Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich bekanntzugeben, daß die Sitzung des Ältestenrats erst nach Schluß der Plenarsitzung stattfinden wird.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 28. November 1955 unter Bezugnahme auf den Beschluß des Bundestages in seiner 108. Sitzung betreffend Städtebaulicher Ideenwettbewerb ;.Hauptstadt Berlin" und Architektenwettbewerb ,Wiederherstellung Reichstagsgebäude" über die Maßnahmen der Bundesregierung berichtet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1907 vervielfältigt.
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
a) Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung vom 1. Dezember 1955 ({0});
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betreffend Genfer Außenministerkonferenz der Vier Mächte ({1}).
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Ollenhauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Außenminister hat seine gestrige Regierungserklärung über die Genfer Konferenz im wesentlichen auf zwei Thesen aufgebaut, erstens auf der These von der Alleinschuld der Sowjetunion am negativen Ausgang der Verhandlungen in Genf über die deutsche Wiedervereinigung und die europäische Sicherheit und zweitens auf der These von der völligen Übereinstimmung der Interessen des deutschen Volkes mit der Verhandlungstaktik der drei Westmächte auf der Genfer Konferenz. Die Konsequenz einer solchen Beweisführung ist praktisch der Verzicht auf eine selbständige Politik der Bundesregierung in der Frage der Wiedervereinigung.
({0})
Wir sind der Auffassung, daß diese Betrachtungsweise weder der tatsächlichen Lage gerecht wird, die nach der Genfer Konferenz gegeben ist, noch daß sie die eigenen Aufgaben des deutschen Volkes in bezug auf die Wiedervereinigung genügend klar herausstellt.
Die Genfer Konferenz muß vor allem gesehen werden auf dem Hintergrund der internationalen Situation, wie sie sich seit Beginn der Entspannungsversuche vor allem zwischen den beiden entscheidenden Großmächten der Welt, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, entwickelt hat. Der Höhepunkt dieser Politik war die Juli-Konferenz der Regierungschefs. Zweifellos haben sich die Erwartungen der Völker in bezug auf eine fundierte Politik der Entspannung, der internationalen Abrüstung und der Lösung von Teilproblemen, wie z. B. der Überwindung der Spaltung Deutschlands, in der Zeit seit dieser Juli-Konferenz nicht erfüllt. Aber dennoch wird diese Politik weiterhin die Haltung der Großmächte der Welt maßgebend bestimmen.
Es ist bemerkenswert, daß in der internationalen Öffentlichkeit der negative Ausgang der Außenministerkonferenz im Oktober nicht als das Ende
({1})
der Entspannungspolitik angesehen worden ist, sondern daß man damit rechnet, daß trotz des unbefriedigenden Verlaufs der Außenministerkonferenz weitere Versuche zu einer Entspannung der internationalen Lage gemacht werden. Tatsächlich werden die Verhandlungen über die internationale Abrüstung im Unterausschuß der Vereinten Nationen weitergeführt, und die Anstrengungen, hier zu einer Lösung zu kommen, werden gerade nach der letzten Versuchsexplosion in Sibirien verstärkt werden.
In Genf haben außerdem neben den offiziellen Verhandlungen Besprechungen der Außenminister stattgefunden, die eine Vereinbarung zwischen den Westmächten und der Sowjetunion über die Aufnahme von 18 neuen Mitgliedern in die Vereinten Nationen zum Ziel hatten. Es ist damit zu rechnen, daß weitere Verhandlungen auf anderen Gebieten folgen werden und daß vielleicht auch der Versuch gemacht wird, in zweiseitigen Verhandlungen spezielle Probleme der internationalen Politik der Lösung näherzubringen. Jedenfalls kann man heute davon ausgehen, daß die Gefahr einer Verschärfung der internationalen Situation und die Gefahr eines großen bewaffneten Konfliktes heute geringer ist als vor drei Jahren. Der beherrschende Hintergrund für diesen Umstand ist die Tatsache, daß die Entwicklung der atomaren Waffen und anderer noch weit gefährlicherer Massenvernichtungswaffen in beiden Lagern der Weltpolitik die Verantwortlichen dieser beiden Mächtegruppen zwingt, aus Gründen der Selbsterhaltung das Risiko einer gewaltsamen Auseinandersetzung herabzumindern. Auch die sogenannte Entspannungspolitik der Sowjetunion basiert vor allem auf diesem Tatbestand. Sie ist nicht ein Ausdruck der Schwäche, sondern des Bewußtseins der wachsenden Ebenbürtigkeit eben im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung.
Die Sowjetregierung scheint außerdem von der Auffassung auszugehen, daß eine entscheidende Verschärfung der internationalen Lage in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, weil die amerikanische Außenpolitik mit den Präsidentenwahlen im Jahre 1956 zu rechnen hat und weil so, wie die Dinge heute liegen, vor allem nach dem aktiven Eingreifen des amerikanischen Präsidenten auf der Juli-Konferenz der Regierungschefs in Genf, die Auseinandersetzungen im amerikanischen Wahlkampf, soweit sie sich auf die Außenpolitik beziehen, in erster Linie um die Möglichkeit gehen werden, zu einer dauerhaften und befriedigenden Regelung der internationalen Streitfragen auf dem Verhandlungswege zu kommen und eine neue Verschärfung der internationalen Situation zu vermeiden.
Die Sowjetregierung betrachtet daher auch die Lösung der Deutschlandfrage zur Zeit nicht als vordringlich, soweit eine solche Lösung das Risiko des Verlustes des von ihr besetzten Teils Deutschlands bedeuten würde.
Die drei Westmächte haben schon aus den Erklärungen Bulganins am Ende der Juli-Konferenz, die diese veränderte Haltung der Sowjetregierung erkennen ließen, die Konsequenz gezogen, indem sie sich auf der Genfer Konferenz im Oktober so verhalten haben, daß auch ihre Positionen in Deutschland und in Westeuropa nicht geschmälert werden könnten. Ihr Standpunkt, keinem europäischen Sicherheitssystem auf der Basis der Fortdauer der Spaltung Deutschlands zuzustimmen, der sich durchaus mit der einmütigen Auffassung des Deutschen Bundestages deckt, gab ihnen die Möglichkeit, ihren Besitzstand und ihre Interessen in Europa und in Deutschland gegenüber der Sowjetunion zu wahren, solange die Sowjetunion nicht von sich aus erkennen läßt, daß sie bereit ist, Verhandlungen über eine Ablösung der Blockpolitik durch ein neues allumfassendes Sicherheitssystem unter Einschluß eines durch freie Wahlen wiedervereinigten Deutschlands aufzunehmen. Unter diesen Umständen war der negative Abschluß der Diskussion in Genf über die Deutschlandfrage und die europäische Sicherheit mit der Beibehaltung des Status quo nicht nur des geteilten Deutschlands, sondern auch der Interessensphären der beiden entscheidenden Machtgruppen in Europa fast unvermeidlich.
Man kann davon ausgehen, daß die so entstandene Lage nach der Genfer Konferenz den Sowjets mehr zusagt als den Westmächten. Sie haben Zeit gewonnen und sie glauben, daß dieser Zeitgewinn für sie arbeitet, weil er ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Aktivitäten auf politischem Gebiet, vor allem in der Bundesrepublik und in Westeuropa, fortzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, in eine neue Periode der Zuspitzung und des Wiederauflebens des Kalten Krieges zu kommen.
Für das deutsche Volk genügt nach unserer Auffassung unter diesen Umständen die Feststellung nicht, daß der Versuch der Wiederherstellung der deutschen Einheit am Widerstand der Sowjetunion gescheitert sei und daß uns nun nichts anderes zu tun bleibe, als die bisher betriebene Außenpolitik der Bundesrepublik mit noch größerer Entschiedenheit fortzusetzen. Ein derartiges Sichabfinden schließt die Gefahr in sich, daß die Frage der Wiedervereidigung Deutschlands für absehbare Zeit von der Tagesordnung internationaler Konferenzen verschwindet und daß sich dann aus dem normalen Ablauf der Dinge ein Zustand entwickelt, in dem die Teilung Deutschlands von vielen Menschen und vielen Völkern als eine zwar bedauerliche, aber unabänderliche Tatsache empfunden wird. Das bedeutet wenigstens, daß jeder Versuch einer Lösung der deutschen Frage in Zukunft immer schwerer und auch immer kostspieliger zu werden droht.
Dieser Gefahr kann man nur begegnen, wenn die Bundesrepublik nach Genf untersucht, welche Mittel und Wege es gibt, um die Frage der Wiedervereinigung so schnell wie möglich über den jetzt eingetretenen gefährlichen toten Punkt hinwegzubringen. Die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung sollte auf der Hand liegen, und man sollte deshalb über eine solche Überlegung nicht hinweggehen, indem man zurückfällt in die Methoden, die wir hier bei der Auseinandersetzung über die EVG erlebt haben, als man jede andere Überlegung für die Lösung dieses Problems als verantwortungslos, unverantwortlich oder feige bezeichnete.
({2})
Ich bedaure, daß in der gestrigen Rede des Herrn Außenministers wieder in dieser Weise argumentiert worden ist.
({3})
Ich will hier gar nicht im einzelnen die Politik der Vergangenheit untersuchen. Aber mindestens zwei Feststellungen sind in diesem Zusammenhang und heute unerläßlich:
({4})
Erstens. Es kann wohl heute niemand mehr ernsthaft bestreiten, daß es ein schwerer Fehler der Politik der Westmächte und der Bundesregierung gewesen ist, daß sie im Jahre 1952 nicht den Versuch unternommen haben, die Möglichkeiten einer für uns tragbaren Lösung der Frage der deutschen Einheit auf der Basis der Note der Sowjetunion vom März 1952 zu untersuchen.
({5})
Das war zu einem Zeitpunkt, als über die Einbeziehung der Bundesrepublik in NATO noch nicht entschieden war, und auch zu einem Zeitpunkt, als die Entwicklung der modernen Massenvernichtungswaffen die Lage noch nicht so entscheidend verändert hatte, wie es heute der Fall ist. Niemand kann mit Sicherheit den Erfolg einer solchen Verhandlung behaupten wollen. Aber ebensowenig kann bezweifelt werden, daß die Chancen für einen solchen Erfolg damals größer waren, als sie sich jetzt in. Genf gezeigt haben.
({6})
Zweitens hat sich die grundlegende These der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung als absolut irrig erwiesen, nämlich die These, die in der Einbeziehung der Bundesrepublik in NATO das wirksamste Mittel sah, die Sowjetunion zur Preisgabe der von ihr besetzten Zone Deutschlands zu zwingen.
({7})
Diese Erwartung und Vorstellung hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, diese Aufrüstungspolitik hat mindestens der Sowjetunion einen willkommenen Vorwand gegeben, ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung zu verweigern. Damit ist genau die Lage eingetreten, die wir Sozialdemokraten befürchtet haben und vor der wir hier in diesem Hause unablässig gewarnt haben.
({8})
Auch die Frage nach der richtigen Taktik während der jetzigen Außenministerkonferenz in Genf bedarf der Untersuchung. Es war richtig, daß dieses Mal die westlichen Außenminister darauf bestanden haben, die europäische Sicherheit und die deutsche Einheit als ein Ganzes zu behandeln. Wir sind ihnen dankbar, daß sie diese Position bezogen haben; denn wir Sozialdemokraten haben dieses Junktim: Wiedervereinigung und Sicherheit bereits während der Verhandlungen auf der Berliner Konferenz im Jahre 1954 verlangt, ohne damals mit dieser Forderung bei der Bundesregierung und bei den westlichen Außenministern durchzukommen. Das war jedenfalls ein Fortschritt gegenüber der Berliner Situation. Aber in der seit Berlin veränderten internationalen Situation konnte die Sowjetunion zu einer ernsten Verhandlung über diesen gemeinsamen Problemkomplex nur gezwungen werden, wenn die sowjetische Delegation in Genf ganz konkret vor die Frage gestellt worden wäre, was ihre konkreten Vorstellungen und Bedingungen für den militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems sein würden.
Selbstverständlich hätte eine solche Fragestellung die prinzipielle Bereitschaft der Westmächte und der Bundesrepublik einschließen müssen, auch die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO und die Pariser Verträge in die Verhandlungen einzubeziehen. Jeder Sicherheitsvorschlag, der diese Konsequenzen zu vermeiden sucht, ist angesichts der gegebenen Lage und der Haltung der Sowjetunion aussichtslos.
Die Westmächte haben sich leider nicht dazu entschließen können, diese Frage gegenüber ihrem sowjetischen Verhandlungspartner aufzuwerfen, und die Bundesregierung hat sich ausdrücklich geweigert, einen solchen Wunsch an die Westmächte heranzubringen.
({9})
Wir bedauern, daß die Bundesregierung vor und
während Genf diese Initiative nicht ergriffen hat.
Die Bundesregierung behauptet, es sei von vornherein klar gewesen, daß die Sowjetregierung entschlossen gewesen sei, auch einer solchen Lösung ihre Zustimmung zu verweigern. Dabei bezieht sie sich auf die Erklärung von Herrn Molotow, daß die Sowjetunion niemals der Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands in einem Militärblock oder der Schaffung eines wiedervereinigten, selbständig aufgerüsteten Deutschlands zustimmen würde.
Hier ging es nicht um die Zugehörigkeit eines wiedervereinigten Deutschlands zu einem dieser Militärblöcke, nicht um die. Aufrüstung eines selbständig für sich stehenden Deutschlands, hier ging es um die dritte Lösung, nämlich um die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in einem von Ost und West akzeptierten europäischen Sicherheitssystem.
({10})
Die Weigerung der Westmächte, diesen Vorschlag aufzubringen, hat Molotow in Wirklichkeit einer Antwort auf diese Frage enthoben. Das ist eine sehr angenehme Position für die russische Politik; denn damit ist ihr die Notwendigkeit einer Klarstellung über ihr wirkliches Interesse an einer umfassenden Entspannung in Europa durch die Lösung der deutschen Frage und des Sicherheitsproblems erspart geblieben.
({11})
Es ist durchaus möglich, daß die Antwort der Sowjetregierung negativ gewesen wäre, mindestens in diesem Augenblick; aber für die Klärung der Positionen auch in den kommenden Entwicklungen und Verhandlungen wäre sehr vieles gewonnen worden.
({12})
Jedenfalls hätte die deutsche Regierung, die Bundesregierung, auf die Behandlung dieses Punktes nicht verzichten dürfen, weil ja vor allem für das deutsche Volk die größtmögliche Klarheit über die Positionen der für die Einheit Deutschlands verantwortlichen Mächte dringend erwünscht ist.
Ich will nicht im einzelnen auf die Frage eingehen, die der Herr Außenminister gestern hier auch angeschnitten hat, nämlich, ob er nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Moskau nicht gut daran getan hätte, in Genf auch eine Unterhaltung mit dem russischen Außenminister zu führen. Selbstverständlich hätte es sich dabei nicht um zweiseitige Verhandlungen handeln können; aber eine solche persönliche Aussprache hätte vielleicht auch für die Außenminister der Westmächte über einige Punkte der sowjetischen Auffassung größere Klarheit schaffen können.
({13})
({14})
Der Verzicht auf eine solche Unterhaltung ist um so bedauerlicher, als feststand, daß die drei westlichen Außenminister gegen eine solche Unterhaltung keinerlei Bedenken hatten.
({15})
Diese Taktik der Bundesregierung in Genf hat dazu geführt, daß die Bundesregierung die Vertretung der deutschen Interessen und die Klärung der Lage völlig den drei westlichen Außenministern überlassen hat, ohne eine eigene Initiative zu entwickeln. Das ist ein Verzicht auf eigene Initiative, der mir vor allem für eine Regierung, die so stolz auf die wiedererlangte Souveränität ist, zu weit zu gehen scheint.
({16})
Was mich veranlaßt, diese kritische Bemerkung zu machen, ist noch ein anderer Umstand. Die Bundesregierung war in Genf durch eine offizielle Delegation vertreten, von der uns gestern der Herr Außenminister wieder berichtet hat, daß sie laufend und vollständig von den drei Westmächten informiert und auch konsultiert worden sei. Wir kennen die Ratschläge nicht, die die deutsche Delegation bei diesen Konsultationen den westlichen Außenministern gegeben hat. Aber es war mehr als befremdend, daß der Leiter der deutschen Delegation bereits nach dem ersten Drittel der Konferenz öffentlich in einem Presseinterview erklärte, daß von dieser Konferenz in der deutschen Frage nichts zu erwarten sei und daß sie völlig ergebnislos ausgehen werde.
({17})
Wenn das die Einstellung der Leitung der deutschen Delegation ist, kann man doch nicht erwarten, daß sie ihre Aufgabe erfüllt, auch in schwierigen Situationen immer noch zu versuchen, vom deutschen Interesse her die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen.
({18})
Wir halten es für absolut unmöglich, daß sich solche Praktiken beamteter Mitglieder einer deutschen Beobachterdelegation in Zukunft wiederholen.
({19})
Was das Sicherheitsproblem angeht, so kann ich zu diesem Punkt abschließend nur feststellen, daß es eine gemeinsame Lösung der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands und der Frage der europäischen Sicherheit auch in Zukunft nicht geben wird, wenn nicht alle Beteiligten bereit sind, einer Lösung zuzustimmen, die die beiden Teile Deutschlands aus den jeweiligen Militärallianzen entläßt und die das wiedervereinigte Deutschland in ein umfassenderes kollektives Sicherheitssystem einordnet, mit allen notwendigen Verpflichtungen für unsere eigene Sicherheit und für die Sicherheit unserer Partner.
Der negative Ausgang der Genfer Verhandlungen über Punkt eins der Tagesordnung ist selbstverständlich auch maßgebend dadurch bestimmt worden, daß Herr Molotow dieses Mal mit noch größerem Nachdruck als früher die Wiedervereinigung an die Bedingung geknüpft hat, den jetzigen Zustand in der sowjetisch besetzten Zone zu erhalten, und daß er seine Zustimmung zu freien Wahlen davon abhängig gemacht hat, daß Garantien für die Erhaltung dieses Zustandes gegeben werden. Für die Bundesregierung ist nach der gestrigen Erklärung des Herrn Außenministers nunmehr diese Forderung der Sowjetunion zum Kardinalpunkt der Rechtfertigung ihrer Politik geworden. Zweifellos war die Rede Molotows vom 8. November auch von einer Schroffheit und Eindeutigkeit, wie er sie seit langem nicht zu erkennen gegeben hat.
Aber ich meine, wir haben uns hier zu fragen, was diese Haltung Molotows tatsächlich bedeutet, um die richtige Antwort darauf zu finden. Vom Standpunkt der jetzigen sowjetischen Politik in der Deutschlandfrage ist sie durchaus logisch. Will man die Wiedervereinigung jetzt nicht, erklärt man, daß die Politik der Sowjetunion von der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, so mußte selbstverständlich die sogenannte DDR in Genf und in der öffentlichen Meinung der Welt, vor allem auch im östlichen Machtbereich, so weit aufgewertet werden wie nur möglich. Wenn man darauf besteht - und das ist die gegenwärtige Linie der Politik der Sowjetunion -, daß die beiden deutschen Regierungen miteinander verhandeln sollen, dann muß man den eigenen Verhandlungspartner so attraktiv und so stark wie möglich erscheinen lassen. Das heißt nicht, daß das immer so bleibt; denn die DDR ist noch mehr als die Satellitenstaaten in Osteuropa nur ein Objekt der russischen Außenpolitik und kein Partner.
({20})
Aber, meine Damen und Herren, der eigentliche Zweck dieser Lobesreden auf die DDR war zweifellos, deutlich zu machen, daß der Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands jetzt höher ist als früher.
({21})
Damit mußten wir nach all den Ankündigungen, die wir vor der Eingliederung der Bundesrepublik in NATO von der sowjetischen Seite gehört haben, rechnen.
({22})
Was nun uns Sozialdemokraten angeht, so können wir uns weder mit dem Status quo der Teilung Deutschlands, noch mit einer Lösung des Problems der Wiedervereinigung Deutschlands auf volksdemokratischer Grundlage abfinden.
({23})
Wenn in der Sowjetpolitik die Vorstellung bestünde, daß ein solcher Preis zu erreichen sei, sollte die Sowjetunion in allem Ernst zur Kenntnis nehmen und mit dem Tatbestand rechnen, daß wir Sozialdemokraten in dieser Frage übereinstimmen mit allen, die ein wiedervereinigtes Deutschland auf der Basis der Freiheit und des Rechts anstreben.
