Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/8/1956

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Hohes Haus! Meine Damen und Herren! In ernster Stunde tritt der Deutsche Bundestag zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Flammenzeichen zucken über die Welt, mitten in Europa ebenso wie im heute mehr noch als früher Nahen Osten. Kaum sind die Schrecken des größten und furchtbarsten Krieges der Geschichte verklungen, aber noch lange nicht vergessen, noch stehen die Zeugnisse der Zerstörung mitten unter uns, da wird schon wieder die Kriegsfackel entzündet. Es ist nicht unseres Amtes, zu richten, aber es ist unsere Pflicht, das Gewissen der Völker zu mahnen und unsere Stimme mit der der Vereinten Nationen und aller friedliebenden Menschen zu vereinen in der dringenden und unüberhörbaren Bitte um Wiederherstellung und Sicherung des Friedens, wo immer er gestört oder gefährdet ist. Besonders ist es unsere menschliche Pflicht, all derer zu gedenken, über die in diesen Tagen Not und Tod, Blut und Tränen gekommen sind; derer zumal, die vorzeitig aus diesem Leben abberufen wurden, ihrer Hinterbliebenen, der Verwundeten und Gefangenen und nicht zuletzt derer, die wie so viele vor ihnen das bittere Los der Flucht aus der Heimat erleiden müssen. Wir gedenken in dieser Stunde aller, über die die Schrecken des Krieges gekommen sind, der Zivilisten und Soldaten, der Angehörigen aller beteiligten Nationen. Vornehmlich aber wendet sich unser Herz dem so schwer heimgesuchten edlen und tapferen Volk der Ungarn zu. Sein in alter Tradition wurzelnder Freiheitswille hat in wenigen Tagen Erfolge gewirkt und Schicksalsschläge erlitten, die uns den Atem verschlagen haben. Der Deutsche Bundestag als die Vertretung eines freien Rechtsstaates kann der ungarischen Nation sein Mitgefühl nicht versagen. In tiefer Trauer und aufrichtiger Anteilnahme gedenkt er des unaussprechlichen Leides des seit alters befreundeten ungarischen Volkes. Seine Toten sind für die Freiheit und damit für die Sache Europas und der zivilisierten Welt gefallen. Zu ihrem Gedenken haben sich in Berlin und in der Bundesrepublik die Fahnen auf Halbmast gesenkt. Meine Damen und Herren, Sie haben sich von den Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Der Präsident des Deutschen Bundesrates hat mich gebeten, Ihnen bekanntzugeben, daß der Deutsche Bundesrat heute eine Sitzung in Berlin hält und seine Mitglieder deshalb nicht in der Lage sind, unserer Sondersitzung beizuwohnen. Wir treten in die Tagesordnung ein. Punkt 1: Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Konrad Adenauer (Kanzler:in)

Politiker ID: 11000009

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Bundesregierung hat mit ernster Sorge die weltpolitische Entwicklung der letzten Monate verfolgt. Sie glaubt, daß man die Vorgänge auf den verschiedenen Schauplätzen der politischen und militärischen Auseinandersetzungen nicht isoliert betrachten darf. Es bestehen weitreichende innere Zusammenhänge. Wir müssen uns bemühen, sie aufzuklären; denn nur, wenn wir sie klar erkennen, vermögen wir einen Beitrag zu leisten, dieser Entwicklung zu begegnen, die für weite Teile der Welt, besonders aber für Europa und hier wieder in hervorragendem Maße für das deutsche Volk, ernste Gefahren in sich birgt. Die letzte Ursache für die verhängnisvolle Entwicklung liegt darin, daß es nicht gelungen ist, die Ideale zu erreichen, die am Ende des zweiten Weltkrieges verkündet worden sind. Es war die ({0}) Aufgabe derer, die in dieser entscheidenden Zeit die Verantwortung trugen, das verletzte Recht und die unterdrückte Freiheit wiederherzustellen. ({1}) Es soll heute und hier dankbar anerkannt werden, daß es verantwortliche Politiker gab, die sich dieser großen Aufgabe und der ihnen obliegenden Verpflichtung durchaus bewußt waren. Ein Beweis dieses Bemühens ist u. a. die Charta der Vereinten Nationen, die die ethischen Grundsätze, die das Zusammenleben der Völker bestimmen sollten, in eindrucksvoller Weise festlegt. In weiten Teilen der Welt bestand jedoch und besteht auch heute nicht die Bereitschaft, diese Ziele zu verwirklichen. Das ist wohl der tiefste Grund für die latenten Spannungen, die die Weltpolitik seit Jahren belasten und die zu beendigen bisher niemandem gelungen ist. Ziel und Aufgabe jeder Friedenspolitik mußte es sein, das verletzte Recht und die unterdrückte Freiheit wiederherzustellen. In weiten Teilen der Welt aber wurden die Menschen erneut ihrer primitivsten Rechte beraubt. Nationen, die im Vertrauen auf das Selbstbestimmungsrecht den Versuch unternahmen, eine freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung wiederherzustellen, wurden erneut unterjocht und in totalitäre Systeme gezwungen, in denen die Begriffe Demokratie, Freiheit und Recht keine Geltung haben. Das politische Bild wurde um so verworrener, als gleichzeitig an anderen Stellen der Welt junge, aufstrebende Völker, die an den technischen und zivilsatorischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte nicht angemessen teilgenommen hatten, von dem Recht der Selbstbestimmung Gebrauch machten und damit neue einflußreiche und mächtige politische Positionen in der Welt schufen, die das Vorstellungsbild korrigierten, das noch bei Kriegsende bestand und z. B. in den Beschlüssen von Potsdam als Folge der Konferenzen von Jalta und Teheran seinen Ausdruck fand. ({2}) Wenn es auch in einzelnen Teilen der Welt gelang, Spannungen und Konflikte zu beseitigen, wenn anderwärts Gegensätze sichtbar wurden, die die Entwicklung zu einem gesunden Gleichgewicht nur fördern konnten, so blieb doch in manchen Teilen der Welt die Unordnung bestehen, ja sie wurde in willkürlicher und unverantwortlicher Weise vergrößert. Auf der einen Seite können wir gerade in diesen Tagen mit tiefer Befriedigung auf die Entwicklung blicken, die die Beziehungen Deutschlands zu seinen westlichen Nachbarn bestimmt hat. Ich denke hier in erster Linie an das deutsch-französische Abkommen über die Rückgliederung der Saar, das am 27. Oktober in Luxemburg unterzeichnet wurde. Ich denke auch an das deutschbelgische Abkommen, das die noch offenstehenden Grenzfragen zwischen diesen beiden Staaten endgültig bereinigt hat. Auf der anderen Seite aber sind die Ereignisse der letzten Monate in Osteuropa ein tragisches Zeugnis für die Folgen einer widernatürlichen Ordnung, die hier mit fremder Waffengewalt jahrelang aufrechterhalten worden ist. Im Bereich des Ostblocks kam es zu elementaren Kundgebungen des Freiheitswillens der unterdrückten Völker 'gegen eine unerbittliche, unmenschliche und auf ausländische Machtmittel gestützte Diktatur. Daß Deutschland gerade an diesen Vorgängen leidenschaftlich Anteil nimmt, wird man in der ganzen Welt verstehen; denn bis zur Stunde sind auch 17 Millionen Deutsche in diesen totalitären Machtblock eingespannt, 17 Millionen Menschen, denen man gegen Recht und Gesetz die Möglichkeit genommen hat, nach dem eigenen Freiheitswillen ihre Anstrengungen mit denen des übrigen deutschen Volkes zu vereinen und als freies Volk in der Gemeinschaft der freien Völker der Welt zu leben. Bis zur Stunde ist es ebensowenig gelungen, einen Friedensvertrag zu schließen und das Problem der Ostgrenzen Deutschlands zu regeln. In Deutschland kam der elementare Wille zur Freiheit an jenem historischen 17. Juni 1953 in der sowjetisch besetzten Zone und in Berlin zum Ausdruck, als deutsche Männer und Frauen, die wehr- und waffenlos waren, gegen den unerträglichen Zwang eines Regierungssystems auftraten, das gegen ihren Willen eingesetzt wurde und ohne ihr Zutun fortdauert. Dieser elementare Freiheitswille war es auch, der die Vorgänge in Posen auslöste und politische Veränderungen in Polen einleitete, die wir in ihrer vollen Bedeutung noch nicht abzusehen vermögen, schon deshalb nicht, weil wir nicht wissen, ob sie bereits zum Abschluß gekommen sind. Wir hoffen, daß diese Veränderungen einen Schritt auf dem Wege zu einem freien Polen darstellen, mit dem alle strittigen Fragen in friedlicher und fairer Weise zu regeln wir aufrichtig wünschen. ({3}) Für eine solche Regelung, meine Damen und Herren, kommt es nicht darauf an, ob in Deutschland und Polen verschiedene Regierungssysteme und verschiedene Wirtschafts- und Sozialordnungen bestehen oder nicht. Unter einem „freien Polen", mit dem wir zu geordneten Beziehungen und zur Regelung aller Streitfragen zu kommen wünschen, verstehe ich ein Polen, das die volle Verfügungsgewalt eines souveränen Staates über seine inneren und äußeren Angelegenheiten besitzt. ({4}) In den letzten Tagen haben nun die Ereignisse in Ungarn dem deutschen Volke und der ganzen freien Welt eine erschütternde Lehre erteilt. Zunächst war es wohl auch dort nur der Wunsch, etwas mehr Freiheit, etwas mehr Menschenrecht und Menschenwürde, etwas mehr Sicherheit zu besitzen, der die innere Unruhe auslöste. Es war dann offensichtlich die unmenschliche Reaktion einer kleinen Minderheit, die die Herrschaft nicht verlieren wollte und sich nicht scheute, zu diesem Zwecke fremde Truppen einzusetzen, die von der Revolte zur Revolution führte und die dem Freiheitswillen des ungarischen Volkes zum elementaren Durchbruch verhalf. ({5}) Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, voller Bewunderung dieses Freiheitskampfes zu gedenken, der noch immer andauert. ({6}) Das Wissen darum, daß die ungarische Nation in ihrem Freiheitskampf allein steht, daß sie wohl ({7}) die moralische Unterstützung aller freien Völker der Welt genießt, aber daß die nackte Gewalt stärker zu sein scheint als die heroischen Anstrengungen dieses Volkes, muß uns in diesen Tagen quälen und sollte niemanden unberührt lassen, für den die Worte „Demokratie" und „Freiheit" mehr bedeuten als ein unverbindliches Lippenbekenntnis. ({8}) Es ist keine unzulässige Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Volkes, wenn die Bundesregierung heute und hier an dieser Stelle ihre Bewunderung für diesen Freiheitskampf zum Ausdruck bringt und die moralische Verpflichtung anerkennt, immer auf der Seite derer zu stehen, die für die Freiheit eintreten und die Unterdrückung der Menschenrechte leidenschaftlich bekämpfen. ({9}) Wohl aber ist es eine mit der Charta der Vereinten Nationen, aber auch mit den ungeschriebenen völkerrechtlichen Grundsätzen unvereinbare Einmischung in das Selbstbestimmungsrecht und in die Entscheidungsfreiheit eines Volkes, wenn dem Ruf nach Freiheit mit Panzern und Kanonen Schweigen geboten wird. ({10}) Die Sympathiekundgebungen der ganzen freien Welt zeigen, daß es auch da, wo schriftliche Verträge fehlen, noch eine echte Solidarität der freien Menschen gibt. Das Bewußtsein darum wird auch diejenigen innerlich stärken, die den Tag der Befreiung herbeisehnen und mit äußerster Selbstdisziplin und Zurückhaltung, wenn auch vielleicht mit Zähneknirschen, auf den Augenblick warten, wo auch ihnen die unveräußerlichen Rechte wiedergegeben werden, die die Grundlage für das Zusammenleben von Menschen schlechthin sein müssen. ({11}) Die Bundesregierung kann nicht verschweigen, daß ihre Beziehungen zur Sowjetunion durch die Verhältnisse in der Zone belastet waren und daß sie durch die Vorgänge in Ungarn neuerlich belastet werden. Die Bundesregierung hat die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion vor Jahresfrist in der Hoffnung aufgenommen, daß der unmittelbare Meinungsaustausch zwischen den beiden Regierungen zu einer Klärung und zu einer Entspannung des gegenseitigen Verhältnisses führen werde. Die Bundesregierung ist auch heute noch davon überzeugt, daß ihr damaliger Entschluß richtig war. Sie wird sich auch weiterhin bemühen, mit der Sowjetunion im Gespräch zu bleiben. Das Memorandum, das die Bundesregierung vor kurzem in Moskau überreichen ließ, war ein Ausdruck dieses Bemühens. Aber es wäre unaufrichtig, wenn die Bundesregierung angesichts der jüngsten Ereignisse verschwiege, daß das gesamte deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze ein Bestandteil der freien Welt ist und bleiben will. ({12}) Das bedeutet, daß die von uns allen im Interesse einer Sicherung des Weltfriedens erwünschte Normalisierung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Volke zur Voraussetzung hat, daß allen Deutschen das Recht auf freie Selbstbestimmung gewährt wird. ({13}) Es ist die alleinige Aufgabe des deutschen Volkes, seine innere Ordnung zu bestimmen und den politischen Standort zu beziehen, den es nach seiner Überzeugung für den richtigen hält. ({14}) Die Bundesregierung hat niemals einen Zweifel daran gelassen, daß die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland bereit sein werden, sich in ein großes und wirksames Sicherheitssystem einzuordnen, das allen Nationen das Recht auf freie Entwicklung einräumt und das allen Völkern die Segnungen eines gesicherten Friedens vermittelt. Gerade die Vorgänge, von denen ich sprach, geben aber auch der Bundesregierung das Recht und die Pflicht, ihre Forderungen nach Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit erneut anzumelden und keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie nichts unversucht lassen wird, um dieses Ziel selbstverständlich mit friedlichen Mitteln und auf dem Wege ausgleichender Verhandlungen zu erreichen. ({15}) Wir sind davon überzeugt, daß die jüngste Entwicklung in Ost- und Südosteuropa auf weite Sicht einen günstigen Einfluß auf die Lösung der deutschen Frage ausüben muß. Die Überzeugung beruht auf dem ernsten Willen des deutschen Volkes, mit allen seinen Nachbarn, im Osten wie im Westen, in Frieden zu leben und zu einer Verständigung in alien strittigen Fragen zu gelangen. Wie ich schon im Hinblick auf Polen festgestellt habe, ist die Unabhängigkeit unserer östlichen Nachbarn dafür eine wesentliche Voraussetzung. Wie auch immer die Entwicklung in diesem Bereich verlaufen mag, so kann es doch keinen Zweifel darüber geben, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht ohne die Zustimmung und Mitwirkung der Sowjetunion möglich ist. Wir werden daher nicht aufhören, immer wieder an die Sowjetunion heranzutreten und sie aufzufordern, sich der Mitwirkung an der Lösung dieser Frage nicht zu versagen. Letzten Endes hängt von dieser Mitwirkung der Friede der Welt ab. Denn der unerträgliche Unrechtstatbestand der willkürlichen Teilung Deutschlands ist wahrhaftig geeignet, den Frieden zu gefährden, und das nicht nur im Verhältnis zwischen einzelnen Nationen und nicht nur im europäischen Bereich. Die Entwicklung, über die wir heute hier sprechen, zeigt vielmehr, daß jede ungelöste Spannung, gleichgültig an welcher Stelle in der Welt sie sich bildet, unabsehbare Folgen auslösen kann. Denn auch in anderen Teilen der Welt ist es zu machtpolitischen Auseinandersetzungen gekommen, die nicht mehr lokalisiert werden können und die uns alle angehen. Ich denke hier in erster Linie an die Ereignisse im Nahen Osten. Es ist nicht erforderlich, den kausalen und chronologischen Ablauf der Dinge zu schildern, der zu den tragischen Ereignissen in Ägypten geführt hat. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß es ihr einzig und allein darauf ankommt, an der Beseitigung von Spannungen mitzuwirken, die durch unbedachte Entscheidungen und Maßnahmen ausgelöst wurden. ({16}) Ich glaube, daß ich die Haltung, die die Bundesregierung in dem Konflikt über den Suezkanal einnimmt, als bekannt voraussetzen kann und daß ich mich auch nicht in völkerrechtliche Analysen zu verlieren brauche. Die Bundesregierung hat an den beiden Londoner Konferenzen teilgenommen, auf denen sich diejenigen Nationen, die an der gesicherten Schiffahrt durch den Suezkanal entscheidend interessiert sind, bemühten, eine Regelung zu finden, die der Souveränität des ägyptischen Volkes ebenso Rechnung tragen sollte wie dem gemeinsamen berechtigten Anliegen, einen lebenswichtigen internationalen Schiffahrtsweg im Interesse aller Beteiligten offenzuhalten. Die Bundesregierung beklagt es aufs tiefste, daß diese Bemühungen ergebnislos blieben. Sie glaubt auch heute noch, daß die Vorschläge, die die erste Londoner Konferenz ausgearbeitet hatte, eine geeignete Verhandlungsgrundlage für eine solche Regelung darstellten. Es erscheint nicht sehr sinnvoll, Betrachtungen darüber anzustellen, warum es zu einer solchen gegenseitigen Verständigung nicht kam. Die Entwicklung ist weitergegangen und es kam zu kriegerischen Handlungen, die wir bedauern, da wir überzeugt sind, daß auch legitime Ziele der Politik nicht mit Waffengewalt verwirklicht werden sollen. ({17}) Aus dieser Erkenntnis und Überzeugung heraus hat ja auch die Bundesregierung mit voller Zustimmung des Bundestages wiederholt erklärt, daß auch das brennende Problem der deutschen Wiedervereinigung niemals mit Waffengewalt gelöst werden sollte. Wir dürfen uns jedoch nicht damit begnügen, die im Vordergrunde des Geschehens stehenden Ereignisse zu sehen. Seit langem bestanden im Nahen Osten latente Spannungen, die weder die beteiligten Mächte noch die Vereinten Nationen auszuräumen vermochten. Völker und Nationen, die auf ,diesem Gebiet zusammenleben und zusammenleben müssen, begegneten sich mit Angst und Mißtrauen. Kleinere Nationen fürchteten die größeren und schlossen sich zusammen. Sie alle bemühten sich, ihre Existenz zu sichern, und beobachteten die gleichen Anstrengungen ihrer Nachbarn mit einer von Mißtrauen geschärften Wachsamkeit, weil sie sich bedroht fühlten. Es kam vor kurzem zu der bewaffneten Intervention Israels gegen Ägypten, einer Intervention, die von der einen Seite als Reaktion auf eine vermutete Gefahr, von der anderen Seite als ein vorsätzlicher Schlag gegen die bestehende Ordnung verstanden wurde. Es kam zu einer weiteren Intervention englischer und französischer Streitkräfte. Beide Mächte glaubten offenbar, nur durch diese Maßnahmen einen Konflikt lokalisieren zu können, der andernfalls unabsehbare Folgen auslösen würde. Die Bundesregierung hat alle aufrichtig und ernst gemeinten Bemühungen, den ausgebrochenen Konflikt beizulegen, unterstützt. Wenn allerdings diejenigen, die mit Panzern und Maschinengewehren in einem fremden Lande die Stimme der Freiheit zum Schweigen bringen, sich in diesem Konflikt zum Anwalt der Freiheit, der nationalen Unabhängigkeit und der Menschenrechte aufwerfen, dann kann die Bundesregierung zu ihrem Bedauern nur feststellen, daß damit die ernsthaften und redlichen Bemühungen anderer diskreditiert werden. ({18}) Freiheit und Selbstbestimmungsrecht müssen überall gelten und überall anerkannt werden. ({19}) Es hieße ein System der Willkür anerkennen, wenn man irgendeiner Nation zubilligen würde, diese Begriffe nach ihrem Ermessen auszulegen und diese Rechte nach ihrem Gutdünken anzurufen oder zu mißachten. ({20}) Mit besonderer Aufmerksamkeit hat die Bundesregierung die Bemühungen der Vereinten Nationen verfolgt, schlichtend und vermittelnd einzuwirken. Auch wenn die Bundesrepublik nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, so wird sie solchen Bestrebungen stets ihre ungeteilte Unterstützung zuteil werden lassen. ({21}) Die Bundesregierung fürchtet allerdings, daß man die Vereinten Nationen überforderte, wenn man von ihnen erwartete, daß sie einen Konflikt dieses Ausmaßes tatsächlich zu lösen vermöchten. Trotz ihrer Charta, deren rechtliche und ethische Normen wir ohne Einschränkung bejahen, ist sie dazu leider noch nicht in der Lage. Sie ist auch nicht ein übergeordneter und unparteiischer Gerichtshof, sondern eine Versammlung von Staaten, die ihre eigenen Interessen, wenn auch im Rahmen der durch die Charta festgelegten Grundsätze, zu vertreten suchen. Das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat, das den Großmächten ein Vetorecht einräumt, läßt eine echte richterliche Funktion des Rates nicht zu, ({22}) soweit die Großmächte selbst betroffen sind. Im übrigen verfügt der Rat auch nicht über wirksame Vollzugsorgane. Gerade darum kam es ja - ähnlich wie seinerzeit im Völkerbund - zu regionalen Zusammenschlüssen im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen. Sie haben sich gerade in den vergangenen Jahren als unentbehrlich erwiesen. Die Bundesregierung möchte gleichwohl jenen, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen selbstlos und verantwortungsbewußt der Lösung des Konfliktes annehmen, ihre besondere Anerkennung und ihren aufrichtigen Dank aussprechen. ({23}) Dieser Dank gilt vor allem dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Herrn Dag Hammarskjöld. ({24}) Er wie andere - ich erwähne etwa den General Burns - haben den Beweis dafür erbracht, welche Bedeutung dem menschlichen Einsatz einer lauteren Persönlichkeit auch im Rahmen einer Organisation zukommt, die auf Grund ihrer Statuten nicht mit der wünschenswerten Durchschlagskraft unmittelbar zu handeln vermag. Ich möchte nun einige Worte über den Besuch sagen, den ich zusammen mit dem Bundesminister des Auswärtigen vorgestern in Paris in Erwiderung eines Bonner Besuchs des französischen Ministerpräsidenten und des französischen Außenministers ({25}) abgestattet habe. Die Einladung zu diesem Besuch wurde bereits am 29. September in Bonn ausgegesprochen. Es entsprach dem gemeinsamen Wunsch der französischen und der deutschen Regierung, nach Abschluß des Vertrags über die Rückgliederung der Saar die deutsch-französischen Gespräche weiter fortzuführen und die engen freundschaftlichen Beziehungen, wie sie sich zum Nutzen beider Völker zwischen Frankreich und Deutschland entwickelt haben, zu vertiefen und auszubauen. Das Kommuniqué, das wir vorgestern nach Abschluß unserer Besprechungen in Paris veröffentlichten und das ich als bekannt voraussetzen darf, wird Ihnen gezeigt haben, daß dieser Zweck des Besuchs voll erfüllt wurde. ({26}) Vor dem Besuch wurden Stimmen laut, die sich fragend oder kritisch dahin äußerten, der Besuch sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht angebracht. Ich möchte annehmen, meine Damen und Herren, daß der Verlauf des Besuchs klar bewiesen hat, daß diese Befürchtungen nicht begründet waren. ({27}) Ich hatte mich zur Durchführung dieses Besuches entschlossen, um damit das vertrauensvolle Gespräch über alle Fragen, die unsere Völker berühren, fortzusetzen, und ich bedauere es nicht, den Entschluß auch durchgeführt zu haben. Ein offenes Gespräch zwischen Freunden, meine Damen und Herren, ist immer am Platze, ({28}) sei es dann, wenn die Auffassungen in den einzelnen Fragen übereinstimmen, sei es aber auch dann, wenn sie vielleicht einmal voneinander abweichen. Wie sollten denn die Völker zu einer echten und dauerhaften Verständigung kommen, wenn sie sich durch jede krisenhafte Entwicklung in der Welt davon abbringen ließen, die gegenseitige Freundschaft und das Verständnis füreinander zu pflegen! ({29}) Ich bin sehr befriedigt von den Gesprächen, die wir in Paris führen konnten und die bestimmt waren von dem Geiste einer rückhaltlosen Offenheit, aber auch von der Überzeugung von einer gemeinsamen Aufgabe. Wir haben unsere Auffassungen ausgetauscht, wir haben Ratschläge erteilt und Ratschläge entgegengenommen und damit die unerschütterliche Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, nie mehr gegeneinander, aber auch nicht nebeneinander zu wirken, sondern miteinander alle Anstrengungen zu unternehmen, unseren Völkern eine friedliche Zukunft zu sichern. ({30}) Ich bin besonders glücklich darüber, meine Damen und Herren, daß ich in den Stunden in Paris war, in denen die Entscheidung fiel, die vorgestern in den Abendstunden bekanntgegeben wurde: die Annahme der Vorschläge der Vereinten Nationen und die Feuereinstellung in dem tragischen Konflikt im Nahen Osten. ({31}) Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß die Ereignisse der letzten Wochen die Richtigkeit ihrer politischen Ziele und Vorstellungen mit kaum zu überbietender Eindringlichkeit bewiesen haben. ({32}) Darum war es auch unsere Absicht, mit unseren französischen Freunden über die zukünftige Zusammenarbeit zu sprechen. Seit Jahren bemüht sich die Bundesregierung, den letzten Zweifelnden von der Notwendigkeit einer engen und unverbrüchlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker zu überzeugen. Nur wenn wir dieses Ziel rasch und entschlossen verwirklichen, werden wir vor der Geschichte unserer Völker bestehen können. Wenn wir versagen, beschwören wir die Gefahr für unsere Völker herauf, daß wir uns einzeln in einem ausssichtslosen Kampf um die Freiheit verzehren und das Schicksal der Satellitenstaaten teilen, das uns - ich sprach schon davon - in der Tragödie des ungarischen Volkes mit so schauerlicher Eindringlichkeit vor Augen geführt wird. ({33}) Die französische und die deutsche Regierung waren sich völlig darüber einig, daß wir auf dem gemeinsam beschrittenen Wege weitergehen müssen. Wir wollen die europäische Zusammenarbeit mit allen, die dazu bereit sind, auf allen Gebieten, die sich dazu eignen, und in allen Formen, die sich dafür anbieten. In den Fragen des gemeinsamen Marktes und der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Atomenergie sind wir in Paris zu einer vollen Übereinstimmung gekommen, von der wir hoffen und wünschen, daß auch die übrigen an den Brüsseler Beratungen beteiligten Staaten sich ihr anschließen werden. Darüber hinaus hoffen wir, durch unsere Entscheidungen auch den Weg frei gemacht zu haben, der es Großbritannien ermöglicht, die von dem britischen Schatzkanzler MacMillan angekündigten Absichten eines Anschlusses Großbritanniens an eine europäische Freihandelszone zu verwirklichen. Mit den französischen Staatsmännern waren wir gerade auch angesichts der jüngsten Ereignisse darin einig, daß die bestehenden Bündnisgemeinschaften gefestigt und verstärkt werden sollten. Wo sich in der jüngsten Vergangenheit mangelnde Übereinstimmung oder gar Risse gezeigt haben, muß wieder eine ungestörte und reibungslose Zusammenarbeit hergestellt werden. Das gilt für die Westeuropäische Union, deren Ausbau wir wünschen, ebenso wie für die atlantische Gemeinschaft. Denn nur in dieser Gemeinschaft werden die europäischen Nationen zu der Kraftentfaltung fähig sein, die notwendig ist, um den uns allen drohenden Gefahren zu begegnen. ({34}) Darum haben die französische und die deutsche Regierung gemeinsam vorgeschlagen, die unverbrüchliche Solidarität zwischen den europäischen Mächten, zwischen den Mächten der atlantischen Allianz und allen Nationen der freien Welt zu festigen und sie durch regelmäßig wiederkehrende Zusammenkünfte der Minister der interessierten Staaten zu unterbauen. Wir hoffen, daß alle, die wir hiermit ansprechen, diese Bemühungen unterstützen werden, die nur das Ziel haben, den Frieden, die Sicherheit und die Freiheit aller zu gewährleisten. Das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten, deren Rolle in der atlantischen ({35}) Gemeinschaft und deren enge Verbindung mit Europa eine unentbehrliche Voraussetzung für die Erreichung dieses Zieles sind und bleiben. ({36}) Die Bundesregierung hofft dringend, daß die Vereinigten Staaten unter der Führung des Präsidenten, dem das amerikanische Volk soeben erneut sein volles Vertrauen bekundet hat, bereit sind, an dieser Festigung der politischen Zusammenarbeit mitzuwirken. ({37}) Diese Zusammenarbeit ist für Europa ebenso wichtig wie für die atlantische Gemeinschaft. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller dieser Staaten, die moralischen Werte zu kräftigen, die das Zusammenleben zwischen den Völkern dieser Welt bestimmen müssen. Es kann und darf nicht das Privileg der größeren Mächte sein, selbst darüber zu entscheiden, ob sie sich an Verträge und Vereinbarungen halten oder sie willkürlich brechen wollen, wenn machtpolitische oder ideologische Vorstellungen nach ihrer Auffassung das verlangen. Geschriebenes und ungeschriebenes Recht muß für alle gelten, ({38}) und, meine Damen und Herren, alle müssen gleichmäßig auf Anwendung von Gewalt verzichten. ({39}) Große und kleine Mächte müssen an diese Grundsätze gleichermaßen gebunden sein; sonst wird sich niemand daran gebunden fühlen. Wenn es das Vorrecht der größeren Staaten nicht sein darf, ihre Stärke dem Schwächeren gegenüber zu mißbrauchen, so darf es andererseits auch nicht dazu kommen, daß kleinere Staaten Verträge und Vereinbarungen im Vertrauen darauf brechen, daß die Großmächte in der heutigen Lage das Risiko kriegerischer Verwicklungen scheuen. ({40}) Recht und Gesetz müssen ausnahmslos für alle gelten; andernfalls verpflichten sie niemanden. ({41}) Die Bundesregierung glaubt, in der Vergangenheit nach diesen Grundsätzen gehandelt zu haben. Sie wird es auch in Zukunft tun, und niemand wird sie von diesem Wege abbringen können. Aber niemand wird auch von der Bundesregierung, die die Verantwortung für das ganze deutsche Volk trägt, erwarten dürfen, daß sie die harte Wirklichkeit über utopischen Vorstellungen vergißt ({42}) und ihre Entscheidungen von einem falschen Wunschglauben bestimmen läßt. ({43}) Das ganze deutsche Volk wird den Tag der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit nur erleben, wenn der Teil Deutschlands, der die Segnungen dieser Ordnung genießt, ihren Wert erkennt und bereit ist, ihn zu schützen und zu erhalten. ({44})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Haus hat die Erklärung der Bundesregierung entgegengenommen. Wir kommen zum zweiten Punkt der Tagesordnung, und ich eröffne die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Krone.

