind zentrale Forderungen eines Ihrer hier kurzfristig eingereichten Anträge. Darin beschreiben Sie Folgendes zu Recht: Ja, die Politik hat eine große Verantwortung in der Coronapandemie, und, ja, unsere Entscheidungen haben enorme Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger. Es erstaunt mich aber, dass gerade Sie in Ihrem Antrag Planungssicherheit, Stabilität und gemeinsames Handeln ohne Alleingänge einfordern. ({0}) Genau das hätten Sie Ihrem Parteifreund und bayerischen Ministerpräsidenten – einem Paradebeispiel für Alleingänge – beizeiten auch mal mitteilen können. ({1}) Erstaunt hat mich aber vielmehr Ihre Forderung, den Genesenenstatus nun wieder auf 180 Tage anheben zu wollen. Wissen Sie, was in diesem Zusammenhang sehr erhellend war? Die gestrige Sitzung des Gesundheitsausschusses! Sie waren ja alle dabei. In dieser hat der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Professor Wieler, die wissenschaftlichen Hintergründe der Reduzierung des Genesenenstatus auf 90 Tage eindrucksvoll erläutert. ({2}) Laut Wieler setzt die Omikron-Variante neue Rahmenbedingungen. Ein neuer Serotyp, eine Immune-Escape-Variante, die die Antikörperbindung sowie die Schutzwirkung massiv reduziert. Daher war, ist und bleibt die Herabsetzung der Dauer des Genesenenstatus aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht auch weiterhin absolut geboten. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Sorge?

Dr. Christos Pantazis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005174, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich bin richtig schön im Fluss, Frau Präsidentin; herzlichen Dank. – Zur Erinnerung: Nicht nur, dass die Staatssekretärin Dittmar die Verkürzung des Genesenenstatus in der Plenardebatte am 13. Januar von dieser Stelle aus klar kommuniziert hat, Sie haben dieser auch zugestimmt und die wissenschaftliche Faktenlage sogar ausdrücklich gelobt, etwas, was Sie nun in Ihrem hier vorliegenden Antrag als – ich zitiere – „schweren politischen Fehler“ bezeichnen. Wenn das keine Politik der inszenierten Empörung ist, was dann? ({0}) Verehrte Union, hinter uns liegen vier gemeinsame Regierungsjahre, zwei davon in einer beispiellosen Krise. Trotz schwieriger Entscheidungen war der politische Grundkonsens unter uns demokratischen Fraktionen immer gegeben. Diesen Konsens haben Sie allerdings zugunsten einer parteipolitischen Instrumentalisierung der Pandemie vor Kurzem aufgekündigt. Das ist nicht nur bedauerlich; das ist in dieser Situation auch in höchstem Maße verantwortungslos. Ihre hier kurzfristig eingebrachten Anträge folgen genau dieser Strategie und gleichen – mit Verlaub – immer mehr einem schlechten Schauspiel, wie es meine Kollegin eben gerade erläutert hat. ({1}) Beispiel gefällig? Sie kritisieren die Reduzierung des Genesenenstatus im europäischen Kontext als inkonsistent. Dabei ist Ihre Argumentation inkonsistent. ({2}) Ginge es Ihnen wirklich um einheitliche europäische Regelungen, so müssten Sie auch Aspekte wie die Vereinheitlichung des Impfzertifikats oder der PCR-Testungen ansprechen. Lediglich den Genesenenstatus zu thematisieren, ist nicht nur inkonsistent, sondern auch ein politisch durchschaubares Manöver. ({3}) Nicht eine selektive Vereinheitlichung von Regelungen, der Schutz des menschlichen Lebens und die Sicherung unserer kritischen Infrastruktur unter Omikron sollten unsere höchste Priorität darstellen. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass der Bundesminister sich auf europäischer Ebene auch weiterhin für die Reduzierung des Genesenenstatus einsetzen will. Es wird Sie daher nicht verwundern, dass wir Ihren hier vorliegenden Anträgen selbstverständlich nicht entsprechen. Den politischen Zickzackkurs, den Sie hier fahren, werden wir nicht unterstützen, sei es in der Frage der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, des Genesenenstatus oder wenn man just erklärt, dass die allgemeine Impfpflicht gescheitert sei. Ihre politische Inszenierung sorgt für Verunsicherung und untergräbt das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. ({4}) Deshalb – ich komme zum Schluss – sei Ihnen eins ins Stammbuch geschrieben. In der Politik verhält es sich oft wie im Theater: Schlechte Inszenierungen – ich liebe diesen Satz – leeren ein Theater manchmal schneller als so mancher Feueralarm. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Tino Sorge das Wort.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege Pantazis, ich will nur ein, zwei Punkte hier nicht so stehen lassen, die Sie aus dem Ausschuss zitiert haben. Es wäre übrigens schön gewesen, wenn der Bundesgesundheitsminister im Ausschuss anwesend gewesen wäre; er war es leider nicht. ({0}) Weil Sie referiert haben und so taten, als sei die Herabsetzung des Genesenenstatus im Ausschuss von Herrn Wieler entsprechend begründet worden: Ja, auf meine Frage hin, warum eine Differenzierung zwischen dem Genesenenstatus für ungeimpfte Genesene und geimpfte Genesene vorgenommen worden ist mit drei und sechs Monaten. Die Frage, um die es hier in unserem Antrag aber geht, bezieht sich darauf, warum wir hier quasi wieder die Situation haben: BMG gegen den Rest Europas. Alle europäischen Länder sagen: sechs Monate. Wir sagen: drei Monate. Darüber kann man sich wissenschaftlich streiten. Aber wenn Sie jetzt hier sagen, Sie würden unserem Antrag, die ursprüngliche Regelung von sechs Monaten wiederherzustellen, nicht zustimmen, dann verstehe ich nicht, warum sich die Ministerpräsidenten in der MPK jetzt genau auf diese sechs Monate geeinigt haben. Insofern bin ich, ehrlich gesagt, verunsichert. Wenn Sie mir das erklären könnten, wäre ich Ihnen sehr, sehr dankbar. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Möchten Sie erwidern? – Dann haben Sie das Wort.

Dr. Christos Pantazis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005174, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Sorge, ich will das gerne nochmals vervollständigen, weil Sie gerade den Gesundheitsausschuss angesprochen haben. Ihre Frage war eine andere. Ihre Frage war nämlich die, ob denn das Robert-Koch-Institut seine Bedingungen zu Beginn der Woche nochmals geändert hätte, und dementsprechend hat Herr Wieler eindrücklich erläutert, dass das Fake News gewesen sind. Ihre Kollegin vorhin hatte in einer Rede versucht, die beiden Artikel nochmals zu bestätigen; er war ziemlich verärgert. ({0}) Die Frage der wissenschaftlichen Begründung der Reduzierung des Genesenenstatus war eine Frage der Kollegin Baehrens. Dementsprechend wollte ich das einfach nur zurechtrücken. Ich muss Ihnen ganz offen sagen: Ihre Argumentation überzeugt mich nicht. Ihre beiden Anträge – ich wiederhole das sehr gerne – sind ein Schauspiel. ({1}) Das hat auch Frau Baehrens vorhin schon richtig gesagt, und ich wiederhole mich gerne: ({2}) Schlechte Inszenierungen leeren wirklich manchmal ein Theater schneller als so mancher Feueralarm. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus guten Gründen haben wir im Dezember letzten Jahres die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen. Der Beschluss damals stand ganz unter dem Eindruck der Delta-Variante. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist richtig, aber gut gemacht – – ({0}) – Sie ist gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Es bedarf eines praxistauglichen bundeseinheitlichen Vollzugs, und hier haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der links-gelben Koalition, die Länder und die Praktiker vor Ort vollkommen alleingelassen. ({1}) Wie können Sie denn sonst erklären, dass die Gesundheitsministerkonferenz beschließt: „Wir fordern auf,“ – Zitat – „‚unverzüglich alle offenen Vollzugsfragen durch Vollzugshinweise einschließlich der notwendigen Abwägungskriterien abzustimmenʼ“? Woher kommt denn das, wenn alles in Ordnung ist, so wie Sie es darstellen? Es bedarf einer handwerklich guten, ordnungsgemäßen, ordentlichen Umsetzung, und wenn das nicht erfolgt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der links-gelben Koalition, dann verliert der Staat an Glaubwürdigkeit. ({2}) Wenn Bayern darauf hinweist, dann ist es genau richtig, weil Sie an dieser Stelle eben nicht die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten haben, das tatsächlich gut aufzusetzen. Es bleibt tatsächlich eine Vielzahl an offenen arbeitsrechtlichen Fragestellungen: Was ist mit dem Vergütungsanspruch? Was ist mit den Freistellungs- und Kündigungsmöglichkeiten, wenn Nachweise nicht vorgelegt werden? Wie wird sichergestellt, dass der Arbeitgeber auch tatsächlich informiert wird? ({3}) Die Antworten, die Sie hierzu bieten, bleiben vage, unklar und letztendlich dürftig. ({4}) Ihre Handreichung ist doch das Gegenteil von Rechtssicherheit und das Gegenteil von Klarheit in der Praxis, im Umgang mit diesem Gesetz. Deswegen verwundert es ja auch nicht, dass die Länder hier in diesem Bereich tatsächlich so auftreten und remonstrieren. ({5}) Auf eine Kernfrage gibt das Bundesgesundheitsministerium überhaupt keine Antwort: Welche Abwägungskriterien sollen denn die Gesundheitsämter bei ihrem Ermessenspielraum tatsächlich leiten? Es gibt doch ein Spannungsverhältnis: auf der einen Seite der bessere Schutz für die Patientinnen und Patienten und auf der anderen Seite die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung in den betroffenen Einrichtungen. Und dieses Spannungsverhältnis müssen Sie auflösen; das muss der Bundesgesundheitsminister auflösen. Die Praxis braucht Antworten. Liefern Sie diese endlich, sonst verursachen Sie mit der Umsetzung dieses Gesetzes ein Pflegechaos! ({6}) Das wollen wir nicht; denn uns sind die Menschen nicht egal – Ihnen offenbar schon. Liefern Sie endlich! ({7}) Geben Sie den Auftrag an die Bundesregierung, einen praxistauglichen Vollzug sicherzustellen! Wir geben Ihnen heute die Gelegenheit. Stimmen Sie unseren Anträgen zu! ({8})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin nun seit 20 Jahren Mitglied im Petitionsausschuss ({0}) und habe jetzt etwas darzustellen, was bisher noch nie vorgekommen ist. In der Regel führen wir im Petitionsausschuss nach einer intensiven Diskussion eine Abstimmung durch und weisen die Petition dem Bundestag zu, damit dort darüber beschlossen wird. Jetzt haben wir