Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich bekanntzugeben, daß der Abgeordnete Dannemann mit Wirkung vom 1. Juli 1955 auf sein Mandat verzichtet hat, nachdem er zum Präsidenten des niedersächsischen Verwaltungsbezirks Oldenburg ernannt worden ist.
Als sein Nachfolger ist der Abgeordnete Graaff in den Bundestag eingetreten. Er nimmt heute an der Sitzung noch nicht teil.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 30. Juni 1955 die Kleine Anfrage 174 der Abgeordneten Dr. Leiske, Dr. Böhm ({0}), Horn und Genossen betreffend Personaleinschränkung bei der Bundesstelle für den Warenverkehr der gewerblichen Wirtschaft in Frankfurt ({1}) - Drucksache 1379 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1542 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem 30. Juni 1955 die Kleine Anfrage 178 der Fraktion der FDP betreffend Postzensur - Drucksache 1435 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1547 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 1. Juli 1955 die Kleine Anfrage 179 der Fraktion der SPD betreffend Ausweis- und Vergünstigungswesen für Körperbeschädigte - Drucksache 1454 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1548 vervielfältigt.
Der Herr Bundeskanzler hat unter dem 4. Juli 1955 die Kleine Anfrage 181 der Fraktion der SPD betreffend Äußerungen des Bundesverkehrsministers - Drucksache 1468 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1554 vervielfältigt.
({2})
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 1. Juli 1955 auf Grund des Beschlusses des Bundestages vom 23. Februar 1955 über die Maßnahmen zur Sicherstellung der Rentabilität der deutschen Filmproduktion berichtet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1546 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 28. Juni 1955 auf Grund des Beschlusses des Bundestages vom 19. Juni 1954 über den derzeitigen Stand der Überprüfung des geltenden Genossenschaftsrechts berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1544 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 4. Juli 1955 gemäß § 2 des Gesetzes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes vom 13. Juli 1948 ({3}) in Verbindung mit § 1 Abs. 3 der Reichsschuldenordnung die Anleihedenkschrift 1954 übersandt, die im Archiv zur Einsichtnahme aufliegt.
Vor Eintritt in die Tagesordnung erhält das Wort zu einer Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung der Abgeordnete Mellies.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben:
In der 93. Sitzung des Bundestages am Dienstag, dem 28. Juni 1955, hat ein Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion eine Bemerkung kritisiert, die der Herr Bundeskanzler vor der Presse in Washington über den Oppositionsführer gemacht hat. In diesem Zusammenhang sagte der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion:
Nun überlegen Sie einmal selbst: Glauben Sie, daß Sir Winston Churchill oder der jetzige britische Premierminister Eden, im Ausland gefragt, ob er Mr. Attlee irgendwo mit hinnehmen würde, antworten könnte, er müßte dann auf Mr. Attlee noch zu sehr aufpassen?
Erst aus dem gedruckten Sitzungsprotokoll ist
nachträglich ersichtlich geworden, daß der Abgeordnete Kiesinger an dieser Stelle den Zwischenruf
machte: „Er hätte ja auch keinen Grund."
({0})
Namens der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands habe ich hierzu zu erklären: Dieser offenbar auch von dem damals amtierenden Präsidenten überhörte Zwischenruf des Abgeordneten Kiesinger war ein niedriger Angriff auf die Ehre des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion,
({1})
und er hat die Würde des Bundestages gröblich verletzt.
({2})
Die schmähliche Unterstellung, deren sich der Abgeordnete Kiesinger schuldig gemacht hat, wird auf das schärfste zurückgewiesen.
({3})
Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde ({0}).
Ich rufe auf Frage 1. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menzel.
Ist dem Bundesfinanzminister bekannt, daß auf dem Bahnhof Bonn Reisenden aus dem Ausland vor 8 Uhr und nach 16 Uhr das Gepäck nicht ausgeliefert wird, da eine Zollabfertigung außerhalb dieser Zeiten nicht stattfindet, obwohl die meisten Züge aus dem Ausland erst nach 16 Uhr in Bonn eintreffen?
Geschieht das, um auch Reisenden aus dem Ausland den Charakter Bonns als provisorischer Bundeshauptstadt besonders deutlich vor Augen zu führen?
Das Wort zur Beantwortung hat der Herr Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen.
Herr Abgeordneter, für die Abfertigung von Reisegepäck ist beim Hauptbahnhof Bonn eine Zollabfertigungsstelle eingerichtet. Die Dienststunden der Zollabfertigungsstelle sind nach dem bisherigen Verkehrsbedürfnis auf folgende Zeiten festgesetzt worden: in der Hauptreisezeit, Juli bis September, wochentags 8 bis 20 Uhr, sonn- und feiertags 10 bis 12 Uhr; in den übrigen Monaten wochentags 8 bis 16 Uhr 30, sonn- und feiertags 10 bis 12 Uhr.
Aber auch außerhalb dieser Dienststunden kann eine Abfertigung stattfinden. In diesen Fällen benachrichtigt die Bundesbahn jeweils einen der in der Nähe des Hauptbahnhofs wohnenden Beamten des Zollamts Bonn, der die Abfertigungen durchführt. Solche Sonderabfertigungen wurden bisher nur sehr selten, etwa ein- oder zweimal im Vierteljahr, begehrt. Ein Bedürfnis für die Festsetzung einer durchgehenden Abfertigungszeit liegt daher bisher noch nicht vor. Ich glaube, daß die augenblickliche Regelung der Abfertigung dem jetzigen allgemeinen Verkehrsbedürfnis ausreichend Rechnung trägt.
Gesichtspunkte der in Satz 2 der Anfrage genannten Art sind bei der Regelung nicht berücksichtigt worden.
({0})
Darf ich eine Zusatzfrage stellen, Herr Präsident? - Herr Staatssekretär, ist diese Regelung, wonach die Zollabfertigung von 8 bis 20 Uhr stattfindet, nicht erst seit gestern in Kraft?
Herr Abgeordneter! Der Monat Juli hat gerade erst begonnen. Das Schild, das darauf hinweist, ist erst in diesen Tagen angebracht worden. Sie haben durchaus recht.
({0})
Darf ich eine weitere Zusatzfrage stellen? - Herr Staatssekretär, ist es möglich, die Beamten des Zolldienstes anzuhalten, daß sie die Reisenden auf die Möglichkeit einer Sonderabfertigung hinweisen, da die Reisenden von der Möglichkeit von Sonderabfertigungen bisher nichts gewußt haben?
Herr Abgeordneter, ein solcher Hinweis wird in Zukunft erfolgen.
Danke.
Ich rufe Frage 2 auf. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menzel.
Ist dem Bundespostminister bekannt, daß die als „Luftpost" ausgezeichnete und ausreichend frankierte Post nach und von Berlin vielfach mit den Interzonenzügen und nicht durch Flugzeuge befördert wird?
Das Wort zur Beantwortung der Frage hat der Herr Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen.
Herr Abgeordneter, im Verkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet werden Luftpostsendungen, die nach dem Abgang der letzten Flüge noch aufkommen, den Db-Zügen zugeführt, wenn sie durch diese Leitweise den Empfängern früher zugestellt werden können als bei einer Inanspruchnahme des Luftweges. Diese ausschließlich im Interesse der Postbenutzer liegende Maßnahme geschieht in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Weltpostvertrages. Sendungen, die den Vermerk „Nur mit Luftpost" tragen, werden ohne Rücksicht auf eine mögliche Verzögerung der Zustellung ausschließlich auf dem Luftweg befördert. Interzonenzüge werden zur Beförderung von Luftpostsendungen nicht benutzt.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr.
Ist dem Herrn Bundespostminister nicht bekannt, daß die Beförderung durch „Luftpost" vielfach auch aus Sicherheitsgründen, nicht nur aus Gründen der schnelleren Zustellung gewünscht wird?
Herr Abgeordneter, ich möchte annehmen, daß die Sicherheit bei beiden Verkehrswegen als gleich zu betrachten ist. Die Db-Züge, die von uns zur Postbeförderung benutzt werden, werden von amerikanischem Militär bewacht.
Danke.
Ich rufe Frage 3 auf. Das Wort hat der Abgeordnete Miller.
Ist es dem Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte möglich und ist er bereit, auf die obersten Dienstbehörden der Länder dahingehend einzuwirken, daß die Ausstellung der Flüchtlingsausweise „C" bei Gleichstellungsberechtigten nach Art. 131 GG nicht dadurch ungebührlich verzögert wird, daß beide Verfahren gekoppelt werden und dadurch weitgehende zeitliche und materielle Nachteile für den Betroffenen entstehen?
Das Wort zur Beantwortung hat Herr Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach § 4 Abs. 2 des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes in der seit dem 1. September 1953 geltenden Fassung können Personen, die nach dem in diesem Gesetz vorgesehenen Stichtag, dem 31. März 1951, im Bundesgebiet ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt genommen haben, durch die oberste Dienstbehörde den übrigen im Gesetz begünstigten Personen trotz Versäumung des Stichtages gleichgestellt werden, wenn sie die Voraussetzungen des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes erfüllen.
Gemäß § 15 des Bundesvertriebenengesetzes erhalten Sowjetzonenflüchtlinge im Sinne des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes den C-Ausweis. Die Entscheidung hierüber obliegt den Länderflüchtlingsbehörden. Die Flüchtlingsbehörden und
die obersten Dienstbehörden im Sinne des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes sind im allgemeinen nicht identisch.
Nach der derzeitigen gesetzlichen Regelung wird weder die oberste Dienstbehörde von der Nachprüfung der Flüchtlingseigenschaft im Gleichstellungsverfahren dadurch befreit, daß der Antragsteller einen C-Ausweis vorlegt, noch ist das Flüchtlingsamt bei der Ausstellung des Ausweises C an eine eventuelle vorher ergangene Entscheidung der obersten Dienstbehörde gebunden. Bei der im Gesetz begründeten gegabelten Zuständigkeits- und Verfahrensregelung bestand die Gefahr, daß zwei Behörden bei gleichem Sachverhalt und gleichen gesetzlichen Voraussetzungen zu verschiedenen Ergebnissen gekommen wären. Im staatspolitischen Interesse, aber auch im Interesse der Betroffenen wurde im Einvernehmen mit den obersten Bundesbehörden und den zuständigen Länderressorts im Verwaltungswege ein besonderes Koordinierungsverfahren eingeführt. Das Koordinierungsverfahren ist durch die Länder teilweise unterschiedlich, jedoch insoweit übereinstimmend geregelt, daß die oberste Landesflüchtlingsbehörde für die Koordinierung im Einzelfall zuständig ist. Die oberste Landesflüchtlingsbehörde ist danach diejenige Dienststelle, deren Beurteilung sowohl für das Flüchtlingsamt als auch für die oberste Dienstbehörde im Einzelfall hinsichtlich der Personen, die sowohl einen C-Ausweis als auch die Gleichstellung beantragt haben, maßgeblich ist.
Es wird nicht verkannt, daß das Koordinierungsverfahren zu einer gewissen Verzögerung des Ausweisverfahrens führt. Nach den Erfahrungen in meinem Ministerium läßt sich feststellen, daß sich das Koordinierungsverfahren nach anfänglichen Schwierigkeiten in zunehmendem Maße eingespielt hat und daß sich die Verzögerungen allmählich immer mehr auf die Fälle beschränken, in denen die Nachprüfung der Fluchtgründe wegen der besonderen Lage des Einzelfalles eine erhebliche Zeit in Anspruch nimmt. Ursächlich für Verzögerungen in solchen Fällen ist aber dann nicht mehr das Koordinierungsverfahren.
Zusammenfassend darf ich feststellen, daß die Notwendigkeit, ein Auseinanderfallen von Entscheidungen der obersten Dienstbehörden und Flüchtlingsbehörden zu verhindern, so schwer wiegt, daß die Möglichkeit einer Verzögerung bei der Ausstellung der C-Ausweise im Einzelfall in Kauf genommen werden muß.
Im übrigen werde ich weiter bestrebt bleiben, im Wege der ständigen Fühlungnahme mit den obersten Dienstbehörden und den Landesflüchtlingsverwaltungen noch bestehende Mängel auf dem hier in Frage stehenden Gebiet zu beseitigen.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen, Herr Präsident?
Bitte sehr!
Besteht eine Möglichkeit, diese Gabelung in der Zuständigkeit zu beseitigen und damit das Koordinierungsverfahren überflüssig zu machen?
Ja. Aber hierzu bedürfte es allerdings einer Gesetzesänderung. Diese könnte dadurch erfolgen, daß § 13 des
({0}) Bundesvertriebenengesetzes eine Ergänzung erhält, wonach die Entscheidung der Flüchtlingsbehörden über die Flüchtlingseigenschaft alle anderen Behörden bindet, die über Leistungen nach anderen Gesetzen an Flüchtlinge zu entscheiden haben. Es bestünde aber auch die Möglichkeit, durch Änderung des Gesetzes zu Art. 131 GG, des Lastenausgleichsgesetzes und der anderen Betreuungs- und Entschädigungsgesetze diese Bindungsfunktion in diesen Gesetzen zu normieren.
Darf ich eine weitere Zusatzfrage stellen, Herr Präsident?
Bitte sehr!
Ist die Bundesregierung bereit, in Bälde eine entsprechende Gesetzesvorlage z. B. zum Bundesvertriebenengesetz einzubringen?
Nach den bisherigen Erörterungen mit den Bundes- und Landesbehörden bestehen sehr verschiedene Auffassungen über diese Frage. Die Bundesregierung wird die Gelegenheit einer technischen Novelle zum Bundesvertriebenengesetz benutzen, um diese Frage zu prüfen.
Ich danke vielmals.
Ich rufe auf Frage 4. Das Wort hat der Abgeordnete Leonhard.
Ich frage den Herrn Bundesverkehrsminister:
Warum ist der einstimmige Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1954 immer noch nicht durchgeführt, nach welchem Straßenverkehrszulassungsordnung und Straßenverkehrsordnung dahin geändert werden sollten, daß auch Krankenwagen, die von jedem benutzt werden können, mit einem Kennscheinwerfer und Sondersignal ausgerüstet sein dürfen?
Das Wort zur Beantwortung der Frage hat der Herr Bundesministers für Verkehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die durch Beschluß des Bundestages vom 5. November 1954 gewünschten Änderungen der Straßenverkehrszulassungsordnung und der Straßenverkehrsordnung bezüglich der Kraftwagen sind in eine Verordnung eingearbeitet, die u. a. auch eine Reihe weiterer sehr dringender Probleme behandelt. Ich nenne dabei u. a.: das Verkehrsverbot für Lastkraftwagen an Sonn- und Feiertagen, das Vortrittsrecht der Fußgänger auf Fußgängerüberwegen, das Linksgehen der Fußgänger auf Landstraßen ohne Gehwege. Alle diese und noch andere notwendige Änderungen sind in dem Entwurf einer Rechtsverordnung zusammengefaßt worden, der vor einiger Zeit den Ländern zur Stellungnahme zugegangen ist. Die Beratungen mit den Referenten der Länder sind in einer abschließenden Besprechung am 5. Juli 1955 so weit gefördert worden, daß die Verordnung nunmehr dem Bundesrat zur Beschlußfassung zugeleitet werden kann. Ich bedauere, daß der Beschluß des Deutschen Bundestages sich nicht schneller hat verwirklichen lassen.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage, Herr Präsident?
Bitte sehr!
Herr Bundesverkehrsminister, wie weit sind die Vorarbeiten zur Einführung eines technisch einwandfreien Überholsignalgerätes, durch dessen Einführung bestimmt manche Unfälle verhindert werden könnten, gediehen?
Herr Abgeordneter Leonhard, das ist meines Erachtens keine Zusatzfrage, sondern eine neue Frage.
Herr Präsident, sie hängt mit der ersten Frage doch zusammen; denn wenn ein technisch einwandfreies Überholsignalgerät eingeführt wird, brauchen wir die Unfallwagen weniger einzusetzen.
({0})
Der Zusammenhang ist rechtlich nicht ganz überzeugend. Aber der Herr Bundesminister will trotzdem antworten.
Herr Abgeordneter Leonhard, der Verordnungsentwurf ist bereits vor längerer Zeit den Ländern zugegangen. Trotz Mahnung liegen aber noch nicht die Stellungnahmen aller Länder vor, so daß die abschließende Besprechung mit den Vertretern der obersten Landesverkehrsbehörden noch nicht angesetzt werden konnte. Dies dürfte jedoch in den nächsten Wochen möglich sein. Es bestehen, wie Sie wissen, in der Frage der Überholsignalgeräte sehr verschiedene Auffassungen, und deshalb haben die Länder wohl längere Zeit gebraucht, sich darüber ein Bild zu machen.
Danke schön.
Ich rufe Frage 5 auf. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Prinz zu Löwenstein.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß mit Wirkung vom 4. Mai 1955 durch einseitige Maßnahme der britischen Besatzungsmacht in der Gemeinde Auenhausen ({0}) rund 60 Morgen wertvollsten landwirtschaftlichen Grundbesitzes, der im Eigentum von Kleinlandwirten, zum größten Teil Kriegsgeschädigten und Spätheimkehrern, steht, beschlagnahmt wurden, ohne daß die Entschädigungsfrage auch nur berührt worden ist? Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um in Zukunft solches Vorgehen zu verhindern und die Betroffenen zu entschädigen?
Der Zusammenhang wortung der Frage hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen, Herr Abgeordneter, die Frage wie folgt beantworten:
Im März 1955 wurde eine britische Anforderung auf rund 15 Hektar Land in der Gemeinde Auen hausen ({0}) gestellt. In einem Er({1})
örterungstermin an Ort und Stelle im April dieses Jahres haben sich die deutschen Vertreter von der Notwendigkeit des Geländebedarfs überzeugt. Da es sich um eine für die Zwecke der europäischen Verteidigung eilbedürftige Angelegenheit handelte, wurde hierauf das Gelände für die britischen Streitkräfte am 4. Mai 1955 beschlagnahmt. Die Bundes- und die Landesregierung sind davon verständigt worden.
Die von der Beschlagnahme Betroffenen werden entsprechend den einschlägigen Bestimmungen entschädigt werden. Der Herr Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Nordrhein-Westfalen hat zugesagt, Ersatzgelände zur Verfügung zu stellen. Voraussichtlich wird die Bereitstellung von Ersatzland nicht mehr im vollen Umfange erforderlich sein, da seinerzeit von dem britischen Landeskommissariat mitgeteilt worden ist, daß das beschlagnahmte Gelände nicht auf die Dauer beansprucht werde, sondern nach Beendigung der Bauarbeiten zum Teil wieder aus der Beschlagnahme freigegeben werden könne.
Am 5. Mai dieses Jahres ist der Truppenvertrag über die Stationierung der Streitkräfte in Kraft getreten. Dieser Vertrag kennt Beschlagnahmen nicht mehr. Künftig werden daher solche nicht mehr möglich sein.
Herr Präsident, darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr!
Ist der Bundesregierung auch bekannt, daß sich inzwischen in der Gemeinde Lütgeneder ({0}) ein weiterer Fall von Landbeschlagnahme ereignet hat, als am und zum 20. Mai zirka 23 Morgen Land den Eigentümern, wiederum ohne daß die Entschädigungsfrage auch nur berührt wurde, für die Anlage einer Radarstation in Großeneder entzogen wurden?
Ich darf die Zusatzfrage wie folgt beantworten. Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß am 20. Mai, also nach dem Inkrafttreten des Vertrages, noch Beschlagnahmen durch die britische Armee stattgefunden hätten. Ich werde dem nachgehen; denn ein solches Vorgehen wäre unzulässig gewesen.
Ich danke Ihnen sehr, Herr Bundesminister.
Ich rufe Frage 6 auf. Das Wort hat wieder der Abgeordnete Dr. Prinz zu Löwenstein.
Wann gedenkt die Bundesregierung in entsprechende Verhandlungen einzutreten, um die durch die Verordnung Nr. 184 der Britischen Militärregierung vom 23. April 1949 an Holland und Belgien und die durch die Verordnung Nr. 262 der Französischen Militärregierung vom 23. April 1949 an Frankreich, Luxemburg und das Saargebiet mit Wirkung vom 29. April 1949 zur vorläufigen Auftragsverwaltung übergebenen deutschen Gebiete der Verwaltung der betroffenen deutschen Länder bzw. der Bundesrepublik zurückzuübertragen?
Das Wort zur Beantwortung der Frage hat der Herr Staatssekretär im Auswärtigen Amt.
Dr. Hallstein. Staatssekretär des Auswärtigen Amts: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bemüht, die Rückgabe der in der Anfrage erwähnten Gebiete zu erwirken. Die Bundesregierung hält dabei zweiseitige Erörterungen mit den in Betracht kommenden Nachbarländern für zweckmäßig.
Mit der belgischen und holländischen Regierung haben schon seit Jahren Erörterungen wegen einer endgültigen Regelung der Grenzfragen stattgefunden. Sie haben bisher jedoch zu keinem Ergebnis geführt. Es ist beabsichtigt, diese Verhandlungen fortzusetzen.
Die dem Saargebiet eingegliederte Gemeinde Kirrberg und ein Grenzstreifen bei Dunzweiler sind durch das Saarabkommen vom 23. Oktober 1954 einem bis zum Friedensvertrag gültigen besonderen Statut unterstellt worden. Ihr endgültiges Schicksal wird in dem Friedensvertrag zu regeln sein.
Herr Präsident, darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr!
Wird die Bundesregierung im Rahmen dieser Verhandlungen klar zum Ausdruck bringen, Herr Staatssekretär, daß die Rückgabe der genannten deutschen Grenzgebiete einen echten Prestigegewinn für die jetzt mit der vorläufigen Auftragsverwaltung betrauten Staaten und einen echten Beitrag zum europäischen Rechtsgedanken bedeuten würde?
Die Bundesregierung teilt die Auffassung, die Sie, Herr Abgeordneter, soeben ausgesprochen haben, und sie wird sie auch in den Verhandlungen, von denen ich gesprochen habe, klar zum Ausdruck bringen.
Ich danke Ihnen sehr, Herr Staatssekretär.
Ich rufe auf Frage 7. Das Wort hat der Abgeordnete Ritzel.
Ich frage den Herrn Bundesverkehrsminister:
Aus welchen Gründen läßt die Deutsche Bundesbahn noch heute, zehn Jahre nach Kriegsende, teilweise oder ganz zerstörte Güterwagen, Personenwagen und Lokomotiven der Bundesbahn auf Abstellgleisen stehen, ohne sie einer zweckentsprechenden Verwertung oder der Verschrottung zuzuführen?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verkehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten neun Jahren sind von der Deutschen Bundesbahn über 4000 Dampflokomotiven verschrottet und verkauft, über 6500 Reisezugwagen und über 116 000 Güterzugwagen verschrottet worden.
Die zur Zeit abgestellten Dampflokomotiven in einer Größenordnung von etwa 2600 Stück dienen
({0})
zur Hälfte als Reserve. Sie können kurzfristig wieder eingesetzt werden. Zum Teil werden sie nach und nach ausgeschlachtet, um die wertvollen Teile bei der Reparatur schadhaft gewordener Lokomotiven zu verwenden. So kann z. B. der Kessel einer abgestellten Dampflokomotive mit etwa einem Drittel der Kosten aufgearbeitet werden, die ein neuer Kessel erfordert, während sein Schrottwert unter 10 % des Neuwertes erbringt.
Die abgestellten Reisezugwagen gehören zu dem durchlaufenden großen Umbauprogramm, von dem bisher über 1000 solcher Fahrzeuge erfaßt wurden, die wieder zu betriebsfähigen, fast neuwertigen Fahrzeugen umgebaut sind und sich größtenteils wieder im Betrieb befinden. Die Abstellung erfolgt jeweils nach den Erfordernissen der Bereithaltung von Wagen für diesen Umbau.
Gleiches ist von dem größten Teil der abgestellten Güterwagen zu sagen. Sie werden im Zuge des Ersatzes der Gleitlager durch Rollager zu leistungsfähigeren, fast neuwertigen Fahrzeugen umgebaut. Dieses Umbauprogramm wird bis zur Vollendung noch längere Zeit erfordern. Zum Beispiel werden Güterwagen auch deshalb abgestellt, um sie nach und nach in den Reparaturwerkstätten auszuschlachten und dabei Ersatzteile bei der Ausbesserung schadhaft gewordener Güterwagen zu gewinnen.
Bei den Umbauprogrammen für veraltete Eisenbahnwagen sind im Vorjahr in den Ausbesserungswerkstätten rund 1100 Reisezugwagen und 1300 Güterzugwagen umgebaut und dem Betrieb wieder zugeführt worden.
Die Bestände an abgestellten Lokomotiven sind in den letzten Jahren erheblich vermindert worden. Schwierigkeiten gab es bei dieser Verminderung dadurch, daß die Fahrzeuge zum Teil nicht der Bundesbahn gehörten, sondern von den Alliierten aus verschiedenartigen Gründen beschlagnahmt waren und erst nach und nach von ihnen abtransportiert oder verschrottet wurden. Selbstverständlich können nicht alle Schadfahrzeuge sofort den Reparaturwerkstätten zugeführt werden, sondern sie müssen zum Teil vorübergehend abgestellt werden, um die Gleichmäßigkeit des Betriebes in den Ausbesserungswerkstätten zu gewährleisten. Infolgedessen fallen diese abgestellten Fahrzeuge dem reisenden Publikum auf.
Wiederholte Überprüfungen, die ich in den letzten Jahren habe vornehmen lassen, haben mir gezeigt, daß in dieser Zeit tatsächlich die abgestellten Fahrzeuge von der Bundesbahn relativ kurzfristig und wirtschaftlich zufriedenstellend verwertet wurden.
Eine Zusatzfrage!
Bitte sehr!
Halten Sie es für möglich, Herr Minister, daß die Bundesbahn die Energie entwickelt, um in jenen Fällen, in denen einwandfrei feststeht, daß nur noch eine Verschrottung in Frage kommt, dieses öffentliche Ärgernis auch im Interesse der Verbesserung der Finanzen der Bundesbahn so rasch wie möglich zu beseitigen?
Sicherlich, aber eben nur dann, wenn wir die Möglichkeit haben, die wertvollen Teile auszuschlachten, weil eine reine Verschrottung zweifellos einer Verschleuderung gleichkäme.
Eine Frage! - Bis wann, glauben Sie, ist dieser Prozeß endlich abgeschlossen?
Das ist kein Prozeß, verehrter Herr Abgeordneter Ritzel, der sich abschließen läßt, sondern dieser Prozeß erneuert sich dauernd und setzt sich immer wieder um. Denn die schadhaft werdenden Fahrzeuge müssen, wie ich sagte, zwischenzeitlich abgestellt werden, bevor über ihre weitere Verwendung - Aufarbeitung oder Verschrottung oder Ausschlachtung - entschieden werden kann, je nachdem, wie die Ausbesserungswerkstätten die Dinge übernehmen. Sie wissen, daß wir in der Zusammenlegung dieser Ausbesserungswerkstätten in den letzten Jahren vorangegangen sind, um die Rationalisierung der Bundesbahn zu fördern. Auch dadurch lassen sich natürlich gewisse Stauungen nicht vermeiden, die durch Abstellen auf den Eisenbahnstrecken auffallen.
Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Ich rufe auf Frage S. Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Ich frage den Herrn Bundesminister für Verteidigung:
Sind Sie der Auffassung, daß sich Ihre Position bei den laut BT-Drucksache 1361 vom 29. April 1955 bisher ergebnislosen Verhandlungen mit englischen Dienststellen wegen der Zerstörung des Naturschutzparks Lüneburger Heide durch Panzer-Fahrübungen dadurch verbessert hat, daß inzwischen der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik in Kraft getreten ist?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! herr Abgeordneter, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten. Der durch britische Truppenübungen in Anspruch genommene Teil des Naturschutzparks Lüneburger Heide liegt innerhalb des sogenannten ständigen Übungsgebiets Soltau. Dieses ist schon vor Jahren durch einseitigen Akt der Besatzungsmacht für Übungszwecke britischer Truppen in Anspruch genommen worden. Die Berechtigung der Streitkräfte, im Bundesgebiet Manöver und sonstige Übungen abzuhalten, ergibt sich heute aus Art. 19 des Truppenvertrags. Hierbei haben gemäß Art. 2 des Vertrags die Mitglieder der Streitkräfte das deutsche Recht zu beachten, das die Art und Weise der Inanspruchnahme des Gebiets bestimmt. Nach deutscher Auffassung sind die britischen Truppen nicht berechtigt, auf Grund des Art. 19 des Truppenvertrags das Gebiet in der bisherigen Weise für fortlaufende Übungen ständig zu benutzen. Hierüber wird mit der britischen Seite zur Zeit verhandelt. Eine Verbesserung meiner Position erblicke ich dabei darin, daß diese Verhandlungen auf Grund der abgeschlossenen Verträge nunmehr zwischen gleichberechtigten Partnern geführt werden.
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Abgeordneter?
Wenn ich bitten darf, Herr Präsident.
Bitte!
Wenn Sie sagten, Herr Bundesminister für Verteidigung, Ihre Verhandlungsposition habe sich gegenüber den bisher seit vier Jahren ergebnislos geführten Verhandlungen gebessert, darf ich mir dann die Zusatzfrage erlauben: Wann werden nach Ihrer Meinung diese Verhandlungen zu einem erträglichen und positiven Ende geführt sein?
Darüber kann ich Ihnen im gegenwärtigen Augenblick keine Auskunft geben. Wir sind in den Verhandlungen.
Ich rufe auf Frage 9. Das Wort hat wieder der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Ich frage den Herrn Bundesminister für Verkehr:
Trifft es zu, daß 50 bis 60 t schwere Panzer alliierter Truppen teilweise die Teilstrecken des deutschen Autobahnnetzes benutzen, und ist die Bundesautobahn nach ihrer Konstruktion solchen Beanspruchungen gewachsen?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verkehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die einschlägigen Bestimmungen des Art. 17 des Truppenvertrages geben den alliierten Streitkräften das Recht zur Benutzung aller deutschen öffentlichen Verkehrswege unter Befreiung von allen deutschen Vorschriften, die die Achslast und das Gesamtgewicht beschränken. Daher werden Strecken der Bundesautobahnen zeitweilig auch von schweren Panzern der Alliierten befahren. Soweit dabei die Panzer auf Spezialtiefladewagen befördert werden und dabei entsprechende Geschwindigkeitsbeschränkungen eingehalten werden, gleichen diese Transporte den Schwerlasttransporten, die gelegentlich auch für den zivilen Verkehr nach der Straßenverkehrszulassungsordnung genehmigt werden. In diesen Fällen sind nennenswerte Schäden an den Fahrbahndecken nicht eingetreten. Bewegen sich die Panzer jedoch mit eigener Kraft auf den Bundesautobahnen, so ist die Fahrbahndecke dieser außerordentlichen Beanspruchung nicht gewachsen. Insbesondere ist die Fahrbahndecke der Autobahn diesen Beanspruchungen dann nicht gewachsen, wenn die Panzer keine Gummistollen auf ihren stählernen Gleisketten verwenden. Auch treten dort besondere Beschädigungen der Fahrbahn auf, wo die Panzer auf der Autobahn gewendet werden. Soweit dabei Randstreifen, Bankette und Mittelstreifen befahren werden, sind diese Schäden natürlich umfangreicher.
Infolgedessen ist wiederholt an die alliierten Streitkräfte mit der Bitte herangetreten worden, dieses ihnen aus dem Truppenvertrag zustehende Recht nur in unbedingt notwendigen Fällen auszunützen und dabei stets die Gleisketten mit Gummischutzbelägen zu versehen. Art. 3 Abs. 1 des Truppenvertrages gibt die Handhabe, diese Bitte nachdrücklich vorzubringen. Selbstverständlich sind die Schäden, die durch fahrende Panzer an den Bundesstraßen und Landstraßen 1. und 2. Ordnung angerichtet werden, erheblich bedeutender als die Schäden bei den nur relativ selten in Anspruch genommenen Autobahnen. Gemäß Art. 9 des Finanzvertrages sind die Kosten für die Beseitigung aller dieser Schäden vom Bund zu tragen.
Eine Zusatzfrage bitte!
Bitte!
Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Minister, daß Sie auch nach Inkrafttreten des Truppenvertrages nur in der Lage sind, gegenüber den alliierten Dienststellen Bitten auszusprechen, nicht aber Vereinbarungen zu schließen, die eine Ramponierung des deutschen Straßennetzes ausschließen würden?
Dr:-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Ich glaube, daß das auch bei dem eigenen Militär nicht anders sein wird, Herr Kollege Schmidt.
({0})
Ich rufe auf Frage 10. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Lüders.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in zahlreichen Städten Deutschlands Bordelle und bordellähnliche Betriebe mit Wissen der Landesregierungen und der Ortsbehörden eingerichtet bzw. unterhalten werden?
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf die Frage wie folgt beantworten. Der Bundesregierung ist bekannt, daß in einigen Städten Deutschlands Wohngemeinschaften von Prostituierten bestehen, ohne daß sie darüber Auskunft geben kann, ob es sich dabei in allen Fällen um Bordelle oder bordellähnliche Betriebe im Sinne des Strafgesetzbuches handelt. Es ist anzunehmen, daß die Landesregierungen und die Ortsbehörden diese Wohngemeinschaften unter besonderer Kontrolle halten.
Nachdem alle strafrechtlichen Vorkehrungen für das Verbot solcher Bordelle oder bordellähnlichen Betriebe getroffen sind - es darf auf die Strafvorschrift des § 180 Abs. 2 des Strafgesetzbuches verwiesen werden - und auch im Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten die notwendigen Bestimmungen über die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten enthalten sind, obliegen alle weiteren Maßnahmen den zuständigen Landesbehörden, insbesondere der allgemeinen Polizei und den Staatsanwaltschaften. Die Bundesregierung hat auf diese Maßnahmen keinen Einfluß.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr!
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß sich Beamte, die zur Strafverfolgung berufen sind und Verstöße gegen das Strafgesetzbuch bewußt dulden, der Begünstigung im Amt schuldig machen und daß Beamte in Ländern oder Gemeindebehörden, die solche Straftaten bewußt fördern, sich der Beihilfe zu den in Frage kommenden Taten schuldig machen?
Es wird hier eine Frage nach der strafrechtlichen Qualifikation von Landesbeamten gestellt. Ich sehe mich nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten.
Darf ich noch eine Frage stellen?
Bitte sehr!
Welche Mittel stehen der Bundesregierung zur Verfügung, um die Länder und durch diese ,die Gemeindebehörden dazu anzuhalten, gegen fortgesetzte Verstöße gegen das Strafgesetzbuch durch Einleiten der Strafverfolgung vorzugehen, und welche Möglichkeiten hat der Staatsbürger, um seinerseits die Strafverfolgung in Gang zu bringen, wenn die zuständigen Behörden ein Einschreiten ablehnen, weil ihnen dieses trotz Kenntnis der Tatsache, daß schwerwiegende Straftaten begangen worden sind, nicht erwünscht erscheint?
Bei den von der Frau Kollegin behandelten Tatbeständen handelt es sich ausschließlich um Angelegenheiten, die die Exekutivorgane der Länder betreffen. Auch die Möglichkeiten des Staatsbürgers sind hier im Rahmen der Länderzuständigkeit gegeben.
Danke.
Ich rufe auf Frage 11. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mommer.
({0})
- An seiner Stelle Herr Abgeordneter Dr. Menzel.
Ich frage den Herrn Bundesinnenminister:
Wieviel heimatlosen Ausländern und nichtdeutschen Flüchtlingen wurde in den vergangenen Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit gewährt?
Wieviel Anträge auf Einbürgerung liegen aus diesem Kreise vor?
Nach welchen Grundsätzen werden sie bearbeitet, und welches ist die durchschnittliche Laufzeit eines Antrages?
Ich darf Ihre Frage, Herr Kollege, wie folgt beantworten:
Zu eins. Eine Bundesstatistik über die Einbürgerung von heimatlosen Ausländern und nichtdeutschen Flüchtlingen wird erst seit 1953 geführt. Es wurden im Bundesgebiet und in West-Berlin eingebürgert heimatlose Ausländer und ausländische Flüchtlinge 1953 - ich gebe gleich die Zahlen für die Bundesrepublik und West-Berlin zusammen an -: 266, 1954: 657.
Zu zwei. Die Einbürgerungen werden von den Ländern in eigener Zuständigkeit vollzogen. Der Bundesminister des Innern erteilt lediglich die Zustimmung, wenn die Länder beabsichtigen, dem Antrage stattzugeben. Es ist mir daher nicht möglich, die Zahl der den Länderbehörden vorliegenden Anträge anzugeben. In meinem Hause sind im Augenblick 91 Anträge von heimatlosen Ausländern und 2 Anträge von nichtdeutschen Flüchtlingen in Bearbeitung.
Zu drei. Nichtdeutsche Flüchtlinge wie heimatlose Ausländer genießen bei der Einbürgerung gewisse Bevorzugungen, die sich aus dem Gesetz über heimatlose Ausländer vom 25. April 1951 und dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 ergeben.
Zu vier. Eine durchschnittliche Laufzeit läßt sich nicht feststellen, da die Fälle völlig verschieden gelagert sind und der Vollzug der Einbürgerung den Staatsangehörigkeitsbehörden der Länder - in der Regel den Regierungspräsidenten, in BadenWürttemberg sogar den Landräten - obliegt.
Danke.
Ich rufe auf Frage 12. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menzel.
