Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer Absprache im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs ({0}) und die zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rümmele, Dr. Bleiß, Rademacher, Srock und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über allgemeine Höchstgeschwindigkeitsgrenzen für Kraftfahrzeuge ({1}).
Ich frage, ob das Haus mit dieser Erweiterung der heutigen Tagesordnung einverstanden ist. - Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Wir nehmen die Beratung dieser Entwürfe dann als Punkt 3 a und b auf die heutige Tagesordnung. Im übrigen fahren wir in der Tagesordnung für gestern und heute fort, und zwar zunächst mit den Punkten 18 a und b, dann mit den zurückgestellten Punkten 14 a bis d. Dann folgen die soeben auf die Tagesordnung gesetzten Vorlagen.
Ich rufe zunächst die Punkte 18 a und b auf:
a) Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung und Angleichung des Rechts der Krankenversicherung im Land Berlin ({2}) und Krankenversicherungsangleichungsgesetz Berlin - SKAG Berlin) ({3});
c) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes über Änderungen und Ergänzungen von Vorschriften des Zweiten Buchs der Reichsversicherungsordnung ({4}) ({5}).
Ich frage, ob zur Einbringung des Entwurfs unter Punkt 18 a das Wort gewünscht wird. - Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt gewisse Grundfragen unseres staatlichen Lebens, bei deren Behandlung die politischen Gegensätze zwischen den Parteien weitgehend zurücktreten und zu denen der Deutsche Bundestag hier in voller Einmütigkeit Stellung nehmen sollte. Da ich heute über Berlin zu sprechen habe, darf ich daran erinnern, daß das Hohe Haus erst kürzlich die enge Verbundenheit mit Berlin bekräftigt und geschlossen seinen Willen bekundet hat, die Beziehungen zu Berlin so eng wie nur irgend möglich zu gestalten.
Diesem Ziel dient auch der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf, der heute von Ihnen in erster Lesung beraten werden soll. Er soll auf dem bedeutsamen Gebiet der Sozialversicherung, deren Probleme Sie, dieses Hohe Haus, im letzten Jahr so anhaltend beschäftigt haben und bis zum Ablauf der Legislaturperiode noch weiter beschäftigen werden, eine bereits 1952 eingeleitete Entwicklung abschließen, um die nach dem Kriege verlorengegangene Rechtseinheit in Berlin und im Bundesgebiet wiederherzustellen.
Nach dem Zusammenbruch haben sich die sozialpolitischen Verhältnisse in Berlin wesentlich anders entwickelt als bei uns in der Bundesrepublik. Die Besatzungsbehörde hat damals in Berlin alle Sozialversicherungsträger stillgelegt. Der Berliner Senat mußte am 14. Juli 1945 eine neue Ordnung für Berlin festlegen. Bei ihr hat man sich weitgehend von der seitherigen sozialpolitischen Entwicklung getrennt. Man hat dort nicht, wie das hier in der Bundesrepublik geschehen ist, wieder die Sozialversicherungsträger wirksam werden lassen, sondern man hat eine Einheitsversicherung gebildet und unter den damaligen Verhältnissen geglaubt, Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung in einem Versicherungsträger zusammenfassen zu sollen. Diese Entwicklung hat dann zu großen finanzpolitischen Schwierigkeiten des Einheitsversicherungsträgers geführt. Es ist ein besonderes Verdienst des verstorbenen Regierenden Bürgermeisters Professor Reuter, daß er bereits im Jahre 1952 versucht hat, alle diese Dinge in eine Ordnung zu bringen, die weitgehend eine Lastengemeinschaft der Versicherungsträger mit der Bundesrepublik ermöglichte: es war einmal die Herausnahme der Unfallversicherung aus dem Versicherungsträger und zum anderen die Herausnahme der Rentenversicherungsträger, so daß heute nur noch auf dem Gebiet der Krankenversicherung in Berlin ein besonderes Recht besteht. Durch das jetzt vorliegende Gesetz soll auf die Versicherungsträger, die sich neu gebildet haben, das Recht der Selbstverwaltung, so wie wir es in der Bundesrepublik kennen und üben, ebenfalls angewandt werden. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf vor, daß auch auf dem Gebiete der Krankenversicherung nicht mehr ein einheitlicher, einziger Versicherungsträger bestehen soll, sondern daß die Krankenversicherung ebenso gegliedert wird, wie es in der Bundesrepublik nach altem Vorbild üblich ist.
Zu den Einzelheiten des vorliegenden Gesetzentwurfs möchte ich folgendes sagen. Der Erste Abschnitt behandelt die Einführung der Selbstverwaltung. Vorgesehen ist, den Geltungsbereich des Selbstverwaltungsgesetzes mit geringfügigen Abweichungen auf Berlin zu erstrecken. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme dürfte außer Frage stehen. Die Abweichungen berücksichtigen die besonderen Verhältnisse in Berlin. Was die erste Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen in Berlin anlangt, bin ich der Ansicht, daß sich die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen dem Bundesrat und der Bundesregierung bestehen, weithin ausgleichen lassen, wenn der Termin des Inkrafttretens dieses Gesetzes feststeht.
Der zweite Abschnitt des Gesetzentwurfs behandelt ,die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Krankenversicherung. Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Buchs der Reichsversicherungsordnung sollen in Zukunft auch in Berlin wieder gelten. Der Entwurf trägt jedoch der bisherigen, in verschiedenen Beziehungen abweichenden Regelung des Leistungsrechts in Berlin Rechnung und vermeidet grundsätzlich, daß sich die Lage der Versicherten in Berlin irgendwie verschlechtert. Die höhere Versicherungspflichtgrenze, die in Berlin bei einem Jahresarbeitsverdienst von 9000 DM liegt, bleibt bestehen. Auch an den Vorschriften über die Versicherungsberechtigung und die freiwillige Weiterversicherung soll nichts geändert werden.
({0})
1 Die Wiedereinführung der gegliederten Krankenversicherung macht umfassende Organisationsänderungen erforderlich. Die Vorschriften darüber sind in dem Dritten Abschnitt des Gesetzentwurfs enthalten, der außerdem das Schicksal der Versicherungsträger regelt, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, und den zukünftig tätigen Versicherungsträgern die Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglicht. Die Krankenversicherungsanstalt Berlin wird Ortskrankenkasse mit der Bezeichnung „Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin". Die nach dem 8. Mai 1945 stillgelegten Betriebs- und Innungskrankenkassen können ihre Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufnehmen. Daß auch die Ersatzkassen in Berlin wieder tätig werden können, ist im Gesetz nicht ausdrücklich gesagt, folgt aber daraus, daß das Zweite Ruch der Reichsversicherungsordnung in Berlin wieder gelten soll. Betriebs- und Innungskrankenkassen, die ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen, werden aufgelöst. Auf die Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin gehen das Vermögen und ,die Verpflichtungen des Verbandes Berliner Ortskrankenkassen sowie aller Krankenkassen über, die nach den Vorschriften des Gesetzes aufgelöst werden. Eine Auseinandersetzung zwischen ihr und den Versicherungsträgern, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, findet nicht statt. Da davon ausgegangen werden kann, daß sich die Verbindlichkeiten und die Vermögen etwa entsprechen, erschien es nicht notwendig, eine Auseinandersetzung vorzusehen, die verwaltungstechnisch erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde.
Durch die Garantieklausel des § 16 wird die Leistungsfähigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin sichergestellt. Sollten sich in der Übergangszeit wider Erwarten gewisse finanzielle Schwierigkeiten ergeben, wird das Land Berlin Zuschußbeträge zur Verfügung stellen, die es der Ortskrankenkasse ermöglichen werden, den bisherigen Leistungsstand beizubehalten, ohne die Beitragssätze zu erhöhen. Ein Anlaß, die Garantie-. frist länger als bis zum 31. März 1958 zu erstrekken, wie es der Bundesrat vorgeschlagen hat, besteht nach der Auffassung der Bundesregierung nicht. Es kann erwartet werden, daß die Übergangsschwierigkeiten bis zu dem genannten Zeitpunkt überwunden sind.
Die Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie die Ersatzkassen, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, erhalten damit zugleich das Recht der Verfügung über ihre Berliner Vermögen zurück, die bisher treuhänderisch vom Bund und vom Land Berlin verwaltet worden sind. Voraussetzung dafür, daß eine nach dem 8. Mai 1945 stillgelegte Betriebs- oder Innungskrankenkasse ihre Tätigkeit in Berlin wieder aufnimmt, ist, daß dies die Mehrheit der für die stillgelegte Krankenkasse in Betracht kommenden abstimmungsberechtigten Arbeitgeber und ,die Mehrheit der in Betracht kommenden abstimmenden volljährigen Arbeitnehmer innerhalb bestimmter Frist bei der für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörde des Landes Berlin beantragt. Diese muß außerdem feststellen, daß die finanzielle Leistungsfähigkeit der Krankenkasse hinreichend gesichert ist. Diese Regelung dürfte den Belangen aller Beteiligten gerecht werden.
Die Tatsache, daß die Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie die Ersatzkassen ihre Tätigkeit in Berlin wieder laufnehmen können, bedingt auch eine Regelung, die die Belange der freiwillig
Weiterversicherten angemessen wahrt. Der Entwurf sieht vor, daß diese Weiterversicherten berechtigt sein sollen, der Krankenkasse, der sie früher angehört haben, innerhalb von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt wieder beizutreten, in dem die Krankenkasse ihre Tätigkeit wieder aufgenommen hat. Außer den Weiterversicherten können auch Rentner auf Antrag wieder Mitglied bei ihrer früheren Kasse werden. Entsprechend dem Änderungsvorschlag des Bundesrates soll für sie eine Antragsfrist von fünf Monaten eröffnet werden.
Eine besondere Schutzvorschrift sieht der Entwurf zugunsten der Arbeitnehmer der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin vor. Innungskrankenkassen mit Sitz im Land Berlin und Ersatzkassen, die Versicherte von der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin übernehmen, haben nach bestimmten Grundsätzen freiwerdende Arbeitnehmer der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin zu übernehmen. Wir wollen damit erreichen, daß sich bei der Neugestaltung nicht soziale Schwierigkeiten für die heute bei der Kasse in Berlin beschäftigten Menschen ergeben.
Abschließend möchte ich den Wunsch aussprechen, daß der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf trotz der arbeitsmäßigen Belastung und Überlastung des Deutschen Bundestags möglichst rasch verabschiedet wird. damit auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung die Rechtseinheit für Berlin und das Bundesgebiet wiederhergestellt wird, ehe wir zu der Wahl des neuen Bundestages kommen.
({1})
Sie haben die Begründung gehört. Ich eröffne die Beratung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grantze.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sehr eingehende Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung und Angleichung des Rechts der Krankenversicherung im Land Berlin ({0}), Drucksache 3127, durch den Herrn Minister läßt es überflüssig erscheinen, daß ich die einzelnen Paragraphen hier ausführlich behandle.
In Berlin besteht in den betroffenen Kreisen seit langem der Wunsch, daß auf dem angesprochenen Gebiet die Angleichung an die im Bund geltenden Gesetze vollzogen wird. Hierdurch wird nicht nur einer politischen Notwendigkeit - Bund und Berlin weiter enger zu verknüpfen - Rechnung getragen. sondern auch ein Zustand beseitigt, der auf dem Gebiet der Krankenversicherung viele Ungleichheiten und Unsicherheiten mit sich !gebracht hat. Es ist in diesem Zusammenhang aber darauf hinzuweisen, daß das bisherige Leistungsniveau der Krankenkasse trotzdem nicht verändert wird. Keinesfalls darf aber verschwiegen werden, daß bei einem derartigen Schritt die verbleibende Ortskrankenkasse, da ja Betriebs-, Ersatz- und Innungskrankenkassen wieder zugelassen werden, höchstwahrscheinlich mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird.
Die in dem vorliegenden Entwurf vorgesehenen Termine für die Wahl zu den Organen und für das Inkrafttreten sind nicht sehr glücklich gewählt. Den Termin der Wahl zu den Organen sollte
({1})
man mit dem der gleichen Wahlen im Bundesgebiet zusammenlegen und den Termin für das Inkrafttreten des Gesetzes mindestens ein halbes Jahr später ansetzen. Denn die Umstellung erfordert komplizierte Verhandlungen und wahrscheinlich sehr viel Zeitaufwand. Schon allein die Unterbringung und Übernahme von Personal, das bei der verbleibenden AOK überflüssig wird und bei den zugelassenen Ersatzkassen untergebracht werden soll, wird eine außerordentlich schwierige und zeitraubende Arbeit bedingen.
Wichtiger aber als die Erledigung dieser rein technischen Angelegenheiten mit ihren Schwierigkeiten ist mir die Veränderung des Schlußparagraphen im Dritten Abschnitt, des § 16. Im letzten Satz heißt es:
Bis zu diesem Zeitpunkt erstreckt sich die Aufsicht über die Allgemeine Ortskrankenkasse
Berlin auch auf Fragen der Zweckmäßigkeit.
Meine Damen und Herren, wenn schon Angleichungen an bestehende Gesetze über die Selbstverwaltung durchgeführt werden sollen, dann konsequent und nicht mit Einschränkungen belastet. Es ist den gewählten oder den zu wählenden Organmitgliedern, insbesondere den Vorstandsmitgliedern, die doch ,die Verantwortung für den ordnungsmäßigen Ablauf der Geschäfte der zukünftigen AOK tragen, schwer zuzumuten, die Arbeit von vornherein unter dem Diktatanspruch einer Behörde zu leisten.
Die von mir aufgeführten Punkte sollten einer sorgfältigen Beratung im Ausschuß unterzogen werden. Im Namen der Fraktion der CDU/CSU habe ich zu erklären, daß wir dem Gesetz im Prinzip zustimmen, und ich beantrage hiermit die Überweisung an den Sozialpolitischen Ausschuß.
({2})
Wird dazu weiter das Wort gewünscht? - Frau Abgeordnete Kalinke, bitte sehr.
Frau Kalinke ({0}): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Fraktion der Deutschen Partei begrüßt die Vorlage der Regierung und die Beendigung der Rechtsunsicherheit sowie die Herstellung der Rechtseinheit mit dem Lande Berlin. Wir glauben, daß all die Erklärungen, die in diesem Hause bei so vielen Gelegenheiten über die Rechtseinheit und die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik abgegeben wurden, nur Erklärungen blieben, wenn wir nicht in diesem Parlament noch in dieser Legislaturperiode dafür Sorge trügen, den Schlußstrich unter das Kapitel des Berliner besonderen Sozialversicherungsrechts zu ziehen. Deshalb hoffen wir, daß auch diejenigen, die das „Berliner Experiment", wie der Herr Arbeitsminister bei seiner Begründung sagte - ich bin nicht ganz einig mit ihm -, unter dem Zwang der Situation nach 1945 gemacht haben, heute die Notwendigkeit der Rechtseinheit einsehen werden.
Ich will jetzt nicht darauf eingehen, daß wir vor der gleichen Notwendigkeit, die für Berlin zugegeben wird, auch im Bundesgebiet gestanden haben, und zwar unter sehr viel schwierigeren Verhältnissen. Ich bin der Meinung, daß wir im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Rechtseinheit über das Vergangene heute nicht mehr sprechen sollten, uns aber um so eindeutiger gemeinsam dafür entscheiden sollten, daß in Zukunft das, was in der Bundesrepublik Rechtens ist, ohne Sonderregelungen auch für Berlin Rechtens sein muß. Wir begrüßen insbesondere, daß endlich mit dem unterschiedlichen Recht in der Selbstverwaltung aufgehört werden soll. Wer die Selbstverwaltung als die höchste Schule der Demokratie auch in der Sozialversicherung nach einheitlichen Begriffen verwirklicht sehen will, muß allen Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber die gleichen Rechte für die Benennung ihrer Vertreter in den Organen der Selbstverwaltung zubilligen. Darum glauben wir, daß die vielen Bedenken, die in der Vergangenheit laut geworden sind, für eine Stadt wie Berlin am allerwenigsten gelten. Denn wenn jemand vor undemokratischen Einflüssen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, sicher ist, dann sind es, scheint mir, unsere Berliner Arbeiter und Angestellten und ihre Arbeitgeber. Deshalb ist auch dieses so oft in die Diskussion geworfene Argument wirklich jeder Bedeutung entkleidet.