({24})
Außerdem muß man sich darüber klar sein, daß dieser Teil der Argumentation des russischen Außenministers in Genf ja auch gedacht ist als ein wesentliches Mittel der politischen Aktivitäten, die die Kommunisten in der nächsten Zeit in der Bundesrepublik in verstärktem Maße entfalten werden, um vor allem die Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften zu infiltrieren und aufzuweichen. Vielleicht steckt sogar mehr dahinter, nämlich - wie so oft in Diktaturstaaten - eine illusionäre Beurteilung der politischen Kräfte, auf die man zur Unterstützung der eigenen Politik einzuwirken versucht. Die Politik der kommunisti({25})
schen Parteien und der Sowjetunion in der Vergangenheit ist gekennzeichnet durch eine Kette
derartiger Fehleinschätzungen und Fehlleistungen.
({26})
Es ist Sache der Sowjetregierung, sich damit auseinanderzusetzen. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit gegenüber der Sowjetregierung mit aller Eindeutigkeit erklären: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau zugestimmt, vor allem aus dem Grunde, weil wir auch mit der Sowjetunion in ein normales Verhältnis zu kommen wünschen, das sachliche Gespräche und Verhandlungen über gemeinsame Angelegenheiten der beiden Völker ermöglicht, um so mehr als ohne die Zustimmung der Sowjetunion eine Wiederherstellung der deutschen Einheit niemals möglich sein wird. Wir stehen zu diesem Beschluß, und wir wünschen, daß die Bundesregierung die Abmachungen von Moskau loyal und ohne nachträgliche Abwertung und ohne unnötige Verzögerung durchführt.
({27})
Ich erkläre aber, daß die Sozialdemokratische Partei niemals einer Regelung der Wiederherstellung der deutschen Einheit zustimmen wird, die die völlige oder auch nur teilweise Übernahme oder Eingliederung des heute in der Sowjetzone herrschenden kommunistischen Diktatursystems vorsieht.
({28})
Zwischen den Vorstellungen und Praktiken dieser SED-Diktatur in der Zone und den Vorstellungen des freiheitlichen und demokratischen Sozialismus gibt es keinen Kompromiß.
({29})
Es handelt sich bei der Gegnerschaft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten nicht um einen Bruderstreit oder um eine familiäre Auseinandersetzung. Es geht auch nicht um taktische Meinungsverschiedenheiten über den Weg zum Ziel, sondern es geht um einen nicht zu überbrückenden prinzipiellen Grundsatz. Der Kommunismus basiert auf der Politik der reinen Macht und der Verachtung des Menschen, der demokratische und freiheitliche Sozialismus wird getragen von der Anerkennung der Freiheit und der Würde des Menschen.
({30})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein Wort sagen. In der Rede von Herrn Molotow und in der kommunistischen Agitation, vor allem auch in den letzten Deklarationen der kommunistischen SED, wird immer wieder besonders der Versuch gemacht, die Erhaltung der sogenannten sozialen Errungenschaften in der DDR zum Kernstück der kommunistischen Wiedervereinigungspolitik zu erheben und dabei besonders an die Gefühle und Überzeugungen der Menschen in der Bundesrepublik zu appellieren, die sich den Kampf für eine gerechtere ökonomische und soziale Ordnung in Deutschland zum Ziel gesetzt haben.
Im Augenblick der tatsächlichen Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands wird es eine schwere Aufgabe sein, Mittel und Wege zu finden, um diese beiden Teile wieder zu einer Einheit werden zu lassen. Diese Einheit herbeizuführen etwa durch die Übertragung des heutigen kommunistischen Systems in der Zone auf ganz Deutschland ist unmöglich.
({31})
Sie wird mit dem Willen der großen Mehrheit des deutschen Volkes niemals erfolgen.
({32})
Aber, meine Damen und Herren, auf der anderen Seite ist auch die Lösung dieser Frage durch den einfachen Anschluß der Sowjetzone an die Bundesrepublik nicht möglich.
({33})
Es gibt nur einen vertretbaren und gangbaren Weg: die Entscheidung über die zukünftige politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung wird allein bei den gesetzgebenden Beschlüssen eines aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Parlaments liegen.
({34})
Jede Beschränkung dieser Entscheidungsfreiheit des deutschen Volkes über seine innerstaatliche und gesellschaftliche Ordnung von außen her ist unannehmbar;
({35})
und jeder Versuch der russischen Politik und der kommunistischen Propaganda, an der hier skizzierten Haltung der Sozialdemokratie etwas zu ändern oder sie abzuschwächen, ist zum Scheitern verurteilt.
({36})
Es wäre gut, wenn die Sowjetregierung diese Feststellungen als einen wesentlichen Beitrag zur Beurteilung der tatsächlichen innerdeutschen Situation zur Kenntnis nehmen wollte.
({37})
Meine Damen und Herren, die Frage, vor der wir in der Bundesrepublik und auch die Westmächte jetzt nach dem unbefriedigenden Verlauf der Genfer Konferenz stehen, ist die: Welche Position muß das Problem der deutschen Einheit und der europäischen Sicherheit in Zukunft in der internationalen Politik einnehmen? Das deutsche Interesse verlangt gebieterisch, daß gerade jetzt die Frage der Wiedervereinigung als die vordringlichste Aufgabe der deutschen Politik behandelt wird. und zwar und vor allem auch in allen Gesprächen und Verhandlungen, zu denen unsere Regierung die Möglichkeit hat. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein Wort hinzufügen, und zwar ein Wort, das auch die demokratischen Kräfte in der Welt. außerhalb der Bundesrepublik, angeht: Jede Politik, die sich praktisch mit dem Scheitern der Genfer Außenministerkonferenz abfindet und bereit ist. die Frage der deutschen Wiedervereinigung zunächst einmal auf Eis zu legen, verletzt nicht nur ein berechtigtes nationales Interesse des deutschen Volkes. dessen Anspruch auf seine staatliche und nationale Einheit nicht bestritten werden kann. Eine solche Ausklammerung der deutschen Frage würde auf lange Sicht auch neue und ernste Gefahren für die Demokratie überhaupt hervorrufen können.
Bis heute ist glücklicherweise das Verlangen des deutschen Volkes nach der Wiederherstellung sei({38})
ner staatlichen Einheit getragen von den entscheidenden demokratischen Kräften in unserem Volke. Das heißt, bisher konnte diese nationale Grundforderung frei gehalten werden von jedem nationalistischen und aggressiven Einschlag. Man wird vielleicht erst später die volle Bedeutung dieses Tatbestandes für die relative Stabilität der Demokratie im Herzen Europas in den letzten Jahren voll ermessen können.
({39})
Wenn aber im Volk der Eindruck entsteht, daß die demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik und im Westen in der deutschen Frage resignieren, dann wird die sich daraus ergebende Enttäuschung sehr leicht eine Entwicklung fördern können, in welcher in der deutschen Politik die Frage der Wiedervereinigung unter sehr gefährlichen nationalistischen Vorzeichen wieder auf die Tagesordnung gebracht wird.
({40})
Ich will mit derselben Offenheit und mit demselben Ernst hinzufügen: ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß eine solche Entwicklung auch in den sowjetischen Vorstellungen über ihre Deutschland- und Europa-Politik in den nächsten Jahren eine gewisse Rolle spielt.
({41})
Es wäre ja nicht das erstemal in der Geschichte, daß die Sowjetunion in ihrem politischen Kampf durchaus bereit ist, sich auch mit nationalistischen Kräften und mit von ihnen sonst so heftig bekämpften Interessengruppen zu verbinden.
({42})
Dieser Gefahr zu begegnen, wird allerdings auch eine innenpolitische Aufgabe der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik in der nächsten Zukunft sein müssen.
({43})
Die Sozialdemokratie bedauert auf das tiefste den unbefriedigenden Ausgang der Genfer Konferenz. Sie zieht daraus den Schluß, daß es gerade jetzt besonderer Anstrengungen der Deutschen selbst bedarf, um das Gespräch über die Wiedervereinigung so weit als möglich wieder in Gang zu bringen. Es darf keine Möglichkeit ungenutzt bleiben, um den toten Punkt zu überwinden.
Nach Lage der Sache ist die Forderung nach der sofortigen Einberufung einer neuen Viermächtekonferenz nicht realistisch; aber wir erwarten von der Regierung, daß sie auf diplomatischem Wege unverzüglich alle Möglichkeiten benutzt, um eine solche neue Viermächtekonferenz in absehbarer Zeit mit größerer Aussicht auf Erfolg vorzubereiten. Diese diplomatischen Verhandlungen sollen nach unserer Auffassung allseitig, d. h. mit den Regierungen aller vier Länder, die für das Schicksal Deutschlands entscheidend sind, geführt werden. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau hat doch nur dann einen politisch vertretbaren Sinn, wenn diese neue Möglichkeit des direkten Gesprächs mit der sowjetischen Regierung in den Dienst der Vorbereitung erfolgreicher neuer Viermächteverhandlungen über die deutsche Einheit gestellt wird.
({44})
Der Herr Bundeskanzler selbst hat gerade diese Aufgabe als eine wesentliche Begründung für seine Zustimmung zu den Moskauer Abkommen gegeben; und der Herr Außenminister hat sich gestern mit Recht auf diese Erklärung des Bundeskanzlers berufen. Beiden Erklärungen müssen Taten folgen.
({45})
Allerdings setzt die Aufnahme solcher Gespräche voraus, daß die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen nun auch ohne Verzug und ohne eine neue nachträgliche Abwertung der politischen Bedeutung dieser Abmachungen erfolgt. Denn nur so kann das Mindestmaß von Vertrauen auf beiden Seiten geschaffen werden, ohne das jedes fruchtbare Gespräch unmöglich ist.
Wenn wir hier die Notwendigkeit der Ausnutzung unserer diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion so nachdrücklich unterstreichen, so möchte ich ausdrücklich hinzufügen, daß nach unserer Auffassung zweiseitige Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau mit dem Ziel, zu zweiseitigen Vereinbarungen zu kommen, nicht möglich sind. Wir sprechen ausdrücklich von allseitigen Vereinbarungen, das heißt, in unseren Gesprächen oder Verhandlungen mit der Sowjetunion darf nichts geschehen, ohne daß die drei Westmächte darüber in vollem Umfange informiert sind. Allerdings, dasselbe gilt auch für Gespräche über die Wiedervereinigung mit den Westmächten und unsere Verpflichtung der Information in dieser Frage gegenüber der Sowjetunion. Die direkten Unterhaltungen mit Moskau können und dürfen und sollen unser enges und freundschaftliches Verhältnis zu den Westmächten nicht aufheben, ja nicht einmal schmälern, denn es beruht auf einer ganz anderen Basis.
Hinzu kommt, das wissen wir alle, daß es über diese freundschaftlichen Beziehungen hinaus für die Bundesrepublik ja auch noch die vertraglichen Verpflichtungen gibt, deren loyale Einhaltung eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Soweit neue Verhandlungen mit den vier Regierungen über die Wiedervereinigung auch diese vertraglichen Verpflichtungen berühren, müssen sie in jedem Fall zum Gegenstand unserer Verhandlungen mit unseren Gesprächspartnern werden, damit keine berechtigten Zweifel an unserer Vertragstreue aufkommen können.
({46})
Aber im Hinblick auf manche Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit in der letzten Zeit möchte ich hinzufügen, daß Erörterungen über Vertragsänderungen oder über die Anpassung der Verträge an eine veränderte Situation, die ja im Vertrag selbst ausdrücklich vorgesehen sind, überhaupt nichts zu tun haben mit der Loyalität gegenüber den Verträgen.
({47})
Meine Damen und Herren! Das zweite Problem, mit dem wir uns neu auseinandersetzen müssen, betrifft das Verhältnis der Bundesrepublik zu der Bevölkerung in der Sowjetzone. Diese Menschen sind durch den negativen Ausgang der Genfer Konferenz besonders hart getroffen. Die Gefahr der Mutlosigkeit und des Resignieren ist groß. Wir können ihnen nicht mit einem Wunder helfen, aber wir müssen verstärkte Anstrengungen machen, um die technischen Voraussetzungen für
({48})
die Normalisierung der Beziehungen zwischen uns und diesem Teil des deutschen Volkes so weit wie nur möglich auszubauen. Dazu bedarf es Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen bundesrepublikanischen und sowjetzonalen Behördenstellen. Die Durchführung solcher Verhandlungen auf dieser Ebene wird sicher in Zukunft erschwert werden durch die Forderung der Pankower Regierung, sie als souveräne Regierung anzuerkennen und mit ihr zu verhandeln.
Wir Sozialdemokraten haben vor Genf den Versuch gemacht, dieser Schwierigkeit zu begegnen, indem wir in unseren Vorschlägen für die Genfer Konferenz die konkrete Anregung gegeben haben, die Westmächte sollten eine Rahmenvereinbarung der Vier vorschlagen, durch die deutsche Stellen ermächtigt werden, in Ausübung des Mandates der Vier für die Wiedervereinigung bestimmte technische Fragen in den Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu regeln. Dieser Vorschlag war der überlegte Gegenzug gegen den sogenannten Staatsvertrag, den die Moskauer Regierung mit Pankow Ende Juni abgeschlossen hat. Das Ziel war, der Forderung Pankows nach Anerkennung durch Bonn entgegenzuwirken und dennoch eine weitgehende Erleichterung der psychologischen und materiellen Situation der Bevölkerung in der Zone durchzusetzen.
Meine Damen und Herren! Wir bedauern es außerordentlich, daß die Bundesregierung diesem Vorschlag in aller Form widersprochen hat und daß er so in Genf nicht zur Verhandlung gekommen ist, und wir erwarten nunmehr von der Bundesregierung, daß sie ihrerseits Vorschläge macht, wie sie sich ohne eine solche Rahmenvereinbarung die notwendigen konkreten Maßnahmen vorstellt, die durchgeführt werden müssen, wenn wir die Bevölkerung in der Sowjetzone nicht dem Gefühl überlassen wollen, wir hätten sie abgeschrieben.
Ich möchte noch hinzufügen, daß wir selbstverständlich in dem von Herrn Molotow vorgeschlagenen Gesamtdeutschen Rat kein geeignetes Instrument sehen, diese Fragen zu behandeln. Außerdem will man ja auch diesem Gesamtdeutschen Rat in erster Linie politische Aufgaben zuweisen, die darauf hinauslaufen, eine Wiedervereinigungspolitik der SED zu fördern, die ihr System in der Zone auf alle Fälle schützt und sichert. Das ist ja nur ein neuer Vorschlag in der Kette der vielen Versuche der Kommunisten, mit der Parole „Deutsche an einen Tisch!" die Frage der Wiedervereinigung auf die innerdeutsche Ebene zu verlagern in der Hoffnung, hier eine gute Ausgangsposition für die Durchsetzung ihrer Vorstellungen von einem wiedervereinigten Deutschland zu schaffen und sozusagen die politischen Konsequenzen von freien Wahlen in ganz Deutschland von vornherein zu ihren Gunsten zu verfälschen und abzuwerten.
Die Ablehnung solcher Versuche ergibt aber die Verpflichtung der Bundesregierung, nach anderen Mitteln und Wegen zu suchen, der Bevölkerung in der Zone zu helfen. Wie schwierig die Lage ist, zeigen die letzten Vorgänge in Berlin. Wir unterstützen die dringende Forderung, die die Bundesregierung an die Westmächte gerichtet hat, um von der Sowjetregierung die Einhaltung des Viermächtestatus von Berlin nachdrücklichst zu fordern, und wir freuen uns, daß die drei Botschafter ihrem sowjetischen Kollegen in Berlin ihren Standpunkt in einer Note dargelegt haben. Aber ich möchte doch auch hier hinzufügen: Es ist durchaus denkbar, daß ein solcher Notenwechsel mit dem sowjetischen Botschafter nicht ausreicht, sondern daß auch die westlichen Regierungen bereit sein müssen, auf der Ebene der Verhandlungen von Regierung zu Regierung diese Frage des Status von Berlin unmittelbar in Moskau zur Sprache zu bringen.
({49})
Meine Damen und Herren! Wir kennen die Kompliziertheit des Problems, nämlich der Beziehungen der Sicherheit von Berlin, der Beziehungen zur Bevölkerung der Sowjetzone, und ich möchte deshalb sagen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion durchaus bereit ist, intern in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages mit der Bundesregierung die praktischen Möglichkeiten zu erörtern. Aber die Dringlichkeit des Problems, die Notwendigkeit, daß die Regierung hier initiativ wird, möchte ich in aller Öffentlichkeit und mit allem Nachdruck unterstreichen, und ich möchte eine Bitte hinzufügen: Wir sollten gerade diese Diskussion nicht, wie es hier und da in der Öffentlichkeit geschehen ist, mit der törichten Behauptung belasten, auf diese Weise, nämlich der Aufnahme technischer Kontakte, fördere die Sozialdemokratie - gewollt oder ungewollt - die Absichten von Pankow.
({50})
Das genaue Gegenteil ist der Sinn unserer Vorschläge gewesen. Wir können nur hoffen, daß es der Regierung gelingt, uns neue und bessere Lösungen vorzulegen im Interesse der Menschen in der Zone, deren Schicksal uns allen so sehr am Herzen liegt.
({51})
Ich komme zum Schluß. Ich habe bei der gestrigen Erklärung des Herrn Außenministers den Eindruck gehabt, daß bei der Regierung das Gefühl vorherrscht, daß für absehbare Zeit die Frage der Wiedervereinigung nicht gelöst werden kann und daß von deutscher Seite auch nicht viel zur Veränderung dieser Lage unternommen werden kann. In diesem Eindruck bin ich vor allem auch durch die sehr knappen und allgemeinen Bemerkungen des Herrn Außenministers über die weiteren Absichten der Regierung in bezug auf eine aktive Wiedervereinigungspolitik bestärkt worden. Ich habe in der Rede des Herrn Außenministers ein Wort darüber vermißt, daß die Regierung Überlegungen anstellen wird, welche neuen Notwendigkeiten und Aufgaben sich aus der Lage nach Genf ergeben.
({52})
Niemand verlangt, daß so unmittelbar nach einem solchen wichtigen Ereignis die Regierung hier in allen Details die Konsequenzen aus einer solchen Lage darstellt und die notwendigen praktischen Aufgaben entwickelt. Aber die Ankündigung daß eine solche Untersuchung und die Ausarbeitung derartiger neuer Überlegungen beginnen und durchgeführt werden wird, hätten wir wenigstens in der gestrigen Rede des Herrn Außenministers erwartet.
({53})
Ich möchte jedenfalls für meine Fraktion davor warnen, daß man aus dem Verlauf der Genfer Konferenz in erster Linie den Schluß zieht, sich nun lediglich darauf zu konzentrieren, die vertraglichen Verpflichtungen über die Aufrüstung der Bundes({54})
republik beschleunigt durchzuführen, um damit einen erneuten Beweis für die absolute Vertragstreue der Bundesregierung zu erbringen. Ich verstehe das Bedürfnis der Bundesregierung, hier gewisses Mißtrauen und Unsicherheiten auf der westlichen Seite zu beseitigen, die nach den Abmachungen des Bundeskanzlers in Moskau entstanden sind,
({55})
aber eine solche Politik der Durchführung der Pariser Verträge ist keine Antwort auf die durch Genf gegebene Situation.
({56})
Die im Vertrag vorgesehene Aufrüstung der Bundesrepublik ist außerdem in ihrem militärischen Wert für die Sicherheit Deutschlands heute noch fragwürdiger, als sie es schon früher war.
({57})
Und noch fragwürdiger sind die Methoden, mit denen man jetzt die beschleunigte Aufrüstung durchzuführen versucht.
({58})
Wir haben schon einmal die forcierte Behandlung des Freiwilligengesetzes vor den Sommerferien gehabt, und wir warnen Sie davor, diesen Weg noch einmal zu gehen, nicht nur aus innerpolitischen Gründen, sondern weil Sie überzeugt sein dürfen, daß Sie durch solche Methoden das Vertrauen in den demokratischen Geist der Mehrheit dieses Hauses nicht verstärken, sondern nur noch mehr abschwächen können.
({59})
Im übrigen, meine Damen und Herren, werden wir über diesen Komplex bei anderer Gelegenheit noch zu reden haben. Aber ich frage mich, ob es angesichts des Standes der Rüstung, vor allen Dingen in den entscheidenden modernen Waffenarten, und angesichts der gegebenen internationalen Situation vom Standpunkt des deutschen Interesses nicht etwas ganz anderes geben könnte. um in dieser Sache ein Wort mitzusprechen, als die forcierte Aufrüstung der Bundesrepublik. Es wäre z. B. eine sehr wesentliche Leistung, wenn die Regierung in der gegenwärtigen internationalen Lage und im Interesse der Sicherheit des deutschen Volkes gerade letzt ein Wort sprechen oder einen Schritt unternehmen wollte, um durch einen Annell an die Großen der Welt sie aufzufordern, Schluß zu machen mit der wahnwitzigen Entwicklung der modernen Massenvernichtungswaffen
({60})
und nach Wegen zu suchen, die eine effektive,
international kontrollierte Abrüstung als das beste
Fundament einer friedlichen Politik ermöglichen.