Hält die Bundesregierung es mit der nach ihren wiederholten Erklärungen erlangten deutschen Souveränität und Gleichberechtigung mit den westlichen Alliierten für vereinbar, daß die Pariser Vertragspartner sich nach wie vor dadurch Besatzungsrechte anmaßen, daß sie innerhalb der Bundesrepublik je nach Gutdünken Post und Telefonleitungen überwachen?
Das Wort hat der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts.
Ihre Frage, Herr Abgeordneter, deckt sich inhaltlich mit der Kleinen Anfrage 178 der Bundestagsfraktion der FDP, Bundestagsdrucksache 1435. Diese Kleine Anfrage ist inzwischen durch Schreiben des Herrn Bundesministers des Auswärtigen vom 30. Juni dieses Jahres an den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages beantwortet worden. Das Schreiben liegt als Drucksache 1547 den Mitgliedern des Hohen Hauses vor. Zur Beantwortung Ihrer Anfrage, Herr Abgeordneter, darf ich daher dieses Schreiben verlesen, und ich erbitte dazu die Erlaubnis des Herrn Präsidenten.
Bitte sehr!
Die alliierten Rechte, zum Schutze der Sicherheit der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte in gewissen Fällen eine Post- und Telefonüberwachung durchzuführen, erlöschen gemäß Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages erst in dem Augenblick, in dem ein deutsches Bundesgesetz gemäß Art. 10 des Grundgesetzes diese Materie regelt. In der Zwischenzeit sind die alliierten Rechte in Konsultation mit der Bundesregierung auszuüben. Voraussetzung für die Ausübung der Rechte ist, daß die Bundesregierung mit den Alliierten darin übereinstimmt, daß die Umstände die Ausübung solcher Rechte erfordern. Eine solche Konsultation hat seit dem 5. Mai 1955 noch nicht stattgefunden.
({0})
Soweit die Bundesregierung nach erfolgter Konsultation eine beschränkte Weiterausübung der alliierten Überwachungsrechte für erforderlich halten sollte, wird dies unter dem Gesichtspunkt geschehen, daß die in Deutsch({1})
land stationierten fremden Streitkräfte die Aufgabe haben, die Verteidigung der Bundesrepublik zu sichern, und daß die Sicherheit der Streitkräfte daher zugleich auch im Interesse der Sicherheit der Bundesrepublik liegt. Die Bundesregierung hat sich an die Drei Mächte mit dem Vorschlag gewandt, in einen Meinungsaustausch zwischen Sachverständigen über Art und Maß der zum Schutz der Sicherheit der alliierten Truppen erforderlichenberwachung einzutreten.
Bis zu dem Zeitpunkt, in dem dieser Meinungsaustausch durchgeführt ist, kann nach Auffassung der Bundesregierung im Hinblick auf die internationale Lage nicht schlechthin auf Maßnahmen der Post- und Telefonüberwachung im Interesse der Sicherheit der Streitkräfte verzichtet werden.
({2})
Die Bundesregierung hat daher gegen die vorläufige Fortsetzung des seitherigen Verfahrens auf diesem Gebiet keine Einwendungen erhoben und damit zum Ausdruck gebracht, daß sie Maßnahmen der bezeichneten Art im gemeinsamen Interesse der Sicherheit der Streitkräfte und der Bundesrepublik für erforderlich hält.
({3})
Eine solche Beurteilung der politischen Lage durch die Bundesregierung hält sich im Rahmen der ihr verfassungsmäßig zustehenden Kompetenzen. Sie enthält keine Mitwirkung an der Ausübung der von den Drei Mächten in Art. 5 Abs. 2 des Deutschland-Vertrages vorbehaltenen Sicherheitsbefugnisse, die als vorübergehender Überhang ehemals weitergehender besatzungsrechtlicher Befugnisse den Beschränkungen von Art. 10 des Grundgesetzes nicht unterliegen.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Bitte schön!
Wenn sich die Alliierten somit offensichtlich auf den Notstandsartikel des Generalvertrags berufen, jener Art. 5 jedoch voraussetzt - ich zitiere -, „daß die Umstände die Ausübung derartiger Rechte erfordern" - Ende des Zitats -, muß nicht dann aus der Telefonüberwachung durch die Alliierten und der Billigung durch die Bundesregierung gefolgert werden, daß Alliierte und Bundesregierung der Meinung sind, in der Bundesrepublik bestehe ein sogenannter Notstand?
Nein, daraus muß nur gefolgert werden, was ich mir vorzutragen erlaubt habe: daß, bis die Frage durch Konsultation geregelt ist, sachliche Gründe dafür bestehen, es vorläufig bei dem gegenwärtigen Zustand zu belassen.
Darf ich noch eine Zusatzfrage stellen?
Bitte schön!
Sind die französischen und britischen Staatsbürger im Interesse der Sicherheit der in ihrem Land stationierten amerikanischen Truppen der gleichen Beschränkung in ihren Grundrechten unterworfen?
Auf deutschem Boden gewiß!
Nein, ich habe gefragt: in Großbritannien und in Frankreich; ob die französischen und britischen Staatsbürger in ihrem Land, d. h. in Frankreich und in Großbritannien, im Interesse der Sicherheit der dort stationierten amerikanischen Truppen den gleichen Einschränkungen hinsichtlich ihrer Grundrechte unterliegen wie die deutschen Staatsbürger in der Bundesrepublik.
Tiber die Texte der Abkommen bin ich nicht informiert, Herr Abgeordneter; ich bin aber sicher, daß die Sicherheit der Truppen in diesen Ländern in ähnlicher Weise gewährleistet ist wie bei uns.
Danke!
Frage 13 wurde zurückgezogen.
Ich rufe auf Frage 14. Das Wort hat der Abgeordnete Kortmann.
Ich frage den Herrn Finanzminister:
Welche Beträge waren im Bundeshaushalt 1954/55 zur Durchführung des Gesetzes zu Art. 131 GG veranschlagt und wie hoch beliefen sich die wirklichen Zahlungen? Wie verteilen sich diese Zahlungen auf
a) zivile Beamte des öffentlichen Dienstes,
b) Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes,
c) Angehörige der ehemaligen Wehrmacht?
Das Wort hat der Herr Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen.
Herr Abgeordneter, zur Durchführung des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes waren im Bundeshaushalt für das Rechnungsjahr 1954 bei den Kapiteln 4007 und 4008 unter Berücksichtigung der 4%igen Kürzung insgesamt rund 1170 Millionen DM veranschlagt. Die beiden Kapitel enthalten keine Unterteilung nach Beamten, Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes. Es wird nur einerseits zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes insgesamt und andererseits zwischen Berufssoldaten der früheren Wehrmacht und berufsmäßigen Angehörigen des früheren Reichsarbeitsdienstes insgesamt unterschieden.
Die Istausgaben für die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes betrugen 718,5 Millionen DM, die Istausgaben für die Berufssoldaten usw. betrugen 356,5 Millionen DM, insgesamt also 1 Milliarde und 75 Millionen DM.
Danke schön.
Ich rufe Frage 15 auf. Das Wort hat der Abgeordnete Müller-Hermann.
Sehr verehrter Herr Bundespostminister,
wie weit sind die Vorarbeiten im Bundespostministerium vorangekommen, um über die Einrichtung von Hausbriefkästen eine Rationalisierung und Verbesserung der Postzustellung zu erreichen?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen.
Herr Abgeordneter, eine Rationalisierung und Verbesserung der Postzustellung durch die Einrichtung von Hausbriefkästen kann nur schrittweise erreicht werden. Ich bin zunächst bemüht, die mit der Errichtung von Wohnungsbauten befaßten privaten und öffentlichen Stellen für diesen Gedanken zu gewinnen, und habe zu diesem Zweck umfangreiche Werbemaßnahmen durchgeführt oder eingeleitet, die von den einschlägigen Verbänden bereitwilligst unterstützt worden sind. Der Herr Bundesminister für Wohnungsbau hat auf meine Bitte hin in einem Schreiben an die Bauressorts der Länder die Einrichtung von Hausbriefkästen in den mit öffentlichen Mitteln bezuschußten Neubauten empfohlen. Ferner hat der Herr Bundesminister für Wohnungsbau vorgesehen die Frage der Aufnahme einer Bestimmung über Hausbriefkästen in die in Aussicht genommene Musterbauordnung in der Musterbauordnungskommission zu erörtern.
Die Einrichtung von Hausbriefkästen bei bereits fertiggestellten Bauten beabsichtige ich durch eine Beteiligung an der Finanzierung zu fördern.
Eine Zusatzfrage?
Bitte sehr!
Besteht die Absicht, an einem bestimmten Ort der Bundesrepublik, soweit es dort möglich ist, die Einrichtung probeweise durchzuführen?
Herr Abgeordneter, wir haben besonders in Süddeutschland schon über 2 Millionen Hausbriefkästen. Ich glaube, die Einrichtung hat sich bewährt, so daß sich besondere Probemaßnahmen erübrigen werden.
Ich rufe Frage 16 auf. Das Wort hat der Abgeordnete Frehsee.
Billigt die Bundesregierung die Anwerbung von 26 italienischen Arbeitern für die Steinbrüche der Bergisch-Märkischen IndustriesteinGesellschaft in Listertal und hält sie die Erteilung der Arbeitsgenehmigung für vereinbar mit Art. 1 Abs. a des Beschlusses des Rates der OEEC vom 30. Oktober 1953, obschon auf dem deutschen Arbeitsmarkt - im Bayerischen Wald und in der Eifel - noch Steinbrucharbeiter verfügbar sind?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe stets den Standpunkt vertreten, daß eine Hereinnahme ausländischer Arbeiter erst dann in Frage kommt, wenn geeignete deutsche Arbeitskräfte tatsächlich nicht mehr verfügbar sind. An diesem Grundsatz halte ich auch weiterhin fest. Alle anderen Meldungen sind unzutreffend. Diese Stellungnahme beruht auf der gleichen Überlegung, die im Art. 1 Abs. a des OEEC-Ratsbeschlusses vom
130. Oktober 1953 zum Ausdruck kommt. Auch dort heißt es, daß die Behörden die Genehmigung zur Arbeitsaufnahme an Ausländer erst dann erteilen sollen, wenn auf dem Arbeitsmarkt des eigenen Landes keine geeigneten Arbeitskräfte mehr verfügbar sind.
Im Falle der Bergisch-Märkischen Steinindustrie hat das Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen im Februar 1955 der Beschäftigung von 30 italienischen Steinbrucharbeitern für die Zeit vom März bis November 1955 zugestimmt, nachdem alle Möglichkeiten zur Beschaffung einer ausreichenden Zahl geeigneter inländischer Arbeitskräfte ausgeschöpft waren. Es ist nicht nur ein bezirklicher oder zwischenbezirklicher Ausgleich versucht worden, sondern es wurden gemeinsam mit Vertretern des anfordernden Betriebes auch Schleswig-Holstein, Oldenburg, die Eifel und der Westerwald besucht, um hier geeignete Kräfte zu gewinnen. Soweit dabei überhaupt Erfolge erreicht werden konnten, haben die angeworbenen Arbeitskräfte vielfach schon nach sehr kurzer Zeit die Arbeit wieder aufgegeben, da ihnen die Arbeit wegen des zu verarbeitenden Gesteins zu schwer war. Diese an die Leistungsfähigkeit der Arbeiter besonders hohe Anforderungen stellende Arbeit hat schon in früheren Jahren zu großen Schwierigkeiten bei der Heranziehung der erforderlichen Arbeitskräfte geführt.
Die Bergisch-Märkische Steinindustrie hat übrigens kürzlich einen weiteren Antrag auf Genehmigung von Beschäftigung italienischer Steinbrucharbeiter gestellt. Das zuständige Landesarbeitsamt berichtet hierzu, daß es sich nach Einschaltung aller Landesarbeitsämter mit allem Nachdruck bemüht habe, geeignete deutsche Arbeitskräfte zu vermitteln. Seine Bemühungen seien auch in den Landesarbeitsamtsbezirken Nord- und Südbayerns fehlgeschlagen. Der Ausländerausschuß des Landesarbeitsamts, dem Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter in paritätischer Zusammensetzung angehören, habe sich einstimmig für die Genehmigung des Antrags auf Beschäftigung italienischer Steinbrucharbeiter in diesem Falle ausgesprochen.
Ich danke Ihnen, Herr Minister, für Ihre Stellungnahme. Aber darf ich, Herr Präsident, doch noch eine Zusatzfrage stellen?
Bitte!
Ist Ihnen, Herr Minister, bekannt, daß die in diesem Falle zuständige Gewerkschaft Bau, Steine und Erden solche Möglichkeiten der Beschaffung von Arbeitskräften für diesen Betrieb selbst nachgewiesen hat, daß sie aktiv geworden ist in der Beschaffung geeigneter Arbeitskräfte, daß sie mit Erfolg in die Eifel Vertreter entsandt hat, um solche Arbeitskräfte zu werben, daß sie 50 Arbeitskräfte zur Verfügung stellen konnte und daß diese etwas überraschende Hereinholung der italienischen Arbeitskräfte nicht gerade zur Förderung des Willens zur Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft und Betrieb und der Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern beiträgt?
Ich darf Ihnen darauf antworten, daß wegen dieser Angelegenheit die Vertreter der Industriegewerkschaft Bau, Steine und Erden bei mir gewesen sind. Ich habe in einer sehr ausführlichen Aussprache den Herren die Situation dargelegt, und sie haben zum
({0})
Schluß auch anerkennen müssen, daß in einer normalen Zeit die Beschaffung dieser Arbeitskräfte aus der deutschen Arbeitsreserve nicht möglich ist. Sie haben mir nur gesagt, daß damals, im Februar, als diese Anwerbung vorbereitet wurde, vielleicht die Möglichkeit bestanden hätte, die Leute aus anderen Bezirken zu bekommen. Auf Grund einer schriftlichen Eingabe halbe ich noch einmal brieflich zu der Situation Stellung genommen. Daraufhin habe ich von der Industriegewerkschaft Bau, Steine und Erden keine Mitteilung mehr bekommen, so daß ich annehmen darf, daß sie mit unserer Stellungnahme einverstanden ist.
Ich stelle anheim, meine Bemerkung nachzuprüfen. - Ich danke im übrigen.
Ich rufe auf Frage 17. Das Wort hat wieder der Abgeordnete Frehsee.
Ist, Herr Bundesminister, die Pressemeldung richtig, wonach das Bundesarbeitsministerium bereits an die Einrichtung einer Stelle für die Anwerbung von Ausländern denkt?
Mit der italienischen Regierung sind lediglich vorbereitende technische Besprechungen für den Fall einer etwaigen künftigen Hereinnahme italienischer Arbeiter geführt worden. Bei diesen Besprechungen kamen wir zu dem Ergebnis, daß es zweckmäßig sein wird, zu gegebener Zeit eine kleine Anzahl von Bediensteten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zeitweilig nach Oberitalien zu entsenden, um dort an Ort und Stelle in Zusammenarbeit mit den italienischen Arbeitsbehörden die geeignetsten Arbeitskräfte auszuwählen und mit den erforderlichen Reise- und Arbeitspapieren zu versehen. An die Errichtung einer ständigen deutschen Dienststelle für die Anwerbung ausländischer Arbeiter ist zur Zeit weder im Ausland noch im Inland gedacht.
Ich danke Ihnen sehr. Eine Zusatzfrage, Herr Präsident?
Bitte!
Halten Sie, Herr Minister, Ihren Standpunkt demnach aufrecht, daß die Zeit für die Einrichtung einer solchen Stelle und für die Hereinnahme ausländischer Arbeitskräfte von der Bundesregierung noch nicht für gegeben angesehen wird?
Diese Stellungnahme habe ich mehrfach abgegeben, und auch der Herr Bundeswirtschaftsminister hat öffentlich erklärt, daß für diese Fragen das Bundesarbeitsministerium zuständig ist.
Ich danke sehr!
Ich rufe auf Frage 18. Das Wort hat der Abgeordnete Reitzner.
Ich frage den Herrn Bundesverkehrsminister:
Welche Maßnahmen hat der Herr Bundesverkehrsminister gegen den Straßenlärm seit meiner letzten Anfrage am 17. Dezember 1954 unternommen?
Ist der Herr Bundesverkehrsminister bereit, rechtsverbindliche Regelungen zur Bekämpfung des Straßenlärms vorzuschlagen?
Welche werden die hächstzulässigen Geräuschwerte sein?
Herr Bundesverkehrsminister!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihre Anfrage vom 17. Dezember 1954, Herr Abgeordneter Reitzner, habe ich Ihnen schriftlich ausführlich beantwortet. Ich kann Ihnen sagen, daß wir in unseren Bemühungen, den durch den Straßenverkehr hervorgerufenen Lärm zu bekämpfen, keineswegs nachgelassen haben. Dieser Lärm wird nach eingehenden Untersuchungen insbesondere von Krafträdern aller Art und von Lastkraftwagen, vor allem den schweren Diesellastkraftwagen, hervorgerufen.
Um den Lärm der Krafträder herabzusetzen, sind im letzten Halbjahr durch die Technische Hochschule Stuttgart und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt Braunschweig umfangreiche Vergleichsmessungen zwischen Seriendämpfungsanlagen und Schalldämpfungsanlagen nach dem System Dr. Leistritz durchgeführt worden. Die Untersuchungsergebnisse konnten im letztvergangenen Monat mit den Vertretern der Industrie und mit den obersten Verkehrsbehörden der Länder besprochen werden. Auf Grund der Ergebnisse ist im Einvernehmen mit den obersten Verkehrsbehörden der Länder beschlossen warden, die Höchstlautstärkewerte bei neu in den Verkehr kommenden motorisierten Zweirädern erheblich herabzusetzen.
Nunmehr kann auch daran gedacht werden, die in Verkehr befindlichen älteren Fahrzeuge in geeigneter Weise umzuändern, um auch ihre Lautstärke herabzusetzen. Die Durchführung wird durch die Zulassungsstellen der Länder überwacht.
Bei den Lastkraftwagen sind im letzten Halbjahr Verfahren entwickelt worden, urn das quälende Nagelgeräusch der Dieselmotoren zu beseitigen. Es wird zur Zeit geprüft, ob diese Verfahren auf alle Fahrzeugtypen anwendbar sind. Ferner laufen bei einem Physikalischen Institut auf unsere Veranlassung hin Untersuchungen darüber, mit welchen Methoden die Auspuffgeräusche der schweren Dieselfahrzeuge und der Zugmaschinen vermindert werden können. Ich hoffe, daß diese Versuche gute Ergebnisse zeigen und uns im Kampf gegen den Lärm unterstützen werden.
Soweit wir bisher festgestellt haben, reichen die bestehenden gesetzlichen Grundlagen zur Bekämpfung des Straßenlärms aus. Die erlassenen Vorschriften müssen natürlich von den überwachenden Behörden auch entsprechend angewendet werden.
Trotzdem ist zur Zeit eine Prüfung darüber eingeleitet, ob durch Erlaß zusätzlicher Rechtsvorschriften sich der Kampf gegen den Verkehrslärm erfolgreicher betreiben läßt. Im allgemeinen liegt es aber nicht an dem Fehlen von Vorschriften, sondern, wie gesagt, an der Art, wie diese Vorschriften von den mittleren und unteren Instanzen ausgeführt werden.
Die höchstzulässigen Geräuschwerte, die zur Zeit gelten, sind bei neu in den Verkehr kommenden Fahrzeugen: für Fahrräder mit Hilfsmotor 78 Phon, für Fahrzeuge mit Zweitaktmotor 85 Phon, für
({0})
Krafträder mit Viertaktmotor über 250 ccm Hubraum 87 Phon, für ,Kraftfahrzeuge mit mehr 'als 2,5 t zulässigem Gesamtgewicht, für Zugmaschinen und Arbeitsmaschinen 90 Phon und für alle übrigen Fahrzeuge 85 Phon.
Bei den bereits im Verkehr befindlichen Fahrzeugen liegen die höchstzulässigen Geräuschwerte um 2 bis 5 Phon höher. Nach den jetzt herauskommenden Richtlinien werden weitere Herabsetzungen der höchstzulässigen Geräuschwerte bei Zweiradfahrzeugen unter Berücksichtigung einer angemessenen Übergangsfrist vorgeschrieben, so daß ab 1. Januar 1957 für neue Fahrräder mit Hilfsmotor nur noch 75 Phon, für neue Krafträder bis 250 ccm nur noch 80 Phon und für neue Krafträder mit Viertaktmotor über 250 ccm nur noch 82 Phon zugelassen sein werden.
Im allgemeinen kann man sagen, daß Geräuschwerte in der Größenordnung von 70 bis 75 Phon nicht mehr als stark störend empfunden werden. Hoffentlich gelingt es in absehbarer Zeit, diese Werte für alle Kraftfahrzeuge zu erreichen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Bitte sehr!
Herr Bundesverkehrsminister, ich schätze die bisher gepflogenen Untersuchungen und Prüfungen sehr, aber sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß in den letzten Monaten von einer wirklichen Herabminderung der Geräusche und des Lärms keine Rede sein kann?
Tatsächlich ist es so, Landsmann Reitzner, daß die Geräusche natürlich nicht nachgelassen haben, weil sich diese ganzen Ergebnisse ja erst in einigen Jahren auswirken werden, weil wir die Vorschriften über die Herabsetzung immer mit einem gewissen Zeitvorlauf und nur für die Neuzulassungen ansetzen können. Soweit ein Umbau sehr teuer wird, wird es auch nicht möglich sein, die Leute zwangsweise dazu zu veranlassen, diesen Umbau vorzunehmen, sondern wir werden durch Einwirkung auf die Fahrzeugbenutzer versuchen müssen, sie zu bewegen, selbst leiser zu fahren.
Und endlich das Entscheidende: Wenn jemand auch die schönste Vorrichtung hat, leiser zu fahren, und diese Vorrichtung entweder mutwillig oder auf andere Weise kaputtgemacht worden ist, dann bleibt nur noch die Überwachung durch die Polizei, und die Polizei muß eben durch die neu ausgearbeiteten Phonmeßgeräte diese Fahrzeuge dann überprüfen. Wenn sie höhere Phonwerte zeigen, als nach der Zulassung möglich und gerechtfertigt ist, dann müssen die Fahrzeugbesitzer angezeigt und bestraft werden. Daher ist die Frage der Bekämpfung des Verkehrslärms wie die Frage der Bekämpfung der Verkehrsunfälle ebenso sehr eine Frage der Disziplin der Verkehrsteilnehmer wie eine Frage der überwachenden Polizeiorgane.
Eine letzte Frage!
Bitte!
Darf ich hoffen, Herr Bundesverkehrsminister, daß Sie und Ihr Haus alles tun werden, was in Ihrer Macht steht, damit in der Tat der Lärm auf den Straßen in kürzester Zeit abgestellt wird?
Wir werden alles tun, was wir können, um die Länder zu bitten, das zu tun, was ihres Amtes ist. Aber auch hier bleibt es, ebenso wie bei der Frage des Abgeordneten Schmidt, bei der Bitte.
Meine Damen und Herren, die für die Fragestunde vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Wie üblich, werden die nicht erledigten Fragen durch die Bundesregierung schriftlich beantwortet. Soweit gewünscht wird, daß die Fragen mündlich beantwortet werden, bitte ich, sie für die nächste Fragestunde erneut zu stellen. Damit ist die Fragestunde abgeschlossen.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Krone.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für meine Fraktion die folgende Erklärung abgeben:
Herr Abgeordneter Mellies hat vorhin eine Erklärung für seine Fraktion abgegeben, die sich auf einen Zwischenruf meines Fraktionskollegen Kiesinger in der Sitzung vom 28. Juni 1955 bezog.
Ich halte es für meine Pflicht, schon jetzt hierzu ein Wort zu sagen, obwohl ich mit Herrn Kiesinger, der zur Zeit in Straßburg ist, noch nicht habe sprechen können.
Ich bin überzeugt, daß Herr Kiesinger in keiner Weise das hat sagen wollen, was von ihm in der Erklärung des Herrn Kollegen Mellies angenommen wird. Er hat bestimmt die Ehre des Fraktionsvorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion, des Herrn Kollegen Ollenhauer, nicht verletzen wollen.
({0})
Leider liegen, was die Frage der Einstellung zur Außenpolitik angeht, die Verhältnisse in England weithin anders als bei uns.
({1})
Ich sehe bewußt davon ab, den Gründen für diesen Notstand bei uns nachzugehen, doch liegt mir sehr daran, mit dieser meiner Erklärung dazu beizutragen, daß die sachliche Beratung des anstehenden Freiwilligengesetzes und die Mitarbeit aller Fraktionen an diesem Gesetz nicht durch solche Vorgänge, wie sie hier erwähnt worden sind, belastet werden.
({2})
Ich rufe auf Punkt 2 der Tagesordnung:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Bundeswahlgesetzes ({0});
b) Erste Beratung des von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Bundeswahlgesetzes ({1});
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Stücklen, Dr. Jaeger, Lücke und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Bundeswahlgesetzes ({2}).
Ich schlage Ihnen vor, die drei Gesetzentwürfe begründen zu lassen und sie in der Aussprache miteinander zu verbinden.
Das Wort zur Begründung zu Punkt 2 a hat der Abgeordnete Rehs.
Rehs ({3}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als am 25. Juni 1953 das Wahlgesetz zu diesem Bundestag - ich will auf seine leidvolle Geschichte nicht weiter eingehen - in der dritten Lesung stand, erklärte mein Freund Dr. Walter Menzel namens der sozialdemokratischen Fraktion:
Wir hoffen, daß der neue Bundestag sich alsbald zu Beginn - und nicht erst in den letzten sechs Monaten - seiner Wahlperiode mit dem künftigen Wahlgesetz befaßt. Wir sind hierzu bereit. Wir werden sogar hierauf drängen.
Damals beherrschte alle Fraktionen die Erkenntnis, daß sich die Misere dieses Gesetzes nicht wiederholen und das künftige Wahlgesetz nicht wieder erst am Schluß der Legislaturperiode verabschiedet werden dürfe, daß die Diskussionen um dieses Gesetz nicht wieder dem Zeitdruck und all den vielfältigen psychologischen und politischen Belastungen und Schwierigkeiten ausgesetzt werden dürften, die es in die bedenkliche Nähe von Wahlgesetzen bringen könnten, die das Bundesverfassungsgericht mit dem Begriff „Maßnahmengesetz" bezeichnet hat.
Der damalige Sprecher der CDU, Herr Abgeordneter Dr. S c h r öder, erklärte im Anschluß an die Ausführungen Dr. Menzels: Die Fraktion der CDU/CSU wird zu Beginn der Legislaturperiode des neuen Bundestages eine neue Vorlage einbringen.
({4})
Herr Dr. Schröder ist dann Bundesinnenminister geworden. Er hatte damit eine zusätzliche Möglichkeit, seine Erklärung zu realisieren.
({5})
Diese Realisierung durfte um so mehr erwartet werden, als noch nach der Bundestagswahl in der Debatte über die erste Erklärung der neuen Regierung am 28. Oktober 1953 der damalige Fraktionssprecher der CDU/CSU, der jetzige Bundesaußenminister Dr. von Brentano, unter der „Sehrrichtig!"-Zustimmung seiner Fraktion erklärt hatte:
Der letzte Bundestag hat ein Wahlgesetz beschlossen, das nur für diese Wahl Gültigkeit hatte. Wir müssen daher diese gesetzgeberische Aufgabe in Angriff nehmen, und wir sollten es so rasch wie möglich tun.
Nun, seit jenen Erklärungen - ich denke dabei insbesondere an die Erklärung des jetzigen Herrn Bundesinnenministers - sind rund zwei Jahre vergangen. Die Uhr der Legislaturperiode steht auf halb; aber über die Absichten der Regierung herrscht Ruh; von Initiative spürest du - kaum einen Hauch. Liegt der Schlüssel hierzu in jenen vieldeutigen Worten des Herrn Innenminister s Ende April, Anfang Mai der Presse gegenüber: ob die Bundesregierung einen eigenen Wahlgesetzentwurf einbringe, sei eine reine Frage der Regierungs- und Koalitionspolitik!?
Meine Damen und Herren, hier schimmert etwas durch, was, glaube ich, alle Mitglieder in diesem Hause, die das Wahlgesetz nicht als ein Instrument von Parteizwecken ansehen, zu ernstem Nachdenken veranlassen sollte. Die in diesen Worten bekundete Auffassung und Bewertung des Wahlgesetzes steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu der Begründung des Sprechers der CDU/CSU, Herrn Dr. von Brentano, für die Forderung, daß die Beratungen des neuen Wahlgesetzes nicht wieder in die zeitliche Gefahrennähe der Neuwahl geraten dürften.
({6}) Er sagte damals:
Die Erfahrungen im letzten Bundestag haben uns allen doch gezeigt, daß die Voraussetzungen für eine echte und sachliche Auseinandersetzung nicht oder nur in beschränktem Maße gegeben sind, wenn die Ausrechnung von Erfolgschancen und wahlarithmetische Erwägungen die sachliche Entscheidung behindern.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben damals auch bei diesen Ausführungen Ihres Sprechers mit „Sehr richtig" zugestimmt.
({7})
- Gilt heute noch! Wenn also dieses heute noch gilt, dann müssen wir uns doch fragen, warum Sie und die Regierung, die Sie tragen, keine Folgerungen hieraus gezogen haben.
({8})
Warum ist von Ihnen und Ihrer Regierung in dieser Frage dann ein Verhalten gezeigt worden, das doch nur als Verschleppung gewertet werden kann?
({9})
Reine Frage der Koalitionspolitik? - Sie wehren sich mit Recht, daß Ihnen etwas unterstellt wird. Aber ist denn bei dem Begriff „Koalitionspolitik" überhaupt etwas zu unterstellen? Die Wahlrechtsdiskussionen sind in den vergangenen Jahren doch bereits so gründlich geführt und so vertieft worden, daß die grundsätzlichen politischen Entscheidungen in verhältnismäßig kurzer Frist getroffen werden könnten. Die Erörterungen im 1. Bundestag haben die verschiedenen Gesichts-und Standpunkte deutlich genug erkennen lassen. Es war also für die Regierung nicht schwer, wenn sie ernsten Willens war, eine Klärung darüber herbeizuführen, ob im Kabinett die Voraussetzungen für eine Regierungsvorlage hierüber bestanden, und andernfalls dem Parlament durch eine offene und ehrliche Mitteilung hierüber die Initiative für ein eigenes rechtzeitiges Vorgehen frei zu machen. Dies ist bis heute nicht geschehen.
Reine Frage der Koalitionspolitik? Nun, soweit es sich dabei um das „innere Gefüge" der Koalition handelt, um Koalitionsversprechungen, die nicht beachtet worden sind, mag das eine Angelegenheit der einzelnen Partner sein. Aber soweit das Wahlgesetz und der Zeitpunkt einer Vorlage hierüber zum Mittel der Koalitionspolitik gemacht werden, geht dies das ganze Parlament an; denn das Parlament hat die Aufgabe, darüber zu wachen, daß die Verfassung erfüllt wird und daß die Gesetze im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zustande kommen. Die verfassungsmäßige Ordnung wird aber verletzt, wenn das Gesetz, das die Grundfunktion der Demokratie ausdrückt, nämlich das Wahlgesetz, als Koalitionskandare benutzt und damit zugleich in den Augen der Staatsbürger seiner Integrität beraubt wird. Denn es ist ja nicht nur eine miserable Taktik und einer großen demokratischen Fraktion unwürdig, allen feierlichen Er({10})
klärungen zum Trotz ein solches Gesetz zum Objekt und politischen Druckmittel auf der internen Ebene zu machen. Im außerparlamentarischen Bereich würde sich vielleicht ein Staatsanwalt versucht sehen können, einmal die Tatbestandsmerkmale der Nötigung in seine Erinnerung zu rufen.
Wie außerdem die Passivseite eine solche Lage mit Ihrer Würde und jener Deklaration zu Beginn dieses Bundestages vereinbart, in der von Ihrer politischen Idee als der Idee des Jahrhunderts gesprochen wurde, will ich dahingestellt sein lassen. Das Entscheidende ist aber, daß sich der Staatsbürger, für den das Wahlgesetz das elementare Verbindungsstück zur parlamentarischen Demokratie, die Grundlage für seine eigene Mitwirkung bildet, degradiert fühlen muß, wenn er sieht, daß dieses als politisches Druck- und Machtmittel mißbraucht wird.
({11})
- Fragen Sie die Spatzen, die das von den Dächern pfeifen, meine Herren, wenn Sie wissen wollen, wie die Dinge liegen!
({12})
Alle Appellationen an Staatsgefühl und Staatsbewußtsein sind leer und nutzlos, wenn der Staatsbürger und Wähler nicht das Vertrauen in die Sauberkeit beim Zustandekommen und bei der Handhabung gerade jenes Gesetzes hat, durch das er zur Mitentscheidung im Staat aufgerufen wird und das seine Mitentscheidung verbürgen soll. Man mag über Prinzipien des Wahlrechts streiten. Wer aber seine Hand dazu gibt, daß die Integrität des Wahlgesetzes in den Augen der Bürger angetastet wird, versündigt sich an dem Gedanken der Demokratie.
Meine Damen und Herren! Aus der ernsten Sorge um diese Entwicklung hat sich meine Fraktion veranlaßt gesehen, selber die Initiative zu ergreifen, und dem Bundestag unter dem 16. März dieses Jahres mit der Drucksache 1272 den Entwurf eines Wahlgesetzes für den nächsten Bundestag vorgelegt. Ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Augenblick mit den verschiedenen Wahlrechtsprinzipien, ihrem Wert oder Unwert, ihrer Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit auseinanderzusetzen; das mag den späteren Beratungen vorbehalten bleiben. Unser Standpunkt ergibt sich aus unserer Vorlage. Aber auf einige uns besonders wesentliche Punkte darf ich hinweisen.
Nach Einbringung unseres Entwurfs haben wir vom Herrn Bundesinnenminister dankenswerterweise den sehr verdienstvollen, ausgezeichnet übersichtlichen Bericht der von ihm seinerzeit einberufenen Wahlrechtskommission erhalten. In dem Geleitwort, das der Herr Innenminister hierzu geschrieben hat, lautet der erste Satz: „Der Bestand, die Festigung und das Ansehen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung hängen im hohen Maße von einem guten Wahlgesetz ab." Wir freuen uns über diesen Satz, und ich möchte hier dem Herrn Innenminister etwas Gutes unterstellen, nämlich daß er den Begriff „gutes Wahlgesetz" nicht nur im Sinne eines technisch gut funktionierenden Wahlgesetzes gebraucht hat, sondern auch gut als Gegensatz von böse und schlecht. Schlecht ist in der Demokratie undemokratisches Verhalten und schlecht auch ein Gesetz, das in undemokratischer Weise bezwecken würde, der demokratischen Entscheidung der Wähler auszuweichen, ihr zuvorzukommen oder sie abzubiegen. Furcht vor dem Wähler ist ein schlechter Ratgeber bei der Schaffung eines Wahlgesetzes.
Am 29. April führte der Kommentator des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart zu diesem Bericht der Wahlrechtskommission sehr zutreffend aus:
Es kommt nicht nur darauf an, daß, sondern auch, wie gewählt wird.
({13})
Die Güte der Demokratie hängt von der Art der Wahl ab, ebenso ihre innere Sicherheit und Legitimität. Durch die Art der Wahl wird entschieden, wie sich bei uns Macht bilden soll.
Unter dieser Perspektive erscheint uns das, was in dem Bericht der Wahlrechtskommission unter Ziffer 3 der Schlußfolgerungen ausgeführt ist, in besonderem Maße der Aufmerksamkeit des ganzen Hauses wert zu sein. Es heißt hier - ich darf mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren - wie folgt:
Die Würde und das Ansehen einer freiheitlichen Demokratie erfordern ein möglichst dauerhaftes Wahlgesetz. Ein Wahlgesetz muß parteipolitischen Augenblickskonstellationen entzogen sein.
({14})
Wenn es in der deutschen öffentlichen Meinung eine ausgeprägte Ansicht zu den Fragen des Wahlrechts gibt, so ist es das allgemeine Verlangen nach einer solchen beständigen Regelung, die allen politischen Kräften eine faire Chance gibt und Schutz gegen eine einseitige Begünstigung der jeweiligen Mehrheitsparteien bietet.
Meine Damen und Herren, genau dieselben Überlegungen haben meine Fraktion bei ihrem Entwurf geleitet. Auch wir waren und sind der Überzeugung, daß mit dem Wahlgesetz nicht experimentiert werden darf und daß es für die Festigung unserer jungen Demokratie nicht förderlich wäre, wenn man nach so kurzer Frist die Wähler etwa vor ein völlig geändertes Wahlrechtssystem stellte.
Meine Fraktion hat im übrigen auch schon früher den Standpunkt eingenommen, daß die zahlenmäßige Größe des Bundestages eine gewisse Grenze nicht übersteigen sollte. Diese Frage ist in den letzten Wochen und Monaten wieder stärker diskutiert worden. Wir teilen die Auffassung, daß im Interesse der Arbeitsstraffung, der organisatorischen Ökonomie, des Fraktionsbetriebes usw. eine Reduzierung der heutigen Abgeordnetenzahl angebracht ist, und haben daher die Mindestzahl von 420 Abgeordneten vorgeschlagen.
Für uns ist sodann selbstverständlich, daß in dem neuen Gesetz die Frage der Berliner Abgeordneten endlich die Regelung erhält, die meine Freunde schon im vorigen Bundestag gefordert haben. Die Koalition hat hier die Möglichkeit, zu beweisen, was es mit ihren Vorstellungen von Souveränität auf sich hat.