den Fall, dass eine Petition wieder zurückverwiesen werden soll an den Petitionsausschuss. Deshalb möchte ich Ihnen sagen, worum es geht. Es geht hier um Bürger aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Sachsen, die von ihrem Petitionsrecht Gebrauch gemacht und Maßnahmen gegen die unkontrollierte Verbreitung des Wolfs, also praktisch ein Wolfsmanagement, eingefordert haben. Das haben sie gemacht im September 2017. Das war der Monat der Bundestagswahl. Das heißt: Der Petitionsausschuss fing dann im Dezember, Januar, Februar oder gegebenenfalls auch erst im Mai an, zu arbeiten. Wenn eine Petition eingereicht wird, die gleichzeitig mit einem Gesetzgebungsverfahren in Verbindung zu bringen ist, dann können wir das nicht weiter beraten. Dann warten wir ab, bis die Beratung in dem Fachausschuss zu Ende ist. Hier ging es um das Bundesnaturschutzgesetz. Deswegen ist diese Petition erst in dieser Wahlperiode aufgesetzt und diskutiert worden. Wir haben es erst vor Kurzem wieder gesehen: Vor zwei Tagen wurde ein Schaf in Bottrop gerissen, vor drei Tagen ein Schaf am Niederrhein, im letzten Jahr ein Pony in Schermbeck. Wir haben 157 Rudel Wölfe in Deutschland und viele Einzelwölfe; Sie kennen diese Problematik. Deshalb glauben wir, dass es wichtig ist, dass ein Wolfsmanagement eingeleitet wird und man nicht sagen kann: Es besteht kein Handlungsbedarf. Zunächst haben die Koalitionsfraktionen beschlossen: Es besteht kein Handlungsbedarf. Dann aber hat die Koalition im Nachhinein festgestellt: Oh, da haben wir uns vertan. Wir möchten diese Petition und unseren Beschluss wieder zurückhaben. – Das kann ich natürlich verstehen, und ich kann es auch nur begrüßen, dass wir über diese Petition noch mal neu beraten und der Fachausschuss dann auch zu einer anderen Auffassung kommt. Denn eines ist wichtig – wir haben es jetzt gerade gelernt –: der Küstenschutz. Einen Küstenschutz ohne Schafe kann mir keiner erklären. Die müssen den Deich festtreten. ({1}) Jetzt können Sie gerne überlegen, wie Sie die Tiere auf einem Deich schützen wollen. Es ist nicht so einfach, zu verhindern, dass da kein Wolf mal längs spaziert und sich um die Schäfer und deren Schäfchen kümmert. Wir haben jetzt die Zeit, wo die Lämmer kommen. Ich möchte gerne, dass im nächsten Jahr die Schafhalter, die Pferdehalter, alle ruhigen Gewissens sagen können: Der Bundestag hat sich um die Sache gekümmert. Er hat versucht, auf europäischer Ebene eine andere Lösung herbeizuführen. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Petition auch im Petitionsausschuss noch mal neu beraten. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Konrad. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Storjohann, ich habe Ihnen gerade aufmerksam zugehört und bin froh, dass Sie dem Vorschlag der Koalition folgen. Ich verstehe aber auch infolge Ihrer Einlassung nicht so ganz, warum Sie jetzt trotzdem aufstehen und zu dieser wichtigen Petition sprechen. Sie haben es ja richtig gesagt: Die Basis der Petition ist im Jahr 2017 zu finden. Wir reden hier also über eine Petition, die über viereinhalb Jahre alt ist. Da stelle ich mir schon die Frage – und die stellen wir uns als Koalition insgesamt –: Was haben Sie eigentlich in den letzten viereinhalb Jahren gemacht? ({0}) Was haben Sie eigentlich in den letzten viereinhalb Jahren gemacht, um die Weidetierhaltung in Deutschland zu erhalten? Welche Antwort haben Sie eigentlich in den letzten viereinhalb Jahren den Rinderhaltern, den Schafhaltern und den Pferdehaltern gegeben, die sich ja zu Recht sorgen? ({1}) Wenn ich mir die Situation heute ansehe, muss ich feststellen, dass die Union nur zugeschaut hat, während die Wolfspopulation jährlich um 30 Prozent gewachsen ist. Deshalb ist es richtig, dass diese Koalition sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt hat, zunächst einmal genau festzustellen, wie viele Wölfe es denn in Deutschland überhaupt gibt. Denn nicht einmal zählen konnte ja das Bundeslandwirtschaftsministerium unter der Unionsführung in den letzten Jahren. ({2}) Sie gingen bei den gemeldeten Zahlen immer davon aus, dass ein Rudel nur zwei adulte Tiere enthält. Aber reproduktionsfähige Wölfe trennen sich nicht zwangsläufig sofort von ihrem Rudel. Daher haben die Koalitionsparteien sich auch darauf verständigt, ein realitätsgetreues Monitoring durchzuführen. Denn Transparenz ist doch bei der Zahl der hierzulande lebenden Wölfe der Faktor für eine breite Akzeptanz. Und dass Wölfe sich heute wieder in Deutschland ausbreiten, ist nun mal eine Tatsache, die besonders die Weidetierhalter beschäftigt. Wir haben uns vorgenommen, es in Zukunft anders zu machen, als es in der Vergangenheit gelaufen ist. Wir denken nämlich Naturschutz und Landwirtschaft zusammen und nicht gegeneinander. ({3}) Auf dieser Basis werden wir den sogenannten günstigen Erhaltungszustand realitätsgetreu abbilden und wo möglich und wo nötig den Bestand regulieren können. Im Koalitionsvertrag ist darüber hinaus auch vereinbart worden, dass den Ländern ein europarechtskonformes Management des Wolfes eröffnet werden soll. Das wäre ein Riesenunterschied zu dem – das ist auch gerade in Ihrer Einlassung deutlich geworden –, was in den letzten viereinhalb Jahren hier passiert ist, nämlich de facto gar nichts. Liebe Union, wir als Freie Demokraten haben in den letzten vier Jahren viele Initiativen gestartet, Gesetzentwürfe vorgelegt und Anträge eingebracht, um praktikable Lösungen herbeizuführen, und die wurden alle abgelehnt; und nicht nur das, es wurde auch nicht weiter darauf eingegangen. Deshalb ist die Rücküberweisung dieser Petition im Sinne der Petenten, die ja ein berechtigtes und ein wichtiges Anliegen haben, richtig. Ich freue mich, dass Sie dem zustimmen, und auch auf die weitere Befassung. ({4})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen, dass wir selbstverständlich großes Verständnis dafür haben, dass die Frau Ministerin Faeser heute an dieser Debatte aufgrund privater Umstände nicht teilnehmen kann. Das wollte ich vorweg erklären. Gleichwohl werden wir uns mit ihrem Verhalten beschäftigen. Die Frau Ministerin kokettiert in letzter Zeit immer damit, dass sich manche noch an eine Frau mit klarer Haltung im Innenministerium gewöhnen müssen. Ich frage mich nur, wann dieser Gewöhnungsprozess beginnen soll, weil ich eine solch klare Haltung bei ihr in letzter Zeit schlicht nicht erkennen kann. ({0}) Ja, sie ist glaubwürdig beim Kampf gegen Rechtsextremismus; aber eine Innenministerin muss in alle Richtungen klar sein, auch gegenüber Linksextremisten, und da gibt es in letzter Zeit mehr und mehr Zweifel. ({1}) Die Landtagsabgeordnete Faeser hat in einer Postille, „antifa“, der VVN-BdA einen inhaltlich nicht zu kritisierenden Artikel veröffentlicht, und das, obwohl sie aufgrund einer eigenen Anfrage als Landtagsabgeordnete bescheinigt bekommen hat, dass ihr eigenes Landesamt für Verfassungsschutz diese Organisation für linksextremistisch beeinflusst hält. Sie hat sich also bewusst darüber hinweggesetzt. Bei einer klaren Haltung hätte ich erwartet, dass sie hier schnell reinen Tisch macht. Sie hat aber alle Anfragen hierzu nicht beantwortet. Vielleicht hatte sie auch Bedenken, dass es einen PR-Super-GAU geben könnte, wie sie es an anderer Stelle auch befürchtet. ({2}) Sie hat es damit nur schlimmer gemacht. Dann der Befreiungsschlag in der „Bild am Sonntag“: Nein, sie würde heute in dieser Postille nicht mehr veröffentlichen; sie habe ja eine andere Rolle. Eine Innenministerin spielt aber keine Rolle – sie hat zu jeder Zeit eine klare Haltung gegenüber allen Formen des Extremismus zu haben, und zwar in jeder Funktion, und diese auch ausgewogen zu vertreten. Diese Ausgewogenheit lässt sie jedoch vermissen, und deswegen schadet sie auch unserem gemeinsamen Kampf, auch ihrem Anliegen, dem Kampf gegen den Rechtsextremismus. Damit hat es eine andere politische Bedeutung bekommen. Deswegen habe ich eine Abgeordnetenanfrage an sie gestellt, wie denn ihr Bundesamt für Verfassungsschutz diese Organisation einstuft und wie sie zukünftig selbst damit umgehen möchte. Diese Frage konnte sie mir zunächst nicht beantworten, und sie hat Fristverlängerung beantragt vor der Innenausschusssitzung am Mittwoch. Sie hat sie auch im Innenausschuss nicht beantwortet, wobei es sich um ganz einfache Fragen handelt. Gestern Nachmittag dann die Antwort – eigentlich eine Nicht-Antwort –: Aus Gründen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland könne man meine Fragen nicht beantworten. ({3}) Deswegen die Frage: Wo ist die klare Haltung der Bundesinnenministerin? ({4}) Nur am Rande sei erwähnt: Diese Antwort – mit Fristverlängerung auf den 17. Februar – war dann zurückdatiert auf den 15. Februar. Dilettantischer kann man es nicht machen. ({5}) Da sind einige in Berlin und in der Regierung offensichtlich noch nicht angekommen. ({6}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich heute erneut eine Abgeordnetenfrage an die Bundesregierung gestellt, und zwar wortgleich, identisch mit dem Text der Frage der Frau Landtagsabgeordneten Faeser, die sie damals an die Landesregierung gestellt hat. ({7}) Insofern bin ich gespannt, ob die Bundesministerin Faeser mir diese Frage jetzt beantwortet, die sie damals als Landtagsabgeordnete selbst gestellt und beantwortet bekommen hat. ({8}) Insofern: Fortsetzung folgt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Ein paar wenige Sätze habe ich jetzt noch zur zweiten Ministerin, die in den letzten Tagen verhaltensauffällig geworden ist. Die Frau Lemke hat gesagt, Autobahnblockaden seien ein legitimes Mittel des zivilen Ungehorsams. ({10}) Wie kann man rechtlich weiter davon entfernt sein? Es sind Straftaten, und Straftaten sind nicht zu rechtfertigen. ({11}) Vor allem darf der Zweck niemals die Mittel heiligen. Folgendes Beispiel: Ein Impfbus in meiner Heimatstadt Heilbronn wird von militanten Impfgegnern blockiert. Wäre das ein Mittel des zivilen Ungehorsams? Mit Sicherheit nein. Und das gilt für alle Zwecke, und daran hat sich auch die Bundesministerin Lemke zu halten. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Kaiser für die SPD-Fraktion. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde, die die CDU/CSU- Fraktion auf die Tagesordnung gesetzt hat, lässt mich schon ein Stück weit an der politischen Seriosität der Union zweifeln. ({0}) Ein neurechtes Blatt, das vor allen Dingen die AfD hofiert, und die „Bild“-Zeitung initiieren eine Schmutzkampagne, und die Union nimmt diese Steilvorlage ungeniert und ohne Berührungsängste auf. ({1}) Sie blähen das Ganze sogar noch auf und werfen alles in einen Topf, was sich vermeintlich populistisch ausschlachten lässt. Die Bundesinnenministerin für Extremismus oder Straßenblockaden mitverantwortlich zu machen, ist aberwitzig. Mit Nancy Faeser hat unsere Demokratie eine starke Verteidigerin, die es schon viele Jahre zuvor an dieser Stelle gebraucht hätte. ({2}) Zu den Aktionen der Klimaaktivistinnen und ‑aktivisten in der Hauptstadt hat die Regierende Bürgermeisterin von Berlin sehr klare Worte gefunden: Kritik für Klimaschutz ist legitim, gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr sind es selbstverständlich nicht. – Da sind wir uns in der Koalition auch einig. ({3}) Unser Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, ist sehr wohl intakt, und das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber Ihnen scheint gegenwärtig nichts zu billig, um von den Rechtsausreißern in Ihren eigenen Reihen abzulenken. ({4}) Denn warum das ganze Theater heute Abend? Ich sage nur zwei Namen: Otte und Maaßen. ({5}) Da spendet ein CDU-Mitglied an die AfD und tritt für die Rechtsextremen zur Bundespräsidentenwahl an. Das war eine gezielte Beschädigung des Ansehens dieses Amtes, und die Union tut so, als hätte sie damit nichts zu tun gehabt. ({6}) Dabei saß doch Herr Otte in den letzten Jahren im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung. Und Herr Maaßen? Den machte Ihr damaliger Innenminister zum Verfassungsschutzchef, mit fatalen Folgen: erst die Skandale um die Aufklärung des NSU-Terrors, ({7}) dann die Verharmlosung von rassistischen Ausschreitungen und das Aussitzen der Beobachtung des parlamentarischen Arms der extremen Rechten, der AfD. ({8}) Das alles war nur möglich, weil es die Unionsführung über Jahre hinweg versäumt hat, der Bedrohung von rechts mit klaren Maßnahmen zu begegnen. Die Folgen dieser gescheiterten Innenpolitik manifestieren sich doch in dem tragischen Mord an Walter Lübcke sowie den Anschlägen in Halle und Hanau. ({9}) Viel mehr als Worte zu diesen furchtbaren Ereignissen haben wir in der letzten Wahlperiode nicht gesehen. ({10}) Sogar den eigenen Innenminister haben Sie zum Schluss ausgebremst. Wir als SPD nehmen die Gefahr hingegen sehr ernst. Als Antifaschistinnen und Antifaschisten stehen wir an der Seite der Zivilgesellschaft, an der Seite der Opfer rechter Gewalt und an der Seite der Überlebenden des Nationalsozialismus. ({11}) Das hat nichts mit Extremismus zu tun, sondern ist eine Grundhaltung gegen faschistische, menschenfeindliche und autoritäre Ideologien. Dieser Standpunkt ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine Selbstverständlichkeit, ({12}) und das sollte auch für Sie gelten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({13}) Wenn eine Sozialdemokratin also in einer antifaschistischen Zeitung über die Bedrohung des NSU 2.0 schreibt und das skandalisiert wird, dann frage ich mich wirklich, wo hier das Problem liegt. ({14}) Die letztes Jahr verstorbene, beeindruckende Auschwitz-Überlebende und Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Esther Bejarano, mahnte, dass wir als Gesellschaft und Politik alles dafür tun müssen, unsere Demokratie vor alten und neuen Menschenfeinden zu bewahren, und daran sollten wir uns ein Vorbild nehmen. ({15}) Wenn dieser Verein eine solche Gefahr für die Demokratie darstellt, wie Sie es hier geradezu verzweifelt glaubhaft machen wollen, ({16}) dann müssen Sie schon erklären, wie es denn dazu kommt, dass der hessische Finanzminister Boddenberg, der Europa-Staatssekretär Becker und der Landtagsabgeordnete Serke, allesamt mit CDU-Parteibuch, kürzlich die „Frankfurter Erklärung“ für Solidarität in der Coronakrise und gegen rechts unterschrieben haben, die eben auch die VVN mitgezeichnet hat. ({17}) Auf die Antwort bin ich gespannt; ({18}) ich fürchte aber, die CDU/CSU-Fraktion hängt in längst überholten Denkmustern fest. Nancy Faeser hingegen ist auf der Höhe der Zeit, und ich bin sehr froh, dass wir endlich eine Innenministerin haben, die klare Kante gegenüber der schwierigsten Bedrohung in unserem Land zeigt, nämlich dem Rechtsextremismus. ({19}) Mit dem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus wird die Entwaffnung von militanten Neonazis, Reichsbürgern und Rassisten endlich konsequent vorangetrieben. Das Demokratiefördergesetz wird ein Meilenstein für die Präventionsarbeit und politische Bildung sein. Unsere Devise ist damit klar: Zivilgesellschaft stärken und keine Toleranz gegenüber Rechtsextremisten! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Sie sehen doch: Wir haben viel vor in der Koalition.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin!

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wäre schön, wenn Sie uns dabei unterstützen würden, anstatt mit irgendwelchen Ablenkungsmanövern Ihre missratene Politik im Innenbereich zu vertuschen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hess für die AfD-Fraktion; er ist dort oben. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Die Innenministerin der Bundesrepublik Deutschland und damit die oberste Dienstherrin der Sicherheitsbehörden des Bundes ist für jeden offensichtlich eine Antifa-Freundin. Das ist unerträglich, insbesondere für all jene Beamten, die unseren Staat und unsere Gesellschaft auf der Straße verteidigen und dafür von genau jener Antifa mit Flaschen, Steinen und Brandsätzen angegriffen werden. ({0}) Darüber hinaus setzt diese Ministerin auch die völlig falschen Prioritäten in der Innenpolitik, weil sie anscheinend selbst einem linksextrem beeinflussten Weltbild anhängt. Und deshalb müssen wir eines klar konstatieren: Die Bundesinnenministerin ist ein Sicherheitsrisiko für Deutschland. ({1}) Bei der Beurteilung von Demonstrationen legt sie eine unerträgliche Doppelmoral an den Tag: Regierungsfreundlicher Protest ist in Ordnung, aber regierungskritischer Protest wird als rechtsextrem diffamiert. Bei den Fridays-for-Future-Versammlungen lief die Ministerin selbst mit und machte sogar auf Twitter Werbung dafür, ({2}) obwohl die Initiatoren offen mit Linksextremisten kooperierten. Aber wenn im ganzen Land Hunderttausende Bürger gegen die überzogenen Coronamaßnahmen der Regierung friedlich protestieren, ({3}) ruft diese Innenministerin die Bürgervertreter zum Verzicht auf das Demonstrationsrecht auf. Dazu kann ich nur eines ganz klar sagen: Das Demonstrationsrecht gilt in Demokratien auch und insbesondere für Regierungskritiker, und das werden wir uns von niemandem nehmen lassen. ({4}) Eine massive Fehleinschätzung der Innenministerin erleben wir auch bei der Extremismusbekämpfung. Die Ministerin erklärt den Rechtsextremismus zur größten Gefahr und widmet seiner Bekämpfung die höchste Priorität. Im Innenausschuss hat sie dabei gestern sogar allen Ernstes behauptet, dies würden die Zahlen belegen, und dabei ist genau das Gegenteil richtig. Laut Europol-Statistik gab es in Europa zwischen 2015 und 2020 26 rechtsterroristische Anschläge mit zehn Toten; im selben Zeitraum verübten aber islamistische Terroristen 107 Anschläge mit 382 Toten. Wir haben in Deutschland 73 rechtsextremistische, aber 554 islamistische Gefährder, und letztes Jahr hat der Generalbundesanwalt bis Oktober 210 Ermittlungsverfahren mit islamistischem Terrorbezug eingeleitet, aber nur 5 Ermittlungen gegen Rechtsextremismus. Allein der Rizinbombenanschlag von Köln hätte 13 500 Todesopfer und noch einmal so viele Verletzte fordern können, wenn ihn unsere Sicherheitsbehörden nicht verhindert hätten. Deshalb belegen diese Zahlen eindeutig: Der islamistische Terror ist die größte Sicherheitsgefahr in unserem Land, und dem müssen wir unsere oberste Priorität widmen. ({5}) Gestern wurden hier mehrmals die Namen der Opfer von Hanau vorgelesen. Die Namen der Opfer des islamistischen Terroranschlags vom Breitscheidplatz wurden im Bundestag noch nicht ein einziges Mal erwähnt. ({6}) Ihre Namen sind: Anna und Georgiy Bagratuni, Sebastian Berlin, Nada Cizmar, Dalia Elyakim, Christoph Herrlich, Fabrizia Di Lorenzo, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Lukasz Urban und Peter Völker. Und ich sage Ihnen eines in aller Deutlichkeit: Auch alle Opfer dieses barbarischen islamistischen Terrors haben unser Gedenken verdient. ({7}) Eine Bundesministerin, die sich beharrlich weigert, den islamistischen Terror als größte Sicherheitsgefahr für Deutschland zu benennen, die will nicht die Sicherheitslage verbessern, sondern ihre links-grüne Ideologie durchsetzen. Das belegt auch Nancy Faesers Nähe zum Linksextremismus, woran kein Zweifel bestehen kann. Sie hat wenige Monate vor ihrer Ernennung im „antifa“-Magazin einen Beitrag veröffentlicht. In derselben Ausgabe wurde brutale linksextremistische Gewalt als Selbstschutz gerechtfertigt, wurden unsere Sicherheitsbehörden als Komplizen von Rechtsextremisten diffamiert. Nicht einmal jetzt ist sie dazu bereit, sich vom „antifa“-Magazin zu distanzieren, und darüber hinaus hat sie sich 2016 auch noch offen mit Antifa-Mitgliedern abbilden lassen. Wer so offen seine Nähe zum Linksextremismus demonstriert, kann und darf das Bundesinnenministerium nicht leiten. ({8}) Die Innenministerin hofiert die Polizeifeinde von der Antifa und spricht dem friedlichen Protest kritischer Bürger die Berechtigung ab. Sie will die Plattformen des freien Meinungsaustauschs zensieren oder sogar abschalten, und sie kündigt eine Koalition der Willigen für noch mehr Asylzuwanderung nach Europa an, obwohl die eigenen Sicherheitsbehörden massiv davor warnen. Mit all dem missachtet sie bewusst und gewollt die fundamentalen Freiheitsrechte und vitalen Sicherheitsinteressen der Bürger unseres Landes. ({9}) Deutschland braucht keine Antifa-Ministerin, sondern einen Innenminister, für den die Freiheit und die Sicherheit der Bürger oberste Priorität genießen, und deshalb sollte die Innenministerin so schnell wie möglich ihren Stuhl räumen. Eine links-grün-rote Ideologin –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Hess.