Schon 1951, also vor mehr als sechs Jahren, ist im Abgeordnetenhaus in Berlin immer wieder erklärt worden, daß diese Rechtseinheit auch das Ziel der Berliner Abgeordneten, ich möchte heute sagen: aller Parteien sei. Ich denke daran, daß der Beschluß immer noch nicht verwirklicht ist, den der Berliner Senat gefaßt und im Mai 1955 als Senatsbeschluß Nr. 525 veröffentlicht hat. Wir erwarten, daß der Senat heute die Verwirklichung dieses damaligen Beschlusses eindeutig unterstützt, den er, wohlgemerkt, bereits im Mai 1955 veröffentlicht hat: „Der Senat hält es für angebracht, die Angleichung an den Rechtszustand der Bundesrepublik vorzunehmen."
Ich will nicht verschweigen, daß damals wie schon in der Regierungserklärung des verstorbenen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Reuter, 1955 - ({1})
- Ich habe mich versprochen, ich meinte 1952. Vielen Dank für den Hinweis. Schon damals hat Herr Reuter darauf hingewiesen, daß es selbstverständlich kein verschiedenes Recht zwischen Berlin und der Bundesrepublik geben sollte. In der Regierungserklärung von 1955 wurde dieselbe Auffassung bestätigt und vertreten, allerdings mit der einschränkenden Bemerkung, „daß die gleichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse erreicht sein sollten." - Herr Professor Schellenberg lacht schon vor Vergnügen, weil er uns nachweisen will, daß diese Verhältnisse nicht erreicht sind, und ich freue mich auf die Diskussion mit ihm.
({2})
- Mit Trauer, ja. Aber ich werde Ihnen an dem Geschäftsbericht Ihrer KVA nachweisen, daß auch eine Berliner Ortskrankenkasse durchaus die Möglichkeit hat, mit ihren Problemen unter denselben Voraussetzungen fertig zu werden, unter denen große Ortskrankenkassen in der Bundesrepublik damit fertig werden müssen. Ich bin da nicht der Auffassung des Sprechers der CDU, daß die Schwierigkeiten zu groß seien.
Ich darf also hoffen, daß nach Überweisung der Vorlage an den Ausschuß mit Eifer dafür gesorgt wird, daß die Rechtseinheit endlich Wirklichkeit wird und die Angestellten und Arbeiter in Berlin das gleiche demokratische Recht wie in der Bun({3})
desrepublik erhalten, ihre Innungskassen, ihre Ersatzkassen und ihre Betriebskassen selbst zu wählen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Bemerkungen nötigen mich, einiges dazu zu sagen.
Über die Notwendigkeit, die Selbstverwaltung in Berlin gesetzlich zu regeln, sind wir uns alle einig. Die Schwierigkeiten und die Meinungsverschiedenheiten ergeben sich nur daraus, daß mit diesem Gesetzentwurf der Versuch gemacht wird, die Frage der Selbstverwaltung mit anderen Problemen zu verknüpfen. Die Regelung der Selbstverwaltung wird in diesem Gesetzentwurf nur als ein Aufhänger benutzt, um organisatorische Fragen zu regeln. Das ist des Pudels Kern.
Der Herr Kollege Grantze hat bereits darauf hingewiesen, daß der Gesetzentwurf insoweit inkonsequent sei, als durch § 16 die Selbstverwaltung in den entscheidenden Bereichen bis Ende 1958 eingeengt werden solle. Dieses Gesetz ist also kein Gesetz zur Einführung der Selbstverwaltung, sondern zur vorläufigen Einengung der Selbstverwaltung im Lande Berlin.
Noch ein Zweites. Die SPD ist der Auffassung, daß die Organisation der Krankenversicherung im Lande Berlin auf die Dauer nicht anders geregelt werden kann als im Bundesgebiet. Darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Wir bejahen den Grundsatz der Rechtseinheit. Es gibt aber in der sozialen Krankenversicherung auf weiten Gebieten im Bund immer noch keine Rechtseinheit, insbesondere - darauf werden wir nachher zu sprechen kommen - keine Rechtseinheit in der Gewährung von Leistungen. Nach unserer Auffassung muß die Reihenfolge eine andere sein. Wir müssen zuerst einmal das Wichtigste tun, nämlich eine Rechtseinheit auf dem Leistungsgebiet schaffen.
({0})
Dann erst kann auch die Rechtseinheit in organisatorischer Hinsicht erörtert werden.
({1})
- Bitte sehr!
Frau Kalinke ({2}): Herr Kollege Schellenberg, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß nach Ihrem Grundsatz die Rechtseinheit auch in der Beitragszahlung für Beamte und Angestellte in Ihrer Anstalt erst noch vorausgehen müßte?
In einem Teil ist Ihre Frage falsch gestellt; denn Beamte sind in Berlin nicht versicherungspflichtig. Wenn Sie aber die Frage der Rechtseinheit in bezug auf die Beitragszahlung für Arbeiter und Angestellte aufwerfen, dann muß ich Ihnen sagen, daß dieser Bundestag bisher die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und damit gleiches Recht für Arbeiter und Angestellte verweigert hat.
({0})
Das ist der entscheidende Gesichtspunkt. Erst dann, wenn im Krankheitsfall der Lohn des Arbeiters ebenso wie das Gehalt des Angestellten fortgezahlt wird, ist eine Rechtsgleichheit geschaffen. Treten
Sie mit uns dafür ein, daß der sozialdemokratische Gesetzentwurf, der weit über ein Jahr alt ist, endlich Gesetz wird! Dann haben wir die Rechtsgleichheit, und dann können wir über organisatorische Fragen sprechen.
({1})
Gestatten Sie eine Frage, Herr Abgeordneter?
Bitte sehr!
Frau Kalinke ({0}): Herr Schellenberg, Sie wissen als Geschäftsführer Ihrer Berliner Krankenkasse doch, daß Beiträge und Leistungen nicht nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen festgesetzt sind, sondern im Zusammenhang mit der Leistung? Den Angestellten, die sechs Wochen Gehalt bekommen, nehmen Sie zu hohe Beiträge ab.
({1})
Frau Abgeordnete, wo bleibt die Frage?
Frau Kalinke ({0}): Wissen Sie nicht, daß im Bundesgebiet nach dem Recht der AVO die Beiträge im Verhältnis zu den Leistungen festgesetzt werden müssen?
({1})
Einen Augenblick bitte, meine Damen und Herren! Es ist natürlich verlockend, in Form von Feststellungen an der Debatte teilzunehmen, um die Diskussion zu beleben. Aber wir haben dazu in diesem Haus keine rechtliche Möglichkeit. Wir sind auf die Frageform beschränkt. Ich muß deshalb alle Mitglieder des Hauses bitten, sich der Frageform zu bedienen.
({0})
- Gnädige Frau, verzeihen Sie, ich habe das Fragezeichen nicht gehört.
({1})
Fahren Sie bitte fort, Herr Abgeordneter!
Frau Kollegin Kalinke, bei dem gegenwärtigen Rechtszustand haben die Arbeiter im Bundesgebiet im Krankheitsfalle eine mindere soziale Sicherung ,als die Angestellten. Die Arbeiter erhalten niedrigere Leistungen, nämlich für die ersten sechs Wochen keinen Lohn, sondern nur Krankengeld. Bei der gegenwärtigen Regelung werden ,die Arbeiter dafür gewissermaßen noch zusätzlich bestraft, in dem sie höhere Beiträge als die Angestellten zu zahlen haben. Diese Ungerechtigkeit wollen wir beseitigen. Wenn sie beseitigt ist, sind wir gern bereit, auch organisatorische Fragen zu regeln.
({0})
Der Gesetzentwurf versucht, organisatorische Fragen zu präjudizieren, ohne daß die Leistungsfragen geregelt werden. Das ist nicht nur eine wichtige Angelegenheit für Berlin, sondern auch eine Angelegenheit der Beziehungen Saarland- Bundesrepublik in bezug auf die Gestaltung der Sozialversicherung. Deshalb müssen zuerst - oder
({1})
mindestens gleichzeitig - die Fragen der Leistungsgestaltung geregelt werden.
Sowohl der Herr Bundesarbeitsminister wie Frau Kollegin Kalinke haben dargelegt, daß sie diesen Gesetzentwurf für besonders eilig halten. Das ist sehr merkwürdig. Die Frage der Selbstverwaltung wird nach den Ausführungen von Herrn Kollegen Grantze erst zum Juni 1958 akut. Der neue Bundestag könnte also dieses Gesetz erst im Frühjahr des nächsten Jahres verabschieden. Sie haben aber offenbar ,die Befürchtung, daß es bei der Zusammensetzung des nächsten Bundestages keine Mehrheit ,für ein solches Gesetz geben wird.
({2})
Unser Hauptanliegen ist die Gestaltung der Leistungen. In dieser Hinsicht haben wir berechtigte Sorgen. Was soll denn diese organisatorische Neugestaltung ,bezwecken? Sie soll für einen Teil der bisherigen Versicherten, die Mitglieder von Sonderkassen werden, Vorteile bringen, bessere Leistungen und niedrigere Beiträge. Aber es ist doch kein Wort darüber gesagt, woraus diese Besserstellung finanziert werden soll. Das ist der entscheidende Punkt.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat vom sozialen Lastenausgleich gesprochen. Der Tatbestand ist, daß die Rentenversicherung des Landes Berlin im letzten Jahr rund 75 v. H. ihrer Aufwendungen im Wege des Gemeinlastverfahrens und durch Bundeszuschüsse erhalten hat.
({3})
Der Etat des Landes Berlin - wir wissen es alle - wird ungefähr zur Hälfte durch Bundeszuschüsse finanziert. Nun wollen Sie das Wunder vollbringen, den höheren Leistungsstand der Krankenversicherung in Berlin zu halten, ohne für einen finanziellen Ausgleich zu sorgen. Meine Damen und Herren, wer das erreichen will, gibt sich einer Illusion hin. Wir sind gern bereit, im Ausschuß mit Ihnen darüber zu sprechen und Ihnen das nachzuweisen.
Ein letztes Wort an den Herrn Bundesarbeitsminister. Der Herr Bundesarbeitsminister hat, als zum letzten Male über diese Frage diskutiert wurde, im Jahre 1952, laut Protokoll - ich darf zitieren - wörtlich erklärt:
Weil wir aber auf idem Gebiet der Krankenversicherung keinen Lastenausgleich zwischen den Versicherungsträgern der Bundesrepublik und Berlin haben, glaubten wir, die Entwicklung in Berlin vor allem in der heutigen Zeit den Berlinern selbst überlassen zu sollen.
So ist die Situation und nicht anders! - Der Herr Bundesarbeitsminister erklärte dann weiter:
Man sollte nicht in Berlin durch übereilte Maßnahmen die Überzeugung entstehen lassen, daß man von der Bundesrepublik aus den Berlinern etwas aufzwingen wollte, was sie selbst nicht wollen.
An diesem Tatbestand hat sich bisher nichts geändert. Denn weder das Abgeordnetenhaus noch der Senat des Landes Berlin haben eine Angleichung des Rechts der Krankenversicherung gewünscht. Im Gegenteil hat ,der Senat des Landes
Berlin - in dem auch die Hauptregierungspartei, die CDU, vertreten ist - erklärt, daß er keine zwingende sachliche Notwendigkeit sieht, die Wiederzulassung der Sonderkassen mit der Regelung der Selbstverwaltung im Lande Berlin zu verbinden.
({4})
Das sind die Tatbestände.
({5})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Professor Schellenberg war so liebenswürdig, auf eine Rede oder eine Erklärung von mir aus dem Jahre 1952 Bezug zu nehmen. Das, was er hier vorgetragen hat, ist in Wirklichkeit so gewesen: Wir haben damals mit den Vertretern des Berliner Senats, soweit sie bei mir im Ministerium waren, vereinbart, daß wir zuerst die Unfallversicherung und dann die Rentenversicherung aus dem einheitlichen Versicherungsträger herausnehmen, und haben es den Berlinern überlassen, auf dem Gebiete der Krankenversicherung von sich 'aus zu versuchen, eine Angleichung an das Recht, das wir in der Bundesrepublik haben, allmählich herbeizuführen. Seit der Zeit sind über drei Jahre vergangen, Herr Professor Schellenberg, und wir haben in Berlin keine Versuche gesehen, das Recht anzugleichen.
({0})
Wir waren jederzeit bereit, die Leistungsfähigkeit des Versicherungsträgers zu erhalten; denn das ist bei der ganzen Angelegenheit letzten Endes das Entscheidende.
Nun sagen Sie, es habe sich in der Zeitnichts geändert. Das Drängen der 'Berliner oder wenigstens weiter Kreise der Berliner Einwohnerschaft nach der Freiheit, sich einen Versicherungsträger aufzubauen oder sich einem anderen Versicherungsträger anzuschließen, kommt in einer derartigen Wucht ,auf uns zu, wie wir es kaum für möglich gehalten haben. Das darf ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: wir machen immer noch einen gewissen Unterschied 'zwischen einem politischen Gremium und ,der gesamten Bevölkerung.
({1})
- Herr Professor, ich glaube, daß das so ist. Es ist ja vorhin von Herrn Dr. Schellenberg gesagt worden, wir hätten vielleicht Angst, daß die Freiheit in einem kommenden Bundestag nicht mehr gegeben sei. Warten wir doch diese Wahlen ab,
({2})
und Sie werden ganz bestimmt erleben, daß viele Ihrer Hoffnungen auf eine Neuordnung nicht erfüllt werden.
({3})
- Wenn man sagen wollte, daß man alles, was einem späteren Parlament übertragen werden könnte, zurückstellen sollte, dann wäre doch überhaupt keine gesetzgeberische Tätigkeit mehr möglich.
({4})
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedauere es sehr, daß die Diskussion völlig von dem abgegangen ist, was im Gesetzentwurf enthalten ist.
({6})
Das Gesetz bringt eine organisatorische Neuordnung. Man kann sich darüber unterhalten, ob sie notwendig oder zweckmäßig ist. Daß man daran aber auf einmal das .Leistungsrecht der gesamten sozialen Krankenvensicherung aufhängt, ist für mich einfach unverständlich.
({7})
Sie alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, wissen, daß wir, wenn wir das Unfallversicherungsrecht neu geordnet haben, ob wir wollen oder nicht und ganz gleichgültig, wie die Wahlen ausfallen, zu der Neuordnung des Krankenversicherungsrechts und hier vor allem des Leistungsrechts kommen müssen. Warum konzentrieren wir uns denn nicht auf die Dinge, die heute zur Debatte stehen, sondern machen in dieser Debatte schon die Ausführungen, die vielleicht bei einer Neuordnung der Krankenversicherung notwendig sind?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ja!
Herr Bundesarbeitsminister, warum ist denn die Bundesregierung nicht der Empfehlung Ides Bundesrates gefolgt, die Vorlage dieses Gesetzentwurfs so lange zurückzustellen, biss die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten durch Bundesgesetz verwirklicht ist?
Dazu darf ich folgendes sagen. Meines Erachtens haben die Dinge nichts miteinander zu tun.
({0})
Das eine sind organisatorische Maßnahmen, die wir durchführen, und das andere sind leistungsrechtliche Bestimmungen, die wir in einem Gesetz festlegen.
({1})
Das sind zwei verschiedene Sachen. Nun ist der Bundesrat der Meinung, man könne dieses Gesetz zurückstellen. Gut. Der Bundesrat hat sich jetzt erstmals mit der Frage beschäftigt. Wir haben uns aber schon im Jahre 1952 damit beschäftigt, und da bin ich doch der Meinung, daß sich in dieser langen Zeit die Notwendigkeit gezeigt hat, diese organisatorischen Gleichstellungsmaßnahmen durchzuführen.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hammer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen diese Vorlage. Die Freie Demokratische Partei hat, seit die Abgeordneten des deutschen Volkes in Bonneingezogen sind, immer wieder darauf hingewiesen, daß die Anpassung des Sozialrechts in Berlin an das Recht der Bundesrepublik erfolgen müsse. Leider vergeblich, leider auch deshalb vergeblich, weil der Herr Arbeitsminister selbst niemals unseren Anregungen so weit gefolgt ist, wie wir das für richtig gehalten haben. Es wundert uns, daß diese Vorlage das Datum des 23. Januar 1957 trägt. Sie ist zu einem Zeitpunkt in unsere Hand geraten, zu dem man bei der Beurteilung der arbeitsmäßigen Möglichkeiten dieses Parlaments doch 'wohl hinter die Frage, ob die Vorlage noch verabschiedet werden kann, ein sehr großes Fragezeichen setzen muß.