({15})
Früher vielleicht noch diskussionsfähige Besorgnisse hinsichtlich des besonderen Status von Berlin haben bei der heutigen allgemeinen Lage keine reale Grundlage mehr außer etwa in dem Mangel an Mut und dem Mangel an gutem Willen bei uns selbst.
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({17})
Aber bedenken Sie hierbei auch, was gerade die Behandlung dieser Frage für eine beispielhafte Bedeutung für die 18 Millionen Menschen in der sowjetisch besetzten Zone hat! Könnte es wirklich jemand auf sich nehmen, diesen Menschen den Beweis der Ernsthaftigkeit der vielen im Bundestag abgegebenen Deklarationen heute noch in einer Frage schuldig zu bleiben, deren Lösung ausschließlich von der Entschlossenheit und dem Willen desselben Bundestages abhängt?
Ebenso selbstverständlich ist für uns, daß die nationalen Minderheiten von der Sperrklausel, die wir beibehalten wollen, ausgenommen werden und daß damit der Haltung gefolgt wird, die auch die einsichtsvolle Mehrheit ides 1. Bundestages hierzu eingenommen hat. Die wenig ruhmvollen Erfahrungen, die die schleswig-holsteinische Landesregierung mit ihrem abweichenden Experiment gemacht hat, dürften inzwischen auch die früher Uneinsichtigen in dieser Frage belehrt haben.
Ein besonders gravierender Punkt ist für uns dann noch das Verbot der Verbindung von Wahlvorschlägen. Meine Damen und Herren, hier hilft kein Deuteln und kein Drehen, Betrug bleibt Betrug. Wer den Anspruch erhebt, eine besondere politische Idee als selbständige Partei vor dem Wähler und hinterher im Parlament zu vertreten, soll auch die Entscheidung der Wähler offen und ehrlich auf sich nehmen.
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Wer sich nicht zutraut, den Weg ins Parlament durch den Vordereingang zu finden, soll nicht versuchen, sich durch die Hinterpforte krummer Manipulationen hineinzuschleichen.
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Wir hoffen, daß das demokratische Bewußtsein aller Fraktionen diese Entscheidung inzwischen als einen Prüfstein für die Fairneß erkannt hat, die nicht nur die politischen Konkurrenten, sondern vor allem auch die Wähler von uns erwarten dürfen.
Meine Damen und Herren, der von uns vorgelegte Entwurf enthält keine Befristung des Gesetzes. Angesichts der von mir teilweise bereits zitierten Schlußfolgerungen in dem Bericht der Wahlrechtskommission brauche ich hierzu keine weitere Begründung zu geben. Aber eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch anregen. Der Bundestag sollte die Aufnahme einer Bestimmung überlegen dahin, daß künftig Änderungen des Wahlgesetzes immer erst für die übernächste Wahlperiode wirksam werden. Dann würde der jeweils beratende Bundestag nämlich niemals in die Gefahr und in den Verdacht geraten, eigennützig und für eigene Zwecke zu beschließen.
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Dann wäre es eine Freude, sachlich, nur über die Sache zu beraten. Dann würden die Parlamentarier aufatmen, und wahrscheinlich würden die Staatsbürger und Wähler draußen sagen: „Sehet, welch ein Parlament!"
Ich beantrage namens meiner Fraktion, unsere Vorlage dem Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung zu überweisen.
({21})
Das Wort zur Begründung des Antrages unter Punkt 2 b) der Tagesordnung hat der Abgeordnete Dr. Schneider.
Dr. Schneider ({0}) ({1}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre und die Pflicht, den von meiner Fraktion eingebrachten Entwurf eines Bundeswahlgesetzes Drucksache 1444 zu begründen, und bin gebeten worden, gleichzeitig einige Worte der Stellungnahme zu den Vorlagen Drucksachen 1272 und 1494, den beiden anderen Gesetzentwürfen, die vorliegen, zu sagen.
Bevor ich mich aber unserem eigenen Gesetzentwurf zuwende, gestatten Sie mir einige allgemeine Bemerkungen. Gestern wurde mir gegenüber irgendwo in diesem Hause von einem sehr Prominenten gesagt: Na, na, diesen Nachmittag - gemeint war heute - sei ja die Anwesenheit im Plenum nicht so dringend erforderlich, denn dort !würden wieder Vorlesungen über Wahlrecht gehalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, haben Sie keine Angst! Ich will Ihnen keine Vorlesung halten, sondern ich will mich so kurz fassen, wie es nur irgend geht, und Ihnen nur an Hand des Gesetzestextes unseres Entwurfs die wesentlichsten Prinzipien - um. die kann es sich in der ersten Lesung ja nur handeln - darlegen.
Aber einige Vorbemerkungen! Der Herr Kollege Rehs hat ganz recht, wenn er daran erinnert, in welcher geradezu gespannten, ich möchte sagen: hektischen Atmosphäre das Wahlrecht von 1953 in diesem Hause verabschiedet wurde. Ich erinnere mich nur sehr ungern daran; denn was damals hier vor sich ging, war nicht gerade ein Ruhmesblatt für die deutsche Demokratie. Ich bin nur froh, daß es damals noch in letzter Minute, aber buchstäblich in letzter Minute gelang, in der Form des Kompromißentwurfs, wie er sich damals dann entwickelte, eine breite Mehrheit des ganzen Parlaments zu finden. Ich hoffe, daß es auch diesmal gelingen wird, eine breite Mehrheit für - ja, hoffentlich unseren Entwurf zu bekommen, damit nicht ein Wahlrecht mit einer nur ganz knappen Mehrheit dieses Parlaments verabschiedet wird; denn das würde ich allerdings für einen wirklich entscheidenden Fehler halten, und es würde polltisch-psychologisch die schwersten Bedenken auslösen müssen. Wir sollten uns, soweit wir dazu berufen sind, mitzuwirken, alle bemühen, in einer ruhigen sachlichen Atmosphäre die Dinge zu erörtern, damit von vornherein Spannungsmomente, hervorgerufen durch überspitzte Formulierungen, vermieden werden. Formulierungen, die wiederum geradezu herausfordern, Formulierungen, die auch, sagen wir einmal, den guten Willen des anderen von vornherein bezweifeln, und dergleichen mehr sollten wir unterlassen, damit wir nicht wiederum die hektische Atmosphäre schaffen, wie sie damals in diesem Hause herrschte.
Auch wir hätten gewünscht, daß die Bundesregierung rechtzeitig einen Regierungsentwurf vorgelegt hätte. Bis heute liegt leider keiner vor.
({2})
- Vielleicht, Herr Kollege Menzel, ist es ganz gut, aber so zu folgern, wie es der Herr Kollege Rehs getan hat, ist doch nicht ganz richtig. Er hat gesagt: Hier lagen wahrscheinlich „Koalitionsabreden" vor, und in der Koalition hat das nicht geklappt, und man versucht, Druck auszuüben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ein solcher Druck Erfolg gehabt hätte-wenn ich schon einmal dieser These folge, die ich nicht bejahe, sondern nur als Ausgangsbasis nehme -, dann hätten Sie nicht den Antrag meiner Fraktion lauf Druck({3})
sache 1444 vor sich liegen; denn wir sind auch ein Teil dieser Koalition, und gerade bei der Behandlung dieser Materie sind für uns nicht die politischen, sagen wir einmal: allein koalitionspolitischen Überlegungen maßgebend, wie Sie, Herr Kollege Rehs, das vermutet haben. Sie können da ganz beruhigt sein.
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Aber nun zu unserem Entwurf selbst. Sie sehen, daß er im wesentlichen die Form behalten hat wie das Gesetz von 1953. Wir haben nur das äußere Gewand aus systematischen Gründen etwas grundsätzlich gewandelt, aber nicht den Inhalt in seinen Hauptprinzipien. Wir haben darin noch Abstriche gemacht und alles aus dem Gesetz herausgelassen, was nach unserer Auffassung nicht in das Gesetz selbst, sondern in die Wahlordnung gehört.
Nun zum Wahlsystem. Wir sind auch der Meinung, daß die Erhöhung der Abgeordnetenzahl auf 484 nicht länger aufrechterhalten bleiben sollte, aus den guten Gründen, die der Sprecher vor mir angeführt hat. Wir haben deshalb auch formuliert:
Der Bundestag besteht vorbehaltlich der sich
aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen
aus 418 Abgeordneten.
400 sind bei uns für das Bundesgebiet und 18 für Berlin vorgesehen.
Wir haben nur 18 für Berlin angenommen, weil wir uns errechnet haben, daß sich entsprechend der Bevölkerungszahl dieses Beteiligungsverhältnis für Berlin ergibt. Der SPD-Entwurf sieht für Berlin 20 Abgeordnete vor. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß die SPD auf diese Zahl gekommen ist, weil sie eine schwierige Wahlkreiseinteilung in Berlin vermeiden will; das ist meine Vermutung, ich weiß nicht, ob das zutrifft. Ich habe gesehen, daß Berlin aus 12 Bezirken besteht, und ich nehme an, daß die SPD das als Grundlage genommen hat und daß sich dann bei dem Verhältnis 60 zu 40 logischerweise in ihrem Entwurf für Berlin die Zahl 20 ergeben hat. Ich sehe, drüben wird genickt; meine Kombination entspricht also der Wirklichkeit. Wir wollen also nur 18 Abgeordnete für Berlin. Deshalb kommen wir auch nicht zu einer Zahl von 255 Wahlkreisen, wie sie sich logischerweise ergeben müßte, sondern nur zu 253. Wir wollen die Einteilung Berlins in 11 Wahlkreise Berlin selbst überlassen. Berlin soll das im Rahmen der ihm zustehenden Kompetenzen selbst bestimmen.
Für selbstverständlich halten wir aber auch, daß Berlin diesmal nicht mehr nach einem Sonderwahlrecht wählt; wir müssen Berlin mit einbeziehen. Sie sehen, daß meine Freunde und ich noch einen Schritt weitergegangen sind. Wir erwähnen das Land Berlin gar nicht mehr expressis verbis, sondern um noch deutlicher zu machen, daß uns das eine große [Selbstverständlichkeit ist, sagen wir in § 2: „Wahlgebiet ist der Geltungsbereich dieses Gesetzes". Da wir hinten die Berlin-Klausel eingefügt haben, bedeutet das, daß auch Berlin als Wahlgebiet im Sinne dieses Gesetzes anzusprechen und 'bestimmt 'ist. Wir halten das bei der Entwicklung der politischen Lage für selbstverständlich, und es bedarf wohl auch keiner langen Begründung.
Nun haben wir uns veranlaßt gesehen, bezüglich der Wahlkreiseinteilung etwas vorzusehen, was im alten Wahlgesetz nicht vorhanden war. Sie sehen, meine Damen und Herren, daß wir unserem Gesetz zwei Anlagen beigegeben haben. Die eine bestimmt, wieviel Abgeordnete in jedem Land gewählt werden sollen. Die Anlage 2 übernimmt vorläufig - ich sage ausdrücklich: vorläufig - die Wahlkreiseinteilung, wie sie heute besteht. Das soll aber nicht bedeuten, daß nach unserer Auffassung die Art der Einteilung der Wahlkreise, wie sie in der Vergangenheit entstanden ist, für ewige Zeiten gelten soll. Das ikann schon um dessentwillen nicht sein, weil wir dadurch eine ungeheure Ungerechtigkeit heraufbeschwören würden, da die Bevölkerungsverschiebung in den einzelnen Kreisen ganz unterschiedlich ist. Wahlkreise müssen unbedingt annähernd gleich sein. Wir haben jetzt, so wurde mir gesagt, zwischen den einzelnen Wahlkreisen Abweichungen bis zu 160 000 Wählern. Wenn man auf der anderen Seite berücksichtigt, daß es Wahlkreise gibt, die nur 70 bis 80 000 Wahlberechtigte halben, dann kann man solche Abweichungen aus Gründen der Gerechtigkeit schlechterdings nicht mehr vertreten. Da es aber immer eine sehr diffizile und sehr problematische Aufgabe ist, eine grundsätzlich neue Wahlkreiseinteilung vorzunehmen, sind wir der Meinung, daß wir es vorerst einmal bei den 242 Wahlkreisen belassen sollten. Wir wollen aber neu etwas einführen, was von vornherein die Gefahr bannen soll, daß bei einer Neueinteilung von Wahlkreisen nicht allein oder überwiegend nach parteitaktischen und wahlgeometrischen Gesichtspunkten vorgegangen wird.
Wir schlagen. in unserem § 3 folgendes vor: Der Bundespräsident ernennt eine ständige Wahlkreiskommission. Sie besteht aus dem Präsidenten des Statistischen Bundesamts, einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und fünf weiteren Mitgliedern.
Diese Kommission bekommt dann in den Absätzen 2 und 3 unseres § 3 ihre Arbeitsgrundlage und ihre Kompetenzen zugeteilt:
Die Kommission hat die Aufgabe, die Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet und die Wahlkreiseinteilung laufend zu beobachten und erforderliche Abänderungen der Zahl der in den einzelnen Ländern zu wählenden Abgeordneten und der Wahlkreiseinteilung vorzuschlagen. Sie legt ihre Abänderungsvorschläge für die Anlagen 1 und 2 zu diesem Gesetz der Bundesregierung vor, die sie gemäß Art. 76 des Grundgesetzes als Gesetzesvorlage einbringt.
Danach muß also auch die Wahlkreiseinteilung im letzten wieder durch das Parlament als Gesetz beschlossen werden, so daß zwar diese Kommission nach objektiven Gesichtspunkten einen Vorschlag macht, es aber immer noch der Prärogative des Parlaments untersteht - was ich für selbstverständlich halte -, ob es diesen Vorschlag unverändert oder vielleicht auch geändert in Gesetzesform übernehmen will.
Dann wird noch gesagt, daß jeder Wahlkreis ein zusammenhängendes Ganzes bilden muß:
Die Ländergrenzen müssen, die Stadt- und Landkreisgrenzen sollen nach Möglichkeit bei der Einteilung der Wahlkreise eingehalten werden.
Das dazu. Das ist etwas Neues. Wir müssen uns überlegen, ob wir diesen Weg gehen wollen. Darüber können wir j a in den Ausschüssen diskutieren.
Wir bleiben - das ist der Unterschied zwischen unserem Entwurf und dem von der SPD einige({5})
brachten - bei den zwei Stimmen, die wir 1953 beschlossen haben. Denn wir meinen: das hat sich bewährt; zudem hat sich diese Form damals nach wirklich heftigem und leidenschaftlichstem Ringen hier schließlich als von allen gebilligte Kompromißlösung durchgesetzt.
Natürlich, Herr Kollege Rehs, Sie sagten vorhin in Ihren Ausführungen, ein wesentlicher Punkt Ihres Entwurfs sei gerade das Anliegen, daß es Wahlkreisverbindungen oder Verbindungen ähnlicher Art nicht geben solle; natürlich, das ist eine entscheidende Abweichung von unserem Entwurf, darüber wollen wir uns klar sein; wir wollen hier nicht mit verdeckten Karten spielen. Zwar spricht unser Entwurf nicht von Verbindung oder Nichtverbindung - er verbietet sie nicht -, aber ich bin offen genug zu sagen, daß bei der Konstruktion der zwei Stimmen natürlich, sagen wir einmal: irgendwelche Arrangements zwischen zwei befreundeten Parteien auf der Ebene des Wahlkreises noch möglich sind.
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- Ja, natürlich weiß ich, daß Sie das wissen, und natürlich weiß ich, daß es Ihr Anliegen ist, das zu verhindern; deshalb ja auch die strenge Vorschrift in Ihrem Entwurf.
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- Ja, ist drin. Wir müssen darüber reden. Aber uns scheint das ein wesentliches Anliegen zu sein, gerade weil wir mit der Einführung von zwei Stimmen - eine für den Kreis, für den Direktbewerber, und eine für die Landesliste einer Partei - das nach der Personenwahl Neigende etwas stärker hervorkehren wollen.
Manchmal höre ich, auch aus den eigenen Reihen, das Argument, unser Volk habe die Funktion dieser beiden Stimmen nicht begriffen. Dazu muß ich sagen: das stimmt in gar keiner Weise. Unser Volk hat absolut begriffen, wie es mit diesen zwei Stimmen richtig und sachgemäß umzugehen hat. Wie richtig, meine Damen und Herren, darf ich von mir selbst sagen. Ich bin vielleicht überheblich, aber nehmen Sie es mir nicht übel, ich bringe das bloß als Beispiel dafür, wie richtig unser Volk seine zwei Stimmen verwertet. In meinem eigenen Wahlkreis, in dem ich nun zum zweitenmal gewählt worden bin, war die Zahl der auf mich entfallenen Erststimmen weitaus höher als die der Zweitstimmen, die ich dann für meine Landesparteiliste erobern konnte. Das ist also ein Beweis dafür,
({8})
wie sinnvoll und richtig unsere Wählerschaft diese zwei Stimmen benutzt. Ich bin deshalb der Meinung: das ist eine gute Einrichtung, und wir sollten es dabei belassen.
Eine Anregung, die aus meinen eigenen Kreisen gekommen ist: Ich habe die Formulierung aus dem ersten Wahlrecht übernommen, „Erststimme" und „Zweitstimme". Daran hat man Anstoß genommen und den Gedanken vorgebracht - den ich gar nicht für abwegig halte; ich will es hier nur einmal bemerken -, man sollte nicht von „Erststimme" und „Zweitstimme" sprechen, sondern etwa sagen „Kreisstimme" und „Landesstimme" und dafür auch zwei verschiedenfarbige Wahlzettel herstellen.
Diese Idee ist bei uns noch in letzter Minute aufgetaucht. Aber das ist eine technische Unterfrage, die ich hier nur einmal streifen wollte und über die wir uns vielleicht in der Ausschußberatung eingehender und gründlicher unterhalten können.
Der § 6 regelt dann die Wahl nach Landeslisten genau wie früher; dazu brauche ich nichts zu sagen.
Aber hier möchte ich doch auf eine Bemerkung eingehen, die ich nicht begreife, meine Herren von der CDU, und die ich heute morgen zu meinem Erstaunen in der „Bonner Rundschau" lesen mußte. Dort heißt es nämlich:
CDU/CSU-Fraktion grundsätzlich für relatives Mehrheitswahlrecht. Als eine Verschlechterung gegenüber dem Wahlrecht von 1953 wurde der Vorschlag der Freien Demokraten bezeichnet, die Überhangmandate auf die Landeslisten anzurechnen.
Ich verstehe gar nicht: Ist das ein Mißverständnis des Korrespondenten oder ist es eine bewußt in die Welt gesetzte Behauptung, die grundsätzlich falsch ist? Daran könnte man auch denken, und die Wahlrechtsexperten sollten es eigentlich wissen, daß sie grundsätzlich falsch ist. Ich verweise Sie auf § 6 Abs. 3 unseres Entwurfs, wo es ausdrücklich heißt:
In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach Absatz 1 ermittelte Zahl übersteigen. In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahl der für das Land vorgesehenen Abgeordnetensitze um die Unterschiedszahl; . . .
Wir haben es also grundsätzlich anders geregelt. Die Überhangmandate bleiben und werden nicht über die Landesliste angerechnet.
Nun zu unserer Sicherungsklausel, die in Abs. 4 des § 6 enthalten ist! Es ist die gleiche wie im vorigen Wahlgesetz, nämlich: ,,. . . 5 v. H. der im Wahlgebiet" - so muß es jetzt nach der Sprachtechnik dieses Entwurfs konsequenterweise heißen, d. h. im Bundesgebiet - „abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten." Wie ich gesehen habe, ist die SPD auf die frühere Regelung aus dem Jahre 1949 zurückgegangen und hat die Sicherungsklausel auf 5% im jeweiligen Lande reduziert. Uns schien diese Lösung nicht annehmbar, auch nicht sehr zweckmäßig. Wenn man sich darüber klar ist, was eine solche Sicherungsklausel soll - nämlich die Gefahr allzu großer Parteizersplitterung verhindern -, dann sollten wir nicht unnötigerweise wieder von der Lösung abgehen, die wir damals buchstäblich in allerletzter Minute, nämlich erst in der dritten Lesung - wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht - allumfassend hier in diesem Hause finden konnten: 5 % auf Bundesebene oder, wie es in unserem Entwurf sprachtechnisch heißt, im Wahlgebiet. Dabei sollten wir bleiben, und ich glaube, daß das eine gute Lösung wäre, obwohl ich nicht bestreite, daß vielleicht aus rechtssystematischen Gründen die andere Lösung auch vertreten werden kann.
Wir haben aber nunmehr die Bestimmung geändert, so daß es jetzt heißt:
. . . werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 v. H. . . . oder in mindestens 3 Wahlkreisen einen
- direkten Sitz errungen haben.
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Damals hieß es: „. . . in einem Wahlkreis einen direkten Sitz errungen haben". Ich bin der Meinung, daß man das um der Gerechtigkeit willen nicht mehr aufrechterhalten kann. Denn überlegen Sie mal: eine Partei, die im Bundesgebiet, sagen wir, 4,9 % aller gültigen Stimmen erhalten hat, hat damit immerhin 1 250 000 bis 1-500 000 Stimmen auf sich vereinigt, je nach der Wahlbeteiligung. Diese Partei bekommt dann kein Mandat, und die abgegebenen Zweitstimmen einer Partei, die in einem relativ kleinen Wahlkreis irgendwo im Bundesgebiet nur ein Mandat erobert hat - vielleicht mit 30 000 Stimmen -, sollen dann alle zum Zuge kommen, auch wenn sie im Gesamten sonst vielleicht nur - ich bilde ein Beispiel -2,5 % aller gültigen Stimmen erreicht hat! Das schien uns zu ungerecht und nicht recht adäquat, und deshalb haben wir nicht e i n Mandat als Ersatz für das Nichterreichen der 5 % gefordert, sondern 3 Mandate. Ich glaube, das ist gerecht. Ich hielt es aber für notwendig, einmal das Motiv, warum wir das getan haben, hier auseinanderzusetzen.
Das wäre das Wichtigste und Prinzipielle, was ich zu unserem Entwurf zu sagen hätte. Der Ausschluß vom Wahlrecht, die Ausübung des Wahlrechts sind Dinge, die wir in den Ausschüssen beraten können. Nur auf eins möchte ich noch eingehen. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß wir in diesem Bundestag den Fall Schmidt-Wittmack hatten und daß es zu Auseinandersetzungen darüber gekommen ist, wie man den Mann, der in die Ostzone desertiert ist, als Mitglied diesen Hohen Hauses, sagen wir, entfernen könnte. Es ergaben sich im Wahlprüfungsausschuß, dessen Vorsitzender ich bin, sehr schwierige Rechtsberatungen
und auch sehr heftige Diskussionen über die Auslegung des § 1 in Verbindung mit § 5 des geltenden Gesetzes. Sie knüpften an die Frage an: Muß die Wohnsitzvoraussetzung nur am Wahltage oder dauernd gegeben sein? Diese juristische Unklarheit ergab sich dadurch, daß es damals in § 5 bezüglich der Wählbarkeit hieß - entschuldigen Sie, jetzt habe ich doch wieder das Falsche erwischt, die Wahlordnung statt des -gesetzes; aber ich werde aus dem Kopf zitieren -: Wählbar ist, wer das aktive Wahlrecht hat, Deutscher im Sinne von Art. 116 ist usw. Dieses aktive Wahlrecht war in seinen Voraussetzungen wieder im § 1 definiert, wo es hieß: den Wohnsitz mindestens drei Monate hat. Durch diese Verquickung ergaben sich dann die juristischen Zweifel.
Ich mußte mir, als ich damals den Vorschlag des Wahlprüfungsausschusses, den ich abgesetzt hatte, dem Bundestag empfahl, vom Herrn Kollegen Schmid opportunistische Auslegung des Wahlrechtes nachsagen lassen. Damit wir nicht wieder in diese Zweifelsfragen hineinkommen, haben wir das diesmal aufgelöst. Wir haben isoliert im § 11 die Voraussetzungen des aktiven Wahlrechts und im § 15 die Wählbarkeitsvoraussetzungen im einzelnen aufgezählt und die Wählbarkeit mit dem aktiven Wahlrecht nicht mehr gekoppelt. Wir haben dann auch die Frage, ob diese Wählbarkeitsvoraussetzungen dauernd oder nur am Wahltag dasein müssen, endgültig geklärt in § 44, der von dem Verlust eines Mandats handelt. Dort heißt es in Abs. 1 Ziffer 2: „bei Wegfall einer Voraussetzung seiner jederzeitigen Wählbarkeit ({10})". Damit sind diese Zweifelsfragen, die damals aufgetaucht sind, erledigt.
Allerdings ist nicht erledigt das grundsätzliche Anliegen der SPD, die damals dahin tendierte, man solle oder könne die Wohnsitzvoraussetzung allein, wenn sie vielleicht eines Tages verlorenginge, nicht zum Angelpunkt für den Verlust des Mandats machen. Ich bin aber der Ansicht: solange wir diese Verhältnisse in Deutschland noch haben, können wir von dieser Regelung schlechterdings nicht abgehen. Das wollte ich zu diesem sehr kritischen Punkt aus der Erfahrung sagen.
Noch einen uns jedenfalls wesentlich erscheinenden Punkt haben wir besonders geregelt, weil wir nämlich das letzte Mal - entschuldigen Sie, meine Herren von der CDU - durch einen in letzter Minute in der dritten Lesung, wo alles so hopplahopp ging, eingebrachten, ganz harmlos aussehenden Änderungsantrag von Ihnen, sagen wir, hereingefallen sind, da dann plötzlich ganz prominente Herren überall auf Landeslisten in erster Position erscheinen konnten. Das halten wir für nicht gerecht und für nicht angebracht; das halten wir für Scheinkandidaturen. Um dem ein für allemal zu begegnen, schlagen wir in § 27 Abs. 4 unseres Gesetzentwurfs folgende Fassung vor: „Ein Bewerber kann nur in einem Land und hier nur in einer Landesliste vorgeschlagen werden."
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Damit ist diese Zweifelsfrage aus der Welt geschafft, und wir brauchen dann darüber nicht mehr zu diskutieren. Wir halten das jedenfalls für sehr notwendig.
Etwas Neues, was unser Gesetzentwurf bringt - das muß ich noch streifen -, ist die Briefwahl, die wir in' § 34 unseres Entwurfs entwickelt haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wissen, daß wir dieses Problem das letzte Mal im Ausschuß schon sehr entschieden miteinander diskutiert haben, daß wir damals schon geneigt waren, diese Institution, die in anderen demokratischen Ländern eigentlich selbstverständlich ist, einzuführen, aber schlechterdings nicht mehr die Zeit hatten, dies auszudiskutieren. Das Problem liegt hier nicht in der Institution selbst, sondern in der Frage: Wie wahre ich das Wahlgeheimnis bei einer Briefwahl? Meine Damen und Herren, wir glauben, daß wir das Problem gelöst haben. Bei der Briefwahl hat der Wähler dem Kreiswahlleiter des Wahlkreises, in dem der Wahlschein ausgestellt worden ist, im verschlossenen Wahlbriefumschlag a) seinen Wahlschein und b) in besonderem verschlossenem Umschlag seinen Stimmzettel so rechtzeitig zu übersenden, daß er spätestens am Wahltage bis 18 Uhr eingeht. Weil wir diese Institution neu einführen, haben wir auch die Fristen für die Einreichung von Wahlvorschlägen verlängert. Seither waren es 17 Tage. Wir schlagen Ihnen jetzt 27 Tage vor, damit Leute, die im Ausland sind, noch rechtzeitig im Flugpostverkehr die Unterlagen erhalten und an der Wahl teilnehmen können.
Aus der Einführung dieser Institution ergibt sich für uns natürlich noch insofern eine andere Konsequenz, als wir die Funktion des Wahlscheines abgewandelt haben. Mit dem Wahlschein konnte man früher überall wählen. Das wollen wir nicht mehr. Wir wollen den Wahlschein vielmehr nur noch für die Wahl im eigenen Wahlkreis gelten lassen oder, wenn ich außerhalb meines eigenen Stimmbezirks wählen muß, weil ich nicht dort sein kann, für die Briefwahl. Wenn wir diese beiden Dinge zusammennehmen, besteht keine Notwendigkeit mehr,
({12})
die Möglichkeit zu schaffen, daß man mit einem Wahlschein überall in einem deutschen Land wählt. Wir sind auch der Meinung, daß die Wahlfreudigkeit viel mehr gefördert wird, wenn der Betreffende, der auswärts ist und sein Wahlrecht ausübt, weiß: Ich wähle hier nicht einen XY, den ich gar nicht kenne, in Oberbayern oder sonstwo, sondern ich nehme meinen Wahlbriefumschlag und schicke meine Stimme in die Heimat. Dort, weiß ich, gestalte ich meine eigenen Verhältnisse, die ich kenne, mit; da weiß ich: den Meier kann ich wählen und den Schulze nicht. Damit, meine ich, führen wir eine gute Institution ein. Wir müssen natürlich auch darüber sprechen; es ist eine grundsätzliche Frage. Soviel wollte ich als Einführung zu den wichtigsten Punkten unseres Entwurfs sagen.
Nun noch einige Worte zu dem SPD-Entwurf Drucksache 1272. Ich habe vorhin schon angedeutet: wir unterscheiden uns kaum. Wir unterscheiden uns nur in der Sicherungsklausel, die Sie auf die Landesebene projiziert haben wollen, während wir sie auf der Bundesebene belassen wollen, und wir unterscheiden uns eben grundsätzlich in der Systematik, indem wir zwei Stimmen und Sie nur eine gewähren. Aber die Wirkung unserer beiden Gesetzentwürfe ist die gleiche; es handelt sich nämlich letzten Endes um ein Proporzwahlrecht, das etwas nach der persönlichen Seite hin modifiziert ist. Ich hoffe, daß wir uns werden verständigen können und wieder eine breite Mehrheit bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU, daß wir dem Antrag Stücklen, Dr. Jaeger, Lücke und Genossen, Drucksache 1494, nicht zu- stimmen können, brauche ich hier nicht weiter auseinanderzusetzen. Bei der politischen Struktur unseres Volkes würde ein solches Gesetz zur Folge haben - sagen wir es mal ehrlich und offen -, daß meine Partei in der Zukunft, wenn nach einem solchen Wahlrecht gewählt würde, nur noch mit Rudimenten - ob man das so nennen könnte, weiß ich noch nicht einmal - hier erscheinen könnte. So ginge es allen anderen kleinen Gruppen. Hier wird doch nicht mehr und nicht weniger eingeführt als die Mehrheitswahl. Wenn man sie noch in der Form des Kaiserreiches gemacht hätte, nämlich mit Stichwahl, mit absoluter Mehrheit im Wahlkreis, dann hätte man vielleicht darüber reden können. Aber jetzt will man hier einfach mit einem kühnen Sprung ins kalte Wasser das relative Mehrheitswahlrecht ganz sang- und klanglos einführen. Nicht mehr und nicht weniger steht ja darin. In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt, - ({13})
- Ja, natürlich! Jeder Wähler hat eine Stimme; gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt; bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Kreiswahlleiter zu ziehende Los.
Daß wir dem nicht zustimmen können, ist ganz selbstverständlich. Ich halte es auch für deutsche strukturelle politische Verhältnisse einfach nicht für anwendbar. Ich würde es trotz aller Reden, trotz aller Vorträge der Wählergesellschaft für ein Unglück ansehen, wenn wir das in diesem Augenblick in Deutschland einführten.
Und dann, meine Damen und Herren von der CDU, lassen Sie mich mal etwas ganz deutlich
sagen: Ich würde es auch für nicht politisch klug, nicht politisch vernünftig ansehen, das jetzt durchsetzen zu wollen; denn das würde doch bedeuten, daß Sie zumindest einen Weggenossen, mit dem Sie jetzt sechs Jahre gegangen sind, dann, nachdem er seine Pflicht getan hat, sagen wir mal: in die Wüste schickten. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!
({14}) Meine Damen und Herren! Das ist ({15})
ein sehr gefährliches Unterfangen, namentlich wenn Sie sich bewußt sind, daß Sie im Hinblick auf die Wehrgesetzgebung, auf die Regelung des Notstandsrechts usw. - ich brauche die Dinge nur anzudeuten - schließlich unsere Stimmen hier noch nötig haben. Meine Damen und Herren, lassen Sie es damit genug sein; ich könnte diese Argumentation noch fortsetzen.
Herr Minister, seien Sie mir nicht böse, daß ich das Buch, das Sie uns allen zugeschickt haben, einfach aus Zeitmangel noch nicht habe lesen können.
({16})
- Ja, es ist wirklich schade. Aber ich habe hier einen Extrakt daraus, etwas, was ich heute zufällig in der „Neuen Zürcher Zeitung" las, die sich auch mit dem Ergebnis jener Expertenkommission beschäftigt. Sie sagt:
Im Gegensatz von Mehrheits- und Proportionalwahl vermeiden Grewe und seine Kollegen eine eindeutige Entscheidung. Sie sind der Meinung, daß das oft als Vorbild hingestellte englische System der einfachen Mehrheit im Einerwahlkreis auf Deutschland nicht übertragbar sei, stimmen aber den Kritikern des auf dem Verhältnisprinzip beruhenden Wahlrechts der Weimarer Republik zu. Am meisten Sympathie zeigt die Wahlrechtskommission für den im Jahre 1949 angewandten Kompromiß der „personalisierten Verhältniswahl", die bei einigen Verbesserungen sowohl der Tradition als auch der künftigen Entwicklung Deutschlands angemessen erscheint.
Das ist die Beurteilung der Stellungnahme durch eine ausländische Zeitung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In unserem Gesetzentwurf Drucksache 1444 haben Sie den Entwurf, der der klassischen Vorstellung dieser Expertenkommission entspricht. Unser Entwurf Drucksache 1444 hat den Entwurf von 1949 nur vernünftigerweise abgewandelt, wie man das tun sollte.
Eines freut mich: daß ich auf dem Entwurf Drucksache 1494 die Unterschrift des Herrn Bundeskanzlers in seiner Eigenschaft als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion nicht finde. Das bestärkt mich doch in dem Glauben, daß auch hier wieder politische Klugheit und politische Vernunft ein vernünftiges Ergebnis zeitigen wird.
({17})
Das Wort zur Begründung des Antrages unter 2 c auf Drucksache 1494 hat der Abgeordnete Stücklen.
({0})
Ich möchte diejenigen Damen und Herren, die den Wunsch haben, sich an der anschließenden Aussprache zu beteiligen, bitten, sich bei einem der beiden Schriftführer zu melden.
Bitte, Herr Stücklen.
Stücklen ({1}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen bei der Beratung des neuen Wahlrechts in einer besseren Situation als im Jahre 1953. Wir stehen im Augenblick nicht unter Zeitdruck, und wir können das Wahlgesetz in dem von uns zu beantragenden Sonderausschuß mit aller Ruhe und Sorgfalt beraten und dann auch noch rechtzeitig verabschieden.
Aber, Herr Kollege Rehs, um der Integrität des Wahlgesetzes willen hätte ich es begrüßt, wenn man die Beratungen nicht von vornherein mit diesen Unterstellungen belastet hätte.
({2})
Auch Herr Kollege Schneider - ich sehe ihn im Augenblick nicht hier, er muß sich wohl erholen; ganz klar, nach dieser Rede muß man sich erholen - -
Herr Stücklen, es geht hier nicht um die Erholung des Kollegen Dr. Schneider, sondern darum, daß er seinem Amt als Vizepräsident wird nachkommen müssen.
Stücklen ({0}), Antragsteller: Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Aber ich glaube, Herr Kollege Schneider ist nicht der Meinung, daß man einer Änderung des Grundgesetzes nur dann zustimmen kann, wenn das Wahlgesetz nach der eigenen Vorstellung ausfällt.
({1})
Das ist sicher ein Fauxpas gewesen. Ich möchte das nur richtigstellen. Die Wehrgesetze und die Grundgesetzänderung haben weiß Gott mit dem Wahlgesetz nichts zu tun.
({2})
- Sie haben eine andere?
Ich wollte nun zu der Begründung des Gesetzentwurfs Drucksache 1494 kommen. Einen sehr guten Dienst für die Vorbereitung dieser Vorlage hat uns die vom Herrn Innenminister berufene Wahlrechtskommission mit dem ausgezeichneten Bericht erwiesen,
({3})
der uns eine Reihe von neuen Argumenten gebracht hat. Vor allen Dingen ist die Gegenüberstellung der beiden Wahlsysteme - Verhältniswahl, Proporzsystem und Mehrheitswahl, Persönlichkeitswahl - ganz ausgezeichnet. Ich möchte Ihnen, Herr Innenminister, herzlich dafür danken und auch der Wahlrechtskommission in aller Bescheidenheit meine Anerkennung dafür aussprechen.
Aber nicht nur dieses herrliche Buch über die Wahlrechtsfragen in Deutschland hat dazu gedient, den Entwurf meiner politischen Freunde vorzubereiten, sondern vor allen Dingen noch einige andere Werke unserer neueren politischen Literatur. Da ich beinahe voraussehen konnte, daß ich von der SPD sehr scharf beobachtet werde, welche Literatur ich anführe, bemerke ich vorweg,
daß ich zwei Werke gelesen habe, und zwar das Werk des ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und die beiden Bände von Carl Severing, dem Innenminister der Weimarer Zeit, das eine in der Emigration, das andere hier in Deutschland geschrieben.
Ich muß Ihnen sagen, daß gerade für uns junge Abgeordnete, für uns junge Politiker, die wir die Weimarer Zeit nicht mehr bewußt miterlebt haben, die wir nie die Möglichkeit gehabt haben, in der Weimarer Zeit einmal eine demokratische Wahl mitzuerleben, dieses Werk, das uns so genau und so vollständig über den Zeitablauf berichtet, ein ausgezeichnetes Material ist, aus dem zu erkennen ist, was in der Vergangenheit war.