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– ist im Haus des Bundesinnenministers fehl am Platz. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union! Die ersten vier Worte Ihres Titels für diese Aktuelle Stunde „Rechtsstaatlichkeit wahren, Demokratie schützen“, das sind ganz zentrale Forderungen. Die unterschreiben wir hier heute sofort mit allem Nachdruck. Vielen Dank, dass Sie diese Eule nach Athen getragen haben! ({0}) Unterhalb dieser Selbstverständlichkeit kommt dann das, worum es Ihnen hier heute in Wirklichkeit geht, und das ist bestenfalls irdisch: Sie möchten hier noch einmal Ihre Zitate, die Sie letzte Woche der Presse gegeben haben, laut machen, falsche Vorwürfe wiederholen und Regierungsmitglieder in ein falsches Licht stellen. Dem treten wir hier deutlich entgegen, und diese plumpen Versuche, Mitglieder der Bundesregierung zu diskreditieren, weisen wir aufs Schärfste zurück, meine Damen und Herren. ({1}) Ich sage es hier auch in der Sache noch einmal klipp und klar: Unangemeldete Blockaden auf Autobahnen stellen selbstverständlich eine massive Gefährdung für Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer und Einsatzkräfte dar; das kann ich auch aus meiner früheren beruflichen Erfahrung sagen. Angesichts solcher Gefahren ist auch das Versammlungsrecht unmissverständlich. Jede Form des Protestes hat die Verantwortung dafür auszuschließen, dass Menschen gefährdet werden oder dass gar jemand zu Schaden kommt. Nichts anderes hat im Übrigen auch die Bundesumweltministerin im Kern ausgeführt, und zwar völlig unmissverständlich. ({2}) Das konnte jeder, Herr Amthor, der sich die Frage und die Antwort zusammen angehört hat und ein ernsthaftes Interesse daran hatte, auch erkennen. Und wer Zitate in sinnentstellender Weise aus dem Zusammenhang reißt ({3}) oder nach der Überschrift aufhört, zu lesen, und damit versucht, Zweifel am Rechtsstaatsverständnis einer Bundesministerin zu streuen, der sollte mal besser sein eigenes Rechtsstaatsverständnis hinterfragen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, das, was Sie hier abziehen, ist so lächerlich wie durchschaubar. Das alles sagt mehr über Sie selbst aus als über die Angegriffenen. Es ist wirklich enttäuschend – und das meine ich aus tiefstem Herzen –, ({5}) wie Sie versuchen, mit solchen Manövern, die in der Sache völlig ins Leere laufen, billige Punktgewinne am rechten Rand zu erzielen. Als wir diese Koalition eingegangen sind, ging es uns natürlich darum, unser Land inhaltlich voranzubringen, aber eben auch eine politische Kultur des gegenseitigen Respekts und des Anstands zu etablieren. ({6}) Dazu will ich Ihnen mal ein Beispiel nennen. Als Friedrich Merz Anfang Januar seinen Gastbeitrag im „Focus“ veröffentlichte, stand dort die Überschrift – ich zitiere – „Corona-Angstszenarien treiben immer mehr normale Bürger in den gewaltsamen Protest“. Wäre das ein Beitrag einer Grünen gewesen, hätten Sie nach der Überschrift aufgehört, zu lesen, und erst einmal laut „Skandal!“ geschrien. Aber Lesen bildet ja bekanntlich, und deshalb haben wir uns den ganzen Text angeschaut und festgestellt, ({7}) dass man Friedrich Merz ganz sicher nicht unterstellen kann, gewaltsame Proteste zu legitimieren, wie das die Überschrift vielleicht suggeriert. ({8}) Aber im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir danach keine Aktuelle Stunde beantragt, ({9}) um Zweifel am Rechtsstaatsverständnis Ihres heutigen Fraktionsvorsitzenden zu streuen. ({10}) Denn wir als Ampelkoalition suchen die Auseinandersetzung mit Ihnen in der Substanz und nicht in übler Nachrede. ({11}) In diesem Sinne weisen wir entschieden jeden Versuch Ihrerseits zurück, Mitglieder dieses Kabinetts in die Nähe von Rechtsstaats- und Demokratiefeindlichkeit zu rücken. ({12}) Was Sie insinuieren, ist eine Unverschämtheit, und es wäre gut, wenn Sie wenigstens den Anstand hätten, sich dafür zu entschuldigen. ({13}) Wir wissen – und das spüren wir hier bei jeder Ihrer Reden –: Die Oppositionsrolle ist neu für Sie. ({14}) Aber Sie werden feststellen – lassen Sie sich das von einer erfahrenen Oppositionspolitikerin einmal sagen –, dass die Menschen von Ihnen mehr erwarten als durchschaubare Aktionen zur Herabwürdigung von Mitgliedern der Bundesregierung. ({15}) Lassen Sie uns ernsthaft – und das meine ich wirklich so – um Inhalte streiten, um die besten Konzepte! ({16}) Damit gewinnen Sie auch Profil in der öffentlichen Debatte. Inszenierte Scharmützel interessieren da draußen niemanden, ({17}) und das völlig zu Recht, wie ich finde, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Martina Renner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! In den vergangenen Jahren haben mehr als 100 Menschen, überwiegend Frauen, die sich in der Öffentlichkeit gegen Neonazis engagieren, Drohbriefe mit Mord- und Gewaltfantasien bekommen, ({0}) unterzeichnet mit „NSU 2.0“. Diese Frauen wie Seda Basay-Yildiz, Idil Baydar oder Nancy Faeser wurden mit dem Tod bedroht, weil sie Demokratie und Rechtsstaat aktiv verteidigen. Allen, die täglich gegen Rassismus, Antisemitismus und Frauenhass Stellung beziehen, muss unser Dank gelten. ({1}) Die CDU/CSU attackiert mit der VVN-BdA stellvertretend diese Engagierten, die aus Überzeugung Antifaschisten und Antifaschistinnen sind. Antifaschismus erfordert Haltung und ist nicht beliebig. ({2}) Es reicht nicht, in Sonntagsreden den Gestus der harten Hand gegen rechts zu postulieren oder politische Allgemeinplätze zu verkünden. Antifaschismus bedeutet die unversöhnliche Gegnerschaft zu neuen und alten Neonazis mitsamt ihren politischen Wegbereitern. ({3}) Antifaschismus bedeutet Solidarität mit denen, die von Nazis bedroht werden, und den aktiven Einsatz dafür, dass diese Menschen geschützt und Nazis zurückgedrängt werden. ({4}) Und Antifaschismus bedeutet auch, die infamen Behauptungen, die Nazis seien auch irgendwie so was wie Sozialisten, ({5}) zu enttarnen als das, was sie sind: schamlose Geschichtsfälschung und Verkehrung von Opfern und Tätern. Wenn solche Lügen auch in bundesdeutschen Zeitungen stehen, sagen wir: Wir weisen solche Lügen zurück! ({6}) Liebe Demokraten und Demokratinnen in diesem Haus, wir befinden uns in der Woche des Jahrestages des Anschlages von Hanau. Neun junge Menschen wurden von einem Rassisten aus Hass ermordet. Rassismus und die damit einhergehende Bedrohung von Menschen ist Alltag in dieser Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund finde ich es unerträglich, dass die Union in dieser Woche gemeinsam mit der AfD die Hetzkampagne weiterführt, die von der extrem rechten „Jungen Freiheit“ und der Springer-Presse losgetreten wurde. ({7}) Die Demokratie schützt nicht – und damit meine ich Sie –, wer mit Rassisten und Antisemiten in der AfD gemeinsame Sache macht und neurechten Postillen politische Macht gibt. ({8}) Sie, die CDU/CSU und die AfD, sitzen jetzt gemeinsam rechts im Plenum, und ich finde, da sitzen Sie gut. ({9}) Eine Bemerkung will ich mir an der Stelle nicht verkneifen: Unter Merkel hätte es so eine Aktuelle Stunde nicht gegeben. ({10}) Wir für unseren Teil bleiben Antifaschistinnen und Antifaschisten. Wir erhalten das Andenken der Opfer und Überlebenden des faschistischen Terrors und das der Widerstandskämpfer/-innen aufrecht. Wir sind stolz darauf, dass in unseren Reihen so viele – wie ich selbst – Mitglied in der VVN-BdA sind. ({11}) Und wir werden nicht ruhen, bis der Schwur von Buchenwald, eine Welt ohne Nazis und Krieg, Realität geworden ist. Weil Sie vorhin auch schon wieder reingerufen haben: „Aber der Verfassungsschutz meint …“, will ich Ihnen etwas sagen: ({12}) Es ist eine Farce, sich in dieser Frage auf eine Behörde zu beziehen, die qua Auftrag und Geschichte Linke diffamiert und Rechte schützt. ({13}) Meine Damen und Herren, zum zweiten Teil des Titels Ihrer Aktuellen Stunde. Die Demokratie in Deutschland ist wahrlich nicht gefährdet, wenn sich junge Menschen für die Belange der zukünftigen Generationen oder soziale Gerechtigkeit auf die Straße setzen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Deutschland sind bedroht von Neonazis, Rassisten und Antisemiten, von rechten Mobs, die mit Fackeln vor Häusern von Politikern und Politikerinnen aufmarschieren. Dagegen müssen wir die Demokratie verteidigen! ({14}) Sie muss verteidigt werden gegen die extrem rechte Hetze in den sozialen Medien. Sie muss verteidigt werden gegen die im Parlament sitzenden Stichwortgeber rechter Gewalt. Sie, die CDU/CSU, greifen die Innenministerin dafür an, dass sie als SPD-Abgeordnete in Hessen genau das getan hat: die Demokratie zu verteidigen. Ich finde, Sie sollten sich für diese Aktuelle Stunde schämen! ({15})