Vorhin ist auch von Herrn Professor Schellenberg ein Ausspruch der Parteifreunde 'unseres verehrten Herrn Ministers Storch aus Berlin zitiert worden, etwa des Inhalts, daß die sachliche Notwendigkeit einer solchen Reform nicht einzusehen sei. Nun, meine Damen und Herren, wir sind dafür, daß 'die Vorlage dem Ausschuß 'überwiesen wird. Wir werden uns die größte Mühe geben, noch bei der Verabschiedung beteiligt zu sein. Aber wir bedauern, daß die Vorlage so spät eingebracht wurde.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter! - Gestatten Sie eine Frage?
({0})
- Keine Frage, aus!
({1})
Das Wort 'hat Frau Abgeordnete Kalinke.
Frau Kalinke ({2}): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Unser verehrter Herr Kollege Schellenberg ist in einer etwas schwierigen Situation. Ich kann das verstehen. Für ihn als Geschäftsführer der Krankenversicherungsanstalt Berlin und nicht zuletzt als den Schöpfer und Initiator der VA Berlin ist es eine wirklich schwierige Sache, und deshalb anerkenne ich hier ganz besonders seine Erklärung zur Wiederherstellung der Rechtseinheit. Der Umstand, daß das von ihm gesagt worden ist, gilt doppelt soviel, als wenn es von irgendeinem anderen Kollegen aus der SPD-Fraktion gesagt worden wäre. Ich weiß, er ist mit uns darin einig, daß es in der Rentenversicherung und in der Unfallversicherung niemals ein Risiko geben kann, das sich nur auf eine Stadt beschränkt. Ich bin allerdings der Auffassung, Herr Kollege Schellenberg, daß innerhalb des Personenkreises einer Krankenversicherungsanstalt, einer Ortskrankenkasse, einer Ersatz- oder Betriebskrankenkasse die Krankenkasse die Beiträge und Leistungen in einer vernünftigen Relation festzusetzen hat und daß man sich idavor hüten muß, eine Beitrags- und Leistungsgestaltung etwa unter politischen Gesichtspunkten verewigen zu wollen.
Herr Schellenberg, ich habe mich deshalb noch einmal gemeldet, weil man aus Ihrer Rede den Eindruck gewinnen konnte, als ginge es Ihnen nur um die höchsten Leistungen für die Arbeitnehmer und um die Aufrechterhaltung höherer Leistungen und als ginge es uns nur um organisatorische Dinge und 'als wäre die Regierungskoalition in dieser Frage etwa der Meinung, man müsse etwas von den Leistungen nehmen, um organisatorisch etwas zu erreichen.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Kalinke ({3}): Bitte.
Frau Kollegin Kalinke, ist Ihnen bekannt, daß die Allgemeine Ortskran({0})
kenkasse Hamburg mit Wirkung vom 1. März die Beiträge auf 8 % erhöhen, mußte, und sind Sie nicht auch der Auffassung, daß eine Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin ihren Beitrag mindestens so hoch gestalten müßte wie Hamburg?
({1})
Frau Kalinke ({2}): Ich bin der Auffassung, Herr Kollege Schellenberg, daß eine Verwirklichung der Anträge, die Sie heute vorgelegt haben, eine Verdoppelung der Beiträge für Berlin zur Folge hätte.
({3})
- Weil ich rechnen kann, weiß ich das. Ich bin außerdem der Meinung, Herr Kollege Schellenberg - ({4})
- Ich glaube, daß Herr Kollege Schellenberg sehr genau Bescheid weiß. Er weiß auch, daß, wenn sein Propagandaantrag verwirklicht würde und wenn der Bund Zuschüsse zu einer Krankenkasse zahlte, es mit der Selbstverwaltung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Ende wäre, daß dann die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber in der Selbstverwaltung keine Rechte mehr hätten, sondern sie mit dem Bund und den Steuerzahlern teilen müßten. Ich glaube, im Interesse unserer Krankenversicherung und unserer Selbstverwaltung sollten wir es uns sehr genau überlegen, ob wir den Steuerzahler in der Krankenversicherung beteiligen wollen. Ich glaube auch nicht, daß das notwendig ist.
Auf meine Frage an Sie, Herr Schellenberg - vielleicht habe ich nicht deutlich genug mit Fragezeichen gesprochen; ich werde es daher noch sehr viel deutlicher formulieren -, haben Sie hier in der Diskussion nicht geantwortet. Sie sind ausgewichen - wie es ja der Bundesrat auf die Anregungen und Vorstellungen Berlins hin getan hat - in das Problem der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Meine Herren und Damen, das Problem der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein .arbeitsrechtliches. Die Neugestaltung des Krankenversicherungsrechts und des Leistungsrechts in der Krankenversicherung im allgemeinen sowie der Höhe des Krankengeldes im besonderen ist ein Problem, das man nicht losgelöst von der Beitragsgestaltung sehen kann. Wir müssen doch so ehrlich sein und sagen - und wir werden nachher noch darüber sprechen -, daß die Erfüllung sozialer Versprechungen bezahlt werden muß und daß es gerade jene bezahlen müssen, die wir doch schützen wollen. Man darf hier nicht nur eine Seite darstellen, Herr Kollege. Ich glaube, das ist Ihrer auch nicht würdig. Denn Sie wissen doch auf Grund Ihrer Sorgen in den letzten zehn Jahren, wie schwer gerade in Berlin die Verwirklichung und Beibehaltung der Leistungsgestaltung war.
Lassen Sie es mich nun ganz deutlich sagen, damit hier und in der Öffentlichkeit keinerlei Mißverständnisse aufkommen: Das Problem der Lohnfortzahlung stand weder in diesem Hause noch in der Öffentlichkeit zur Diskussion, als die Krankenversicherungsanstalt Berlin Beiträge und Leistungen festsetzte. Aber damals hatten wir eine Einheitsversicherung, in der alle - auch Beamte und Selbständige - versicherungspflichtig waren und in der Sie den Angestellten in Berlin - und das ist diskriminierend, nicht der Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten; diskriminierend ist, daß Sie Angestellte zweierlei Rechts geschaffen haben - höhere Beiträge abnahmen, obwohl Sie ihnen kein Krankengeld zu zahlen brauchten. In der Bundesrepublik gilt dagegen das Recht der RVO, nach idem derjenige, der das Krankengeld nicht in Anspruch nimmt, entsprechend geringere Beiträge zu entrichten hat. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der echten Relation zwischen Beiträgen und Leistungen. Selbst wenn das Gesetz es nicht vorschreibt, sollte eine Krankenkasse für eine solche Relation zwischen Beiträgen und Leistungen sorgen. In Berlin haben Sie eben keine gewählte Selbstverwaltung, sondern erstaunlicherweise auf dieser Inseldemokratischer Tugenden ausgerechnet auf dem Sozialversicherungsgebiet eine berufene Selbstverwaltung, eine vorgeschlagene Selbstverwaltung. Dabei müssen wir uns
- da gebe ich Ihnen recht - hinsichtlich der Einengung der Selbstverwaltung im Ausschuß auch noch über etwas anderes unterhalten, nämlich darüber, was Sie denn unter „Gewerkschaften" und unter „Unabhängigkeit" verstehen. Das wird uns für Berlin sehr interessieren. Wir möchten nicht, daß eine Monopolgewerkschaft das Vorschlagsrecht hat, sondern wir möchten, daß alle Gewerkschaften
- insbesondere die der Angestellten - das Recht haben, in Berlin sowie im Bundesgebiet ihre Vertreter vorzuschlagen.
Wir möchten auch nicht, daß immer mit dem FDGB als Buhmann im Hintergrund gedroht wird; denn wir wissen, die Berliner sind vor solchen Einflüssen vollkommen sicher, viel sicherer als mancher hier in der Bundesrepublik.
Wir möchten in der Frage der Wiederherstellung der Rechtseinheit auch nicht d'en Eindruck erwekken, als seien die 'unterschiedlichen 'kleineren Abweichungen, die es in der Krankenversicherung in den verschiedenen Zonenrechten noch gibt, etwa mit dem Berliner Problem der wesentlichen Abweichungen im Recht der Krankenversicherung vergleichbar!
Nun hat Herr Schellenberg sehr ehrlich gesagt, das Wichtigste in diesem Gesetz sei für ihn nicht das Organisatorische, sondern die Leistungsgestaltung von morgen, obwohl er meint, daß das Organisatorische besonders gefährlich sei! Nein, wir meinen, daß die Angestellten und Arbeiter in Berlin nicht unter ein Ausnahmerecht fallen dürfen.
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Sie müssen in Berlin genau wie im Bundesgebiet das Recht haben, sich freiwillig für ihre Ersatzkasse, für ihre Betriebskrankenkasse, für ihre Innungskrankenkasse zu entscheiden.
({6})
Das hat nichts mit organisatorischen Experimenten zu tun, sondern mit den gleichen Rechten für alle Staatsbürger.
Wenn die Ortskrankenkasse Berlin dann auch infolge dieser Aufgliederung einige Mitglieder verliert, wird sie damit übersichtlicher werden. Sie wird die Möglichkeit haben, ihren Risikoausgleich so zu gestalten, daß ihre Selbstverwaltung - und ich hoffe, sehr bald eine gewählte und wirklich selbstverantwortliche Selbstverwaltung - in der Lage sein wird, sich über Beitrags- und Leistungsgestaltung 'in Berlin zu unterhalten.
Und ein letzes Argument; der Herr Minister hat schon mit Recht darauf hingewiesen: Herr Schellenberg, Sie wissen doch besser als viele in diesem
({7})
Hause, daß man die Probleme der Rentenversicherung nicht mit denen der Krankenversicherung vergleichen und verquicken darf. Wenn die Rentenversicherung in Berlin der Zuschüsse bedarf und wenn die besondere Situation Berlins als Stadt der Dienstleistungsträger, in der soviele Angestellte, die früher bei Verwaltungen waren, früh berufsunfähig und früh Rentner geworden sind, eine besondere Belastung der Rentenversicherung mit sich gebracht hat, ist dazu zu sagen, daß wir ja hier in vielen Kämpfen - leider mußten wir damals mit Ihnen kämpfen - dafür Sorge getragen haben, daß dieses Risiko der Rentenversicherung wie das der Unfallversicherung auf die Schultern der größeren Gemeinschaft und damit in die Solidarhaftung aller Rentenversicherungsträger gelegt worden ist.
Über das Experiment Krankenversicherung der Rentner und Leistungsgestaltung der KVA Berlin will ich jetzt nicht sprechen. Ich möchte nur warnen: Sollten Sie mich dazu herausfordern, so will ich auch dazu einiges sehr deutlich sagen.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Minister hat auf einen Vorwurf geantwortet, daß er sich bereits seit 1952 mit diesen Fragen beschäftige. Herr Minister, Sie wissen, daß ich nicht Angestellter der KVAB bin, daß ich aber seit 1945, seit dem Zusammenbruch, einer der Männer in Berlin bin, die sich mit diesen
Fragen von der allgemeinpolitischen Seite her - und dies insbesondere als einer der damaligen Bezirksbürgermeister von der kommunalpolitischen Seite her - beschäftigt haben.
Gerade weil ich keiner der Angestellten bin, Frau Kalinke - das werfen Sie ja immer Herrn Schellenberg so freundlich vor -, darf ich eine Feststellung treffen. Damals, 1945, zu einer Zeit, als die Leiter aller Organisationen aus diesem Berlin geflüchtet waren, als nur eine Besatzungsmacht dieses Berlin beherrschte, wäre es sehr schön gewesen, wenn die wenigen, die damals den Mut hatten, in diesem Chaos wieder mit der Neuorganisation zu beginnen, etwas mehr Hilfe von denen bekommen hätten, die zehn Jahre später gute Ratschläge geben.
({0})
- Das ist leider überall das gleiche, Herr Kollege. Damals waren es wenige. Fünf, sechs oder sieben Jahre später wurden sie kritisiert.
Ich will Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Was 1945 in der Stadt, die nach der Einnähme durch die Russen 14 Tage lang an allen Ecken und Enden brannte, auf sozialpolitischem Gebiet geleistet wurde, kann sich für alle Zukunft sehen lassen. Die Männer und Frauen, die damals den Mut hatten, überhaupt etwas an Leistungen zu organisieren, konnten nicht mit Innungskrankenkassen, mit Ortskrankenkassen und mit Betriebskrankenkassen anfangen. Sie mußten die wenigen Arbeitenden darum bitten und ersuchen, der großen Not durch eine sozialpolitische Organisation zu steuern; denn von draußen gab es nichts. Wir waren damals schon isoliert. Das wollte ich nur ganz allgemein feststellen.
Wir haben den Mut, zu dem zu stehen, was wir damals begonnen haben. Ich glaube, ohne diese Leistung hätte dieses Berlin im sozialpolitischen Raum nicht das schaffen können, was während der Jahre der Not erreicht worden ist.
({1})
Deswegen sage ich Herrn Schellenberg und allen denen, die den Mut hatten, gegen die Not anzukämpfen, unseren besonderen Dank.
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Fünf Jahre später hatten wir die Bundesrepublik. Wir hatten dann dankenswerterweise die Hilfe aus dem Westen. Ich möchte auch hier als Sozialdemokrat feststellen, daß letzten Endes wir es waren, Frau Kalinke, die in stärkstem Maße dafür eingetreten sind, daß die freien Teile Deutschlands zusammengefaßt werden. Wir haben selbstverständlich unsere Bereitschaft erklärt, in den freien Teilen Deutschlands nach Möglichkeit auf allen Gebieten nach dem gleichen Rechtszustand zu streben. Aber es steht doch fest, daß damals in Berlin alle Parteien - alle Parteien! - der Auffassung waren, daß auf Grund der besonderen Verhältnisse auch besondere organisatorische Einrichtungen so lange belassen werden müßten, bis etwas anderes an ihre Stelle gesetzt werden könnte. Verehrte Frau Kalinke, es ist Ihnen eine Verwechslung nicht nur in bezug auf das Jahr, sondern auch in bezug auf die Regierung unterlaufen. Am 3. Februar 1955 hat die neu gewählte Regierung noch einmal ein Bekenntnis zur Anpassung unter der Voraussetzung der Anpassung der wirtschaftlichen Verhältnisse abgelegt. Das können Sie ununterbrochen in allen Regierungserklärungen finden.
Nun sind leider die Verhältnisse noch nicht so, wie wir alle es wahrscheinlich wünschten. Aus diesen und anderen Motiven hat dann auch der Bundesrat eine Empfehlung zu diesem Entwurf gegeben. Der Herr Kollege Schellenberg hat durch eine Zwischenfrage schon darauf aufmerksam gemacht. Auf Seite 11 der uns vorliegenden Drucksache heißt es:
Der Bundesrat empfiehlt der Bundesregierung, den Gesetzentwurf beim Bundestag erst einzubringen, wenn das Gesetz über die Gleichstellung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfall ... ({3}) verabschiedet ist.
Die Dümmsten werden wahrscheinlich von den Ländern auch nicht in den Bundesrat geschickt worden sein. Deshalb sollte man dieser Empfehlung doch Beachtung schenken, Herr Bundesminister Storch, mehr Beachtung, als Sie es durch Ihre Ausführungen hier zu erkennen gegeben haben.
({4})
Ich möchte an den Herrn Bundesarbeitsminister noch eine Frage richten. Er sprach von der Wucht der Forderungen der Berliner Bevölkerung auf Änderung des jetzigen Systems. Es wäre sehr interessant, wenn er mir einmal etwas Näheres über diese „Wucht der Forderungen" mitteilen könnte.
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Ich darf Ihnen das eine sagen: ich bin froh darüber, daß die Belegschaftsmitglieder der größten
({6})
Betriebe erklärt haben, daß sie sich mit der Masse der Berliner Bevölkerung solidarisch fühlen und aus diesen Gründen Betriebskrankenkassen in Berlin ablehnen. Ich bin stolz darauf, daß beispielsweise die Vertreter des großen Betriebes BEWAG erst jetzt wieder eine Entschließung in diesem Sinne gefaßt haben. Sicher, wer an den Egoismus einzelner appelliert,
({7})
der muß, Herr Stingl, für Privatkassen, für Innungskrankenkassen und für Ortskrankenkassen eintreten. Wer aber die Not aller Berliner beseitigen oder lindern will, der muß wie bisher dafür eintreten, daß alle Kräfte in einer Institution zusammengefaßt werden und diese Zusammenfassung nicht nur erhalten, sondern verbessert wird. Das möchte ich nur ganz allgemein sagen, ohne hier auf Einzelheiten einzugehen.