({4})
- Was meinen Sie mit dem „ganzen Inhalt"?
({5})
- Freilich im ganzen Inhalt; ich nehme nichts aus, Herr Kollege Baur.
({6})
Ich habe diese Werke noch einmal sehr genau gelesen. Sie gehören mit zu den Standardwerken, die ich habe, und ich freue mich immer, wenn mir die parlamentarische Arbeit Zeit läßt, gerade in diesen Werken nachzulesen.
({7})
- Hören Sie mal, ich glaube, gerade weil ich diese Werke so aufmerksam gelesen habe, haben Sie nicht zu befürchten, daß ich als Hospitant zu Ihnen komme. - Aber wir wollen uns hier nun nicht verlieren. Ich möchte nur sagen, daß man, wenn man diese Werke richtig beurteilt, zu dem Ergebnis kommen muß: Das Verhältniswahlrecht, das Proporzsystem der Weimarer Zeit hat entscheidend dazu beigetragen, daß diese Demokratie zugrunde ging.
({8})
Ich bin außerordentlich überrascht, daß Herr D r. Menzel, der doch diese Jahre in engster Verbindung mit sehr maßgeblichen Politikern der Weimarer Zeit erlebt hat, zu einem Ergebnis kommen konnte, das mit dem historischen Ablauf dieser Zeit einfach nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
({9})
Ich muß mich weiter außerordentlich wundern, daß Sie, Herr Dr. Menzel, nun die Reichstagswahlergebnisse von 1932 und 1933 auf die Anwendung eines Mehrheitswahlrechts übertragen. Ich muß mich deshalb besonders wundern, weil, wenn Sie sich schon einmal diese Arbeit gemacht und diese Aufgabe gestellt haben, - ({10})
- 1953 bei den Wahlgesetzberatungen hier im Bundeshaus! Sie sind zu folgendem Ergebnis gekommen: Hätte man das Mehrheitswahlrecht 1932 angewandt, dann hätten die Nationalsozialisten 46 % der Mandate bekommen.
({11})
({12})
Und hätte man das Mehrheitswahlrecht am 5. März 1933 angewandt, dann hätten die Nationalsozialisten 60 % der Mandate bekommen.
({13})
Ich muß nun sagen, Herr Dr. Menzel, wenn Sie sich schon die Mühe einer Umrechnung gemacht haben - sie ist sehr kompliziert; ich habe damit begonnen, aber ich bin noch nicht damit zu Ende -, warum haben Sie sich dann nicht die Mühe gemacht, dieses Mehrheitswahlrecht mit den Reichstagsergebnissen von 1919, 1920, 1922, 1924 zu vergleichen?
({14})
Als am 20. Juli 1932 der damalige Reichskanzler Papen in einem Staatsstreich in Preußen die Regierung Braun-Severing absetzte, da war es zu spät, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen.
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Ich darf Ihnen eines sagen, Herr Dr. Menzel: Man sollte eben den historischen Gegebenheiten auch dann recht geben, wenn sie im Augenblick unbequem sind.
({16})
1919 in der Weimarer Nationalversammlung wäre die Sozialdemokratie nach einem Mehrheitswahlsystem beinahe die absolut stärkste Partei überhaupt gewesen, und es hätte nur vier Fraktionen gegeben. 1920 bei den Reichstagswahlen wäre die USPD überhaupt nicht mehr in Erscheinung getreten. Das hätte also bedeutet, daß im ersten Reichstag mit fünf Fraktionen die Sozialdemokratie als die weitaus stärkste Fraktion und das Zentrum als zweitstärkste Fraktion eine Regierung hätten bilden können, die eine stabile Mehrheit im Parlament gehabt und damit auch klare Verhältnisse in der Regierung geschaffen hätte. Diese Regierung hätte dann nicht mit Koalitionsbedingungen und Koalitionsverhandlungen im Parlament ein Programm erzwingen müssen, das nicht dem entsprach, was diese Parteien ursprünglich in .ihrer Zielsetzung vor Augen gehabt haben.
Die weitere Entwicklung war: Nachdem es 1919 noch insgesamt sechs Parteien waren, waren es 1924 bereits elf Parteien, 1928 waren es vierzehn Parteien, und damit war nun die Mitte so weit aufgespalten, daß eine Koalitionsbildung von zwei oder drei Parteien, die die Weimarer Republik im wesentlichen getragen haben, gar nicht mehr möglich war. Es mußten Koalitionen mit vier, fünf und sechs Fraktionen gebildet werden, und Sie wissen ja, zu welchem Zustand das geführt hat: Die Regierungen hatten keine stabile Mehrheiten mehr, und sie mußten schon bei der Koalitionsbildung so viele Konzessionen machen, daß sie ein klares Programm überhaupt nicht durchführen konnten. Wir erlebten dann, daß diese Regierungen ab 1928 nurmehr Minderheitenregierungen waren, daß sie sich immer die jeweiligen Mehrheiten im Parlament suchen mußten und daß bei der damaligen Konstruktion der Weimarer Verfassung dann die Regierungskrisen eintraten. Den Regierungskrisen folgten die Auflösungen der Reichstage, und damit waren wir am Beginn des Zusammenbruchs des demokratischen Systems von Weimar.
({17})
Hätten wir 1919 keine Reichstagsauflösung, sondern klare Regierungsmehrheiten gehabt, dann hätte dieses System mit seiner Stabilität eine so große Anziehungskraft ausgeübt, daß die Jugend hinter dieser Demokratie gestanden und nicht irgendwelchen Rattenfängern nachgelaufen wäre. Das sind Tatsachen, die man eben erkennen sollte.
Was war nun die Folge davon? Durch die Regierungskrisen, durch die Reichstagsauflösungen ist das demokratische Prinzip in Mißkredit gekommen, und dann kam der Kampfruf von den antidemokratischen Kräften, von den Kommunisten und den Nationalsozialisten: „Das System ist schuld; hinweg mit diesem System!" Man wollte aber nicht das Vielparteiensystem aus der Welt räumen, man wollte nicht gegen das Vielparteiensystem ankämpfen, sondern im Grunde genommen war es ein Totalangriff gegen die Demokratie.
({18})
Infolge der Entwicklung im Verhältniswahlsystem war es dann auch möglich, daß die Aufspaltung so weit gelang, daß die radikalen Parteien von links und rechts die Mehrheit im Parlament hätten bilden können;
({19})
sie waren aber deshalb nicht dazu in der Lage, weil
die Kommunisten im Grunde genommen im schärfsten Gegensatz zu den Nationalsozialisten standen.
Das ist ungefähr der Leidensweg, den die Demokratie von Weimar gegangen ist.
({20})
Wir sollten uns doch der Mühe unterziehen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß gerade eine ganze Rehe von jungen Abgeordneten der Meinung sind, daß man aus der Vergangenheit und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müßte.
({21})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Abgeordneter Stücklen, meinen Sie nicht auch, daß der Untergang der Weimarer Demokratie nicht eine wahltechnische Frage, sondern auch eine Folge der Anfälligkeit des Bürgertums gewesen ist?
({0})
Stücklen ({1}), Antragsteller: Herr Kollege, da ist etwas dran, und ich will Ihnen sagen, was an dieser Frage dran ist, die Sie gestellt haben. Das Wahlsystem hat es ja ermöglicht, daß jede einzelne Interessentengruppe mit Erfolgsaussichten bei den nächsten Wahlen als Partei aufgetreten ist.
({2})
- Kommt später, Herr Dr. Menzel! Ich habe die Deutschnationalen bisher nicht erwähnt; ich habe
({3})
bisher immer nur von ,den tragenden Parteien der Weimarer Koalition gesprochen. Ich wollte sagen, daß gerade das Verhältniswahlsystem ehrgeizigen Politikern und reinen Interessentenvertretern die Möglichkeit gab, mit Erfolg in den nächsten Wahlkampf zu gehen. Denn einzelne Mandate wird man bei einem Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel immer erzielen. Das hat doch geradezu den Anreiz gegeben, daß die unzufriedenen Kräfte, ganz gleich, welcher Richtung, sich zu jenen Parteien entwickelten. Wir alle kennen jene bitteren Erscheinungen, die wir gehabt haben, mit Miittelstandspartei, mit Landbundpartei usw. usw. Ich habe Ihnen ja auch in Zahlen dargelegt, wohin das geführt hat.
Ich möchte selbstverständlich korrekt sein und nicht sagen, allein das Verhältniswahlsystem habe den Zusammenbruch der Weimarer Republik gebracht. Wir wissen selbstverständlich, daß eine ganze Reihe von anderen Gegebenheiten sich negativ für die Durchführung einer Demokratie ausgewirkt haben. Ich erinnere nur an die falsche Behandlung der deutschen Staatsmänner durch die Siegermächte - sie war psychologisch falsch; was man ihnen verweigert hat, hat man später Hitler gegeben -, ich erinnere an die wirtschaftlichen Erschütterungen.
Ich glaube, ich kann grundsätzlich feststellen, daß es eine Tragik in unserer deutschen Demokratie ist, daß sie immer dann antreten und die Regierung übernehmen mußte, wenn irgendein anderes System nach einem verlorenen Kriege abtreten mußte.
({4})
Aber dann muß man auch die Maßnahmen einbauen, die die größtmögliche Sicherheit geben, daß
diese Demokratie auch tatsächlich erhalten bleibt.
Wenn wir schon zu der Feststellung kommen, daß die Geschichte die Lehrmeisterin der Völker ist, dann sollten wir auch aus den letzten dreißig Jahren lernen und unsere Konsequenzen ziehen. Die Konsequenz, die wir ziehen wollen, ist, daß wir auf der einen Seite unser Grundgesetz nun so stabil gestaltet wissen wollen, daß von d e r Seite aus keine Gefahr mehr droht, und daß wir jetzt auf der anderen Seite eine der wesentlichen Säulen unserer Demokratie, das Wahlgesetz, so ausbauen und so ausgestalten wollen, daß auch von dieser Seite aus wenigstens keine Gefahr mehr für unsere Demokratie und unseren Staat besteht.
Wenn wir von diesen staatspolitischen Erwägungen ausgehen - und nur solche dürfen zugrunde gelegt werden -, dann kommen meine politischen Freunde und ich zu dem Ergebnis, daß das relative Mehrheitswahlrecht die größtmögliche Sicherheit dafür gibt, daß sich nicht das wiederholt, was ich eben skizziert habe.
({5})
Welche Anforderungen stellten wir an ein neues Wahlgesetz?
Die Verhinderung eines Vielparteienstaates soll ein erstrebenswertes Ziel sein. Die relative Mehrheitswahl zwingt zur Konzentration der Wähler und fordert vom Wähler eine echte politische Entscheidung. Da nur ein Kandidat in einem Wahlkreis zum Zuge kommt, wird der Wähler seine Stimme auf Grund seiner gesamtpolitischen Konzeption abgeben, und damit treten enge Gruppeninteressen in den Hintergrund.
({6})
Das beinhaltet automatisch die Begrenzung der Zahl von Parteien. - Herr Mocker, wenn Sie mich öfter ansprechen, dann nehme ich an, daß Sie wünschen, daß ich darauf eingehe. Das tue ich sehr
gern.
({7})
Ich würde dann als Vertreter einer kleineren Partei - ich sage nicht: einer Splitterpartei, sondern: einer kleineren Partei - nicht in dem Augenblick protestieren, wenn wir davon sprechen, daß es für uns ein staatspolitisches Anliegen ist, einen Vielparteienstaat zu verhindern.
({8})
Das sollten Sie also einmal ganz kollegial zur Kenntnis nehmen.
({9})
Die Verringerung der Zahl der Parteien und die in der Regel geschaffenen Mehrheitsverhältnisse erleichtern die Regierungsbildung, und die unerfreulichen Regierungsbildungen, von denen Herr Kollege Kühn in der Haushaltsdebatte gesprochen hat, gehören dann hoffentlich und Gott sei Dank der Vergangenheit und bald auch der Vergessenheit an. Da nehme ich gar keine aus, weder die von oben noch die von unten.
Dadurch, daß eine klare Regierungsmehrheit auf der einen Seite und eine klare Opposition auf der andern Seite geschaffen ist, eine Opposition, die die reelle Chance hat - und das müßte doch eigentlich von den alten Sozialdemokraten klar erkannt werden -, verantwortlich an die Regierung zu kommen, ist diese auch während der Oppositionszeit zu größerer und konstruktiverer Verantwortung gezwungen. Denn das, was sie heute als Opposition von der Regierung verlangt, muß sie bereit und in der Lage sein, als Regierung zu erfüllen. Diese Tatsache allein zwingt die Opposition schon zur Mäßigung und entgiftet die Atmosphäre zwischen Regierung und Opposition.
({10})
Bei diesem System bekommt ja erst die in der Demokratie notwendige Wechselbeziehung von Regierung und Opposition ihren eigentlichen und tieferen Sinn. Das Verhältniswahlsystem macht es der Opposition zu leicht, zu kritisieren und zu fordern. Denn sie weiß ja, daß, selbst wenn sie nach der nächsten Wahl an die Regierung kommt, eine Koalition notwendig wird; und damit ist ein Teil der Verantwortung aufgehoben.
({11})
Man hat dann immer die Ausweichmöglichkeit, zu sagen, daß der Koalitionspartner mit der Erfüllung der einen oder anderen Forderung nicht einverstanden sei und daß man allein zu schwach sei, sie durchzusetzen. Schaffen wir daher klare Verhältnisse in Regierung und Opposition!
Da die Opposition bei den nächsten Wahlen die Mehrheit anstrebt, diese aber nur erreicht, wenn sie in der Mehrzahl der Wahlkreise zum Zuge kommt, wird sie gezwungen, sich nicht nur an eine bestimmte soziologische oder konfessionelle Schicht zu wenden, sondern sie muß sich bemühen, in den
({12})
anderen Bereich hineinzuwirken. Damit ist ein Strukturwandel, eine Auflockerung, allzu dogmatischer Fronten wahrscheinlich, was gerade bei den deutschen Parteien sehr zu begrüßen wäre.
({13})
Eines der wesentlichsten Merkmale des Mehrheitswahlrechts ist die Hervorhebung der Persönlichkeit. Die Mehrheitswahl, die ja keine Ersatzlisten keimt, ermöglicht - jetzt würde ich gut aufpassen, jetzt kommt etwas, dem Sie eigentlich begeistert zustimmen müßten - jeweils den Parteien, den Wählern nur eine Person in einem Wahlkreis zu präsentieren. Damit fällt die Verherrlichung eines oder einiger Parteiführer für Landes- bzw. Bundeslisten aus.
({14})
Das hebt aber gleichzeitig die Bedeutung der Persönlichkeit im Wahlkreis, also des Wahlkreiskandidaten. - Ich vermisse Ihren Beifall. Nicht angekommen.
({15})
- Ich glaube, auch Herr Schneider hätte mir Beifall gegeben. - Er kann es jetzt nicht. - Entsprechend dieser Tatsache wird auch die Auswahl des Kandidaten mit aller Sorgfalt vollzogen, und unter Berücksichtigung der Resonanz dieser Persönlichkeit bei den Wählern des Wahlkreises,
({16})
da der Kandidat von den Parteimitgliedern bzw. -delegierten des Wahlkreises nominiert werden muß, wird zwangsweise der Einfluß der Parteizentrale zugunsten der persönlichkeitsnahen Entscheidung zurückgedrängt.
({17})
Dadurch wird der gewählte Abgeordnete gegenüber seiner Parteileitung unabhängiger, umgekehrt aber stärker seinem Wahlkreis verbunden sein.
({18})
- Wenn Sie wollen, ist es nicht eine Revolution, aber in Wahlrechtsfragen eine Evolution, und dahin müßten wir alle streben.
Der Abgeordnete in einem Wahlkreis wird mit der Gesamtheit der Bevölkerung einen engeren Kontakt suchen und herstellen. Durch diese Verbundenheit wird auch dem Wähler die Institution des Parlaments, des Parlamentariers, der Demokratie schlechthin näher gebracht, was gerade auch für die deutschen Verhältnisse notwendig ist. Aus diesem Grunde sollen die Wahlkreise auch verkleinert werden, damit eine möglichst enge Verbindung des Abgeordneten zu den Wählern gewährleistet ist.
Damit habe ich einige wesentliche Merkmale des Mehrheitswahlrechts herausgestellt. Ich darf betonen, daß diese Gesichtspunkte keinen parteipolitischen Überlegungen entsprungen sind, sondern auf Grund der Erfahrungen für Deutschland eine staatspolitische Notwendigkeit sind.
({19})
- Es kommt noch deutlicher, wo Sie dazwischenrufen können.
({20})
- Das sage ich aus Bayern.
Neben den staatspolitischen Überlegungen sollte man aber auch die Vorstellungen des einfachen Wählers so weit als möglich berücksichtigen. Was erwartet nun der Wähler von einem Wahlgesetz? Das Wahlgesetz soll populär sein, es muß eine ausreichende Resonanz finden, und es darf vor allem nicht den bitteren Beigeschmack haben, als sollte mit ihm der Bestand einer Partei, einer Koalition oder einer Regierung gesichert werden.
({21})
Von diesem Verdacht ist die CDU/CSU frei.
({22})
- Ja, meine Herren von der Sozialdemokratie, wenn ich Ihnen heute die Sünden vorhielte, die Sie in den Wahlrechtsfragen schon begangen haben, und ich Ihr Beichtvater wäre,
({23})
so würde ich sagen: „Geh' heim und bessre dich!" - Von diesem Verdacht ist die CDU/CSU frei; denn sie hat sich bereits von der Gründung an in ihrem Programm, im Parlamentarischen Rat, im 1. Deutschen Bundestag und heute wieder für das relative Mehrheitswahlrecht eingesetzt.
({24})
Es wäre zu wünschen, daß die 29 SPD-Abgeordneten und die 9 FDP-Abgeordneten, die unterschriftlich erklärt haben, sich für das Mehrheitswahlrecht einzusetzen,
({25})
und die zu einem großen Teil noch Mitglieder dieses Hauses sind,
({26})
ebenso konsequent zu ihren damaligen staatspolitischen Erkenntnissen ständen, wie wir das tun.
({27})
Das Wahlgesetz muß auch für jeden vollinhaltlich verständlich sein. Der Wähler muß bei der Stimmabgabe wissen, was mit seiner Stimme geschieht, wie eine Stimme gewertet wird. Er soll wissen, daß, wenn er den Kandidaten A wählt, seine Stimme nur für diesen Kandidaten zählt und nicht etwa, so wie beim personalisierten Verhältniswahlsystem, plötzlich einer weitgehend anonymen Ergänzungsliste zugute kommt, weil der Kandidat A nicht zum Zuge kam. So war es doch beim 49er Wahlgesetz, und so sieht es auch der SPD-Entwurf heute wieder vor. Diese Methode ist, gelinde gesagt, eine Täuschung des Wählers; denn er übersieht nicht die letzte Konsequenz seiner Stimmabgabe. Genau das war es doch, was die SPD im letzten Bundestag anprangerte, nämlich daß der Wähler bei dem vom Kollegen Scharnberg sehr stark forcierten Wahlsystem nicht übersehen könne, wohin letzlich seine Stimme fällt und wie sie gewertet wird. Genau das haben Sie ({28}) uns in Ihrem Wahlgesetzentwurf wieder auf den Tisch gelegt.
({29})
- Nein, ich könnte Ihnen das im einzelnen erklären, aber wir wollen das der zweiten Lesung vorbehalten.
({30})
({31})
- Ich stelle gar nicht gegenüber. Sie machen das komplizierter. Ich habe nur gesagt, daß bei einem Wahlgesetz, wie Sie es vorgeschlagen haben, bei Wahlkreisabgeordneten die Stimme dann Wege geht, die der Wähler nicht übersehen kann; denn wenn der Kandidat der SPD im Wahlkreis nicht gewählt wird, wird ganz automatisch die Stimme, die für den Herrn SPD-Kandidaten „Müller" abgegeben worden ist, auf die Ergänzungsliste der SPD genommen; und da werden nun Persönlichkeiten gewählt, die der Wähler gar nicht kennt oder nicht kennen kann oder nur beschränkt kennt.
({32})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werde Sie nicht mehr länger belästigen; denn ich kann mir vorstellen, daß dieses Wahlgesetz für Sie beinahe eine physische Belastung darstellt.
({33})
Aber lassen wir uns von dem Ergebnis der Wahl vom 6. September 1953 nicht täuschen. Dieses Wahlergebnis ist bestimmt nicht wegen des Wahlgesetzes erreicht worden,
({34})
sondern trotz des Wahlgesetzes ist dieses Ergebnis zustande gekommen.
({35})
Aber, vergessen wir nicht - ich fahre fort; ich habe doch psychologisch Ihre Zwischenrufe so genau abgestimmt, daß ich sofort in meinem nächsten Satz den Gegenbeweis bringe -,
({36})
daß diese Wahl am 6. September unter günstigsten Voraussetzungen stattgefunden hat: weitgehende wirtschaftliche und auch soziale Befriedung, außenpolitische Erfolge und nicht zuletzt
({37})
die überragende Persönlichkeit des Herrn Bundeskanzlers.
({38})
Ich weiß nicht, wie das Wahlergebnis ausgefallen wäre, - ({39})
- Nein, Herr Kollege, wollen wir lieber nicht darüber reden!
({40})
Sie haben doch einen Aufwand getrieben, der sehr beachtlich war.
({41})
- Natürlich war er sehr beachtlich, es war nur
psychologisch nicht ganz klar; denn ich hätte nicht
immer den Adenauer auf Ihre Plakate genommen!
Darf ich nun einmal den Satz von vorn beginnen, damit Sie ihn vollinhaltlich erfassen können: Ich weiß nicht, wie das Wahlergebnis ausgefallen wäre, nicht in bezug auf die CDU/CSU, sondern allein in Hinsicht auf die parteipolitische und parlamentarische Integration, wenn wir einige Millionen
Arbeitslose, politische Krisen und keine so stabile Regierung mit der Persönlichkeit unseres Bundeskanzlers gehabt hätten.
({42})
Wie hätte dann dieser Bundestag ausgesehen?! Er hätte dann auch ein Wahlgesetz machen müssen, an dem vielleicht ein Herr Remer, ein Herr Loritz und ein Herr Renner - manchmal sitzt er hier oben; mir persönlich gar nicht so unsympathisch, nur das, was dahinter steht
({43})
- persönlich, nur persönlich! - und andere noch unbekannte politische Persönlichkeiten wie ein Herr Gregor Straßer mitgearbeitet hätten.
({44})
- Entschuldigen Sie, der andere, der Otto Straßer natürlich! - Wenn dann noch die von der SPD in ihrem Wahlgesetzentwurf vorgesehene Splitterklausel von 5 % - auf die Landesebene bezogen - durchkäme, dann wären wir wieder schneller, als manche es für möglich gehalten hätten, in der Parteienzersplitterung, in der Desintegration wie in Weimar, und das grausame Spiel könnte von vorne beginnen.
({45})
Um das zu verhindern, haben meine politischen Freunde und ich aus tiefster Verantwortung für den Bestand unserer Demokratie und damit den Bestand unseres Volkes diesen Wahlgesetzentwurf, der das relative Mehrheitswahlrecht vorsieht, vorgelegt.
({46})
Das Wort hat der
Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe leider nicht die Freude, wie meine drei Vorredner, einen kompletten Wahlgesetzentwurf begründen zu können. Ich bin nicht traurig darüber, daß in diesem Falle einmal einer der drei Träger der Gesetzesinitiative - Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat; also hier der Bundestag - den Vorrang gehabt hat. Warum, meine Damen und Herren? Ich bin vorhin mit Erklärungen zitiert worden, die ich seinerzeit als Sprecher der CDU abgegeben habe. Ich halte diese Erklärungen auch heute noch für sehr gesunde und vernünftige Erklärungen, und ich bin der Meinung, daß das, was ich damals erklärt habe, heute durch die CDU/CSU-Fraktion, auf die ich keinen unmittelbaren Einfluß mehr habe,
({0})
erfüllt worden ist. Ich konnte damals keine Erklärung für die Bundesregierung abgeben.
({1})
Ich hätte es auch für sehr riskant gehalten, kurz vor Abschluß einer Legislaturperiode und vor bevorstehenden Neuwahlen bereits die Nachfolger hier zu verpflichten.
Wenn Sie die Situation von damals in zeitlicher Beziehung mit der von heute vergleichen, dann ist doch wohl folgendes zu sagen. Das Wahlgesetz für diesen Bundestag ist rund zwei Monate vor den damaligen Bundestagswahlen verabschiedet worden, also wirklich im allerletzten möglichen Zeitpunkt. Diesmal - ich glaube, das muß man ge({2})
rechterweise anerkennen, und das wird, wie ich hoffe, auch die Öffentlichkeit anerkennen - sind wir doch sehr viel günstiger dran.
({3})
- Lieber Herr Kollege Rehs, ich glaube, in dem Rennen um die Vorbereitung des Wahlgesetzes sind wir gar nicht zu schlagen. Das schließt gar nicht aus, daß Ihre Fraktion es gewesen ist, die zunächst einen Entwurf vorgelegt hat.
Ich darf dazu noch folgendes sagen. Ich habe 1953 mit meinen Freunden die Auffassung geteilt, daß es sehr notwendig sein würde, in gemessener Zeit während dieser Legislaturperiode ein neues und, wie ich hoffe, recht dauerhaftes Wahlgesetz zu verabschieden. Die Verabschiedung eines solchen Wahlgesetzes erfordert Vorarbeiten, wie jeder einsehen wird. Mit diesen Vorarbeiten haben wir 1953 sofort begonnen. Dazu gehörte die Auswertung der Berichte des Bundeswahlleiters und der Erfahrungen der Länder, und dazu gehörte ein zweites. Die Wahlrechtsdiskussion war in unserem Vaterlande sehr in die Gefahr geraten, doch etwas einseitige Akzente zu erhalten. Ich freue mich, daß es möglich gewesen ist und daß es soviel Beifall und Anerkennung gefunden hat, eine Kommission von völlig unabhängigen, sehr angesehenen Gelehrten und Praktikern zu berufen, die einen Bericht vorgelegt hat, der große Teile dessen, was sonst recht streitig gewesen ist, doch nun mehr oder weniger außerhalb des Streits gestellt hat.
Ich bin der Überzeugung, daß ebenso, wie Teile dieses Berichts schon heute hier in der Debatte zitiert worden sind, manche Stelle aus diesem Bericht noch während der Ausschußberatungen mit Nutzen und Erfolg verwendet werden kann. Ich bin etwas traurig, daß Herr Kollege Schneider - ich spreche ihn in seiner Eigenschaft als Kollegen an und nicht als den gerade amtsführenden Präsidenten - den Bericht noch nicht gelesen hat und ihn erst auf dem Umweg über die „Neue Zürcher Zeitung" zur Kenntnis nehmen mußte. Als Mitglied des Wahlrechtsausschusses wird er sicherlich Gelegenheit haben, diese Lektüre nachzuholen. Aber sicherlich spricht es für die Qualität des Berichts, daß man wesentliche Stellen aus ihm schon jetzt auf dem Umweg über ausländische Zeitungen zur Kenntnis nehmen kann. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse dieses Sachverständigenberichts -und ich möchte diese Gelegenheit benutzen, den Herren noch einmal ausdrücklich dafür zu danken - werden bei den kommenden Beratungen eine große Rolle spielen; sie haben darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, die Vorarbeiten des Ministeriums beträchtlich zu fördern.
Ich sagte schon, meine Damen und Herren, es gibt drei Träger der Gesetzesinitiative, und nicht immer wird es praktikabel sein, daß das zuständige Ressort seinerseits einen kompletten Gesetzentwurf vorlegt. Für denjenigen, der die politischen Strukturverhältnisse kennt, ist es ganz eindeutig, daß damit im Schoße der Regierung eine Entscheidung vorweggenommen würde, die - wir haben das während der ersten Legislaturperiode erlebt - dann doch in den Ausschüssen erst eigentlich in die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Auffassungen gerät. Insofern wäre nicht sonderlich viel gewonnen, wenn die vorliegenden Entwürfe nun noch um einen vierten, einen Regierungsentwurf, bereichert würden. Vielmehr haben wir es in der Vorbereitung für unsere Aufgabe gehalten, in
all den Punkten, die mehr die Technik des Gesetzes angehen, jede nur mögliche Unterstützung zu leisten, und auch während der Ausschußberatungen sehe ich die Aufgabe des Ministeriums darin, all das, was auf technischem Gebiet möglich ist, zur Unterstützung beizutragen.
Ich möchte mich nun mit einigen Worten den vorliegenden Entwürfen zuwenden. Ich beginne mit dem Entwurf der sozialdemokratischen Fraktion. Dieser Entwurf, meine Damen und Herren, stellt einen Rückgriff auf eine sehr frühe Wahlrechtsvorlage dar, nämlich auf das Wahlrecht, das der Parlamentarische Rat verabschiedet hat. Ich glaube kaum, daß die Neuauflage eines Wahlgesetzes, das noch vor der Konstituierung der Verfassungsorgane der Bundesrepublik damals in aller Eile und unter noch recht unklaren Verhältnissen geboren worden ist, eines Wahlsystems, das darüber hinaus etwas starr ist, heute noch als den Bedürfnissen entsprechend anerkannt werden kann.
Diese Wahlgesetzvorlage enthält wieder alle alten Anliegen der SPD, vor allem das Bestreben, die Zusammenarbeit anderer Parteien bei der Wahl zu verhindern oder doch zu erschweren. Ich brauche hier nur an § 5 dieser Vorlage zu erinnern, das Verbot der Verbindung von Wahlvorschlägen, die Ausschließung gemeinsamer Wahlvorschläge, und besonders an § 1 Abs. 2: Landeswahlvorschläge werden nur zugelassen von Parteien, die in jedem Wahlkreis einen Bewerber aufgestellt haben. Wenn man diese Tendenz charakterisieren will, meine Damen und Herren, so kann man das nur, indem man sagt: Das ist ganz klar der Versuch, den präsumtiven Gegner zu zersplittern! Das ist, wie wir wissen, ein alter Bekannter aus der sozialdemokratischen Wahlgesetzgebung.
Im übrigen ist die letztgenannte Bestimmung nach meiner Auffassung auch verfassungswidrig - ich darf in dieser Beziehung auf die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 12. Oktober 1950 verweisen -, weil sie einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit darstellt. Bei näherer Betrachtung, meine Damen und Herren, werden Sie sicherlich zu der Überzeugung kommen, daß wir ein Bundeswahlgesetz nicht mit einer solchen Bestimmung belasten dürfen.
Ich glaube darüber hinaus, daß die Sperrklausel des § 4 Abs 4 einen unverkennbaren Rückschritt im Bundeswahlrecht darstellt. Bisher waren für die Teilnahme am Landesausgleich 5 % der Stimmen im gesamten Wahlgebiet erforderlich, jetzt sollen es nur noch 5 % der Stimmen im Lande sein. Das bedeutet, daß die Einheit des Wahlvorgangs im Bundesgebiet zerstört würde, und auf diese Weise gäbe es keine Sicherheit, Splitterparteien vom Bundestag fernzuhalten. Wenn man schon Verhältniswahlrecht vorschlägt, dann muß man eine auf die Bundesebene abgestellte Sperrklausel haben; denn sie allein ist eine wirksame Garantie gegen das Überhandnehmen von Splitterparteien.
Der Entwurf enthält im übrigen eine Reihe von mehr technischen Mängeln, auf die ich während der Ausschußberatungen zurückkommen möchte.
Ich darf dann einige Ausführungen zu den beiden anderen Entwürfen machen. Ich glaube, daß der Vorschlag, den die Fraktion der Freien Demokraten in Anlehnung an das Wahlgesetz von 1953 gemacht hat, auf jeden Fall in technischer Beziehung positiv zu werten ist. Ich beschränke mich auf eine
({4})
Charakterisierung bezüglich der Technik und charakterisiere nicht den politischen Gehalt.
({5})
Ich glaube, daß wir eine saubere Systematik des Wahlgesetzes brauchen. Das leuchtet einem dann um so mehr ein, wenn man Gelegenheit gehabt hat, die ausländischen Wahlgesetze etwas zu studieren, die zum Teil sehr undurchsichtig und kompliziert sind. Deswegen scheint mir die Anlehnung an die Technik von 1953 und die Weiterentwicklung dieser Technik durchaus begrüßenswert.
Einer der wesentlichen Vorschläge von den zahlreichen Vorschlägen, die die Wahlrechtskommission gemacht hat, scheint mir der zu sein, eine ständige Wahlkreiskommission - übrigens in Anlehnung an, ein englisches Vorbild - zu schaffen. Wenn man sich ansieht, wie sich derzeit die Wahlkreise nach den Zahlen nebeneinander ausnehmen, so muß man feststellen, daß die große binnendeutsche Bevölkerungswanderung zu sehr erheblichen Veränderungen geführt hat. Wir haben Wahlkreise - ich stelle nur die beiden extremen Fälle einander gegenüber -, bei denen der eine 120 000 und der andere 360 000 Einwohner, der eine also das Dreifache des anderen umfaßt. Daß das auf die Dauer keine einigermaßen gleichwertigen Wahlkreisgrößen sind, wird, glaube ich, jeder zugestehen müssen.
Nun will ich auf der anderen Seite gerne einräumen, daß es kein leichtes Unterfangen ist, zu einigermaßen gerechten Wahlkreisabgrenzungen zu kommen. Ich bin aber der Auffassung, daß dieses Problem, wenn man eine gewisse Abweichung in den Größen nach oben oder unten zuläßt, bei gutem Willen zu regeln ist. Ich würde es sehr begrüßen, wenn sich das Hohe Haus entschließen könnte, diese Aufgabe einer unabhängigen Kommission anzuvertrauen. Das nimmt der Gesetzgebungsbefugnis dieses Hohen Hauses natürlich nicht das geringste, weil man sich den Vorgang so vorstellen müßte - übrigens ist es in England ähnlich -, daß ein solcher Vorschlag dann erst durch Gesetz in Kraft gesetzt werden könnte.
Von anderen Vorschlägen, die gemacht worden sind, möchte ich vor allen Dingen den der Briefwahl positiv bewerten, außerdem den Vorschlag der Sperrklausel von 5 % der Zweitstimmen auf Bundesebene oder die Erringung von 3 Wahlkreismandaten. Es ist bisher geradezu ein Ärgernis gewesen, daß ein einziges Wahlkreismandat genügte, gleichwertig 5 % der Stimmen zu sein. 5 % entsprechen bei einer Abgeordnetenzahl von rund 500 einem Gegenwert von 25 Sitzen und nicht von einem Sitz. Diese Bestimmung ist auf jeden Fall korrekturbedürftig.
({6})
- Drei genügen Ihnen nicht? Wollten Sie das sagen?
({7})
- Meine Herren, ich habe diesen Vorschlag nicht gemacht. Ich habe nur gesagt, daß die drei eine Verbesserung gegenüber der bisher geforderten Zahl eins sind. Wie weit Sie von da an das rechnerisch Richtige von 25 oder - wenn wir 400 Abgeordnete haben - von 20 herankommen wollen, bleibt Ihnen überlassen.
Auch daß die Probleme um den Fall SchmidtWittmack - wir wollen nicht hoffen, daß sich dergleichen wiederholt - jetzt endlich ohne weitere
Diskussion aus einem Wahlgesetz gelöst werden können, wird jeder, glaube ich, nur als erfreulich ansehen.
Meine Damen und Herren, einer näheren Charakterisierung des Vorschlags, den meine engeren politischen Freunde gemacht haben, möchte ich mich enthalten.
({8})
Ich darf auf etwas verweisen, was liebenswürdigerweise Herr Kollege Rehs zitiert hat aus meinem Vorwort zu dem Bericht der Wahlrechtskommission; vielleicht darf ich es wiederholen, um dann daran anzuknüpfen. Ich habe dort gesagt, daß der Bestand, die Festigung und das Ansehen der freiheitlich demokratischen Grundordnung in hohem Maße von einem guten Wahlgesetz abhängt. Herr Kollege Rehs hat, wie soll ich sagen, etwas dialektisch versucht, herauszubekommen, ob hier gut im Sinne von nur technisch richtig oder gut im Sinne von staatsethischen Kategorien gemeint sei. Herr Kollege Rehs, ich kann Ihnen bei diesem dialektischen Versuch helfen. Es ist selbstverständlich in doppelter Beziehung gemeint, sowohl technisch gut wie staatsethisch - oder wollen Sie sagen, staatspolitisch - gut.
Unsere Auffassungen darüber, was auf diesem Gebiet unserem Volk und Vaterland frommt und nützen würde, gehen auseinander. Ich habe seit 1945 sicherlich in der ersten Reihe derer gestanden, die für eine grundlegende Wahlrechtsreform in Deutschland eingetreten sind. Ich bedaure es sehr, das erkläre ich hier ganz offen, daß es damals, in einem Zeitpunkt, in dem man noch richtig starten konnte, nicht zu einer grundlegenden Reform gekommen ist. Nachdem sich die Dinge entwickelt haben, wie sie sind, nachdem wir eine staatliche Struktur und einen Aufbau haben, wie er ist, muß man das bei der Gestaltung jedes Wahlgesetzes selbstverständlich in Rechnung setzen. Wenn ich mir die Chancen eines Gesetzentwurfs überlege, so sehe ich nicht dieses Hohe Haus allein, sondern ich sehe hinter diesem Hohen Haus auch immer den Schatten des Bundesrats auftauchen. Ich bin mir natürlich klar darüber, daß es bei einem solchen Gesetz Auseinandersetzungen nicht nur auf dieser Ebene, sondern selbstverständlich in beinahe allen, wie soll ich mich ausdrücken, Etagen der deutschen Zuständigkeiten gibt.