Sandra Bubendorfer-Licht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004956, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ausgerechnet die Unionsfraktion eine Aktuelle Stunde zum Thema Haltung anmeldet, das hat mich durchaus erheitert, ausgerechnet diese Fraktion, die es selbst mit Haltung in den letzten 16 Jahren nicht so genau genommen hat. ({0}) Klüngel, Pöstchengeschacher, Mautdesaster, Maskendeals – mir fallen so viele Beispiele ein, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Fakt ist: Haltung ist eines der Themen, wo die Union uns als Fortschrittskoalition wirklich gar nichts mit auf den Weg geben kann. ({1}) Dabei ist sie so wichtig. Eine geradlinige und klare Haltung ist der Grundpfeiler für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Da es eine Aktuelle Stunde ist, lassen Sie uns jetzt hier ganz aktuell werden. Dazu schauen wir am besten in meine bayerische Heimat. Haltung zeichnet sich durch Geradlinigkeit aus. „Geradlinigkeit“ ist ein Wort, welches Markus Söder vermutlich nicht mal im passiven Wortschatz hat. ({2}) An einem Tag ist er im Team „Vorsicht“, am anderen Tag im Team „Revoluzzer“. Haltung ist, was opportun ist. ({3}) Diese Show- und Beliebigkeitspolitik ist Gift für unsere Demokratie und den Rechtsstaat; denn damit gefährdet man das Vertrauen in unser System, bestärkt Zweifel und lässt das Gefühl von Willkür aufkommen. ({4}) Die Ausgangssperren in Bayern sind ja ein gutes Beispiel. Markus Söder, damals Team „Vorsicht“, verschärfte die Bund-Länder-Vereinbarung massiv und sperrte die Bürgerinnen und Bürger grundlos zu Hause ein. Das sehe nicht nur ich so, sondern auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eindeutig so in seinem Urteil im vergangenen Jahr. ({5}) Noch aktueller ist Ihr Geeiere bei der berufsbezogenen Impfpflicht. ({6}) Wenn man vor zwei Monaten noch einem Gesetz sowohl hier im Hohen Hause als auch im Bundesrat zustimmt und vehement dessen Umsetzung fordert, ({7}) man nun aber nichts mehr davon wissen will und Ankündigungen macht, dieses Gesetz de facto nicht zur Anwendung kommen zu lassen, ({8}) ist das, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in diesem Land. ({9}) Sie müssen uns als Ampelkoalition sicherlich nicht erklären, wie Freiheitsrechte und Grundrechte zu wahren und zu schützen sind. Dass Sie nun versuchen, die Thematik rund um die Straßenblockaden ({10}) und den Beitrag von Frau Faeser auszuschlachten, zeigt doch eines sehr deutlich: Sie müssen Ihre Rolle in der Opposition noch immer finden. ({11}) Und es wurde höchste Zeit, dass die Fortschrittskoalition das Regierungsruder in diesem Land übernommen hat. ({12}) Innerhalb der Koalition sind wir uns absolut einig, dass Straßenblockaden, die Rettungskräfte behindern und Menschen in Gefahr bringen, völlig indiskutabel sind. ({13}) Und damit nicht genug: Wenn es mit schrillen pauschalen Anschuldigungen nichts wird, dann skandalisieren Sie jede Kleinigkeit. Nichts anderes tun Sie gerade bei Bundesministerin Nancy Faeser und ihrem Beitrag. Ich persönlich möchte mir nicht ausmalen, was es mit einem Menschen macht, der ein Drohschreiben eines NSU 2.0 erhält, bei dem man um das eigene Leben fürchten muss. Diesen Vorgang aber nun so zu drehen, dass sie als Innenministerin in einem Antifa-Magazin geschrieben hätte, ist mehr als konstruiert. Frau Faeser hat sich in Hessen sehr verdient gemacht in ihrer Arbeit rund um den NSU-Untersuchungsausschuss, und auch inhaltlich hat sie in ihrem Beitrag den richtigen Ton gefunden. Hierbei hätte ich mir von Ihnen als Unionsfraktion etwas mehr Demut gewünscht, gerade im Hinblick auf Personalien aus Ihren eigenen Reihen, wie zum Beispiel Herrn Maaßen. ({14}) Wir als Fortschrittskoalition sagen jeglichem Extremismus den Kampf an, egal ob von rechts oder links oder ob religiös motiviert, ({15}) und in Bundesinnenministerin Nancy Faeser haben wir dabei eine echte Unterstützerin. Das haben wir in unserem Koalitionsvertrag festgehalten, und das werden wir gemeinsam auch umsetzen. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, lassen Sie uns endlich wirklich zu den relevanten und dringlichen Themen in der Innenpolitik kommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kollegin!

Sandra Bubendorfer-Licht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004956, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von diesen gibt es nach 16 Jahren unionsgeführtem Innenministerium nämlich genügend. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich las den Titel der Aktuellen Stunde und ging davon aus, es sei ein Antrag der AfD-Fraktion. Dann sah ich, dass er von der Union kam. Das sagt, glaube ich, viel über den Hintergrund dieser Aktuellen Stunde. ({0}) Sie nutzen diese ja, um im McCarthy-Stil einen Angriff wegen eines Artikels von Nancy Faeser im Magazin „antifa“ zu reiten. Dazu stelle ich Folgendes fest: Erstens. Ich habe selbst unlängst mit dem VVN-BdA gegen die Instrumentalisierung und Leugnung des Holocaust von Querdenkern in meiner Stadt Wuppertal demonstriert. Und ich habe das bewusst und stolz gemacht. ({1}) Ich machte das in der Tradition von Esther Bejarano, die in der Vergangenheit, bevor sie starb, dort immer Stellung bezog und das zusammen mit Microphone Mafia machte. Ich frage mich: Wo war bei diesen Demonstrationen gegen die Leugnung des Holocaust die Union? Nicht da. Zweiter Punkt. Das wurde schon erwähnt: Richtigerweise finden sich die Namen von Finanzminister Boddenberg, Altoberbürgermeisterin Roth und vom Antisemitismusbeauftragten Becker auf der Frankfurter Erklärung zusammen mit der Unterschrift des VVN-BdA. Recht so und gut so! Wie reagieren Sie darauf? Parteiausschluss, Ordnungsverfahren, Sanktionen gegen diese Personen, weil sie sich solidarisch mit VVN-BdA für eine demokratische Gesellschaft einsetzen? Dritte Frage, die ich aufwerfe: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat sehr deutlich seine Irritation zum Ausdruck gebracht, als zeitweilig dem VVN-BdA die Gemeinnützigkeit entzogen war. Er hielt das für nicht nachvollziehbar und ein falsches Signal. Und im Übrigen ermahnte er die CDU, weil Herr Maaßen auffalle durch Antisemitismus und Volksverhetzung. „Ist nun Josef Schuster ein Propagandist, ein Apologet des Linksextremismus?“, frage ich. Ich fasse zusammen. Ihr Antrag ist vor allem eines – und das im doppelten Sinne –: Er ist trampelig, er ist tumb, dumm, und er ist zugleich in schierer Manier populistisch und trumpistisch. ({2}) Er ist ein Ablenkungsmanöver von genug Skandalen, die ein Anlass für Aktuelle Stunden wären: Maskenskandal, Maskenbeschaffungsskandal, Augustus Intelligence, anderes fragwürdiges Finanzgebaren. Das alles ist interessant und diskussionswürdig, auch zum Beispiel das Organ „The Republic“, von dem das Mitglied des Zukunftsteams von Armin Laschet, Peter Neumann, sagte, das sei AfD-affiner Ramsch. Recht hat er! ({3}) Und ich erwähne noch etwas an dieser Stelle: Sie lenken nicht nur ab – das ist schon schlimm genug –, sondern machen das auch noch zwei Tage vor dem Tag des Gedenkens an Hanau und einen Tag nach Beginn des Prozesses um NSU 2.0. Und weil das noch nicht der Gipfel der Geschmacklosigkeit, Anstandslosigkeit, Pietätlosigkeit und Ruchlosigkeit – alles vier zusammen – ist, haben Sie die gestrige Debatte zu Hanau missbraucht, um ein Ablenkungsmanöver mit dem typischen Reizreflex gegen Linksextremisten zu fahren und Nancy Faeser zu attackieren. Das ist jenseits von jedem Anstand. ({4}) Wenn Sie Anstand im Leib hätten, dann würden Sie diese Energien einsetzen, um Peter Beuth zur Rede zu stellen; denn Peter Beuth, Innenminister in Hessen, sagt ja auf seiner Internetseite, seine Kernaufgabe sei die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Sagen Sie ihm doch, dass er seinen Job machen muss! Denn es gibt nirgendwo eine solche Gefährdung der Sicherheit, wie es bei den Opfern von Rassismus und Rechtsextremismus der Fall ist. Herr Beuth, machen Sie Ihren Job! Es ist Ihre verdammte Aufgabe, ihn dazu aufzufordern oder seinen Rücktritt zu fordern. ({5}) Damit komme ich zu dem entscheidenden Punkt, über den wir hier eigentlich sprechen müssten. Vor wenigen Tagen erschien ein Video der Berlinerin Dilan Sözeri, in dem sie folgenden Satz sagte: Ich wurde zusammengeschlagen, weil ich Ausländerin bin. – In dem Satz steckt alles, die entscheidende Wahrheit, die wir viel zu selten aussprechen, weil wir uns in Betroffenheitsfloskeln flüchten – manchmal gutmeinend –, weil wir von Versöhnung und allem anderen sprechen. Wir sprechen nicht das Entscheidende aus, und das Entscheidende – das sollten Sie sich wirklich ins Stammbuch schreiben lassen – heißt: Solingen, Hoyerswerda, Rostock, NSU, Kassel, Chemnitz und Hanau. Das ist die Linie. Das sind keine Versehen der Geschichte, keine Ausbrüche, keine Einzelfälle; das ist das entscheidende Problem in diesem Land. Wir haben nicht ein Antifa-Problem in diesem Land. Wenn wir mehr Antifaschismus in allen Strukturen hätten, wäre es nicht zu diesen Taten gekommen. ({6}) Nein, wir haben ein Faschismusproblem in diesem Land. Und mit solchen Anträgen vermindern Sie dieses Problem nicht; Sie tragen eher dazu bei, es zu verstärken. Demut fehlt Ihnen. Versuchen Sie es aber einmal selber! Hören Sie in sich hinein, überlegen Sie, dass in Ihren eigenen Reihen Menschen sitzen, die wissen, was Rassismus bedeutet und was Rassismus, Bedrohung und Gewalt aus Menschen machen!