Dr. Heinrich Krone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001225, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich in den letzten Tagen in der Welt ereignete, braucht in seinem Ablauf in dieser Stunde nicht mehr aufgezeigt zu werden. Es hat sich zu tief und zu schmerzvoll in das Bewußtsein aller Völker eingegraben; es ist jedem von uns in seinen Spannungen so gegenwärtig, daß es unserer Generation nicht mehr aus dem Gedächtnis schwinden wird. Niemals seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist das deutsche Volk und die gesamte Welt so schwer erschüttert worden wie in diesen Tagen. ({0}) Durch die Völker ging die fragende Sorge nach dem, was morgen sein werde, und selbst in einer amtlichen Verlautbarung aus einem Nachbarland stand das Wort vom Vorabend des dritten Weltkrieges, ein Wort, das von den Menschen, die es lasen, nur als eine Bestätigung der eigenen großen Besorgnis aufgefaßt werden konnte. Als vorgestern die Nachricht von der bevorstehenden Waffenruhe am Suezkanal bekannt wurde, ging ein Aufatmen durch die Welt, und die Freude über diese Nachricht konnte einen Augenblick fast übersehen lassen, daß die russischen Panzer noch immer am Werke sind, dem ungarischen Volke die durch eigene Kraft wiedergewonnene Freiheit wider Menschen- und Gottesrecht erneut zu rauben. ({1}) Der Ernst der Lage, über die wir heute sprechen, ist allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses so sehr bewußt, daß die Verantwortung für jedes Wort, das heute hier gesagt wird, schwer auf uns liegt. ({2}) Zu keinem Zeitpunkt seit der Gründung der deutschen Bundesrepublik haben deutsche Politiker ihre Worte so sorgfältig abwägen, so gewissenhaft wegen der möglichen Folgen und Ausdeutungen überdenken müssen. ({3}) Die Fraktion der CDU/CSU hat deshalb diese Erklärung, die sich zu den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers rückhaltlos bekennt, auf wenige Gesichtspunkte beschränkt. Es ist eigentlich überflüssig, aber im Hinblick auf immer wiederkehrende Versuche, uns andere Absichten und Pläne zu unterstellen, notwendig, zu sagen, daß wir immer auf der Seite des Friedens und des Rechtes stehen werden. ({4}) Wir begrüßen jeden Schritt, der dem Frieden dient, und sind bereit, ihn mit unserer ganzen Kraft zu unterstützen. Noch nie sind so viele Werke des Friedens zu tun gewesen wie in unseren Tagen. Auch haben wir von unserer Seite den Verzicht auf jede Gewaltanwendung für die Lösung unserer ({5}) I deutschen Frage nicht mit irgendeinem Vorbehalt erklärt, ({6}) sondern in der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß Gewalt nur Unglück zeugt. ({7}) Wir sind glücklich darüber, daß Frankreich und Großbritannien die Waffen im Vorderen Orient zum Schweigen gebracht haben. Man hat von dem Zeitpunkt des englisch-französischen Eingreifens gesprochen und dabei darauf hingewiesen, daß dem brutalen Eingriff der Sowjets in den ungarischen Freiheitskampf kein besserer Vorwand hätte geboten werden können. Hier sind, so ungleich der Vergleich ist, ohne Zweifel den Sowjets Argumente in die Hände gefallen, und sie haben sich ihrer geschickt bedient, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von der ungarischen Tragödie abzulenken. ({8}) Doch mit Entschiedenheit wende ich mich gegen eine aus verschiedenen Kreisen kommende Parole, die Ungarn und Ägypten in einem Atem nennen möchte. ({9}) Die Menschen danken jedem, der für den Frieden arbeitet. Die Welt dankt denen, die in London und Paris, in Washington, bei den Vereinten Nationen und in vielen anderen Hauptstädten diesen Schritt zum Frieden getan haben. Wir Deutsche schließen uns diesem Dank aus vollem Herzen an. Ich danke aber auch dem deutschen Bundeskanzler und dem deutschen Außenminister. ({10}) Wir glauben zuversichtlich an eine Lösung der Suezkanalfrage, die sowohl den Rechten Ägyptens als auch den unbestreitbaren Ansprüchen und Interessen aller Schiffahrt treibenden Nationen entspricht, und wünschen, daß die Bundesregierung hieran auch weiterhin mitarbeitet. Lassen Sie mich aber eins hier noch einmal mit aller Deutlichkeit herausstellen. In Ägypten kehrt der Friede ein; über Ungarn jedoch weht der eisige Atem des Todes. ({11}) Wir dürfen uns durch nichts den Blick dafür trüben lassen, welche Kräfte heute in der Welt jede Gelegenheit wahrnehmen, um Unfrieden zu stiften und Haß zu säen, ({12}) statt sich in fairer, humaner Weise an der friedlichen Aufbauarbeit zu beteiligen. Wer in den Wetterwinkel der Weltpolitik Waffen liefert und die Verständigung zu hintertreiben sucht, den sollte kein Volk in irgendeinem Erdteil, auch nicht in Asien oder Afrika, als einen Freund und Helfer betrachten. ({13}) Der ist vielmehr der große Störenfried, der die wirtschaftliche und soziale Situation der hilfsbedürftigen Nationen benutzt, um sie auf die Seite des Unheils zu ziehen. ({14}) Aber auch das muß gesagt werden: Die hochentwickelten Industriestaaten der freien Welt sind heute zu einer ernsten Gewissenserforschung aufgerufen. Ich nehme davon die Bundesrepublik nicht aus. Auch wir sind zu langsam, zu sparsam, zu nachdenklich mit unserer Hilfe gewesen. Gerade wir Deutsche müssen für die Völker, die es wollen, etwas leisten, was den Leistungen entspricht, die die Vereinigten Staaten mit dem Marshallplan für uns vollbracht haben. ({15}) Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor dem großen Volk der Ungarn. Dort haben Kommunisten und Nichtkommunisten - welch beschämendes Bild für Pieck, Grotewohl, Reimann und Genossen! ({16}) Seite an Seite gekämpft, um das Joch einer Fremdherrschaft zu zerbrechen. ({17}) Diese nationale Erhebung droht in einer erschütternden Tragödie unterzugehen. Mit blutendem Herzen stehen wir dabei. Europa trauert um die Opfer eines herzergreifenden Freiheitskampfes. Ich spreche es mit tiefster Ergriffenheit aus: Wir haben eine Schicksalsstunde der Menschheit erlebt. Nun droht Ungarn wieder in die Finsternis zurückzusinken. Aber jeder von uns hat das Aufleuchten erlebt, und wenn es weiter im Blut erstickt werden sollte - wir wünschten, es geschähe nicht -: dieses Aufleuchten ist einmal dagewesen! Auf der Suezkonferenz in London hat der russische Außenminister in eindrucksvollen Worten das Bekenntnis abgelegt, daß die Souveränität eines Landes unantastbar sei. ({18}) Er hat sich gegen jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes ausgesprochen. In Ungarn kann die Sowjetregierung beweisen, daß es ihr mit solchen Worten ernst ist; sonst sind sie Phrase und Täuschung. ({19}) Mögen die sowjetrussischen Truppen Ungarn verlassen und die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung einer UNO-Truppe übergeben! ({20}) Mögen sie dasselbe in der Sowjetzone, in allen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang tun! ({21}) Dann beweist der Kreml, daß er wirkliche Demokratie und wirkliche Freiheit will. ({22}) Wenn nicht, dann weiß die Welt erneut, woran sie mit ihm ist. Es scheint uns die bedeutsamste Lehre des so grausam niedergeknüppelten ungarischen Freiheitskampfes zu sein, daß auch zehn Jahre kommunistischer Terrorherrschaft nicht ausgereicht haben, um ({23}) den Unabhängigkeitssinn des ungarischen Volkes zu töten. Wie kleinmütig haben wir gedacht, wenn wir von der Sorge beunruhigt wurden, die Freiheit könnte eines Tages für die der Freiheit entwöhnten Völker zu spät kommen. Die großen Ideale der Menschheit gehen auch in der grausamen Zone des Schweigens nicht unter. Irgendwann brechen sie hervor. Es mag geschehen, was da will, plötzlich blickt ein Volk zu den Sternen auf und findet wieder zu sich selbst zurück. Wir müssen uns auf diese Erkenntnis einstellen. Man spricht von dem Versagen der westlichen Welt. Wenn ein solches vorgelegen haben sollte, dann nicht deshalb, weil wir keine militärische Hilfe leisten konnten und durften. Unser eigentliches Versagen und vielleicht sogar eine echte Schuld bestehen darin, daß wir dem Ungestüm dieser Bewegung staunend zusahen, statt sie auf gewisse Realitäten hinzuweisen. Es ist nicht entscheidend, ob ein Satellitenstaat den Warschauer Pakt heute oder morgen kündigt und seine Neutralität erklärt. Entscheidend ist nur, daß eine Nation wieder einen eigenen Willen bildet, ihn im Rahmen des Möglichen betätigt, daß sie ihr Geschichtsbewußtsein zurückfindet und wiederum Nation wird. ({24}) Ich habe soeben dieses Gefühl der Ohnmacht erwähnt, das wir als Zuschauer der ungarischen Tragödie empfunden haben. Alles, was wir über Ungarn sagen, bleibt leere Deklamation, wenn wir uns mit dem Erlebten als etwas Unvermeidlichem abfinden. Von den verschiedenen Kausalzusammenhängen, die in den letzten Tagen konstruiert worden sind, hält nach meiner Auffassung nur einer der kritischen Nachprüfung stand: Der Überfall auf das zur Freiheit aufgestandene Ungarn ereignete sich im Augenblick einer ernsten Krise der westlichen Welt. ({25}) Der Aggressor konnte die zeitweilige Uneinigkeit und Schwäche des Westens benutzen. Das war der Moment, wo in Ungarn das Unglück seinen Lauf nehmen konnte. Dieser Schwächezustand darf jetzt als überwunden angesehen werden. Nicht zuletzt bedeutet auch der große Wahlsieg Präsident Eisenhowers, daß der Westen endlich wieder aktionsfähig ist. Nun müssen wir das Eisen schmieden. Es darf auf westlicher Seite in Europa keine Alleingänge mehr geben. ({26}) Unsere Sicherheit, auch die Berlins, beruht auf den Verträgen. Auch die Kritiker können an dieser Tatsache in diesen Tagen nicht achtlos vorbeigegangen sein. ({27}) Der Streit um die militärische Verteidigung der Bundesrepublik kann und muß heute als überholt angesehen werden. ({28}) Wir sind in dramatischer Weise belehrt worden, daß es nicht nur die Gefahr eines atomaren dritten Weltkrieges gibt. ({29}) Ebenso deutlich lehren die Ereignisse, daß militärische Ohnmacht die Gefahr einer wenn auch begrenzten Aggression nur erhöht. ({30}) Die Anwendung brutaler Gewalt unterbleibt um so sicherer, wenn sie auf ein zur Verteidigung entschlossenes und dazu technisch vorbereitetes Volk trifft. ({31}) Wir haben die Möglichkeit europäischer Kriege mit herkömmlichen Waffen in so erschreckender Weise vorgeführt bekommen, daß es darüber keine Diskussion mehr geben kann. ({32}) Erlauben Sie mir auch ein Wort über unser Verhältnis zu Sowjetrußland. Es hat weder uns noch irgendeinem anderen genützt, sondern nur geschadet und furchtbare Folgen gehabt, daß in der letzten Zeit so viele Illusionen aufkommen konnten. ({33}) Die Zeit der Illusionen sollte vorbei sein. ({34}) Die Sowjetunion ist in Europa als Aggressor aufgetreten. Sie hat ein freiheitlich gesonnenes Volk niedergeschlagen, ein Volk, mit dem unser deutsches Volk durch jahrhundertealte Traditionen, auch des Blutes, verbunden ist. Diese Tatsache wirft einen bösen Schatten auf die von uns ehrlich aufgenommenen Bemühungen um eine Besserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Vielleicht lernen aber auch die Sowjets aus der in den Satellitenstaaten entstandenen Bewegung. Wenn sie Realpolitik treiben wollen, dann müssen sie endlich von der Erkenntnis ausgehen, daß das deutsche Volk weder hier im Westen noch in der Zone jemals kommunistisch wird. ({35}) Die Politik muß trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen weitergehen. Und das ist wirkliche Politik: dramatische Auseinandersetzungen zwischen den Völkern vermeiden. Wir haben, wenn wir nach Osteuropa schauen, allen Grund zu der festen Überzeugung, daß die ungarische Tragödie andere Völker, die sich in derselben Lage wie Ungarn befinden, nicht davon abschreckt, in einer langsamen und steten Entwicklung zur Freiheit zurückfinden. Dieser Prozeß setzt sich durch. Kein Verantwortlicher war in diesen Tagen so vermessen, die Deutschen in der Zone zum Aufstand aufzurufen. Er hätte sie in die sowjetischen Panzer hineingetrieben. Nichts wäre falscher, als gerade der stillen, täglich geübten Tapferkeit, mit der jene 18 Millionen zur unauslöschlichen Tradition der. Heimat stehen, die Anerkennung zu versagen. ({36}) Das gilt auch für die Berliner auf beiden Seiten des Brandenburger Tores, deren unbeugsamer Selbstbehauptungswille immer unsere Bewunderung findet. ({37}) Das ist der moralische Rückhalt für unsere Bemühungen um die Zustimmung der Siegermächte zu einer Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit. Ich sage es heute noch einmal mit besonderer Betonung: Wiedervereinigung nicht nur in Freiheit, sondern auch in Frieden, nicht als ein Akt der Gewalt, sondern der Politik; Wiedervereinigung ohne Blutvergießen, ohne Rache, ohne Vergeltung, eine Wiedervereinigung in Freiheit und in Frieden. ({38})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Mellies.

Wilhelm Mellies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen Bundestages habe ich folgende Erklärung abzugeben. Durch die Kämpfe in Ungarn und im Nahen Osten ist die Welt in den verflossenen Tagen in einem ungeheuren Maße erschüttert worden. Die Tatsache der Tausende von Toten, der aber Tausende von Verwundeten, der Hungernden und der Flüchtlinge, sie hat uns alle im Innersten aufgewühlt. Leider sind aber offenbar an beiden Stellen die Kämpfe noch nicht abgeschlossen, und noch immer gibt es Tote und Verwundete. Durch diese Auseinandersetzungen ist der Frieden in der Welt aufs äußerste gefährdet worden. Es muß bei einer Betrachtung der Dinge heute die Aufgabe sein, eine politische Wertung vorzunehmen, um daraus die Folgerungen für die künftigen politischen Notwendigkeiten zu ziehen. Die furchtbare Tragödie in Ungarn wird insbesondere unter zwei Gesichtspunkten politisch zu werten sein. Erstens ist die eisige Rücksichtslosigkeit zu sehen, mit der sich die Sowjetunion unter Verletzung aller Grundsätze des Völkerrechts und der Menschenrechte bestrebt zeigt, ihren Machtbereich zu behaupten, wie sie in einer durch militärische Blöcke geteilten Welt den eigenen Sicherheitswillen zur Geltung bringt. Zweitens ist die Unmöglichkeit eines bewaffneten Beistandes zu erkennen, weil ein militärisches Eingreifen den Krieg, den dritten Weltkrieg, der ein Krieg der Atomwaffen, der Wasserstoffbomben sein würde, 'bedeuten müßte. ({0}) Ein solcher Krieg aber wäre keine Hilfeleistung, keine Rettung der Freiheit und keine Behebung der Not. ({1}) Ein solcher Krieg wäre das absolut ungeeignete Mittel, die Probleme zu lösen. Er hätte nur den Untergang aller und wahrscheinlich die Vernichtung der Menschheit zur Folge. Auch ein Höchstmaß der Rüstung in den Ländern, die zu den westlichen Militärpakten gehören, könnte das ergreifende Schicksal Ungarns auf diese Weise nicht wenden. ({2}) Aus dieser Situation, die geschichtlich noch niemals da war und die erst durch die Atombomben bewirkt wurde, eröffnet sich nur ein einziger Ausweg: Alle Anstrengungen müssen gemacht werden, um die Spannungen in der Welt abzubauen. ({3}) Das kann aber nur durch eine größtmögliche Stärkung der Vereinten Nationen geschehen. Sie sind das Weltsystem der kollektiven Sicherheit. Spannungen sind doch nur der Ausdruck ungelöster Fragen und der daraus abgeleiteten Sicherheitsbedürfnisse. Man kann und darf deshalb gerade in dieser entscheidenden Stunde um des Friedens willen nicht resignieren. ({4}) Man darf sich auch nicht mit der Meinung abfinden, die Vereinten Nationen seien nicht in der Lage zu helfen. Die Vereinten Nationen, ihre Grundsätze und ihre Autorität sind die letzte Hoffnung der geängstigten Welt, die letzte Hoffnung der Völker, die auf Frieden und Freiheit bedacht sind. Darum muß alles geschehen, um ihre Autorität zu stärken und ihr System der kollektiven Sicherheit auf vielfältige Weise effektiver zu machen, z. B. durch