Eine solche Bemerkung mag ein bitterer Tropfen in dem Wein derjenigen sein, die vielleicht das Problem heute ohne jene Hemmungen möchten lösen können, die uns die zwischenzeitliche Entwicklung zwangsläufig auferlegt. Aber ich glaube, man sollte doch einen Blick dafür haben, daß wir, ganz gleichgültig, wie die endgültige Formulierung in diesem Hohen Hause aussieht, die Verpflichtung haben, dazu beizutragen, daß die politischen Kräfte in Deutschland sich nicht vereinzeln, sondern daß sie zusammengefaßt bleiben und in die Lage versetzt werden - dabei sehe ich weder nach rechts noch nach links; für mich ist das eine ganz allgemeine Frage -, tragfähige Regierungen zu bilden. Hierbei hat das Wahlgesetz sie zu unterstützen. Ich habe nur den Wunsch, daß in den Ausschüssen aus diesen drei Entwürfen letztlich ein Ergebnis hervorgehen möge, das für die künftige Zeit nicht nur ein Parlament einer bestimmten Größenordnung, sondern vor allen Dingen durch das Parlament und mit dem Parlament eine stabile Regierung ermöglichen wird.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Scharnberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die grundsätzliche Autfassung meiner Fraktion über die Wahlrechtsfrage ist mehrfach bei offiziellen Veranstaltungen meiner Partei, und zwar zuletzt auf dem Hamburger Parteitag im Jahre 1953, bekundet worden. Wir bekennen uns zum Prinzip des Mehrheitswahlrechts, und diese Auffassung beruht auf unseren Auffassungen über die Aufgaben des Parlaments. Wir sind der Meinung, daß das Parlament nicht nur Gesetze zu machen und den Haushalt zu genehmigen hat. Eine ebenso wichtige Aufgabe besteht unseres Erachtens in der Bildung und laufenden Kontrolle der Regierung, und eine nicht minder wichtige Aufgabe sehen wir darin, dafür zu sorgen, daß eine wirksame Opposition im Parlament besteht. Wir vertreten den Standpunkt, daß es entscheidend vom Wahlrecht abhängig ist, ob diese Aufgaben erfüllt werden. Das Verhältniswahlrecht halten wir hierfür nicht für geeignet.
Ich bin eigentlich erstaunt, meine Damen und Herren, daß weder der Kollege Rehs von der SPD noch der Kollege Schneider von der FDP mit irgendeinem Wort auf die Frage, um die es hier eigentlich geht, eingegangen ist, nämlich warum sie nun eigentlich das Verhältniswahlrecht dem Mehrheitswahlrecht vorziehen. So möchte ich mich hier mit dem Verhältniswahlrecht auseinandersetzen.
Die theoretische Grundlage des Verhältniswahlrechts besteht in der Auffassung, daß das Parlament eine Repräsentativversammlung ist, daß es ein Spiegelbild der vielfältigen politischen Auffassungen des Volkes zu sein hat, womit gesagt wird, daß es - und mit dieser Formulierung wird zugleich auch der Irrtum klar - die Darstellung einer Desintegration ist. Wir meinen, daß im Gegensatz hierzu die Aufgabe des Parlaments darin besteht, aus einer Vielzahl von politischen Meinungen des Volkes eine gültige Auffassung herauszuarbeiten, d. h. eine Entscheidung zu fällen, also zu integrieren. Das tut aber ein Parlament, in dem eine Vielzahl von Parteien, die selbständig nebeneinander manövrieren, vertreten sind, wie ohne weiteres einzusehen ist, nicht so gut wie ein Parlament, das aus zwei Parteien besteht. Das Verhältniswahlrecht läßt aber regelmäßig eine Reihe von Parteien zu, während das Mehrheitswahlrecht zur Bildung von zwei Parteien führt.
Im Zwei-Parteien-System regiert diejenige Partei, die die Wahl gewinnt, vier Jahre, während der anderen Partei für dieselbe Zeit die Rolle der Opposition zufällt. Hierdurch sind stabile Verhältnisse, klare Zuständigkeiten, klare Verantwortung gegeben, und zwar durch das Votum der Wähler. Nicht die Fraktionen, wie bei einem durch das Verhältniswahlrecht gewählten Mehr-Parteien-Parlament, bestimmen die Zusammensetzung der Regierung - in der Weimarer Zeit und auch neuerdings mußten wir da häufig recht unerfreuliche Erscheinungen beobachten -, sondern das Volk selbst wählt die Regierung. Die Regierungsbildung erfolgt also nicht nach der Wahl und dabei vielfach sehr im Gegensatz zu den Vorstellungen, die manche Wähler bei der Abgabe ihres Stimmzettels hatten, sondern sie erfolgt durch die Wahl.
Statt einer Mehr-Parteien-Regierung, bei der die Verantwortlichkeiten der beteiligten Parteien regelmäßig verwischt werden, gibt es eine Ein-Partei-Regierung. Statt einer häufig aus mehreren Parteien bestehenden Opposition, die aus völlig verschiedenen Gesichtspunkten in Opposition stehen und infolgedessen auch keine gemeinsame Verantwortung haben, befindet sich im Zwei-ParteienSystem nur eine Fraktion in der Opposition und muß bei ihrer Haltung stets beachten, daß sie ja bei der nächsten Wahl die Regierung übernehmen will. Dadurch ist sie gezwungen, eine verantwortungsbewußte Opposition zu betreiben.
Auf den wesentlichen Unterschied aber zwischen einem nach Mehrheitswahlrecht und einem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament habe ich schon in der Rede hingewiesen, die ich in der ersten Legislaturperiode anläßlich der Beratung des Wahlrechts an dieser Stelle gehalten habe. Der Unterschied besteht in folgendem. Ein Element der politischen Arbeit ist nun einmal das Kompromiß. Man versucht zu einem Weg der Mitte zu gelangen, und dieses Bestreben ist auch richtig. Es führt bei einem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament, in dem also mehrere Parteien vertreten sind, zu einer Tendenz, wenn möglich, eine Regierung der Mitte zu bilden. Jede Regierung muß damit rechnen, daß sie einer langsam zunehmenden Opposition ausgesetzt ist. Bei einer Regierung der Mitte bestehen zwei oppositionelle Flügel, und zwar auf der rechten und auf der linken Seite. Auf diese oppositionellen Flügel wird von den immer existenten radikalen Elementen rechts und links eine Anziehungskraft ausgeübt. Der Regierung der Mitte stehen somit mehrere mehr oder minder radikale, sich selbst aber erbittert bekämpfende Oppositionsgruppen gegenüber, deren Kräfte von einer von der Regierung ausgehenden Zentrifugalkraft ständig gespeist werden. Diese Oppositionsgruppen sind nur in einem einig: nämlich in der Bekämpfung der Regierung.
({0})
Bei einem Zwei-Parteien-Parlament ist das anders. Beide Parteien, sowohl die, welche die Wahl gewonnen hat, wie die, welche sie verloren hat, brauchen sich um die an ihren äußeren Flügeln befindlichen radikalen Wählergruppen gar nicht zu kümmern; denn diese Wählergruppen können sich nicht loslösen und eigene Kandidaten aufstellen, weil das Mehrheitswahlrecht solchen Kandidaten keine Chance geben würde.
({1})
Beide Parteien brauchen sich also nur um die Grenzwähler in der Mitte zwischen den beiden Parteien zu kümmern; denn diese Wähler können, wenn sie unzufrieden sind, bei der nächsten Wahl die Partei wechseln und damit das Wahlresultat entscheiden.
Aus diesem vorwiegenden Interesse beider Parteien für die Grenzwähler in der Mitte muß sich konsequent für beide, sowohl für die Regierung, als auch für die Opposition, eine Politik der Mäßigung, der Verständigung und des Kompromisses ergeben. Sie unterliegen gewissermaßen einer Zentripetalkraft. Dies trifft für die Opposition um so mehr zu, als sie jederzeit bereit sein muß, nach Neuwahlen die Regierung zu übernehmen. Sie kann sich der Übernahme der Regierungsgewalt, wenn das Volk zu ihren Gunsten entschieden hat, nicht entziehen, im Gegensatz zu einer Oppositionspartei im Mehr-Parteien-Parlament, in deren Be({2})
lieben - solange sie nicht die absolute Mehrheit erzielt hat - steht, ob sie die Regierungsverantwortung mit übernehmen will oder nicht. Diese Freiheit befähigt sie natürlich auch zu einer verantwortungslosen Opposition.
Die Entwicklung der Weimarer Republik - und hierauf hat ja der Kollege Stücklen bereits hingewiesen - zeigt in so eindeutiger Weise die hier geschilderten verheerenden Gefahren des Verhältniswahlrechts, daß es mir völlig unverständlich ist, wie man auf Grund dieser Erfahrungen die Gefahren übersehen und nach wie vor das Verhältniswahlrecht als das richtige Wahlrecht anpreisen kann.
Bei der Wichtigkeit dieser Frage möchte ich dem, was Kollege Stücklen hier vorgetragen hat, doch noch einiges hinzufügen:
In der Weimarer Republik hat das Verhältniswahlrecht nur einmal, und zwar in der zuerst gewählten Nationalversammlung, klare Mehrheitsverhältnisse für die sogenannte Weimarer Koalition erbracht. In den acht Reichstagen, die folgten, hat die Weimarer Koalition nie wieder eine Mehrheit bekommen, und es ergaben sich in kurzer Reihenfolge Regierungskrisen, wobei bemerkenswert ist, daß nur für insgesamt ein Drittel der Zeitspanne vom ersten Reichstag im Jahre 1920 bis zum Jahre 1932, d. h. also für viereinhalb Jahre, Mehrheitskabinette gebildet werden konnten, die aber jedesmal durchaus heterogen zusammengesetzt waren. In den anderen acht Jahren, d. h. also für zwei Drittel der Zeitspanne, waren Minderheitskabinette an der Regierung, und zwar 11 an der Zahl.
Daß dies nicht eine besondere deutsche Erscheinung, sondern eine Folge des falschen Verhältniswahlrechts ist, zeigt ein Blick auf andere Länder mit Verhältniswahlrecht, z. B. auf die französische Republik,
({3})
auf die Ereignisse dort in den letzten Jahren, die uns allen bekannt sind. Das zeigt uns auch ein Blick auf die 70er Jahre, auf die französische Dritte Republik von 1870 bis 1940. Es gab in dieser Zeit 106 Kabinette mit einer Durchschnittsdauer von etwas weniger als 8 Monaten.
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- Das war kein Mehrheitswahlrecht, das war immer ein Verhältniswahlrecht.
({5})
- Darüber werden wir nochmals sprechen, Herr Kollege Menzel; es ist nicht richtig.
({6})
- Was Mehrheitswahlrecht ist, Herr Kollege Menzel, ist leider nicht klar. Was wir jetzt hier haben, wird vielfach auch als ein Mehrheitswahlrecht oder als eine Mischung zwischen einem Mehrheitswahlrecht und einem Verhältniswahlrecht bezeichnet. Ein richtiges Mehrheitswahlrecht ist nur das, was Herr Kollege Stücklen hier eben entwickelt hat.
Man wird mir nun entgegenhalten, daß unter dem Verhältniswahlrecht, wie wir es seit 1949 leider wieder haben, schon über anderthalb Legislaturperioden stabile Regierungsverhältnisse bestanden haben und daß Verhältnisse, wie sie bei uns in der Weimarer Republik bestanden, nicht wiederkehren können, weil wir das konstruktive Mißtrauensvotum haben.
Das konstruktive Mißtrauensvotum hat sich zweifellos bewährt. Das beruht aber darauf, daß es gelungen ist, eine Koalitionsregierung auf Grund einer klaren Parlamentsmehrheit zu bilden.
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Bis zur Wahl des 1. Reichstages im Jahre 1920 war die Regierung in Deutschland bekanntlich auch durchaus stabil, obwohl kein konstruktives Mißtrauensvotum bestand. Sie war stabil, weil sie getragen wurde von der starken parlamentarischen Mehrheit, welche in der Nationalversammlung durch die Weimarer Koalition gebildet wurde. Ob sich jedoch das konstruktive Mißtrauensvotum auch bewähren wird, wenn keine Mehrheitsregierung zustande kommt, bezweifle ich. Man braucht auch diesetwegen wiederum nur einen Blick auf die Entwicklung der Weimarer Republik zu werfen.
Die schon vorhin von mir bemängelten Zentrifugalkräfte bei Regierungen der Mitte in Demokratien, die auf dem Verhältniswahlrecht beruhen, führten in der Weimarer Republik dazu, daß sich in einem aus 577 Abgeordneten bestehenden Reichstag, der im September 1930 gewählt wurde, 77 Kommunisten und 107 Nationalsozialisten befanden; das waren zusammen 32 %. Die Weimarer Koalition verfügte nur über 231 Abgeordnete; das waren 40 % der Sitze. Die Bayerische Volkspartei hatte 19, die Deutsche Volkspartei 30 und die Deutschnationale Partei nur noch 41. Dagegen hatten die Splitterparteien 72 Sitze. Eine Mehrheitsregierung wäre theoretisch nur unter Zusammenfassung aller die Demokratie bejahenden, im übrigen aber völlig heterogenen Elemente denkbar gewesen. Eine solche Koalition kam naturgemäß nicht zustande. Sie hätte ja auch der Wesensart der Demokratie, in der Elemente, welche die Demokratie bejahen, in der Wechselwirkung von Regierung und Opposition stehen sollen, nicht entsprochen.
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Praktisch war damit seit 1930 das Parlament zur Machtlosigkeit verurteilt. Daran hätte auch die Existenz eines konstruktiven Mißtrauensvotums nichts geändert, da ja die Machtlosigkeit auf dem Gesetzgebungsnotstand dieses Parlaments beruhte. Dieser Gesetzgebungsnotstand war eine Folge der schlechten Zusammensetzung des Reichstags, und diese wiederum war eine Folge der falschen Idee, daß das Parlament eine Repräsentativversammlung aller im Volke vertretenen politischen Meinungen sei, eine Folge des Verhältniswahlrechts.
Wie konnte es im übrigen schließlich dazu kommen, daß sowohl die Kommunisten als auch die Nationalsozialisten einen so ungeheuren Zuwachs erhielten? Die Antwort, meine Herren, ist meines Erachtens völlig klar.
({9})
In dem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament entwickelte sich eine Reihe von Fraktionen und Gruppen. Man sage nicht, daß solche Entwicklungen durch Sperrklauseln zu verhindern gewesen
({10})
wären. Erstens unterliegen Sperrklauseln einer dauernden Gefahr der Abschwächung, wie z. B. der vorliegende Entwurf der SPD zeigt. Zweitens aber bestand das Übel der Weimarer Republik in der Existenz der acht größeren und mittleren Parteien. Ich bestreite, meine Damen und Herren, daß es überhaupt so viele echte politische Konzeptionen gibt, und daher haben sich diese Parteien mehr oder weniger der Vertretung bestimmter Berufsinteressen zugewandt. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen, die in Regierungskrisen, in Kuhhändeln bei der Regierungsbildung, in der Unfähigkeit, Gesetze zu machen, in Erscheinung traten, wurden von der Bevölkerung eindeutig abgelehnt, und so entstand der Ruf nach dem starken Mann, den man in Hitler dann zu haben glaubte.
({11})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Scharnberg, wie erklären Sie es sich dann, daß sogar unter dem absoluten Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs der Reichstag durchschnittlich 12 bis 16 Parteien hatte?
Das absolute Mehrheitswahlrecht entspricht nicht dem relativen Mehrheitswahlrecht. Sie haben völlig recht, daß das absolute Mehrheitswahlrecht nicht zur Bildung von zwei Parteien führt. Infolgedessen bin ich auch der Meinung, daß dieses Wahlrecht nicht empfehlenswert ist.
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Das Verhängnis nahm dann im Jahre 1932, als im Juli ein Reichstag von 608 Abgeordneten gewählt wurde, seinen folgerichtigen Verlauf. In diesem Parlament befanden sich 89 Kommunisten und 230 Nationalsozialisten. Sie bildeten damit zusammen eine Mehrheit, natürlich ohne sich aber zu einer konstruktiven Regierung zusammenfinden zu können oder zu wollen. Eine demokratische Regierung war nicht mehr möglich.
Ich will gewiß nicht behaupten, daß das falsche Wahlrecht allein für alles das, was dann seit dem Jahre 1933 geschah, verantwortlich ist. Ich behaupte aber, daß, wenn die Weimarer Republik von vornherein das relative Mehrheitswahlrecht gehabt hätte, der Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus niemals zur Entstehung gekommen wären und infolgedessen dann auch nicht den verheerenden Einfluß hätten gewinnen können, der nachher zum „Dritten Reich" führte.
({1})
Man hört immer wieder die Meinung, daß das Wahlrecht von 1949, das dem sozialdemokratischen Entwurf entspricht, und das Wahlrecht von 1953, das dem FDP-Entwurf entspricht, eine Mischung und somit ein Kompromiß zwischen Mehrheitsund Verhältniswahl darstellen. Das ist nicht der Fall; denn in beiden Fällen werden die in der direkten Personenwahl im Wahlkreis errungenen Mandate auf die Listenmandate angerechnet, und auf diese Weise werden die Mandate genau verhältnismäßig auf die an der Wahl beteiligten Parteien - mit Ausnahme natürlich derjenigen, die
der Sperrklausel zum Opfer gefallen sind - verteilt. Die Wahlrechte sind also reine Verhältniswahlrechte, und die Mischung dieser Wahlrechte beruht auf einer Verbindung von Personen- und Listenwahl, nicht aber von Mehrheits- und Verhältniswahl.
Über eine Mischung zwischen Personen- und Listenwahl läßt sich reden. Wir lehnen jedoch - ich verweise auf die von mir bereits gemachten Ausführungen - mit allem Nachdruck den Verhältniswahlcharakter dieser Wahlrechte ab, und aus diesem Grunde lehnen wir auch die Vorschläge der SPD und der FDP ab; denn wir wollen dafür sorgen, daß Entwicklungen, wie sie in der Weimarer Republik möglich waren, in Zukunft unmöglich gemacht werden.
({2})
Mein Freund Stücklen hat mit einer großen Zahl von Kollegen meiner Fraktion einen Entwurf auf der Basis des relativen Mehrheitswahlrechts eingereicht. Ich stehe nicht an, hier zu sagen: so sehr wir im grundsätzlichen das Prinzip des Mehrheitswahlrechts als das beste anerkennen, sind wir doch auch zu einem Kompromiß bereit, und das ist der Grund, weswegen meine Fraktion keinen eigenen Entwurf eingebracht hat.
Das Kompromiß, das uns vorschwebt, muß jedoch ein echtes Kompromiß sein, das heißt, es muß den Gesichtspunkten, die ich vorgetragen habe, und den Zielen Rechnung tragen, die wir im Wahlrecht verfolgt zu sehen wünschen, gleichzeitig aber auch der Tatsache, daß wir nun einmal nicht zwei, sondern fünf Parteien haben.
Wir sind der Auffassung, daß die Frage des Wahlrechts von eminent staatspolitischer Bedeutung ist. Welch unerhörte Bedeutung das Wahlrecht hat, zeigt die Tatsache, auf die ich vorhin hingewiesen habe und die ich noch einmal unterstreichen möchte: Nationalsozialismus und Kommunismus wären nie zur Entwicklung gekommen, wenn wir in der Weimarer Republik von vornherein ein richtiges Wahlrecht gehabt hätten und nicht das falsche Verhältniswahlrecht.
Die Verhältnisse in England und Amerika, meine Damen und Herren, beweisen die Richtigkeit dieser Behauptung.
({3})
Wir sind der Meinung, daß weite Kreise unseres
Volkes die Form der Demokratie, wie sie in England und Amerika besteht und wie sie durch das
Wahlrecht begründet ist, für richtig halten, und
wir glauben, daß die Wahlresultate der letzten
Jahre uns einen klaren Hinweis in dieser Richtung und auch einen entsprechenden Auftrag
geben. Durch den Ausgang der Wahlen im Jahre
1953 ist uns in dieser Frage, von der nach unserer
festen Überzeugung das zukünftige Schicksal unserer Demokratie entscheidend mit abhängt, eine
besondere Verantwortung übertragen worden. Wir
hoffen, daß die anderen Parteien dieses Hauses,
insbesondere unsere Koalitionspartner, Verständnis dafür haben, wenn wir dem Gefühl dieser Verantwortung folgen, die wir für die Zukunft unserer Demokratie und damit unseres Volkes tragen.
Wir sind, wie ich sagte, kompromißbereit. Über die Frage wie dieses Kompromiß auszusehen hat, müssen Verhandlungen im Ausschuß stattfinden, und ich darf hier der Hoffnung Ausdruck geben,
({4})
daß auch Besprechungen, die wir unmittelbar nach den Parlamentsferien mit unseren Koalitionspartnern einleiten werden, die Grundlage dafür schaffen, daß die Ausschußberatungen schnell zu einem Ergebnis führen und dadurch ein Wahlrecht auf einer möglichst breiten parlamentarischen Grundlage geschaffen werden kann.
Hier möchte ich dem Kollegen Rehs von der SPD, der den Entwurf der SPD begründete, sagen, er kann ganz beruhigt sein. Wir werden die Wahlrechtsfrage nicht zum Spielball der Koalitionspolitik machen, und das ist auch bisher in keiner Weise geschehen.
({5})
Wenn er meinte, die Spatzen pfiffen etwas Derartiges von den Dächern, so hat er auf Spatzen gehört, die falsche Töne pfeifen.
Wir stimmen dem Kollegen Rehs im übrigen auch darin zu, daß wir ein dauerhaftes Wahlrecht schaffen wollen, und wir hoffen, daß die SPD hierzu ihren Beitrag leistet. Der darf aber, meine Damen und Herren, natürlich nicht so aussehen, daß wir einfach die Konzeption der SPD akzeptieren sollen.
Zum Schluß noch ein Wort zu der Frage der Wahl der Berliner Abgeordneten. Diese Frage liegt uns ebenso wie Ihnen sehr am Herzen, und wir werden sie unter Berücksichtigung der staatsrechtlichen Gegebenheiten im Ausschuß mit aller Sorgfalt behandeln.
Im übrigen sind wir der Auffassung, daß die Wahlrechtsfrage, wie im vorigen Bundestag, von einem Sonderausschuß behandelt werden sollte, da für die Behandlung dieses Problems die Sachverständigen der einzelnen Fraktionen in einem Ausschuß zusammengestellt werden müssen.
Ich beantrage daher namens meiner Fraktion die Einsetzung eines 23er-Sonderausschusses.
Ich beantrage weiterhin die Überweisung der drei Vorlagen an diesen Ausschuß.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Euler.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt den zweiten Bundestag, der aus einem Wahlrecht hervorgegangen ist, das nicht Mehrheitswahlrecht, sondern im Kern Verhältniswahlrecht ist. Dennoch haben wir keine Parteienzersplitterung, und wir haben keine fortschreitende Radikalisierung.
({0})
Wir haben keine Unstabilität des Parlaments und der Regierung, wir haben keine verwischte Verantwortung,
({1})
und wir haben keine mangelnde Entschlußfähigkeit. Wenn es richtig wäre, was wir immer wieder von den Anhängern des Mehrheitswahlrechts hören, daß das Mehrheitswahlrecht der Bringer alles Guten ist und daß das Verhältniswahlrecht der Übeltäter für alle großen Mißstände in einem Staat, in einer Demokratie ist, dann, meine sehr geehrten
Damen und Herren, hätte sich von diesen verheerenden Auswirkungen des Verhältniswahlrechts in den Jahren seit 1945 einiges zeigen müssen. Denn es sind jetzt immerhin zehn Jahre, daß wir neue deutsche Demokratie praktizieren. Ich darf daran erinnern, daß wir innerhalb dieser zehn Jahre in einer ganzen Anzahl von Ländern nicht etwa vom Verhältniswahlrecht zum Mehrheitswahlrecht gekommen sind, sondern daß der Weg mit Zustimmung der CDU und der CSU in zahlreichen Ländern ein umgekehrter war: von einem Wahlrecht mit einem, wie wir immer wieder hören, stark integrierenden Einschlag, also einem Wahlrecht mit Mehrheitseinschlag zum Verhältniswahlrecht, und das mit Zustimmung der CDU/CSU!
({2})
- Ja, leider! Über das „leider" wollen wir uns nachher mal unterhalten. Bleiben wir zunächst einmal dabei, daß die Entwicklung so gelaufen ist und daß von den katastrophalen Folgen dieser Entwicklung des Wahlrechts bisher nichts eingetreten ist, und ich glaube, wohl sagen zu können: auch in den nächsten Jahren - alle Anzeichen gehen dahin - nichts eintreten wird.
({3})
Ihre Theorie stimmt ja nicht.
({4})
Sie können aus der heutigen Zeit keine Argumente für Ihre Lieblingstheorie bringen, daß das Verhältniswahlrecht zerstörende Wirkungen habe, und müssen deshalb auf die zwanziger Jahre zurückgreifen. Aber dabei passieren Ihnen dann einige, wie ich doch meine, recht grobe Fehler. Zunächst einmal lassen Sie völlig die Erwägung außer acht, meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU, soweit Sie Anhänger des Mehrheitswahlrechts sind, daß unter der Herrschaft des Mehrheitswahlrechts kein Parlament etwa die Sicherheit hat, von schwankenden Mehrheiten frei zu bleiben.
({5})
Es hat sich auch in England und in den Vereinigten Staaten unter der Geltung des relativen Mehrheitswahlrechts immer wieder ereignet, daß beide Parteien etwa gleich stark aus der Wahl hervorgingen.
({6})
- Na, immerhin etwas öfter, als es Ihnen vielleicht in Erinnerung ist. Sehen Sie sich daraufhin einmal die amerikanische Geschichte seit 1789 und die englische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte an. Da werden Sie feststellen, daß es dort in den Parlamenten doch öfter Perioden einer fast völligen Ausgeglichenheit der beiden Parteien gegeben hat und daß dies auch in England mehrfach zu vorzeitigen Wahlen geführt hat.
({7})
Andererseits werden Sie mir zugeben, daß aus der Verhältniswahl in vielen Fällen Parlamente mit keineswegs schwankenden, sondern völlig sicheren Mehrheitsverhältnissen hervorgehen. Wie eben Herr Kollege Scharnberg auch richtig festgestellt hat, waren während der ersten vier Jahre der Weimarer Demokratie die Mehrheitsverhält({8})
nisse im Reichstag keineswegs schwankend, sondern völlig stabil.
({9})
Aber sie wurden schwankend innerhalb der Legislaturperioden. Das muß man allerdings sehen, und dann muß man fragen: woran lag das, daß ein Parlament, das bei seinem Zusammentritt eine völlig klare Regierungsbildung ermöglichte und für diese Regierungsbildung eine saubere Mehrheitsbildung lieferte, im Laufe seiner Wirkungszeit dahin kam, daß die Regierungsmehrheit verfiel und infolgedessen die Mehrheitsverhältnisse schwankend wurden?
Da darf ich Sie auf die grundlegenden verfassungsrechtlichen Mängel der Weimarer Demokratie aufmerksam machen, und diese Mängel hat man leider im Laufe der Jahre nicht abgestellt, obwohl Reformversuche, vernünftige Reformvorschläge in der damaligen Zeit aus allen demokratischen Parteien gemacht worden sind, auch aus der Sozialdemokratie heraus; denn auch in der Sozialdemokratie hatte man diese institutionellen Mängel sehr wohl erkannt.
Der gröbste Mangel war natürlich, daß die Verfassung ein Mißtrauensvotum ermöglichte, bei dem sich Parteien, die keinerlei Positives gemeinsam hatten, lediglich zu der negativen Zwecksetzung zusammenfinden konnten, durch ein Mißtrauensvotum die Regierung aus den Angeln zu heben. Ungeachtet dessen, daß man hinterher nicht zusammenwirken konnte, um eine neue Regierung zu bilden, konnte man zusammen stimmen, um die gegenwärtig amtierende Regierung zu stürzen. Davon hat man öfters Gebrauch gemacht, davon haben jeweils die verschiedensten Parteien Gebrauch gemacht. Wenn sie glaubten, es sei eine gesetzgeberische oder aber eine Exekutivmaßnahme der jeweiligen Regierung zu riskant, dann hielt man es für richtig, sich aus der Koalition zurückzuziehen und die Regierung zu stürzen. Wir haben mehrfach erlebt, daß Kommunisten und Deutschnationale nicht etwa in der Lage waren, die Regierung zu stürzen, daß sie aber in die Lage gebracht wurden, dies zu tun, dadurch, daß eine Koalitionspartei - auch mitunter die SPD - absprang
({10})
und dadurch der Minderheit der beiden radikalen Flügel zur Mehrheit verhalf. Wir haben diesen grundlegenden Mangel der Weimarer Verfassung im Parlamentarischen Rat abgestellt, und es waren ja maßgeblich auch Sozialdemokraten, die dafür Sorge getragen haben, daß das negative Mißtrauensvotum durch das konstruktive Mißtrauensvotum ersetzt wurde. Wir verdanken dieser tiefgreifenden institutionellen Änderung ganz außerordentlich viel für die Stabilität unserer neuen Demokratie, so daß Gott sei Dank diese neue Demokratie nicht mehr dauernd am Rande der Anarchie steht. Wir wollen in Zukunft alles tun, um zu verhindern, daß das eintritt. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sperren sich gegen die richtige Erkenntnis, wenn Sie meinen, das Verhältniswahlrecht sei damals daran schuld gewesen, und wenn Sie eben nicht sehen, daß die nachteiligen Wirkungen des Verhältniswahlrechts nur eintreten konnten, weil man eine Verfassungsregelung geschaffen hatte, die die jeweiligen Regierungsparteien geradezu zur Flucht aus der Verantwortung einlud.
Das war nicht der einzige schwerwiegende institutionelle Mangel. Es kam der zweite hinzu. So wie man durch das Mißtrauensvotum den Parteien ermöglichte, jederzeit aus der Regierung davonzulaufen, so ermöglichte man ihnen auch, aus dem Parlament davonzulaufen. Die Parlamentsauflösung war in der Weimarer Zeit außerordentlich leicht. Wir haben aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit den zweiten verfassungsrechtlichen Schluß gezogen; ebensowenig wie wir das Mißtrauensvotum nach Art der Weimarer Verfassung wieder gebracht haben, ebensowenig haben wir die Vorschriften der Weimarer Verfassung über die Möglichkeiten der leichten Parlamentsauflösung übernommen, wie sie in jener Verfassung enthalten waren. Gott sei Dank zeigt unser Bonner Grundgesetz so gut wie keine Möglichkeit der vorzeitigen Parlamentsauflösung.
Zum dritten. Sie wissen, wie radikalisierend und zerrüttend in der damaligen Zeit sich jene Veranstaltungen auf die Arbeit des Parlaments ausgewirkt haben, die als Volksbegehren, Volksentscheid usw. bezeichnet waren! Volksbegehren und Volksentscheid wurden von der Weimarer Verfassung ebenfalls begünstigt, und aus den schlechten Erfahrungen, die man mit diesen Institutionen gemacht hat, haben sämtliche staatstragenden Kräfte der neuen Demokratie in den Jahren 1948 und 1949 den Schluß gezogen, daß Volksbegehren und Volksentscheid aus dem Bonner Grundgesetz zu verbannen waren. Wir kennen Gott sei Dank kein Volksbegehren mehr, wir kennen keinen Volksentscheid mehr.
Viertens. Zu den leichten Möglichkeiten der Regierungsabsetzung, der Regierungs- und das heißt vorher Koalitionssprengung, ferner der Parlamentsauflösung kam noch eine dritte Möglichkeit für die Parteien und für die Parlamentarier, aus ihrer Verantwortung zu entfliehen. Und das war der Notstandsartikel 48.
({11})
Er führte in der Handhabung, die man damals einreißen ließ, zur Selbstausschaltung der Demokratie,
soweit die Demokratie im Parlament verkörpert ist.
Nun nehmen Sie das zusammen, all das, was wir aus dem Bonner Grundgesetz herausgehalten haben, was aber in der Weimarer Verfassung enthalten war: das leichte Mißtrauensvotum, die Parlamentsauflösung, Volksbegehren und Volksentscheid und den Notstandsartikel 48, - ja, da haben Sie die Ursachen, die dem Verhältniswahlrecht, nicht, weil dieses Wahlrecht als solches negative Auswirkungen haben muß, sondern erst durch Hinzutreten dieser Umstände eine negative Wirkung gaben. Heute ist das alles anders, und infolgedessen ist es kein Wunder, daß nunmehr Ihre schöne Milchmädchenrechnung: die Demokratie wird durch die Verhältniswahl kaputtgemacht, nicht mehr stimmt.
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Weil diese Ursachen einer verhängnisvollen Entwicklung in der neuen Demokratie abgeschafft sind, können Sie die letzten Jahre seit 1945 nicht mehr als Belegstück für Ihre Theorie heranziehen. Deshalb müssen Sie zurückgehen auf die Jahre vor 1933.
Wir haben aber nicht nur verfassungsrechtliche Mängel beseitigt, die leider der Weimarer Demokratie durch all die Jahre hindurch anhafteten,
({13})
ohne daß sie beseitigt wurden, sondern wir haben noch etwas anderes beseitigt. Wir haben beseitigt, daß das Verhältnisprinzip so rein angewandt wird, daß auch dem Wahlrecht dann ein anarchisierender Charakter zuteil werden kann. Wenn man das Verhältnisprinzip bis zur letzten Konsequenz durchführt, d. h. wenn man ihm keine Sperrklausel gibt und wenn man ihm eine Ausgestaltung gibt, die die absolute Anonymität, die absolute Unpersönlichkeit bedeutet, dann werden negative Auswirkungen unvermeidlich. Das ist aber keineswegs notwendigerweise so. Man kann, wie die letzten Jahre bewiesen haben und wie wir das 1949 und 1953 zuwege gebracht haben, erstens ein Verhältniswahlrecht so ausgestalten, daß die Zersplitterung bis hinein zu kleinsten Splittergruppen nicht durch das Wahlrecht gefördert oder ermöglicht wird. Man kann zum zweiten dem Verhältniswahlrecht einen Persönlichkeitscharakter geben, so daß man jedenfalls nicht mehr von Anonymität in dem Sinne sprechen kann, wie das bei dem Verhältniswahlrecht der zwanziger Jahre der Fall war. Wir haben auch da Korrekturen vollzogen. Nachdem nun diese Korrekturen vollzogen worden sind - einmal im Grundgesetz gegenüber dem Verfassungszustand der zwanziger Jahre und zweitens in der Ausgestaltung des Wahlrechts gegenüber der Art des Verhältniswahlsystems, wie wir es in den zwanziger Jahren hatten -, stimmt Ihre Theorie einfach nicht mehr.
Wir können uns heute zur Rechtfertigung unseres Wahlrechtsvorschlags darauf berufen: ein Wahlrecht dieser Art hat funktioniert, es hat staatspolitisch einwandfreie Resultate geliefert, wir haben heute einen Zustand, der frei ist von den Bedenken, Krisen und Gefahren staatspolitischer Entwicklung, wie sie in den zwanziger Jahren vorhanden waren. Deswegen können wir sagen: halten wir an dieser Art bewährten Wahlrechts fest, dies um so mehr, als das Verhältniswahlrecht, Herr Minister Schröder, wenn man seine Gefahren durch Sperrklausel und Persönlichkeitscharakter zu nehmen weiß, immerhin den außerordentlich großen Vorteil der Gerechtigkeit hat. Infolgedessen wird eine Mehrheit, die über Verhältniswahlrecht im Parlament in Erscheinung tritt, auch wirklich von einer Mehrheit des Volkes getragen. Ihr berühmtes Mehrheitswahlrecht ist doch in aller Regel ein Minderheitswahlrecht,
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d. h. die Regierung stützt sich in vielen Fällen gar nicht auf die Mehrheit des Volkes, sondern auf eine Minderheit, die durch die Auswirkungen des Wahlrechts dann im Parlament künstlich zu einer Mehrheit gemacht wird.
Nun lassen Sie mich :das entscheidende Wort sagen: Wenn die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hätte, daß man, um staatspolitische Stabilität, um klare Verantwortungsverhältnisse zu erreichen, um Radikalisierung, um Partenzersplitterung zu vermeiden, das Mehrheitswahlrecht bräuchte, welches Stabilität im Parlament um den hohen Preis herstellen soll, daß eine Minderheit des Volkes eventuell zu Trägern der Mehrheit im Parlament wird, dann müßte man es in Erwägung ziehen. Aber es hat sich gezeigt, daß das gar nicht nötig ist, nachdem wir die verfassungrechtlichen Mängel der Weimarer Demokratie behoben und andererseits auch das Wahlrecht auf Verhältniswahlbasis so ausgestaltet haben, daß es frei ist
von den Mängeln, die ihm in den zwanziger Jahren allerdings anhafteten. Nachdem das geschehen ist, müssen wir sagen, hat das Wahlrecht, wie wir es 1949 gemacht haben und das dann nach der Meinung meiner politischen Freunde 1953 um einiges verbessert worden ist, den großen Vorzug für sich, daß es wünschenswerte staatspolitische Resultate mit der Gerechtigkeit verbindet. Erinnern wir uns doch auch beim Wahlsystem daran, daß Gerechtigkeit zur Fundierung einer Demokratie auch in der Ausprägung des Wahlrechts nicht ein schlechtes, sondern ein gutes Prinzip ist. Wir wollen dieses Prinzip der Gerechtigkeit auch in dieser Frage nicht unnötigerweise preisgegeben wissen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Elbrächer.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich muß unserem Kollegen Schneider, dem derzeit amtierenden Präsidenten, etwas gram sein, daß er mich um eine Illusion gebracht hat, nämlich die Illusion, daß alle Kollegen hier im Hause den Bericht der Wahlrechtskommission gelesen haben.