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erweisen Sie sich eine Sekunde lang denen würdig, die in zwei Tagen in Hanau sitzen werden und die erleben mussten, wie ihre Kinder ermordet wurden, die dann noch erleben mussten, wie sie selber mitsterben, weil die Ursachen nicht aufgeklärt werden, und die ein weiteres Mal ermordet werden, weil im Nachhinein so dilettantisch und unerträglich verschleiert wird, was geschehen ist! Es wäre Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Aktuelle Stunden dazu zu beantragen, nichts anderes. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde als Fraktion beantragt, um berechtigte Kritik an Bundesministerin Faeser und an Bundesministerin Lemke zu üben. Nach den Einlassungen, die wir hier aus der SPD-Bundestagsfraktion gehört haben, will ich für meine Fraktion aber auch noch mal deutlich sagen: Liebe Frau Abgeordnete Kaiser, es ist eine bodenlose Unverschämtheit gewesen, aus Anlass dieser Aktuellen Stunde uns eine Mitverantwortung am Tod unseres Parteifreundes Walter Lübcke zuzuweisen. Das ist unparlamentarisch. Das war eine bodenlose Frechheit. Sie sollten noch mal genau in das Manuskript gucken, das Sie da abgelesen haben. ({0}) Es kann nicht sein, dass, wenn wir hier das Verhalten der Innenministerin zum Thema machen und im Innenausschuss Fragen dazu stellen, die uns nicht beantwortet werden, Sie versuchen, uns ein Rechtsextremismusproblem zu attestieren, um von diesem Thema abzulenken. Das ist unparlamentarisch. Das ist in der Sache nicht gerechtfertigt, und das weisen wir auch zurück. ({1}) Ich sage Ihnen deutlich: Es ist nicht eine Unverschämtheit, dass wir als größte Oppositionsfraktion heute dieses Thema aufgerufen haben, ({2}) sondern es ist eine Unverschämtheit, dass Sie versuchen, sich hier wegzuducken. Wenn Sie, wie wir es im Innenausschuss gehört haben, der Unionsfraktion mit Verweis darauf, dass wir ein ungeklärtes Verhältnis zu Max Otte und zur WerteUnion hätten, die Berechtigung zur Kritik an Nancy Faeser absprechen wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben sofort gehandelt und den aus der Partei rausgeworfen. Der Maßstab für eine Bundesinnenministerin sollte nicht Max Otte sein, sondern das sollten Leute wie Wolfgang Schäuble, Thomas de Maizière und andere sein. Davon ist Frau Faeser im Moment sehr weit entfernt. ({3}) Sie kann heute aus persönlichen Gründen nicht hier sein; das respektieren wir. Wir akzeptieren aber nicht, dass unsere Fragen im Innenausschuss zu der Veröffentlichung, die Nancy Faeser in dieser Publikation im Umfeld der linksextremistisch beeinflussten Vereinigung VVN getätigt hat, im Innenausschuss nicht beantwortet werden. ({4}) Wir fragen: Wie kam die Kooperation eigentlich zustande? Wir fragen: Hat Frau Faeser eigentlich mal Beiträge, Spenden, weitere Grußworte an VVN gerichtet? War sie gar Mitglied? – Auf all das gibt sie keine Antwort. Und wir finden, dafür gibt es keinen plausiblen Grund. ({5}) Weil das hier aufkam, will ich noch mal deutlich sagen: Wir haben keine Kritik am Inhalt dieses Beitrages, sondern vor allem an dem Umgang der Innenministerin mit der Kritik. Wie kann man an dieser Stelle so dünnhäutig sein? Und vor allem: Wie kann man hier gleich auf eine Medienkampagne abstellen, nur weil eine Oppositionsfraktion Fragen hat, die Ihnen nicht passen? Das funktioniert so nicht. ({6}) Ich sage auch: Der Einsatz von Frau Faeser gegen den Rechtsextremismus, den wir respektieren und unterstützen, und auch ihre klare Haltung zur Gewalt gegen Polizisten im Dannenröder Forst, auf die sie verwiesen hat, sind richtig. Aber das ist keine Ausrede dafür, dass sie den kritischen Blick auf VVN vermissen lässt, den Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland haben. ({7}) Deswegen ist für uns klar: Eine Bundesinnenministerin muss ernst nehmen, wenn Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland einen kritischen Blick auf eine Vereinigung haben. Es ist eine Belastung auch für unsere Verfassungsschutzbehörden, das einfach beiseite zu wischen. ({8}) Es ist auch richtig, dass wir uns in dieser Aktuellen Stunde noch mal mit der Haltung von Frau Lemke zur Versammlungsfreiheit beschäftigen wollten. Ich sage Ihnen: Die Versammlungsfreiheit in Artikel 8 des Grundgesetzes ist ein hoher Wert in unserer Verfassung. Er ist wichtig für die Meinungs- und Debattenkultur in unserem Land. Aber genauso, wie das Bundesverfassungsgericht ein weites Verständnis der Versammlungsfreiheit immer bestätigt hat, hat das Bundesverfassungsgericht auch gesagt, dass die Versammlungsfreiheit ihre Grenzen in den Grundrechten und Rechten Dritter findet. ({9}) Wir finden, diese Grenze ist überschritten, und das kann Frau Lemke nicht einfach relativieren. ({10}) Die Grünen sagen, das sei ja kein Problem. Ich frage mich dann schon, warum Bundesminister Buschmann den Tweet abgegeben hat und aus aktuellem Anlass noch mal darauf hinweist, dass der zivile Ungehorsam eben kein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund in Deutschland sei. Das ist ein richtiger Punkt, Herr Minister, aber er richtete sich natürlich an Ihre grüne Amtskollegin. Und wir finden, dieser Hinweis kam völlig zu Recht. Wir unterstreichen das an dieser Stelle auch. ({11}) Ich sage Ihnen: So funktioniert Opposition in diesem Parlament, auch wenn es Ihnen nicht passt, dass wir das Verhalten der Minister an dieser Stelle kritisieren. Wir erwarten, dass Sie unsere offenen Fragen beantworten. Wir werden diese Themen weiter verfolgen. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind bewegte Zeiten, auch und gerade in der Innenpolitik. Rechtsextreme versuchen, die Verunsicherung der Bevölkerung in einer globalen Pandemie zu missbrauchen. Unsere Demokratie wird angegriffen. ({0}) Der Rechtsstaat wird delegitimiert, Frau von Storch. Wir sehen schlimmste Gewalt gegen die Polizei; der schreckliche Doppelmord von Kusel hat unser Land erschüttert. Es gibt tausend sehr schwierige, gewichtige, relevante Themen in der Innenpolitik. Da ist es interessant, zu welchem Thema die Union eine der ersten Aktuellen Stunden hier beantragt. Und was thematisieren Sie? Die Kollegin Mihalic hat Ihnen das aufs Deutlichste erklärt, Herr Amthor: Sie reißen eine Aussage der Umweltministerin verfälschend aus dem Zusammenhang, ({1}) und Sie tun dies jetzt wieder. Und Sie versuchen, die Innenministerin über die Veröffentlichung eines Aufsatzes anzuschmuddeln. Das ist unterste Schublade, meine Damen und Herren. ({2}) Dieses ganze Vorgehen und auch, dass Sie es gestern in der Debatte zu Hanau – Kollege Lindh hat es gesagt – offenbar wichtiger fanden, ein Negative Campaining zu setzen, als am Jahrestag über diese entsetzlichen rassistischen Morde zu sprechen, ({3}) ist ein einziger innenpolitischer Offenbarungseid der CDU/CSU-Fraktion. ({4}) Die Vorwürfe gegen Frau Faeser waren von Beginn an abwegig, Herr Kollege Amthor, und Sie wissen das. Die Zahl von kommunalpolitisch Aktiven – auch das ist gesagt worden –, die mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes zusammenarbeiten, ist hoch, auch in der Union. Sie diffamieren mit Ihren abwegigen Kampagnen so auch noch ihre eigenen Bürgermeister und ehrenamtlichen Politiker/-innen. Das geht so nicht. ({5}) Was ist des Pudels Kern? In dem fraglichen Artikel macht Frau Faeser die rechtsextremistischen Beleidigungen und Bedrohungen des NSU 2.0 gegen sich öffentlich. ({6}) Das ist das Thema dieses Aufsatzes. Das tut die damalige Landtagsabgeordnete – und Sie alle wissen das – in einem Bundesland, nämlich Hessen, in dem Ihr Parteifreund Dr. Walter Lübcke, ehemaliger hessischer CDU-Landtagsabgeordneter und Regierungspräsident, nach genau solchen rechtsextremistischen Bedrohungen von Rechtsextremisten ermordet worden ist. ({7}) Ein solcher Vorgang, nämlich das Sich-Wehren einer Landtagsabgeordneten gegen diese ekelhaften, infamen und perfiden rechtsextremistischen Einschüchterungsversuche, verlangt unsere ganze parlamentarische Solidarität und politische Solidarität. ({8}) Einen solchen Vorgang parteipolitisch zu instrumentalisieren und hier zu skandalisieren, das ist unterirdisch, und das machen wir nicht mit. ({9}) Wenn das der neue Friedrich-Merz-Style Ihrer Fraktion ist und wenn das Aufwärmen von Kampagnen der „Jungen Freiheit“ hier stilprägend wird, meine Kollegen der Union, dann gute Nacht! Ein Satz zur AfD. Herr Hess, Sie stehen ja nun wirklich mit dem Flügel, mit Ihrer Jugendorganisation, mit Einzelpersonen, mit Ihren politischen Freunden national wie international im Fokus des Interesses sämtlicher Verfassungsschutzbehörden dieses Landes. ({10}) Der neueste Kronzeuge gegen Sie heißt Jörg Meuthen, Frau von Storch, ({11}) von der Gewalt auf Ihren Anticoronademos gegen die Polizistinnen und Polizisten in unserem Land mal ganz abgesehen. ({12}) Dass Sie die Chuzpe haben, sich in einer solchen Debatte mit Kritik gegen irgendwen überhaupt zu Wort zu melden, das schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich sage es noch einmal ganz deutlich: Dieses Parlament, der Deutsche Bundestag, braucht eine kritische, eine demokratische, eine inhaltlich-kompetente Opposition, gerade in der Innenpolitik, gerade in solchen Zeiten. ({14}) Eine deutsche Tea Party braucht kein Mensch in diesem Haus. ({15}) Deswegen bin ich nicht bereit, Sie aufzugeben. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun der Kollege Philipp Hartewig für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Philipp Hartewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier zu stehen, hier zu reden, hier zu gestalten, ist eine große Ehre, Ehre und zugleich Verantwortung für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Teil dieser Verantwortung ist es, unseren Rechtsstaat zu leben, zu respektieren, aber auch zu schützen, zu schützen vor Angriffen, egal aus welcher Motivation oder politischen Richtung. Insofern kann ich Sie, lieber Kollege Amthor, beruhigen: Nur weil wir in der Koalition richtigerweise den Rechtsextremismus als besondere strukturelle Gefahr für unsere Demokratie identifiziert haben und den Kampf dagegen intensivieren, gilt weiterhin: Kampf und Abgrenzung gegenüber jeglichem Extremismus ist Identität unserer Koalition. Egal ob von rechts, aus religiösen Gründen oder von links: Extremismus gilt es zu bekämpfen, und das werden wir tun. ({0}) Demokratie zu schützen, bedeutet aber auch, Versammlungsfreiheit als elementaren Teil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung politisch zu respektieren. Die letzten Monate haben gezeigt, dass die Versammlungsfreiheit unter Druck steht, egal aus welcher politischen Richtung diese genutzt oder gereizt wird. Dabei ist auch klar geworden: Pauschale Einschränkungen der Versammlungsfreiheit schaden unserem Rechtsstaat und gehen nach hinten los. Grundsätzliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, indem beispielsweise pauschale Beschränkungen von Teilnehmerzahlen im Rahmen der Coronamaßnahmen vorgenommen wurden, haben zulässigen Protest, aber auch Gegenprotest mitunter sehr erschwert. Dabei ist es besonders wichtig, dass größere Kundgebungen einerseits abgehalten werden, andererseits aber auch unmittelbar vom Gegenprotest auf diese reagiert werden kann, eben auch in einer Pandemie. Die in unserem Verfassungsstaat so bedeutsame Versammlungsfreiheit zeichnet aus, dass unterschiedlichste Anliegen gemeinsam friedlich vertreten und kundgegeben werden können. Diese Freiheit endet aber dort, wo Rechte und Rechtsgüter anderer erheblich beeinträchtigt werden. Wer sich nicht an Recht und Gesetz hält, kann sich auch nicht vollständig auf die Versammlungsfreiheit berufen und hat die folgenden Sanktionen als Konsequenz zu tragen. Damit bin ich schon bei den Straßenblockaden. Das Lahmlegen des Verkehrs ist maximal ein geeignetes Mittel, um sich des Unmuts des gesamten Volkes sicher zu sein. Die Blockierer schaden damit vor allem denjenigen, die von den Folgen der Blockaden unmittelbar betroffen sind: Berufspendlern, Rettungsfahrzeugen, Handwerkern, Zulieferern, also all denjenigen, die dringend gebraucht werden. ({1}) Die Blockierer schaden aber auch dem demokratischen Diskurs, indem sie für ihre Anliegen die Sachebene verlassen. Straßenblockaden sind nicht nur rechtswidrig, sie sind auch eine Respektlosigkeit gegenüber all denjenigen, die unser Land tagtäglich am Laufen halten. ({2}) Die Gesellschaftsaufgabe Demokratie ist für ein Funktionieren an einige Werte gebunden, Werte, die wir Bürger selbst mitbringen müssen: Vertrauen, Freiheitsliebe, aber auch Normentreue. ({3}) Werden solche Normen immer wieder bewusst überschritten und wird dieses Überschreiten bagatellisiert, so schadet dies auf Dauer dem demokratischen Diskurs und somit unserer Demokratie. Und genau jener Schaden wäre insbesondere Verfassungsfeinden willkommen, beispielsweise wenn sich Rechtsextremisten als Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung genau die Freiheiten jener Ordnung, die sie bekämpfen, zunutze machen und im Netz wie auf der Straße versuchen, verunsicherte und wütende Bürger zu radikalisieren. Gegen diese rechtsextremen Bedroher unseres Staates kommen wir mit entschlossenem Vorgehen voran, mit allen präventiven und repressiven Instrumenten, die sinnvoll, möglich, aber auch nötig sind in unserem Rechtsstaat. ({4}) Natürlich gilt das Vorgehen auch den anderen verfassungsfeindlichen Bestrebungen in unserem Land, so auch dem Linksextremismus. Linksextremismus ist kein aufgebauschtes Problem, sondern nicht nur in seinen zunehmend gewaltbereiten Facetten eine ernsthafte Bedrohung für Gesundheit und Eigentum des Einzelnen und für den Bestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung insgesamt. ({5}) Systematische Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten beispielsweise als Repräsentanten unseres Staates oder Brandstiftung unter dem Deckmantel anarchistischer oder kommunistischer Ideologie sind nicht zu verharmlosen und in ihren Zusammenhängen aufzuklären. Wir treten allen verfassungsfeindlichen gewaltbereiten Bestrebungen entschieden entgegen, ({6}) und so werden wir in dieser Legislatur im Wissen um die Vielzahl der Bedrohungen unserer Freiheit gegen verfassungsfeindliche Strukturen vorgehen. Wo der Grundsatz „Prävention vor Repression“ an seine Grenzen kommt, wird eine gut aufgestellte Sicherheitsarchitektur den Gefahren der Freiheit immer mindestens einen Schritt voraus sein. Eben auch für die Ausgestaltung dieser Instrumente ist es wichtig, auf keinem Auge blind zu sein, die Bedrohungen immer wieder und ehrlich zu benennen. Mit Ehrlichkeit und den richtigen Instrumenten im Rahmen einer ausgeglichenen Freiheits- und Sicherheitsbilanz werden wir alles dafür tun, dass die Akteure im Rechtsstaat ihre Arbeit machen können und die angestrebte Extremismuseindämmung am Ende Erfolg haben wird. Vielen Dank. ({7})

Matthias Helferich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005079

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der DDR-Bürgerrechtler und Literaturwissenschaftler Peter Krause im Jahr 2008 von der CDU als Thüringer Kultusminister vorgeschlagen werden sollte, startete schnell eine Kampagne von SPD und Linken gegen den Bewerber um das Ministeramt. Doch was war passiert? Der ehemalige Bürgerrechtsaktivist Krause hatte zehn Jahre zuvor für lediglich vier Monate in der liberal-konservativen Wochenzeitschrift „Junge Freiheit“ publiziert. Und was war die Konsequenz? Die Linken hetzten, man verfolgte Krause bis ins Private hinein, und Krause zog sich vom angestrebten Amt als Kultusminister zurück. Die CDU Thüringen stärkte ihm selbstverständlich nicht den Rücken, sondern erzitterte vor der linken Medienmacht, war sie doch damals schon ein Verein von pseudokonservativen Waschlappen. Der damalige thüringische SPD-Chef Christoph Matschie erklärte sodann siegessicher und hämisch feixend über die Rückgratlosigkeit der CDU: „Den Mann kann man nicht auf thüringische Schüler loslassen.“ Heute debattieren wir über eine Frau, die auf unsere Sicherheitsbehörden und auf unsere Polizisten losgelassen werden soll. Nancy Faeser publizierte für ein vom sogenannten Verfassungsschutz als linksextrem eingestuftes Magazin – dies nicht, wie Krause, zehn Jahre zuvor, sondern jüngst als Chefin der hessischen SPD. Wissen Sie, ich bin wahrscheinlich der letzte Abgeordnete in diesem Hause, der etwas auf die Bewertung eines zum Regierungsschutz pervertierten Verfassungsschutzes gibt. Aber wissen Sie, was mich umtreibt? Es ist die selbstgefällige Doppelmoral, die sich im Fall Faeser breitmacht. Es ist die Doppelmoral, die friedliche Spaziergänger und Kritiker der Coronafreiheitsbeschränkungen als Staatsfeinde einordnet und Klimaaktivisten, die Straßen blockieren und die anständige Leute auf dem Weg zur Arbeit behindern, zu Umweltschützern verklärt. Lassen Sie die friedlichen Spaziergänger in unserem Land in Ruhe, und kümmern Sie sich um die verfassungsschutzrelevanten Vorgänge in der Bundesregierung. Vielen Dank.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sonja Eichwede das Wort. ({0})