Meine Damen und Herren, der beste und wirksamste Beitrag, den die Bundesrepublik aus eigenem für die Entspannung in der Welt leisten kann, ist eine aktive deutsche Politik für die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Darum ist es unsere Forderung an die Bundesregierung, alle Möglichkeiten und alle Unternehmungen in ihrer Außenpolitik der unverändert vordringlichen und großen Aufgabe dienstbar zu machen, die uns gestellt ist, nämlich der baldigen Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes in Freiheit und der Eingliederung des geeinten Deutschlands in ein Sicherheitssystem, das unsere eigene und die Sicherheit aller anderen Völker gewährleisten kann.
({61})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Dr. Adenauer, Bundeskanzler ({0}): Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich möchte Herrn Kollegen Ollenhauer ausdrücklich danken für die klare und unzweideutige Erklärung, daß für uns alle eine Wiedervereinigung nur auf der Basis der Freiheit und des Rechtes möglich ist.
({1})
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß eine derartige klare Feststellung, wie sie der Verlauf der heutigen Sitzung noch weiter ergeben wird, für die deutsche Außenpolitik auch gegenüber Sowjetrußland von sehr wesentlicher Bedeutung ist.
Ich möchte aber bitten, meine Damen und Herren, nicht mehr vom „toten Punkt" zu sprechen. Es gibt in der Politik überhaupt keinen toten Punkt. Und, Herr Kollege Ollenhauer, verlassen Sie sich darauf: auch in der Frage der Wiedervereinigung gibt es für die deutsche Bundesregierung keinen toten Punkt.
({2})
Herr Ollenhauer hat ein sehr wahres und sehr ernstes Wort gesprochen, als er gesagt hat, es bestehe die große Gefahr, daß sich die übrige Welt an den jetzigen Tatbestand der Teilung Deutschlands gewöhn e. Ein sehr wahres Wort. Aber, meine Damen und Herren, dieses Wort bedarf noch einer Ergänzung: es ist auch eine große Gefahr, daß die übrige Welt der ständigen Befassung mit dem deutschen Problem überdrüssig wird. Zwischen diesen großen Gefahren für uns Deutsche, zwischen Skylla und Charybdis, müssen wir miteinander - soweit es eben geht - die deutsche Politik richtig führen.
Ich glaube nicht, daß jemals von einem Vertreter der Bundesregierung erklärt worden ist, der Eintritt der Bundesrepublik in NATO sei das beste Mittel, die Sowjetunion zu zwingen, der Wiedervereinigung zuzustimmen.
({3})
- Nein, meine Damen und Herren, das ist dieses große Mißverständnis von der Politik der Stärke, das mich zwingt, das Wort zu ergreifen. Meine Damen und Herren, es gibt auch eine Politik der Schwäche,
({4})
und die Politik der Schwäche ist gegenüber der Sowjetunion unendlich viel schlimmer als die Politik der Stärke.
({5})
Dabei möchte ich doch nachdrücklich betonen, daß, wenn von einer Politik der Stärke gesprochen wird, gar nicht gedacht ist ausschließlich oder auch nur in der Hauptsache an militärische Stärke.
({6})
({7})
Die Politik der Stärke muß darin bestehen, daß man seinen Standpunkt in wichtigen politischen Fragen sehr klar und sehr entschieden auch dem Gegner gegenüber vertritt. Das ist die Politik der Stärke!
({8})
Ich verstehe die Trauer und die Sorge in der Sowjetzone, und ich glaube in der Tat, wir alle miteinander müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, um in der Sowjetzone die Überzeugung wachzuhalten, daß das freie Deutschland immer zu ihrer Verfügung steht und immer für sie eintreten wird.
({9})
Nun möchte ich noch einige Sätze sagen über die Überzeugung, die ich aus den Verhandlungen in Moskau mitgenommen habe und die sich in der Zwischenzeit durch den Verlauf der Verhandlungen in Genf verstärkt und gefestigt hat. Zunächst: Herr Kollege Ollenhauer kennt Herrn Molotow nicht, wenn er glaubt, daß eine Besprechung von Herrn von Brentano mit Molotow irgendwie auch nur im entferntesten den Gang der Dinge hätte beeinflussen können.
({10})
Ich wiederhole nochmals: Wer Herrn Molotow ungefähr eine Woche lang erlebt hat, der weiß, daß das ein Irrtum ist.
Aber meine Überzeugung ist von neuem bestärkt worden, daß auch das Problem der deutschen Wiedervereinigung ein Teilproblem ist in der großen Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Freiheit.
({11})
Die Sowjets sind überzeugt davon, daß es dem Kommunismus gelingen wird, die ganze Welt zu erobern. Sie sind weiter überzeugt davon, daß Sowjetrußland die neue kommunistische Welt führen oder beherrschen wird - das kommt darauf an. Aber, meine Damen und Herren, gegenüber diesen weltanschaulichen Überzeugungen der Russen muß es für uns nur eines geben: die Überzeugung - und das Handeln entsprechend dieser Überzeugung -, die auf der weltanschaulichen Basis steht, daß die Freiheit stärker ist als die Sklaverei.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der enttäuschende Verlauf der Genfer Konferenz beherrscht unsere heutige Debatte. Genf war eine bittere Lehre. Es ist die Frage, ob wir sie richtig verstanden haben.
({0})
Der Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten hat gestern im Verlauf der Regierungserklärung die Vorgeschichte und den Verlauf der Genfer Konferenz dargelegt und hat schließlich eine Bilanz gezogen. Wir haben soeben die Darstellung des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion, des Herrn Kollegen Ollenhauer, und seine kritischen Bemerkungen zu den Ausführungen des Bundesaußenministers gehört. Wir hatten schließlich die Freude, ein Wort des Bundeskanzlers dazu zu hören, des Bundeskanzlers, der nach längerer Krankheit zum erstenmal in diesem Hause wieder das Wort genommen hat. Ich möchte doch die Gelegenheit benutzen, unsere Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, daß er wieder gesund unter uns ist.
({1})
Ich kann nicht verhehlen, daß sehr vieles in den Ausführungen des Fraktionsführers der sozialdemokratischen Fraktion mich tief befriedigt hat, nicht deswegen, weil ich etwa ein Einschwenken der sozialdemokratischen Politik auf unsere Linie feststellen oder unterstellen möchte, sondern ganz einfach deswegen, weil ich glaube, bemerken zu dürfen, daß wir uns tatsächlich, auch wenn wir uns über sehr wichtige Probleme noch uneins sind, über andere, nicht minder wichtige Probleme der deutschen Politik in Übereinstimmung befinden. Das ist eine außerordentlich wichtige Feststellung.
Herr Kollege Ollenhauer, wenn wir bei solchen Diskussionen zu einer gegenseitigen Klärung unserer Standpunkte kommen wollen, dann müssen wir, glaube ich, dreierlei ernsthaft versuchen. Wir müssen erstens einmal prüfen: Sind wir uns eigentlich über den Sachverhalt, den gesamten außenpolitischen Sachverhalt, einig? Zweitens: Ergibt sich eine solche Einigkeit auch in dem Versuch einer Deutung oder Analyse dieses Gesamttatbestandes? Und endlich natürlich drittens: Kommen wir daraufhin zu gemeinsamen Schlußfolgerungen für unsere Außenpolitik?
Ich fürchte, es wird auf jedem dieser drei Gebiete noch erhebliche Uneinigkeiten geben. Aber ich will einmal den Versuch machen, in meinen folgenden Ausführungen dabei einiges zu klären.
Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich zunächst etwas vorwegnehme, was banal klingen könnte, nämlich die Feststellung, daß ich manchmal den Eindruck habe, daß wir das wichtigste Grundfaktum der gegenwärtigen Weltsituation und also auch unserer Situation, von dem soeben der Bundeskanzler gesprochen hat, nämlich das Phänomen Sowjetrußland, doch nicht genügend zur Kenntnis nehmen. Jüngst hat mir unser früherer Bundestagskollege der sozialdemokratischen Fraktion, Herr Eichler, „geschichtsphilosophische Wanderungen" vorgeworfen, die nach Genf korrigiert werden müßten. Ich fürchte, er hat mich mißverstanden. Meine Darlegungen in diesem Hause bei früheren Gelegenheiten waren vielmehr Wanderungen in die Geschichtsphilosophie der Sowjetunion, eine Geschichtsphilosophie, die eine ebenso grundlegende und bedeutungsvolle Tatsache ist wie die wirtschaftliche und militärische Macht der Sowjetunion selbst. Es ist gut für uns, wenn wir versuchen, in dieser marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie einigermaßen bewandert zu sein.
({2})
Jüngst fiel bei der Diskussion in der Beratenden Versammlung des Europarats von einem der dortigen Repräsentanten das Wort: Mon dieu, die Russen haben ihre Interessen, der Westen hat die seinen, und man muß eben versuchen, wie man übereinkommt. Ich fürchte, das ist genau die Auffassung, die ich für falsch halte. Gewiß ist auch Sowjetrußland eine Macht, und zwar eine sehr bedeutende Macht im herkömmlichen Sinn des Wortes; aber Sowjetrußland ist mehr. Diese Macht will nicht nur
({3})
die Herrschaft des Kommunismus in ihrem eigenen Lande und Staate befestigen, sie erstrebt - offen zugestanden - die Durchsetzung der Weltrevolution. Dadurch, daß man das vielleicht hundertmal wiederholen muß, stumpft man dagegen ab; aber es ist eine Wirklichkeit, die äußerste Gefahr ankündet.
Aber darüber hinaus bedeutet die Tatsache der kommunistischen Ideologie in den Köpfen der verantwortlichen sowjetrussischen Führer doch mehr. Es bedeutet eine besondere Methode des Denkens und eine durch dieses Denken bestimmte Taktik und Strategie ihres politischen Handelns. Dieses Denken prägt auch ihre Sprache und gibt ihren politischen Begriffen einen genau bestimmten, auf das Ganze ihres politischen Dogmas bezogenen Sinn.
Obgleich wir das alles im Grunde genommen wissen, neigen wir doch dazu, uns je und je täuschen zu lassen und diesen Tatbestand zu übersehen, und zwar nicht nur da, wo die Sowjetrussen selber Begriffe wie „Koexistenz" prägen, sondern noch mehr da, wo sie Begriffe und Worte verwenden, die in der freien Welt gebräuchlich sind, wie etwa „friedliebend", „demokratisch", „demokratische Organisationen" und z. B. „freie Wahlen".
Damit komme ich zu einer These, die Herr Kollege Ollenhauer aufgestellt hat. Es hätten sich gerade in diesem Punkte zwischen der Berliner Konferenz und der Konferenz in Genf erhebliche Veränderungen in der Haltung der Sowjetunion ergeben. Er sagte in diesem Zusammenhang, daß inzwischen der Preis höher geworden sei, wie er denn auch in Zukunft immer höher werden müsse. Herr Molotow hat zwar in Genf gesagt: Ja, in Berlin waren wir mit gesamtdeutschen freien Wahlen einverstanden; aber inzwischen haben sich so viele Dinge zugetragen - nicht etwa nur die Eingliederung der Bundesrepublik in die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft, nein, insbesondere die Änderung der politischen und gesellschaftlichen Struktur in der - sogenannten - Deutschen Demokratischen Republik -, daß wir jetzt damit nicht mehr einverstanden sein können. Aber was hat denn Herr Molotow in Berlin zu dem Punkte „Freie Wahlen" wirklich gesagt? Es ist wichtig,, daß wir das feststellen; denn nur dann können wir zu der These, die auch Herr Ollenhauer sich - wie manche andere - zu eigen gemacht hat, Stellung nehmen.
Herr Molotow hat in der Rede vom 4. Februar 1954 im Grunde genommen genau dieselben Ausführungen zum Problem der freien gesamtdeutschen Wahlen gemacht wie in Genf.
({4})
In Genf ist er nur in einigen Punkten konkreter geworden. Lassen Sie mich bitte daran erinnern. Fr forderte damals in Berlin: Vorbereitung des Entwurfs eines gesamtdeutschen Wahlgesetzes, das einen wirklich demokratischen Charakter der gesamtdeutschen Wahlen, die Teilnahme aller demokratischen Organisationen an den Wahlen und die Durchführung von Wahlen unter den Verhältnissen wirklicher Freiheit gewährleiste, die den Druck auf den Wähler von seiten der Großmonopole ausschließe, sowie Sicherung freier Betätigung demokratischer Parteien und Organisationen und Nichtzulassen des Bestehens von faschistischen, militaristischen und anderen Organisationen, die der Demokratie und der Erhaltung des Friedens feindlich sind.
Was soll das heißen? Das ist doch genau dasselbe, was er in Genf gesagt hat. Er will eben in Wahrheit keine freien demokratischen Wahlen.
({5})
Wenn er von wirklich freien und demokratischen Wahlen, von Zulassung demokratischer Organisationen außer den Parteien spricht, wenn er sagt, daß faschistische, militaristische und andere Organisationen - das sind doch ganz einfach nichtkommunistische Organisationen ({6})
nicht zugelassen werden sollen, wo soll da der Unterschied gegenüber Genf liegen? Er hat sich schon in Berlin ebenso grundsätzlich zum Problem der freien Wahlen geäußert wie in Genf, wo er die Vorzüge der Einheitsliste in Sowjetrußland und in der sogenannten DDR, verglichen mit dem demokratischen westlichen Wahlsystem, pries. Das hat er auch in Berlin schon getan. Er hat damals gesagt, man dürfe sich nicht einfach auf den Automatismus solcher Wahlen verlasen, und er hat mit großem Sarkasmus Herrn Eden vorgeworfen, daß er sich für formalen Konstitutionalismus, für Fragen des Wahlverfahrens und ähnliches begeistern könne; man brauche nach Herrn Edens Auffassung offenbar nur ein gutes Wahlgesetz anzunehmen, und dann würde alles schon ganz von selbst klappen. Er hat deutlich genug gesagt, wie er sich es denkt: Die Deutsche Demokratische Republik repräsentiere diejenigen Kräfte, die die rascheste Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage gewährleisten sollten.
Ich glaube, mit diesen wenigen Sätzen habe ich den Nachweis geführt, daß sich in der Frage sogenannter freier gesamtdeutscher Wahlen der sowjetrussische Standpunkt von der Berliner Konferenz bis zur Genfer Konferenz nicht im mindesten geändert hat, auch wenn Herr Molotow dies behauptet.
({7})
Der Herr Kollege Ollenhauer hat in diesem Zusammenhang uns und den westlichen Mächten den Vorwurf gemacht, daß man es versäumt habe, im Jahre 1952 die in der sowjetrussischen Note angebotene Lösung der Deutschlandfrage durchzuführen. Ich glaube, Herr Kollege Ollenhauer, Sie können beim besten Willen nicht beweisen, daß die Sowjetunion im Jahre 1952 wirklich zur Lösung des Deutschlandproblems, die wir alle unbedingt fordern müssen und fordern, bereit war, nämlich auf der Grundlage - nun einmal von uns aus gesagt
- wirklich freier gesamtdeutscher Wahlen.
({8})
- Ich wende mich jetzt gegen die These, daß man eine historische Gelegenheit versäumt habe. Ich möchte meinen, es war von vornherein klar, was die Sowjetunion wollte. Sie hat sofort drüben die Zone gleichgeschaltet, sie hat in der Zone ihr politisches System eingeführt. War man etwa der Meinung, daß sie, nachdem sie das einmal getan hatte, nachdem sie also dem Kommunismus eine so weit vorgeschobene Position geschaffen hatte, diese Position leicht wieder aufzugeben bereit wäre? Ich glaube, wir sind uns diese Feststellungen schuldig,
({9})
({10})
weil sonst ein geschichtlicher Mythos entsteht. - Nein, Herr Kollege Mommer, ich komme auf diese Frage, ob es eine Hoffnung für die deutsche Wiedervereinigung gibt, selbstverständlich zurück. Es gibt nach meiner Meinung nur nicht die Erfüllung der Hoffnungen, so wie Sie es sich in der Vergangenheit vorgestellt haben und vielleicht auch heute noch vorstellen.
({11})
- Nein, die Wiedervereinigung durchaus nicht abschreiben! Warten Sie! Haben Sie ein bißchen Geduld! Dann will ich Ihnen zusätzlich zu dem, was hier schon gesagt worden ist, darlegen, wie wir uns die Dinge denken. Wir sollten uns nicht gegenseitig immer und immer wieder den geringeren guten Willen zur Wiedervereinigung vorwerfen.
({12})
Ich sprach davon, daß wir versuchen müssen, festzustellen, ob wir uns über den Sachverhalt „Phänomen Rußland" einig sind, also darüber, daß wir es dabei nicht nur mit einer herkömmlichen Macht und ihrer Interessenpolitik, sondern mit einem von den Sowjetrussen zugegebenen weltrevolutionären System zu tun haben. Dabei macht es wenig Unterschied, ob uns Sowjetrußland erklärt: „Wir werden diese Weltrevolution von uns aus mit allen möglichen propagandistischen und politischen Mitteln fördern" - das haben ja die sowjetrussischen Führer in den letzten Jahren des öfteren gesagt -, oder ob sie uns etwas beschwichtigend erklären: „Ihr seid ja ohnehin alle zum Untergang verdammt; diese Revolution wird sich überall ohne unser Zutun durchsetzen", so wie mir einer der sowjetrussischen Führer sagte, „genau so wie sie sich ohne unser Zutun in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Rumänien durchgesetzt hat."
({13})
Der Außenminister hat in der Regierungserklärung zehn - meine Damen und Herren: zehn!
- außen- und innenpolitische Vorbedingungen aufgezählt, die nach der Meinung der sowjetrussischen Führer, nach der Meinung Herrn Molotows in Genf im Laufe einer langen Periode verwirklicht werden müßten, um schließlich eine Regelung der deutschen Frage zu ermöglichen. Sind wir uns darüber einig, daß das ernsthaft gemeinte Vorbedingungen Sowjetrußlands sind? Wenn wir das aber sind, meine Damen und Herren - und Herr Ollenhauer hat in seinen Ausführungen zum Ausdruck gebracht, er glaube, daß es ernsthafte Bedingungen seien -, und wenn wir uns einig sind, was diese Bedingungen bedeuten: erstens nur eine Lösung der deutschen Frage über die Einigung zwischen uns und der sogenannten DDR, zweitens Aufrechterhaltung des kommunistischen Zustandes in der DDR jetzt und nachher in einem wiedervereinigten Deutschland und drittens die in sehr konkreter Art gemachten Andeutungen über eine Änderung der sozialen und politischen Struktur auch der Bundesrepublik als Bedingung für die Wiedervereinigung -, dann, meine Damen und Herren, erscheint der Vorwurf, den die Opposition der Verhandlungsführung in Genf macht, der Vorwurf, daß man es unterlassen habe, an die Sowjetrussen die Frage zu stellen, wie sie sich zu dem künftigen militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschland stellen, doch verhältnismäßig geringfügig.
Ich möchte mich gewiß keiner Übertreibung schuldig machen. Aber ist es denn nicht so, daß Sowjetrußland sehr klar gesagt hat, wie es sich den künftigen politischen Status eines wiedervereinigten Deutschland vorstellt? Auch bei größter Objektivität muß man feststellen, daß dieser Status so aussieht, daß die Sowjetunion offenbar nur ein Deutschland zu akzeptieren bereit ist, das entweder vollkommen sowjetisch ist oder in dem der von Sowjetrußland geführte Kommunismus einen dominierenden Einfluß hat.
({14})
In einem solchen Deutschland ist die Frage nach dem militärischen Status natürlich sinnlos; denn jeder Soldat innerhalb eines solchen Deutschlands würde dem Machtbereich Sowjetrußlands dienen.