Hätte ich davon gewußt, Herr Arbeitsminister - ich war wegen Krankheit einige Tage nicht hier -, hätte ich mich etwas vorbereitet. Ich hätte dann das mitgebracht - ich habe es schon im November 1950 bei der großen sozialpolitischen Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus vorgetragen -, was der Gewerkschaftler Anton Storch beispielsweise 1946 in Hannover als Gewerkschaftsführer geschrieben hat. Es sind sehr beachtliche Ausführungen, die mit unseren Berliner Ansichten hundertprozentig übereinstimmen und die in ihrer Energie sehr bemerkenswert sind. Aber wir können es in der zweiten Lesung machen, falls Sie das vergessen haben sollten.
Wir haben von den Rednern gehört, insbesondere vom Herrn Kollegen Grantze, daß die Umstellung komplizierte Verhandlungen und viel Zeitaufwand verlangt. Das ist richtig. Die Rechtsangleichung an die Verhältnisse des Bundes bringt die Vertiefung der politischen Spaltung in Berlin. Sie wissen - ich greife einmal eine x-beliebige Straße heraus -: wenn auf der einen Seite der Bernauer Straße d a s Recht gilt und auf der anderen Seite das andere, führt das gerade in unserer Stadt Berlin zu besonderen Komplikationen. Herr Kollege Grantze, wir sind mit Ihnen der Auffassung, daß wir das sehr eingehend behandeln sollten, daß wir uns auch die politischen Auswirkungen sehr genau überdenken sollten. Darum schlage ich im Auftrag der sozialdemokratischen Fraktion vor, daß der Gesetzentwurf Drucksache 3127 auch dem Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zur Beratung überwiesen wird.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Ausführungen von Herrn Abgeordneten Neumann fühle ich mich doch verpflichtet, noch einiges zu sagen. Sie werden aus meinem Munde noch nie eine Kritik an der Arbeit der Menschen gehört haben, die im Jahre 1945 in Berlin die sozialpolitische Arbeit übernommen haben.
({0})
- Sie haben es mir zum Vorwurf gemacht!
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Ich spreche es hier in aller Offenheit aus: Wer sich (I im Jahre 1945, gleichgültig ob in Berlin oder in einem Land, das heute zur Bundesrepublik gehört, der Mühe unterzogen hat, die sozialpolitische Situation zu ergründen und daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, stand eben vor einem großen Nichts, und keiner konnte sagen, was morgen und was übermorgen ist; deshalb kein Vorwurf von mir gegen irgend jemand, gleichgültig zu welcher Richtung er gehört, in irgendeinem Gebiete Deutschlands.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben doch in den zurückliegenden Jahren - Gott sei Dank, sage . ich - auch eine Grundlage für die sozialpolitische Sicherheit 'der Menschen in unserem Wirtschaftsleben erarbeiten können, so daß wir uns die Frage erlauben konnten, wie die Gestaltung sein soll. Wir sind doch in 'der Entwicklung immer einen Schritt nach dem anderen ,gegangen. Heute kommt es nur darauf an, ob man das, was in der Bundesrepublik heute geltendes Recht ist, auch in Berlin wirksam werden lassen will, auf sonst gar nichts.
Herr Neumann, Sie haben mir gesagt, Sie hätten meine Reden aus meiner Zeit in Hannover durchstudiert. Die können Sie heute noch jeden Tag bekommen. Die grundlegenden Ausführungen, die ich über sozialpolitische Fragen gemacht habe, und zwar als Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der britischen Zone, finden Sie im Protokoll der Kongresse in Bielefeld der Jahre 1946 und 1947.
({2})
- Ja, bitte lesen Sie sie durch!
({3})
Ich habe sie mir in der letzten Zeit eigens noch einmal durchgelesen und habe mich gefragt: Mußt du etwas revidieren? Wenn ich etwas zu revidieren gehabt hätte, Herr Abgeordneter Neumann, glauben Sie mir, dann hätte ich es getan, aus dem einfachen Grunde, weil ich genauso wie die Leute, die in Berlin und anderwärts die Dinge beeinflußt haben, damals vor ganz anderen Situationen gestanden habe. Wenn man sich da revidiert, braucht man sich 'absolut keinen Vorwurf zu machen, daß man etwa seinen Ideen untreu geworden sei.
({4})
Darüber sind wir uns doch hoffentlich einig.
Ich habe nachher im Jahre 1949 auf Bitten des damaligen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Herrn Böckler, noch einmal vor den Gewerkschaftsvertretern in Köln einen Vortrag gehalten über das, was ich mir sozialpolitisch vorstelle - ob man das immer durchsetzen kann, ist eine ganz andere Frage -, über die Gedankengänge, die mich damals zu den Anfangsgesetzen bewogen haben. Obwohl ich es mir genauestens angesehen habe, brauche ich mich im Grundsätzlichen nirgends zu revidieren. Das will ich einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({5})
An und für sich ist es nicht gut, daß wir uns heute über diese Dinge unterhalten, weil, wie ich vorhin schon gesagt habe, andere Zeiten manchmal andere Maßnahmen erfordern. Ich weiß, daß ich im Jahre 1945, als Lord Beveridge das erstemal bei mir war und seinen Sozialplan erörterte, davon sehr angetan war; warum soll ich das bestreiten? Ich habe allerdings nachher in den Gesprächen mit meinen Kollegen gesagt: In der Zeit der bittersten
({6})
Not und des tiefsten sozialen Standes wäre das vielleicht ,die einzig richtige Lösung; haben wir aber die Hoffnung, daß wir 'wirtschaftlich wieder besseren Baden unter die Füße bekommen, dann ist es unzulänglich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen Sie sich doch die Entwicklung zur Zeit an! Dann werden Sie sehen, daß wir mit diesen unseren Auffassungen noch nicht einmal ganz schräg gelegen haben. Aber ich möchte Sie bitten, bei dieser Diskussion nicht noch einmal bei dem Jahre 1945 anzufangen. Wir wollen uns darüber unterhalten, ob es unter den heutigen Umständen zweckmäßig und richtig ist, ,daß wir das einheitliche Recht für die Sozialversicherung überall dort gelten lassen, wo auch sonst deutsche Gesetze gelten.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stingl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen sowohl von Herrn Neumann wie auch von Herrn Schellenberg veranlassen mich, obwohl das Hohe Haus sicherlich schon wielder etwas stark mit sozialpolitischen Fragen strapaziert wird, doch noch ein paar Bemerkungen zu machen. Herr Kollege Neumann, ich bin durchaus mit Ihnen einig, wenn Sie bei der Schilderung der Zustände, die 1945 in Berlin herrschten, darauf hinweisen, daß diese besondere Not besondere Maßnahmen erfordert hat. Ich bin sehr dankbar, daß Sie dann bei 1950 erwähnten, daß die Zusammenarbeit ,aller Parteien maßgebend war. Gestatten Sie mir, ganz bescheiden die Anmerkung zu machen, daß auch schon 1945 Leute der Christlich-Demokratischen Union mit der SPD zusammengearbeitet haben. Ich bitte Sie dringend, das nicht geflissentlich zu übersehen und im Zuge der Ausführungen zu vergessen. Aber ich nehme an, daß das nur ein Versehen war. Sie sprachen nämlich hinsichtlich der Zeit von 1945 nur von „wir".
({0})
- Gut! Wenn Sie uns dabei einschließen, Herr Kollege Neumann, dann ist ,das selbstverständlich in Ordnung.
({1})
Herr Kollege Schellenberg, ich habe mich sehr gefreut, Sie hier von der Tribüne des Parlaments sagen zu hören, in welch hohem Maße die Bundesrepublik dazu beiträgt, daß wir in Berlin die Renten zahlen können, wie wir sie jetzt beschlossen haben. Herr Kollege, darf ich Sie freundlichst auffordern, dies auch in den Berliner Rentnerversammlungen entsprechend zum Ausdruck zu bringen
({2})
und zu sagen: hier haben wir eine echte Leistung der Bundesrepublik Deutschland - und die Berliner Rentner wissen ja auch, daß die Beschlüsse im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland schließlich und endlich von der Mehrheit der CDU abhängen.
({3})
Wenn Sie also freundlichst sagen wollen, daß die Mehrheit der CDU diese Leistungen beschlossen hat, bin ich Ihnen in Zukunft sehr dankbar.
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- Ich spreche von den Leistungen, ,die jetzt neu nach Berlin fließen, Herr Kollege Neumann. - Ich bin gern bereit, mich mit dem Herrn Kollegen Schellenberg - wir haben es schon einmal vor 8000 gemacht - auseinanderzusetzen, um klarzustellen, daß diese Leistungen aus der Bundesrepublik - hier sind wir uns alle einig - maßgebend sind in ihrer Bedeutung für ,die Aufrechterhaltung des Lebensstandards unserer Rentner.
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- Mit der kleinen Einschränkung der 60jährigen Frauen. Aber, Herr Kollege Schellenberg, da sind wir ja auf dem Gebiet: Wir können als Berliner doch nicht immer sagen, wir wollen nur die Zuckerbonbons haben, und die Pillen, die dazugehören, wollen wir nicht schlucken! So geht es nicht. Man kann doch nicht sagen: Berlin muß immer nur das Gute haben, und wenn es einmal nach der anderen Seite ausschlagen sollte, wollen wir uns dem entziehen.
Der Herr Kollege Neumann hat gesagt, an den verschiedenen Grenzen unserer Stadt herrsche verschiedenes Recht in bezug auf die Krankenversicherung. Herr Kollege Neumann, niemand bedauert das mehr als wir. Aber diese Unterschiedlichkeit in den Rechtszuständen ist heute gegeben und wird in Zukunft, wenn wir und die Bundesrepublik einheitliches Recht haben, auch gegeben sein. Dort, wo es an uns liegt, die Menschen unter das gleiche Recht zu bringen, müssen wir es tun.
Wir hören in diesem Haus immer wieder, die Christlich-Demokratische Union oder insbesondere die Regierung tue zuwenig in bezug auf die Verlegung von Bundesbehörden nach Berlin. Es wird gesagt, die Bundesregierung solle Ministerien nach Berlin legen. Ja, dann müssen Sie doch auch sehen, welche Konsequenzen es z. B. auf unserem Gebiet hat. Sie haben das Drängen nach einem ,einheitlichen Recht auf sozialpolitischem Gebiet in Berlin bezweifelt. Frag en Sie einmal die Angestellten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte! Hier haben Sie zwei Kategorien von Angestellten.
({6})
- Das sage ich ja eben, Frau Kollegin Kalinke. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das Wort „in einem Haus" noch hinzufügen. In einem Haus also - da darf ich mich Frau Kalinke anschließen - haben Sie zwei Kategorien von Angestellten. Einer Kategorie geben Sie erst einmal das Recht, sich die Kasse zu wählen, und zweitens das Recht, auch noch die Vertreter in der Krankenkasse selber zu wählen. Und den Berlinern, die sich nachgewiesenermaßen - wie auch Sie immer wieder sagen - ihr Gespür für freie Wahlen bewahrt haben, die nachgewiesenermaßen bei freien Wahlen ganz eindeutig entscheiden, gerade diesen Berlinern enthalten Sie das Wahlrecht an zwei verschiedenen Stellen vor!
Sie sagten weiter, Herr Kollege Neumann, daß die größten Betriebe Betriebskrankenkassen gar nicht wollen. Nun, wir wissen, wie man das ansehen kann. Sie haben bezeichnenderweise auch die BEWAG zitiert. Aber, Herr Kollege Neumann,
({7})
wenn es um den Beweis der Solidarität geht, ist es doch viel günstiger, wenn man diesen Beweis in Freiheit bringt, als wenn man einfach gar nichts anderes wählen kann.
({8})
So glaube ich also, daß das notwendig ist.
Kollege Schellenberg, Sie haben vorhin gesagt: Machen wir es jetzt nicht, dann machen wir es im nächsten Bundestag. Sie wissen genauso gut wie ich, wann die Wahlen sind. Sie haben sich den Argumenten des Kollegen Grantze angeschlossen, daß man eine lange Zeit braucht, bis wir wählen können. Gerade deshalb müssen wir das jetzt noch beschließen, damit auch die Vorbereitungen für die freien Wahlen in den Körperschaften getätigt werden können.
Herr Kollege Schellenberg, Sie haben davon gesprochen, die Gleichstellung der Arbeitnehmer im Krankheitsfalle verhindere die Angleichung. Das ist einfach nicht richtig. Das ist ein Problem, das sich auf die gesamte Bundesrepublik erstreckt, aber kein besonderes Berliner Problem. Dieses Problem stellt sich überall, wie wir alle auch aus unseren Vereinbarungen im Ausschuß wissen. Selbst wenn also der Herr Bundesarbeitsminister gesagt hätte, er schließe sich dem nicht an, oder das Gegenteil gesagt hätte, ergäbe sich doch einfach aus den Vereinbarungen bei unserer praktischen Arbeit im Ausschuß, daß wir erst Ihren Gesetzentwurf über die Gleichstellung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall beraten. Dann aber können wir diesen Gesetzentwurf nicht mehr vorher beraten. Das ist eindeutige Abmachung. Sollten Sie daran allerdings die Vorstellung knüpfen, ,die An-
i) gleichurig der Berliner Krankenversicherung könne nur kommen, wenn wir Ihren Vorstellungen über die Gleichstellung der Arbeitnehmer im Krankheitsfalle folgten, dann werden wir noch zu harten Auseinandersetzungen miteinander kommen.
Das Gesetz zur Einführung der Selbstverwaltung in Berlin hat erst einmal - ich darf das mit aller Deutlichkeit sagen - das Ziel, die bisherige Benachteiligung der Berliner in der freien Wahl ihrer Kasse wie in der Wahl ihrer Selbstverwaltungskörperschaften zu beseitigen, und es hat die Aufgabe, diese Selbstverwaltungswahl und diese Entscheidungsfreiheit durch organisatorische Neuordnung einzuführen. Gerade das, was Sie uns vorgeworfen haben, ist nicht drin. Wir wollen das Leistungsrecht in Berlin nicht verschlechtern, sondern es erhalten. Dazu gibt es sogar eine Garantie, und bis zu ihrem Auslaufen werden wir gemeinsam dafür sorgen, daß das Gesamtleistungsrecht der Krankenkassen neu geregelt, wenn auch vielleicht nicht so geregelt wird, wie es Ihren Vorstellungen entspricht.
Der Anregung des Kollegen Neumann, das Gesetz auch im Gesamtdeutschen und Berliner Ausschuß zu beraten, müssen wir widersprechen, weil es sich um eine sozialversicherungstechnische Angelegenheit handelt,
({9})
weil es um die Einführung der Selbstverwaltung geht, die nicht mit den anderen Problemen zusammenhängt.
({10})
Frau Abgeordnete Kalinke!
Frau Kalinke ({0}): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Nach den Ausführungen des Kollegen Neumann möchte ich mich jetzt nicht mehr mit den Einzelfragen des Krankenversicherungsrechts in Berlin, sondern nur noch mit .den politischen Argumenten auseinandersetzen. Wer die Rede des Kollegen Neumann gehört hat, könnte den Eindruck haben, als ob in jenen Tagen und Nächten nach Bombenterror und Tränen, als die Besatzungsmächte in Deutschland einmarschierten, nur in Berlin, nur bei den Sozialdemokraten mutige Männer und Frauen gewesen seien, die dafür gesorgt hätten, ,daß die sozialen Belange in Ordnung gebracht würden. In allen großen Städten der Bundesrepublik, in Hamburg, in Hannover, in München und anderswo,
({1}) haben Engländer, Franzosen und Amerikaner, als sie unser Gebiet besetzten, wenig Hilfe geleistet, um Kranke zu betreuen und die Sozialversicherung in Gang zu halten. Das hat sicherlich mindestens solche organisatorischen Probleme aufgeworfen -ich stehe dafür als Zeugin -, als Vertreter der Besatzungsmächte und die Helfershelfer uns empfohlen haben, den Auftrag ides Marschalls Sokolowski, den Sie in Berlin durchgeführt haben, auch in der damaligen britischen und französischen Besatzungszone zu verwirklichen. Wir hatten es mit Kommunisten in der französischen Besatzungszone zu tun, Sie hatten es mit Kommunisten in Berlin zu tun. Ich bitte, die Dinge doch nicht zu verschieben.