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Ich bedaure das insofern, als :es sich dann sehr viel leichter diskutieren ließe. Ich bin der Auffassung, daß diese Kommission eine ausgezeichnete Arbeit geleistet hat.
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Ich erkläre das nicht nur, weil es für die Diskussion zweckmäßig ist, sondern ich fühle mich zu dieser Erklärung auch verpflichtet, weil ich selber in der Öffentlichkeit einmal Bedenken gegen die Tätigkeit dieser Kommission angemeldet habe. Ich muß sagen, die Argumente für die verschiedenen Systeme sind mit einem Höchstmaß an Objektivität einander gegenübergestellt worden, vor allen Dingen bringt der dritte Teil eine Aufstellung - ohne Rangordnung - der Bewertungsfaktoren der verschiedenen Systeme. Ich glaube also, die kommende Diskussion über das Wahlrecht wird sehr viel sachlicher sein als die bisherige, weil den Mitgliedern der Wahlrechtsausschüsse eine Unterlage gegeben ist, die die Arbeit wesentlich erleichtern wird. Selbstverständlich - ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig - ist die Entscheidung über das Wahlsystem eine echte politische Entscheidung. Dieser Entscheidung ist nicht vorgegriffen worden, nur erleichtert uns die Gegenüberstellung des sachlichen Materials die Entscheidung.
Nun bin ich in der angenehmen Lage, nicht einen vierten Entwurf für meine politischen Freunde begründen zu müssen. Meine Freunde von der Deutschen Partei haben darauf verzichtet, einen neuen Entwurf einzubringen, obwohl wir - das muß ich im Namen meiner Freunde erklären - im Grunde genommen mit keinem der Entwürfe übereinstimmen. Wir von der Deutschen Partei sind von jeher Anhänger zwar auch eines Mehrheitswahlrechts gewesen, aber Anhänger des absoluten Mehrheitswahlrechts. Das sind wir nicht nur, weil es nun einmal der geschichtlichen Überlieferung im Kaiserreich entspricht. Dieses Argument als sachliches Argument zu akzeptieren, sind viele von Ihnen im Hause nicht bereit, wogegen es für uns konservative Menschen schon einen Wert hat, wenn die Wirklichkeit, die Geschichte hier
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schon eine Erfahrung liefert. In erster Linie aber sind meine Freunde und ich aus sachlicher Überzeugung dazu gekommen, das absolute Mehrheitswahlrecht für ein gutes Wahlrecht zu halten, „gut" sowohl im Sinne der Technik, wie es der Herr Bundesinnenminister ausgeführt hat, als auch unter dem Gesichtspunkt der Staatspolitik.
Die Vorzüge dieses Wahlrechts lassen sich sehr schnell aufzählen und im wesentlichen in fünf Punkte fassen. Zunächst hat es den Vorzug - den es mit dem relativen Mehrheitswahlrecht teilt -, daß es für den Wähler und durch ihn eine einfache, klare und durchsichtige Entscheidung bringt. Ich glaube, wir sollten gerade in dem heutigen Zeitalter, in dem das Zusammenleben so kompliziert geworden ist, darauf achten, daß alle Institutionen, alle Vorgänge in unserem Leben so einfach und klar wie möglich gestaltet werden. Ich glaube, insofern gebührt dem Mehrheitswahlrecht, ganz gleich welcher Art, ob absolut oder relativ, gegenüber dem Verhältniswahlrecht der Vorzug.
Darüber hinaus hat das Mehrheitswahlrecht einen für mich insofern unschätzbaren Vorzug, als es klarstellt, wer sich dem Volke zur Wahl stellt. Es werden nicht irgendwelche anonymen Listen gewählt, auf die der Wähler selbst nicht unmittelbar Einfluß nehmen kann. Auch bei dem System, wie es von der FDP und auch der SPD vorgeschlagen wird, stellen sich wenigstens zum Teil Männer, die nicht von den Parteien im wesentlichen herausgestellt werden. Aber der große Vorzug ist bei beiden Mehrheitswahlsystemen nach meiner Auffassung, daß der Wähler unmittelbar Einfluß nehmen kann. Ich glaube, das entspricht auch der wirklichen Vorstellung des Wählers, und diesen Wunsch sollten wir eigentlich erfüllen. Ich weiß, das ist auch bei dem jetzigen Wahlsystem und Wahlrecht möglich; aber doch nur in Ausnahmefällen.
Ein weiterer Vorteil dieses Mehrheitswahlsystems - Herr Kollege Stücklen hat es schon angedeutet, ich darf es noch einmal unterstreichen - ist darin zu erblicken, daß zwischen dem Kandidaten und der Wählerschaft ein Vertrauensverhältnis entstehen kann, namentlich dann, wenn der Abgeordnete eines Wahlkreises seine Tätigkeit mehrere Wahlperioden hindurch ausübt. Das ist der Vorzug, den man nicht unterschätzen sollte und der uns sehr wichtig erscheint.
Darüber hinaus darf ich darauf aufmerksam machen, ,daß der Wähler, der heutige Mensch, im Grunde genommen Parteiprogramme nicht liest. Er wird derart überschüttet mit Forderungen, mit Propaganda usw., daß das an ihm herunterrieselt und er kaum Notiz davon nimmt. Dagegen besteht bei der Mehrheitswahl ein echtes menschliches Verhältnis, eine Bindung von Mensch zu Mensch, und ich glaube, daß es sehr wertvoll ist, wenn wir in unserer heutigen Zeit, wo solche Bindungen in großem Umfang zerstört und verlorengegangen sind, gerade bei dieser wichtigsten politischen Entscheidung, die der Wähler zu treffen hat, Rücksicht auf diese Bindung ,des Abgeordneten zum Wähler nehmen. Diese Bindung entsteht jedenfalls in einem unverhältnismäßig größeren Maß, als wenn wir nun dem Wähler eine Liste zur Entscheidung vorlegen, auf deren Zusammenstellung er praktisch keinen Einfluß hat.
Die Vorzüge, die ich eben genannt habe, sind beiden Systemen des Mehrheitswahlrechts eigen,
dem relativen und dem absoluten System. Ich meine aber, daß das absolute insofern den Vorzug gegenüber dem relativen Mehrheitswahlrecht verdient, weil dort noch zwei weitere Vorzüge hinzukommen, die auch der Kollege Euler am Schluß seiner Ausführungen angeführt hat. Das absolute Mehrheitswahlrecht hat nämlich den Vorzug,, gerechter als das relative zu sein. Es zwingt dazu, daß immer mindestens 50 % der Wähler eine klare Entscheidung treffen müssen. Nur derjenige Abgeordnete ist gewählt, der wirklich die absolute Mehrheit der Wähler für sich hat. Ich glaube, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Gerade auch der Grundsatz der Gerechtigkeit, von der hier gesprochen worden ist, sollte nicht unberücksichtigt bleiben.
Zum zweiten glaube ich, daß das System des absoluten Mehrheitswahlrechts den Vorzug hat, daß es der wirklichen politischen Struktur unseres Volkes gerechter wird als das relative Mehrheitswahlrecht. Lieber Kollege Stücklen, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube feststellen zu müssen, daß die deutsche Wählerschaft durchaus noch nicht bereit ist, einem Zweiparteiensystem zuzustimmen. Ich glaube vielmehr, die politische Willens- und Meinungsbildung im deutschen Volk ist heute noch so stark differenziert, daß wir es noch nicht wagen können, den Wähler zu majorisieren, ihn zu zwingen, ja und amen zu einem Zweiparteiensystem zu sagen. Ich glaube, das sollten wir nicht außer acht lassen.
Nachgewiesenermaßen konnten in den Zeiten des alten kaiserlichen Reichstags - auch der Zwischenruf des Kollegen Menzel weist darauf hin - kleinere Gruppen durchaus zu Wort kommen, ob es nun Gruppen regionaler oder sonstiger Art waren. Aber das ist der große Vorzug des absoluten Wahlrechts gegenüber dem Verhältniswahlrecht - auch wenn Sperrklauseln irgendwelcher Art eingebaut sind -, daß ein absolutes Wahlrecht unter allen Umständen die Bildung radikaler Gruppen verhindert. Das ist ein sehr wichtiges Element, und ich brauche das nicht zu wiederholen, nachdem sowohl Herr Kollege Euler als auch Herr Kollege Scharnberg auf die Verhältnisse in der Weimarer Zeit so eingehend hingewiesen haben. Aber sicherlich besteht auch im gesamten deutschen Volk der Wunsch, daß die Bildung solcher radikaler Gruppen verhindert wird, und das würde mit einem solchen absoluten Mehrheitswahlsystem zweifellos geschehen.
Als einen weiteren Vorteil darf ich noch herausstellen, daß zumindest - ganz gleich, von welchen Parteien die Kandidaten im Wahlkreis nominiert werden - der Zwang vorliegt, vor der Wahl, vor der Regierungsbildung sich schon Gedanken zu machen, zu welcher Regierung der Kandidat neigen wird, so daß dem Wähler die Möglichkeit gegeben ist, vor der Regierungsbildung sein Votum abzugeben, aus welcher Richtung die Regierung kommen soll. Es ist ein grundsätzlicher Nachteil des Verhältniswahlrechts - namentlich wenn mehrere Parteien da sind -, daß nach der Wahl eine Regierung auf einmal ganz anders aussieht, als sie sich der Wähler eigentlich vorgestellt hat. Ich will darauf verzichten, Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zu erwähnen. Ich könnte solche aus dem Norden und Süden unseres Vaterlandes reichlich anführen; aber ich bin höflich und verzichte darauf.
Ich habe eine ganze Reihe von Vorzügen dieses absoluten Mehrheitswahlrechts aufgezeigt. Nun
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hat es selbstverständlich auch Nachteile; darüber will ich gar nicht hinweggehen. Aber die Behauptung, es habe die beiden Nachteile, die ihm immer nachgewiesen und vorgeworfen werden, namentlich von unseren Kollegen von der SPD, stimmt meiner Meinung nach heute nicht mehr.
Der erste Nachteil ist doch der, daß, wie Sie immer behaupten, im kaiserlichen Wahlrecht das nicht funktioniert habe, weil man einfach die Wahlkreise manipuliert habe. Zugegeben; man hat sie zwar nicht manipuliert, man hat sie einfach so gelassen, wie sie 1871 waren, und hat der Bevölkerungsentwicklung nicht Rechnung getragen, so daß die Wähler in ländlichen Wahlkreisen mit einer sehr viel geringeren Bevölkerungs- und Wählerzahl die gleiche Chance hatten, einen Abgeordneten zu wählen, wie die in volkreichen Städten im Industriegebiet. Das hat übrigens Sozialisten wie Liberale gleichermaßen betroffen, und beide waren daher gegen dieses Wahlsystem. Das ist ein Nachteil, der heute meiner Meinung nach nicht mehr gegeben ist, weil die Wahlkreiseinteilung doch korrigiert ist und weiter korrigiert werden wird. Ich halte es für ausgezeichnet, daß, wie Herr Bundesminister Schröder auch schon ausgeführt hat, im Entwurf der FDP der Gedanke der Wahlrechtskommission aufgenommen worden ist, eine ständige Kommission einzurichten, welche die Wahlkreise so neugestaltet und neuordnet, wie es der Bevölkerungsbewegung entspricht. Ich glaube also, daß dieser Einwand gegenüber dem Wahlsystem, das mir so am Herzen liegt, nicht gebracht werden kann.
Ein zweiter wunder Punkt ist wohl der sogenannte Kuhhandel bei der Stichwahl. Selbstverständlich kommt Kuhhandel in der Politik vor; ich habe es mir jedenfalls sagen lassen.
({4}) Aber ich habe mir sagen lassen,
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- wir sind uns da einig - daß ein Kuhhandel auch vorkommen soll bei der Aufstellung von Listen, sei es wegen der Personen, die aufgestellt werden sollen, sei es wegen der Reihenfolge. Ich glaube, daß dieser Nachteil nun einmal grundsätzlich der Politik - die eine Frage des Willens ist und eine Frage des Ehrgeizes sein soll - und damit jedem Wahlsystem anhaftet. Er kann also nicht gegen das von mir verteidigte absolute Mehrheitswahlsystem vorgebracht werden.
Ich könnte noch vieles dazu sargen. Ich bin auch sehr stolz darauf, daß, wie ich neulich erfahren habe, ein so alter, erfahrener Politiker wie der Altreichskanzler Luther sich für dieses Wahlsystem ausspricht. Aber wir sind nicht mehr im Mittelalter, wo wir Autoritäten gelten lassen. Immerhin ist es erfreulich, daß wir von der Deutschen Partei mit der Hinneigung zu diesem Wahlsystem keineswegs allein im politischen Raum stehen.
Warum haben wir nun keinen eigenen Entwurf eingebracht? - Es war aus allen Verhandlungen zu ersehen, daß in diesem Hohen Hause keine Neigung bestand, einem solchen absoluten Mehrheitswahlrecht zuzustimmen. Es wäre also politisch irreal gewesen, wenn wir auch nur den Versuch gemacht hätten, so etwas zu tun.
Meine politischen Freunde von der Fraktion der Deutschen Partei stehen also nun vor der Aufgabe, zu entscheiden, welchem dieser Wahlgesetzentwürfe sie zustimmen sollen. Ich kann hier sagen:
Unter keinen Umständen wenden sie dem Wahlgesetzentwurf der SPD zustimmen.
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- Nein, Sie haben es nicht erwartet und konnten es nicht erwarten. Aber ich will Ihnen wenigstens sagen - gestatten Sie mir das -, warum und weshalb. Sie haben nämlich - und Herr Kollege Rehs hat das gerade als einen Vorzug betrachtet - eine Bestimmung in Ihrem Wahlgesetzentwurf, die die Blockbildung verbietet. Es ist der harte Ausdruck gefallen, Blockbildung sei sozusagen Betrug am Wähler. Nun, ich empfinde gerade das Entgegengesetzte als Betrug, daß man nämlich über Listen Abgeordnete ins Parlament schickt, die dann nachher in dem Koalitionsstreit unter Umständen zu einer ganz anderen Regierungsbildung kommen - ich habe das vorhin ausgeführt -, als die Wählerschaft sich das ursprünglich vorgestellt hat.
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Ich meine also, daß der Ausdruck „Betrug" keineswegs zutrifft. Im Gegenteil, es ist ein legitimes Anliegen der Wählerschaft, zu erfahren, wie denn nun eigentlich ihr Abgeordneter, ihre Partei zu regieren gedenkt, mit wem sie zu regieren gedenkt. Ich weise das also nachdrücklich zurück.
Auch Ihre Sperrklausel gefällt mir nicht. Das werden Sie mir nicht übelnehmen. Ich darf es als eine politische Pikanterie bezeichnen, daß ausgerechnet die SPD in ihrem Wahlgesetzentwurf einer föderativen Neigung nachgegangen ist, wie sie sonst in diesem Hause eigentlich nirgends mehr zu finden ist. Ich muß also den SPD-Entwurf für meine politischen Freunde ablehnen.
Dem Mehrheitswahlrechtsentwurf der Freunde von der CDU/CSU kann ich aber auch nicht zustimmen. Herr Euler hat schon wiederholt darauf hingewiesen, daß wir noch nicht in der Lage sind, einem solchen Entwurf zuzustimmen. Ich bin nicht ganz der Auffassung von Herrn Euler, daß das alte Wahlrecht so ausgezeichnet funktioniert hat. Es hat noch andere Gründe, warum es in diesem Hause funktioniert hat. Nicht das Wahlrecht, sondern der Entscheid des Wählers zu einer sehr starken - ich darf es mal aussprechen - Gruppenbildung am 6. September 1953 ist doch das Ausschlaggebende gewesen, warum hier stabil regiert warden ist. Das wollen wir uns gar nicht verschweigen, obwohl wir nicht zu dieser starken Gruppe innerhalb der Koalition gehören. Das ist ein stabilisierender Faktor gewesen. Darüber ist, glaube ich, kein Deuteln möglich.
Ich meine, daß der Wähler für eine Mehrheitswahl psychologisch noch nicht bereit ist. Ich sehe auch eine gewisse Gefahr darin, daß wir in allen deutschen Ländern im Grunde genommen das Verhältniswahlrecht haben, daß wir also in allen deutschen Ländern die Möglichkeit haben, ein Parlament aus mehr als zwei Parteien zu bilden, während wir auf Bundesebene ein prinzipiell anderes Wahlrecht haben, so daß dadurch die nicht gerade sehr glückliche Lage entsteht, daß wir 'auf Bundesebene nur ein Zwei-Parteien-Parlament haben, während wir in den Ländern Parlamente mit verschiedenen Parteien haben können. Ich glaube also, daß es nicht gut ist, jetzt schon diesen Schritt zum Mehrheitswahlrecht zu machen. Ich erblicke in dem Vorschlag der FDP eine gewisse Arbeitsgrundlage. Ich würde jede Bewegung, jeden Trend zu einem Mehrheitswahlrecht, den wir in diesen Entwurf einarbeiten könnten, begrüßen. Wir werden im
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Ausschuß Gelegenheit haben, die Frage zu prüfen, wie weit dort ein Kompromiß nach der Richtung möglich ist.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Kollege Rehs hat ebenso wie andere Kollegen, die vor mir gesprochen haben, darauf hingewiesen, die Öffentlichkeit empfinde es als beunruhigend, daß wir jetzt noch kein dauerhaftes Wahlrecht hätten. Meine Damen und. Herren, ich hoffe, daß Sie mit mir einig sind: Ein dauerhaftes, endgültiges Wahlrecht sollten wir in diesem Hause nicht beschließen. Damit ich nicht mißverstanden werde: Wir haben natürlich ein Interesse an einem vernünftigen, dauerhaften Wahlrecht für die Bundesrepublik. Aber ein endgültiges Wahlrecht in unserem Vaterland können wir erst schaffen, wenn das Problem der Wiedervereinigung gelöst ist; denn ses wäre ungerecht und unfair, wenn wir den Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs nicht die echte Chance gäben, bei der ,endgültigen politischen Gestaltung - und die erfolgt doch auf dem Wege über das Wahlrecht - ihr Wort mit in die Waagschale zu legen. Ich glaube, daß wir uns da einig sind und daß dieser Vorwurf in der Öffentlichkeit nur insofern erhoben werden darf, als es bislang noch nicht möglich gewesen ist, in diesem 2. Bundestag ein Wahlgesetz zu verabschieden. Ich sehe - lassen Sie mich das aussprechen - darin noch kein Unglück; denn wir werden sicherlich im Laufe des nächsten halben Jahres zu einer Lösung kommen, so daß der Wählerschaft rechtzeitig klargemacht werden kann, nach welchem Gesetz sie bei der nächsten Wahl antreten wind. Ich hoffe, daß dann der deutsche Wähler selber die Entscheidung treffen kann, die dieses Hausvoraussichtlich nicht treffen wird: welches Wahlsystem besser oder, sagen wir, vernünftiger ist. Die Entscheidung darüber, welches Wahlsystem das richtige ist, bleibt idem Wähler vorbehalten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Menzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es noch einen Zweifel hätte geben können, ob man in den letzten Monaten versucht hat, den Inhalt des Wahlgesetzes mit anderen anstehenden Problemen auszuhandeln, dann hat die Rede des Herrn Kollegen Stücklen den letzten Zweifel beseitigt,
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und Herr Kollege Scharnberg hat lediglich in einer etwas mehr verzuckerten Form - statt des Abgesanges für die kleinen Parteien durch Herrn Stücklen - den kleinen Parteien eine seidene Schnur dargereicht.
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Schließlich - und das muß nun gesagt werden - muß doch auffallen, daß mit dem Entwurf einiger Abgeordneter der CDU/CSU, der mit seinem reinen Mehrheitswahlrecht die kleinen Regierungsparteien zum Sterben verurteilen würde, gerade in dem Augenblick vorgestoßen wird, in dem man ihre Stimmen braucht, nicht nur für die Soldatengesetze, sondern auch für eine etwaige Verfassungsänderung. Es muß doch seine besonderen Gründe haben, daß man gerade in diesem Augenblick mit einem Gesetz kommt, das gesetzestechnisch auch schon vor einem Jahr hätte eingereicht werden
können, wenn man nicht von vornherein die Absieht gehabt hätte, sich einen besonders geeigneten Zeitpunkt dafür auszusuchen.
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Meine Damen und Herren, die Herren Kollegen Stücklen und Scharnberg haben den größten Teil ihrer Argumente aus Vorgängen der Weimarer Zeit geholt. Ich möchte ganz offen folgendes sagen: Wenn sich die bürgerlichen Parteien, die heute so um die Republik von Weimar jammern, damals so für Weimar eingesetzt hätten, wie sie es heute tun, es wäre nie zu Hitler gekommen!
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Wer hat denn Hitler zur Macht verholfen? War denn Herr Hugenberg ein Sozialdemokrat?
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War denn die Harzburger Front eine Veranstaltung vielleicht der freien Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie?
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Meinen Sie nicht, daß Herr Hugenberg nicht auch bei einem reinen Mehrheitswahlrecht in einem Wahlkreise, in Pommern, in Mecklenburg oder in Ostpreußen, gewählt worden wäre? Meine Damen und Herren, vergessen wir doch eines nicht: Wenn Sie jetzt immer wieder - mit dem Gesicht zu uns gewandt - sagen, die Sozialdemokratie solle die Zustände der Weimarer Republik nicht mehr heraufbeschwören, dann frage ich Sie: Wer hat denn am 21. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt?
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Das scheuen Sie sich der Öffentlichkeit zu sagen, daß die Sozialdemokratie die einzige Partei war, die im Reichstag den Mut hatte, dagegen zu stimmen.
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Herr Kollege Stücklen hat die Bücher von Braun und Severing zitiert. Sicherlich ist das eine sehr lehrreiche Lektüre. Aber was Sie daraus lernen könnten - nicht nur für die Fragen des Wahlrechts -, wäre die Erkenntnis, daß diese beiden Männer wirkliche Demokraten waren, die niemals bereit waren, die Mehrheit ihrer Parteien im Parlament zu mißbrauchen. Wenn Sie das lernen würden - und da hätten Sie viel zu lernen nach den Ereignissen der letzten Monate in diesem Bundestag -, dann wäre die Form des Wahlrechts eine sekundäre Frage.
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- Herr Kollege Stücklen, sehen Sie, wie vorsichtig man mit Argumenten sein muß. Sie sagten: Mit diesem Wahlgesetz wollen wir das Grundgesetz schützen. Ich glaube Ihnen das - daran ist gar kein Zweifel. Ich begrüße diese Erklärung, weil sie von dem Sprecher einer Partei kommt - der CSU -, die seinerzeit das Grundgesetz abgelehnt hat.
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Nun ein Wort zu den Erklärungen des Herrn Bundesinnenministers. Herr Bundesinnenminister, Sie haben in einer - entschuldigen Sie den Ausdruck - etwas schulmeisterlichen Form versucht,
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den Entwurf meiner politischen Freunde zu zerpflücken. Ich meine, wenn man diese Attacke reitet, muß man zumindest erst einmal von den Tatsachen ausgehen, wie sie wirklich sind.
Sie sagen, wir lehnten uns zu stark an den Entwurf von 1949 an, einen Entwurf, der damals in aller Eile verabschiedet worden sei. Welcher Irrtum! Nicht weniger als 30 bis 40 Sitzungen des Wahlrechtsausschusses ides Parlamentarischen Rates waren notwendig, um dieses Gesetz zu verabschieden. Diese Sitzungen haben zwei bis drei Monate in Anspruch genommen. Es ist sehr erstaunlich, daß diese Kritik von einer Regierung kommt, man habe das Wahlgesetz seinerzeit zu schnell verabschiedet, die viel wichtigere Gesetze - wie z. B. das Freiwilligengesetz - sogar innerhalb von vierzehn Tagen durchdrücken will.
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Auch hier sollte man, glaube ich, die richtigen Größenordnungen sehen.
Sie haben gemeint, Herr Bundesinnenminister - und anscheinend haben wir mit unserem Vorschlag des Listenverbindungsverbots und des Blockbildungsverbots einen sehr neuralgischen, wunden Punkt bei den Regierungsparteien getroffen -,
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diese Vorschrift, dieses Verbot sei verfassungswidrig. Das ist erstaunlich; denn auch das derzeitige Wahlgesetz, das für die Wahl zum 2. Bundestag galt, enthält dieses Listenverbindungsverbot, und der Herr Bundesinnenminister als Verfassungsminister hat bisher niemals erklärt, daß das verfassungswidrig sei, und hat auch keinen entsprechenden Schritt unternommen, um diesen Paragraphen als ungesetzlich feststellen zu lassen.
Warum diese späte Erkenntnis in einem Augenblick, wo es einem wahrscheinlich parteipolitisch nicht in den Kram paßt?
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Nun, meine Damen und Herren, ich hatte immer angenommen, daß Blockbildungen, daß Wahlvereinbarungen in Wahlkreisen eigentlich ein wahrer Greuel für die Persönlichkeitswahlanhänger sein müßten. Herr Stücklen hat erklärt, er sei darum für die Persönlichkeitswahl und für das Mehrheitswahlrecht in den einzelnen Wahlkreisen, weil nur so der Wähler die Chance habe, von vornherein genau zu wissen, wen er wähle, nicht irgendeine anonyme Parteiliste, sondern den A, den B oder den C. Aber, Herr Stücklen, wenn Sie Wahlvereinbarungen und nachträgliche Blockbildungen zulassen, dann weiß der Wähler ja doch erst recht nicht, wen er wählt.
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Sehen Sie, dann hat er vor allem keine richtige Auswahl. Der Wähler muß doch eine Auswahl haben zwischen mehreren, die sich um die politische Vertretung eines Wahlkreises im Parlament bewerben. Jetzt vereinbaren aber, wie wir es auch bei den Landtagswahlen immer wieder erlebt haben, drei, vier bürgerliche Parteien, daß in dem Wahlkreis A die eine Partei den Kandidaten, im Wahlkreis B die andere Partei den Kandidaten stellt und die übrigen auf die Aufstellung eines eigenen Bewerbers verzichten. Das haben wir bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, das haben wir bei den Wahlen zum Bundestag erlebt; das haben wir in Hessen erlebt. Es war immer wieder das alte Spiel, daß man sich gegenseitig die
Bälle zuwarf und dem Wähler gar nicht die Auswahl ließ, ob er - z. B. bei der Landtagswahl - einen Abgeordneten wählen wollte, der seiner kulturpolitischen Auffassung war, vielleicht einen Freien Demokraten; er konnte ihn nicht wählen, weil sich mehrere Parteien auf einen in kulturpolitischen Fragen völlig anders eingestellten Kandidaten der CDU geeinigt hatten.
Also, gerade diese Wahlvereinbarungen sind doch etwas, was man als Anhänger des Persönlichkeitswahlrechts auf das entschiedenste ablehnen müßte.
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Das gleiche gilt für die Blockbildungen. Ich habe Herrn Kollegen Scharnberg nicht umsonst durch einen Zwischenruf .die Frage gestellt, ob er sich daran erinnere, daß wir bei dem absoluten Mehrheitswahlrecht der kaiserlichen Reichstagszeit jeweils 12 bis 16 Parteien im Reichstag gehabt haben. Er hat mir erwidert, daß das absolute Mehrheitswahlrecht nicht die Vorteile wie das fache Mehrheitswahlrecht habe. Aber, meine Damen und Herren, wenn jetzt der Herr Kollege Elbrächter für das absolute Mehrheitswahlrecht eintritt, weil er Blockbildungen will, und wenn der Herr Bundesinnenminister seinerseits sagt, er lehne den sozialdemokratischen Entwurf vor allem deswegen ab, weil er Blockbildungen verbiete, dann widerspricht sich doch das alles in Ihrem eigenen Kreise.
Natürlich haben wir uns - lassen Sie mich das zusätzlich zu dem, was in der Diskussion zu sagen war, noch ausführen - bei der Abfassung unseres Wahlgesetzentwurfes sehr sorgfältig überlegt, ob wir bei den bisherigen Wahlrechtsprinzipien der Jahre 1949 und 1953 bleiben sollten. Das heißt, wir haben sehr sorgfältig geprüft, ob das bisherige Wahlrecht einigermaßen den Vorstellungen der Wähler draußen entsprochen hat; hat es vor allem diem Wähler die Sicherheit gegeben, daß mit seiner Wahlstimme nicht herummanipuliert wurde und werden konnte?
Einer der wesentlichsten Einwände, die wir gegen das Mehrheitswahlrecht haben - Herr Kollege Euler hat es schonangedeutet -, war und ist nach wie vor, daß es jahrzehntelang in Frankreich und in England dazu geführt hat, daß die Minderheit der Bevölkerung die Mehrheit der Abgeordneten stellte und damit die Regierung bildete. Ich will Ihnen, um das zu untermauern, einige Zahlen nennen. Einer der Gründe, warum Frankreich von dem jahrzehntelangen Mehrheitswahlrecht ,abgegangen ist und sich erst 1928 entschloß, zum Verhältniswahlrecht überzugehen, war, daß bei den Wahlen von 1914 bei 11,2 Millionen abgegebenen Stimmen 6,4 Millionen - das ist weitaus mehr als die Hälfte - völlig vorlorengingen und nur die restlichen 4,8 Millionen überhaupt zum Zuge kamen; das heißt: das Parlament und die Regierung beruhten auf einer Wählerbasis von nur 36%!
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Man hat immer auf Großbritannien, das klassische Land des Mehrheitswahlrechts, hingewiesen, und man verschweigt, daß - von der Wahl im Mai 1955 abgesehen - die Regierungen in England 20 Jahre lang immer nur auf einer Minderheit beruht haben, ganz gleich, ob sie von der Labour Party oder den Konservativen gestellt wurden.
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Ich will Ihnen auch hier einige Zahlen sagen. Ich habe mir aus der Statistik zwei Beispiele herausgegriffen. Ich bitte das Hohe Haus um Entschuldigung, wenn ich im Plenum bei der ersten Lesung mit Zahlen aufwarte; aber ich halte das gegenüber immer wiederaufgestellten und allgemeinen Thesen für notwendig. Ich möchte Ihnen ganz konkret und substantiiert erwidern, damit wir uns gegenseitig nicht immer Grundsätze vorhalten, die der Wirklichkeit nicht standhalten.
Bei einer der Wahlen - 1922 - hatte die Labour Party 20 % mehr Stimmen als die Konservativen; aber sie bekam 20 % weniger Sitze im Parlament.
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Oder 1924: die Labour Party bekam 10 % mehr Stimmen als die Konservativen, und sie bekam nur die Hälfte der Sitze, die die Konservativen erhielten.
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Die Konservativen brauchten 1924 für ein Mandat nur 26 000 Stimmen, die Labour Party aber 45 000 Stimmen, also fast das Doppelte! Ist es da ein Wunder, wenn auch die englische Presse weitgehend von einem Minderheitswahlrecht gesprochen hat?
Zu welchen Unsicherheiten das relative Mehrheitswahlrecht in England führt - hier unterstütze ich das, was Herr 'Kollege Euler gesagt hat -, ergibt sich allein schon aus einer Zahl: wenn 1951 nur 12 000 Wähler - ich weiß nicht, wieviel es insgesamt waren, wahrscheinlich etwa 7 Millionen Wähler - anders gewählt hätten, als sie gewählt haben, hätte man statt der konservativen Regierung, die damals nur wenige Sitze mehr hatte als die Opposition, eine Labour-Regierung bekommen, die 20 Sitze mehr gehabt hätte. Sehen Sie, ein solches Glücksspiel wollen wir nicht mitmachen!
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Die viel wichtigere Schlußfolgerung aus diesen Tatsachen aber ist unseres Erachtens folgende. Auf Grund des reinen Mehrheitswahlrechts ist in England und in Amerika allmählich eine Wahlmüdigkeit und Wahlenthaltung der Bevölkerung entstanden, die geradezu erschreckend ist, weil nämlich der Wähler in den Wahlkreisen - dort sind die Wahlkreise im Gegensatz zu der Situation bei uns in der Bundesrepublik in sich und in ihrer sozialen und kulturellen Zusammensetzung viel stabiler und dauerhafter - sich zumeist schon vorher mit großer Wahrscheinlichkeit ausrechnen kann, welcher Kandidat oder der Kandidat welcher Partei gewinnt, so daß er sich dann sagt, daß es doch für ihn gar keinen Sinn habe, noch zur Wahlurne zu gehen. Das hat dazu geführt, daß bei den Gemeindewahlen in England und Amerika eine Wahlbeteiligung von nur 15 bis 20 % und sogar bei den wichtigen Senatswahlen in Amerika günstigstenfalls eine Wahlbeteiligung von nur 55 % zu verzeichnen ist.
Wir dagegen, meine Damen und Herren, haben unter dem Verhältniswahlrecht immer eine Wahlbeteiligung von 75 bis 85 % gehabt. Das sollte man nicht übersehen. Denn ein Wahlrecht, das zur Abstinenz des Wählers führt, das also den Wähler wegbringt von seinem Parlament und damit von seinem Staat, kann unter den deutschen Verhältnissen geradezu ein tödlicher Stoß für unsere Demokratie werden. Wir sollten vielmehr alle Mittel benutzen, den Wähler an den Staat und an das Parlament heranzubringen,
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und erst dann an die eigene Partei denken.
Gerade aber das ist eins unserer stärksten Bedenken, daß die Wähler beim Mehrheitswahlrecht uninteressiert an den politischen Vorgängen werden, und so haben wir berechtigte Zweifel, ob zum mindesten für unser Land - ich maße mir nicht an, für Amerika und England ein Urteil abzugeben - das Mehrheitswahlrecht wirklich so ideal wäre.
Meine Damen und Herren, seien wir uns auch klar darüber: das politische Leben auf dem Kontinent ist viel bunter, und der sogenannte vorparlamentarische Raum, der leider nicht nur von politischen Elementen, sondern nicht zuletzt auch von konfessionellen Überlegungen bestimmt wird,
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dieser vorparlamentarische Raum, der den Wähler und seine Stimmabgabe so erheblich beeinflußt, ist doch bei uns leider viel stärker als in Britannien und in den USA.
Man hat heute in der Debatte wiederum versucht, das Persänlichkeits- oder Personenwahlrecht dem Verhältniswahlrecht gegenüberzustellen. Nun, dem Kenner der Materie sollte ein solcher Fehler nicht mehr unterlaufen. Denn niemand würde doch behaupten wollen, daß diejenigen Kollegen im Bundestag, die über eine Liste gewählt sind - es soll ganze Fraktionen davon geben -, weniger geeignete Abgeordnete seien als diejenigen Kollegen, die aus den Einzelwahlkreisen hervorgegangen sind.
Man übersieht viel zu viel die Entwicklung des Verhältnisses von Parlament zur Bürokratie in den letzten Jahrzehnten. Es wird an anderer Stelle, vielleicht schon bei der Beratung des Antrages des Herrn Kollegen Bergmeyer zur Verwaltungsreform, der richtige Ort sein, sich über diese Fragen näher zu unterhalten. Hier sei nur folgendes bemerkt. Die ungeheure Zunahme des Aufgabenbereichs der Verwaltung, der Bürokratie schon nach dem ersten und noch mehr nach dem zweiten Weltkrieg hat doch zu einer ungeheuren Machterweiterung und zu einem Hineinwachsen der Bürokratie in das politische Leben geführt. Man kann das bedauern, und wir bedauern es auch; aber es wäre eine Illusion, an dieser Tatsache vorbeizugehen. Denn das Parlament selbst ist doch in zunehmendem Maße immer wieder bereit gewesen, durch Ermächtigungen, z. B. zu Rechtsverordnungen, der Bürokratie neue Zuständigkeiten zuzuschanzen. Ein Parlament wird in diese feinverästelte und überspitzt spezialisierte Verwaltung nur dann hineinleuchten und sie nur dann wirklich kontrollieren, effektiv kontrollieren können, wenn es selbst bereit ist, sich mehr als bisher zu spezialisieren. Wer mit offenen Augen durch das parlamentarische Leben aller Länder geht, wird feststellen - vielleicht ist es den meisten noch nicht bewußt geworden -, daß in der Tat auch die Parlamente viel mehr Spezialisten und „Fachkenner" besitzen als früher. Wir haben uns doch schon, ohne darin etwas „Parlamentsfremdes" zu sehen, hier im Hause daran gewöhnt, in den Ausschußberatungen und im Altestenrat immer wieder von den sogenannten „Sachbearbeitern" der Parteien zu sprechen, ein Ausdruck, der noch vor Jahrzehnten im
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parlamentarischen Leben nicht denkbar gewesen wäre.
Sehen Sie, aus diesem Grunde und mit aus diesem Grunde müssen wir Chancen für Männer und Frauen schaffen, die uns, das Parlament, in die Lage versetzen, auf vielen Sondergebieten und Spezialgebieten die Regierung und ihre Bürokratie zu überwachen.