die friedlichen Mittel der Rüstungsbegrenzung und der Rüstungskontrolle sowie gegebenenfalls durch die Bildung einer internationalen Exekutive. ({5}) In dieser Stunde muß aber die Sowjetunion daran erinnert werden, daß sie am 30. Oktober 1956 eine Erklärung abgegeben hat, in der sie zum Ausdruck gebracht hat, daß die gegenseitigen Beziehungen der Staaten in ihrem Machtbereich nur auf den Grundsätzen der völligen Gleichberechtigung, der Achtung der territorialen Unverletzlichkeit, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der gegenseitigen Nichteinmischung aufgebaut sein sollen. Die Sowjetregierung hat in dieser Erklärung selbst zugegeben, daß es in diesen Beziehungen in der Vergangenheit zahlreiche Schwierigkeiten ungelöster Aufgaben und wirkliche Fehler gegeben habe. Sie hat daran erinnert, daß der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion diese Verletzungen und Fehler ganz entschieden verurteilt habe. Angesichts der blutigen Ereignisse in Ungarn wird sich die Sowjetregierung von dem schweren Verdacht reinigen müssen, daß sie diese Erklärung nur zur arglistigen Täuschung des ungarischen Volkes veröffentlicht hat. ({6}) Sie muß jetzt durch die Tat bekunden, daß ihre Versicherungen mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse. ({7}) Meine Damen und Herren, wir beklagen es sehr, daß die westlichen Demokratien gerade in dem Augenblick, in dem das ungarische Volk der moralischen Unterstützung aller freiheitliebenden Völker sicher sein mußte, durch die unselige Aggression im Nahen Osten gelähmt wurden. ({8}) Man kann die Handlungsweise der britischen, der französischen und der israelischen Regierung gegenüber Ägypten nicht bloß als Intervention von Streitkräften bezeichnen, ({9}) sondern man muß sie beim wirklichen Namen nennen: was sich dort abspielte, war Krieg! ({10}) Damit ist die freie Welt in Gefahr geraten, sich selbst unglaubwürdig zu machen. ({11}) Es ist mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar, daß einzelne ihrer Mitglieder, die sich dem Völkerrecht und der Demokratie verpflichtet haben, der Charta der Vereinten Nationen zuwiderhandeln und die Empfehlungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen mißachten. ({12}) Über eine bloße Absage an die Gewalt hinaus muß der entschlossene Wille des deutschen Volkes bekundet werden, jede Angriffshandlung für unbe({13}) dingt verwerflich zu erklären und jedem Beginn eines Krieges, der keine reine Verteidigung ist, mit schärfster Mißbilligung zu begegnen. ({14}) Daher müssen wir alle Bemühungen der Vereinten Nationen um die Wiederherstellung des Friedens mit ganzer Kraft unterstützen. In diesem Augenblick aber, meine Damen und Herren, kommt es darauf an, ein höchstes Maß an Hilfe zur Unterstützung der Opfer der Ereignisse und zur Heilung der Wunden zu leisten. Über die unmittelbare Hilfstätigkeit hinaus sollte die Organisation für europäische Zusammenarbeit ihre Dienste anbieten und uneigennützig zum Wiederaufbau in Ungarn und im Nahen Osten beitragen. ({15}) Wir erwarten und fordern von der Bundesregierung, daß sie ihren Einfluß auf diese Organisation geltend macht, damit Wege gefunden werden, die einen solchen Beitrag ermöglichen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte und sollte der Anfang zu einer Änderung im Verhalten der west- und osteuropäischen Staaten zueinander sein, ungeachtet der Unterschiede der politischen und sozialen Systeme dieser Staaten. Darüber hinaus könnte und sollte Deutschland als ein Land der europäischen Mitte dazu beitragen, in den gegenseitigen Beziehungen neue Verhältnisse zu schaffen. Wir sagen das gerade angesichts der schweren Belastung, die unser eigenes Land durch die Fortdauer seiner Spaltung noch zu tragen hat. Die Teilung Deutschlands ist eine dauernde Gefahr für den Frieden. Deshalb kann in einer Stellungnahme zu den Ereignissen in den letzten Wochen an dieser Frage nicht vorbeigegangen werden. Es wäre aber widerspruchsvoll, eine Lösung der deutschen Frage von dem Ausbau der westlichen Militärpakte zu erwarten. ({16}) Wenn die Fortdauer der Teilung Deutschlands eine wirkliche Gefahr ist, kann nicht durch die Einbeziehung der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt und die Westeuropäische Union die Spaltung Deutschlands behoben und damit die Gefahr beseitigt werden. ({17}) Wenn es auch nach der Auffassung der Regierung die Teilung ist, durch die uns Gefahr droht, kann ein wirklicher Schutz auch nur des westlichen Teils Deutschlands durch den Ausbau einer Militärallianz nicht erreicht werden. Die Teilung muß überwunden werden, damit die Gefahr beseitigt wird; ({18}) aber die Teilung kann nicht überwunden werden, wenn die Bundesrepublik Mitglied der NATO und der Westeuropäischen Union bleibt. ({19}) Meine Damen und Herren, es muß in dieser Stunde klar erkannt werden: aus diesem Widerspruch muß die deutsche Politik endlich durch eine Neuorientierung herausgeführt werden. ({20}) Es kommt darauf an, im Rahmen der Vereinten Nationen durch ein kollektives Sicherheitssystem in Europa die Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt erst zu ermöglichen. Das ernstliche Bemühen, alsbald ein solches europäisches Sicherheitssystem unter Mitwirkung Amerikas und auch der Sowjetunion aufzubauen, ist der friedliche Weg, urn den durch Verhandlungen gerungen werden muß. Es kommt jetzt darauf an, die militärischen Paktsysteme der vergangenen Jahre und die Art der zwischenstaatlichen Beziehungen ernstlich zu überprüfen. Das ist um so mehr notwendig, als es sich gerade in diesen Wochen gezeigt hat, daß die Militärpaktsysteme beider Seiten sich in einer Krise befinden. ({21}) Unmöglich wäre der Versuch, sie durch Intensivierung alter Methoden wieder zu beleben. ({22}) Notwendig und zukunftsträchtig allein ist die schrittweise Änderung des Paktsystems beider Seiten, des Warschauer Paktes und auch des Atlantikpaktsystems. ({23}) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist deshalb mit der Bundesregierung darin einverstanden, daß die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion nicht abreißen dürfen, sondern stärker ais bisher gepflegt werden müssen. Es geht bei diesen Beziehungen nicht darum - lassen Sie mich das mit Nachdruck betonen -, der Sowjetunion gefällig zu sein oder die von ihr geschaffenen Tatsachen anzuerkennen. Nein, es handelt sich hier um einen Dienst an Deutschland, um einen Dienst an den Menschen in der Zone und letzten Endes um ein Werk des Friedens. ({24}) Ein verstärkter und unmittelbarer Gedankenaustausch mit der Regierung der Sowjetunion, der selbstverständlich stets in engstem Kontakt mit unseren westlichen Freunden vorgenommen werden muß, ist sicher kein Imstichlassen Ungarns. Jeder Schritt zu einer Entspannung in Mitteleuropa, eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und die Sicherung des Friedens durch ein europäisches Sicherheitssystem bringen auch eine Erleichterung für das ungarische Volk. ({25}) Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sah sich Ende voriger Woche veranlaßt, dem Herrn Außenminister ihre Bedenken über die geplante Reise des Bundeskanzlers nach Paris vorzutragen. Wenn der Herr Bundeskanzler vorhin in seiner Erklärung zum Ausdruck gebracht hat, daß der Erfolg des Besuchs diesen rechtfertige, so müssen wir allerdings sagen, daß er sich damit nach unserer Auffassung in einem Irrtum befindet. ({26}) Die schwierige Lage des um seine Wiedervereinigung in Freiheit ringenden gespaltenen Deutschlands sollte die Bundesregierung veranlassen, jede Tuchfühlung mit irgendeiner Aggression, wo immer sie auch stattfindet, peinlich zu vermeiden. ({27}) ({28}) Wir müssen deshalb nach wie vor bedauern, daß der Herr Bundeskanzler daran festgehalten hat, den Plan seines Besuchs in Paris zu einem so unglücklichen Zeitpunkt auszuführen. Es muß dadurch der Anschein erweckt werden, daß sich die Bundesregierung von der kriegerischen Aktion Frankreichs gegen Ägypten nicht deutlich distanziert, sondern sie unter Umständen sogar bejaht. ({29}) Es geht, meine Damen und Herren, in solchen Augenblicken in der Politik nicht nur um die Frage eines offenen Gesprächs zwischen Freunden, sondern es geht auch darum, welcher Eindruck durch einen solchen Besuch bei den friedliebenden Völkern der Welt hervorgerufen wird, wenn der Freund zum Aggressor geworden ist. ({30}) Eine enge Gemeinschaft mit Frankreich wird von uns allen gewünscht. ({31}) Aber es war nach unserer Auffassung nicht der geeignete Augenblick, die Gemeinschaft mit Frankreich in dieser Weise zu betonen. ({32}) Es wäre statt dessen richtiger gewesen, von der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen, daß eine Solidarität die unbedingte Vermeidung bewaffneter Angriffe sowie die Achtung vor den Beschlüssen der Vereinten Nationen voraussetzt. ({33}) Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß an dem Tage des Besuchs die Anordnung zur Einstellung des Feuers gegeben wurde, soll offenbar auch benutzt werden, um eine gewisse Legendenbildung zu erreichen, die dem Volke sagt, daß der Besuch des Bundeskanzlers diesen Abschluß ermöglicht habe. ({34}) Wenn der Herr Bundeskanzler auf eine Frage der französischen Regierung den Rat gegeben hat, das Feuer einzustellen, so ist das doch nur das, was jeder Staatsmann und Politiker, der die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahren wollte und dem es um die Erhaltung des Friedens ging, getan hätte. ({35}) - Meine Damen und Herren, wir haben ja von uns aus nicht gewünscht, eine solche Auseinandersetzung zu führen. Sie ist von Ihnen begonnen worden. ({36}) Wer sich aber die Situation vom 6. November vor Augen führt, weiß, daß die Regierungen von Frankreich und England auch bei einem gegenteiligen Rat kaum in der Lage gewesen wären, eine andere Entscheidung zu fällen, als sie tatsächlich gefällt worden ist. ({37}) Meine Damen und Herren, der Abschluß des Waffenstillstandes ist in viel stärkerem Maße Kräften zu verdanken, die sich hingebend zu einer Zeit um den Frieden bemühten, als die Bundesregierung sich noch jeder Stellungnahme enthielt ({38}) und sich gegenüber dem Konflikt im Nahen Osten in tiefstes Schweigen hüllte. Beigetragen zu dem erfolgreichen Waffenstillstand hat zunächst das überraschend schnelle und energische Handeln der Vereinten Nationen, insbesondere der Beschluß hinsichtlich der Aufstellung einer internationalen Polizei. ({39}) Weiter hat die Weltöffentlichkeit, die sich fast überall klar und deutlich gegen die Angreifer gestellt hat, so daß diese sich in einer fast völligen Isolierung befanden, den Abschluß des Waffenstillstandes gefördert. Die britische Arbeiterpartei hat durch ihren harten Widerstand im Parlament und durch ihre Aufklärung in der Bevölkerung entscheidend dazu beigetragen, daß die englische Regierung dem Waffenstillstand geneigt wurde. ({40}) Und letzten Endes sollte man auch die Bemühungen des indischen Ministerpräsidenten Nehru und der Schweizerischen Bundesregierung nicht vergessen, die ihre guten Dienste angeboten haben, um den Konflikt zu beenden. ({41}) Meine Damen und Herren! Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns gezeigt, in welche Gefahr die Welt gestürzt werden kann durch Regierungen, die die Freiheit, die Menschenwürde und die Selbstbestimmung der Völker nicht achten, ({42}) und durch Regierungen, die der Auffassung sind, daß Streitigkeiten zwischen den Völkern auch heute noch mit Waffengewalt ausgetragen werden könnten und müßten. ({43}) Diese Erschütterungen, die wir alle mit größter innerer Anteilnahme erlebt haben, stellen die Politik und vor allem die deutsche Politik vor neue Aufgaben. Die Haltung der Bundesregierung und die heute abgegebene Erklärung berechtigen uns leider nicht zu dem Vertrauen, daß die Bundesregierung die für eine Neuorientierung notwendigen Schritte tun wird. Nicht das Herumflicken an alten Projekten, sondern das Bemühen um neue, reale Lösungen, die den Frieden sichern, ist das Erfordernis für die deutsche Politik ({44}) und auch für die Politik aller Regierungen, die eine friedliche Entwicklung wollen. Wir neigen uns heute vor den Opfern der blutigen Ereignisse in den letzten Wochen. Wir übernehmen damit zugleich die Verpflichtung, den deutschen Beitrag für die Befriedung der Welt zu leisten. Dieser Aufgabe müssen wir jetzt unseren Blick zuwenden. ({45})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dehler.

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000364, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung ist ein Meisterstück. Hätte ich doch einen winzigen Teil der Unbekümmertheit, der Selbstsicherheit, der - darf ich sagen? - Selbstgerechtigkeit ihres Verfassers! Immerhin, es ist manches, es ist viel geschehen. Das Vertragssystem, das die Grundlage unserer politi({0}) sehen Existenz sein soll, hat schon seine erste Belastungs- und Bewährungsprobe nicht bestanden. ({1}) Zwei Mächte, die sich vor knapp zwei Jahren in feierlichen Erklärungen uns gegenüber verpflichtet haben, ihre Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen, auf daß der Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, sich der Gewaltandrohung gegen die Unversehrtheit irgendeines Staates zu enthalten, brechen ihr Wort, ({2}) setzen Gewalt, tun es, ohne ihre Vertragspartner zu befragen, ohne sich mit einem Worte bei ihnen zu rechtfertigen. Der Grundsatz von Treu und Glauben im Verkehr der Völker, das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts als Grundlage der Ordnung der Völker und zwischen den Völkern werden erschüttert. Bomben fallen auf Unschuldige: Frauen, Männer und Kinder. Ein wertvolles Volk, das der Ungarn, zerfleischt sich im Bruderkampf, ({3}) verfehlt wieder einmal seine geschichtliche Stunde, wird das Opfer sowjetischer militärischer Aggression. ({4}) - Ich glaube, Sie sollten warten, bevor Sie Pfui rufen. ({5}) Die freie Welt sieht diesem bitteren Schicksal tatenlos zu, muß ihm tatenlos zuschauen. Man traut seinen Ohren nicht, was die Bundesregierung dazu und zu dem, was die Welt tief bewegt und wandelt, zu sagen hat: „die unverbrüchliche Solidarität zwischen den Mächten festigen" -, „wir zweifeln nicht, daß alle Staaten ohne Vorbehalt diese Bemühungen unterstützen werden" -, „Frieden, Sicherheit, Freiheit; alle müssen auf die Anwendung von Gewalt verzichten". - Die Bundesregierung und ihre Politik sind ohne Fehl und Tadel und über alle Zweifel erhaben. Die letzten Wochen, so hören wir, haben die Richtigkeit der politischen Ziele und Vorstellungen der Bundesregierung mit größter Deutlichkeit - so, glaube ich, hieß es - bewiesen. Haben die Richtigkeit der Politik der Bundesregierung bewiesen! ({6}) Und niemand, so hören wir, wird sie von ihrem bisherigen Wege abbringen. ({7}) Kein Wort der Kritik, auch kein Wort der Selbstkritik, ({8}) kein Wort über den Vertragsbruch Edens und Mollets, ({9}) aber Deklamationen über unverbrüchliche Vereinbarungen! ({10}) Durch das Bundeshaus geht eine Mär: Frankreich und England, die ihr Verhalten mit keinem Wort berichtigt haben, haben unserem Regierungschef zuliebe, als er an die Seine fuhr, die Waffen am Nil schweigen heißen. ({11}) Meine Damen und Herren, wir hören mit Erschütterung: die Waffen schweigen gar nicht, auch nicht am Nil. ({12}) Armes deutsches Volk, ({13}) das nicht weiß - -. Ach, Herr Hilbert, ich dränge mich nicht zur Führung! ({14}) Wer tut das? ({15}) - Ach, Herr Scharnberg, Sie haben keinen Anlaß zu diesen Gesten, einer der Totengräber der deutschen Demokratie. ({16})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Der Redner ist hier oben nicht zu verstehen.