({2})
Niemand will den Unterschied verkleinern, der darin lag, daß es in Berlin die Russen waren, die eingebrochen sind, und niemand will etwa diejenigen in Schutz nehmen, die 1945 aus politischer und charakterlicher Unzuverlässigkeit, nämlich aus Feigheit das Weite gesucht haben. Solche Leute hat es aber in allen Parteien gegeben, und es gibt sie leider heute wieder in allen Parteien. Ich glaube aber, deshalb sollte man das hochpolitische Gespräch über die Rechtseinheit nicht zu parteipolitischen Auseinandersetzungen herabwürdigen.
({3})
- Durch die Ausführungen des Kollegen Neumann konnte, ja mußte der Eindruck entstehen, als hätten in Berlin nur die Sozialdemokraten für Ordnung und Sicherheit gesorgt! Meine politischen Freunde haben nicht mitgewirkt bei der Schaffung der Versicherungsanstalt Berlin.
({4})
- Gott sei Dank nicht mitgewirkt! Es sind in meiner Partei erfreulicherweise und Gott sei Dank in jener Zeit viel aufrechte und mutige Männer der Besatzungsmacht entgegengetreten,
({5})
als Sie nicht den Mut hatten, der Besatzungsmacht entgegenzutreten; es gehörte Mut dazu, ihr nicht nachzugeben.
({6})
({7})
Ich will nicht untersuchen, wer damals mit der Hilfe der KPD und mit den Armbinden der KPD und unter dem Terror der Besatzungsmacht gedroht hat.
({8})
Ich möchte aber eines klarstellen. Herr Kollege Neumann, Sie sollten nicht sagen, daß derjenige, der das gleiche Recht für alle will, damit an den Egoismus einzelner appelliere. Wer die individuelle Freiheit und wer die Sicherheit des einzelnen wirklich will, der darf nicht so taktieren, wie Sie das hier getan haben.
Der Kollege Stingl hat versöhnende Worte gesprochen zur Berliner Verständigung über Fragen, für die eine gemeinsame Verantwortung bestand. Ich möchte Ihnen sagen: Sie sollten den Deutschen Gewerkschaftsbund nicht in noch größere Schwierigkeit bringen; er hat jahrelang in Berlin für die Idee der Einheitsversicherung gekämpft und nun vor einiger Zeit, wenn ich richtig gelesen habe, eine Erklärung abgegeben, daß er für die gegliederte Krankenversicherung, also auch für die Ersatzkassen sei?!
({9})
Selbst die Deutsche Angestelltengewerkschaft in Berlin hat anfangs meine Kollegen aus der CDU und mich bekämpft. Es gab auch in der CDU Kollegen, die nicht der Auffassung des Berliner Abgeordneten Kreil waren und die nicht das Experiment der VAB fortsetzen wollten! Wir, die wir damals für die Rechtseinheit aller Deutschen und insbesondere für die demokratischen Rechte der Berliner gekämpft haben, haben uns von Gewerkschaftsfunktionären, die sich damit absolut in Übereinstimmung mit den Wünschen des Marschalls Sokolowski und der SED befanden, einiges sagen lassen müssen, was wir noch in unseren Archiven und im Gedächtnis haben.
Sie haben den Herrn Arbeitsminister angegriffen. Nun, es ist seine Sache, dazu eine Klarstellung zu geben. Aber ich möchte sagen: meine Hochachtung genießt jeder - und ich schließe da jeden Sozialdemokraten mit ein -, der vom Irrtum zur Wahrheit findet.
({10})
Meine Hochachtung hat jeder, der anerkennt, daß
der Beveridge-Plan, der heute in England zu den
größten Sorgen Anlaß gibt, eben nur ein Ideal war,
dessen Verwirklichung - bitter - gescheitert ist.
({11})
Meine Hochachtung hat jeder, der auch noch zugibt, daß solche Experimente die Ärmsten der Armen bezahlen müssen. Wir wollen unsere deutschen Bürger in Berlin und anderswo vor solchen Experimenten bewahren.
Sie haben geltend gemacht - das muß hier klargestellt werden -, daß besondere Verhältnisse diese besonderen Experimente nötig gemacht haben. Ich bekunde hier, daß mir der Plan zur Errichtung der Versicherungsanstalt Berlin von der britischen Besatzungsmacht im Jahre 1945 mit der Aufforderung in die Hand gegeben wurde, in Hannover nach diesem Modell wegen der gleichen Notstände eine Einheitskasse zu errichten. Nicht nur ich, sondern mit mir eine Reihe mutiger Männer haben dem Widerstand geleistet.
({12})
- Das werde ich dafür genauso ablehnen wie Hitlers Kriegsverdienstkreuze!
({13})
Ich möchte hier ganz deutlich sagen, daß man Widerstand aus Überzeugung nicht leistet, Herr Neumann, um eines Verdienstkreuzes, sondern um der Überzeugung willen und daß man solche Experimente in den Notstunden seines Vaterlandes nicht auf Empfehlung der Besatzungsmächte hätte durchführen sollen.
({14})
- Aber liebe Jeanette Wolff, das hat sich herumgesprochen; das ist auch unsere Auffassung. Geben Sie uns bitte die Genugtuung, daß es bei der Verteidigung der demokratischen Tugenden, die für alle gleichermaßen gelten sollen, keinen Egoismus geben darf, sondern nur den Wetteifer, diese Tugenden zu verwirklichen!
({15})
Keine weiteren Wortmeldungen. Die Debatte ist geschlossen.
Beantragt ist Überweisung an den Ausschuß für Sozialpolitik. Das isst unstreitig. - Ich nehme an, daß das Haus zustimmt.
Außerdem hat Herr Abgeordneter Neumann die Mitbeteiligung des Ausschusses für Gesamtdeutsche .und Berliner Fragen beantragt. Wer dem Antrag auf Mitbeteiligung des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Das letzte ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt. Die Vorlage wird allein an den Ausschuß für Sozialpolitik überwiesen.
Zur Begründung der Vorlage unter Punkt 18 b der Tagesordnung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begründe den Gesetzentwurf der Sozialdemokraten über Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung.
Nach Verabschiedung der Rentenneuordnungsgesetze hat in den letzten Wochen der Generalsekretär für die Sozialreform im Auftrage des Herrn Bundesarbeitsministers einen Plan für die weitere Vorbereitung, wie er sagte, der Sozialreform, bekanntgegeben. Dabei wurde mitgeteilt, daß die Vorbereitung zur Neuordnung der Krankenversicherung noch etwa. zwei Jahre in Anspruch nehmen werde. Das war eine erstaunliche Mitteilung. Denn zuletzt hatte der Herr Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, als er den Zeitplan der Sozialreform ausschließlich der Rentenversicherung hier erläuterte, dargelegt, daß mit Bestimmtheit Ende 1956 die gesamte Sozialversicherung neu geregelt sein werde.
Wir Sozialdemokraten stellen fest, daß nunmehr auch die Bundesregierung durch den Mund des Generalsekretärs für die Sozialreform zugibt, daß in diesem Bundestag wegen der Versäumnisse der vergangenen Jahre keine Reform der Krankenversicherung mehr in Angriff genommen werden kann. Das darf aber nach Auffassung meiner poli({0})
tischen Freunde nicht bedeuten, daß damit dieser Bundestag darauf verzichtet, wenigstens noch die allerdringendsten Krankenversicherungsleistungen zu regeln.
Das Haus hat sich für die Krankenversicherung wiederholt mit organisatorischen Fragen, mit Dingen, die weit weniger dringend sind als die Leistungsfragen, beschäftigt, beispielsweise mit dem Kassenverbandsrecht. Ein anschauliches Beispiel ist auch der Punkt 18 a der Tagesordnung, den wir soeben behandelt haben und der in seinem Kern keine Leistungsfrage, sondern ein organisatorisches Problem enthält. Der Bundestag würde sich nach Auffassung der Sozialdemokraten für den Bereich der sozialen Krankenversicherung ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wenn er zwar noch Gesetze über organisatorische Fragen verabschiedete, aber die dringenden Leistungsfragen weiter auf die lange Bank schöbe.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Sozialdemokraten über Leistungsverbesserungen in der sozialen Krankenversicherung dient dem Zweck, noch in diesem Bundestag vier dringende Leistungsfragen zu behandeln.
Zunächst die Schaffung eines einheitlichen Leistungsrechts in der Krankenversicherung. Das gegenwärtige Leistungsrecht in der Krankenversicherung beruht - das dürfte unbestritten sein - zu entscheidenden Teilen noch auf Kriegsverordnungen. Es ist eine Tatsache, daß beispielsweise jene Verordnung vom 17. März 1945 - die rechtlich sehr umstritten ist - nicht mehr in allen Teilen Deutschlands in Kraft getreten ist und daß wir seitdem in der Bundesrepublik in einer Reihe von Leistungsfragen noch ein unterschiedliches und noch ein zonales Leistungsrecht haben.
Nach Auffassung der Sozialdemokraten ist es ein schweres Versäumnis der Bundesregierung, daß sie bis jetzt, wenn sie schon nicht in der Lage war, eine Krankenversicherungsreform durchzuführen, nicht wenigstens für eine Aufhebung jener Kriegsvorschriften und für ein einheitliches Leistungsrecht in der Krankenversicherung Sorge getragen hat.
Die Unterschiedlichkeit im Leistungsrecht der sozialen Krankenversicherung ist in einer Reihe von Fragen geradezu grotesk, nämlich hinsichtlich Krankenscheingebühren, Verordnungsblattgebühren, Kostenbeteiligung usw. Da gibt es in den verschiedenen Zonen, in den Ländern unterschiedliche Regelungen, die kaum ein Fachmann im Kopf behalten kann.
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß dieses Durcheinander in bezug auf Leistungsfragen beseitigt werden muß. E i n Nutzen allerdings ist nach unserer Meinung aus diesem Durcheinander bezüglich Krankenscheingebühren, Verordnungsblattgebühren und Kostenbeteiligung indirekt erwachsen: es hat sich nämlich gezeigt, daß trotz unterschiedlicher Gestaltung der Kostenbeteiligung und der Krankenscheingebühren die Leistungsausgaben in den verschiedenen Ländern und Zonen praktisch gleich sind, das heißt, daß die gegenwärtige Methode der Kostenbeteiligung, der Rezept- und Krankenscheingebühren auf den Leistungsinhalt praktisch keinen nennenswerten Einfluß hat,
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und es ist deshalb eine Mär, durch diese Maßnahmen werde die soziale Verantwortung der Versicherten in besonderer Weise gefördert. Denn wäre das der Fall, müßte sich das unterschiedliche Recht in bezug auf Krankenscheingebühren usw. leistungsmäßig auswirken.
Die Sozialdemokraten beantragen deshalb, diese unterschiedlichen Regelungen abzuschaffen. Wir schlagen in unserem Gesetzentwurf ein einheitliches Leistungsrecht ohne Krankenscheingebühren, ohne Verordnungsblattgebühren und ohne Kostenbeteiligung vor.
Der zweite Bereich, den der sozialdemokratische Gesetzentwurf behandelt, betrifft die Frage: Pflicht- oder Kannleistungen? Daß heute noch auf wesentliche Leistungen der Krankenversicherung kein unbedingter Rechtsanspruch besteht, sondern daß sie als Kann-Leistungen in das Ermessen der über 2000 verschiedenen Kassen gestellt sind, entspricht nicht den gesundheitspolitischen Erfordernissen der Gegenwart. Bisher sind nur ärztliche Behandlung und die Gewährung von Arzneien und sogenannten kleineren Heilmitteln Pflichtleistungen. Die SPD fordert in ihrem Gesetzentwurf, daß auch sogenannte große Heil- und Hilfsmittel endlich zu Pflichtleistungen der sozialen Krankenversicherung werden. Es ist doch ein unmöglicher Zustand, daß zwar auf kleine Heil- und Hilfsmittel im Werte unter 50 DM ein Rechtsanspruch besteht, daß aber der Mensch, der wegen eines schweren Schicksalsschlages große Heil- oder Hilfsmittel, beispielsweise Prothesen oder einen Krankenfahrstuhl, benötigt, diese Leistungen nach dem gegenwärtigen Rechtszustand von der Krankenversicherung nicht erhalten kann.
Ein anderes Beispiel. Krankenhauspflege ist auch heute immer noch eine Kann-Leistung der Krankenversicherung. Die maßgebenden Kommentare sagen - ich zitiere -, daß die Gewährung von Krankenhauspflege in das Ermessen der Krankenkasse gestellt ist und daß die Krankenkasse zur Gewährung von Krankenhauspflege weder im Spruchverfahren noch im Aufsichtswege angehalten werden kann. Meine Damen und Herren, ein solcher Zustand ist nach Auffassung der Sozialdemokraten unwürdig, und er muß noch in diesem Bundestag beseitigt werden.
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Ein weiteres Beispiel. Heute bedarf die Frau, die im Krankenhaus entbinden will, der Zustimmung der Kasse, und sie hat keinen Rechtsanspruch auf sogenannte Wöchnerinnenheimpflege in einer Klinik oder in einem Krankenhaus. Die Sozialdemokraten beantragen durch ihren Gesetzentwurf, daß diese sogenannte Wöchnerinnenheimpflege zu einer Pflichtleistung ausgestaltet wird. Dabei soll der Frau selbstverständlich ,die freie Entscheidung darüber überlassen bleiben, ob sie in einer Klinik oder in ihrem eigenen Heim entbinden will. Wir sind aber der Auffassung, daß ihr das Recht zugestanden werden muß, auch im Krankenhaus zu entbinden.
Noch eine andere sehr wichtige Frage. Erfahrungsgemäß nehmen Frauen mit Kindern heute Krankenhauspflege, obwohl sie nach der Ansicht des behandelnden Arztes dringend erforderlich ist, oft nicht in Anspruch, weil es an einer Hilfe fehlt, die zwischenzeitlich den Haushalt und die Kinder versorgt. Deshalb fordern die Sozialdemokraten, im Gesetzentwurf festzulegen, daß die Kassen die Möglichkeit erhalten, finanzielle Beihilfen zur Hauspflege zu gewähren. Das ist ein dringendes sozialpolitisches Erfordernis.
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Und noch ein letztes Beispiel für die Notwendigkeit, endlich stärker von Kann-Leistungen zu Pflichtleistungen zu kommen. Bis heute besteht noch kein Rechtsanspruch auf die Gewährung selbst dringend notwendigen Zahnersatzes. Es besteht noch nicht mal ein Rechtsanspruch auf die Leistung von Prothesenersatz in der primitivsten Form. Die Sozialdemokraten beantragen deshalb, daß wenigstens für herausnehmbaren Zahnersatz ein Rechtsanspruch einzuräumen ist, wobei der kostspielige Brückenersatz usw. bei der gegenwärtigen Situation der Regelung durch die Satzungen der Kassen überlassen bleiben soll.
Der dritte Bereich, den der sozialdemokratische Gesetzentwurf behandelt, betrifft die Frage der Aussteuerung. Es gibt im heutigen Recht sowohl bei den sogenannten Geldleistungen der Krankenversicherung wie bei den gesundheitlichen Leistungen immer noch eine Aussteuerung. Der Herr Bundesarbeitsminister hat bereits im Jahre 1951 auf dem Deutschen Krankenkassentag erklärt, daß in den nächsten Wochen die Frage der Aussteuerung und des Zusammenhangs zwischen Krankengeldleistungen und Rentenleistungen geordnet werde.
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Das ist bis heute noch nicht geschehen, und auch nach Verabschiedung der Rentenneuregelungsgesetze besteht die Gefahr der Aussteuerung. Die Krankenkasse stellt nach 26 Wochen ihre Krankengeldzahlung ein, ohne sich darum zu kümmern, ob nun tatsächlich die Rentenleistung einsetzt. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß noch in diesem Bundestag versucht werden muß, einen lückenlosen Übergang von der Krankengeldzahlung zur Rentengewährung sicherzustellen.