Aber haben wir auch bemerkt, daß Herr Molotow in Genf einen Schritt weitergegangen ist? Er hat ja gar nicht nur Nachdruck gelegt auf das Fernbleiben Gesamtdeutschlands aus irgendeinem westlichen Verteidigungssystem, er hat nicht nur Nachdruck gelegt auf das künftige politische System Gesamtdeutschlands, das kommunistisch oder stark kommunistisch beeinflußt sein müsse, er hat auch der Illusion, so glaube ich, ein Ende gemacht, daß Sowjetrußland bereit sei, ein wiedervereinigtes, bündnisloses Deutschland zu akzeptieren, das irgendwelche nennenswerten Streitkräfte hätte. Er hat in Genf gesagt: Für die europäischen Völker bildet ein solches Deutschland eine Gefahr, unabhängig davon, ob es Teilnehmer militärischer Gruppierungen der Westmächte oder selbst Organisator militärischer Gruppierungen in Europa ist. Das heißt doch: nicht einmal ein neutralisiertes waffenloses Deutschland ist Sowjetrußland zu akzeptieren bereit.
({15})
- Ich lese es Ihnen wörtlich vor; die Sache ist ja wichtig genug. Es ist die Rede vom 8. November 1955. Wer die Zusammenstellung des Auswärtig en Amts „Die Außenministerkonferenz in Genf" in Händen hat, findet diesen Ausspruch Molotows auf Seite 169 unten. Dort heißt es:
Für die europäischen Völker bildet ein solches Deutschland eine Gefahr, unabhängig davon, ob es Teilnehmer militärischer Gruppierungen der Westmächte oder selbst Organisator militärischer Gruppierungen in Europa sein wird. Werden wir der Umwandlung Deutschlands in einen militaristischen Staat
- nicht die Eingliederung in die NATO keinen Riegel vorschieben, so wird die Gefahr eines neuen Krieges sich unermeßlich erhöhen.
({16})
- Ich bitte sehr.
Herr Kollege Kiesinger, Sie sagten, daß auch ein neutrales, waffenloses Deutschland von Herrn Molotow für eine Gefahr erklärt worden sei. Beim zweiten Vorlesen habe ich den Eindruck nicht gehabt, daß Molotow so gesprochen hat.
({0})
Ich habe mich tatsächlich versprochen. Hier handelt es sich also darum, daß Molotow nicht bereit ist, ein neutralisiertes Deutschland mit einer nennenswerten Streitkraft zu akzeptieren. Ich bitte um Entschuldigung.
Haben Sie übersehen, daß Herr Molotow sich über ein Deutschland, das im Rahmen eines Sicherheitsvertragswerkes eine bestimmte Funktion zugeordnet bekommen könnte, nicht geäußert hat?
Herr Kollege Schmid, wenn Sie diesen Passus in der Molotow-Rede lesen, dann, glaube ich, können Sie nicht annehmen, daß Molotow hier etwas anderes gemeint haben kann, als zum Ausdruck zu bringen, daß ein Deutschland, wie immer seine Position sei, unter keinen Umständen nennenswerte Streitkräfte haben dürfe.
Nehmen Sie dann an, daß sich die sowjetische Haltung seit ihrer Note vom Jahre 1952 geändert hat?
Die Frage, ob die sowjetrussische Haltung sich seit ihrer Note im Jahre 1952 oder seit Jalta oder seit Potsdam zu irgendeinem Zeitpunkt geändert habe, ist historisch außerordentlich schwer zu beantworten, und zwar ganz einfach deswegen, weil man ja erst im Verlauf einer Konferenz, in der es zu harten Aushandlungen gekommen wäre, hätte sehen können, was wirklich Wille und Ziel der sowjetrussischen Politik gewesen ist. Aber wenn Sie unterstellen wollen, daß Sowjetrußland damals etwa bereit gewesen sei, einer anderen Lösung zuzustimmen, dann müßte man daraus die Konsequenz ziehen, daß es heute jedenfalls einer solchen Lösung nicht mehr zustimmen würde.
Vielleicht müßte man auch fragen, aus welchen Gründen es das getan hat!
Nun, meine Damen und Herren, ich möchte aber einen Schritt weitergehen. Sollten wir uns nicht ernstlich fragen, was das wirkliche Problem für Sowjetrußland in der Frage der deutschen Wiedervereinigung ist? Ist es wirklich die mit so viel Nachdruck immer und immer wieder herausgestellte militärische Frage, der militärische Aspekt, der Sicherheitsaspekt im militärischen Sinne? Herr Kollege Ollenhauer hat selbst gesagt, daß dieser militärische Aspekt für Sowjetrußland gar nicht so wichtig sei. Ich stimme ihm zu. In einem Zeitalter, in dem beide Lager die Wasserstoffbombe besitzen, ist tatsächlich die Kriegsgefahr, die Gefahr eines totalen Krieges als ultima ratio einer festgefahrenen Politik, außerordentlich unwahrscheinlich geworden, und es ist durchaus denkbar - ich halte es sogar für wahrscheinlich -, daß Sowjetrußland sich heute in verhältnismäßiger Sicherheit zu befinden glaubt. Von da her müssen wir meines Erachtens manche Reaktionen der sowjetrussischen Politik verstehen.
Ich möchte aber gleich hinzufügen, Herr Kollege Ollenhauer: Die Bedeutung des Verteidigungsbeitrages, den die Bundesrepublik im Rahmen der Anstrengungen der westlichen Welt, insbesondere hier auf dem Boden Westeuropas, macht, kann dabei nicht gering geschätzt werden. Im Gegenteil, diese Bedeutung ist gerade deswegen, weil es so ist, so außerordentlich groß. Ich spreche das bekannte Problem an, daß trotz des Besitzes der Wasserstoffbombe, oder vielleicht gerade wegen dieses Besitzes, die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung mit herkömmlichen Waffen auch auf europäischem Boden keineswegs ausgeschlossen ist.
({0})
Um dieser Gefahr zu begegnen, nicht allein durch Verträge - die für sich allein ja nie genügen -, sondern auch durch Schaffung von Verteidigungsrealitäten, muß das europäische Verteidigungswerk im Rahmen der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft mit einem deutschen Beitrag so rasch und so gründlich wie möglich vorangetrieben werden.
({1})
Das bedeutet keinen feindseligen Akt gegenüber der Sowjetunion. Ich glaube, die sowjetrussischen Führer sind Realisten genug, zu sehen, was wir damit wollen.
({2})
- Lieber Herr Kollege Wehner, ich bin auch durch meinen Besuch in Moskau nicht davon überzeugt worden, daß die sowjetrussischen Führer etwa die Realitäten nicht richtig sehen.
({3})
- Ich kann Ihnen nur sagen: ich bin überzeugt, man versteht in Sowjetrußland durchaus, daß der Westen Europas - wenn man einmal annimmt, daß die Wasserstoffbomben in einem kommenden Krieg nicht zum Einsatz kommen werden oder daß wenigstens eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht -, daß der Westen Europas und die übrige freie Welt gar keine andere Wahl haben als die, der ungeheuren Überlegenheit Sowjetrußlands in konventionellen Waffen eine gleich starke Kraft auf diesem Gebiet entgegenzusetzen, und davon sind wir leider Gottes noch weit entfernt.
({4})
Ich stimme durchaus Herrn Kollegen Ollenhauer zu: das eine tun und das andere nicht lassen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch.
({5})
Wir sollten uns durchaus mit all jenen Kräften verbünden, die heute an die Großen dieser Welt appellieren, das Wettrüsten mit den schrecklichen modernen Waffen endlich zu beenden. Aber Sie wissen genau so wie ich, daß Sowjetrußland primär die Abrüstung auf dem Gebiet der Wasserstoffbomben fordert, ohne gleichzeitig die Abrüstung auf dem Gebiet der konventionellen Waffen mit einzubeziehen.
({6})
- Sie stimmen mir zu, Herr Kollege Mende, wenn ich Sie recht verstehe. - Das ist etwas, was die westliche Welt um ihrer Sicherheit willen nicht annehmen kann.
Man muß also davon ausgehen, daß Sowjetrußland in der gegenwärtigen Stunde nicht bereit ist
- und das sagten Sie ja wohl auch, Herr Kollege Ollenhauer -, der Wiedervereinigung Deutsch({7})
lands näherzutreten, wenn nicht alle Bedingungen, die es gestellt hat, erfüllt sind. Da kommt nun meine These: Selbst ein waffenloses und neutralisiertes Deutschland steckt in dieser sowjetrussischen Rechnung nicht drin. Das ergibt die Bedingung der Einbeziehung der sogenannten DDR mit ihrer gesamten kommunistischen Substanz in das zukünftige Deutschland und die Forderung nach Änderung der sozialen und politischen Struktur in der Bundesrepublik.
Einer Ihrer Kollegen, Herr Eichler, hat jüngst gesagt, offenbar habe die Sowjetunion zwei Ziele: das Maximalziel, Gesamtdeutschland unter seinen Einfluß zu bekommen, oder wenigstens, wenn dies bei der Bundesrepublik mißglücken sollte, die kommunistische Substanz im Osten zu halten. Infolgedessen wird man nicht sagen können, daß die sowjetrussische Politik eine Politik des Status quo sei. Ich fürchte, wir müssen hinzufügen: Die sowjetrussische Politik will den gegenwärtigen territorialen Stand erhalten; sie will aber darüber hinaus versuchen, die kommunistische Position in den Westen und vor allen Dingen in die Bundesrepublik vorzuschieben.
({8})
Das ist jedenfalls ein Versuch, auf den sie es ankommen lassen will. Ob er glückt oder nicht, darauf will sie offenbar warten; denn sie glaubt, daß ihrer Politik der Erfolg beschieden sein wird.
Sie selbst, Herr Kollege Ollenhauer, haben Vermutungen darüber angestellt, welches etwa die Motive, die Gedankengänge, die Berechnungen sein könnten, die Sowjetrußland anstellt, um diese Zuversicht zu hegen. Wir sind gewiß auf Vermutungen angewiesen. Aber es ist nicht schwer, sich klarzumachen, welche Gedankengänge in den sowjetrussischen Köpfen tatsächlich vorhanden sind. Sie glauben an den automatischen Zerfall der kapitalistischen Welt, sie glauben daran, daß diese zum Untergang verdammt ist. Sie gehen davon aus, daß, obwohl diese kapitalistische Welt nach kommunistischer Theorie eines Tages den Kommunismus in seinem Heimatland zerstören wolle, die technischen Gegebenheiten der heutigen Situation, insbesondere der Besitz der Wasserstoffbombe in beiden Lagern, diesen Gelüsten einen Riegel vorschieben. Ihre Blicke gehen nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie wissen, daß die öffentliche Meinung des amerikanischen Volkes gegen kriegerische Abenteuer eingestellt ist. Sie wissen, daß auch die amerikanische Regierung - Präsident Eisenhower und Herr Dulles haben es ihnen ja versichert - gegen jedes kriegerische Abenteuer steht. Sie glauben also, wie sie uns auch in Moskau versichert haben, daß die derzeitigen Führer der westlichen Politik ernsthaft den Frieden wollen. Auch das sagt ihnen: wir haben Zeit.
Ähnlich steht es in Großbritannien. In Großbritannien ist noch das besondere Problem der kolonialen Überlieferung gegeben. Wir alle wissen, wie sehr Sowjetrußland die Ressentiments der kolonialen Welt gegen die bisherigen kolonialen Mächte auszunutzen bestrebt ist, um Wasser auf die Mühlen des Kommunismus zu leiten. Daher das Übergreifen der sowjetrussischen Politik nach Asien, Afrika, ja nach Südamerika.
Und in Europa! Man hat uns vorgeworfen, daß unser neuer Appell zu einer verstärkten Politik europäischer Einigung eine Art Alternative zur nicht stattfindenden Wiedervereinigung sei. Meine
Damen und Herren, wann je haben wir Ihnen Anlaß für eine solche Behauptung gegeben?
({9})
Wir haben die europäische Einigung immer als ein Werk betrachtet, das gerade auch der deutschen Wiedervereinigung besser als vieles andere dienen könnte. Daß wir das Werk der europäischen Einigung vorantreiben müssen, liegt auf der Hand. Europa zwischen den Giganten der heutigen Zeit, insbesondere unter dem Druck des Ostens, hat doch überhaupt nur eine Chance, wenn es sich so rasch wie möglich zusammenfindet.
({10})
Es handelt sich auch hier wiederum nicht um eine Unternehmung, die gegen Sowjetrußland gerichtet ist. Sowjetrußland kann doch nicht ernsthaft behaupten, daß das klein gewordene Europa eine Gefahr für die Riesenmacht, die Sowjetrußland heute darstellt, sein könne.
Außerdem haben wir allen Grund zur Beunruhigung, wenn wir in dieses westliche Europa hineinblicken. Es gibt Kommunismus nicht nur in Sowjetrußland; es gibt in Europa große Länder, in denen die Bevölkerung bis zu einem Drittel heute noch kommunistisch wählt. Das ist eine Tatsache, die ebenfalls auf eine sehr große Gefahr hinweist.
({11})
- Gewiß! Das ändert ja die Lage nicht. Vielleicht, Herr Kollege Schmid, sollten wir daran denken, daß wir unseren Verbündeten am besten dadurch helfen können, daß wir im Rahmen eines vereinigten Europa auch solche wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen mit herstellen helfen - Herr Ollenhauer will es ja vielleicht jetzt auch tun, mit uns zusammen im Aktionskomitee, das Herr Monnet ins Leben gerufen hat -, die den Kommunismus allmählich zurückdrängen. Das ist doch mit ein Ziel der europäischen Einigungspolitik, und wir sind überzeugt, daß die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und das Übereinkommen der Europäer auf wirtschaftlichen und sozialen Gebieten eine solche Änderung in Europa bewirken könnte.
({12})
Die härteste Kritik, die Herr Ollenhauer und die Sozialdemokratie an unserer Politik geübt hat, ist die, daß er die These aufgestellt hat, unsere Politik habe, wenn auch ungewollt, die sowjetrussische Deutschlandpolitik gestützt. Andere sagen, sie habe dieser Politik eine Ausrede geliefert. Manchmal findet man diese beiden Argumente in ein und demselben Artikel, in ein und derselben Rede beisammen, ohne daß die Urheber bemerken, daß sie einen Widerspruch in sich darstellen. Entweder hat unsere Politik diese sowjetrussische Deutschlandpolitik tatsächlich gestärkt, oder aber die sowjetrussische Deutschlandpolitik lag - wie wir behaupten - von vornherein fest, und die Russen benutzen allenfalls, was wir getan haben, als eine durchsichtige Ausrede.
({13})
Ich will ganz deutlich aussprechen, daß ich fest
davon überzeugt bin, daß die deutsche Sozialdemokratie ein kräftiges Bollwerk, neben den anderen
({14})
politischen Parteien in Deutschland, wider den Kommunismus darstellt;
({15})
ich glaube Ihnen da jedes Wort. Aber Sie müssen sich fragen, ob auch Sowjetrußland die Lage so sieht. Sie wissen, daß Herr Molotow in Genf die Sozialdemokratie zweimal apostrophiert hat. Auf wen setzt die sowjetrussische Politik in Deutschland?
({16})
Setzt sie darauf, daß wir eine falsche Politik machen und daß sie sie dann benutzen könne, um ihre Politik durchzuführen, oder tut sie es umgekehrt mit Ihnen so?
({17})
- Herr Professor Schmid, seien Sie nicht so sicher! Herr Kollege Ollenhauer, Molotow hat in Genf z. B. bei der Frage des Gesamtdeutschen Rates und des „hochmütigen Verhaltens der Bundesrepublik gegenüber der DDR" gesagt: „Meine Herren, Sie wissen doch, daß Herr Ollenhauer hier in Genf die Auffassung vertritt, daß man gesamtdeutsche technische Kontakte aufnehmen solle",
({18})
und damit im Zusammenhang sagte er: Also könnten die hochmütige Haltung der Bundesrepublik gegenüber der DDR und die Nichtanerkennung gar nicht mehr lange dauern.
Was wollte er damit sagen?
(Abg. Ollenhauer: Aber, Herr Kiesinger,
Herr Molotow ist nicht der Interpret der
sozialdemokratischen Politik! Was soll
denn das?
- Sicher nicht, Herr Ollenhauer;
({19})
wir dürfen Herrn Molotow weder als den Interpreten der Außenpolitik der Bundesregierung in diese Zusammenhänge bringen noch als den Interpreten Ihrer Politik. Aber wenn Sie sagen, unsere Politik habe die sowjetrussische Deutschlandpolitik gestärkt und habe ihr Argumente geliefert, dann müssen Sie sich schon gefallen lassen, daß ich Sie auf die Gefahr hinweise, daß Ihre Politik das genau bei der sowjetrussischen Politik zu tun droht.
({20})
Darin liegt beileibe nicht der Vorwurf, daß die Sozialdemokratische Partei irgend etwas dieser Art beabsichtigt hätte. Deswegen habe ich Ihnen ja ausdrücklich gesagt, daß es nicht der Fall sei. Aber liegt es denn nicht nahe, anzunehmen, daß Sowjetrußland für die nächsten zwei Jahre hinsichtlich Deutschlands folgendermaßen spekuliert?
({21})
Molotow sagte: Die Pariser Verträge sind den Westdeutschen aufgezwungen worden, sie haben sie gar nicht freiwillig akzeptiert; der beste Beweis dafür ist, daß nicht nur die Werktätigen in der DDR, sondern auch die in der Bundesrepublik, die Sozialdemokraten und die Kommunisten, dagegen waren. Nun gut, worauf spekulierte er wohl? Sie
haben von den Fehlspekulationen des Kommunismus in den vergangenen Jahren gesprochen. Ich gebe Ihnen darin recht: der Kommunismus hat sich im Grunde immer wieder verspekuliert, zu seinem Nachteil, wie ich glaube, aber auch zu unserem Schaden. Er könnte jedoch damit rechnen, daß in den nächsten zwei Jahren in Deutschland vielleicht politische Gruppierungen entstehen, die jedenfalls die Politik des Zusammengehens Deutschlands mit der westlichen Welt ablösen.
({22})
- Ich nehme ihn ja zur Kenntnis, Herr Ollenhauer. Ich habe Ihnen gerade gesagt, ich bin froh gewesen, daß Sie das heute früh auch Sowjetrußland gegenüber erklärt haben. Aber glauben Sie denn, daß Sowjetrußland deswegen seine Spekulation aufgeben wird, daß es zumindest als erste Etappe - und da sehen wir die Gefahr - gelingen könnte, die bisherige Politik der Bundesregierung durch eine Politik eines neutralisierten und vielleicht auch waffenlosen Deutschlands abzulösen? Glauben Sie nicht, daß man sich in Moskau sagt: Warum sollte das nicht gelingen, besonders wenn außer der Sozialdemokratie im Jahre 1957 in den Deutschen Bundestag noch andere Gruppen einziehen sollten, die vielleicht noch radikalere Konsequenzen zu ziehen gewillt sein werden? Das ist eine Spekulation auf eine Politik, die in den Augen der Sowjetunion mindestens eine Etappe auf dem Wege zu ihrem Endziel darstellen könnte. Deswegen gerade war ich so dankbar, daß Sie heute mit solcher Deutlichkeit den Standpunkt der Sozialdemokratie dargestellt haben.
Sie haben auch davon gesprochen, unser Fehler liege darin, ,daß wir unsere Interessen mit denen des Westens völlig identifiziert hätten. Aber, Herr Ollenhauer, was gibt Ihnen Anlaß dazu, das zu sagen? Deswegen, weil wir in den vergangenen Jahren mit dem Westen eine gemeinsame Politik gemacht haben, weil aus ehemaligen Gegnern des Weltkrieges Verbündete geworden sind, sollten wir unsere Interessen mit denen des Westens identifiziert haben. Wir haben lediglich das getan, was jede vernünftige Außenpolitik tut: wir haben geprüft, welche Interessen unserer ehemaligen Gegner mit unseren eigenen Interessen identisch oder gleichlaufend sind, und haben daraus die richtigen Konsequenzen gezogen.
({23})
Welches waren diese Interessen? Nun, es waren zunächst die Interessen der Sicherheit. Die westliche Welt sah sich - das ist doch eine feststehende Tatsache - nach dem letzten Krieg ganz einfach durch die gewaltige militärische und territoriale Expansion Sowjetrußlands bedroht. Dagegen hat sie sich organisiert: Berliner Luftbrücke, Korea, Griechenland, Türkei - ich brauche doch das alles nicht mehr ausdrücklich ins Gedächtnis zu rufen. Das war unser Glück. Wenn diese deutschen Sicherheitsinteressen nicht parallel gelaufen wären mit den Sicherheitsinteressen der westlichen Welt, - ich wage nicht auszudenken, meine Damen und Herren, wo wir heute stünden!