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000364, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage: Armes deutsches Volk, das nicht weiß, in welche Gefahren es - nun, ich will milde sein - durch eine eigenwillige Politik geführt wird, an welchen Abgründen es vorbeitaumelt, ({0}) in welchem Maße ihm die wahre Lage, die richtigen Zusammenhänge, die eigentlichen Antriebskräfte des politischen Geschehens verborgen gehalten werden. ({1}) Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, ist ein tiefer Einschnitt in die Nachkriegspolitik, ein zwingender Anlaß zum kritischen Rückblick, zu immer neuem Durchdenken der Grundlagen unserer politischen Existenz. Es wird uns der Rat gegeben, nicht in die Vergangenheit zu schauen, nur die gegenwärtige Lage zu bedenken und daraus die notwendigen Schlüsse für das Handeln in der Zukunft zu ziehen. Ich sage: wehe einem Volk, das nicht dauernd überprüft, ob es auf dem rechten Wege ist, das mit verschlossenen Augen in die Zukunft geht, das nicht gewillt ist, aus Fehlern zu lernen. ({2}) Schmerz, Trauer, Sorge, Scham über das, was geschehen ist, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war und ist, erfüllt uns. Eine dunkle Nacht der Geschichte hat sich auf uns gesenkt. Wir gedenken in dieser Stunde in Ehrfurcht aller jener, die für Freiheit und Recht - für die Freiheit und das Recht des Menschen und für die Freiheit und das Recht ihres Volkes - gestritten, gelitten und ihr Leben geopfert haben. Wir klagen in schwerem Vorwurf alle jene an, die Freiheit und Recht des Menschen, die Freiheit und Recht der Völker mißachtet und verletzt haben, die Schuld tragen an der Passion des ägyptischen und des ungarischen Volkes. ({3}) ({4}) ' Herr Bausch, ich werde gern auch ein Wort über Herrn Nasser sagen. Aber wäre es nicht richtiger, Sie würden es mir überlassen, wann ich es sage, Herr Bausch? ({5}) Das Schicksal Ungarns berührt uns tief. Die Jahre 1848 und 1849 werden uns wieder bewußt, als 1849 Seine Apostolische Majestät Franz Joseph I. die russische Armee gegen den ungarischen Freiheitswillen ins Land rief. ({6}) Sie warfen die Freiheitskämpfer in den Kerker, brachten sie an den Galgen und peitschten ihre Frauen aus. Petöfi klagte mit wirren Haaren: Aus der Stirn blutend steht in dem Sturm der Ungar ganz allein. Wär' nicht als Ungar ich geboren, zu diesem Volk stünd ich zur Stund'; denn es ist ganz verlassen, so verlassen wie keines der Völker auf dem Erdenrund. „So verlassen"! Wir müssen ihm helfen, wo und wie wir es nur können, so wie wir allen Opfern des Unrechts helfen sollen - auch den Ägyptern; Menschlichkeit ist nicht teilbar ({7}) aus dem edlen Geist des Roten Kreuzes, dem ich mich tief verbunden fühle und dem zu danken unsere Pflicht ist. Und eines weiß ich, wissen wir: der Impuls der Freiheit, der in Ungarn lebendig war, wird nicht erschlaffen. Die Regierungserklärung macht sich das Urteil über das Geschehen einfach, zu einfach. Die Vorgänge, ihr Ablauf, die Einflüsse von außen, das Gegeneinander der Parteien und Gruppen, ach, das ist doch alles viel zu vielschichtig, als daß es ein selbstgerechtes und hartes Urteil vertrüge. Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen]: Wer hat das denn getan? - Das hat keiner getan!) Das Verhalten Rußlands gegenüber Ungarn widerlegt im doppelten Sinne die unheilvolle Vorstellung von der Politik der Stärke. ({8}) Als die Weltpresse das Einlenken der Sowjets und die Bereitschaft Mikojans, die Rote Armee aus Ungarn abzuziehen, als Schwäche darstellte, als man von dem geschlagenen Haufen der russischen Armee sprach, ({9}) da wurde wieder die Politik der Stärke demonstriert ({10}) zum Verhängnis Tausender und aber Tausender. ({11}) Und so, nur so sieht die Politik der Stärke aus. ({12}) Politik der Stärke ist Politik der Gewalt. ({13}) Wer sie will, wird die gleiche blutige Ernte haben, wie wir sie in Ungarn sehen. ({14}) Die Dinge hätten anders laufen können. Eine Entwicklung ist deutlich geworden: Was in Jugoslawien begonnen hat, ich glaube, das ist das Gesetz für alle europäischen Staaten des Ostens. Auf jeden Fall, Sowjetrußland muß das wissen: diese europäischen Staaten beugen sich auf die Dauer keinem diktatorischen Zwang von außen. Sie drängen zur nationalen Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Sie wollen die Form ihrer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft selbst bestimmen. Uns ist, meine ich, bewußt geworden, wie europäisch diese Völker sind, wie sehr sie zu uns gehören. Was möglich ist, haben wir in Polen erlebt, als Chruschtschow mit seinen Generälen unverrichteter Dinge von Warschau abzog, als er die Kriegsschiffe vor Danzig und Gdingen abrief und die Truppen bei Braunberg und Lodz über die Grenzen zurückzog. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden: Die Vorstellungen der Freien Demokraten von dem Wesen des Rechtsstaates, der Freiheit der Persönlichkeit, der Freiheit als wirkender Kraft in der Wirtschaft sind den Vorstellungen dieses integrierten Sozialismus konträr entgegengesetzt. Wir sagen mit allem Ernst: Rußland muß, wenn es Achtung gewinnen will, der Aufforderung der Vereinten Nationen, die Kampfhandlungen in Ungarn einzustellen, folgen. Nur dann können seine Erklärungen volles Gewicht bekommen. ({15}) Die Bundesregierung versucht auch nicht einmal eine Analyse der Lage. ({16}) Manchmal frage ich mich, warum wir wohl diese Blocks des Auswärtigen Amts, diese Blocks des Presseamts mit ihren Hunderten und aber Hunderten ({17}) von Zimmern und von Beamten haben, wenn nicht einmal versucht wird, zu deuten, zu klären, aufzuzeigen, was in der Welt, was hier vorgeht, welche Kräfte am Werk sind, ({18}) woher sie kommen, wohin sie gehen. ({19}) Die Regierungserklärung bleibt uns damit alles schuldig, was von einer außenpolitischen Erklärung einer Regierung gefordert werden muß. ({20}) Die Deklaration der Regierung der Union der Sowjetrepubliken vom 30. Oktober - Herr Kollege Mellies hat sie schon erwähnt - über die Grundlagen der Entwicklung und Festigung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn ({21}) zu deuten, zu werten versucht. Sie ist mitten in den letzten dramatischen Ereignissen veröffentlicht worden. Muß man nicht versuchen, zu bewerten, was die Sowjetregierung hier gesagt hat, ({22}) und kommentieren und Folgerungen daraus ziehen? Immerhin - das muß man wissen -: was die Sowjetregierung im Laufe der letzten Jahre gesagt hat, ({23}) war bedeutungsvoll - Herr Sabel, schütteln Sie den Kopf! -, war bedeutungsvoll, ob man es hinnahm oder nicht. ({24}) Es waren Willenserklärungen, die ihr Gewicht hatten. Und der Herr Bundeskanzler bringt es fertig, hier aufzutreten und von dieser bedeutsamen Erklärung in dieser aufgewühlten Periode keine Notiz zu nehmen, kein Wort darüber zu sagen, sie nicht zu erwähnen, uns seine Meinung vorzuenthalten! Meine Damen und Herren, ich stelle mir Außenpolitik und das Verhältnis einer Bundesregierung zum Parlament, das die Verantwortung für das Schicksal von fünfzig und siebzig Millionen Menschen trägt, anders vor. ({25}) In dieser Deklaration wird erklärt, daß die Sowjetregierung die Politik der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen allen Staaten, besonders natürlich mit den sozialistischen Staaten, will. Die Sowjetunion erkennt das Prinzip der vollen Gleichberechtigung, ({26}) der Achtung der territorialen Integrität, der Unabhängigkeit, der Souveränität, ({27}) der Nichteinmischung an. ({28}) - Herr Albers, haben Sie denn diese Deklaration gelesen? ({29}) Sie haben Ihre Verpflichtungen als Abgeordneter nur erfüllt, wenn Sie sie nicht nur gelesen, sondern wenn Sie sie eingehend gewogen haben. ({30}) - Ich glaube, - -({31}) - Warten Sie! Sie sind ja so ungeduldig. ({32}) Eine der wesentlichen christlichen Tugenden ist doch die Nachsicht, die Toleranz, die Langmut. ({33}) Immerhin, meine Damen und Herren, diese Deklaration lehnt die Irrtümer und Fehler Stalins ab, mit aller Schärfe ab, und - richtig, was Sie sagen ({34}) sie erkennt die historische Vergangenheit - -. Ach, Frau Helene Weber, Sie wissen doch: seit acht Jahren sind wir in Freundschaft verbunden, ({35}) in einem vertrauensvollen Gespräch, von dem in der Erklärung der Bundesregierung ja so schön gesprochen wird. In der Deklaration der Sowjetregierung werden die historische Vergangenheit und die Besonderheit jedes Landes als zu berücksichtigende Momente anerkannt. ({36}) - Warten Sie doch! ({37}) Die Sowjetregierung erklärt sich bereit, die Stationierung ihrer Truppen in Ungarn, Rumänien und Polen zu überprüfen, sie nur im Einverständnis mit der beteiligten Macht dort zu halten, über die Zurückziehung der Truppen aus Ungarn zu verhandeln. Ob ich glaube oder nicht? Sie wissen ja, ich heiße Thomas und bin deswegen nicht verpflichtet zu glauben. ({38}) Aber meine Damen und Herren, Politik heißt, die Russen beim Worte nehmen, bei ihrem Worte nehmen. ({39}) Die Sowjetunion - nun werde ich Ihnen etwas sagen, was Ihnen gefällt, vielleicht finde ich sogar einmal ihre Zustimmung - muß erkennen, daß ihre Politik der letzten zehn Jahre den Gegebenheiten nicht mehr entspricht. ({40}) Sie kann nicht mehr über Satelliten verfügen, ({41}) sie kann nicht mehr die Divisionen der Oststaaten zu ihrer Macht addieren. ({42}) Auch ihre Politik der Stärke, auch die Politik der Stärke der Sowjetunion versagt. ({43}) In einem hat die Regierungserklärung recht: Es wäre verfehlt und eine gefährliche Vereinfachung der Problematik, die Folgen der Politik der letzten Zeit auf den verschiedenen Schauplätzen der Welt isoliert zu betrachten. Das ist ja die schöne Einleitung in der Erklärung der Bundesregierung, die allerdings, glaube ich, auf den Seiten 4 und 5 vergessen worden ist. ({44}) ({45}) Darf ich noch einmal wiederholen: Es wäre verfehlt und eine gefährliche Vereinfachung der Problematik, die Folgen der Politik der letzten Zeit auf den verschiedenen Schauplätzen der Welt isoliert zu betrachten; es bestehen weitreichende innere Zusammenhänge. Die Regierung hätte aus dieser Erkenntnis Folgerungen ziehen sollen. ({46}) Aber, meine Damen und Herren, was tut sie? Sie malt schwarz und weiß, und fast möchte ich sagen: an vielen Stellen versucht sie, aus schwarz weiß zu machen. ({47}) Die Ereignisse in Osteuropa und im Nahen Osten sind verzahnt. Man soll nicht den Satz gelten lassen: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe, ist es hier brutale Gewalt und ist es dort Polizeiaktion. ({48}) Die Vorgänge in Ägypten haben den Russen zum mindesten ein dialektisches Alibi gegeben. ({49}) So, wie es die Regierungserklärung versucht, kann man die Vorgänge nicht trennen. Ich möchte noch etwas hervorheben, was mir an der Regierungserklärung gut gefallen hat. Der Mann. der sie verfaßt hat. ist ein leidenschaftlicher Anhänger des Rechtes. Er liebt das Recht, ja er beschwört die Unverbrüchlichkeit des Rechtes. Am Ende ist diese Regierungserklärung ein Hymnos auf die Kraft des Rechtes, und ich wäre kein Mann des Rechtes, der ich sein will, wenn ich hier nicht vorbehaltlos zustimmen wollte. Hier erkennt man erst die tiefen Zusamenhänge des Geschehens in der Welt. Wenn das Recht - ich meine nicht das gesetzte Recht, ich meine nicht das gesetzliche Recht -, wenn die Elemente des Rechtes in den Völkern und zwischen den Völkern nicht gelten, dann nehmen die Dinge eine schlechte Entwicklung, dann gehen sie fehl. Jetzt werde ich etwas sagen, was den Sozialdemokraten gar nicht gefallen wird. ({50}) Es gibt viele Ursachenketten, die zu bestimmten Ergebnissen und die auch zum Unheil führen. Eine der großen Krankheitserscheinungen in unserer Zeit ist die Lähmung des Gedankens des Rechtes, ist die Haltung, die gerade dem, was in der Regierungserklärung so eindringlich gesagt ist, entgegengesetzt ist: der mangelnde Glaube an das Recht, an die Unverbrüchlichkeit des Rechtes. ({51}) - Es geht noch weiter. -- Im nationalsozialistischen Unrechtstaat sind hier Ursachen zu Fehlentwicklungen gesetzt worden. Wir wissen, daß im Weltkrieg, ausgelöst durch dieses bei uns entstandene Unrecht, das Gefühl des Rechts Schaden genommen hat: die Beschlagnahme der deutschen Vermögen, der Zwang auf die Neutralen, das deutsche Vermögen zu liquidieren, und vieles andere. Und nach dem Kriege kam der Glaube an sozialistische Vorstellungen, der Glaube daran, daß es dem Staate zustünde, in die Lebenssphäre, in die Rechtssphäre des Einzelnen einzugreifen. Und da geschah es in England, daß eine sozialistische Regierung auf vielen Gebieten sozialisierte, nationalisierte. Dann kam ein Mossadek. Und dann kam ein Nasser, der sagte: Was den Engländern zu Hause gerecht ist, ist mir lange billig. Er verübte den Rechtsbruch am Suezkanal und löste damit eine weitere Unrechtsquelle aus. Aber was die Vorgänge in Ägypten anlangt, meine ich: es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Ausreden für das Verhalten der anderen zu suchen. ({52}) - Lesen Sie die Regierungserklärung nach! Ich weiß nicht, ob sich England und Frankreich der Verantwortung ihres Tuns bewußt waren. Angriffe gegen Dritte sind schon nach dem Briand-KelloggPakt des Jahres 1928 verfemt. Der amerikanische Richter Jackson hat bei dem Nürnberger Verfahren festgestellt, daß die Grundsätze dieses Paktes geltendes, gültiges, verbindliches Völkerrecht sind, und man hat uns nicht einmal gefragt. Meine Damen und Herren, dieses Verhalten führt zu der ernstlichen Erwägung, ob das Risiko solcher Verträge mit ihren schweren Folgerungen getragen werden kann, eine Erwägung, die wir gerade auch wegen der Vereinigten Staaten und der von ihnen übernommenen Haftungen, die unzumutbar werden könnten, anstellen müssen. Unser neuer Verteidigungsminister, mein bayerischer Kompatriot, Franz-Josef Strauß ({53}) hat sehr richtig gesagt: Die Vertragspartner dürfen nicht militärische Risiken schaffen, die von anderen mitgetragen werden müssen. Welch kluges Wort von der Regierungsbank! Eine Klugheit, von der in der Regierungserklärung nichts zu spüren ist! ({54}) Meine Damen und Herren, die These. Frankreich und England hätten in Ägypten eingreifen müssen, um den von Israel heraufbeschworenen Konflikt zu lokalisieren, ist doch eine Zumutung! Wir verdanken es der politischen und der sittlichen Größe der Vereinigten Staaten, wenn diese Gefahr gebannt wurde. ({55}) Und mehr als es sichtbar wurde, war die Macht dieses großen Volkes in diesen entscheidenden Tagen zu spüren. ({56}) - Mit ihm wollen wir immer verbunden sein. ({57}) - Sie sehen Konflikte, Sie sehen Differenzen, wo sie nicht vorhanden sind. Aber, meine Damen und Herren, was Mr. Eden und M. Mollet ausgelöst haben, das war die Gefahr des dritten Weltkriegs; und d i e Verantwortung können sie doch kaum tragen. Die Vorgänge am Suezkanal zeigen, worauf es in der Politik ankommt. Ach, man sucht immer nach Aushilfen, man will irgendwelche Gremien schaffen, welche die freie Durchfahrt durch den Kanal sichern sollen, und weil man am Ende auch ({58}) daran nicht glaubt, greift man dann zur Waffe. Man glaubt an Institutionen, weil man nicht weiß, daß das Wesen der Politik die Funktion, das Wirken der richtigen Gesetze des Lebens ist. Man weiß eben nichts mehr vom Recht, von der ordnenden Macht des Rechtes. Man deklamiert sie, man glaubt nicht mehr an ihre Unverbrüchlichkeit. Auf