Sonja Eichwede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005049, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Alles staatliche Handeln ist an Recht und Gesetz gebunden. Ich freue mich, hier die Standpunkte meiner Partei aus rechtspolitischer Sicht ergänzen zu können; denn das Thema der Aktuellen Stunde „Rechtsstaatlichkeit wahren, Demokratie schützen“ soll nicht zu kurz kommen. Wir haben einigen aktuellen rechtspolitischen Anlass, um dieses Thema entsprechend zu beleuchten: Erstens. An Recht und Gesetz hat sich jeder in unserem Land zu halten, im Übrigen auch ein bayerischer Ministerpräsident. ({0}) Zweitens. Unser Ziel und unsere Überzeugung als Ampelkoalition und als SPD-Fraktion ist es, den Rechtsstaat zu schützen und zu hüten und auch die Demokratie zu schützen; denn nur zusammen kann dies gedacht werden. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, ich bin doch etwas überrascht, dass in dieser Debatte gar keine selbstkritischen Worte zu Fragen des Rechtsstaats von Ihnen angebracht werden – gerade in diesen Tagen. ({1}) Ich beziehe mich hier auf folgenden rechtlichen Sachverhalt: Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr beantragte ein Osnabrücker Staatsanwalt, der zugleich CDU-Mitglied ist, einen Durchsuchungsbeschluss für das Bundesjustizministerium, der durch einen Amtsrichter erlassen wurde, der auch CDU-Mitglied ist, und von der niedersächsischen Justizministerin Havliza, CDU, gebilligt wurde. An sich ist das gar kein Problem. Aber dieser Durchsuchungsbeschluss wurde beantragt, um ein Dokument zu erhalten, das sich bereits in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft befand. ({2}) Darauf folgte eine regelrechte Kampagne gegen den Kanzlerkandidaten meiner Partei Ihrerseits. Es ist noch keine Entschuldigung diesbezüglich erfolgt. ({3}) Vergangene Woche erklärte das Landgericht Osnabrück ebendiesen Durchsuchungsbeschluss für offensichtlich rechtswidrig. Das Beweismittel wurde nicht vorher, wie vorgeschrieben, schriftlich angefragt im Ministerium. Es lag keine Eilbedürftigkeit vor und keine Dringlichkeit. Es war nicht erforderlich, eben da sich das Schriftstück bereits in der Akte befand. Es war ferner unangemessen, da die Auswirkungen nicht im Verhältnis zu der Durchsuchung standen. Das steht alles in dem Beschluss des Landgerichts. Die Maßnahme sei ferner geeignet gewesen – ich zitiere den Beschluss –, „dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Institutionen einen nicht unbeachtlichen Schaden zuzufügen“. Die Durchsuchung eines Bundesministeriums ist ein beispielloser Vorgang und natürlich von erheblicher politischer Brisanz, gerade kurz vor der Bundestagswahl. ({4}) Dies wirft erhebliche Fragen an die CDU-Justizministerin in Niedersachsen auf. Es steht hier nicht weniger als eine politische Parteinahme in Verdacht und im Raum, um in den laufenden Wahlkampf einzugreifen. Die Union steckt hier knietief in einem Justizskandal und redet über Rechtsstaatlichkeit. ({5}) Ihr neuer Fraktions- und Parteivorsitzender und auch weitere führende Unionsmitglieder haben keine Gelegenheit ausgelassen, diesen erwiesenermaßen rechtswidrigen Skandal für den Wahlkampf zu instrumentalisieren. Dies ist unwürdig und bedarf einer Entschuldigung. ({6}) Zudem trägt der Vorsitzende der CDU nun Verantwortung, diesen Vorgang aufzuklären und nicht länger hierzu zu schweigen. Andernfalls ist dies unvereinbar mit dem Selbstbild der Union, eine Rechtsstaatspartei zu sein. Über den Rechtsstaat reden wir hier doch. Aber das Recht funktioniert nicht als Einbahnstraße, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({7}) Als Ampelkoalition haben wir hingegen uns vorgenommen, den Rechtsstaat in allen Gewalten zu stärken. In der rechtsprechenden Gewalt werden wir Gerichtsverfahren modernisieren und einfacher zugänglich machen. Wir werden den Pakt für den Rechtsstaat neu auflegen und um den Digitalpakt ergänzen. Wir werden in der ausführenden Gewalt, bei Behörden und Ministerien, Verfahren beschleunigen und die Digitalisierung vorantreiben. Und im Parlament werden wir für bessere Transparenzregelungen sorgen, damit Maskenskandale, an denen viele führende Unionspolitiker beteiligt waren, nicht wieder vorkommen. ({8}) Ich komme zum Schluss. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, ich kann Ihnen nur wünschen, dass Sie Ihre Rolle in der Opposition finden, dass Sie das Geschehene aufklären und dass Sie uns bei den eben genannten wichtigen Vorhaben für Justiz und Rechtsstaat unterstützen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! „Wir leben in herausfordernden Zeiten.“ Diesen Satz hört man heutzutage so oder so ähnlich in fast jeder zweiten politischen Rede. Die gute Nachricht ist: Es ist eine echte Chance für die Politik, in diesen Zeiten zu zeigen, was sie kann; sie kann zeigen, dass sie wirksam ist. Das sage ich nicht zuletzt im Hinblick auf die Ereignisse in der Ukraine oder auch, um die Herausforderung der Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Und: Ja, auch die Bundesregierung, die Ampelparteien haben diese Chance, Vertrauen bei den Bürgern für uns alle in der Politik zurückzugewinnen. Der Start war ja durchaus vollmundig: Es soll ein Aufbruch in eine neue, in eine moderne Zeit sein. Ich will Ihnen konstatieren: Ja, neu ist es in der Tat. Neu ist offensichtlich, dass unter dem Deckmantel einer Ideologie mittlerweile alles erlaubt scheint, auch – Entschuldigung! – in dieser Debatte. Anders kann ich die Redebeiträge aus den Ampelparteien in der Wortwahl, in der Aggressivität und in der verbalen Übergriffigkeit nicht deuten. ({0}) Zu den Beispielen: Erstes Beispiel. Die grüne Umweltministerin Lemke verteidigt Autobahnblockaden von Linksextremen in Berlin. ({1}) – Doch, Kollege von Notz, ich habe es gelesen. ({2}) Es ist eine Falschbehauptung, wenn Sie sagen, diese Aussage wurde aus dem Zusammenhang gerissen. Frau Lemke verteidigt das, und es ist in dem Moment völlig egal, ob bei dieser Blockade Ärzte durchkommen, Sanitätsfahrzeuge durchkommen, Menschen glücklich zur Arbeit kommen, und es ist im Übrigen auch egal, dass da eine Straftat begangen wird. Das zweite Beispiel. Die SPD-Bundesinnenministerin Faeser publiziert im Dezember einen Beitrag in dem Magazin einer linksextremistischen Vereinigung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. ({3}) Jetzt ist es schon verwunderlich, dass so etwas überhaupt passiert. Aber wissen Sie, was mich beschäftigt? Mich beschäftigt, dass der Umgang mit diesem Vorgang heute beschämend ist. ({4}) Frau Faeser sagt nämlich: Als Bundesinnenministerin würde ich das so nicht mehr machen. – Das widerlegt ein bisschen das, was Sie uns heute die ganze Zeit erzählen. Es heißt gleichzeitig, umgekehrt: Wenn ich morgen wieder normale Abgeordnete bin, dann würde ich das wieder machen. Jetzt muss man aber dazu wissen, dass die linksextremistische Vereinigung, die hinter diesem Magazin steht, eine Vereinigung ist, deren Leute Brandsätze auf Polizisten werfen, Steine auf Polizisten werfen, Autos anzünden, ({5}) Wohnungen und Häuser besetzen. Da will ich Ihnen von der SPD schon einmal sagen: Sie haben im Wahlkampf mit Respekt geworben. ({6}) Die eigentliche Frage ist doch dann schon, spätestens bei der Aufarbeitung dieses Vorgangs: Wo ist eigentlich der Respekt gegenüber den Polizeibeamten im Land? Wo ist eigentlich – bei der Aufarbeitung dieses Vorgangs – der Respekt gegenüber denjenigen Personen, deren Eigentum durch linksextremistische Gewalt beschädigt worden ist? ({7}) Ein drittes Beispiel. Schauen wir uns einmal Ihre Praxis der Stellenbesetzung an. Auch dort gönnt sich die Ampel einen großen Schluck aus der Pulle der Ideologie. Im Auswärtigen Amt bei Annalena Baerbock kommt jetzt die Geschäftsführerin von Greenpeace International zum Einsatz; sie wird dort Staatssekretärin. ({8}) Greenpeace ist, im Übrigen, eine Organisation, die ja auch immer nach dem Motto agiert: Der Zweck heiligt die Mittel. ({9}) Wie soll das eigentlich in einem Regierungsamt tragbar sein? ({10}) Im Wirtschaftsministerium ist es nicht anders: Ein Attac-Gründer und ein Energielobbyist kommen dort zum Einsatz. ({11}) Wissen Sie, Sie haben sich in der Opposition immer starkgemacht für ein Lobbyregister. Ehrlicherweise muss man sagen: Heute führen Sie es ad absurdum, weil bei Ihnen die Lobbyisten Staatssekretäre werden. ({12}) Deshalb, meine Damen, meine Herren, bleibe ich bei meiner Aussage vom Anfang: Es sind herausfordernde Zeiten, ({13}) und wir alle können etwas für die Glaubwürdigkeit der Politik tun. Mit diesen Stellenbesetzungsorgien und mit dieser Debatte heute und mit Ihrer Ignoranz gegenüber dem eigentlichen Problem werden Sie das allerdings nicht erreichen. Danke. ({14})