({24})
({25})
Aber auch das zweite Hauptanliegen der deutschen Politik, das gleichrangig mit den Interessen der Sicherheit zu bewerten ist - beide sind voneinander überhaupt nicht zu lösen -, das Anliegen der deutschen Wiedervereinigung, ist ein Interesse, das auch der Westen teilt. Es ist uns fa nicht nur gelungen, ein Bündnis mit den ehemaligen Kriegsgegnern herzustellen und dadurch nach menschlichem Ermessen unsere Sicherheit so gut zu schützen, als es in der gegebenen geschichtlichen Stunde möglich ist, es ist uns darüber hinaus gelungen - und der Außenminister hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das doch keine Selbstverständlichkeit ist -, daß der Westen auch das Anliegen der deutschen Wiedervereinigung als ein eigenes Anliegen begreift. Die westlichen Regierungen haben doch nicht nur Deklarationen abgegeben. Wir haben in der Beratenden Versammlung des Europarates die ganze Frage bei der jüngsten Tagung durchberaten. Dabei ist fast in jeder Rede zum Ausdruck gekommen, wie sehr der Westen weiß, daß es in Europa eine dauernde Ordnung des Friedens und des Rechts nicht geben wird, solange die Frage der deutschen Wiedervereinigung nicht gelöst ist.
({26})
Das ist doch immerhin etwas; das ist ein Erfolg auch unserer Politik der vergangenen Jahre, und Sie sollten sie gewiß nicht gering achten. Seien Sie gewiß, uns ist dabei klar und wir haben in keinem Augenblick außer Betracht gelassen, daß es im Westen Tendenzen geben mag und gibt, die sich vielleicht kurzsichtig mit der Tatsache der deutschen Spaltung abfinden wollen. Wo immer wir konnten, haben wir die verantwortlichen Staatsmänner des Westens darauf aufmerksam gemacht, daß hier ein Problem liegt, das gelöst werden muß um des Heiles aller willen. Wir werden fortfahren, dies zu tun, auch wenn einmal vorübergehend gewisse westliche Politiker glauben sollten, daß das Anliegen der Wiedervereinigung vielleicht störend in gewisse westliche Konzeptionen eingriffe. Wir haben aber - und das versichere ich aus voller Überzeugung - nicht einen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß gewisse da und dort in einzelnen Zeitungen auftretende Meinungsäußerungen dieser Art der Meinung der verantwortlichen politischen Führer der westlichen Politik entsprechen. Im Gegenteil, gerade Genf hat uns erneut davon überzeugt, daß der Westen geschlossen hinter dem Anliegen der deutschen Wiedervereinigung steht.
({27})
Ich habe das Gefühl-und ich sage das ohne jeden Willen, Sowjetrußland zu attackieren -, daß Sowjetrußland weniger vor den militärischen Aspekten als viel eher Sorge davor hat, w o ein wiedervereinigtes Deutschland, wo das gesamte deutsche Volk von 70 Millionen gesinnungsmäßig, weltanschaulich und daher auch im eigentlichen Sinne politisch steht.
({28})
Das ist eine sehr ernste Feststellung. Kommen Sie mir nun nicht sofort mit dem Gegenargument: Also müssen wir das Anliegen der Wiedervereinigung aufgeben! Ich habe das Gefühl, daß sich die sowjetrussischen Führer sagen: Dieses deutsche Volk wird - und nach einer Wiedervereinigung sogar noch fester - im Lager der nichtkommunistischen Welt stehen. Ja, ich gehe darüber hinaus: welches
große Volk in Europa gibt es, das gegenüber dem
Kommunismus mehr immun wäre als das deutsche?
({29})
Hier liegt unser tragisches Problem. Das Militärische - so, denke ich mir, sagen sich die russischen Politiker - ist ein Annex des Politischen. Ein Volk wie das deutsche, das gesinnungsmäßig im Lager der freien Welt steht, ist ein Faktor im Ringen der heutigen Kräfte um die ideologische Herrschaft über diesen Planeten. Die Entscheidung, die dieses vereinte deutsche Volk treffen wird, ist für denjenigen, der mit einer Ausbreitung des Kommunismus über den Erdball rechnet, auf diese Ausbreitung hofft und sie wünscht, natürlich eine Tatsache von allererster Bedeutung.
Wenn dieses Feststellung richtig ist - ich gestehe Ihnen: ich halte sie für die zentrale Feststellung in unseren außenpolitischen Überlegungen, und ich glaube, daß wir von ihr bei allen unseren Plänen ausgehen müssen -, dann werden Sie mich fragen: Weiche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Nun, ich habe meine Ausführungen über die sowjetrussische Politik, über die sowjetrussische Ideologie nicht gemacht, um Anklagen gegen Sowjetrußland zu schleudern. Ich habe Sowjetrußland als ein Phänomen genommen, das in der Welt ist und mit dem man zu rechnen hat. Aber wenn das so ist, dann kann unsere zukünftige Politik nur einen Kurs einschlagen: wir sind darauf angewiesen, das Anliegen der deutschen und westeuropäischen Sicherheit und das Anliegen der Wiedervereinigung g e m eins am zu betreiben. Das Anliegen der Sicherheit ist nur zusammen mit unseren Verbündeten in der westlichen Welt zu sichern. Das steht fest. Es ist durch kein noch so schönes und ideales kollektives Sicherheitssystem auf dem Papier zu sichern. Die deutsche Wiedervereinigung erreichen wir nur, das ist wahr, wenn die Sowjetunion dabei mitwirkt. Infolgedessen heißt die Losung: diese beiden Interessen miteinander zu verbinden und auch die Sowjetunion zu einer Lösung zu bewegen, bei der beiden Interessen Gerechtigkeit widerfährt.
Wir können aber nicht das Anliegen der Wiedervereinigung mit dem Preis unserer nationalen Unabhängigkeit und mit der Aufgabe unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung bezahlen.
({30})
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß die Vorschläge von Herrn Molotow in Genf genau darauf hinauslaufen. Er hat zwar einschränkend gesagt - nachdem er sich vielleicht ein wenig vergaloppiert hatte -, man könne das aus seinen Ausführungen nicht herauslesen. Aber der Herr Außenminister hat schon mit Recht darauf hingewiesen, daß, wenn man alle seine Ausführungen zusammennimmt, auch mit bestem Willen nichts anderes gefunden werden kann, als was ich soeben gesagt habe.
Das bedeutet, daß wir für unsere Politik gar keine andere Wahl haben, als unsere Sicherheit weiterhin zu schützen. Zugleich müssen wir Sowjetrußland davon überzeugen, daß ein wiedervereinigtes freies Deutschland, obwohl es nicht kommunistisch gesonnen sein wird, bereit ist, mit Sowjetrußland in friedlicher Nachbarschaft zu leben.
({31})
({32})
Ich bin mir darüber klar, wie schwer das ist. Wie oft sind Zusicherungen solcher Art unter Völkern und unter Staatsmännern ausgetauscht worden! Ich weiß, daß Sowjetrußland nicht von heute auf morgen bereit sein wird, solche Zusicherungen hinzunehmen. Ich weiß, daß auch der Schock des letzten Krieges, den der Wahnsinnige unternommen hat, insbesondere der Überfall auf Sowjetrußland, noch heftig in Sowjetrußland nachwirkt und daß es etwas kosten wird, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß wir dieses friedliche Nebeneinanderleben wirklich wollen.
Aber wir müssen die Sowjetunion auch davor warnen, Gefangene ihrer eigenen Propaganda zu werden. Wenn jüngst Besucher aus der Sowjetunion zurückgekommen sind und erzählt haben, Sowjetrußland wolle aus den Gründen, die ich soeben aufgezählt habe, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht, weil man das vereinigte Deutschland als gesinnungsmäßige politische Potenz nicht haben wolle und weil dieses vereinigte Deutschland sofort wieder expansiv nach Osten werden würde, dann dürfen wir doch in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß es etwas kurios klingt, wenn eine Riesenmacht wie die Sowjetunion, die im Besitz der Wasserstoffbombe ist, eine solche Expansionspolitik von deutscher Seite erwartet. Eine einzige Wasserstoffbombe, abgeworfen an einer wichtigen Stelle des deutschen Gebiets, würde doch das Ende eines solchen Abenteuers bedeuten. Außerdem dürfen wir Sowjetrußland darauf hinweisen, daß es allen Traditionen der deutschen Politik widerspricht, anzunehmen, ein wiedervereinigtes Deutschland werde in Konflikt mit Sowjetrußland geraten. Im Gegenteil, es hat immer den Lebensinteressen. sowohl des deutschen wie des russischen Volkes entsprochen, wenn beide Völker in friedlicher Nachbarschaft gelebt haben, und so wird es auch in Zukunft sein.
({33})
Herr Ollenhauer meinte, das bedeute ein SichAbfinden mit der Lage. Ja, es mag leicht so aussehen, wenn man in einer Stunde wie dieser nicht in der Lage ist, ein fix-und-fertiges Rezept für die deutsche Wiedervereinigung zu geben. Herr Ollenhauer, Sie können es auch nicht.
({34})
Sie haben es auch nicht behauptet. Der Unterschied zwischen uns ist folgender. Sie glauben offenbar, daß man dann wenigstens damit anfangen müßte, daß man an die Russen diese Frage nach dem militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands stellt. Nun, es könnte sehr leicht sein, Herr Kollege Ollenhauer, daß diese Frage von Rußland so beantwortet wird, daß die letzten Illusionen verfliegen. Eine unter den zehn Bedingungen, die der Außenminister hier erwähnt hat, ist die, daß im Falle der Wiedervereinigung Gesamtdeutschland sich von westlichen Verteidigungsbünden fernhalten müßte. Wenn meine These richtig ist, daß Sowjetrußland sich noch nicht bereit erklärt, sich mit einem wiedervereinigten Deutschland abzufinden, ganz gleich, wie sein militärischer Status ist, weil es einfach die geistige und politische Bedeutung dieses Landes fürchtet, dann bleibt uns eben nur übrig, in den kommenden Jahren mühselig und geduldig zusammen mit unseren westlichen Verbündeten Sowjetrußland davon zu überzeugen, daß hier keine Gefahr droht. Das können wir nicht allein, denn die Welt ist nun einmal in
zwei Lager gespalten, und wenn ich von den kolonialen oder bisher kolonialen Gebieten absehe, dann gibt es nur eine kommunistische und eine nichtkommunistische Welt; dazwischendrin gibt es nichts.
({35})
- Herr Kollege Schmid, dazwischen gibt es nichts.
({36})
- Sollten Sie ernsthaft der Meinung sein, Herr Kollege Schmid - die Frage interessiert mich außerordentlich, sie ist wirklich von allergrößter Bedeutung -, daß, wie ich soeben sagte, von den kolonialen oder bisher kolonialen Gebieten abgesehen, wo eine besondere Situation gegeben ist - ({37})
- Das habe ich ja gesagt: wo eine besondere Situation gegeben ist.
({38})
- Gut, dann sind wir uns darüber einig, daß da die Welt in ein kommunistisches und ein nichtkommunistisches Lager gespalten ist, daß es da-zwischendrin nichts gibt. Denn für die Sowjetrussen ist z. B. der freiheitliche Sozialismus, wie Sie ihn vertreten, genau so eine faschistische Angelegenheit wie irgend etwas anderes; das wissen wir doch.
Sie sagen mir sicherlich: Ja, um Gottes willen, es muß doch etwas geschehen!, und so sagen viele Deutsche. Die Fassungslosigkeit, mit der viele Deutsche diesem Phänomen gegenüberstehen, dem angeblichen toten Punkt, der ja nicht ein toter Punkt, sondern der wahrscheinlich eine tote Strecke seit Jalta und Potsdam ist, worauf man immer wieder hinweisen muß, diese Fassungslosigkeit erklärt sich nur dadurch, daß man sich scheut, die Tatsachen in ihrer vollen Härte zu sehen. Das, womit wir hier ringen, ist das schauerliche Überbleibsel der Politik Adolf Hitlers im vergangenen Krieg. Nicht nur die Wiedervereinigung mit den 18 Millionen drüben, auch die Frage der deutschen Gebiete jenseits der Oder und Neiße ist das schlimme Erbe. Vielleicht sehen es manche Leute hier im Westen deswegen nicht, weil ihnen in den vergangenen Jahren der Wirtschaftsblüte, diese Probleme ein wenig zu fern gerückt sind.
Infolgedessen bleibt uns gar nichts anderes übrig als die Politik, die der Außenminister sehr klar umrissen hat. Er hat keineswegs resigniert. Er hat keineswegs gesagt, man müsse nichts tun. Herr Kollege Ollenhauer, es ist doch klar, daß die Regierung in dieser Situation die größten Anstrengungen unternehmen wird, daß sie noch einmal eine Prüfung des gesamten Sachverhalts anstellen, noch. einmal eine sorgfältige Analyse machen wird, aus der sich ergeben könnte, welche neuen Impulse man dem Anliegen der deutschen Wiedervereinigung geben kann. Aber erwarten Sie von der Regierung nicht, daß sie jetzt unmittelbar nach der Genfer Konferenz mit einem rasch zusammengezimmerten Programm hervortritt. Ich finde, es sollten auch viele unserer Kollegen und viele andere deutsche Persönlichkeiten sich klar sein darüber, daß man bei allem Verständnis für die Herzensnot, in der sich jeder von uns im Hinblick auf das deutsche Anliegen befindet, doch fragen muß, ob es auch der Sache der Wiedervereinigung dient, wenn jeder
({39})
zweite oder dritte mit einem eigenen hausgemachten Programm für die deutsche Wiedervereinigung hervortritt.
({40})
Wir sind ja durchaus bereit, das gemeinsam zu tun. Sie dürfen überzeugt sein, daß sowohl die Regierung - Sie haben die Anstrengungen des Bundesaußenministers in der letzten Zeit bemerkt
- wie auch wir hier im Bundestag bereit sind, mit Ihnen zusammen in den zuständigen Gremien die notwendigen Prüfungen und Überlegungen anzustellen.
({41})
- Auch rechtzeitig! Rechtzeitig, Herr Kollege Schmid, das heißt doch auch zugleich sorgfältig.
({42})
- Herr Kollege Schmid, Sie kommen immer wieder auf die Fragestellung zurück.
({43})
Ich will mich nicht wiederholen. Aber glauben Sie wirklich ernsthaft - ich will jetzt einmal davon absehen, das ganze Problem der Sicherheit wieder aufzuwerfen -, daß Ihre Fragestellung an dem Tatbestand, den ich geschildert habe, der ja weit über das Militärische hinausgreift, das geringste ändern würde?
({44})
- Ich glaube es nicht. Wir haben in Genf genug Tatsachen vorgesetzt bekommen, die uns die Lage klarmachen.
Wir werden, gestützt auf die Loyalität unserer Verbündeten, den Weg weitergehen, der uns Sicherheit beschert. Wir werden zu gleicher Zeit - ich wiederhole das, was der Außenminister gesagt hat - Rußland davon zu überzeugen versuchen, daß es uns auf eine friedliche Politik und auf ein dauerndes gutnachbarliches Verhältnis mit Sowjetrußland ankommt. Bitte, wirken wir in diesem Punkte zusammen und denken wir daran, wie stark es doch Sowjetrußland beeindrucken könnte, wenn es sähe und in der Zukunft immer mehr und mehr sähe, daß die großen demokratischen Parteien dieses Landes und dieses Hauses in dieser Frage Schulter an Schulter stehen!
({45})
Vielleicht wird dann Sowjetrußland, Herr Kollege Ollenhauer, die Fehlspekulation eines Tages einsehen. Vielleicht wird es begreifen, daß es auch in seinem Interesse nicht gut ist, drüben mit Gewalt ein kommunistisches und verhaßtes Herrschaftssystem - verhaßt, weil es sich um eine Regierung handelt, die man den Menschen aufgezwungen hat - aufrechtzuerhalten und zu versuchen, gar noch in der Bundesrepublik kommunistische Einflüsse durchzusetzen. Sowjetrußland muß ja auch sehen, daß diese Politik zur Folge hätte, daß in diesem Volke das Gefühl ständig wachsen würde, der Widersacher der deutschen Einigung sei einzig und allein Sowjetrußland. Damit würde wieder eine unheilvolle Saat der Feindschaft zwischen unseren beiden Völkern gesät werden, und das wollen wir vermieden wissen.
Sie, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, haben einen Entschließungsentwurf vorgelegt, dem wir in vielem unsere Zustimmung geben könnten. Aber Sie werden nicht leugnen, daß Sie darin natürlich auch Ihre Auffassungen über die einzuschlagende Politik niedergelegt haben, und Sie werden von uns daher nicht verlangen, daß wir diesem Entschließungsentwurf unsere Zustimmung geben. Es ist wohl auch nicht möglich, den Entschließungsentwurf aufzuteilen und Punkt für Punkt darüber abzustimmen, sondern wir wollen ganz ehrlich unsere gegenseitigen Auffassungen hier zum Ausdruck bringen. Wir hätten vielleicht folgendes tun können, wir hätten sagen können: Wir sind uns immer noch in den und den Punkten uneins, aber in folgenden Punkten sind wir uns einig. Vielleicht hätte eine solche gemeinsame Entschließung einen guten Eindruck im Volk und draußen gemacht. Verstehen Sie es also richtig, wenn wir diesem Entschließungsentwurf nachher nicht unsere Zustimmung geben können.
Wir erwarten von Ihnen auch nicht, daß Sie dem Entschließungsentwurf, den wir vorlegen werden, Ihre Zustimmung geben; denn er enthält unsere eigene politische Konzeption. Er schließt sich an die Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers an - kurz und bündig -, spricht seine Zustimmung dazu aus und enthält auch noch einige Sätze zu der Frage der deutschen Wiedervereinigung und zu dem Verhältnis zu Sowjetrußland.
Wir wissen uns mit Ihnen einig, daß es unsere Pflicht ist, in den kommenden Monaten den Menschen in der Sowjetzone mit aller Kraft das Gefühl unserer ständigen Gegenwart zu geben. Vielleicht machen wir folgendes, Herr Kollege Ollenhauer: Beschränken wir uns nicht nur auf solche Versicherungen. Lassen wir uns aber auch nicht auf das gefährliche Abenteuer gesamtdeutscher institutioneller Kontakte ein. Wir sind sicher, daß solche Kontakte von drüben - und „drüben" heißt in diesem Fall doch „Moskau" - nur dazu benutzt werden würden, ein Surrogat für den fehlenden gesamtdeutschen Rat zu schaffen. Und wir sitzen dabei am kürzeren Hebelarm! Immerhin, wir können über diese Dinge und darüber, wie Sie es sich denken, noch diskutieren. Wir können uns darüber hinaus in gemeinsamer Arbeit im Bundestag und seinen Ausschüssen überlegen, was wir an praktischen Maßnahmen unternehmen können, um die Bevölkerung der Sowjetzone wirklich von unserer helfenden Gegenwart zu überzeugen.
Die Resolution, die die Koalitionsparteien dem Hohen Hause vorlegen werden, hat folgenden Wortlaut:
Der Deutsche Bundestag billigt die von dem Bundesminister des Auswärtigen in der 114. Sitzung des Bundestages namens der Bundesregierung abgegebene Erklärung. Er erwartet, daß die Bundesregierung auch in Zukunft alle Anstrengungen unternimmt, um die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit im Zusammenwirken mit den Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika herbeizuführen.
Er appelliert an die Regierung der UdSSR, die auch von ihr anerkannte Verpflichtung zur Wiedervereinigung Deutschlands im Wege freier Wahlen im Einklang mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes und den Interessen der europäischen Sicherheit zu erfüllen.
({46})
Damit würde die Grundlage für dauernde friedliche Beziehungen zwischen dem deutschen Volke und den Völkern der Sowjetunion gelegt werden.
({47}).
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bekam gestern morgen aus Hessen eine Karte mit der Bitte, zu prüfen, ob es nicht möglich wäre, zu verhindern, daß diese Sitzung durch den Rundfunk übertragen wird; denn es mache doch einen sehr schlechten Eindruck, wenn hier die Parteien sich in solchen Lebensfragen unserer Politik miteinander stritten. Diese Karte hat mich in meiner Absicht bestärkt, einmal alles das hervorzuheben, in Leitsätze zusammenzustellen, was uns in diesen Fragen einigt. Ich möchte zu diesem Zweck einmal alles das, was sich an innerpolitischen Streitigkeiten, an Parteidifferenzen, an taktischen oder aus Intrigen geborenen Vorgängen ereignet hat, völlig beiseite schieben und nur über diese Lebensfragen unserer Nation sprechen, in dem Bestreben, eine Grundlage für eine einige, geschlossene Auffassung herbeizuführen.
Ich beginne mit der Saar. Nachdem die Deutschen an der Saar den Mut gehabt haben, zum Saarstatut nein zu sagen, sagte mir einer der älteren dortigen Politiker: Was wäre aus uns, die wir für ein Nein gekämpft haben, geworden, wenn wir in der Minderheit und die bisherige separatistische Regierung am Ruder geblieben wäre?