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Fast noch tragischer als die Aussteuerung bei Geldleistungen ist die Aussteuerung bei gesundheitlichen Leistungen. Die Krankenversicherung in ihrer gegenwärtigen Form beruht auf der Vorstellung, daß Krankheit ein kurzfristiger Tatbestand sei. Das ist sehr häufig der Fall. Aber gerade der besonders geprüfte Mensch, der Mensch, der an Krebs erkrankt, der ein schweres Herzleiden hat oder an den Folgen spinaler Kinderlähmung leidet, bedarf einer langdauernden Krankenhauspflege. Heute wird dieser Schwerkranke mit der Krankenhauspflege ausgesteuert. Das ist ein Zustand, der unbedingt beseitigt werden muß. Deshalb beantragen wir Sozialdemokraten Gewährung von Krankenhauspflege ohne zeitliche Begrenzung. Gerade nach Verabschiedung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Rentner wird dieser sehr bedenkliche Tatbestand offensichtlich; daraus, daß jetzt der Rentner in seiner früheren Kasse bleibt, ergibt sich, daß der vorzeitig arbeitsunfähige Mensch, der Rentner wird und Krankenhauspflege benötigt, bereits bei Beginn der Rentnerkrankenversicherung ausgesteuert ist, weil für die 26 Wochen Krankenhausaufenthalt bereits seine Kasse eingetreten ist. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, daß das noch in diesem Bundestag geregelt werden muß.
Wir haben uns über die Fragen der Anpassung an ,das in Berlin geltende Recht bei der Beratung des Punktes 18 a unterhalten. Wir Sozialdemokraten müssen es als bedauerlich bezeichnen, daß die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf über die organisatorische Anpassung der Berliner Krankenversicherung dem Hause nicht wenigstens vorgeschlagen hat, die zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege, die in Berlin gewährt wird, nun auch in der Bundesrepublik einzuführen.
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Der vierte und letzte Bereich, den wir in diesem Gesetzentwurf ansprechen, ist der der Leistungen der Familienhilfe in der Krankenversicherung. Die Leistungen der sogenannten Krankenhilfe für Familienangehörige sind heute noch zonal unterschiedlich geregelt und zum Teil ungünstiger als für Versicherte. Diese Vorschriften stammen noch aus einer Zeit, in der man die Krankenversicherung vorwiegend als eine wirtschaftliche Hilfeleistung für den im Arbeitsleben stehenden Ernährer der Familie betrachtete. Aber auch mit den letzten Auswirkungen dieser Auffassung muß doch jetzt Schluß gemacht werden. 1930 wurde die Familienhilfe gesetzlich geregelt. Aber der Gesetzgeber ist bisher in bezug auf die Familienhilfe den Weg nicht konsequent zu Ende gegangen. Die Sozialdemokraten beantragen, auch für Familienangehörige Krankenpflege zeitlich unbegrenzt und im gleichen Umfang wie für den Versicherten selbst zu gewähren. Wir sind der Auffassung, daß das den Grundsätzen einer gesunden Familienpolitik entspricht, und müssen uns sehr wundern, daß der Herr Bundesfamilienminister sich innerhalb der Bundesregierung nicht für eine so selbstverständliche Forderung eingesetzt hat.
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Nun noch ein Wort zur Finanzierung. Frau Kollegin Kalinke hat davon gesprochen, daß der sozialdemokratische Antrag zu einer Verdoppelung der Beiträge in Berlin führen würde. Frau Kollegin Kalinke, Sie irren sehr; denn ein Teil, ein wesentlicher Teil der Leistungen, die wir hier beantragen, ist in Berlin bereits geltendes Recht. Teilweise war er geltendes Recht und mußte im Zusammenhang mit der Anpassung an das Bundesrecht - insbesondere in der Rentnerkrankenversicherung - abgeschafft werden. Wir können also sehr genau kalkulieren, was unsere Anträge erfordern. Ich erkläre hier - wir werden es im Ausschuß im einzelnen nachweisen -, daß unser Gesetzentwurf einen Mehraufwand von 240 Millionen DM im Jahre erfordert.
Wir schlagen zur Deckung dieses Aufwandes ohne eine Beitragserhöhung für die Versicherten folgendes vor: Die Träger der Unfallversicherung sollen den Krankenkassen sämtliche Aufwendungen aus Anlaß von Arbeitsunfällen erstatten, und zwar nicht wie bisher vom 45. Tage, sondern vom Eintritt des Arbeitsunfalls an. Die gegenwärtige Regelung, nach ,der während der ersten 45 Tage die Krankenkasse mit Leistungen für Arbeitsunfälle belastet ist, führt praktisch dazu, daß der versicherte Arbeiter oder Angestellte einen Teil der Aufwendungen für Arbeitsunfälle selbst tragen muß.
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Das gehört nach der Gestaltung der deutschen Sozialversicherung in die Verpflichtung der Betriebe, und deshalb muß das gesetzlich geregelt werden.
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung geht - das stellen wir mit Freude fest - in dem Gesetzentwurf für die Unfallversicherung einen ähnlichen Weg, aber - wir bedauern, das sagen
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zu müssen - nicht konsequent; denn ein Teil der Leistungen verbleibt nach dem Regierungsentwurf weiter bei den Krankenkassen. Eine organisatorische Trennung zwischen Kranken- und Unfallversicherung muß zur Folge haben, daß für die Leistungen aus Anlaß von Arbeitsunfällen die Betriebe über die Berufsgenossenschaften auch finanziell zuständig sind.
Die Sozialdemokraten beantragen schließlich, daß für Familienwochenhilfe die Vorschriften des § 205 d der Reichsversicherungsordnung wieder in Kraft gesetzt werden. Frau Kollegin Kalinke, Sie haben vorhin davon gesprochen - Sie haben es nicht so genau gesagt, es aber angedeutet -, aus dem sozialdemokratischen Gesetzentwurf könne sich ergeben, daß der Steuerzahler für Leistungen der Krankenhilfe einzutreten habe. Das fordern die Sozialdemokraten nicht. Wir fordern, daß der Bund die Zuschüsse für Familienwochenhilfe, die seit 1926 gesetzlich festgelegt sind, auch tatsächlich gewährt. Das ist rechtlich umstritten, darüber sind Verfahren vor den Sozialgerichten im Gange, und prominente Staatsrechtler, beispielsweise Giese oder Dersch, haben die Auffassung vertreten, daß der Bund )in Nachfolge des Reiches verpflichtet ist, die Zuschüsse für Familienwochenhilfe nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung zu zahlen. Dieser Gesetzgeber selbst hat durch das Mutterschutzgesetz im Prinzip anerkannt, daß Leistungen der Wochenhilfe nicht .ausschließlich in den Bereich der Krankenversicherung gehören - Entbindung ist keine Krankheit -, sondern daß sie auch eine öffentliche Aufgabe sind. Daraus ziehen wir die Konsequenz, indem wir die Vorschriften des § 205d der Reichsversicherungsordnung wieder in Kraft gesetzt wissen wollen.
Ich komme zum Schluß. Die Sozialdemokraten sind sich darüber im klaren, daß der vorgelegte Gesetzentwurf nicht auf eine umfassende Reform der Krankenversicherung abzielt. Hierzu wären beispielsweise erforderlich: eine völlige Neugestaltung der Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit - wofür sich mein Freund Preller immer mit besonderem Nachdruck eingesetzt hat -, ferner eine Neuordnung des sozialärztlichen Dienstes, Umwandlung .des jetzigen vertrauensärztlichen Dienstes zu einem sozialärztlichen Dienste. Dazu wäre selbstverständlich eine Neuordnung ,der Barleistungen erforderlich, und dazu ist auch eine schwierige Neugestaltung im finanziellen und vielleicht auch organisatorischen Bereich notwendig. Damit muß sich der Gesetzgeber noch beschäftigen.
Dieser Bundestag wird das nicht mehr tun können. Deshalb ist die Gestaltung einer umfassenden Krankenversicherungsreform dem nächsten Bundestag als eine Aufgabe überlassen. Dieser Bundestag sollte aber unbedingt noch ein Gesetz über Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung verabschieden. Hierdurch müssen die Leistungen erstens dem Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erfahrungen angepaßt werden, und zum anderen müssen die Leistungen den Notwendigkeiten einer sozialen Sicherung entsprechen, auf die der Mensch gerade in kranken Tagen einebesonderen Anspruch haben sollte.
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Sie haben die Begründung des Entwurfs gehört. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut mir sehr leid, daß ich diesen Gesetzentwurf und seine Begründung erst gestern morgen in die Hände bekommen habe und Ihnen deshalb kein genaues Bild über seine finanziellen und praktischen Auswirkungen geben kann. Ich möchte Ihnen aber doch einiges sagen, was bei einer ganz groben Überprüfung des Entwurfs sichtbar wird.
Der Entwurf verlangt in der Familienwochenhilfe für die Zukunft eine Leistung von 150 Mark, die vom Bund ersetzt werden soll. Früher wurden dafür 50 Mark gegeben. Diese 50 Mark werden aber seit Jahren nicht bezahlt; darüber laufen Prozesse. Die 50-Mark-Verpflichtung hätte den Bund ungefähr 20 Millionen Mark gekostet. Das, was in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, würde den Bund 60 Millionen Mark kosten.
Dann hat Herr Professor Schellenberg darauf hingewiesen, daß wir selbst in unserer Vorlage über die Neuordnung der Unfallversicherung eine Übertragung von Verpflichtungen ¡der Krankenkassen auf die Versicherungsträger der Unfallversicherung vorgesehen haben, und zwar einer Größenordnung von ungefähr 120 Millionen Mark. Das sollte eine echte Entlastung der Krankenversicherung sein, um neu auf uns zukommende Verpflichtungen für die Krankenversicherung abdecken zu können. Wir werden wahrscheinlich die Preugo-Sätze erhöhen müssen, um den berechtigten Forderungen der Ärzte nachzukommen. Wir werden wahrscheinlich Erhöhungen der Krankenhauspflegesätze entgegensehen müssen. Wenn wir uns die dadurch entstehenden Unkosten in der richtigen Höhe vor Augen führen, stellen wir fest, daß diese 120 Millionen Mark dann wahrscheinlich verbraucht sein werden. Deshalb wundere ich mich über die Ausführungen von Herrn Professor Schellenberg über die Kosten dieses Gesetzes. Wie mir mitgeteilt wurde, 'hat er schon bei einer Pressebesprechung das 'ausgeführt, was er jetzt auch zur Begründung des Gesetzentwurfs sagte, nämlich, daß es sich um eine Mehraufwendung von 240 Millionen DM handele. Er geht von folgenden Beträgen aus: 180 Millionen DM auf Kosten ,der Übertragung von Verpflichtungen auf die Unfallversicherung und 60 Millionen DM durch den Bund; das gibt zusammen 240 Millionen DM. Ich sage Ihnen in aller Offenheit: Nach einer ganz groben Überprüfung des Gesetzentwurfs werden die Mehrausgaben meines Erachtens das Doppelte des Betrages von 240 Millionen DM erfordern. Ich glaubte, Ihnen das zu Beginn der Debatte sagen zu müssen. Ich werde alles tun, damit für ,die Ausschußberatung von meinem Hause das nötige Material zur Verfügung steht, damit man sich über die Größenordnung, um die es hier geht, völlig klar ist.
Bei ,der ganzen Neuordnung der sozialen Leistungen müssen wir von einem gewissen Zeitplan ausgehen. Die Rentenreform haben wir hinter uns. Die Änderung der knappschaftlichen Versicherung wird voraussichtlich in kürzester Zeit in zweiter und dritter Lesung in diesem Hohen Hause behandelt werden können. Dann hat der Bundesrat den Gesetzentwurf über die Neugestaltung der Unfallversicherung verabschiedet. Auch dieser Gesetzentwurf wird in kürzester Zeit ,diesem Hohen Hause zur Beratung vorliegen. Man sollte etagenweise weitergehen, damit das Nebeneinander der Verhandlungen über die Gesetze nicht zu einer unorganischen Entwicklung führt. Das Verhältnis der einzelnen Versicherungsträger zueinander - der
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Versicherungsträger der Krankenversicherung, der Unfallversicherung und der Rentenversicherung - wird uns sowieso noch allerlei Schwierigkeiten und Kopfschmerzen bereiten. Ich bitte Sie, das bei den Beratungen dieses Gesetzentwurfs sehr wohl zu beachten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hammer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorlage, die unser Kollege Herr Professor Schellenberg vertreten hat, trägt die Überschrift „Entwurf eines Fünften Gesetzes über Änderungen und Ergänzungen von Vorschriften des Zweiten Buches der Reichsversicherungsordnung". Das ist in den letzten Jahren immer der Terminus technicus dann gewesen, wenn die „Reform" der Sozialversicherung mit solchen Vorlagen begonnen werden sollte. Herr Professor Schellenberg hat seinem Entwurf in einer Klammer eine viel bescheidenere Auslegung gegeben: „Gesetz über Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung". Trotzdem wird mit dem Inhalt des Entwurfs ein wesentlicher Schritt zur Reform getan. Wir Freien Demokraten billigen diesen Schritt in dieser Form allerdings nicht. Herr Schellenberg weiß das.
Nach dem Vorschlag der sozialdemokratischen Fraktion soll die Arzneikostengebühr nach § 182 a sowie die Krankenscheingebühr - der Nachbarparagraph - aufgehoben werden. Bei dem Vergleich der Ausgaben der Krankenversicherungsträger in den verschiedenen Zonen Deutschlands soll sich nach Professor Schellenberg herausgestellt haben, daß trotz unterschiedlicher Bremsen, die durch die Selbstbeteiligung gezogen seien, die Leistungen sich völlig gleich entwickelt hätten. Er hat sich aber in seiner eigenen Vorlage widersprochen. Wir haben diese Vorlage sehr spät bekommen. Das ist eine schlechte Gewohnheit ,aus dem letzten Jahr. Sie werden mir deshalb verzeihen, wenn ich mich wie der Herr Bundesarbeitsminister darauf berufe, daß ich sie nur kurz überflogen habe. Aber hier hat gestern ein Zufall geholfen; Herr Professor Schellenberg fiel mir ein, als mir ein Freund eine Unterkieferprothese aus einem Etruskergrab zur Betrachtung in die Hand drückte.
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- Die hat es damals schon gegeben. - Der § 183 b der Vorlage des Kollegen Schellenberg lautet nämlich folgendermaßen:
Die Kasse trägt die Kosten für herausnehmbaren Zahnersatz. Für festsitzenden Zahnersatz trägt die Kasse nach Maßgabe der Satzung die Kosten oder beteiligt sich mit einem Zuschuß an den Kosten.
Also mindestens in diesem Fall steht Herr Professor Schellenberg nicht ganz zu der Auffassung, daß die Kostenbeteiligung zwecklos sei.
Wir wissen ganz genau, daß die ökonomische Lage eines großen Teils der Versicherten nur die Gewährung ausgesprochener Naturralleistungen gestattet. Wir wissen aber auch, daß in den Kreis der Sozialversicherten Millionen und aber Millionen von Staatsbürgern hineingeraten sind, die sehr wohl das eigene Risiko zum Teil oder zu einem kleinen Teil tragen können. Wir sind der Auffassung, daß man darauf unter gar keinen Umständen verzichten kann. Denn wenn Sie darauf verzichten, meine Damen ,und Herren, dann tritt doch der Zustand ein, daß der Gewissenlose oder der Lässige auf Kosten seines gewissenhaften Genossen in der Krankenversicherung die Mittel der Kasse in Anspruch nimmt.
Man soll die Frage der Mittelaufbringung nicht bagatellisieren. Vielleicht das älteste und einfachste Beispiel, das uns bei der Krankenpflege und -behandlung immer wieder einfällt, ist doch die schöne Geschichte von dem barmherzigen Samariter, der an der Straße zwischen Jerusalem und Jericho die Wunden des Schwerverletzten mit Wein und Öl versorgt hat. Die Grundsatzfrage für jede Handlung in der Krankenversicherung, für jede ärztliche Hilfe, für jede Hilfe der Diakonie ist doch die Frage: wo kommen Wein und Öl her, wo sind die Mittel herzunehmen, um die Leistungen tatsächlich auch gewähren zu können? Man kann das Thema deutsche Krankenversicherung nicht behandeln, ohne die Frage einer echten und soliden Kostenaufbringung aufzuwerfen. So müßten die Anregungen des Herrn Professors Schellenberg gesehen werden. Allerdings läßt auch hier das späte Datum des Gesetzentwurfs, der Zeitpunkt, in dem er eingereicht worden ist, es sehr fraglich erscheinen, ob die schwierige Materie noch in diesem Bundestag behandelt werden kann. Wir werden uns die größte Mühe geben. Wir stimmen der Überweisung an den Ausschuß zu.