jeden Fall: auf Eden und Mollet liegt die Verantwortung für die rechtliche und für die moralische Krise der Vereinten Nationen und damit die Krise der Grundlagen der freien Welt, der Grundlagen unserer politischen Existenz. ({59}) Sie haben die moralische Kraft des Westens auch gegenüber Rußland ganz entscheidend geschwächt. ({60}) Ob der Regierungschef durch seine Reise nach Paris etwas gutgemacht hat, - er hat nach dem, was er gesagt hat, nicht einmal ein Wort des Vorwurfs gegen seine Brüskierung, gegen die Verletzung der Verträge, die uns mit Frankreich und England verbinden, gegen die unterlassene Unterrichtung erhoben. ({61}) - Ich habe gestern ein sehr vertrauliches, ein sehr freimütiges Gespräch mit ihm gehabt. ({62}) - Selbstverständlich, ja, wir sprechen wieder miteinander, und dem ist doch gut so, Herr Bundeskanzler. ({63}) Das war ein schlimme Zeit, mehr für mich als für ihn! ({64}) Ich habe ihn gefragt: „Bitte, Herr Bundeskanzler, haben Sie sich verwahrt?" Da hat er mir in seiner bildhaften Sprache gesagt: „Ach, Herr Dehler, es ging darum, die Kuh vom Eis zu bringen." ({65}) Aber es tut sich ja die viel größere Frage auf: Fühlt die Bundesregierung die Krisis ihrer Politik? Aus der Regierungserklärung hat sich nicht das geringste dafür ergeben. Es werden die Vorstellungen der europäischen Integration wiederholt, als ob nichts geschehen wäre, als ob nichts der Plan der politischen europäischen Integration durch die Schuld Frankreichs vom Tisch gefegt worden wäre, als ob nicht der 30. August 1954 gewesen wäre, an dem die französische Nationalversammlung entgegen den ständigen Beteuerungen und Versprechungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zur Tagesordnung übergegangen ist, als ob nicht der Gedanke der wirtschaftlichen Integration durch Institutionen - darum geht es doch, meine Damen und Herren - widerlegt wäre. Wir alle wollen, daß die freie Welt zusammenhält, zusammenwirkt. ({66}) Hier meint man, man müsse dazu Einrichtungen, Hohe Behörden, Institutionen schaffen. Wir meinen - das unterscheidet uns ganz grundsätzlich -, daß es auf etwas ganz anderes ankommt: darauf, die richtigen Lebensgesetze zwischen den Völkern wirken zu lassen, die Barrieren zwischen den Völkern niederzulegen, den freien Fluß der Menschen, des Geldes, der Güter herzustellen. Das ist die politische Aufgabe. ({67}) Eines, meine Damen und Herren, haben wir doch, wenn wir die Ereignisse der letzten Tage bewußt erlebt haben, beinahe schicksalhaft gefühlt. Ich will etwas sagen, was mir ernst ist. ({68}) Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, die politische europäische Integration wäre Wirklichkeit gewesen. Dann wären wir in all die Spannungen, die in den letzten Monaten in Nordafrika, in Ägypten zu Auseinandersetzungen geführt haben, verstrickt gewesen. ({69}) Die Bundesregierung meint, der Gedanke der Koexistenz - das ist das Entscheidende in der Erklärung der Bundesregierung - sei tödlich getroffen. Was heißt „Koexistenz"? ({70}) - Man sagt auch „Lächelnde Koexistenz". - Nein, Koexistenz heißt verhandeln, heißt versuchen, miteinander auszukommen. Die Alternative der Koexistenz ist die Politik der Stärke, ist der Abwurf von Bomben in Ägypten, ist das Rollen russischer Panzer in Ungarn. Das müssen Sie wissen, meine Damen und Herren! Wir wollen nicht „lächelnd koexistieren", wir halten nichts von Verbrüderungsszenen in Theaterlogen, ({71}) aber um so mehr von dem Gespräch, dem mutigen und ernsten und unerbittlichen Gespräch über das Wohl aller Menschen und aller Völker. ({72}) Es ist so Schönes über das Gespräch zwischen Freunden gesagt worden. Noch wichtiger ist das mutige, das vorbehaltlose Gespräch mit Gegnern; denn darauf kommt es doch in der Politik an. ({73}) Wenn man in der Politik etwas erreichen will, dann muß man doch wirken, dann muß man versuchen, Politiker, Vertreter von Völkern, die anderer Meinung sind, umzustimmen, festzustellen, wo gemeinsame Interessen liegen, klarzustellen, wo man sich verständigen kann. Ich glaube, das sollten wir wissen. ({74}) Wir stehen an einer Wende der Nachkriegspolitik. ({75}) ({76}) - Schönen Dank, Frau Weber. Das ist eine wichtige Erkenntnis! Ich meine, damit stellen Sie sich, Frau Helene Weber - und dafür danke ich Ihnen sehr -, gegen die Meinung der Bundesregierung, ({77}) die da sagt, es sei nichts geschehen und es gehe alles schön und glatt seinen Weg weiter. Nein, meine Damen und Herren, wenn wir die Zeichen dieser Zeit nicht erfassen, wenn wir nicht erkennen, daß durch diese schlimmen Ereignisse blitzartig erhellt worden ist, wohin der Weg geht, dann haben wir kein Organ für Geschichte, ({78}) und Politik ist Bewußtsein der Geschichte. ({79}) Meine Damen und Herren, nationale Kräfte sind wieder wirksam geworden, dritte Kräfte - zu denen wir gehören - neben den beiden großen Mächten. Dieser Entwicklungsprozeß ist im Gange, und da darf es eines nicht geben: den kalten Krieg, den kältesten Krieg, den kalten Krieg als Dauerzustand. Vor einigen Tagen - hören Sie gut zu, meine Herren von der CDU und CSU, damit Sie wissen, was gemeint wird ({80}) hat Ihr Vorsitzender und der Regierungschef ganz unerbittlich hart seine Meinung gesagt: „Das Gerede von einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ist, so hoffe ich, jetzt endgültig vorbei." ({81}) - Nein, ich zitiere ein Interview, das der Herr Bundeskanzler der „Rheinischen Zeitung" gegeben hat. Ich bin doch ein Jurist und ich weiß - ({82}) - Herr Krone und Herr Lücke und alle sind so bös mit mir, ich verstehe es gar nicht! Ich fange noch einmal an! Seine Worte waren, meine Damen und Herren - das müssen Sie wissen -: Das Gerede von einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ist, so hoffe ich, jetzt endgültig vorbei. Durch die Ereignise in Polen und Ungarn ist die Maske endgültig gefallen. ({83}) Die Vorgänge zeigen uns, daß die Politik der Bundesregierung und der Abschluß der Pariser Verträge richtig waren. ({84}) Sie beweisen uns, daß die Bundesrepublik stark sein muß, damit Sowjetrußland nicht über sie herfällt. ({85}) Da ist ja der Franz-Josef. Ich möchte mal gern hören, was er dazu sagt bei der traurigen Apparatur, die er da vorgefunden hat, wenn er jetzt die letzte Schreibstube säubern will, um ein bißchen zusamenzukratzen. Na, der Franz-Josef Strauß und ich haben ein gutes Gewissen, denn wir haben ja gemeinsam gegen widerstreitende Kräfte zumindest die Ausweitung des Bundesgrenzschutzes zur rechten Zeit und zu rechtem Maß verlangt, als die Franzosen und manche andere dagegen waren, - wir hätten wenigstens etwas, wir hätten wenigstens eine Polizeistreitmacht. ({86}) Aber ich wiederhole: die Bundesrepublik muß stark sein, damit Sowjetrußland nicht über sie herfällt. ({87}) Ich hoffe, Rußland hat aus den Ereignissen gelernt, daß es seine Politik nicht mehr auf Gewalt aufbauen kann. ({88}) Die Politik der Stärke ist in Ägypten und ist in Ungarn widerlegt worden. Dort zeigt es sich, wohin die Politik der Stärke führt, die immer eine Politik brutaler Gewalt ist. ({89})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Dehler, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß der Ältestenrat vereinbart hat, die heutige Debatte in der Form von Erklärungen durchzuführen. ({0}) Ich bitte, sich ebenso daran zu halten wie Ihre beiden Vorredner. ({1})

Dr. Thomas Dehler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000364, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube nicht, daß allein mein Temperament daran schuld ist, sondern die Lebhaftigkeit des Hauses, besonders der Mitglieder der CDU/CSU. Meine Damen und Herren, die letzten Wochen haben, glaube ich, ein Gutes gehabt. Sie haben für den, der sehen will, unerbittlich gezeigt, was richtig und was falsch ist. Ich meine, die Bundesrepublik steht falsch. - Lassen Sie mich auch diesen Gedanken in Ruhe zu Ende bringen! - Sie steht mit dem Rücken gegen den Osten. Sie sieht ihn nicht. Sie schaut nur nach dem Westen und bemüht sich um etwas, was selbstverständlich sein muß: die Solidarität Europas und der freien Völker. Die Bundesrepublik muß mit dem Rücken nach dem Westen stehen, in fester unerschütterlicher Bindung an den Westen, muß von seinem Vertrauen getragen sein und muß nach dem Osten schauen und wirken. Das ist unsere Aufgabe, die Aufgabe, die uns zukommt, wenn wir die deutsche Schicksalsfrage lösen wollen, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, wenn wir glauben, daß uns als dem Volk im Herzen Europas auch eine Rolle der Vermittlung mit dem Osten zufällt. Ich meine, eine große Aufgabe hätte der Bundesregierung zufallen können, hätte sie erfüllen können, wenn sie seit ihrem Besuch in Moskau fortgesetzt mit der Sowjetregierung gesprochen hätte, wenn sie in den letzten Wochen aufklärend, vermittelnd, als ehrliche Maklerin beratend hätte wirken können, wenn sie versucht hätte, zur rechten Zeit Spannungen zu lösen. Noch einmal: die Regierungserklärung hat doch nur zu recht, wenn sie das vertrauensvolle Ge({0}) spräch zwischen Freunden als etwas Köstliches, als etwas Wertvolles erachtet. Und ein vertrauensvolles, wertvolles Gespräch mit Gegnern ist gesteigerte Pflicht, ist politische Pflicht. Die Vereinigten Staaten haben längst erkannt, daß die bisherige Politik, ihre Systematik, ihre Tendenz überholt sind. Und wir? Ich muß sagen: Die Bundesregierung beharrt nach ihrer Erklärung bei den Vorstellungen des Jahres 1950. Es ist doch deutlich geworden, daß unsere Politik auf einer Fiktion beruhte. Eine neue Epoche hat begonnen, und wir müssen doch mit unseren Anliegen dabei sein, mit klaren Vorstellungen und mit Mut. ({1}) Das hätte die Regierungserklärung darlegen und konkretisieren müssen. Im Osten vollzieht sich ein Umbruch. Wollen Sie denn das einfach leugnen? Da werden Männer und Ideen abgelöst, kommen neue Denkformen hoch, eingekerkerte, gefolterte Menschen werden herausgeholt und kommen wieder zur Herrschaft, und Gehenkte möchte man am liebsten zum Leben erwecken. Fühlen Sie nicht, daß da etwas am Werk ist?! ({2}) - Auch in Ungarn; ich habe Ihnen gesagt, Frau Helene Weber, wie vielschichtig die Dinge in Ungarn sind, wieviel wir wissen müssen, um hier richtig zu werten. ({3}) - Nein, es reicht mir wirklich nicht, und ich danke meinem Freund Prinz zu Löwenstein, daß er - nicht aus Sensationslust, sondern um zu wissen, was dort geschieht - dorthin gegangen ist, wo er jetzt festgehalten wird. Politik, die sich nicht auf Kenntnis der Fakten gründet, Politik der Emotion ist eine gefährliche Angelegenheit. ({4}) Ich meine, wir müssen die Wandlung, die da vorgeht, erfassen in dem Versuch - ich will es ganz vorsichtig sagen -, dem Rechte zu genügen, auch dem nationalen Recht auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Immerhin, Jugoslawien geht seit langen Jahren unter Tito seinen eigenen Weg, die Mandschurei ist freigegeben, Nordpersien, die Stützpunkte in Finnland sind geräumt, Österreich ist frei, im Posener Prozeß werden die Grundfreiheiten der richterlichen Unabhängigkeit und der Verteidigung anerkannt; Polen erzwingt doch das Recht, sein nationales Schicksal und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, mag sie von unseren Vorstellungen so entfernt sein wie nur möglich, selbst zu bestimmen, die russischen Truppen ziehen ab. ({5}) Und wir tun so, als ob nichts geschehen sei! Große Aufgaben kommen auf uns, kommen auf das Land der europäischen Mitte zu; sie verlangen einen klaren Willen und ein mutiges Herz. ({6}) - Meine Herren von der CDU und CSU, daß Sie nicht einmal gewillt sind, das, was ein Mann, der glaubt, verantwortlich in diesem Hause mitwirken zu können, denkt, sagt, in Ruhe anzuhören und darüber nachzudenken: welch schlechter Stil unserer Demokratie! ({7}) - Meine Damen und Herren, wenn Sie meinen, das, was ich gesagt habe, sei nicht neu, dann vergleichen Sie meine Ausführungen mit der Regierungserklärung! ({8}) Da wird Ihnen der Gegensatz auffallen, und Sie werden mir zumindest das eine nicht abstreiten, daß ich aus verantwortlichem Sinn zu handeln und vor Ihnen zu sprechen versuche. Meine Damen und Herren, die Politik der Straße kann uns nicht helfen. Sie ist ohne Vernunft, sie ist ohne Verantwortung, sie ist voller Gefahren, sie ist unberechenbares Abenteuer, sie ist keine Politik. Wir haben in den letzten Wochen auch Gutes erfahren: die Empfindsamkeit unserer öffentlichen Meinung, die Macht ihrer Stimme, das Rechtsgefühl der deutschen Menschen, das sich gegen alles wandte, was die gute, was die rechte Ordnung verletzt hatte, diesen Glauben an den Geist, an die großen Grundsätze der Vereinten Nationen - Herr Mellies hat Richtiges dazu gesagt -, das Bewußtsein der unbedingten Schicksalsverbundenheit mit dem großen Volke der Vereinigten Staaten. Es ist in den letzten Tagen ein böses Wort gefallen: idiese Vereinigten Staaten seien unzuverlässig, seien unfähig, die politischen Dinge einheitlich zu steuern, seien unberechenbar, man könne sich auf sie nicht verlassen. Das hat man gesagt. ({9}) - Vielleicht werfen Sie die Frage einmal bei Ihrer nächsten Fraktionssitzung in der CDU und CSU auf. ({10}) Meine Damen und Herren, noch einmal: ich glaube an dieses Volk der Vereinigten Staaten, an dieses junge, gesunde Volk mit seinem nationalen Staatsbewußtsein, mit seiner richtigen Vorstellung von dem Wesen der Gesellschaft und der Wirtschaft, mit seinem hohen Verantwortungssinn für die Dinge der Welt. Niemals kann und soll zwischen ihm und uns etwas stehen. Die Dinge der Welt sind im Fluß. Ich meine, die Abrüstung - nur ein Wort will ich in die Diskussion werfen - ist aus militärischen und aus wirtschaftlichen und damit aus sozialen Gründen dringend geboten. In diese Zusammenhänge, in den Zusammenhang der Abrüstung zwischen den zwei großen Mächten ist unser Schicksal, ist die deutsche Einheit, ist auch die Frage des Maßes unserer Aufrüstung eingebettet. Die bisherigen Verträge müssen weiter entwickelt werden. Ein europäischer Sicherheitspakt steht als Gebot der Stunde vor uns. Und zum Schluß: Mehr denn je wissen wir nach dem, was uns die letzten Wochen gelehrt haben, daß die deutsche Einheit vor allem unsere Sache, die deutsche Sache ist. ({11})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, die Ausführungen des letzten Redners waren hier oben, also in seinem Rücken, nicht immer zu verstehen. Erst dem stenographischen ({0}) Protokoll entnehme ich, daß er den Abgeordneten Scharnberg einen Totengräber der deutschen Demokratie genannt hat. ({1}) Herr Dr. Dehler, diese Bemerkung geht über den parlamentarischen Stil und die parlamentarischen Sitten hinaus. Ich rufe Sie zur Ordnung. Das Wort hat der Abgeordnete Feller. ({2}) - Zuerst darf ich feststellen, daß die Handlungen des amtierenden Präsidenten in dieser gleichen Sitzung Ihrer Kritik nicht unterliegen, zum zweiten, daß hierüber im amtlichen Stenogramm nichts festgehalten ist. ({3})

Erwin Feller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000532, Fraktion: Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE -

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Arndt, haben Sie mit der „Zensur" den amtierenden Präsidenten gemeint? ({0}) - Das ist keine Zensur. Herr Abgeordneter Dr. Arndt, ich rufe Sie zur Ordnung. ({1}) Herr Abgeordneter Feller, bitte, fahren Sie fort!