({0})
An diese Worte sollten wir in Deutschland denken. Wir machen uns oft viel zu wenig klar, welcher Mut von den Vorkämpfern an der Saar aufgebracht worden ist. Wir sollten diesen Mut als Ansporn für uns und im Gedenken an Berlin und die Sowjetzone in dem Sinne werten, daß ein jeder echte Demokrat da, wo es not tut, einen solchen Mut betätigen sollte; denn ohne mutige Demokraten gibt es keine Demokratie.
({1})
Mit dieser Volksabstimmung ist die Entscheidung der höchsten demokratischen Instanz gefallen. Diese Entscheidung wird beachtet werden müssen. Nach Ablauf einer Übergangszeit, welche auch von den deutschen Parteien an der Saar einmütig vorgeschlagen wird, muß die Saar Teil der Bundesrepublik werden. Die Übergangszeit müßte genau begrenzt sein. Ob dann die Saar als eigenes Bundesland - oder in welcher Form sonst - zurückkehrt, muß mit den Saarländern abgesprochen werden.
Mit ihrer Abstimmung haben die Menschen an der Saar aber auch einen in sich zweideutigen Vertrag, wie Paul Reynaud einmal sagte: einen „procès-verbal de désaccord", d. h. eine Dokumentation innerer Widersprüche, beseitigt. Damit ist die Bahn frei, im Einvernehmen mit den Deutschen an der Saar und mit unseren französischen Nachbarn einen klaren und unzweideutigen Vertrag abzuschließen. Die Grundlage dieses Vertrages, welcher den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs Rechnung tragen soll und wird, werden Vorschläge etwa in dem Sinne sein können, wie sie im vergangenen Frühjahr von den Ministern Preusker und Blücher hier gemacht worden sind.
({2})
Ein solches Abkommen muß auch vorsehen - und darauf möchte ich die Aufmerksamkeit lenken -, daß, soweit reparationsähnliche Verpflichtungen übernommen werden, diese nicht von der Saar allein, sondern von Gesamtdeutschland zu tragen sind. Wenn wir demnächst im Außenpolitischen Ausschuß über diese Fragen sprechen, sollte es möglich sein, eine gemeinsame Plattform zu schaffen. Das wäre unser Wunsch hierzu.
Nun zur Frage der Wiedervereinigung und der Ost- und Westbeziehungen. Auch hier möchte ich versuchen, zunächst das, was uns einigt, zusammenzufassen. Ich möchte weiterhin auch nicht versäumen, den Ernst der Situation, in der wir uns befinden, gebührend hervorzuheben.
Lassen Sie mich damit beginnen, daß wir alle ohne Unterschied in diesem Hause den Wunsch haben, daß der Rest der Gefangenen und auch die Zivilinternierten, die noch nicht zurückgekehrt sind, nun sehr bald zurückkommen.
({3})
Wir unterstützen die Bemühungen der Regierung nach dieser Richtung hin. Wenn wir nur noch eine einzige Begründung hinzufügen wollen, dann ist es die: denn es ist bald Weihnachten.
Und dann zum zweiten. Das deutsche Volk wünscht nichts sehnlicher als eine lange Periode des Friedens. Das Ausland, das uns oft noch für ein militaristisches Volk hält, sollte sich darüber klarwerden, welch eine große innere Wandlung in diesem deutschen Volk vor sich gegangen ist, eine Wandlung, geboren in dumpfen Luftschutzkellern in langen Bombennächten, geboren auf der Flucht vor Feuersäulen, die durch die Gassen der Großstädte rasten, geboren aus der Erkenntnis, daß es unendlich viel wertvoller ist, materielle Güter dieser Welt für Zwecke friedlicher Forschung, wirtschaftlicher Weiterentwicklung, Wohnungsbauten und soziale Besserstellung zu verwenden als für kriegerische Zwecke. Und endlich: unsere Jugend wird wie die Jugend anderer Völker für die Verteidigung der Heimat im Ernstfall ihre Pflicht tun, wie es ihre Väter und Vorväter getan haben. Aber sie drängt sich nicht zu den Waffen. Wir sind nicht die Militaristen, als die wir verschrien werden.
Und zum dritten. Das deutsche Volk weiß - und auch darüber sind wir wohl alle einig -, daß Deutschland nicht als schwacher Staat allein mitten in Europa zwischen Ost und West stehen kann. Versuche Deutschlands in der Vergangenheit, eine Einzelstellung inmitten Europas durchzuhalten, waren schon zu den Zeiten, als die europäischen Mächte und auch Deutschland noch Mächte waren, weder von Dauer noch von Erfolg.
Viertens. Wir sind nach unserer Erziehung und unserer Tradition, nach unserer Art zu leben und auf Grund unserer außenpolitischen Erfahrungen insbesondere in den letzten zehn Jahren, auf ein Zusammenstehen mit dem Westen angewiesen. Wir werden selbstverständlich auch dabei bleiben. Geographisch liegen wir nun freilich mitten in Europa zwischen Frankreich und Rußland. Die Westmächte werden dafür Verständnis haben, daß unsere Außenpolitik auch dieser geographischen Lage Rechnung tragen muß.
({4})
Fünftens. Wir haben aus der Erkenntnis unserer Schwäche und unserer unsicheren Lage die Pariser Verträge abgeschlossen, also, wie ich für meine politischen Freunde betonen möchte, zu unserer Sicherheit, nicht aus einer Politik der Stärke heraus. Wir werden aus dieser Politik unserer Sicherheit und in loyaler Vertragstreue zu unseren Verbündeten die Pariser Verträge einhalten. Ich darf hier zu meiner Freude feststellen, daß meine Vorredner die gleiche Erklärung abgegeben haben. Wir werden sie einhalten, so wie wir - und das möchte ich gerade auch für meine politischen Freunde hervorheben - ernstlich bemüht sind, diese Verträge auch praktisch - allerdings mit Sorgfalt - durchzuführen.
({5})
Gerade die Tatsache, daß wir, unterstützt von auf diesem Gebiete besonders sachkundigen Parteifreunden, uns ernstlich und eingehend mit dieser Aufgabe befassen, sollte dafür, daß wir zu diesen Verträgen stehen, Beweis genug sein und auch gewesen sein.
Wenn eine zukünftige politische Entwicklung eine Abänderung dieser Verträge nötig machen sollte - die Revisionsmöglichkeit ist ja im Deutschland-Vertrag vorgesehen -, dann werden sie vielleicht abgeändert werden müssen, selbstverständlich in Übereinstimmung mit den Vertragspartnern. Auch darüber hat sich heute morgen Übereinstimmung ergeben.
Aber das ist alles schon so oft ausgesprochen worden, daß es eigentlich nicht nötig sein sollte, es immer wieder zu wiederholen. Ich glaube, wenn ich das hier einfügen darf: wir treiben in der Außenpolitik viel zu sehr eine Politik der Untersuchung der Methoden, statt auf den Kern zu kommen.
({6})
Als wir die Pariser Verträge abschlossen, kannten wir die Erklärung der Sowjetunion, daß dadurch nach ihrer Meinung die Wiedervereinigung verhindert würde. Wir haben gleichwohl abgeschlossen, und zwar aus den zuvor genannten Gründen, also im Interesse der Sicherung Deutschlands und der Freiheit seiner Bewohner. Wir haben aber andererseits von der Seite der Sowjetunion noch nie gehört, daß, wenn wir die Pariser Verträge nicht abschlössen oder sie aufkündigten, die Wiedervereinigung mit unserer Mittelzone so erfolgen würde, daß das künftige Leben Gesamtdeutschlands auf der Grundlage demokratischer Freiheit im westeuropäischen Sinne gesichert wäre.
({7})
Zum weiteren: Die ehemaligen Siegerstaaten einschließlich Sowjetrußlands haben im Potsdamer Kommuniqué bindend proklamiert, daß ein einheitlicher deutscher Staat fortbestehe. Sie haben damit in dieser Richtung eine Rechtsverpflichtung für sich übernommen und einen Rechtsanspruch für uns begründet. Es ist wahrlich an der Zeit, daß zehn Jahre nach der Festlegung dieser Grundsätze nun ein Friedensvertrag geschlossen wird. Es ist insbesondere ein geradezu grotesker Zustand, daß einer großen Nation zehn Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten noch ihre Hauptstadt Berlin vorenthalten wird und daß diese Stadt aufgespalten bleibt.
In der Atlantikcharta vom 14. August 1941 haben die Alliierten sich verpflichtet, für ihre Länder keinen Gewinn territorialer Art zu suchen und keinen territorialen Veränderungen zuzustimmen, die nicht den in Freiheit ausgesprochenen Wünschen dieser Völker entsprechen. Sie haben sich ferner verpflichtet, das Recht aller Völker zu beachten, diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen, und sie haben sich weiter verpflichtet, dafür einzutreten, daß Souveränitätsrechte und eine eigene Regierung all den Völkern zurückzugeben sind, denen sie gewaltsam genommen worden sind. Diese Atlantikcharta ist durch die nie abgeänderte und nie widerrufene Erklärung der Alliierten auf der Krimkonferenz vom 12. Februar 1945 eine konkrete völkerrechtliche Verpflichtung auch für Sowjetrußland geworden. Sie ist dann auch in die erste Deklaration der Vereinten Nationen aufgenommen und damit allgemeingültiges Recht geworden.
Wir können nur immer wiederholen, daß wir alle Völker, die diese Verpflichtung übernommen haben, an diese ihre Zusage gebunden halten. Wir danken aber in diesem Zusammenhang auch unsererseits den Regierungen und Völkern der Westmächte für die Energie, mit der sie zu wiederholten Malen in Durchführung dieser Grundsätze für Deutschland, für Berlin und für den Gedanken der Wiedervereinigung eingetreten sind.
({8})
Wir hoffen sehr, daß sie, auch weiterhin gestützt auf die Zustimmung ihrer Völker und zugleich im eigenen Lebensinteresse ihrer Völker, uns weiter unterstützen.
Ich danke zugleich aber auch den Mitgliedern des Europarates, insbesondere Herrn de Menthon, für die verständnisvolle Art, in der sie immer für diese Frage der Wiedervereinigung eingetreten sind.
({9})
Sechstens. Der genaue Status eines künftigen Gesamtdeutschland wird in einem zukünftigen Friedensvertrag ausgehandelt werden, d. h. insbesondere in Übereinstimmung aller vier vormaligen Besatzungsmächte. Er wird auch unter Zustimmung Deutschlands ausgehandelt werden müssen, er wird ausgehandelt werden müssen nach den zuvor genannten, erstmals in der Atlantikcharta ausgesprochenen Grundsätzen. Weil viele zustimmen müssen, gibt es kein Rezept eines einzigen, von dem man mit Sicherheit sagen könnte, daß das das Rezept wäre, nach dem die Dinge zu meistern wären.
({10})
Erst dieser so ausgehandelte zukünftige Status Gesamtdeutschlands wird dann auch die Grundlage dafür geben, in welchem Umfang und in welcher Weise Gesamtdeutschland endgültig militärisch organisiert sein wird. Diesen Gedanken hat der Deutsche Bundestag in seiner Drucksache 1201 Ziffer 5 durch Beschluß vom 26. Februar 1955, den er vor wenigen Wochen hier neu bestätigt hat, wie folgt formuliert:
Der Deutsche Bundestag fordert, es möge so bald wie möglich ein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen werden, der in gleicher Weise für die beteiligten Mächte wie für die in ihren Entschlüssen freie gesamtdeutsche Regierung annehmbar wäre.
Wir - und ich auf Grund persönlicher Erfahrungen - haben das Vertrauen zu dem Außen({11})
minister von Brentano, daß es seiner Geschicklichkeit und seiner Wendigkeit gelingt, bei derartigen Verhandlungen das für Deutschland herauszuholen, was sich nur herausholen läßt.
({12})
Und dann weiter: Es dürfte wohl auch bei niemandem in Deutschland ein Zweifel darüber bestehen, weder nach der ersten Konferenz von Genf mit ihrem Lächeln und ihren Freundlichkeiten noch - erst recht nicht - nach der zweiten Genfer Konferenz, daß das Endziel der kommunistischen Zentrale auch weiterhin darin besteht, die ganze Welt dem Kommunismus nach und nach zu unterjochen. Totalitäre Systeme, auf welchem Gebiet sie auch bestehen mögen - und wir Deutschen haben unsere Erfahrungen gesammelt -, bleiben immer ihrem Endziel treu. Sie machen zwar Pausen, sie schließen zwar auch Verträge, die dieses Endziel scheinbar vergessen oder übersehen lassen, sie halten auch ernstlich solche Verträge, aber gespannteste Wachsamkeit bleibt auch dann immer nötig.
Nun ist die große Frage aufgetaucht: Soll man gleichwohl mit Sowjetrußland sprechen oder verhandeln oder nicht?, wobei ich als selbstverständlich unterstelle, daß auch bei allen derartigen Besprechungen oder Verhandlungen niemals die Loyalität gegenüber unseren Bundesgenossen irgendwie außer acht gelassen werden dürfte.
({13})
Das ist heute morgen auch schon mit Recht betont worden; aber es entspricht wohl nur einer gewissen Primitivität der deutschen politischen Diskussion auf diesem Gebiet, wenn auch dieser Zusatz immer wieder öffentlich gemacht werden muß.
Wir haben mit Moskau diplomatische Beziehungen angeknüpft. Das bedeutet an sich nichts Neues und auch gar nichts Erschütterndes, auch nicht gegenüber dem Ausland; denn jedes souveräne Land unterhält nach allen Seiten hin diplomatische Beziehungen und nimmt in politischen Gesprächen seine Interessen wahr. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein deutsches diplomatisches Auftreten in Ländern, zu denen bisher keine Beziehungen bestanden haben, zunächst der beiderseitigen Information und anschließend daran allenfalls der Pflege geistigen und wirtschaftlichen Kontaktes dienen wird. Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit in der letzten Zeit wiederholt sehr feine Unterschiede definieren hören über Besprechungen und Verhandlungen, vollständige oder unvollständige Beziehungen, darüber, ob und über welche Themen nun verhandelt oder nur gesprochen werden dürfe usw. Wir haben uns mit all dem tierischen Ernst, dessen der Deutsche in solchen Situationen fähig ist, einer solchen Diskussion hingegeben.
({14})
Ich glaube, wir kommen am ehesten zur Übereinstimmung, wenn wir uns auf die Worte eines Realpolitikers einigen. Diese Worte lauten:
Immerhin betrachte ich es doch als einen Fortschritt, daß Sowjetrußland diese Verpflichtung, die Einheit wiederherzustellen, anerkennt; ferner, daß wir, sobald wir diplomatische Beziehungen zu Sowjetrußland haben, in der Lage sind, nicht nur mit den drei westlichen Alliierten, sondern auch mit Sowjetrußland, dessen Stimme ja auch nötig ist, über die Prozedur
der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen.
Ich wiederhole: „über die Prozedur der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen."
Diese Worte sind in der Pressekonferenz, die der
Herr Bundeskanzler noch in Moskau über das Ergebnis der Konferenz abgehalten hat, von ihm ausgesprochen worden. Wir können uns dieser Feststellung des Herrn Bundeskanzlers nur anschließen.
({15})
Ob nun Gespräche oder Verhandlungen, meine Damen und Herren, zweierlei scheint auf jeden Fall als äußerste Grenze solcher Gespräche oder Verhandlungen festzustehen, und ich glaube auch hierüber Einigkeit feststellen zu können. Das eine ist: wir werden niemals die Souveränität und die Freiheit der Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bewohner für eine Wiedervereinigung im sowjetischen Sinne hergeben.
({16})
Das würde die Bolschewisierung ganz Deutschlands sein. Und zum zweiten: wir werden uns niemals auf die schiefe Ebene einer Verbindung kommunistischer und westlicher Elemente zu einer einheitlichen Regierung, auf deutsch: wir werden uns niemals zu dem Experiment einer Volksfrontregierung hergeben dürfen.
({17})
Lassen Sie mich zu den Punkten, von denen ich glaube, daß wir darin einig sein könnten oder werden könnten, noch einen letzten hinzufügen. In der Presse ist in der Tat nach der letzten Genfer Konferenz mehrfach der Gedanke aufgetaucht, daß es nunmehr mit der Wiedervereinigung aus sei und daß man dafür an die Integration Europas mit erneuten Kräften herangehen müsse. - Ich behaupte nicht, daß eine Partei das gesagt habe, ich habe nur von der Presse gesprochen. - Sie wissen, daß ich und mit mir sehr viele meiner Freunde viel für eine Vereinigung Europas getan haben. Wir haben nicht nur im Europarat mitgearbeitet. Ich habe persönlich im Studienkomitee der Europabewegung unter Vorsitz Spaaks an der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung mitgearbeitet. Wir haben schließlich im Verfassungsausschuß unter dem Vorsitz unseres Herrn Außenministers von Brentano im Winter 1952/53 innerhalb der Frist von sechs Monaten, die uns die europäischen Minister seinerzeit gestellt hatten, den Entwurf einer europäischen Verfassung fertiggestellt. Ich werde immer mit Freude an diese Zeit der Zusammenarbeit mit ausländischen und deutschen Kollegen unter dem Vorsitz des Herrn von Brentano zurückdenken.
Wir fühlen uns dem Gedanken der europäischen Vereinigung auch weiterhin verpflichtet. Wir müssen uns nur über die Realitäten Klarheit verschaffen. Vorangetrieben wurde in jenen Jahren die europäische Vereinigung einmal durch die Unterjochung der europäischen Oststaaten, durch die Blockade Berlins, durch die Angriffe auf Nordgriechenland und auf Korea; das dadurch geschaffene Sicherheitsbedürfnis zwang und führte die Menschen in Europa zusammen. Sie wurde andererseits vorangetrieben durch den enthusiastischen Elan, der sich nach dem Kriege aller Völker Europas bemächtigt hatte, insbesondere auch der deutschen Jugend, die in der Vereinigung Europas ein neues, ein erstrebenswertes Ideal sah. Diese bei({18})
den Elemente - Sicherheitsbedürfnis auf der einen, Enthusiasmus auf der andern Seite - beflügelten die Arbeit derer, die für ein vereinigtes Europa eintraten.
Zwei Säulen waren gewissermaßen aufgerichtet, die Montanunion auf der einen Seite, die Verträge über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auf der andern Seite. Auf diesen beiden Säulen und auf der noch zu errichtenden dritten Säule eines einheitlichen europäischen wirtschaftlichen Marktes sollte sich dann der Kuppelbau der europäischen Einheit wölben, an dem mitzuarbeiten wir hofften und glaubten.
Die Kriegsgefahr von damals hat sich für viele verflüchtigt. Man glaubt an eine Entspannung; die Angst ist vorbei. Die Menschheit ist satter geworden. Der Enthusiasmus der Jugend ist zwar noch vorhanden, aber er verflüchtigt sich wie jeder Enthusiasmus, der nicht sofort in Taten umgewandelt werden kann. Unser Verfassungsentwurf ist von den sogenannten Experten zergliedert, zerfetzt, versenkt worden. Von all den Säulen steht nur noch eine, die Montanunion als übernationale Organisation. Aber aus der Geschichte unseres Vaterlandes wissen wir, daß die Einigung Deutschlands lange Zeit gedauert hat, daß sie über Höhen und durch Tiefen führte und daß ein besonders starker Antrieb gerade aus der Zollunion des 1. Januar 1834 kam.
So glaube ich sagen zu dürfen, daß wir, wenn wir die Einigung Europas weitertreiben wollen, sie weniger in der Schaffung großer europäischer Bürokratien, die außerdem nicht ganz billig sind, suchen sollten, sondern daß wir etwa von der OEEC her, vom Wirtschaftlichen her, versuchen sollten, diese Entwicklung weiterzuführen.
({19})
Es ist in der deutschen Öffentlichkeit leider kaum bemerkt worden, daß unser verehrter sozialdemokratischer Kollege im Europarat Herr Dr. Mommer im Oktober dieses Jahres die Erklärung abgegeben hat, daß er und seine Freunde sich in Zukunft in besonderem Maße für eine Integration Europas einsetzen würden. Ich möchte namens meiner Freunde diese Erklärung auch hier sehr begrüßen.
({20})
Um aber Klarheit zu schaffen, muß gesagt werden, was vorhin auch zu unserer Freude schon ausgesprochen wurde: daß nicht die europäische Vereinigung jetzt etwa an die Stelle der Wiedervereinigung tritt. Es handelt sich - Herr Kiesinger hat es mit Recht gesagt - nicht um eine Alternative, nicht um eine Wahl zwischen dem einen oder dem anderen, sondern beides soll in Angriff genommen und gefördert werden. Das eine schließt das andere niemals aus.