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Das Wort hat der Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Schellenberg ist bei seiner Begründung der SPD-Vorlage davon ausgegangen, daß die Bundesregierung habe verlauten lassen, die Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung sei für die Periode des 3. Bundestages vorgesehen und die Verabschiedung dieser Neuordnung werde wahrscheinlich erst in zwei Jahren möglich sein. Daraus - so muß man aus seinen Darlegungen entnehmen - hat die sozialdemokratische Fraktion die Schlußfolgerung gezogen und noch diesen Bundestag mit einer Gesetzesvorlage über eine teilweise Neuregelung des Leistungsrechts in der Krankenversicherung befaßt. Die Wiedereinführung des Selbstverwaltungsrechts in Berlin - der Punkt, den wir vorher behandelt haben - ist auf Ansuchen der sozialdemokratischen Fraktion im Ältestenrat einige Male von der Tagesordnung, auf der der Punkt bereits stand, abgesetzt worden, weil die jetzt hier zur Erörterung stehende Vorlage noch nicht fertiggestellt war. Die sozialdemokratische Fraktion, insbesondere Herr Kollege Schellenberg - so hat er es mir vor einigen Wochen auch schon einmal persönlich gesagt -, wollte nun durchaus diese Vorlage als Nagel benutzen, um an ihr diesen Gesetzentwurf über die teilweise Neuregelung des Leistungsrechts aufzuhängen. Das wäre nicht notwendig gewesen. Wir hätten den Gesetzentwurf über die Selbstverwaltung in Berlin schon seit einigen Wochen im Ausschuß haben können, weil man diese Vorlage unabhängig davon zu jeder Zeit hätte einbringen können.
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Aber ich widerstehe der Versuchung, mich nun in eine ausgedehnte Debatte über die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung einzulassen, weil die Zeit 'dazu nach unserer Auffassung jetzt nicht gegeben ist.
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Ein paar Bemerkungen zur Sache aber lassen Sie mich trotzdem machen. Nach unserer Meinung ist die Neuordnung des Leistungsrechts in der Krankenversicherung eineinheitliches Ganzes. Man kann nicht oder jedenfalls nur sehr schwer einen Teil vorwegnehmen, ohne daß der Sozialpolitische Ausschuß bei der Einzelberatung zwangsläufig auch in den Gesamtkomplex der Reformüberlegungen einsteigen müßte, weil Teilfragen, gerade solche, wie sie hier angesprochen sind, auch zu weiteren Überlegungen insbesondere über die Zusammenhänge führen müssen. Deshalb sind wir mit der Bundesregierung ,der Meinung, daß die Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung als eine einheitliche Angelegenheit betrachtet werden muß.
Wir sind auch darin mit ihr einig, daß es sinnvoll ist, die einzelnen Teile der Sozialreform nacheinander hier im Hause zu behandeln und zu verabschieden. Es ist nach unserer Meinung - ich wiederhole es - das einzig sinnvolle Vorgehen, wenn wir, nachdem wir die Rentenreform erledigt haben, so wie sich auch die Regierung das vorstellt, anschließend die Neuordnung der gesetzlichen Unfallversicherung hier beraten und verabschieden werden.
Wir kommen, wie ich schon andeuten durfte, nicht damit zurecht, daß wir die Leistungen in einzelnen Punkten linear anheben. Das müßte, glaube ich, zu unerwünschten Ergebnissen führen. Wir müssen auch wegen des ursächlichen Zusammenhangs von Leistungsrecht und finanzieller Auswirkung die Dinge im Zusammenhang betrachten.
Ich bin der Meinung, daß die Vorlage der entsprechenden Gesetzentwürfe im nächsten Bundestag nicht zwei Jahre auf sich warten lassen muß. Die Regierung hat, so wurde uns .auf Befragen gesagt, die vorbereitenden Arbeiten zu dieser Neuordnung im wesentlichen abgeschlossen. Der Sachverständigenbeirat beim Bundesarbeitsministerium und der dazu geschaffene Unterausschuß „Krankheitsbekämpfung" haben sich beratend mit der Angelegenheit befaßt oder werden sich noch damit befassen müssen. Daher glauben wir, daß wir das Endergebnis der im Zusammenwirken mit dem Beirat laufenden vorbereitend en Arbeiten abwarten sollten, bevor wir hier im Hause in den Gesamtkomplex dieser Materie eintreten.
Wir haben bei anderen Gelegenheiten, wenn sich die sozialdemokratische Fraktion - auch im Ausschuß - kritisch mit Meinungen der Bundesregierung oder auch mit Auffassungen unserer Fraktion oder der Koalition auseinandersetzte, oft das Prädikat gehört: „Das ist eine schlechte Sache."
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- Es ist aber Freitag heute; freitags fahren die Retourkutschen. - Ich möchte in diesem Zusammenhang zu Ihrem Gesetzentwurf sagen: eine ausgesprochen gute Sache ist er auch nicht.
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- Ich rede jetzt nicht von Ihren Forderungen, die Sie im einzelnen begründet und motiviert haben. Sie haben aber gesetzestechnisch und auch in der Aufeinander-Abstimmung der einzelnen Erfordernisse einiges außer acht gelassen. Ich darf nur einen einzigen Punkt als Beispiel dafür herausgreifen. ohne mich auf weitere Punkte einzulassen: Sie erklären in Ihrem Entwurf die Krankenhauspflege als Pflichtleistung. Dazu darf in Klammern bemerkt werden, daß auch die bisherige Kann-Leistung, die nach pflichtmäßigem Ermessen zu gewähren ist, in der
Praxis - das wissen alle, die mit der Krankenversicherung praktisch zu tun haben - mehr oder weniger als Pflichtleistung behandelt worden ist. Sie fordern also die Erweiterung zu einer Pflichtleistung. Die Krankenhausbehandlung ist nach geltendem Recht insofern Ersatzleistung, als die Krankengeldzahlung fortfällt und nach der Reichsversicherungsordnung Haus- oder Taschengeld zu gewähren ist. So, wie Ihr Entwurf formuliert ist, würde also für die Zukunft Krankengeld neben Krankenhauspflege als Pflichtleistung zu gewähren sein. Das Ist sicherlich ein Punkt, 'in dem Ihre Vorlage einer entsprechenden Korrektur bedarf. Ich kann nicht annehmen, daß Sie neben der Krankenhausbehandlung als Pflichtleistung auch noch das volle Krankengeld im bisherigen Umfang gewährt wissen wollen. Insofern müßte man sich doch wohl an eine Konzeption ähnlich der 'des derzeit geltenden Rechts ,anlehnen.
So, meine Damen und Herren, würde man der Einzelpunkte noch mehrere herausfischen können. Ich verzichte darauf. Ich werde mich auch nicht in den Gesamtkomplex einer Reform der Krankenversicherung verlieren. Aber ich muß mich auf das beziehen, was der Herr Bundesarbeitsminister hier vorhin bezüglich der finanziellen Auswirkungen Ihrer Vorlage gesagt hat. Die finanzielle Auswirkung geht auch nach unserer Schätzung der Dinge erheblich über die Angabe hinaus, die Sie auch in den Erläuterungen vor der Pressegemacht haben, wonach der Aufwand bei 240 Millionen DM liege. Ich brauche nicht zu wiederholen, was der Herr Minister gesagt hat.
Herr Schellenberg hat bei der Debatte vorhin darauf hingewiesen, daß sich die Allgemeine Ortskrankenkasse in Hamburg jetzt veranlaßt gesehen habe, ihre Beiträge auf 8 % zu steigern. Wenn diese Maßnahmen zur Zeit in dieser Form durchgeführt werden sollten, ohne daß die Dinge in einem den gesamten Komplex umfassenden Entwurf wirklich zusammenhängend behandelt werden, wenn wir noch bedenken, vor welchen weiteren Belastungen die Krankenversicherung im übrigen steht, dann wird, dessen sind wir gewiß, in sehr naher Zukunft nicht nur die Allgemeine Ortskrankenkasse Hamburg, sondern wahrscheinlich eine erheblich große Zahl, wenn nicht die meisten Krankenkassen, vor der zwingenden Notwendigkeit stehen, die Beiträge in dieser oder ähnlicher Form, vielleicht sogar noch darüber hinaus zu erhöhen. Deshalb sind wir der Meinung, daß man es so, wie es mit dieser Vorlage beabsichtigt ist, wahrscheinlich nicht machen kann.
Auch eine andere Bemerkung - und damit komme ich schon zum Schluß - kann ich mir in dem Zusammenhang nicht versagen. Wir haben bei allen möglichen Gelegenheiten, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von der Opposition einen Hinweis darauf hören und einstecken müssen, daß diese Dinge von uns ja nur mit einem eindeutigen, klaren Blick auf den entscheidenden Monat des Jahres 1957 gemacht würden.
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- Der Monat der Bundestagswahl!
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- Ich bin nicht die zuständige Stelle, die darüber zu befinden hat.
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- Oh, Sie sprechen andauernd davon, verehrter Herr Kollege. Sie haben vorhin noch siegesbewußt davon gesprochen, daß das Ergebnis jenes Tages X für uns vielleicht sehr nachteilige Folgen haben könnte. Ich brauche, meine Herren, hier demgegenüber nicht wieder zu betonen, daß wir in dieser Beziehung sehr, sehr guter Hoffnung und sehr fester Überzeugung sind.
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Wir werden auch im kommenden Bundestag in diesem Hause die Dinge maßgeblich zu gestalten haben.
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Meine Damen und Herren, ich hatte eben gesagt: auch diese Vorlage ist mit einem eindeutigen, sehr klaren Blick auf jenen Tag X heute dem Hause vorgelegt worden. Wir wollen uns doch kein X für ein U vormachen. Sie, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, soweit Sie mit uns im Sozialpolitischen Ausschuß arbeiten, kennen doch genauso gut wie wir die Arbeitslage im Ausschuß.
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Wir brauchen uns nur vor Augen zu halten, was alles noch vor uns liegt, und brauchen nur daran zu denken, daß andauernd Überlegungen darüber angestellt werden, wann das Parlament seine Arbeit zweckmäßigerweise beendet. In Anbetracht dessen werden Sie, glaube ich, mit uns der Meinung sein, daß wir alle Kraftanstrengungen zu machen haben werden, um das bisher vorliegende Arbeitspensum auch nur einigermaßen zu bewältigen. Wahrscheinlich müssen wir im Ausschuß die Kandare noch erheblich anziehen, und selbst dann bleibt es fraglich, wie weit wir kommen.
Wir haben selber Dringlichkeitsstufen eingeführt, und da kommt nun nach der Erledigung der Knappschaftsreform die Beratung über die Gleichstellung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfalle. Darauf hat schon Kollege Stingl hingewiesen. Wir stehen ferner vor der dringlichen Erledigung des Antrags betreffend die Krankenversicherungspflichtgrenze. Weiterhin wollen und müssen wir in diesem Parlament noch die Novelle zur Kindergeldgesetzgebung verabschieden. Außerdem steht vor uns die Vorlage über die Unfallgesetzgebung. Nach Erledigung drängt die von der CDU/CSU eingebrachte Vorlage über die Alterssicherung in der Landwirtschaft. Es ist also ein ganzer Strauß von Einzelproblemen und Gesetzentwürfen, deren Erledigung von uns noch gefordert wird. Meine Damen und Herren, beantworten Sie sich also bitte selber die Frage, ob es möglich sein wird, daneben noch diese Gesetzesvorlage zu erledigen. Ich glaube nicht, daß das möglich ist.
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- Wir werden, verehrter Herr Professor Schellenberg, um das abschließend auf Ihren Zwischenruf zu sagen, die Berlin-Vorlage - das ist unser Wille - ebenfalls noch erledigen - sie gehört wirklich auf die Dringlichkeitsliste - und werden sie nicht etwa zurückstellen zugunsten des uns heute hier unterbreiteten Gesetzentwurfs.
Auf diese Bemerkungen zu Ihrer Vorlage will ich mich beschränken. Alles übrige wird zur gegebenen Zeit im Ausschuß zu sagen sein.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke.
Frau Kalinke ({0}): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Meine politischen Freunde von der Deutschen Partei sind der Meinung, daß diejenigen recht haben, die in der Öffentlichkeit fordern, im Deutschen Bundestag sollten jeweils ein halbes Jahr vor Wahlen möglichst keine sozialpolitischen Anträge mehr eingebracht werden. Ich glaube, daß gerade dieser Antrag und die Debatte darüber zeigen - da stimme ich mit den Ausführungen des Kollegen Horn absolut überein -, daß es ungut ist, Probleme von solchem Ausmaß, wie sie eine Reform der Krankenversicherung aufwirft, in den wenigen Sitzungen des Bundestages, die noch bleiben, behandeln zu wollen.
Über die finanzielle Größenordnung bei Beibehaltung der Berliner sogenannten Errungenschaften ist nicht nur im Blick auf heute, sondern auch im Gedanken an die Zukunft zu sprechen. Man muß sich dabei die Zusammenhänge vor Augen halten und an die Konsequenzen denken, die sich aus der Neugestaltung des Leistungsrechts auf allen anderen Gebieten ergeben. Darauf hat der Herr Arbeitsminister besonders hingewiesen.
Schließlich muß auch über die Frage der Koordinierung an den Nahtstellen hinsichtlich der Leistungsgestaltung in der Rentenversicherung, in der Unfallversicherung und in der Krankenversicherung nachgedacht werden. Sie kann erst dann richtig übersehen werden, wenn die Verwirklichung der neuen Bestimmungen des Rentengesetzes angelaufen sein wird und wenn man feststellen kann was sich aus dem Versuch der Rehabilitation und aus all den neuen Gedankengängen in der Praxis für die Versicherten ergeben wird. Insbesondere wird abzuwarten sein, welche finanziellen Belastungen nicht nur für die beitragzahlenden Versicherten, sondern auch für die beitragzahlenden Arbeitgeber und damit wiederum über die Preisgestaltung - weil der Sozialversicherungsbeitrag volkswirtschaftlich in die Preisgestaltung eingeht - für alle Konsumenten die Folge sein werden.
Ich bitte daher mit allem Ernst, nicht die Fehler zu wiederholen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, und bei dem großen Problem einer Krankenversicherungsreform alle Fragen so gründlich wie nur möglich zu prüfen, ehe wir soziale Versprechungen machen, die nachher nicht verwirklicht werden können.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat gesagt, das Verhältnis der Versicherungsträger zueinander werde uns mancherlei Kopfschmerzen machen. Ich stimme ihm voll zu. Aber auch die Auswirkungen der von ihm vorgelegten Gesetze - nicht nur der Rentenversicherungsreform, sondern auch des Unfallversicherungsgesetzes - machen uns heute schon die allergrößten Kopfschmerzen. Ich glaube, darin sind wir alle in diesem Hause einig.
Ich möchte also - ohne schon Gesagtes zu wiederholen - ganz besonderen Wert auf die endliche Gesamtschau über die Reformpläne legen. Es ist undenkbar, eine sogenannte kleine Krankenversicherungsreform vorwegzuziehen und damit die Weichen so zu stellen, daß die notwendige große Krankenversicherungsreform dann eines Tages unmöglich wird.
Lassen Sie mich zu den ganz am Rande angedeuteten Fernzielen neuer organisatorischer Gestaltungen noch ein Wort sagen. Es wäre sehr
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falsch, wenn man Reform nur so verstünde: Es ist nun Jahrzehnte gut gegangen; es muß nun endlich alles anders gemacht werden! Das, was in unserer Krankenversicherung und in unserer Unfallversicherung gut gewesen ist, braucht nicht anders gemacht zu werden. Nur da, wo die absolut andere Gestaltung der Bedürfnisse, ,die Entwicklung der Krankheiten, andere Diagnosen und andere Erkenntnisse uns die Notwendigkeit aufzeigen, bei langanhaltenden Krankheiten nach anderen Grundsätzen zu verfahren, sollen wir sehr genau überlegen, wo wir mit der Reform einsetzen und wie weit die Leistungsgestaltung und das Suchen nach neuen Lösungen zu gehen hat.