Erwin Feller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000532, Fraktion: Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE)

Meine Damen und Herren, für die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE habe ich zu der Regierungserklärung folgendes auszuführen. Ich werde mich bemühen, dabei den Mahnungen des Herrn Präsidenten und den Vereinbarungen des Ältestenrats zu entsprechen. Niemand von uns und niemand, dem die Begriffe „Freiheit" und „Menschenrecht" noch etwas besagen, hat sich in den vergangenen Tagen dem entziehen können, was Millionen in der freien Welt gefühlsmäßig bewegt hat und was in Tausenden von Proklamationen und Demonstrationen seinen hörbaren und sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Es geht dabei um die eine, immer wieder zu stellende Frage, ob den Menschen und Völkern auf dieser Erde das Recht gegeben und bewahrt werden kann, ihre politische und soziale Lebensform selbst zu bestimmen. Von dieser Frage her gesehen wird bei allen Erörterungen der Weltlage mit Recht zuerst das ungarische Volk genannt und seines Schicksals gedacht. Niemand kann diesem Volk die Bewunderung für den großartigen Mut versagen, mit dem es zum Kampf um seine Freiheit und seine Selbstbestimmung angetreten ist. Und niemand in der freien Welt darf sagen, daß es nicht ein besseres Schicksal verdient hätte, als unmittelbar vor dem Tor zur Freiheit von einer rücksichtslos gegen alle Regeln des Völkerrechts eingesetzten militärischen Macht am Eintritt in eine freie Zukunft gehindert zu werden. Der Staat, der seine militärischen Machtmittel in dieser Weise zum Einsatz brachte und damit die für die Freiheit in der Welt gebrachten Opfer an Menschenleben auf ein ungezähltes Maß erhöhte, hat sich damit vor der gesamten Welt ins Unrecht gesetzt und sich dadurch zunächst jeder Glaubwürdigkeit begeben, jedes Glaubens daran, daß es ihm mit der von ihm bekundeten Absicht zur Herstellung einer friedlichen Koexistenz auf der Grundlage des Völker- und Selbstbestimmungsrechtes ernst sei. Es ist deshalb eine durchaus verständliche Reaktion der freiheitliebenden Menschen, daß sie geneigt sind, jeder Möglichkeit eines gemeinsamen politischen Handelns mit der Sowjetunion für die Zukunft zu mißtrauen oder sie gar abzulehnen. Es ehrt die freie Welt, daß ihre Empörung Hand in Hand geht mit der uneingeschränkten Bereitschaft, dem in so tiefe Not gestürzten ungarischen Volk wenigstens jede nur mögliche karitative Hilfe zuteil werden zu lassen. In diesem Zusammenhang und .an dieser Stelle darf vielleicht auch einmal auf etwas hingewiesen werden, was der deutschen Öffentlichkeit vielleicht nicht in vollem Ausmaße bewußt ist: daß in diesem Ungarn und damit unter der ganzen leidenden ungarischen Nation sich auch noch etwa 300 000 Deutsche befinden. Meine Damen und Herren, wenn wir von dieser Hilfeleistung der Welt, an der auch wir unseren Anteil haben, sprechen, dann müssen wir aber die Frage stellen: Reicht das aus, um die Stimme unseres Gewissens zu entkräften, die uns sagt, daß von der westlichen Welt und von uns eigentlich viel mehr und viel Besseres hätte geschehen können? Die Stimme unseres Gewissens sagt uns, daß wir mehr tun müßten, während unser Verstand uns sagt, daß wir es nicht können. Aber haben wir als verantwortlich denkende und handelnde Politiker uns nicht zu fragen, warum wir, warum die westliche Welt nicht etwas Besseres tun konnten? Haben wir nicht die Pflicht, zu untersuchen. ob wir, ob die freie Welt, deren Angehörige wir sind, nicht mit Schuld tragen an diesem Unvermögen, in friedlicher Weise mehr zu wirken, als Proteste es können? Ich meine das nicht im Sinne eines Bekenntnisses zu einer westlichen Kollektivschuld - eine Kollektivschuld gibt es nicht und gab es nie -, sondern im Sinne der Erkenntnis, daß der Frieden und die Freiheit unteilbar sind und von der Mitverantwortung aller getragen werden müssen. ({0}) Von dieser Erkenntnis aus beschleicht uns ein bitteres Gefühl bei der uns berechtigt und notwendig erscheinenden Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der Sowjets in Ungarn. Ich meine, es sollte nicht die Frage politischen Kalküls in der gegenwärtigen Weltsituation und unserer Lage sein, die uns daran hindern dürfte, uns von diesem Gefühl dazu leiten zu lassen, einmal auch das auszusprechen, was uns am Verhalten der freien westlichen, d. h. unserer eigenen Völkerwelt unrichtig erscheint. Die Regierungserklärung - in ihrer Beurteilung stimme ich Herrn Dr. Dehler vollkommen zu - geht zwar davon aus, die Bemühungen der Bundesrepublik um eine friedliche Lösung aller offenstehenden Streitfragen ausführlich darzulegen. Aber sie unterläßt es doch, in jede konkrete Erörterung der Frage nach einer moralischen Mitschuld des Westens an der ungarischen Tragödie und überhaupt der Gefährdung des Weltfriedens einzutreten. Die Regierungserklärung begnügt sich mit allgemeinen Postulaten an das moralische Gewissen der Welt und die Verantwortung der Staaten für die Erhaltung des Friedens. ({1}) Meine Damen und Herren, uns ist diese Zurückhaltung, dieses Herumgehen um weltpolitisch doch auch bedeutsame Geschehnisse und Probleme nicht ganz verständlich. Wir müssen uns doch die Frage stellen, ob die Bundesregierung etwa anders über das Verhalten Englands und Frankreichs im Nahost-Konflikt urteilt, als es die Vereinigten Staaten und mit ihnen die überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen bei ihren Beschlüssen getan haben. ({2}) Ich will hier nicht die uns allen allerdings naheliegende Frage aufwerfen, ob das Schicksal Ungarns ohne die westlichen Angriffshandlungen am Suezkanal sich anders gestaltet hätte. Das kann niemand beweiskräftig behaupten; allerdings kann aber ebensowenig der gegenteilige Beweis geführt werden, ({3}) nämlich daß die Sowjets ohne das anglo-französische Vorgehen in Ägypten den ungarischen Freiheitskampf in derselben Weise niedergewalzt hätten. Es soll hier keineswegs behauptet werden, daß ein faktischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorgängen bestehe oder daß das eine das andere nach sich gezogen oder das eine das andere verhindert hätte. Aber es muß doch mit Bedauern festgestellt werden, daß die westliche Welt sich gegenüber der sowjetischen Einmischung in Ungarn durch den anglo-französischen Gewaltakt in Ägypten in einer ungleich schwächeren moralischen Position befindet, als sie es im andern Falle gewesen wäre. ({4}) Es muß mit ebenso tiefer Besorgnis die Frage erhoben werden, ob der Westen in seiner Gesamtheit wieder die moralische Position zurückgewinnen kann, die von den Regierungen zweier seiner führenden Mächte um imperialistischer Interessen willen aufs Spiel gesetzt worden ist. ({5}) Unsere Sorge gilt darüber hinaus der Einheit des Westens überhaupt. Die Bundesregierung bemüht sich in ihrer Erklärung sehr nachdrücklich darum, diese doch äußerst brüchig gewordene Einheit wiederherzustellen. Aber reicht es denn wirklich aus, daß wir uns nach wie vor zu dieser Einheit bekennen und dabei auf ihre Grundlagen hinweisen, die doch soeben rücksichtslos verletzt und mißachtet worden sind? Wir meinen, daß uns diese Geschehnisse unausweichlich vor die Notwendigkeit stellen, mit allem Ernst die Frage zu erheben, ob das, was unsere Verbündeten getan haben, nicht auch den Geist und den Inhalt der Verträge berührt, die uns mit ihnen verbinden. Wir sind der Meinung, daß das zumindest die Frage beinhaltet: Was muß im Rahmen der westlichen Vertragswerke, der WEU und der NATO, geschehen, um mit Sicherheit zu verhindern, daß sich ähnliche Verstöße gegen Geist, Inhalt und Zielsetzung der vertraglichen Abmachungen wiederholen? Wir verstehen unter diesen Verstößen, deren Wiederholung verhindert werden muß, nicht etwa nur, daß militärische Aggressionen stattgefunden haben, ohne daß sich die Bündnispartner vorher darüber verständigt haben, sondern wir verstehen darunter, daß solche Aktionen überhaupt stattfinden können, obwohl sie den Weltfrieden und damit die Lebensinteressen auch der Bündnispartner empfindlich zu treffen geeignet sind. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn es heute oder morgen noch gelingen sollte, die in der Einheit des Westens entstandenen Risse zu kitten, dann hat das überhaupt nur einen Sinn, wenn gleichzeitig alles getan wird, zu verhindern, daß neue Risse entstehen, die dann das Gebäude in einer von uns weiß Gott nicht wünschenswerten Weise zum Einsturz bringen können. Unsere vertrauensvolle Zuversicht - auch das hier mit allem Nachdruck auszusprechen fühle ich mich veranlaßt - gehört dabei den Vereinigten Staaten. ({7}) Ihrer einsichtsvollen, ihrer unabdingbar auf Erhaltung des Friedens gerichteten Politik sind wir zu tiefstem Dank verpflichtet. Wir haben mit Befremden festgestellt, daß dieser Dank in der Regierungserklärung fehlte. ({8}) - Die Regierungserklärung - Herr Stücklen, lesen Sie sie bitte nach enthält kaum ein Wort der Anerkennung für die unbestreitbare Tatsache, die für die Erhaltung des Friedens und die Zukunft der Welt doch von entscheidender Bedeutung ist, daß die Vereinigten Staaten als einzige westliche Großmacht aus den Ereignissen der vergangenen Wochen mit unverändertem moralischem Prestige hervorgegangen sind. ({9}) Zur Frage, ob wir amerikanischer als die Regierung sein wollten: Nein, wir sind taktvoller, als es die Regierung in diesem Falle war. ({10}) Meine Damen und Herren, das hätte nämlich von der Regierung gesagt werden müssen. Wenn wir uns als Opposition veranlaßt sehen, diese Unterlassungssünde der Regierung gutzumachen, dann nicht etwa deshalb, weil wir glauben, der Bundesregierung etwas von ihrer Verantwortung abnehmen zu können, sondern deswegen, weil wir der Überzeugung sind, daß diese Haltung der Vereinigten Staaten bei einer Überlegung der zukünftigen Möglichkeiten einer deutschen Außenpolitik der positivste Faktor ist. Sicherlich gab es auch in England eine vernehmbare Opposition gegen die Politik der Regierung Eden. Aber es besteht für uns leider noch nicht die Möglichkeit, sie bei der Neuorientierung der Weltpolitik in Rechnung zu stellen, zumal diese Opposition - das müssen wir bei dieser Gelegenheit auch einmal zum Ausdruck bringen - an anderer Stelle, wo es sich um für uns Deutsche lebenswichtige und uns unmittelbar berührende Fragen handelt, das Selbstbestimmungsrecht nicht so eindeutig bejaht hat, wie sie es jetzt getan hat und wie wir es von ihr erwarten müssen, wenn wir auf der Grundlage dieses Selbstbestimmungsrechts zu einer gemeinsamen Neuord({11}) nung der europäischen Verhältnisse kommen wollen. ({12}) Es wird eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Außenpolitik sein, gerade nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen in Ungarn und im Nahen Osten, die gemeinsame westliche Politik auf eine uneingeschränkte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts hinzuführen. ({13}) Denn nur auf dieser Grundlage - nur auf dieser Grundlage! - kann es eine friedliche Koexistenz der Völker und auch verschiedener Gesellschaftsordnungen in der Welt geben. Wir erwarten gerade von den Vereinigten Staaten, daß sie, deren staatlicher Ursprung selbst auf einer Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts beruht, ({14}) sich auch für die Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts in Europa einsetzen werden. Ich habe das Selbstbestimmungsrecht als die einzig mögliche Grundlage einer Koexistenz, eines friedlichen Zusammenlebens der Völker bezeichnet. Ich knüpfe daran unsere Forderung, daß sich die Großmächte bereit finden, das Selbstbestimmungsrecht allen Völkern, auch dem deutschen, und unter allen Umständen zu gewähren. Wir sind auch durchaus bereit, anzuerkennen, daß ein guter Anfang damit an der Saar gemacht worden ist, und hoffen, daß dort nun schnellstens die Konsequenzen, die praktischen Folgerungen sichtbar werden. Es liegt mir fern, Herr Bundeskanzler, jetzt noch einmal auf die Kritik an Ihrer Pariser Reise einzugehen. Wir haben Ihnen vorher unsere Meinung dazu mitgeteilt. Sie hatten die Freundlichkeit, daran zu denken; Sie haben es mir selbst gesagt. Aber ich darf bei dieser Gelegenheit im Zusammenhang mit Ihrer Pariser Reise doch der Erwartung Ausdruck geben, daß auch ohne Ihren Besuch von Frankreich kein Versuch gemacht worden wäre, den vom Selbstbestimmungsrecht zwingend geforderten Folgerungen an der Saar auszuweichen, und daß alle Mächte des Westens, die mit uns heute von den Sowjets das Selbstbestimmungsrecht in Ungarn fordern, dies auch für alle Teile des deutschen Volkes fordern werden, ({15}) wenn einmal die deutsche Frage in weltpolitischen Verhandlungen zur endgültigen Lösung steht. Und noch ein Wort zur Parisreise. Wenn sie mit dazu beigetragen hat, die Entspannung zu fördern und die Ausweitung der Konflikte zu vermeiden, dann ist es doch gerade eine Frage des Taktes gegenüber anderen, gegenüber Kräften, die in den Vereinigten Staaten und in den Vereinten Nationen am Werke waren, und der Rücksicht auf die historischen Tatsachen und ihre Beurteilung, daß man nicht versucht, die Ergebnisse dieser Reise in einer Weise auszuschlachten, die nur innerpolitischen oder parteitaktischen Motiven entspringen kann. ({16}) Meine Damen und Herren, es wird keinen dauerhaften Frieden in der Welt geben, solange nicht auch die Unrechtszustände beseitigt sind, die wir, allerdings als das Erbe einer unseligen Politik vor 1945, in den Satellitenstaaten ebenso wie im deutschen Osten zu beklagen haben. Aber es wird - das haben die Vorgänge der letzten Wochen bewiesen - auch keinen dauerhaften Frieden geben, solange sich Machtblöcke in der Welt feindlich gegenüberstehen und keine übergeordnete Instanz vorhanden ist, die sich in der Beilegung lokaler Konflikte durchzusetzen vermöchte. Unsere zweite Hoffnung gilt daher den Vereinten Nationen. Wir schließen uns dem Dank der Bundesregierung an alle die an, die sich in ihrem Rahmen um die Beilegung der Konflikte bemüht und verdient gemacht haben. Aber wir glauben nicht, daß es genügt, resigniert festzustellen, daß die Vereinten Nationen überfordert gewesen seien, und den Eindruck zu erwecken, daß ihre Unzulänglichkeit durch regionale Zusammenschlüsse ausgeglichen werden könnte. Wir glauben vielmehr feststellen zu müssen, daß gerade diese regionalen Zusammenschlüsse heute in eine Krise geraten sind und zu einer Krise geführt haben, ({17}) zu einer Krise, der die Welt nichts anderes entgegenzusetzen hat als die moralische Autorität der Vereinten Nationen. Wir sollten daher bereit sein, mit allen Mitteln diese Autorität zu stärken und ihr Durchsetzungsmöglichkeiten zu verschaffen, und dabei das Ziel verfolgen, sie durch ein umfassendes Sicherheitssystem zu untermauern. Wenn die Weltöffentlichkeit angesichts des Abgrunds, an dessen Rand sie sich in diesen Tagen sah, die Fragwürdigkeit der bisherigen Weltpolitik zu überlegen beginnt, dann müssen auch wir trotz der tiefen Erschütterung, in die unsere Zuversicht auf eine friedliche Lösung der strittigen Fragen vor allem ,durch das Vorgehen Sowjetrußlands in Ungarn gebracht wurde, überlegen, ob auch unsere eigene und die westliche Politik im gesamten in allen ihren Handlungen geeignet ist, den Boden für friedliche Lösungen zu bereiten, und darüber mit unseren Vertragspartnern in allem Ernst und mit allem Nachdruck sprechen. Wir sollten angesichts der Erfahrungen, die das ungarische Volk in so furchtbarer Weise machen mußte, auch die Frage stellen, ob es tunlich ist, daß vom deutschen Boden aus propagandistische Einflüsse in den sowjetisch beherrschten Teil Europas gehen, die nicht von der letzten Verantwortung für das Schicksal der von ihnen erfaßten Menschen getragen sind. ({18}) Die Sowjetunion hat es in einer grausamen Weise zu erkennen gegeben, daß sie nicht davor zurückschreckt, Schuldlose dafür büßen zu lassen, daß sie dieser Propaganda den Wert aktiver Hilfsversprechungen beigemessen haben. ({19}) - Ja, „Free Europe" ist gemeint; danke für den Zwischenruf! Es ist die höchste Zeit, daß wir uns einmal ernsthaft über das Verschwinden derartiger Institutionen unterhalten. ({20}) Wir Deutschen werden nie aufhören, die Forderung nach freier Selbstbestimmung der europäischen Völker zu erheben. Aber wir müssen uns ({21}) streng davor hüten, bei den Unterdrückten Illusionen über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung aufkommen zu lassen. ({22}) Die Verhütung solcher Illusionen sollte auch eines der Anliegen sein, die die Bundesregierung bei den Westmächten nachdrücklich zu vertreten hat. Vielleicht kann auch das dazu beitragen, daß der Osten sich einmal auf eine andere Sprache einläßt, als es die der Panzer und Raketen Ist. Denn wir wollen - ich muß das auch sagen - und wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben, daß es noch einmal eine Politik des freimütigen und friedlichen Gesprächs mit dem Osten über die Neuordnung Europas gibt. Der Glaube an diese Möglichkeit, so schwer er geworden ist, bildet sicher eines der Elemente, auf denen die Rettung ides Weltfriedens sich in diesen Tagen aufbaut. Es ist das große Verdienst unserer Schweizer Nachbarn, daß sie in diesem Glauben gehandelt und zu einer Konferenz Indiens, der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Englands auf Schweizer Boden eingeladen haben. Wir hoffen, daß sie zustande kommt. Denn noch wissen wir ja nicht, ob am Suezkanal die Waffen endgültig schweigen und welche Leiden idem ungarischen Volke noch bevorstehen. Wir werden alle Gespräche, die in den nächsten Wochen und Monaten geführt werden müssen, mit Aufmerksamkeit, aber auch mit der Bereitschaft zu der Überlegung verfolgen müssen. ob auch unsere Haltung einer Überprüfung und unsere Politik einer Änderung bedarf. Wir werden als kleiner Staat und ohne entscheidende militärische Machtmittel in dieser spannunggeladenen Welt nur bestehen können, wenn wir, statt uns in politischen Vorurteilen und rechthaberischem Festhalten an vorgefaßten Auffassungen gegenüberzutreten, uns einmal im einzelnen bemühen, zu überlegen, durch welche Maßnahmen unserer Politik wir uns an die veränderte Weltlage anpassen und ihr Rechnung tragen können. ({23}) Ich sage das ohne jede innenpolitische Absicht aus der festen Überzeugung, daß aus diesen Geschehnissen der letzten Wochen und Monate, aus der Erkenntnis, am Abgrund eines dritten Weltkrieges und damit der Vernichtung gestanden zu haben, sich die Weltpolitik einer grundlegenden Veränderung zuwendet. Lassen Sie mich dieser Hoffnung noch zwei Anregungen meiner Fraktion hinzufügen. Zunächst stimmen wir der Auffassung zu, die auch von anderer Seite schon zum Ausdruck gebracht worden ist, daß wir unsere Lieferungen an Israel so lange einstellen oder unterbrechen sollten, solange sich Israel einer friedlichen Regelung des NahostKonflikts auf der Grundlage von UN-Vorschlägen widersetzt und der Friede in Nahost nicht völlig gesichert ist. Dafür sollte die Bundesrepublik aber ihre Bereitschaft erklären, nach besten Kräften all den Menschen zu helfen, die Not leiden, weil sie zwischen die Mühlsteine der Machtpolitik geraten sind, sei es in Ungarn, sei es im Nahen Osten oder an anderen Stellen der Welt. Durch eine solche Haltung wird es uns vielleicht möglich sein, das Ansehen bei den Völkern der Welt wiederzugewinnen, das wir in der Vergangenheit als Nation eingebüßt haben, ein Umstand, der es uns manchmal schwer macht, das Unrecht anzuklagen, das uns und anderen laufend geschieht. ({24}) Wenn wir an der Linderung der Folgen des Unrechts aktiv mitzuhelfen bereit sind, dann werden die Völker der Erde sich auch einmal bereit finden, für unser Recht einzutreten, und wir hoffen das, weil nur auf der Wiederherstellung des Rechtes die Erhaltung des Friedens in der Welt beruht. ({25})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schneider.