Zum Schluß noch kurz ein Weiteres, meine Damen und Herren. Von einigen Debatterednern ist wieder von der Übermacht der Parteibürokratie gesprochen worden. Ja, ich weiß nicht, für welche Parteien sie gesprochen und erklärt haben, daß die Parteibürokratie solche Macht habe. Bei der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands werden - im kleinsten Ortsverein und im Wahlkreis - die Abgeordneten einer Delegiertenversammlung durch geheime Stimmzettel und Stimmabgaben vorgeschlagen und dann auf der Delegiertenversammlung in geheimer Wahl festgelegt, und zwar sowohl für die Wahlkreise als auch für die Landesliste.
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Ich glaube, das ist eine außerordentlich weitgehende geheime und sorgfältige Auslese der nach der Auffassung der Mitglieder der Partei fähigsten Männer und Frauen.
Im Gegensatz hierzu hat die Parteibürokratie nirgends soviel Macht bei der Auswahl der Kandidaten wie in England.
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Eine Kommission der Bundestages war während der letzten Unterhauswahlen in England und hat dort feststellen können, daß in den einzelnen Wahlkreisen gar nicht der örtliche Kandidat derjenige war, der angepriesen wurde, sondern daß auch da der „Big Boss", daß Mr. Eden und Mr. Attlee diejenigen waren, die überall an den Wahlplakaten prangten und die in die Wahlkreise gingen. Auch da war der „Personenkult", von dem Sie glauben, er wäre beim Mehrheitswahlrecht nicht möglich, etwas durchaus Übliches.
Herr Kollege Scharnberg hat u. a. auch die Frage gestellt, warum wir für das Verhältniswahlrecht seien. Ich habe Ihnen einiges Negative zum Mehrheitswahlrecht gesagt. Außerdem sind wir der Meinung, daß die Bevölkerung auf eine gewisse Kontinuität des Wahlrechts Wert legt und daß sie nicht bei jeder Wahl vor neue technische Schwierigkeiten und Überlegungen beim Wahlakt selbst gestellt werden darf.
Aber es gibt noch einen weiteren sehr wichtigen Grund, und es fällt auf, daß er heute im Bundestag von keinem Diskussionsredner erwähnt worden ist. Meine Damen und Herren, als wir am Schluß des 1. Bundestages das jetzt gültige Wahlgesetz verabschiedeten, schlossen wir die Beratungen außer mit der Beteuerung, im 2. Bundestag schneller das neue Wahlgesetz zu verabschieden, in der Hoffnung, daß, wie immer das Wahlrecht für den 2. Bundestag aussehen würde, ihm doch nur eine kurze Lebensdauer beschieden sein möge, weil wir hofften, daß die Bundesrepublik und die sowjetisch besetzte Zone bald auf Grund eines gemeinsamen neuen Wahlgesetzes zusammenkommen würden. Diese Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt. Aber es wäre völlig falsch, deshalb den Mut sinken zu lassen.
Daher war das immer brennender werdende Problem der Wiedervereinigung für uns mit einer der Gründe dafür, an den Prinzipien des bisherigen Wahlrechts von 1949 und im großen und ganzen auch von 1953 mit seiner sehr stark zum Proporz neigenden Tendenz festzuhalten. Denn damit nähert sich unser Wahlgesetz zweifellos den Vorstellungen der Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs. Ich verweise auf die einstimmigen Beschlüsse des 1. Bundestages und die Erklärungen der damaligen Bundesregierung vom 27. September 1951 und vom 6. Februar 1952 über das Wahlgesetz für den Fall der Wiedervereinigung, ein Wahlgesetz, das vom reinen Proporz ausgeht.
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Ich verstehe nicht, warum Sie das, was Sie für ein neues Gesamtdeutschland für richtig halten, hier ablehnen wollen.
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So gesehen - das sei zum Schluß gesagt - ist unser jetzt wiederholter Vorschlag über den Einbau unserer Bundeshauptstadt Berlin in den Wahlgesetzentwurf zugleich auch ein Stück ganz konkrete Wiedervereinigung, über die wir immer nur Erklärungen hören und keine auch noch so bescheidene Tat sehen, selbst da nicht, wo es möglich ist. Wir sprechen so häufig von der Integration der Bundesrepublik in den Westen, aber es wäre besser, wenn wir einmal bei uns Deutschen dort damit anfingen, wo es uns noch erlaubt ist, d. h. bei uns im Lande selbst, nämlich mit der Integration Berlins wenigstens auf diesem bescheidenen Gebiet. Ich glaube, hier könnte jeder Abgeordnete des Bundestages beweisen, wie innerlich ernst für ihn die Einfügung Berlins in die Bundesrepublik ist.
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Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Menzel hat sich mit mir auf eine Auseinandersetzung über Genauigkeit eingelassen. Ich muß das in seinem Interesse bedauern. Ich will ganz genau darlegen, worum es sich handelt. Die Bestimmung, die ich als verfassungswidrig zitiert habe, lautet:
Landeswahlvorschläge können nur von Parteien eingereicht werden, die in jedem Wahlkreis einen Bewerber aufgestellt haben.
Diese Bestimmung, Herr Kollege Menzel, befand sich nicht in dem für diese Legislaturperiode geltenden Wahlgesetz. Auf diese Bestimmung bezieht sich meine Kritik.
Da Sie mich aber nun herausgefordert haben, darf ich Ihnen gleich den zweiten Punkt meiner Kritik noch einmal verdeutlichen und ergänzend darstellen. Sie haben für Kreiswahlvorschläge neuer Parteien in § 26 Abs. 2 wiederum 500 Unterschriften verlangt. Die entsprechende Bestimmung im Bundeswahlgesetz 1953 ist vom Bundesverfassungsgericht inzwischen wegen zu hohen Quorums für nichtig erklärt worden. Sie mögen das schulmeisterlich finden, wie Sie vorhin gesagt haben; es ist aber richtig.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stegner.
Stegner ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich die Ausführungen des Herrn Kollegen Scharnberg hörte, wurde ich
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unwillkürlich an eine Unterhaltung mit einem alten - an Erfahrung alten - Parlamentarier aus dem Reichstag der Weimarer Republik erinnert, der mir einmal sagte: „Die Wahlgesetze sind deswegen so außerordentlich beliebt, weil sie sich beliebig weit vom Boden der Realität entfernen können und der Phantasie freien Spielraum lassen." Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, woher Kollege Scharnberg seine Erfahrungen genommen hat, die für ein relatives Mehrheitswahlrecht in Deutschland sprechen. Meines Wissens haben wir nie ein solches relatives Mehrheitswahlrecht in den Ländern oder im Bund oder in den früheren Reichstagen gehabt, daß man diese Erfahrungen daraus ziehen könnte.
Ich brauche nur mit wenigen Worten die Ausführungen der Kollegen Euler und Menzel zu ergänzen. Herr Scharnberg sagte vollkommen richtig, ein relatives Mehrheitswahlrecht mündet immer in ein Zweiparteiensystem. Diese Tatsache fordert natürlich zu Vergleichen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit England heraus; das ist ganz klar. Aber wir dürfen eins nicht vergessen: Man kann doch nicht Wahlgesetze aus anderen Ländern zum Vergleich heranziehen, weil man Wahlgesetze nicht isoliert betrachten darf. Ein Wahlgesetz ist vielmehr nur zu verstehen aus der Geschichte des Staatslebens überhaupt, aus der Geschichte und der Wesensart der politischen Parteien und aus der Verfassungswirklichkeit eines jeden Staates heraus.
Nun betrachten Sie doch einmal die USA! Sicher, dort haben wir zwei Parteien. Aber vielleicht haben Sie vergessen, daß wir dort eine völlig andere Parlamentskonstruktion haben. Wir haben das Repräsentantenhaus und den Senat - also ein I Zweikammersystem -, der sukzessive gewählt wird und dadurch an sich schon eine Kontinuität darstellt. Wir haben als vielleicht wichtigste Volkswahl dort die Wahl des Präsidenten, der in seiner Eigenschaft als Staats- und Ministerpräsident vom Volke über Wahlmänner gewählt wird. Meine Damen und Herren, haben Sie denn alle vergessen, wie sich die letzte Regierungsbildung in Amerika abspielte, das Sie heute zum Vergleich mit Deutschland heranziehen? Es wurde dort der Republikaner Eisenhower von der Bevölkerung als Staats- und Regierungschef gewählt, und er mußte mit einer demokratischen Mehrheit regieren, weil die Parlamentswahlen zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden. Herr Scharnberg, glauben Sie, daß der Herr Bundeskanzler in Deutschland mit der SPD-Mehrheit regieren würde? Oder glauben Sie, daß Herr Ollenhauer etwa mit einer CDU/CSU-Mehrheit regieren würde? Wie kann man denn ohne Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit und der Entwicklung der Parteien solche Vergleiche ziehen? Man liest das auch immer wieder in den Zeitungen, und wenn ich das hier noch einmal zu später Stunde anführe, dann nur, um diese Torheiten endlich einmal aus der Wahlgesetzdebatte zu eliminieren.
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- Herr Lücke, ich bin zur Zeit noch in Washington, und nach Weimar komme ich auch noch, obwohl ich mich da relativ kurz fassen kann, weil die Kollegen dankenswerterweise die Dinge schon erwähnt haben.
Etwas Ähnliches haben Sie auch in England. Dort ist das Zweiparteiensystem nicht - und das
wollen bitte alle die Herren Vergleicher berücksichtigen - die Frucht der relativen Mehrheitswahl, sondern die Frucht des jahrhundertelangen Nebeneinander- und Zusammenlebens der Whigs and Tories. Und daraus ist auch etwas anderes entstanden. In England hat sich das Parlament institutiv in jahrhundertelangen Kämpfen gegen die Regierung so durchgesetzt, daß seine Stellung heute überhaupt nicht mehr erschüttert werden kann. Warum sage ich das? Weil - ich sprach vorhin von den Whigs and Tories - die zahlenmäßigen Unterschiede zwischen den beiden tragenden Parteien in England sehr gering sind. Dort kann aus der historischen Entwicklung heraus in der Tat die Opposition von heute die Regierung von morgen sein. Und da diese Realität respektiert wird, hat dort die Opposition einen institutiven Wert. Das ist gar nicht zu bestreiten. Von solchen Verhältnissen sind wir doch meilenweit entfernt, ja, wir werden sie wahrscheinlich nie erreichen. Also wenn man schon Vergleiche zieht, muß man wenigstens vergleichbare Voraussetzungen dafür haben, und die existieren nun einmal nicht. Deswegen wollen wir die Wahlgesetze nicht so sehr isoliert betrachten, sondern sie hineinstellen in den gesamten staatspolitischen Bereich und auch in die Wesensart der Menschen, für die sie geschaffen werden.
Nun, ich sprach vorhin von den Parteien. Das kann ich ruhig tun, da ich als parteiloser Abgeordneter hier eine etwas größere Freizügigkeit besitze als die Kollegen, die sonst dazu das Wort nehmen können.
({3})
- Das können Sie mir nicht verübeln. Also wenn Sie schon das Zweiparteiensystem wollen - und ich gebe zu: man kann das wollen, obwohl es für deutsche Verhältnisse unvorstellbar ist -, dann sorgen Sie bitte dafür, daß wir in Deutschland keine Weltanschauungsparteien haben!
({4}) Sowohl in Amerika wie in England sind die Parteien politische Zweckmäßigkeitsparteien, die ihr jeweiliges Wahlprogramm für die nächsten vier Jahre der Parlamentssession im wesentlichen herausstellen und die sich besonders in Amerika manchmal so gering nuancieren, daß man bei den Reden eines Senators, also eines Parlamentsmitglieds des Oberhauses, sehr aufpassen muß, welcher Partei er überhaupt angehört.
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- Ja, eben, ich werde Ihnen das gleich erklären, Herr Stücklen. Sie müssen jetzt einmal über Ihren eigenen Schatten springen. Jetzt haben Sie nämlich vergessen, daß wir nicht in Weimar und nicht in Washington sind, sondern in Bonn, und da bin ich jetzt angelangt!
({6})
- Das kann ich von hier aus bei dem diffusen Licht leider nicht erkennen, Herr Kollege Greve.
Wir haben in Deutschland im Laufe der parlamentarischen Geschichte, die ja relativ kurz ist -wir können es beklagen, aber es ist eine feststehende Tatsache -, nun einmal die sogenannten Weltanschauungsparteien entwickelt. Wir haben nun einmal in Deutschland diese Betrachtungsweise, und es hat sich beim deutschen Menschen
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eingebürgert, daß man die Politik nach christlichen, vielleicht nach christlich-bayerischen
({8})
oder anderen Gesichtspunkten sehen kann. Man kann sie nach sozialistischen, man kann sie nach liberalen, man kann sie, wie der Kollege Elbrächter mit Recht, nach konservativen Gesichtspunkten sehen. Es lassen sich unschwer noch ein paar andere politische Gesichtspunkte aufführen
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- so modern will ich heute nicht sein; ich will mich mit dem begnügen, was bisher gewesen ist -, und diese Gesichtspunkte sind ja auch von meinem Herrn Vorredner hier vorgetragen worden. Meine Damen und Herren, wenn Sie das Zweiparteiensystem einführen wollen, dann müssen Sie sich in Deutschland auch vorher auf zwei Weltanschauungen einigen; dann können Sie das machen. Oder Sie gehen vom Prinzip der Weltanschauungspartei ab und bilden die politische Zweckmäßigkeitspartei. Dann müssen Sie aber die CSU sofort auflösen, Herr Stücklen.
({10})
Das sind doch die Schwierigkeiten, die sich anbieten.
Ich habe vorhin gesagt, man soll diese Dinge nicht isoliert sehen, sondern sie in den Lauf der historischen Entwicklung hineinstellen; man soll die Wesensart der Parteien und die Verfassungswirklichkeit berücksichtigen. Dann, meine Damen und Herren, haben Sie doch die Arbeitsmethode für die Ausschüsse, damit diese zu einem Ziel kommen.
Es ist heute sehr häufig der Parlamentarische Rat hier angeführt worden. Ein Wahlgesetz - und darin werden mir wohl die meisten Damen und Herren dieses Hauses recht geben - ist doch quasi eine Ergänzung der Verfassung, ist eigentlich mit ein Stück der Verfassung; das unterliegt gar keinem Zweifel. Wenn man sich schon zur parlamentarischen Demokratie bekennt, dann muß man auch dem Wahlgesetz diese schwerwiegende Bedeutung zubilligen. Ich . für meine Person wäre gar nicht böse gewesen, wenn die Kollegen des Parlamentarischen Rates für das Wahlgesetz eine qualifizierte Mehrheit im Parlament vorgeschrieben hätten, vielleicht nicht in der für eine Verfassungsänderung notwendigen Höhe, aber immerhin so, daß dadurch auch ein gewisser Minderheitenschutz entstanden wäre. Dieser Gedanke ist von der parlamentarischen Ebene her gar nicht abzuweisen. Es hätten auch noch andere Möglichkeiten bestanden. Ich habe vorhin das Zweikammersystem anderer alter demokratischer Staaten hier heraufbeschworen. Es wäre vielleicht auch nicht falsch gewesen, eine zweite parlamentarische Kammer einzuführen. Dann hätte man sich nämlich für die direkt vom Volk gewählte Kammer vielleicht auf ein modifiziertes Mehrheitswahlrecht verständigen können, wenn die andere Kammer der politisch konstante Faktor gewesen wäre.
Verehrter Herr Kollege Stücklen und verehrter Herr Kollege Scharnberg, ich muß Ihnen hier eins sagen. Sie haben mit beredten Worten versucht, klarzumachen, daß das System der Splitterparteien zwangsläufig aus dem Verhältniswahlrecht kommt. Ich weiß nicht, woher Sie diese Erkenntnis nehmen. Ich kann die Behauptung genau umkehren; ich weiß nicht, ob das mit der Wirklichkeit übereinstimmt, aber ich mache mir einmal den Spaß, das zu sagen. Ich kann dann folgendes behaupten: Das Mehrheitswahlrecht bringt immer nur einen kleinen Teil der Bevölkerung politisch zum Zuge. Es ist hier sowohl von dem Herrn Kollegen Euler wie vom Herrn Kollegen Menzel dargetan worden, daß das Mehrheitswahlrecht in Wirklichkeit ein Minderheitenwahlrecht ist. Nun schön.
({11})
- Nein, ich bin ja mit meiner Berechnung noch gar nicht am Ende; deswegen können Sie den Pferdefuß noch gar nicht sehen.
({12})
Angenommen, wir beschließen jetzt das Scharnbergsche oder Stücklensche Mehrheitswahlrecht hier für den Bundestag. Dann bin ich persönlich überzeugt, daß ein großer Teil von Abgeordneten, die die Qualifikation zum Bundestagsabgeordneten hätten, kein Mandat zum Bundestag mehr bekommen. Das unterliegt für mich keinem Zweifel. Diese Politiker werden aber deswegen nicht auf die Politik verzichten, sondern sie werden, da wir nun einmal diese merkwürdige Staatskonstruktion haben, in die Landtage gehen, die sich niemals zu einem absoluten Mehrheitswahlrecht entschließen werden, aus Gründen, die auszuführen hier vielleicht zu weit ginge. Sie würden nun den Landtagen ein sehr viel größeres politisches Schwergewicht durch ihre Persönlichkeit geben, als es hier der Bundestag durch den Mangel an diesen Persönlichkeiten hat. So könnte sich hier eine Verschiebung nach den Ländern hin ergeben.
({13})
- Ja, meine Damen und Herren, das ist doch denkbar. Jetzt gehe ich aber noch einen Schritt weiter, passen Sie mal auf, ich ziehe ja nur die Parallele zu den Scharnbergschen Verhältniswahlüberlegungen.
({14})
- Herr Lücke, passen Sie mal auf, das ist viel besser; hören Sie jetzt bitte genau zu! - Wenn immer nur ein Teil der Bevölkerung politisch zum Zuge kommen könnte, während der andere Teil - diese Furcht klang sehr deutlich aus den Ausführungen des Herrn Kollegen Menzel heraus - z. B. in einen außerparlamentarischen Raum gedrängt würde, dann wäre eine Radikalisierung über das relative Mehrheitswahlrecht zu befürchten. Das ist doch denkbar. Wenn immer nur ein kleiner Teil des Volkes politisch zum Zuge kommt, was soll dann z. B. die Jugend, die sich gegen die Erbhofbauern des relativen Mehrheitswahlrechtes nicht mehr durchsetzen kann,
({15})
was sollen diese jungen Leute machen?
({16})
- Ich habe eben versucht, Ihnen klarzumachen,
Herr Lücke, daß in Amerika und in England die
Dinge aus Gründen der dortigen Verfassungsrealität anders liegen. Die müssen Sie einmal studieren.
Nun, Herr Kollege Scharnberg, ich hoffe zwar nicht, daß das mit der Radikalisierung so kommt. Da Sie aber die Radikalisierung aus dem Verhältniswahlrecht theoretisch abgeleitet haben, habe ich mir gestattet, die Radikalisierung einmal aus dem einfachen Mehrheitswahlrecht abzuleiten! Das ist ja genauso mein gutes Recht. Und, lieber Herr Schamberg, Sie wissen, ich bin an dem vorigen
({17})
Bundestagswahlgesetz nicht ganz unbeteiligt gewesen. Ich war über Ihre Ausführungen nicht erstaunt, denn ich habe sie von vor zwei Jahren noch sehr gut im Gedächtnis.
({18})
Aber, sehen Sie, darüber sind wir uns doch einig - selbst auf die Gefahr hin, daß ich vorn Bundesinnenminister keine gute Zensur für meine Ausführungen bekomme; ich kann es ja überleben -: Ich wünsche jedenfalls sehnlich, daß aus den Ausschußarbeiten nicht eine parlamentarische Bastelstunde wird, Herr Scharnberg, etwa mit dem Versuch, zwei heterogene Wahlsysteme, relatives Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht, mit der bekannten Grabentheorie des tiefen und des schmalen Grabens zusammenzukuppeln! Das wäre grauenhaft!
Meine Damen und Herren, die deutsche Tradition ist die des Verhältniswahlrechts. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
({19})
- Weimar, natürlich. Wir haben diese Tradition in den Landtagen entwickelt, und, Herr Lücke, Sie mögen erstaunt sein - wir waren ja auch schon zusammen im 1. Bundestag -, wir haben eine gewisse Tradition auch schon in den Bundestagen erreicht. Warum Sie also den Blick immer nach Weimar richten, weiß ich nicht. Das, weil Sie Weimar nannten.
Ich war erschrocken - damit will ich schließen, meine Damen und Herren -, als Herr Scharnberg sagte, wir wollen mit dem jetzigen Wahlgesetz etwas Endgültiges schaffen. Ich bete zu Gott, Herr Scharnberg, daß wir nichts Endgültiges schaffen! Denn ich schließe mich hier den Ansichten des Kollegen Menzel und anderer an: Wenn das Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung nicht ein Lippenbekenntnis ist, wenn der deutsche Bundestag nicht zu verschiedenen Malen über Entschließungsanträge falsch abgestimmt hat, wenn er nicht den Entwurf zu einem gesamtdeutschen Wahlgesetz ausgearbeitet hätte, wenn das alles nicht nur Lippenbekenntnisse sind, und wenn diese Bundesrebublik, wie die Verfassung es sagt, provisorisch ist, dann wollen wir bei Gott ein provisorisches Wahlgesetz machen und weiterhin ein provisorisches Wahlgesetz machen für die freien Wahlen in Gesamtdeutschland und wollen hoffen, daß eine deutsche Nationalversammlung dann ein Wahlgesetz schafft, das der deutschen Tradition gerecht wird, das dem Wesen der deutschen Parteien gerecht wird, das der Verfassungswirklichkeit gerecht wird und das wirklich in der Lage ist, den deutschen Menschen zu einem überzeugten Demokraten zu machen!
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Petersen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht leicht, nach einer so humorvollen und auch so aufgeschlossen aufgenommenen Rede, wie sie der Kollege Stegner dem Hohen Hause geboten hat, wieder zu den sachlichen Fundamenten zurückzukehren. Aber das muß ich ja nun mal tun.
Die deutsche Öffentlichkeit erwartet von uns ein Wahlgesetz, das über parteipolitischen Zweckvorstellungen und Machtüberlegungen steht, ein Wahlgesetz, das allen demokratischen Parteien eine
faire und gleiche Chance bietet, wenn es zur Wahl der Volksvertretung anzutreten gilt, kurz gesagt: ein gerechtes und, ich möchte sagen, dauerhaftes Wahlgesetz, dauerhaft wenigstens für die Zeit, solange die Bevölkerung der Bundesrepublik ihren Bundestag wählt.
Wir bedauern, daß die Bundesregierung nicht selbst die Initiative zur Vorlage eines Wahlgesetzes ergriffen hat. Der Herr Bundesinnenminister hat uns allerdings eine Erklärung für seine Zurückhaltung gegeben. Aber auch seine Fraktion, die größte Fraktion des Hohen Hauses, hat uns leider keinen eigenen Entwurf vorgelegt. Das bedauern wir um so mehr, als der uns von 72 Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Entwurf, der uns das relative Mehrheitswahlrecht empfiehlt, wohl kaum die Gesamtmeinung der CDU/CSU-Fraktion darstellt. Ich glaube, er stellt vielmehr einen erneuten Versuch dar, das vom 1. Deutschen Bundestag mit klarer Mehrheit abgelehnte relative Mehrheitswahlrecht unter den jetzt veränderten Verhältnissen doch noch durchzusetzen. Vielleicht vertrauen die Antragsteller auf die Tatsache, daß die Fraktion der CDU/CSU in diesem Hause die absolute Mehrheit hat. Das wäre ein zwar einladender, aber für die zukünftige Zusammenarbeit der Koalition gefährlicher Appell an die Stimmenmacht.
({0})
Ich will keinen Zweifel darüber lassen, daß unsere Fraktion in diesem Falle in voller Solidarität zu den Ausführungen stehen würde, die der Herr Kollege Schneider vorhin für die FDP gemacht hat.
Wir haben zum Lobe des relativen Mehrheitswahlrechts gehört, daß es eine Klärung der Verhältnisse zwischen Regierung und Opposition fördere, daß die Person wieder mehr im Mittelpunkt des politischen Lebens stehen würde und nicht die Partei, daß es dann keine Gefahr der Zersplitterung mehr geben würde und daß eine Verbesserung des politischen Klimas zu erwarten sei. Diese Ausführungen wundern mich heute. Sie hätten mich nicht gewundert, wenn sie in der Wahldebatte im 1. Deutschen Bundestag gemacht worden wären. Aber nachdem die CDU gerade nach dem so stark kritisierten Wahlgesetz von 1953 einen so überragenden Erfolg errungen hat, wundern uns diese Ausführungen heute, weil sich die negative Betrachtung dieses sogenannten personalisierten Verhältniswahlrechts auf keinen Fall mehr einleuchtend begründen läßt.
Die CDU hat die absolute Mehrheit in diesem Parlament. Wir haben eine starke Regierung, die sich auf eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments stützen kann. Wir haben darüber hinaus keine Splitterparteien in diesem Parlament, und das einzige, was wir vielleicht zu beklagen haben, wäre das politische Klima. Aber erwarten Sie auf keinen Fall, daß ein durch das Mehrheitswahlrecht gefördertes Zweiparteiensystem ein besseres politisches Klima in diesem Hause schaffen würde! Ich glaube sogar, die Besorgnis aussprechen zu können, daß der politisch tiefe Graben, der manchmal in diesem Hause zu spüren ist, noch tiefer werden würde und daß keine Möglichkeit gefunden werden würde, das Mißtrauen in ein besseres Verhältnis zu verwandeln.
Es besteht gar kein Zweifel, daß das relative Mehrheitswahlrecht, wenn es zu zwei Parteien führt - und das ist ja letzten Endes die Konsequenz dieses Mehrheitswahlrechts -, zur Folge hat,
(Petersen
daß dann eine Partei, die aus einem Wahlkampf mit einer Mehrheit hervorgeht, auf vier Jahre die Macht im Parlament übernimmt und der Opposition im wesentlichen eine gar nicht mehr erträgliche Rolle zumutet. Die Verhältnisse, die vielleicht früher zu beklagen waren - man sagte, daß keine konstante Regierungsmehrheit und keine starke Regierung zu erwarten seien -, sind doch durch das konstruktive Mißtrauensvotum voll ausgeschaltet worden. Die Verwirklichung des relativen Mehrheitswahlrechts und das Zweiparteiensystem würden das konstruktive Mißtrauensvotum geradezu absolut überflüssig machen.
Ich glaube, daß deshalb das relative Mehrheitswahlrecht nicht mehr mit guten Gründen verteidigt werden kann. Der Kollege Elbrächter von der Deutschen Partei hat dem absoluten Mehrheitswahlrecht, aber auch in etwa dem relativen Mehrheitswahlrecht hier seine Unterstützung gegeben, und zwar mit der Begründung, die nach dem relativen Mehrheitswahlrecht gewählten Abgeordneten stünden in einem besseren Vertrauensverhältnis zu ihrer Wählerschaft. Ich muß sagen: wir, die wir über die Landesliste in den Bundestag gekommen sind, haben ein sehr gutes Verhältnis zu unserer Wählerschaft, und wir möchten hoffen, daß es auch den Damen und Herren der DP an diesem Vertrauensverhältnis nicht mangelt. Wenn es mangeln sollte, hoffen wir, daß sie sich auf jeden Fall bemühen, es zu erreichen. Aber dieses Argument des besseren Vertrauensverhältnisses ist doch sehr schlecht und für meine Begriffe sehr billig.
Darüber hinaus würde ein relatives Mehrheitswahlrecht eine erhebliche Benachteiligung der Chancen der Frauen bei der Aufstellung als Kandidaten nach sich ziehen. Es besteht gar kein Zweifel, daß die Parteien Frauen nur auf absolut sicheren Kandidatenstellen postieren würden und daß sich das relative Mehrheitswahlrecht bei den Auseinandersetzungen über die Aufstellung der direkt zu wählenden Kandidaten im wesentlichen zum Nachteil der Frauen auswirken würde.
Ich kann auch nicht die unbedingte Konsequenz des Vortrags des Kollegen Stücklen verstehen, der das Verhauen seiner Partei nicht nur hier im Bundestag, sondern auch bei der Schaltung der Wahlgesetze in den einzelnen Ländern einer näheren Betrachtung unterzogen hat. Wir haben ja gerade bei dem letzten Wanlkampf in Nordrhein-Westfalen erfahren, was für Persönlichkeitskapriolen dort geschossen worden sind. Dort hat man nicht nur einem klaren Verhältniswahlrecht seine Zustimmung gegeben, sondern man hat neben der 5-%-Klausel und der Möglichkeit, durch direkte Wahl in das Parlament zu kommen, noch die Ausweichmöglichkeit geschaffen, auf dem Wege einer 33 1/3-%-Klausel auf Kreisbasis den Einzug ins Parlament zu erreichen. Wir haben es dort erlebt, daß beispielsweise eine Partei, die um 70 000 Wählerstimmen schwächer war als wir, mit 15 Stimmen über 33 1/3 % der Stimmen eines Kreises in den Landtag einzog, und zwar nicht direkt, sondern an zweiter Stelle gewählt. Das sind doch an sich Dinge, die wir uns, wenn wir in der Vertretung eines Wahlsystems bei der Wahrheit und Klarheit bleiben wollen, nicht erlauben können. Der Gesamtdeutsche Block/BHE wird deshalb den Entwurf der CDU/CSU für das relative Mehrheitswahlrecht mit Entschiedenheit ablehnen.
Er bejaht vielmehr das personalisierte Verhältniswahlrecht, weil hier allein der politische Wille der Wähler eine gerechte Berücksichtigung und Wertung erfährt. Wir sind dem Herrn Bundesinnenminister sehr dankbar, daß er sich der Aufgabe unterzogen hat, durch eine Professorenkommission die Grundzüge und die Einzelheiten der Wahlrechte eingehend analysieren zu lassen. Wir sind deshalb sehr dankbar, weil gerade diese Denkschrift im wesentlichen ergeben hat, daß das so viel gerühmte Mehrheitswahlrecht durchaus nicht die starke Plattform und Basis hat, die immer hier vorgetragen wird. Es ist vielleicht schon bedeutend, daß die Professorenkommission, wenn auch nicht in einem zustimmenden Votum, aber doch in einer Empfehlung dahin tendiert, daß die Zeit und die Entwicklung für ein Mehrheitswahlrecht noch nicht reif sei und daß das personalisierte Verhältniswahlrecht unter Abwägung aller Möglichkeiten im Augenblick den Vorzug genieße.
Die beiden vorliegenden Entwürfe der SPD und der FDP folgen den Grundsatzen dieses personalisierten Vernaltniswahirechts. Ich möchte hier im einzelnen auf diese Entwürte nicht eingehen; das werden wir im Ausschuß tun können. Aber zwei Punkte seien doch ganz klargestellt. Der Gesamtdeutsche Block/BHE bejaht die Herabsetzung der Abgeordnetenzahl. Er ist auch mit einer gerechten Sperrklausel einverstanden. Nur wünschen wir, daß diese Sperrklausel in ein gerechtes Verhältnis zu den Direktmandaten als Ausweichmöglichkeit gesetzt wird. Es kann also nicht angehen, daß man sagt: Eine Partei muß 5 % oder 1,5 Millionen Wählerstimmen aufbringen oder ein Direktmandat erreichen, also ein Verhältnis von etwa 1,5 Millionen zu 30 000 Wählerstimmen rechtfertigen. Der Herr Bundesinnenminister hat diese Diskrepanz schon aufgezeigt. Aber wir sind auch nicht der Ansicht, daß der Vorschlag der FDP mit drei Direktmandaten hier einen gerechten Ausgleich schafft. Wir werden im Ausschuß zu ganz anderen Quotenverhältnissen bei den Direktmandaten gegenüber der 5 %-Klausel kommen müssen, oder wir werden bei der 5 %-Klausel eine Revision vornehmen müssen.
Darüber hinaus ist der Gesamtdeutsche Block/ BHE dafür, daß Berlin seine Abgeordneten in Zukunft wählt und nicht mehr entsendet. Wir unterstützen also auch in dieser Hinsicht die Initiative, die in den Entwürfen der FDP und der SPD zum Ausdruck kommt.
So hoffen wir, daß es möglich sein wird, im Wahl-rechtsausschuß bei den Beratungen in ernsthafter Arbeit doch eine gemeinsame Linie zu finden; denn bei allen Parteien ist ja der Wille vorhanden, dem Bundestag ein dauerhaftes und gerechtes Wahlgesetz vorzulegen. Wir haben nur einen Wunsch: daß diese Arbeit genau so schnell erfolgen möge, wie sie in anderen sehr wichtigen staatspolitischen Aufgaben in den letzten Monaten und Wochen geleistet worden ist. Denn dann können wir die Hoffnung haben, daß die Ausschußarbeiten im Oktober beendet sind und wir für die zweite und dritte Lesung dem Hohen Hause eine Vorlage unterbreiten können, die nicht nur eine schmale, sondern eine breite Mehrheit findet.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Euler.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte noch ein Wort sagen zu Bemerkungen, die mehrfach aufklangen. Kollege Menzel sagte etwa, das Mehrheitswahlrecht
({0})
werde aus den Reihen der CDU/CSU in dem Augenblick präsentiert, in dem die kleinen Parteien für Verfassungsergänzungen gebraucht würden. Der Kollege Stücklen hat vorhin seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die kleinen Parteien die Abstimmung über Verfassungsergänzungen wohl nicht vom Wahlrecht abhängig machen würden, und damit hat der Kollege Stücklen an eine Bemerkung meines Freundes Dr. Schneider angeschlossen. Aber gerade diese Hoffnung, die Kollege Stücklen dann zum Ausdruck brachte, hat mir gezeigt, daß er mißverstanden hat, was Kollege Dr. Schneider mit seiner Ausführung eigentlich gemeint hat. Ich will namens meiner politischen Freunde, der Freien Demokraten, hier klar erklären: wir machen unsere Stellungnahmen zu Verfassungsergänzungen nicht davon abhängig, ob unsere Stimmen gebraucht werden oder nicht. Dafür gibt es einen sehr entscheidenden Beleg: wir sind nämlich diejenigen, die innerhalb der Koalition sehr stark in der Richtung initiativ geworden sind, die Fragen des Oberbefehls, der Wehrverwaltung und des Notstands einer grundgesetzlichen Regelung zuzuführen. Wir treten dafür ein aus Erwägungen über die richtige Ausgestaltung unserer Verfassungsinstitutionen, um zu verhindern, daß die neue Demokratie Fehlentwicklungen einschlage. Wir haben uns inzwischen in der Koalition sehr ausführlich unterhalten und sind dabei zu der gemeinsamen Erkenntnis gelangt, daß es unsere Aufgabe ist, bei der Regelung des Notstandes und bei der Regelung des Oberbefehls zwei große Gefahren auszuschließen: die eine Gefahr nämlich, daß die Wehrmacht wieder eine Sonderstellung im Staate jenseits der eigentlich demokratischen Verantwortlichkeit erlangen könne, eine Sonderstellung, die in der Weimarer Republik mit zum Verhängnis der Demokratie beigetragen hat. Das wollen wir vermieden sehen. Wir wollen andererseits vermieden sehen, daß Oberbefehl und Nostand eine Regelung finden, die eine ungesunde, einseitige Machtanhäufung an einer Stelle des Staates, sei es beim Bundespräsidenten, sei es gar beim Bundeskanzler, zur Folge hat.
Ich darf hier die Zwischenbemerkung einstreuen, daß solche Verfassungsprobleme naturgemäß völlig losgelöst von den Personen gesehen werden müssen, die jetzt gerade diese institutionellen Stellungen innehaben. Sie sind also unabhängig von dem gegenwärtigen Bundespräsidenten und dem gegenwärtigen Bundeskanzler zu sehen, weil es sich um Probleme handelt, deren Verfassungslösung für die ganze Lebenszeit unseres demokratischen Staates gültig wird.
Wenn man nun die Problematik so sieht, daß es gilt, durch eine bestimmte Ausgestaltung des Oberbefehls und der Notstandsgesetzgebung dafür zu sorgen, daß eine ungesunde Machtanhäufung bei einer Stelle, beispielsweise beim Kanzler, vermieden wird, dann muß man, solange dieses Resultat nicht sichergestellt ist, gewisse Sorgen hegen, wenn nun ein Antrag eingebracht wird, der dahin geht, ein relatives Mehrheitswahlrecht einzuführen. Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, stellen Sie sich vor, welche gefährliche Entwicklung in dieser Demokratie zu befürchten wäre, wenn wir eine verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Oberbefehls bekämen, die dem Kanzler die alleinige Kommandogewalt über die Wehrmacht gäbe, dazu eine Ausgestaltung des Notstandsrechts, die dem Kanzler die entscheidenden Eingriffsbefugnisse gibt, und dann obendrein als Möglichkeit
({1})
- Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, daß ich mitten in der Sache bin.
({2})
Sie hätten nämlich nur den Satz anzuhören brauchen, in dem ich gerade war und den ich jetzt wegen Ihrer Zwischenrufe leider wiederholen muß, damit Sie ihn verstehen; denn dann hätten Sie gemerkt, daß ich mitten in der Sache bin. Wenn man sich nämlich eine solche einseitige Ausgestaltung des Oberbefehls, eine solche völlig einseitige Ausgestaltung des Notstandsrechts
({3}) und dazu als Drittes ein relatives Mehrheitswahlrecht vorstellt, das zur Folge hat, daß eine Partei auf Grund einer Minderheit von Stimmen die Mehrheit im Parlament bekommt und der Vorsitzende dieser Partei Kanzler wird mit völlig unbeschränkten Machtvollkommenheiten, dann kann man den sachlichen Zusammenhang zwischen Verfassungsergänzungen und Wahlrecht nicht leugnen. Unsere Verfassungsinitiative hat zum Ziel, eine solche gefährliche Entwicklung auszuschließen. Daß wir Freien Demokraten uns dabei auf einem staatspolitisch richtigen Wege befinden, hat das Gespräch in der Koalition ergeben, bei dem wir uns gegenseitig dargelegt haben, daß wir es als gemeinsame Aufgabe betrachten müssen, diese Gefahren auszuschließen.