Herr Kollege Schellenberg hat mit Recht darauf hingewiesen, ,daß einzelne Leistungen schon im Mutterschutzgesetz, in der Rehabilitation des Rentengesetzes, in den Familienhilfeleistungen geregelt sind. Gerade hier zeigt sich, wie notwendig eine genaue Überprüfung all dieser Bestimmungen ist. Wir werden in dieser Legislaturperiode sicher noch über die Reform der Kindergeldgesetze sprechen. Familienpolitik muß man auch im Zusammenhang sehen mit den Familienhilfeleistungen der Kranken- und der Rentenversicherung und mit all den gesetzlichen Bestimmungen, nach denen sich die Leistungen überschneiden. Aber auch mit der unterschiedlichen Form der zur Zeit bestehenden gesetzlichen Bestimmungen muß man sich auseinandersetzen! Wenn wir ein klares Bild über die Bedürfnisse, aber auch über die Möglichkeiten von morgen haben wollen, dürfen wir nicht wieder im Eilzugtempo Dinge vorwegziehen. Gerade Sie, Herr Kollege Schellenberg, haben doch mit mir vor diesem Tempo und seinen Gefahren so entschieden und, mir scheint, gerade in diesem Fall mit Recht gewarnt.
Meine politischen Freunde in der Deutschen Partei und mich erfaßt ein großes Unbehagen, wenn wir daran denken, daß die mittelständischen Betriebe - die Mehrzahl unserer Betriebe sind ja mittelständische und kleinere Betriebe - immer mehr belastet werden sollen. Man kann Sozialpolitik nicht nur vom Standort der organisierten Arbeitnehmer einerseits und des Großbetriebs andererseits sehen. Man muß bei der Gestaltung der Sozialpolitik an alle Gruppen denken.
Ich möchte hier nicht im einzelnen aufzählen: Rentenversicherungsbeiträge erhöht, Arbeitslosenversicherungsbeit rag erhöht, Versicherungspflichtgrenze ausgeweitet
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und dadurch, Herr Schellenberg, um es ganz deutlich zu sagen, für die mittelständischen Betriebe erhöhter Arbeitslosenversicherungsbeitrag, weil neue Kreise hinzugekommen sind, für die Arbeitgeberanteile gezahlt werden müssen. Es kommen hinzu die Erhöhung der Beträge für die Lohnsummensteuer, auch die weiteren Kosten des Kindergeldgesetzes, das wir ja alle noch verbessern wollen. Es kommen hinzu das Problem der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, dem Sie mit Recht so großes Gewicht geben, und die Reform der Unfallversicherung. Aber wir werden diese Gewichte doch auch prüfen müssen im Hinblick auf die finanzielle Belastung einmal der Beitragszahler, aber auch der Betriebe, die sie zu tragen haben. Wenn dazu noch eine wesentliche Erhöhung des Krankengeldes hinzukommt, ist die Finanzierung solcher Leistungen ohne entsprechende Beitragserhöhung nicht möglich!
Herr Minister Storch hat zwei Dinge erwähnt: die Preugo - ich glaube, es ist ein berechtigtes Anliegen der Ärzte, daß dieses Problem sehr ernsthaft geprüft und möglichst bald gelöst wird -und die Krankenhauspflegesätze. Wir haben in diesem Bundestag kein Krankenhausgesetz mehr machen können. Meine politischen Freunde und ich wünschen, daß das Problem unserer Krankenhäuser und der Finanzierung ihrer Bedürfnisse im nächsten Bundestag endlich so gelöst wird, daß die höhern Kosten der Krankenhäuser nicht nur zu Lasten der Sozialversicherten und der Ärzte und Krankenschwestern gedeckt werden. Aber der Pflegekostensatz ist nun mal ein Problem, das genauso auf Lösung drängt wie etwa die Erhöhung der Preugo-Richtsätze. Jede Erhöhung des Krankengeldes, jede Änderung der Leistungsgestaltung muß doch bezahlt werden.
Nun sagt Herr Schellenberg, sein Antrag koste ja nur 240 Millionen DM. Ich weiß wirklich nicht, woher er den Mut zu einer solchen Behauptung nimmt.
Einer der wichtigsten Punkte in Ihrem Antrag ist der Plan unseres Kollegen Preller, der durch Ihren Gesetzentwurf zum mindesten in Ansatzpunkten verwirklicht werden soll. Wenn die Krankenversicherung zur Verhütung schlimmer Folgen von Krankheiten in Zukunft nicht nur Badekuren und Heilmittel, sondern auch noch den Erholungsurlaub für Rekonvaleszenten bezahlen soll, wenn sie über den Begriff der Sanatoriumskur an Stelle der Krankenhausbehandlung hinaus weitere Leistungen im Rahmen der Gesunderhaltung und unbegrenzt gewähren soll, wenn die Rehabilitation dazu führen wird, daß halbe Kräfte immer wieder eine solche Erholung nötig haben, und diese Erholung von der Krankenversicherung finanziert werden soll, dann, meine Herren und Damen, werden sich Probleme ergeben, deren finanzielles Ausmaß denen, die solche Lösungen fordern, keineswegs klar oder gegenwärtig ist.
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Heute ist für das Heilverfahren in der eingeengten und begrenzten Form von unseren Rentenversicherungsträgern eine halbe Milliarde zu bezahlen; und Sie wissen, wie viele Anträge abgelehnt werden müssen, unter welch einengenden Voraussetzungen es nur bewilligt werden kann. Niemand weiß, welche Auswirkungen die Rehabilitation in der Rentenversicherung auf die Beanspruchung der Krankenversicherung haben wird. Niemand weiß, wie diese Belastungen nicht nur auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sondern auf alle Rentner, auf alle Hausfrauen, auf alle Konsumenten, besonders aber auf die kinderreichen Familien zurückschlagen werden.
Deshalb gestatten Sie mir, daß ich mit der Zustimmung zur Überweisung an den Ausschuß noch einmal warne. Meine Herren und Damen, lassen Sie uns nicht im leider beginnenden Fieber des Wahlkampfes weitere soziale Versprechungen machen, von denen wir nachher den Berlinern wie den Bundesrepublikanern sagen müßten: „Wir können sie leider nicht verwirklichen."
Vom Kollegen Horn ist auf die Vorberatungen im Beirat des Herrn Bundesministers für Arbeit hingewiesen worden. Ich glaube, es wird sehr interessant sein, die Meinungen der dort vertretenen und beratenden Geschäftsführer der gesetzlichen Krankenversicherungen sehr genau zu ken({4})
nen und zu prüfen. Aber sehr viel wichtiger wird es, glaube ich, sein, daß wir Politiker uns sehr ernsthaft im Gewissen und mit allen Kräften des Verstandes prüfen, ob wir tragbare Lasten und erwünschte soziale Verbesserungen in eine vernünftige Relation bringen können. Für uns ist der Gesamtsozialversicherungsbeitrag unlösbar verbunden auch mit der Steuerbelastung, unlösbar verbunden mit dem Problem des Nettolohnes und unlösbar verbunden mit der volkswirtschaftlichen Frage der Gestaltung unserer Preise. Ich fürchte, daß die gleichen Leute, die heute schreien: „Die Preise gehen hoch!", vergessen, daß sie mit solchen Anträgen dazu beitragen könnten, eine Lawine auszulösen, die über 'die Lohnbewegung, über die Rentenspirale zur Preisgestaltung das Unerfreulichste wäre, was wir gerade unseren kinderreichen Familien, unseren Hausfrauen, unseren Rentnern und all denen, denen Sie so gern etwas versprechen, bescheren könnten. Darum haben Sie bitte Verständnis dafür, daß wir im Ausschuß, dem wir diesen Antrag überweisen, mit aller Verantwortung und mit aller Sorgfalt prüfen, was wir im nächsten Bundestag zu erledigen haben werden: eine Reform der Krankenversicherung da, wo reformiert werden muß, eine Leistungsverbesserung da, wo sie nötig ist, aber soziale Versprechungen nur in dem Maße, wie sie auch eingehalten werden können.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele Dinge, die hier angesprochen wurden, sind gerade ein Beweis dafür, wie schlecht es gewesen ist, die Fragen der Krankenversicherungsreform immer wieder auf die lange Bank zu schieben.
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Ich brauche nur auf die Frage der Arzthonorare und die Frage der Krankenhaussätze zu verweisen. Selbstverständlich haben wir Sozialdemokraten uns sehr genau überlegt, welche Arbeit der Sozialpolitische Ausschuß noch bewältigen kann. Aber wir sind in dieser Beziehung anderer Auffassung als die Regierungsparteien. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß dieser Bundestag noch die dringendsten Leistungsfragen regeln muß. Deshalb haben wir uns sehr beschränkt. Wir haben Ihnen keinen Gesetzentwurf über die Reform der Krankenversicherung, sondern einen Gesetzentwurf zur Beseitigung ihrer schwersten Mißstände vorgelegt. Daß die Aussteuerung beim Krankenhausaufenthalt und beim Krankengeld ein schwerer Mißstand ist, kann niemand bestreiten, auch Herr Kollege Schäfer nicht. Meine Damen und Herren, auf die Rangfolge in der Dringlichkeit kommt es an. Wir müssen sehr entschieden der Auffassung widersprechen, daß Organisationsgesetze, die Sie unter Punkt 18 a zur Beratung gestellt haben, dringender sind als die Fragen, die die notwendigsten Leistungen zur Sicherung der Gesundheit unserer Menschen betreffen.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung zu Punkt 18 b.
Es ist Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 3280 an den Ausschuß für Sozialpolitik beantragt. - Das Haus widerspricht nicht; es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 14:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ({0});
b) Erste Beratung des von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ({1});
c) Erste Beratung des von der Fraktion des GB/BHE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ({2});
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, DP ({3}) eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ({4}).
Es ist interfraktionell vereinbart, daß die Antragsteller auf eine Begründung verzichten und daß auch eine Debatte nicht stattfinden soll.
Ich schlage dem Hause die Überweisung der Anträge unter a bis d an den Haushaltsausschuß und den Ausschuß für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen vor. Die Überweisung an den Haushaltsausschuß geschieht nach § 96 ({5}) der Geschäftsordnung; deshalb ist der Ausschuß für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen als Fachausschuß federführend. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall; dann ist so beschlossen.
Ich rufe die zusätzlich auf die Tagesordnung gesetzten Punkte auf:
3 a) Zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs ({6});
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rümmele, Dr. Bleiß, Rademacher, Srock und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über allgemeine Höchstgeschwindigkeitsgrenzen für Kraftfahrzeuge ({7}).
Zu Punkt 3 a erteile ich das Wort dem Herrn Berichterstatter, dem Abgeordneten Donhauser. - Das Haus verzichtet auf Berichterstattung; es liegt ein Schriftlicher Bericht**) vor.
Dann erteile ich das Wort dem Abgeordneten Höhne zu Punkt 3 b.
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- Sie verweisen auf den Schriftlichen Bericht***)
zu Punkt 3 b. - Das Haus ist damit einverstanden.
Wir treten ein in die zweite Beratung des Gesetzentwurfs Drucksache 2753 in Verbindung mit dem Ausschußbericht Drucksache 3186. Ich rufe auf Art. 1. Ich eröffne die Aussprache. - Ich erteile das Wort dem Herrn Staatssekretär Bergemann vom Verkehrsministerium.
*) Siehe Anlage 2 **) Siehe Anlage 3 "') Siehe Anlage 4
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Soweit ich unterrichtet bin, hatten Sie zwar nicht die Absicht, über diese Angelgenheit eine längere Diskussion zu führen. Ich muß Sie aber um die Erlaubnis bitten, eine Erklärung abzugeben, die den Standpunkt der Bundesregierung zu diesem Fragenkomplex kennzeichnen soll.
Es ist bekannt, daß es die Bundesregierung für geboten hält, die Fahrgeschwindigkeiten durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates und nicht ,durch Gesetz zu regeln. Sie erbittet daher für den Bundesminister für Verkehr die aus der Drucksache 2753 ersichtliche Ermächtigung.
Auch der Bundesrat hält diesen Weg für richtig. Bei dem in dem Gesetzentwurf Drucksache 3187 vorgesehenen Verfahren würde ein typischer Gegenstand einer exekutiven Regelung, die flexibel und anpassungsfähig sein muß und aus diesem Grunde in den Bereich der Rechtsverordnung gehört, einer beweglichen Ordnung entzogen werden. Über den Inhalt der neuen Vorschriften ist zwischen dem Verkehrsausschuß des Hohen Hauses und der Bundesregierung weitgehend Einvernehmen erzielt worden. Der Bundesminister für Verkehr hatte sich bereit erklärt, in der von ihm beabsichtigten Rechtsverordnung vorbehaltlich der Zustimmung des Bundesrates die Vorschläge und Anregungen des Verkehrsausschusses des Bundestags zu berücksichtigen. Er hatte allerdings darauf hingewiesen, daß für Lastwagen von mehr als 7 t nur eine Geschwindigkeit von nicht mehr als 60 km - wie bisher - zugelassen werden sollte und nicht eine von 80 km, wie das jetzt in dem Gesetzentwurf Drucksache 3187 vorgesehen ist. Dies nochmals zu betonen, hält der Bundesminister für Verkehr für seine Pflicht, nachdem der Verkehrsausschuß die Neuregelung durch Gesetz vornehmen möchte, wobei sie auf die Schultern des Bundestags genommen wird, aber auch gewissermaßen zementiert zu werden droht. Zweifellos wird dieser Punkt auch noch im Bundesrat eine Rolle spielen. Mit der allgemeinanerkannten Tendenz sowohl der geplanten Rechtsverordnung wie auch des beabsichtigten Gesetzes, 'also mit der Tendenz zur Verringerung der Geschwindigkeiten, ist es wirklich sehr schwer zu vereinbaren, nun ausgerechnet bei schweren Lastwagen, die man auf schmalen Straßen kaum überholen kann, die zulässige Geschwindigkeit von bisher 60 auf künftig 80 km/h zu erhöhen. Auch das ist eine Meinung, mit der die Bundesregierung nichtallein steht. Sie wird von den Ländern geteilt, die ja in erster Linie für die Sicherheit auf der Straße verantwortlich sind. Wenn diese Bedenken schon jetzt oder nach einiger Zeit allgemein als berechtigt anerkannt werden sollten, dann wäre dies schon das erste Beispiel dafür, daß es besser wäre, Bestimmungen über die Fahrgeschwindigkeit nicht in einem Gesetz, sondern in einer leichter zu ändernden Rechtsverordnung zu treffen.
Wird zu dem aufgerufenen Art. 1 weiter das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung.
Ich rufe weiter auf Art. 2, - Art. 3, - Art. 4, - Einleitung und Überschrift. - Ich darf das Hohe Haus, ehe es abstimmt, darauf aufmerksam machen, daß es hier um den ursprünglichen Gesetzentwurf auf Drucksache 2753 geht und daß der Ausschuß beschlossen hat, dem Hohen Haus die Ablehnung dieses Gesetzentwurfs zu empfehlen.
Ich komme zur Abstimmung über die aufgerufenen Artikel, die Einleitung und die Überschrift. Wer sie anzunehmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Abgelehnt.
Da das Gesetz in zweiter Lesung abgelehnt ist, findet eine dritte Beratung nicht statt.
Ich komme nunmehr zu Ziffer 2 des Antrags auf Drucksache 3186, also zu dem Antrag, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen und sonstigen Eingaben für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Angenommen.
Ich komme nunmehr zu dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 3294 und rufe auf Artikel 1, - Artikel 2, - Artikel 3, - Artikel 4 und schließlich auch Artikel 5, der Ihnen als Nachtrag zum Ausschußbericht in der Vorlage zu Drucksache 3294 vorliegt. Dort wird beantragt, dem Artikel 5 - dessen Text hier noch offengelassen ist - folgende Fassung zu geben:
Das Gesetz tritt am Ersten des auf die Verkündung folgenden Monats in Kraft.
Das ist der Vorschlag des Ausschusses zu Artikel 5. Ich rufe ferner Einleitung und Überschrift des Gesetzes auf.
Ich eröffne die Aussprache in der zweiten Lesung. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache. Wer den aufgerufenen Artikeln, der Einleitung und der Überschrift des Gesetzes zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig verabschiedet.
Wir treten in die
dritte Lesung
ein. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die allgemeine Aussprache.
Änderungsanträge zur dritten Lesung liegen nicht vor. Ich komme zur Schlußabstimmung. Wer dem aufgerufenen Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, erhebe sich bitte. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Gegenstimme und einigen Enthaltungen ist das Gesetz in dritter Lesung verabschiedet.
Nun rufe ich Ziffer 2 des Ausschußantrags in Drucksache 3294 auf. Es wird beantragt, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen und sonstigen Eingaben für erledigt zu erklären. Wer diesem Antrag des Ausschusses zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste, die 199. Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. März 1957, 14 Uhr, ein und schließe die heutige Sitzung.