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002046, Fraktion: Freie Volkspartei (FVP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen der Fraktion der Freien Volkspartei gebe ich folgende Erklärung ab. Ich betone: Erklärung. Die Brutalität und Hinterhältigkeit des sowjetischen Vorgehens in Ungarn hat den Schleier zerrissen, den die sowjetische Führung im Zeichen der von ihr proklamierten Koexistenzpolitik über ihre wahren Absichten gelegt hatte. Es hat sich gezeigt, daß die Sowjets nicht gesonnen sind, den Völkern ihrer Satellitenstaaten die begehrte Freiheit zu geben, auch wenn diese Völker mit dem heroischen Mut des ungarischen Volkes, dem unsere Bewunderung gehört, für die Freiheit kämpfen. Sie sind unter grober Verletzung des Warschauer Pakts zu den grausamsten Methoden der stalinistischen Gewaltpolitik zurückgekehrt, indem sie dem ungarischen Volk unter rücksichtslosem Einsatz ihrer Machtmittel die verhaßte Sklaverei aufs neue aufzwangen. Die Sowjets haben damit aller Welt klargemacht, daß ihr Bekenntnis zu den Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker nur für Staaten außerhalb ihres Machtbereichs gelten soll und daß diese Prinzipien somit für sie nichts anderes sind als Propagandamittel, die sie in den Dienst der Politik einer weiteren Ausdehnung ihrer Macht stellen. ({0}) Die Verschlagenheit und Doppelzüngigkeit der sowjetischen Politik und die Unbedenklichkeit des Einsatzes aller Machtmittel, deren sich Moskau bedient, sind eine Mahnung an die Völker außerhalb des sowjetischen Machtbereichs, daß es gut für sie ist, alle politischen und Verteidigungsanstrengungen zu machen, damit sie nicht in die Gefahr kommen, eines Tages Moskau hilflos ausgeliefert zu sein. ({1}) Es ist bedauerlich, daß in diesem Augenblick, in dem das Mitgefühl der ganzen Welt dem schweren Schicksal des ungarischen Volkes gilt, die moralische Kraft, die die westliche Welt gegenüber den Sowjets zugunsten Ungarns einsetzt, durch das Vorgehen der englischen und der französischen Regierung gegen Ägypten abgeschwächt wurde. Zwar haben die Sowjets am allerwenigsten Anlaß, sich über die englisch-französische Intervention in Ägypten zu entrüsten. ({2}) ({3}) Die Sowjets bleiben der Welt schuldig, ihre Truppen aus Ungarn zurückzuziehen, bevor sie legitimiert sind, über eine Beilegung der Feindseligkeiten im Nahen Osten mitzusprechen. ({4}) Noch weniger kann behauptet werden, die sowjetische Gewaltanwendung in Ungarn wäre unterblieben, wenn das Vorgehen am Suezkanal unterblieben wäre. Die Sowjets waren schon im Sommer entschlossen, jede auf eine neutrale Stellung abzielende Freiheitsbewegung in ihren Satellitenstaaten rücksichtslos auszulöschen. Schon bei seinem Besuch in Belgrad im September dieses Jahres äußerte Chruschtschow in einer Rede - ich zitiere wörtlich -: Der internationale Kommunismus ist wie ein Kompanie Soldaten. Wenn in Reih und Glied einer zu straucheln beginnt und hinfällt, fallen alle anderen über ihn, und es gibt einen Sauhaufen. - Das stammt nicht von mir; ich zitiere. ({5}) Das müssen und das werden wir verhindern. In Polen und in Ungarn gibt es degenerierte Kommunisten, die glauben, der Kommunismus sei ein Warenhaus, in dem jeder das einkaufen kann, was ihm gerade paßt. Das ist ein Irrtum. ({6}) Entsprechend diesem Prinzip haben die Sowjets in Ungarn gehandelt. Für sie gibt es keine Freiheit von Satellitenstaaten, die zur Einräumung einer auch nur neutralen Stellung führt. Darüber hinaus muß auch gesagt werden, daß ein Vergleich zwischen den sowjetischen Gewaltmaßnahmen in Ungarn und dem militärischen Eingreifen Englands und Frankreichs am Suezkanal nicht möglich ist. Ungarn wird von den Sowjets seit elf Jahren unterdrückt wie alle anderen europäischen Völker in ihrem Bereich. Ägypten hingegen ist ein Land, das durch die Mithilfe Englands die Souveränität erhalten hat. In Ungarn ereignete sich ein elementarer Ausbruch der Verzweiflung, Ägypten hingegen steht unter der Herrschaft eines Diktators, der nicht nur durch einen eindeutigen Vertragsbruch einen typischen Akt der bei Diktatoren so beliebten Politik der vollendeten Tatsachen vollzog, sondern darüber hinaus einen ständigen Druck auf Israel ausübte und sich bei den Freiheitsbestrebungen der arabischen Welt zugunsten des sowjetischen Imperialismus mißbrauchen ließ. ({7}) Dessen ungeachtet bleibt es bedauerlich, daß England und Frankreich den militärischen Eingriff zu einem Zeitpunkt und unter Umständen begannen, die zur Folge hatten, daß sich eine starke Mehrheit der Vereinten Nationen unter Führung der stärksten Macht des Westens, der USA, gegen die englisch-französische Aktion wandte, die obendrein eingeleitet wurde, ohne daß die Bündnispartner der beiden demokratischen Länder in der NATO und der WEU konsultiert wurden. Wir dürfen aber jetzt unserer Genugtung und Freude darüber Ausdruck geben, daß sich die englische und die französische Regierung inzwischen entschlossen haben, die Waffen wieder schweigen zu lassen. Es sollte nun das Bemühen aller politischen Kräfte außerhalb des sowjetischen Machtbereichs sein, die Erneuerung solcher Gefahren durch das Vorgehen einzelner demokratischer Mächte für die Zukunft unter allen Umständen auszuschließen. ({8}) Für die deutsche Politik darf es auch weiterhin nur ein Gesetz des Handelns geben, und das ist das der Festigung des Friedens auf der Grundlage von Recht und Freiheit. Deshalb sollte die Bundesregierung mit ihrer ganzen Kraft dazu beitragen, daß die Vereinten Nationen zu einem tauglichen Instrument der Friedenserhaltung entwickelt werden, und hierfür ist nichts wichtiger, als daß die Vereinten Nationen mit einer internationalen Polizeistreitkraft von hinreichender Stärke ausgestattet werden, damit die Vereinten Nationen gerade in solchen Streitfällen wirksam intervenieren können, in denen sich die beiden Weltmächte gegenseitig paralysieren. Die Sowjetunion dürfte mit ihren neuerlichen Gewaltmethoden die Illusionen derjenigen gründlich zerstört haben, die in neutralistischen Wunschbildern einen Ausweg suchen. Entgegen diesen Illusionisten halten wir es für unsere Pflicht, den Defensivschutz unserer Divisionen und eines bodenständigen Heimatschutzes mit noch mehr Energie und Zielstrebigkeit zu schaffen, als das bisher der Fall war. ({9}) Die letzte Rede Grotewohls vom 2. November bestätigte erneut, daß das Pankower stalinistische Regime nichts anderes ist als eine Organisation von Handlangern im Dienste der russischen Machtpolitik. Es kann nicht wundernehmen, daß diese Handlanger einer solchen Gewaltpolitik, gestützt auf die sowjetischen Divisionen in Mitteldeutschland, eine Volksarmee von 120 000 Mann und Betriebskampfgruppen von 300 000 Mann, nur die Form der Wiedervereinigung Deutschlands anstreben, die ganz Deutschland zum sowjetischen Satelliten machen würde. Gefahren, die von daher drohen, können nur ausgeschlossen werden, wenn die Bundesrepublik über eine hinreichende Abwehrkraft im Rahmen der Gesamtabwehr der westlichen Welt verfügt. Dies bleibt die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß in Zukunft Verhandlungen mit den Sowjets über die deutsche Wiedervereinigung zu dem angestrebten Ziel gebracht werden können. Zu unser aller Leidwesen liegt eine tiefe Tragik in der Tatsache, daß das brutale Vorgehen der Sowjets in Ungarn die von der Bundesregierung betriebene und von den Koalitionsparteien getragene Außenpolitik nachdrücklich als richtig bestätigt. In Zukunft sollte es daher in der Bundesrepublik keine neutralistische Bewegung mehr geben. Es sollte auch keine politischen Kräfte mehr geben, die sich gegen die Stärkung Europas wenden oder gar die Wehrpflicht und die Aufstellung der deutschen Verteidigungskräfte verneinen. ({10}) Jedes Zögern bei der Verwirklichung dieser Vorhaben würde die Sowjets nur in der Hoffnung bestärken, es könnte ihnen die Unterwühlung der Bundesrepublik gelingen, und sie könnten ihr Ziel, die Macht über ganz Deutschland zu erlangen, erreichen. Es liegt nun bei uns, es liegt am ganzen deutschen Volk, es liegt bei diesem Hohen Hause, zu erkennen, daß der Verzicht auf Verteidigungsanstrengungen im Westen unermeßliche Gefahren ({11}) über alle europäischen Völker, vor allem aber über das deutsche Volk heraufbeschwören würde. Die Freie Volkspartei stimmt der Regierungserklärung nach Form und Inhalt zu. ({12})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Brühler.

Dr. Ernst Christoph Brühler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000278, Fraktion: Deutsche Partei (DP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen meiner Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben. In den ernsten Stunden, durch die die Welt in den letzten Tagen geschritten ist und die das deutsche Volk zutiefst erschüttert haben, sind - das glaubt die Fraktion der Deutschen Partei an den Anfang ihrer Erklärung stellen zu müssen - viele Illusionen der letzten Jahre zerstoben. Einer leidgeprüften Welt ist wiederum mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt worden, daß das Ziel aller Gutwilligen und Friedfertigen, die Probleme dieser Zeit allein nach den Maßstäben von Recht und Gerechtigkeit zu regeln, noch in weiter Ferne liegt. Sowohl die Ereignisse in Ungarn als im Nahen Osten haben dem deutschen Volk, das so sehr bereit ist, aus den bitteren Erfahrungen seiner Geschichte zu lernen, gezeigt, daß in entscheidenden Augenblicken in unserer Umwelt der Appell an die Waffen noch immer höher geschätzt wird als der unbedingte Wille zum friedlichen Ausgleich. Die Bundestagsfraktion der Deutschen Partei ist der Meinung, daß deutsche Politiker ein Recht haben, diese Gedanken an den Anfang von Ausführungen zur augenblicklichen weltpolitischen Lage zu stellen. Wir tun dies allerdings nicht in einem Gefühl auswegloser Resignation. Wir glauben, daß die furchtbaren Vernichtungsmittel, mit denen heute der Frieden in der Welt aufrechterhalten wird, jeden verantwortungsbewußten Politiker zwingen, nicht abzulassen in dem Bemühen, die Gewaltanwendung als Mittel der Politik auszuschalten. Trotz aller Fehlschläge dürfen wir nicht müde werden, am Aufbau einer Herrschaft des Rechtes und der Gerechtigkeit in einer friedlichen Welt mitzuwirken. Wenn es noch eines Anstoßes bedurft hätte, diese Aufgabe bitterernst zu nehmen, dann sind es die Angst und das Grauen, die in den vergangenen Tagen und Wochen schon wieder Millionen von Menschen der ganzen Welt ergriffen angesichts der Pläne von Politikern, die kaltrechnend die Sprache der Waffen in ihr politisches Kalkül einbezogen haben. Die Bundestagsfraktion der Deutschen Partei bleibt der Auffassung, daß der Appell an Gefühle allein nicht ausreicht, um Situationen wie die jetzige zu meistern. Es gehört dazu die klare Einsicht in Ursache, Wirkungen und Zusammenhänge. In diesem Sinne begrüßt die Deutsche Partei die Feststellung der Bundesregierung, wonach eine isolierte Betrachtung der Unruhezentren der vergangenen Wochen nicht möglich ist. Auch wir sind der Meinung, daß die Grundsätze - und das scheint uns eine für das deutsche Volk besonders wichtige Erkenntnis zu sein -, die am Ende des zweiten Weltkrieges verkündigt wurden, nicht verwirklicht worden sind. ({0}) Noch ist nicht abzusehen, welche Folgen die Politik der Gewalt in Südosteuropa und im Nahen Osten für das Zusammenleben der Völker untereinander haben und welche politischen Verschiebungen sich vielleicht aus diesen Vorgängen ergeben werden. Eines aber ist sicher: Bekennt sich nicht die ganze Welt heute uneingeschränkt zum Gedanken der friedlichen Beilegung aller Zwistigkeiten und zum Gedanken der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts für jedes Volk auf seinem eigenen Heimatboden, dann steht vor der ganzen Menschheit das Ende in einem fürchterlichen Chaos. ({1}) Deshalb bekräftigt die Deutsche Partei an dieser Stelle nochmals ihre Auffassung, daß Gewaltanwendung in der heutigen Zeit unter keinen Umständen mehr ein Mittel zur Austragung politischer Gegensätze sein darf, ({2}) und dieser Grundsatz hat uneingeschränkt für alle Völker und Nationen dieser Erde zu gelten, gleichgültig, zu welcher Staatsauffassung und Lebensform sie sich bekennen. ({3}) Daraus ergibt sich: Eine dauerhafte und friedliche Ordnung in der Welt ist nur gewährleistet, wenn erstens das Recht jedes Volkes auf seine eigene Existenz uneingeschränkt anerkannt und geachtet wird, zweitens Einmischungen in die inneren Verhältnisse eines Staates als ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft gewertet und geahndet werden, drittens auf jede Gewaltanwendung bei internationalen Streitigkeiten verzichtet und deren Regelung durch ein internationales Gericht oder durch eine mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattete politische Weltorganisation sichergestellt wird. Von diesen Grundsätzen hat sich die Deutsche Partei leiten lassen, als sie zu Anfang dieser Woche feststellte, daß England und Frankreich mit ihrem Eingreifen in Ägypten gegenüber dem bolschewistischen Osten einen moralischen Trumpf aus den Händen gegeben haben. Dadurch ist offensichtlich zwischen den Vorgängen im Nahen Osten und der blutigen Unterdrückung des ungarischen Freiheitskampfes ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt worden, der das deutsche Volk in allen seinen Schichten tief erschüttert hat. Es ist unser Recht, in dieser Stunde festzustellen, daß die Panzer, die nach dem verzweifelten Notruf eines ungarischen Freiheitssenders über die Herzen des ungarischen Volkes rollen, auch über die Herzen des um seine Wiedervereinigung ringenden deutschen Volkes rollen. Niemand in der Welt als wir Deutsche kann besser verstehen, von welchen Gefühlen das ungarische Volk in diesen Tagen bewegt wird. Wir alle sind schmerzlich davon betroffen, daß in dieser Stunde die freiheitliche westliche Welt nicht in der Lage war, mit größerem moralischem und politischem Gewicht sich hinter den ungarischen Freiheitskampf zu stellen. Die Bundestagsfraktion der Deutschen Partei erklärt in diesem Zusammenhang, daß die ungeteilte Zustimmung zum Freiheitswillen des ungarischen Volkes eine ebenso klare Zustimmung zum Willen nach Freiheit und Selbstbestimmung aller jungen Völker in der Welt bedeutet. ({4}) ({5}) Dabei schließt das deutsche Volk die berechtigten Forderungen der mit Deutschland in jahrzehntelanger Freundschaft verbundenen arabischen Welt als selbstverständlich ein. ({6}) Wir begrüßen es von dieser Stelle aus nachdrücklich, daß in diesen Auffassungen die große amerikanische Nation und das deutsche Volk eines Sinnes sind. Wir halten es für unsere Pflicht, gerade in diesem Augenblick daran zu erinnern, welchen Dank Europa und vor allem Deutschland den Vereinigten Staaten und seinem wiedergewählten Präsidenten schuldet. ({7}) Es ist unsere Hoffnung, daß Amerika kraft seiner moralischen Stärke und als Weltmacht entscheidenden Einfluß auf die friedliche Gestaltung dieser Welt und auf die Bewahrung von freiheitlichen Grundsätzen nehmen und uns in der für uns brennendsten Frage der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes auch weiterhin beistehen wird. Das deutsche Volk gedenkt in diesem Augenblick auch dankbar der Bemühungen der Schweizerischen Bundesregierung, die ihrerseits einen wichtigen moralischen Beitrag zur Bewahrung des Friedens geleistet hat. ({8}) In diesem Sinne bejaht die Bundestagsfraktion der Deutschen Partei auch die in der Öffentlichkeit weithin mißverstandene Reise des Herrn Bundeskanzlers nach Paris. ({9}) Sie sieht darin den Versuch des verantwortlichen deutschen Staatsmannes, auch seinerseits einen wesentlichen Beitrag zur politischen Entspannung und damit zur Wiederherstellung und Erhaltung des Friedens zu leisten. ({10}) Die Deutsche Partei hat seit Beginn ihrer Tätigkeit uneingeschränkt den Gedanken einer europäischen Einigung und einer unverbrüchlichen Zusammenarbeit der westlichen Welt bejaht. Sie steht nach wie vor zu diesen Grundsätzen als einer unabdingbaren Voraussetzung für die Bewahrung von Freiheit und Selbständigkeit der europäischen Völker. Dieses Bekenntnis bedeutet aber für das deutsche Volk kein Eintreten für überholte politische Konzeptionen, ({11}) die das Lebensrecht anderer Völker beeinträchtigen. Es ist unsere Pflicht - und so sehen wir auch die Reise des Herrn Bundeskanzlers nach Paris -, unseren europäischen Freunden in gefährlichen Stunden den Rat unseres schwergeprüften Volkes nicht vorzuenthalten. ({12}) Ich habe zu Anfang von den Illusionen gesprochen, die in den letzten Tagen und Wochen in der Welt zusammengebrochen sind. Jedem Einsichtigen hat die grausame Wirklichkeit klargemacht, daß in dieser Welt, auch wenn wir es noch so sehr beklagen, der Wille zur Freiheit und zur Selbstbehauptung nicht auf die Möglichkeiten zum eigenen Schutz verzichten darf. ({13}) Das deutsche Volk aber verdient Dank für seine besonnene Haltung, die es in diesen kritischen Tagen bewiesen hat. Seine Sehnsucht sind Frieden und Recht auf Erden. Sie zu schaffen, sind wir alle berufen. ({14})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, Rednermeldungen liegen nicht mehr vor. Wir stehen am Ende der Aussprache. Ich berufe die nächste, die 169. Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute nachmittag, 3 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.