({21})
Und nun, meine Damen und Herren, nachdem ich geglaubt habe feststellen zu können, daß wir in sehr zahlreichen Punkten einer Meinung sind, noch einige Ausführungen über den Ernst der Situation, über den man sich vielleicht in manchen Kreisen nicht einig ist.
Nach dem Ausgang der letzten Konferenz sieht es scheinbar mit der Frage der Wiedervereinigung trübe aus. Warum? Darf ich eine kleine Geschichte einflechten? Vor einiger Zeit erschien im Buchhandel ein Buch, auf dessen Titelblatt eine Dame in großer Abendtoilette und ein Herr im Frack abgebildet waren. Darüber stand: „Man benimmt sich wieder." Das bezog sich auf das gesellschaftliche Leben, vermutlich hier in Bonn, und man hat ja auch genügend Scherze über die neu auftauchenden Fräcke, die nach Maß geschneiderten und die geliehenen, gemacht. Aber hat sich mit diesem neuen Benehmen auch an den Menschen viel geändert?
({22})
Man benimmt sich auch wieder in der Außenpolitik. Worte wie „Whiskysäufer" von damals oder „Hyänen des Großkapitals" sind verschwunden. Man sagt sich Freundlichkeiten. Man lächelt. Man läßt sich zusammen fotografieren. Warum?
Die Politik der Sowjetunion ist dessen innegeworden, daß die sture Haltung der Politik Stalins den Westen zusammengeschweißt, daß Handlungen wie die Blockade Berlins, wie der Angriff auf Nordgriechenland, wie der Einbruch in Korea gerade erst die Verteidigungsorganisation des Westens nötig gemacht und veranlaßt haben. Man glaubt vielleicht, durch eine andere Handhabung politischer Sitten nun das, was man im Westen gegen sich zusammengeschaffen hat, wieder zu erweichen und aufzulösen. Es liegt an den Völkern des Westens, ob sie vergessen, hinter allen äußeren Freundlichkeiten das wirkliche politische Wollen der anderen zu erkennen, und ob sie vergessen, was an politischen Zielen dort vorhanden ist.
Es will uns scheinen, als wenn die russische Politik darauf ausginge, in einer Vielzahl von Konferenzen über die Frage der Wiedervereinigung den guten Willen der Westmächte, uns beizustehen, abzunutzen und in der öffentlichen Meinung der Westmächte, insbesondere Frankreichs und Englands, Ermüdungserscheinungen, ja darüber hinaus Erwägungen aufkommen zu lassen, ob die Wiedervereinigung Deutschlands für diese Staaten überhaupt von Vorteil wäre. Es liegt der sowjetrussischen Diplomatie offensichtlich daran, in der Weltöffentlichkeit den Gedanken aufkommen zu lassen: „Warum sollen wir uns mit dieser ewigen deutschen Frage immer noch beschäftigen! Laßt doch die Deutschen das unter sich ausmachen!" Und unter den Deutschen ist dann die Bundesrepublik einerseits und die sogenannte DDR andererseits zu verstehen. Wir glauben, die Politik der Sowjetunion ziele darauf ab, in der Frage der Wiedervereinigung Bonn und Moskau, und Moskau nur verborgen hinter Pankow, zu konfrontieren und sich allein gegenüberstehen zu lassen.
Wenn das so kommen sollte, dann, meine Damen und Herren, kommt für unser deutsches Vaterland, für seine politische Führung, aber auch für die moralische Haltung und Standhaftigkeit seiner Bewohner d i e große Bewährungsprobe.
({23})
Aber es naht zugleich für die Mächte des Westens auch eine große Gefahr.
Wir entsinnen uns noch alle, wie zum Schluß des zweiten Weltkrieges eine neue polnische Regierung geschaffen wurde durch die Zusammenfügung zweier Systeme. Auf Wunsch der Sowjetunion kam das sogenannte Lubliner Komitee, das heißt, die Kommunisten, in die gemeinschaftliche Regierung; auf Wunsch der Westmächte kamen die Exilpolen in diese gemeinschaftliche polnische Regierung. Beide wurden zusammengeschweißt - mit dem
({24})
Erfolg, daß Polen sehr bald kommunistisch und damit Satellit Rußlands war. Und daher kommt es, daß die Grenze der freien Welt nicht mehr bei Brest-Litowsk, sondern dicht östlich von Lübeck, Braunschweig und Kassel liegt.
Sollte, was Gott verhüten möge, einmal ein ähnliches Schicksal Deutschland beschieden werden, dann würde die Grenze der Freiheit an Rhein und Rhone, an der Schelde, am Kanal und in Kopenhagen liegen, und dann würden die Völker des Westens sich vielleicht daran erinnern, daß die Frage der Existenz Deutschlands doch auch von sehr großer, von entscheidender Bedeutung für die eigene Sicherheit wäre.
({25})
England und Frankreich können kein Interesse daran haben, daß mehrere ohnmächtige kleine Staaten den Raum in der Mitte Deutschlands ausfüllen. Nicht eine Menge schwacher Länder und Ländchen, sondern eine Betonmauer in Gestalt eines wiedervereinigten Deutschlands und eines geeinten Europas liegt im wohlverstandenen Interesse des Westens.
({26})
Man hat geglaubt, daß Rußland zu einer Wiedervereinigung dadurch zu bestimmen sei, daß man auf sein angebliches Sicherheitsbedürfnis eingehe und ihm zusätzliche Angebote nach der Richtung mache. Wie ist die Wirklichkeit? Rußland weiß, daß Deutschland nach den Pariser Verträgen höchstens 12 Divisionen haben darf. Rußland weiß, daß uns die ABC-Waffen, die Atomwaffen, die biologischen und die chemischen Waffen, verboten sind. Rußland weiß, daß wir keine Kriegsschiffe größeren Formats haben dürfen, daß uns Düsenflugzeuge verboten sind, daß die Größe unserer Luftwaffe - ({27})
- Kommt, Kommt! Rußland weißt daß nach dem westeuropäischen Vertrag die Einhaltung dieser Beschränkungen vom Westen kontrolliert wird. Rußland weiß, daß unsere Divisionen nicht unter unserem Oberbefehl, sondern im Ernstfall unter dem NATO-Oberbefehl stehen. Rußland weiß, daß wir dem Westen zugesagt haben, keine Angriffe vorzutragen, und daß wir diese Beschränkungen selbst angeboten haben.
Rußland weiß andererseits, daß es selbst über 175 Divisionen ersten Aufgebots verfügt. Es weiß, daß seine Satellitenstaaten des europäischen Ostens etwa 80 Divisionen haben. Es weiß, daß die sowjetische Mittelzone sechs kasernierte Divisionen, dazu 80 000 Mann bewaffneter Fabrikwehr besitzt, daß es eine Luftflotte besitzt und daß eine neue Luftflotte hinzukommen soll. Rußland weiß weiter, daß infolge der Neutralität Österreichs eine neutrale Zone von Ungarn über Wien und Innsbruck bis Genf führt, daß also Verschiebungen von Norden nach Süden und von Süden nach Norden in Europa sehr erschwert sind.
Wo ist hier ein Bedürfnis nach Sicherheit? Ich glaube nicht, daß Rußland ernstlich Sorge vor einem wiedervereinten Deutschland hat. Rußlands Sorge, wenn es sie einst gehabt hat, ist verschwunden, seitdem es Düsenflugzeuge mit hohen Geschwindigkeiten und Raketen gibt, von denen die neuesten eine Reichweite bis zu 6000 km haben; und Rußland hat in den letzten Tagen durch eine neue Wasserstoffbombenexplosion der Welt zu Gemüte geführt, daß es auch auf diesem Gebiete mehr als aufgeholt hat.
Sicherheit in der ganzen Welt brauchen wir Deutsche und wir Europäer!
({28})
Man verhandelt über Sicherheitszonen, über neutralisierte Zonen, und was an ähnlichen Vorschlägen nicht alles vorgetragen wird. Wenn wir uns überlegen, daß ein Panzerkorps an einem Tage 300 km zurücklegen kann, wenn wir an die Geschwindigkeit der Düsenflugzeuge denken, wenn wir uns überlegen, daß die Transozeanraketen eine Stundengeschwindigkeit von 9000 bis 10 000 km haben und keinen Umweg um neutrale Zonen machen werden,
({29})
wenn wir uns überlegen, daß sich radioaktiver Staub bei Explosionen über weite Strecken unserer Erdoberfläche verbreitet, dann kommen wir doch zu dem Ergebnis, daß die Wirkung eines neutralisierten Streifens von 300 oder 400 km Breite praktisch in ein Nichts zusammenschrumpft.
Abrüstungsverhandlungen können noch Aussicht auf Erfolg haben; aber eine Diskussion über neutralisierte Zonen als Äquivalent gegen die Wiedervereinigung hat, wenigstens nach meiner persönlichen Oberzeugung, keinen Zweck. Ein kleines Beispiel: Sie wissen, daß die Radarstationen in der neuesten Vervollkommnung die Möglichkeit geben, etwa aus der Gegend von Hannover festzustellen, ob auf dem Hauptbahnhof in Basel Güterzüge oder D-Züge ausfahren und einfahren. Es gibt die Möglichkeit, das Herannahen überfallartiger Flugzeug- und Raketenangriffe schnellstens zu erkennen, allerdings auch nur um wenige, aber sehr entscheidende Minuten im voraus. Die Westmächte hatten jetzt in Genf angeboten, daß Rußland berechtigt sein soll, seine Radarstationen von östlich der Elbe nach Westen vorzuverlegen bis etwa an die Maas oder Schelde, und die Westmächte entsprechend umgekehrt. Das ist abgelehnt worden. Wo bleibt dann noch ein Sicherheitsbedürfnis Rußlands, wenn das Angebot beiseite geschoben wird?
({30})
Auf der Genfer Konferenz war ja erkennbar, daß Molotow die Erörterung über neutralisierte Zonen und über Sicherheitspakte praktisch beiseite geschoben und dafür die Diskussion nach einer anderen Richtung gelenkt hat. Nunmehr sprach er davon, daß die Errungenschaften der sogenannten DDR auch in einem vereinigten Deutschland aufrechterhalten bleiben müßten und daß diesen Errungenschaften des Ostens auch Eingang in den deutschen Westen verschafft werden müsse. Ich darf feststellen, daß wir einig darüber sind, daß von alledem nichts geschehen darf. Warum - das ist das einzige, was ich hervorheben will - laufen in immer steigendem Maße die Menschen, insbesondere die jungen Menschen, vor diesen Errungenschaften davon?!
({31})
In diesem Zusammenhang in ausdrücklichem Auftrag meiner politischen Freunde noch eine besondere Warnung. Die Juli-Konferenz von Genf hat von Rußland her gesehen den Zweck gehabt, ausfindig zu machen, wie weit der Westen im Ernstfall zu gehen bereit ist, nachdem Atomwaffen
({32})
und Wasserstoffbomben die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges - vorsichtig ausgedrückt - ohnehin in sehr weite Ferne gerückt hatten. Viele haben den Eindruck gewonnen, daß Rußland im Juli von Genf mit der Überzeugung zurückgekehrt ist, daß der Westen keinesfalls zu einem solchen Widerstand schreitet, der einen dritten Weltkrieg mit allen seinen Folgen auslösen könnte. Ich glaube, daß umgekehrt der Westen die gleiche Feststellung hinsichtlich des Ostens getroffen hat. Man kann über diese Feststellungen nur sehr erfreut sein, denn sie zeigt uns, daß keine der beiden großen Mächtegruppen bewußt auf einen Weltkrieg mit allen seinen Schrecken lossteuert.
Neben allumfassenden Weltkriegen gibt es aber an kriegerischen Möglichkeiten Unternehmungen von sogenannter lokaler Natur, wobei der Begriff „lokal", geographisch gesehen, doch recht weit umschrieben werden kann. Korea, Indochina, der Gefahrenherd an der israelisch-ägyptischen Grenze sind auch in diesem Sinne lokaler Natur. Es besteht daher die Gefahr, daß die vermeintliche Sicherheit dahin, daß der andere Teil einen dritten Weltkrieg unter allen Umständen vermeiden will, gerade den Anreiz stärkt, diese oder jene lokale Unternehmung zu starten.
({33})
Auch vor dem zweiten Weltkrieg glaubten viele, daß z. B. die Entwicklung der Gaswaffen einen zweiten Weltkrieg unmöglich machen würde, und deshalb wurde bei diesem oder jenem Abenteurer der Gedanke wachgerufen, durch einen schnellen Krieg, einen sogenannten Blitzkrieg, Unternehmungen lokaler Natur schnell und sicher durchzuführen. Meine Freunde möchten mit diesem Hinweis warnend ihre Stimme erheben. Sie möchten darauf verweisen, daß der Übermut und die Leichtfertigkeit, die aus einer falschen Einschätzung der anderen und ihrer Haltung entstehen, gerade das herbeiführen könnten, was nach den Wünschen aller Völker vermieden werden sollte. Deshalb auch für uns eine Politik der Sicherheit, und deshalb auch unsere warnende Stimme an alle, die es angeht.
({34})
Was kann von uns Deutschen praktisch zur Wiedervereinigung beigetragen werden? Wir können auf die Rechtslage verweisen, auf das Potsdamer Abkommen mit der Verpflichtung zur Einheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Freiheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Herausgabe alles dessen, was ohne freiheitliche Zustimmung der Bewohner besetzt worden ist. Vielleicht darf ich noch ein Beispiel anfügen. Im Jahre 1954 ist auf der Konferenz von Genf, jener Konferenz, die über das Schicksal von Indochina entschied, das Land Vietnam, der östliche Teil von Indochina, geteilt worden. Es ist merkwürdig, daß alle Dinge immer geteilt werden: Deutschland, Korea, Vietnam und mit Deutschland Europa. Damals haben sich die kommunistischen Staaten Sowjetunion und China an diesem Vertragsabschluß, an dieser Teilung beteiligt und haben ihrerseits durchgesetzt, daß spätestens am 20. Juli 1956 in beiden Teilen dieses Landes freie Wahlen unter internationaler Kontrolle stattfinden müssen mit dem Zweck, daß die Wiedervereinigung des Landes und daß seine Verfassung für die Zukunft beschlossen werden kann. Ich habe mir erlaubt, gelegentlich einmal im Europarat darauf zu verweisen. Es war mir eine Freude, vor einigen
Tagen in der französischen Zeitung „Le Monde" den gleichen Hinweis zu finden: Warum würden nicht einmal die Westmächte in der Form einer sagen wir, nicht nur defensiven Diplomatie auch ihrerseits Vorschläge an den Osten in dieser Beziehung richten?
Noch eines dazu! Es wird richtig sein, alle Erörterungen der Zukunft über die Wiedervereinigung nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit vorzunehmen, weil diese Öffentlichkeit einer praktischen Erledigung der Arbeiten nur hindernd im Wege steht. Keiner will von seinem ursprünglichen Standpunkt in der Öffentlichkeit zuerst zurück. Eine nicht öffentliche Verhandlung führt nach aller Erfahrung weiter. Ein Näherkommen entgegengesetzter Ansichten ist nur in nicht öffentlichen Besprechungen zu erreichen. Möglicherweise hat die in der Öffentlichkeit nicht beachtete geheime Konferenz zwischen amerikanischen und chinesischen Unterhändlern in Genf sehr viel mehr an praktischem Erfolg gezeitigt als die letzte öffentlich geführte Genfer Konferenz vom Oktober/November dieses Jahres.
Aber wir haben auch nach der persönlichen Seite hin eine besondere Aufgabe gegenüber der Ostzone, und das ist die, daß wir, jeder einzelne von uns, uns bemühen, den Willen zum Durchhalten dort zu stärken. Da komme ich auf die Art zu sprechen, wie der von uns geschaffene Feiertag des 17. Juni eigentlich begangen werden sollte und wie er nicht gefeiert werden sollte. Was geschieht jetzt? Jeder benutzt den freien Tag, nimmt seinen Pkw oder sein Motorrad und rattert in die freie Natur; aber an die Menschen in der Ostzone wird in keiner Weise gedacht. Wir sind zu satt geworden, und Sattsein macht stumpf und träge!
({35})
Wie wäre es, wenn Glockengeläute an dem Tag zur Besinnung riefe, wenn um 12 Uhr zwei Minuten Verkehrsstille wäre, wenn in den Schulen der Bedeutung der besetzten Zone und ihrer Menschen gedacht würde und wenn jeder von uns - jeder nach seinem Vermögen - wenigstens an diesem Tage an die Menschen in der Ostzone ein Paket schickte?
({36})
Ich glaube, das wäre besser, als Spaziergänge und Spazierfahrten zu machen und zuzusehen, wie an diesem Tag drüben in der Zone die Menschen arbeiten müssen.
Wir Deutschen, die wir in Frieden mit allen Völkern dieser Erde leben wollen, sollten auch die Verbindung mit ihnen allen suchen. Der engere Ausbau unserer Beziehungen zu den Staaten des amerikanischen Kontinents, die Fühlungnahme mit den Völkern des Nahen Ostens und Asiens sollten unsere Aufgabe werden. Wir haben auch hier die Überzeugung, daß sich Herr von Brentano, der in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit schon so manche glückliche Probe gegeben hat, auch dieser Aufgabe gern zuwenden wird. Wir begrüßen es, daß Herr Vizekanzler Blücher in Neu-Delhi vorsprechen will. Wir müssen uns um das, was in fremden Erdteilen vorgeht, auch kümmern, weil die Lösung der Frage der Wiedervereinigung vielleicht nur in globalem Rahmen möglich sein wird. Es muß uns aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen interessieren, was im vorderen und mittleren Orient vor sich geht, was sich an den Grenzen z. B. von Pakistan und Afghanistan ereignet,
({37})
welche Bewegungen in Tibet, in Sinkiang, in der Mongolei, in der Mandschurei vor sich gehen oder vor sich gegangen sind. Es könnte nützlich sein, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas, es könnte ebenso nützlich sein, die Entwicklung der politischen Beziehungen Chinas und der Sowjetunion laufend und aus der Nähe zu beobachten. Es könnte auch zu empfehlen sein, unser geistiges Wissen und unser technisches Können in deutschen Schulen den unterentwickelten Ländern zur Verfügung zu stellen. Aufgaben bieten sich in dieser sich umgestaltenden Welt vielfältig an.
Nicht nur wegen der Frage der Wiedervereinigung, aber auch wegen dieser Frage und aus Gründen der allgemeinen Politik scheint es notwendig, noch über die engen Grenzen des uns beschäftigenden Problems der Wiedervereinigung hinaus einen Blick in ,die Welt zu werfen. Der französische Staatsmann Paul Reynaud sprach kürzlich in einem Vortrag in New York davon, daß das Zeitalter des Kolonialismus alten Stils vorbei sei. Große Gebiete haben sich in der Zwischenzeit selbständig gemacht. Seit etwa zehn Jahren geht durch die gesamte farbige Welt Asiens und Afrikas in immer wachsendem Maße ein Erwachen und Erstarken vor sich, verbunden mit einem Umlernen, mit einem Bewußtsein der eigenen Bedeutung, der eigenen Macht und der eigenen Zukunftsmöglichkeiten, dessen Ausmaß und dessen Wirken von den weißen Völkern dieser Erde noch nicht richtig gewürdigt wird. Ich erinnere mich - und ich glaube, unsere Mitglieder im Europarat werden sich erinnern -, wie im vergangenen Dezember der französische Abgeordnete aus Afrika, Herr Senghor, aufstand und sagte: Asien reckt sich, Afrika erwacht, und Europa zankt sich. Für die farbige Welt geht, im großen gesehen, gewissermaßen ein Zeitabschnitt zu Ende, den wir, auf Europa angewandt, als Mittelalter zu bezeichnen hätten. In den Zeiten der Renaissance und der Reformation, im Zeitalter der Entdeckungen und noch einmal im Zeitalter der französischen Revolution ging bei den Völkern Europas eine ähnliche Entwicklung vor sich, die ungeahnte Kräfte frei werden ließ und zu neuen gesellschaftlichen, zu neuen wirtschaftlichen und zu neuen politischen Formen und Machtgruppierungen geführt hat. Das, was in der farbigen Welt jetzt vor sich geht, muß dieser Entwicklung in Europa vor 400 Jahren und 150 Jahren gleichgestellt werden.