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung zu Punkt 2 a, b und c der heutigen Tagesordnung.
Bevor ich abstimmen lasse, erteile ich das Wort dem Abgeordneten Rehs zur Stellungnahme zum Antrag des Abgeordneten Scharnberg auf Einsetzung eines Sonderausschusses.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir halten diesen Antrag in keiner Weise für glücklich. Der Antrag ist damit begründet worden, daß die Experten der einzelnen Fraktionen zu den Beratungen in diesem Ausschuß zusammenkommen sollten. Die Experten, d. h. diejenigen Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen, die sich mit diesem Gesetz und seinen Fragen besonders befaßt haben oder befassen wollen, können auch ohne einen Sonderausschuß an den Beratungen teilnehmen.
({0})
Sie brauchen sich nur im Austauschwege mit ihren eigenen Fraktionskollegen zu verständigen. Um also den Rat der Experten bei den Diskussionen im Ausschuß zur Verfügung zu haben, ist ein solcher Ausschuß in keiner Weise nötig. Im übrigen handelt es sich, meine Damen und Herren, ja nicht um eine Entscheidung der Experten, sondern in erster Linie um eine politische Entscheidung.
Auf der andern Seite bitten wir aber doch folgendes zu bedenken. Wir alle kennen die außerordentliche Kalamität unserer Terminnot, die Überlastung durch die einzelnen Ausschüsse und die Schwierigkeiten, die sich aus den Überschneidungen der Ausschußsitzungen ergeben. Wir alle haben in den ganzen letzten Wochen und Monaten unter diesen Schwierigkeiten gelitten. Jeder Son({1})
derausschuß erhöht die Terminnot und führt zu einer weiteren Zersplitterung der Ausschußarbeit. Wir sind daher der Auffassung, daß auch aus diesen Zweckmäßigkeitsgründen kein Sonderausschuß eingesetzt werden sollte, sondern daß die Beratungen dem zuständigen Ausschuß für innere Verwaltung belassen werden sollten.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich komme zur Abstimmung. Es liegt der Antrag vor, die Gesetzentwürfe nicht dem Ausschuß für innere Verwaltung, sondern einem zu bildenden Sonderausschuß zu überweisen. § 62 der Geschäftsordnung lautet:
Für einzelne Angelegenheiten kann der Bundestag besondere Ausschüsse bestellen.
Dieser Antrag ist weitergehend gegenüber dem, die Entwürfe an den zuständigen Ausschuß zu überweisen. Ich komme also zuerst zur Abstimmung über ihn.
Wer dem Antrag Scharnberg, einen 23er Sonderausschuß einzusetzen und ihm die drei Gesetzentwürfe, die wir soeben behandelt haben, zu überweisen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? Das erste war die Mehrheit. Der Sonderausschuß
ist eingesetzt und die Überweisung erfolgt. - Damit ist Punkt 2 der heutigen Tagesordnung erledigt.
Ich rufe Punkt 3 der heutigen Tagesordnung auf: Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten ({0}) über die Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die allgemeinen Rechte der dänischen Minderheit und über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP, GH/BHE, DP zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Nationales Minderheitenrecht({1}))
Berichterstatter: Abgeordneter Paul **).
Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Erklärung dem Herrn Vertreter des Bundesaußenministers.
Dr. Hallstein. Staatssekretär des Auswärtigen Amts: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Vertretung des Herrn Bundesministers des Auswärtigen, der durch eine dienstliche Pflicht noch in Straßburg zurückgehalten ist, darf ich zunächst die von dem Herrn Bundeskanzler am 29. März 1955 unterzeichnete Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die allgemeinen Rechte der dänischen Minderheit verlesen:
Erklärung der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland
In dem Wunsche, das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung beiderseits der deutsch-dänischen Grenze und damit auch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark allgemein zu fördern, und
eingedenk der völkerrechtlichen Verpflichtung, welche die Bundesrepublik durch ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Konvention für Menschenrechte hinsichtlich der Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung nationaler Minderheiten ({2}) übernommen hat,
*) Siehe Anlage 15 zum Stenographischen Bericht der 58. Sitzung.
**) Schriftlicher Bericht: Anlage 2.
erklärt die Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundsätze, auf welche die Schleswig-Holsteinische Landesregierung in ihrer Erklärung vom 26. September 1949 Bezug genommen hat, folgendes:
Die Angehörigen der Minderheit genießen wie alle Staatsbürger die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 garantierten Rechte. Insbesondere haben sie im Rahmen des Grundgesetzes folgende Rechte:
1. Das Recht auf die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit,
2. die Gleichheit vor dem Gesetz,
3. die Glaubens- und Gewissensfreiheit,
4. das Recht der freien Meinungsäußerung und die Pressefreiheit,
5. die Versammlungs- und Vereinsfreiheit,
6. das Recht, den Beruf und den Arbeitsplatz frei zu wählen,
7. die Unverletzlichkeit der Wohnung,
8. die freie Gründung der politischen Parteien,
({3})
9. den gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung; bei den Beamten, Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes darf zwischen Angehörigen der dänischen Minderheit und anderen Staatsbürgern kein Unterschied gemacht werden,
10. das allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlrecht, das auch für die Landes-und Kommunalwahlen gilt,
11. das Recht, bei Verletzung von Rechten durch die öffentliche Gewalt den Schutz der Gerichte anzurufen,
12. das Recht auf gleiche Behandlung, nach dem niemand wegen seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft oder seiner politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
II.
In Ausführung dieser Rechtsgrundsätze wird hiermit festgestellt:
1. Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.
2. Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen am Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden.
Der Gebrauch der dänischen Sprache vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden bestimmt sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften.
3. Bei Unterstützungen und sonstigen Leistungen aus öffentlichen Mitteln, über die im Rahmen des Ermessens entschieden wird, dürfen Angehörige der dänischen Minderheit gegenüber anderen Staatsbürgern nicht unterschiedlich behandelt werden.
4. Das besondere Interesse der dänischen Minderheit, ihre religiösen, kulturellen und fachlichen Verbindungen mit Dänemark zu pflegen, wird anerkannt.
({4})
III.
Die Bundesregierung gibt zur Kenntis, daß die Landesregierung Schleswig-Holstein ihr mitgeteilt hat:
1. Da das Verhältniswahlverfahren gemäß der Kommunalgesetzgebung bei der Einsetzung von Ausschüssen in den kommunalen Vertretungskörperschaften Anwendung findet, werden die Vertreter der dänischen Minderheit zur Ausschußarbeit im Verhältnis zu ihrer Anzahl herangezogen.
2. Die Landesregierung empfiehlt, daß die dänische Minderheit im Rahmen der jeweils geltenden Regeln für die Benutzung des Rundfunks angemessen berücksichtigt wird.
3. Bei öffentlichen Bekanntmachungen sollen die Zeitungen der dänischen Minderheit angemessen berücksichtigt werden.
4. Im Lande Schleswig-Holstein können allgemeinbildende Schulen und Volkshochschulen ({5}) sowie Kindergärten von der dänischen Minderheit nach Maßgabe der Gesetze errichtet werden. In Schulen mit dänischer Unterrichtssprache ist ein zureichender Unterricht in deutscher Sprache zu erteilen. Eltern und Erziehungsberechtigte können frei entscheiden, ob ihre Kinder Schulen mit dänischer Unterrichtssprache besuchen sollen.
Bonn, den 29. März 1955
So weit die Erklärung der Bundesregierung.
Am selben Tage, an dem der Herr Bundeskanzler diese Erklärung unterzeichnet hat, ist auch von der Königlich Dänischen Regierung eine im wesentlichen gleichlautende Erklärung über die Rechte der deutschen Minderheit von Herrn Staatsminister Hansen anläßlich seines Besuches in Bonn unterzeichnet warden. Das Ergebnis der deutsch-dänischen Minderheitenverhandlungen ist in den Tagen des dänischen Staatsbesuchs ausführlich in der Presse und auch im Rundfunk wiedergegeben worden.
Die von der deutschen Delegation empfohlene Erklärung der Landesregierung Schleswig-Holstein ist bereits am 31. März 1955 von der Landesregierung dem Schleswig-Holsteinischen Landtag vorgelegt und von diesem einstimmig gebilligt worden.
Das dänische Parlament hat die Erklärung der dänischen Regierung über die Rechte der deutschem Minderheit am 19. April 1955 mit großer Mehrheit ebenfalls gebilligt.
Ich möchte Ihnen weiter, meine Damen und Herren, einen kurzen Überblick über die Vorgeschichte und den Verlauf der Besprechungen geben und in einigen Sätzen auf den Inhalt der getroffenen Regelungeneingehen.
Der Bundestag hatte sich bereits in seiner 58. und 60. Sitzung mit Fragen der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein und der deutschen Minderheit in Nordschleswig anläßlich der Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD Drucksache 904 betreffend nationales Minderheitenrecht befaßt. In der 60. Sitzung vom 10. Dezember 1954 wurde der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP, GB/BHE, DP, die Bundesregierung möge umgehend Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark aufnehmen mit dem Ziel, durch einen Minderheitenvertrag oder eine andere zwischenstaatliche Regelung den Anliegen beider
Minderheiten auf der Basis der Gegenseitigkeit großzügig Rechnung zutragen, an die Ausschüsse verwiesen.
Die Diskussion im Bundestag war durch das Ergebnis der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein vom 13. September 1954 ausgelöst worden. Hierbei hatte der Südschleswigsche Wählerverband der dänischen Minderheit 42 000 Stimmen - das sind 3,6 % der insgesamt abgegebenen Stimmen - erhalten. Infolge der 5 %-Klausel des schleswig-holsteinischen Wahlgesetzes gelang es der dänischen Minderheit nicht, wie bisher eine Vertretung in den Landtag zu entsenden.
In Dänemark wurde diese Wirkung der schleswig-holsteinischen 5 %-Klausel als sehr unbefriedigend empfunden. Man wies darauf hin, daß die 'deutsche Minderheit in Nordschleswig mit nur 9700 Stimmen durch einen Abgeordneten im dänischen Parlament vertreten sei. Ich darf darin erinnern, daß Herr Staatsminister Hansen auf Grund eines Beschlusses des dänischen Folketings die dänischen Gesichtspunkte in der Frage der dänischen Minderheit am 20. Oktober 1954 auf der NATO-Ratstagung in Paris zur Sprache brachte und anschließend mit dem Herrn Bundeskanzler darüber ein Gespräch führte.
Herr Ministerpräsident von Hassel trat daraufhin in seiner Regierungserklärung vor dem Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 8. November 1954 für den Abschluß eines deutsch-dänischen Minderheitenabkommens ein. Aus offiziellen Verlautbarungen der dänischen Regierung ging jedoch hervor, daß man in Dänemark dem Vorschlag ides Abschlusses eines Minderheitenvertrages mit der Bundesregierung .ablehnend gegenüberstand.
Erfreulicherweise ließ aber die dänische Regierung im Januar dieses Jahres erkennen, daß sie eine Initiative der Bundesregierung, in zwischenstaatliche Besprechungen über die Minderheitenfragen einzutreten, begrüßen würde. Daraufhin machte die Bundesregierung im vollen Einvernehmen mit der Landesregierung Schleswig-Holstein der dänischen Regierung Anfang Februar den Vorschlag, die beiderseitigen Minderheitenprobleme mündlich zu erörtern mit dem Ziele, die Rechte der Minderheiten in noch zu vereinbarender Weise festzulegen.
Dies führte zu den Ihnen bekannten Besprechungen einer deutschen und einer dänischen Regierungsdelegation unter Beteiligung der Landesregierung Schleswig-Holstein in der Zeit vom 28. Februar bis 5. März 1955 in Kopenhagen, die am 29. März anläßlich des dänischen Staatsbesuches erfolgreich zum Abschluß gebracht wurden.
Zu diesem Erfolg hat die verständnisvolle Haltung der Landesregierung von Schleswig-Holstein wesentlich beigetragen. Herr Ministerpräsident von Hassel hat die Bundesregierung in ihren Bemühungen, zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen, sehr wirksam unterstützt.
Es ist ,der Bundesregierung eine besondere Freude und Genugtuung, noch einmal feststellen zu können, daß diese Gespräche in einer Atmosphäre des ,gegenseitigen Verständnisses und guten Willens 'stattgefunden haben.
Die große Bedeutung, die diesen Verhandlungen sowohl von deutscher wie von dänischer Seite beigemessen wurde, fand unter anderem darin ihren besonderen Ausdruck, daß der Herr dänische Ministerpräsident Hansen zum Abschluß der Bespre({6})
chungen und zur Unterzeichnung der dänischen Regierungserklärung zu einem Staatsbesuch nach Bonn kam. Dieser so harmonisch verlaufene Besuch hat einen fruchtbaren Gedankenaustausch ermöglicht und einen neuen Abschnitt in den deutschdänischen Beziehungen eingeleitet.
Die Ergebnisse der Minderheitenbesprechungen und ihre politische Tragweite sind von Herrn Staatsminister Hansen und dem Herrn Bundeskanzler seinerzeit ausführlich gewürdigt worden.
Die Erklärungen der Bundesregierung und der dänischen Regierung über die Rechte der Minderheiten stimmen in ihren Teilen I und II inhaltlich überein. Sie sind eine feierliche Bestätigung der bereits in den demokratischen Verfassungen beider Länder garantierten Grundrechte, zu deren Schutz sich die Bundesrepublik und das Königreich Dänemark als Mitglieder der westlichen Völkergemeinschaft ,durch die Unterzeichnung der Europäischen Konvention für Menschenrechte auch völkerrechtlich verpflichtet haben.
Diese Erklärungen stellen nunmehr die Rechte der Minderheiten, die bisher durch die von der Landesregierung Schleswig-Holstein abgegebene sogenannte Kieler Erklärung vom 26. September 1949 und das sogenannte Kopenhagener Protokoll vom 27. Oktober 1949 geregelt waren, auf eine festere Grundlage.
Inzwischen sind von deutscher wie von dänischer Seite Maßnahmen zur Durchführung der von der deutschen und dänischen Delegation vorgeschlagenen und von den Regierungen gebilligten Regelung getroffen worden. So war der Landtag von Schleswig-Holstein am 23. Mai dieses Jahres einstimmig ein Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes angenommen, das der dänischen Minderheit analog den Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes eine Ausnahmeregelung von der 5 %-Klausel einräumt. Gleichzeitig hat der Landtag gemäß der von der Landesregierung der Bundesregierung gegebenen Zusage mit der Verabschiedung des Landeshaushalts 1955 einen erhöhten Zuschußbetrag für die Privatschulen der dänischen Minderheit bewilligt. Wie vorgesehen war, erhält damit jeder Schüler einer Privatschule der Minderheit einen Zuschuß in Höhe von 80 07e ,der Aufwendungen für einen Schüler der öffentlichen Volksschulen. Ferner hat das dänische Folketing in seiner Sitzung am 16. Mai 1955 die Gesetzesvorlage der Regierung über die Aufhebung dies bisherigen Verbots des Examensrechtes für Schulen der deutschen Minderheit endgültig verabschiedet. Damit sind jetzt die deutschsprachigen Schulen bezüglich des Examensrechtes den übrigen Schulen in Dänemark gleichgestellt.
Die Bundesregierung ist sich ebenso wie die Landesregierung von Schleswig-Holstein und die dänische Regierung bewußt, daß es wesentlich darauf ankommen wird, daß alle für die Minderheiten in Betracht kommenden Instanzen bei der praktischen Handhabung der nunmehr festgelegten Richtlinien von dem gleichen Geist erfüllt sind, von dem die deutsch-dänischen Verhandlungen ,getragen waren.
Die Bundesregierung ist sich auch darüber im klaren, daß das Ergebnis noch nicht die Lösung sämtlicher Minderheitenprobleme bedeutet. Sie ist aber davon überzeugt, daß die in wesentlichen Fragen der Minderheiten erzielte Übereinstimmung die Verhältnisse nördlich und südlich der deutschdänischen Grenze im Sinne des Ausgleichs und der Verständigung günstig beeinflussen wird.
Ich bitte das Hohe Haus, die Erklärung der Bundesregierung über die allgemeinen Rechte der dänischen Minderheit, Drucksache 1451, zu billigen.
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Das Haus hat die Erklärung des Herrn Staatssekretärs des Auswärtigen Amts entgegengenommen. Wird das Wort gewünscht? - Herr Abgeordneter Diekmann!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die allgemeinen Rechte der dänischen Minderheit ist am 29. März dieses Jahres durch den Herrn Bundeskanzler unterzeichnet worden. Eine ähnlich lautende Erklärung ist von dem dänischen Herrn Staatsminister Hansen unterzeichnet worden. Diese Erklärung ist an der Grenze mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Denn man glaubt hier, daß nunmehr, wie auch der Herr Staatssekretär soeben gesagt hat, ein neuer Abschnitt in der Grenzlandpolitik beginnen soll. Ganz besonders die Ausführungen der dänischen Presse waren erfüllt von der freundschaftlichen Atmosphäre, in der die beiden Vertragspartner diese Erklärung gemeinsam erarbeitet haben. Deutschland hat zum erstenmal nach dem Jahre 1945 eine ausgezeichnete Presse in Dänemark gehabt.
Wir können deshalb nicht verstehen, daß die Vorlage dieser Erklärung so verzögert worden ist. Die Erklärung ist schon am 29. März unterzeichnet worden und hätte nach unserer Auffassung schon längst hier im Hause verabschiedet werden müssen.
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Aus dem Munde des Herrn Staatssekretärs haben wir gehört, daß das dänische Folketing bereits am 19. April seine Stellungnahme bekanntgegeben hat. Wir sind der Meinung, daß damit den Politikern, die immer vom Grenzkampf leben müssen, nun wieder neue Argumente dafür gegeben sind, die demokratische Haltung Deutschlands in Zweifel zu ziehen.
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- Weil das in der Presse gestanden hat, Herr Dr. Bartram. Vielleicht haben Sie es nicht gelesen. Es ist aber immerhin notwendig, das zu erwähnen. Wir sind der Meinung, daß es taktisch nicht ganz richtig ist, uns diese Vorlage so verspätet auf den Tisch des Hauses zu legen.
Der Inhalt der Erklärung ist in drei Abschnitte geteilt. Im ersten Abschnitt sind die Rechte, die im Rahmen des Grundgesetzes der Minderheit sowie allen Staatsbürgern gewährt werden, aufgeführt; denn es ist selbstverständlich, daß man gegenüber der Minderheit keine Ausnahme machen darf. Der zweite Abschnitt enthält Ausführungen zu den Rechtsgrundsätzen. Wenn man die jetzt vorliegende Erklärung der Bundesregierung vergleicht mit der Kieler Erklärung, dann wird man hier und da feststellen, daß gleiche Formulierungen vorliegen. Damit will ich nicht gesagt haben, daß der eine von dem andern abgeschrieben hat, sondern ich wollte nur darauf verweisen, daß es gar nicht
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anders sein kann, als daß die Formulierung übereinstimmt, denn schließlich sind diese Formulierungen aus der gleichen Grundeinstellung erarbeitet worden. Beide Erklärungen stützen sich auf die Grundrechte und Freiheiten des Grundgesetzes. Der dritte Abschnitt fällt mehr oder weniger in die Kompetenz des Landes Schleswig-Holstein. Hier sind eine Reihe von Einzelproblemen aufgeführt worden, zu denen sich die Landesregierung Schleswig-Holstein erklärt hat.
Der Herr Staatssekretär hat schon die chronologische Entwicklung dieser Erklärung dargestellt, so daß ich darauf nicht weiter einzugehen brauche. Der Hauptbeweggrund ist das schleswig-holsteinische Wahlgesetz gewesen, das mit seiner Fünfprozentklausel verhinderte, daß die dänische Minderheit in dem Landtag Schleswig-Holsteins vertreten ist.
Nach meiner Auffassung sind noch einige andere Punkte bis heute nicht erledigt. Wenn auch die Einrichtung von Schulen und Kindergärten weiterhin genehmigt oder gestattet wird und auch der Schulgeldbeitrag wiederum auf 80 % erhöht worden ist, so gibt es, wie ich schon sagte, noch einen anderen außerordentlich wichtigen Punkt, der bisher noch nicht geklärt ist. Ich bin immerhin der Meinung, daß das Auswärtige Amt sich dieser Angelegenheit annehmen und sich mit der schleswigholsteinischen Regierung in Verbindung setzen sollte. Es geht dabei um das Provisorium, das bis zum Ablauf dieser Legislaturperiode vorgesehen werden sollte. Denn, wie gesagt, in dieser Legislaturperiode ist die Minderheit nicht im schleswigholsteinischen Landtag vertreten. Es sind, wenn ich nicht irre, darüber auch Absprachen geführt worden, daß man eine provisorische Lösung finden wolle. Nach den Mitteilungen, die gestern von DPA gegeben worden sind, sind, wenn ich nicht irre, gestern oder vorgestern mehrstündige Verhandlungen zwischen dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein und der dänischen Minderheit geführt worden, wie man dieses Provisorium gegebenenfalls überwinden könnte. Man ist trotz dieser dreistündigen Besprechung nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen. Von seiten der Landesregierung wurde auch diesmal darauf verwiesen, daß verfassungsrechtliche Schwierigkeiten bestünden und nicht ohne weiteres die Möglichkeit bestehe, eine provisorische Lösung für die dänische Minderheit zu finden. Weitere Besprechungen sollen nunmehr im August dieses Jahres geführt werden.
Ich bin der Meinung, daß man sich nicht auf den juristischen Standpunkt allein stellen soll, sondern daß letzten Endes doch das Parlament als die politische Instanz darüber zu entscheiden hat, wie etwa dieses Provisorium geregelt werden kann. Das Außenministerium sollte sich dieserhalb mit der schleswig-holsteinischen Regierung in Verbindung setzen.
Wenn also die Abschnitte I und II in ihren Grundforderungen mit der Kieler Erklärung übereinstimmen, dann muß ich doch die Frage stellen, warum eigentlich der Bund bemüht werden mußte, damit eine Klärung der Grenzlandfrage herbeigeführt werden konnte. Die Kieler Erklärung hätte nach unserer Auffassung durchaus ausgereicht, um der Minderheit gerecht zu werden; denn es kommt nur auf den guten Willen der Regierung bzw. des Landesparlaments an, wenn man nicht nur in
einem guten Verhältnis zur Minderheit bleiben, sondern ihr auch politische Gerechtigkeit zuteil werden lassen will. Warum man sich der Kieler Erklärung und des Weges über den sogenannten guten Willen nicht bedient hat, vermag ich nicht ohne weiteres zu übersehen. Vielleicht hat es nur daran gelegen, daß die Kieler Erklärung ein Aktivposten der sozialdemokratischen Politik gewesen ist.
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Es ist leider Gottes so, ob nun hier im Hause oder woanders, daß die guten Vorschläge, ganz egal, von welcher Seite des Hauses sie kommen, von der Gegenseite immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet werden. Uns ist es jedenfalls einerlei, woher die guten Vorschläge, die guten Gesetzentwürfe und brauchbaren Anregungen kommen; die Hauptsache ist, daß es dem Volke zum Nutzen gereicht.
Wenn nun auf Grund der jetzt vorliegenden Erklärung, die sicherlich vom ganzen Hause unterstützt und gebilligt wird, die Kieler Erklärung zur historischen Vergangenheit wird, dann mag es getrost geschehen. Wenn die jetzt vorliegende Erklärung dazu beiträgt, daß die Völker der beiden Länder Dänemark und Deutschland in ein gesundes, vernünftiges Verhältnis zueinander kommen, dann ist es uns, wie gesagt, einerlei, ob die Kieler Erklärung historische Vergangenheit wird oder nicht.
Es hat mich sehr gefreut, daß der Herr Bundespräsident anläßlich des Besuchs des Herrn Staatsministers Hansen einige sehr nette Worte gefunden und vor allen Dingen darauf aufmerksam gemacht hat, daß in früheren Zeiten ein gemeinsames geistiges Band zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark bestanden hat. Jahrhundertelang haben Schleswig-Holstein und Dänemark in einem gegenseitigen Austausch geistiger und wissenschaftlicher Erkenntnisse gestanden. Schleswig-Holstein und Dänemark haben sich in wirtschaftlicher Hinsicht ausgezeichnet ergänzt.
Ich will hoffen, daß die jetzige Erklärung, die von uns gemeinsam akzeptiert werden wird, ein weiterer Schritt ist in der gemeinsamen Zusammenarbeit Deutschlands und Dänemarks und daß diese Erklärung zur weiteren Befriedung Europas beitragen wird. Die sozialdemokratische Fraktion wird der Erklärung ihre Zustimmung geben.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jentzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Diekmann veranlassen mich, hierzu noch etwas zu sagen. Ich habe nicht ganz verstanden, warum Herr Kollege Diekmann eine derartige Kritik geübt hat. Herr Diekmann, Sie haben in erster Linie kritisiert, daß die Bundesregierung und der Bundestag die Erklärung erst zu einem so späten Zeitpunkt behandeln. Aus den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs war zu entnehmen, daß am 25. Mai dieses Jahres der Schleswig-Holsteinische Landtag schon zur Realisierung dieser Erklärung geschritten ist. Das dürfte ein sehr wesentlicher Sachverhalt gewesen sein, der Anlaß gegeben hat, erst jetzt, nachdem man etwas Positives und Praktisches vorweisen kann, über diese Dinge zu sprechen.
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Sie haben dann weiterhin kritisiert, daß das Provisorium nicht näher erläutert worden ist. Es ist uns aber doch bekannt, daß der Minderheitenbeirat und der Verständigungsausschuß bereits zu einem Teil vorhanden sind, zu einem anderen Teil noch ausgebaut werden sollen. Es scheint mir auch nicht ganz sinnvoll zu sein, bereits im gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem Besprechungen hierüber zwischen dem Ministerpräsidenten ides Landes Schleswig-Holstein und der Minderheitengruppe geführt werden, bereits Einzelheiten zu verlangen.
Nachdem wir feststellen können, daß eine fast wörtliche Übereinstimmung zwischen der Erklärung der Bundesregierung und der Erklärung der dänischen Regierung vorhanden ist, scheint mir das Anlaß zu sein, diese Tatsache mit besonderer Genugtuung zu begrüßen. Ich habe im Namen meiner politeschen Freunde von der Freien Demokratischen Partei zu erklären, daß es uns mit einer ganz besonderen Genugtuung erfüllt, daß unter Mithilfe der Bundesregierung eine grundsätzliche Regelung erreicht worden ist. Wir hoffen und wünschen, daß diese Regelung weiter ausgebaut wird und auf beiden Seiten volle Bestätigung findet und verwirklicht wird, damit mit ihr ein Beitrag zu einer allgemeinen Verständigung im europäischen Geiste geleistet wird.
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Das Wort hat der Abgeordnete Rasner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt die hier getroffene deutsch-dänische Regelung und gibt ihrer Befriedigung darüber Ausdruck, daß idem Antrag
der Koalitionsparteien, der CDU/CSU, FDP, DP und des GB/BHE, auf Umdruck 277 so weitgehend entsprochen wurde.
Die Frage der Interimslösung, Herr Kollege Diekmann, gehört nicht in dieses Hohe Haus, sondern ohne jeden Zweifel vor den Landtag in Kiel. Die Möglichkeit, für schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete einen Status zu schaffen, der dem der Berliner Abgeordneten gleicht, Herr Kollege Diekmann, wird man hoffentlich doch gar nicht erst überlegen, sondern von vornherein ablehnen. Der künftigen Entwicklung des deutsch-dänischen Verhältnisses sieht meine Fraktion vor dem neuen Hintergrund mit sehr großer Zuversicht entgegen.
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Wird noch das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall; ich schließe die Aussprache.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses, zunächst über Ziffer 1, die lautet:
Der Bundestag wolle beschließen,
die Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die allgemeinen Rechte der ,dänischen Minderheit - Drucksache 1451 - zu billigen.
Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über Ziffer 2 des Antrages, den Umdruck 277 für erledigt zu erklären. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Ebenfalls einstimmig beschlossen.
Meine Damen und Herren! Die Fraktionen haben sich verständigt, den Punkt 4 der Tagesordnung - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Beförderung von Personen zu Lande - abzusetzen. Er soll am nächsten Mittwoch behandelt werden.
Ich rufe auf Punkt 5 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, GB/BHE, DP eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({0}).
Auf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schlage Überweisung an den Ausschuß für den Lastenausgleich vor. - Es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 6 der Tagesordnung:
Erste Beratung ides von dien Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, GB/BHE, DP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ({1}).
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Es wird vorgeschlagen, die zweite und dritte Lesung anzuschließen. - Hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Wir stehen noch in der ersten Beratung. Das Wort hat der Herr Bundesminister 'der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von allen Fraktionen des Bundestages eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Anmeldefristen des Bundesentschädigungsgesetzes begegnet auf seiten der Bundesregierung keinen Bedenken. Es handelt sich hierbei lediglich um die Vorwegnahme einer Vorschrift, wie sie ohnehin für die Novelle zum Bundesentschädigungsgesetz schon mit Rücksicht auf die vielfach neu begründeten und neu gestalteten Entschädigungsansprüche beabsichtigt war.
Was die Novelle selbst anlangt, so bin ich dahin unterrichtet, daß der Arbeitskreis, der zu ihrer Vorbereitung im Sommer vorigen Jahres zusammengetreten und seit dem Herbst vorigen Jahres ununterbrochen tätig ist, seine Arbeiten trotz allen Bemühens nicht so rechtzeitig hat abschließen können, daß die Novelle, wie ursprünglich geplant, noch vor Beginn der Parlamentsferien hätte eingebracht werden können. Das hat seinen Grund in der außerordentlichen Fülle der Änderungsvorschläge, mit denen sich der Arbeitskreis zu beschäftigen hatte, und in den Schwierigkeiten, die in der Sache selbst begründet sind. Der Arbeitskreis wird seine Arbeiten aber, wie mir mitgeteilt worden ist, nunmehr bis zum 15. Juli dieses Jahres, d. h. also noch vor Beginn der Parlamentsferien, mit der Aufstellung eines vorläufigen Gesetzentwurfs abschließen. Die Parlamentsferien sollen alsdann dazu benutzt werden, erstens eine möglichst einheitliche Stellungnahme der Bundesregierung und der Länderregierungen zu dem Gesetzentwurf herbeizuführen, zweitens durch gemeinsam mit den Ländern vorzunehmende Schätzungen zu einer möglichst zuverlässigen Veranschlagung des Mehraufwands nach der Novelle gegenüber den Kosten nach dem Entschädigungsgesetz in seiner geltenden Fassung zu kommen, und drittens sich über die Verteilung
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der Kostenlast zwischen Bund und Ländern zu einigen und Klarheit über die Möglichkeit der Aufbringung der erforderlichen Mittel zu gewinnen. In diesem Zusammenhang kann ich mitteilen, daß in einer am 30. Juni 1955 mit den Herren Länderfinanzministern abgehaltenen Konferenz Übereinstimmung darüber bestanden hat, daß der durch die Novelle entstehende Mehraufwand, soweit er sachlich gerechtfertigt erscheint, auch finanziert werden muß. Ich bin überzeugt, daß all diese Aufgaben während der Parlamentsferien gelöst werden können, so daß der Entwurf der Novelle zum Bundesentschädigungsgesetz unmittelbar nach Wiederbeginn der Parlamentsarbeit eingebracht und alsdann auch mit einer raschen und glatten Verabschiedung des Änderungsgesetzes gerechnet werden kann.
Schließlich möchte ich das Hohe Haus noch davon in Kenntnis setzen, daß ich dem Bundeskabinett den Entwurf einer Zweiten Verordnung zum Aufruf von Entschädigungsansprüchen gemäß § 78 Abs. 4 des Bundesentschädigungsgesetzes vorgelegt habe. Nunmehr werden zur Befriedigung aufgerufen die Ansprüche auf Entschädigung für Schäden an Leben, Körper und Gesundheit sowie für Freiheitsentziehung, auch soweit sie Berechtigten zustehen, die nicht über 60 Jahre alt und nicht bedürftig und nicht durch Krankheit oder Gebrechen in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind. Ich habe das Bundeskanzleramt gebeten, die Zustimmung der Herren Bundesminister in kürzester Frist auf dem Umlaufweg herbeizuführen, so daß der Entwurf noch vor den Ferien dem Bundesrat zugehen kann, dessen Zustimmung zu der Verordnung nach Art. 80 Abs. 2 des Grundgesetzes erforderlich ist.
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Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Beratung der ersten Lesung.
Ich rufe auf zur
zweiten Beratung:
Art. 1, - Art. 2, - Art. 3, - Einleitung und Überschrift. - Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Das ist die Mehrheit. Es ist so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Wird das Wort in der allgemeinen Aussprache gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die allgemeine Aussprache. Einzelabstimmung entfällt. Ich rufe auf zur Schlußabstimmung: Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Stücklen.
Ich beantrage, als Punkt 1 der morgigen Tagesordnung den Antrag Drucksache Nr. 1536 - Entwurf eines Gesetzes über die Verlängerung der Amtszeit von Richtern und des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes - zu behandeln. Ich begründe diesen Antrag wie folgt:
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bedarf längerer Zeit zur eingehenden Beratung. Am 7. September läuft die Wahlzeit von 8 Richtern und des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ab. Die Vorschrift des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, daß die Richter in ihrem Amte bleiben, bis der neue Richter eintritt, ist nur für einzelne Fälle und für kurze Zeit berechnet. Jetzt handelt es sich um 8 Richter und um den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter verträgt es nicht, daß sie auf längere Zeit, wohl auf Monate hinaus, nur vorläufig im Amt bleiben. Die Funktion des Gerichts verlangt eine gesicherte gesetzliche Grundlage.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Greve.
Meine Damen und Herren, ich bin über den Antrag, den Herr Kollege Stücklen soeben gestellt hat, etwas verwundert; denn unter dem 5. Juli 1955 habe ich ein Schreiben des Ältesten der Wahlmänner gemäß § 6 Abs. 3 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, Herrn Kollegen Dr. Kleindinst, erhalten - und ich glaube, außer mir auch die übrigen Mitglieder des Wahlmännergremiums -, mit dem wir auf Mittwoch, den 13. Juli 1955, 17 Uhr, zur Wahl der Richter und des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts auf Grund des § 6 Abs. 3 und 9 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes geladen werden. Meinen Freunden und mir ist bisher nicht zur Kenntnis gebracht worden, daß auf die Wahl, die fällig ist, verzichtet werden soll.
Wenn dem Antrag des Herrn Kollegen Stücklen stattgegeben wird, die Beratung ides Gesetzentwurfs Drucksache 1536 morgen auf die Tagesordnung des Plenums des Bundestags zu setzen, dann soll das doch wohl eine Vorwegnahme der Entscheidung im Sinne der Absetzung der Wahl der Bundesrichter für die beiden Senate bedeuten; denn anders kann ich mir die Eile, mit der hier die morgige Tagesordnung ergänzt werden soll, nicht erklären.
Ich sehe von meinen Freunden und mir aus gar keine Schwierigkeiten, eine Wahl des Präsidenten und der übrigen ausscheidenden - eventuell wiederzuwählenden - Richter des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmen. Neulich ist in der Diskussion anläßlich der Haushaltsberatung des Bundesjustizministeriums von dem Herrn Bundesjustizminister darauf hingewiesen worden, daß es fast zwei Jahre gedauert habe, bis die Wahl eines Richters zustandegekommen ist. Meine Freunde und ich wollen uns einem ähnlichen Vorwurf nicht noch einmal aussetzen. Wir sind bereit, den Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und die übrigen Richter, die zu wählen sind, am 13. Juli 1955 zu wählen; entsprechende Vorschläge sind uns von dem Herrn Bundesjustizminister zugegangen. Meines Erachtens bestehen keine Schwierigkeiten, und deswegen besteht auch keine Veranlassung, die Wahl, die auf den 13. Juli 1955 angesetzt ist, abzusetzen.
Aus diesem Grunde erscheint es mir auch nicht notwendig, mit solcher Eile diesen Gesetzentwurf Drucksache Nr. 1536 morgen zu beraten. So etwas muß man doch etwas gründlicher vorbereiten, als es in diesen Tagen möglich ist. Aus diesem Grunde
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bitte ich, dem Antrag des Herrn Kollegen Stücklen nicht stattzugeben.
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- Auch nicht übermorgen. Das Ganze hat Zeit bis nach den Ferien. Die Richter, die am 13. Juli 1955 gewählt werden sollen, werden auf acht Jahre gewählt, und bis dahin werden wir noch Gelegenheit haben, den Entwurf Drucksache 1536 zu behandeln.
Meine Damen und Herren, es ist für Und gegen den Antrag gesprochen worden.
Ich darf abstimmen lassen über den Antrag des Abgeordneten Stücklen, die erste Beratung des Gesetzentwurfs Drucksache 1536 morgen als Punkt 1
auf die Tagesordnung zu setzen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das erste war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen.
Ich habe bekanntzugeben, daß der Ältestenrat nach einer interfraktionellen Vereinbarung morgen schon um 12 Uhr 30 zusammentritt und daß die Mittagspause des Plenums um 13 Uhr beginnt und um 15 Uhr 30 endet.
Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste, die 95. Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. Juli, 9 Uhr, und schließe die heutige Sitzung.