Um die Seele dieser farbigen Völker kämpft nun der freie Westen, kämpft der Block der kommunistischen Staaten. Der Block der kommunistischen Staaten bedient sich des Dranges der Völker Asiens und Afrikas, vom Joch des alten Kolonialismus frei zu werden, neue Lebensformen, neue Staatsgestaltungen für sich zu schaffen. Diesen Völkern wird der Kommunismus als der Weg gezeigt, der zur nationalen und wirtschaftlichen Freiheit führt. Das wahre Gesicht des Kommunismus verschwindet dort hinter der Maske des Befreiers, hinter der Maske des Bringers neuer glücklicher Zustände. Die weiße Welt steht demgegenüber den kommunistischen Mächten propagandistisch im Hintertreffen.
Es gibt aber auch einen modernen Kolonialismus. Er besteht darin, daß ein Staat versucht, einen äußerlich scheinbar unabhängigen Staat zu schaffen, regiert von einer totalitären Einheitspartei, regiert von der gleichen Einheitspartei, die auch im herrschenden Staat am Ruder ist und auf diesem
Wege den Satellitenstaat unterjocht und wirtschaftlich dem herrschenden Staat nutzbar macht. Ein Teil der farbigen Völker der Welt hat diese Gefahr des neuen Kolonialismus, der ihnen vom Kommunismus her droht, erkannt und hat auf der Konferenz in Bandung vom April dieses Jahres in einer besonderen Entschließung sich scharf gegen den Kolonialismus in jeder Form gewendet, und unter „jeder Form" war auch diese neue Art des kommunistischen Kolonialismus gemeint. Dieser Kolonialismus unterdrückt seit zehn Jahren auch die Mittelzone Deutschlands, unterdrückt die baltischen Staaten, unterdrückt Polen, Ungarn, Bulgarien, Albanien, Rumänien und die Tschechoslowakei.
Die Zweiteilung Deutschlands ist auch eine Zweiteilung Europas. Sollte es den Völkern des Westens nun nicht möglich sein, wenigstens ideologisch und propagandistisch diesem neuen Kolonialismus entgegenzutreten? Herr Bulganin hat in einer seiner früheren Noten an die angelsächsischen Mächte die Aufforderung gerichtet, alle ihre Stützpunkte aus Europa zurückzuziehen. Wir verstehen nicht, warum nicht eine Gegenfrage an die Sowjetunion gerichtet wird. Diese Gegenfrage würde zum Inhalt haben, ob die Sowjetunion ihrerseits bereit wäre, sich aus Europa, d. h. aus Deutschland und den osteuropäischen Staaten zurückzuziehen. Diese Frage bezieht sich dann nicht nur auf einen Rückzug der militärischen Streitkräfte Rußlands aus den Satellitenstaaten; die Frage bezieht sich auch und viel mehr, da Rußland ja auch ideologisch Europa angegriffen hat, darauf, daß die deutsche Mittelzone und die Staaten Osteuropas aus ihrer Fesselung an die Sowjetunion freigegeben werden. Neben dem Rückzug der russischen Truppen aus Osteuropa sollte daher auch die Abhaltung freier Wahlen unter internationalem Schutz und internationaler Kontrolle in allen von Rußland abhängigen Staaten des europäischen Ostens gefordert werden. Das russische Volk hat so wenig irgendeinen Nutzen von der Unterjochung anderer Völker, wie nach den Lehren der Geschichte andere Völker von der Unterjochung ihrer Nachbarn gehabt haben. Freie europäische Staaten vom atlantischen Meer bis zur Ostgrenze Polens würden auch für das russische Volk eine größere Friedensgarantie bieten als die Unterjochung der Mittelzone Deutschlands und der osteuropäischen Staaten.
({38})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gille.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand ist wohl mit hochgespannten Erwartungen an den Beginn der Genfer Konferenz herangetreten, aber eine starke innere Anteilnahme hat uns wohl alle bewegt. die wir von Deutschland aus das Auf und Ab des Ringens in Genf beobachten konnten. Zu hochgespannten Erwartungen war schon kein Anlaß mehr, als der von den vier Regierungschefs beschworene Geist von Genf sich bereits wenige Stunden nach dem Abschiedsgruß zu verflüchtigen begann. Die Äußerungen, die Herr Bulganin und sein Begleiter bei dem Besuch in Pankow von sich gaben, ließen erkennen, daß das Ringen der vier Außenminister um die Verwirklichung der Direktiven im Oktober doch zu besonderen Erwartungen nur wenig Anlaß geben würde.
Das Ergebnis liegt nun vor uns, und der eingehende Bericht des Herrn Bundesaußenministers hat
({0})
uns noch einmal den ganzen Ablauf der Geschehnisse vor Augen geführt. Ich empfehle jedem, die ausgezeichnete Materialzusammenstellung unseres Auswärtigen Amts einmal wirklich in einer ruhigen Stunde allein für sich zu studieren. Es ist daraus viel zu entnehmen. Ohne ein sorgfältiges Studium alles dessen, was dort von westlicher und von östlicher Seite zum Deutschlandproblem gesagt worden ist, finden wir keine sichere Grundlage eines eigenen Urteils. Abgesehen davon ist es geradezu ein Lehrbuch für dialektische Verdrehungskünste.
Die Arbeitsgrundlage der vier Außenminister war eine Direktive, auf die sich die Regierungschefs geeinigt hatten. Es ist nicht zu verkennen, daß bei der Formulierung dieser Direktive ein Kompromiß zustande gekommen war. Bei dem Ringen urn diesen Kompromiß sind eben Formulierungen hineingekommen, die keineswegs so eindeutig und unmißverständlich waren, daß sie Herrn Molotow nicht die Möglichkeit gaben, stunden- und stundenlang über Tage hinweg Auslegungsstreitigkeiten über die Direktive anzuzetteln, also über die Grundlage der ganzen Arbeit. Es nützte nichts, daß die Außenminister der drei Westmächte immer wieder darauf verwiesen, daß die Regierungschefs sich geeinigt hätten, Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen zu vereinigen. Es nützte auch nichts, als der Außenminister Dulles Herrn Molo-tow darauf hinwies, daß Herr Bulganin derjenige war, der in dem Gespräch der vier Regierungschefs gesagt hatte, daß es ein „gewaltiger" Fortschritt sein würde, wenn man Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen wiedervereinigen könne. Auf diese Argumente wußte Herr Molotow immer nur eine Entgegnung zu machen: Man verkenne die reale Lage, die sich im Laufe von zehn Jahren auf dem deutschen Gebiet entwickelt habe; es seien zwei selbständige souveräne deutsche Staaten entstanden. An einer Stelle seiner vielen Reden verstieg sich Herr Molotow sogar zu der Behauptung, es sei völlig irreal, anzunehmen, daß man die Sicherheit Europas in Verbindung bringen könne mit einem noch gar nicht existierenden deutschen Staat. Also Negativa über Negativa!
Vielleicht gestattet mir der Herr Präsident, einige Sätze aus einem zusammenfassenden Urteil zu verlesen, das der englische Außenminister an einem der letzten Sitzungstage abgegeben hat. Diese zusammenfassende Darstellung gibt wohl den Eindruck der drei westlichen Außenminister über die grundsätzliche Haltung der Sowjetunion wieder. Es heißt dort: Was hat die Sowjetregierung denn tatsächlich gesagt? Das sagte Herr MacMillan in der Sitzung vom 9. November 1955:
1. Deutschland kann nicht wiedervereinigt werden, ehe nicht die NATO und die Westeuropäische Union beseitigt sind.
Wohlgemerkt: nicht etwa der Austritt Deutschlands aus der NATO und der Westeuropäischen Union, sondern die Beseitigung dieser Sicherheitsvorkehrungen insgesamt!
Die Sowjetregierung ist bereit, das Glück, die Einheit und die Unabhängigkeit des deutschen Volkes als Schachfiguren in ihrem auf Zerschlagung des westlichen Verteidigungssystems gerichteten Spiel zu benutzen.
2. Selbst wenn die NATO und die WEU - so sagte Herr MacMillan vernichtet werden sollten, würde die Sowjetregierung immer noch nicht dem deutschen Volke Freiheit und Unabhängigkeit geben. Selbst dann wird für das deutsche Volk keine Wahl bezüglich seiner Zukunft bestehen. Es muß das abscheuliche System annehmen, das Ostdeutschland aufgedrängt wurde, oder widrigenfalls weiterhin geteilt bleiben.
Das ist der Eindruck, den auch die beiden anderen westlichen Außenminister mit ähnlichen Worten - und zwar nach meiner Auffassung zutreffend - wiedergegeben haben, der Eindruck davon, was Sowjetrußland in Wahrheit auf der Genfer Konferenz gesagt, gefordert und verlangt hat.
Wenn wir, um einen eigenen Standpunkt zu finden, nun das Ergebnis von Genf noch etwas genauer betrachten, dann möchte ich von zwei Eindrücken sprechen, die wir bei dem Studium der Reden gewinnen. Der eine Eindruck enthält zweifellos eine Reihe beachtlicher Positiva. Die drei Außenminister der Westmächte sind nicht müde geworden, immer wieder neue Argumente herbeizutragen, um das Unrecht der zehn Jahre währenden Spaltung Deutschlands vor Augen zu stellen und nachzuweisen, daß ohne die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates keine Sicherheit für Europa denkbar ist. Auch meine politischen Freunde stehen nicht an, für diese Haltung der drei Westaußenminister ein Wort des Dankes zu sagen.
({1})
Dieser Dank soll in keiner Weise herabgemindert werden, wenn ich mir gestatte, darauf hinzuweisen - was Herr Kiesinger uns vor etwa einer Stunde hier mit sehr gewichtigen Argumenten vortrug -, daß wir uns in der glücklichen Lage befanden, daß unser deutsches Interesse mit dem Interesse der westlichen Alliierten übereinstimmte. Ich meine, diese Feststellung sollten wir im Auge behalten.
Wir sollten des weiteren bedenken, daß die westlichen Alliierten eine doppelte Verpflichtung in der Deutschlandfrage tragen,
({2})
einmal die Verantwortung als Besatzungsmächte - deren sie sich auch bewußt sind; das ist auch in Genf zum Ausdruck gekommen -, und zum anderen die vertraglichen Verpflichtungen, die sie gegenüber der Bundesrepublik in den Pariser Verträgen bzw. in der Londoner Schlußakte übernommen haben.
({3})
Das sollte man nicht vergessen, wenn man hier ein Wort des Dankes ausspricht; denn wir sollten nicht so leicht glauben, daß diese so sehr positive und für uns begrüßenswerte Haltung uns auch dann erhalten bleiben wird, wenn einmal die Entwicklung dahin gehen sollte, daß das westliche Sicherheitsbedürfnis nicht mehr hundertprozentig mit den Besorgnissen und Wünschen der Bundesrepublik oder gar Gesamtdeutschlands zusammenfällt.
({4})
Das ist eine Einschränkung, die an dieser Stelle doch wohl nötig ist.
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute ein Wort gesprochen, das ich nicht ganz unwidersprochen
({5})
hinnehmen möchte oder das ich wenigstens für aufklärungsbedürftig halte. Sie meinten, daß wir hinsichtlich der öffentlichen Behandlung der Deutschlandfrage zwischen Szylla und Charybdis hindurchzusteuern versuchen müßten. Wir müßten einmal dafür sorgen, daß man die Deutschlandfrage in der internationalen Politik nicht vergißt und nicht in die Schublade legt; aber wir müßten auch verhindern, daß die freie Welt der Behandlung dieser Frage einmal überdrüssig werde. Verehrter Herr Bundeskanzler, hier scheint mir ein Widerspruch vorzuliegen. Der Herr Außenminister und auch Herr Kiesinger wiesen darauf hin - und ich halte das für zutreffend -, daß das Sicherheitsbedürfnis der freien Welt mit den Sicherheitsinteressen und den Wiedervereinigungsinteressen Deutschlands übereinstimme. Ich kann mir deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, wann die freie Welt einmal dieser Haltung überdrüssig sein sollte. Ich möchte meinen, das ist doch kaum denkbar. Deshalb halte ich diese These des Herrn Bundeskanzlers nicht für richtig und meine, daß das deutsche Volk in allen seinen Gliederungen, in allen seinen politischen Richtungen, aber auch in allen seinen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen die große Verpflichtung hat, von sich aus dafür zu sorgen - auch wenn die Nerven der anderen strapaziert werden sollten -, daß das Gespräch über die Deutschlandfrage niemals zum Verstummen kommt.
({6})
Auf den Zeitpunkt, wo die andern dessen einmal überdrüssig werden sollten, können wir getrost warten. Dann muß sich die Weltlage doch sehr stark geändert haben, dann muß das große gemeinsame Interesse nicht mehr vorhanden sein. Für Deutschland wäre es traurig, wenn diese Stunde eines Tages käme.
Völkerrechtliche Verträge scheinen immer dann am haltbarsten zu sein, wenn die Interessenlage der beiden Vertragspartner übereinstimmt. Die eigentliche Bewährung der Loyalität und der Vertragstreue beginnt erst in dem Augenblick, wo die Interessenlage einmal schwierig zu werden beginnt.
({7})
Deswegen sollten wir das Wort von der Vertragstreue, von der Loyalität und von dem Danksagen nicht so sehr in einer Zeit verbrauchen, in der die loyale Haltung selbstverständlich ist, weil sie vom eigenen Interesse bestimmt wird, sondern wir sollten uns dieses Wort für eine Zeit aufsparen, wo wir vielleicht einmal von der freien Welt verlangen müssen, daß sie auch unter Einschränkung ihrer eigensten Interessen hier den Vorposten der freien Welt gegen den Osten stützen muß, auch wenn sie einmal echte Opfer zu bringen genötigt sein könnte.
({8})
Die zweite Seite des völlig negativen Eindrucks, von dem ich schon sprach, ist, daß zum erstenmal von der Sowjetunion ex officio auf einer Konferenz das Argument für ihren Widerstand gegen die sofortige Wiedervereinigung angeführt wurde, ein Argument, mit dem sie sich nunmehr in innerpolitische deutsche Verhältnisse einmischt. Niemand wird verkennen, was diese neue These für die Lösung der Deutschlandfrage bedeutet. Sie verschiebt die ganze bisherige politische Betrachtung in einem Maße, das wir im Augenblick vielleicht noch gar nicht zu erkennen vermögen; es sind nämlich immer noch Überlegungen darüber im Gange, wie ernst sie nun eigentlich gemeint sei. Ich möchte meinen, wir handeln klug, wenn wir diesen Wunsch und diese Forderung der Sowjetunion sehr, sehr ernst nehmen und uns nicht mit einer gewissen Leichtigkeit über diese Dinge hinwegsetzen und glauben, daß sehr bald eine Stunde schlagen werde, in der die Sowjetunion von ihren großen ideologischen Zielsetzungen abgehen werde.
Auch meine politischen Freunde stellen mit Dankbarkeit fest, daß alle Redner heute im Hause so völlig unmißverständlich die Meinung zum Ausdruck brachten, der auch wir sind, daß die Frage der Gestaltung der freiheitlichen Zukunft Gesamtdeutschlands nie und nimmer ein politisches Handelsobjekt für die Bundesrepublik sein könne.
({9})
Das ist eine böse Bilanz, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, um die richtigen Wege zu finden.
Welche Folgerungen sind nun zu ziehen? Ich glaube dem Herrn Bundesaußenminister zustimmen zu sollen, der sagte: Eine Folgerung müssen wir bestimmt ziehen, wir dürfen nicht in Resignation verfallen. Dazu ist manches zu sagen. Ich will mich nicht wiederholen, möchte aber meinen, daß wir eine zweite Folgerung ziehen sollten. Es geht hier nicht darum, wer recht hat, wer recht behält oder wer einmal recht oder unrecht gehabt hat, sondern darum, uns angesichts der bitterbösen Bilanz von Genf endlich in dem ehrlichen Willen zusammenzusetzen, durch gemeinsames Ringen und Suchen die gangbaren Wege für die Wiedervereinigung zu finden.
({10})
Deshalb möchte ich gleich an dieser Stelle den Herrn Bundesaußenminister - und ich weiß, daß das der Wunsch aller Fraktionen ist - sehr herzlich bitten, den Auswärtigen Ausschuß endlich einmal zu dem zu machen, was er eigentlich sein soll, nämlich zu dem Gremium, in welchem von den politischen Kräften des Bundestages die wirklichen Probleme ausgetragen und erörtert werden können.
Ein einziges Mal, Herr Bundesaußenminister, seit Ihrem Amtsantritt haben Sie uns die Freude gemacht; das war in der vorletzten Sitzung.
({11})
- Das interessiert nicht; das werden die Herren sicherlich sorgfältig nachlesen. Er hat uns einmal die Freude gemacht; ich glaube, es war in der vorletzten Sitzung. Ich weiß, mit welch einem guten Eindruck alle Mitglieder des Ausschusses nach Hause gingen. Ich habe die Ehre, nunmehr zwei Jahre dem Auswärtigen Ausschuß anzugehören. Die Sitzung, von der ich soeben sprach, ist die einzige, in der eine Aussprache stattfand, die man überhaupt als eine politische Aussprache bezeichnen kann.
({12})
- Die vorletzte Sitzung, gnädige Frau, jedenfalls bereits unter der Amtsführung des Herrn Bundesaußenministers.
({13})
- Entschuldigen Sie mal, wir sprechen hier über Außenpolitik, und ich habe weiter nichts gesagt, als daß ich den Wunsch habe - und Sie können
({14})
sicher sein, den werden alle Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses genau so empfinden -, im Auswärtigen Ausschuß mehr, als das in der Vergangenheit der Fall war, zu echten politischen Aussprachen zu kommen. Es sind heute so viele Anregungen - nicht fertige, nicht perfekte Vorschläge, aber Anregungen - aus dem Hause heraus vorgetragen und auch in der öffentlichen Diskussion gegeben worden, daß der Auswärtige Ausschuß genügend Material hätte, mit dem er sich in einer echten, ehrlichen, offenen Aussprache beschäftigen sollte.
Der zukünftige Status Gesamtdeutschlands hat auch heute wieder in der Aussprache eine Rolle gespielt. Ich bin der Auffassung, daß wir hier häufig aneinander vorbeireden. Der Begriff des zukünftigen Status Gesamtdeutschlands hat mindestens drei Seiten. Es kommt darauf an, von welcher Seite man den Komplex ansieht. Wenn man sich nicht darüber verständigt, redet man aneinander vorbei.
Es geht einmal um den völkerrechtlichen Status. Dazu gehören auch die Fragen der endgültigen Grenzziehung. Zum andern handelt es sich um den innerpolitischen Status, der durch den neuen Vorschlag der Sowjetunion interessant geworden ist, und drittens um den militärischen Status.
Der Bundestag hat in den letzten Jahren in Entschließungen mehrfach, und zwar völlig einmütig, gefordert, daß Gesamtdeutschland hinsichtlich seines Status die völlige Entscheidungsfreiheit behält. Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß diese These, die sicherlich viel für sich hat, einmal daraufhin überprüft werden muß, ob sie in jeder Hinsicht der Kritik standhält.
Soweit es sich um den völkerrechtlichen Status und die Frage der Grenzziehung handelt, möchten wir zuversichtlich hoffen, daß niemals die Stunde kommt, in der die freie Welt an die Bundesrepublik etwa das Ansinnen stellt, als Bundesrepublik in dieser Frage irgendeine Entscheidung - und sei es auch nur in Teilfragen -, die Gesamtdeutschland vorbehalten ist, vorwegzunehmen. Wir möchten ebenso zuversichtlich hoffen, daß es in keinem frei gewählten deutschen Parlament einmal möglich sein wird, über diese Frage der Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des völkerrechtlichen Status Gesamtdeutschlands mit sich reden und handeln zu lassen.
({15})
Ich brauche nicht weiter anzudeuten, aus welchem Grunde das gerade mir als Heimatvertriebenem besonders am Herzen liegt.
({16})
- Meine lieben Freunde, wir werden das nur zur Kenntnis nehmen können. Vielleicht blendet inzwischen einmal der Fernsehfunk auf, um das „Interesse" des Herrn Bundeskanzlers und der Bundesregierung zu zeigen, wenn der erste Heimatvertriebene am heutigen Tag in dieser Frage das Wort nimmt.
({17})
Ich habe meinen Blick immer nach vorne gerichtet,
so daß ich diese Behandlung bisher nicht bemerkt
habe. Aber, meine lieben Freunde, das scheint ein
Test dafür zu sein, was der Herr Bundeskanzler und seine Regierung davon halten, wenn ein Heimatvertriebener aus seinem Herzen heraus zu diesen Dingen in dieser Stunde das Wort nimmt. Wir werden uns das merken müssen.
({18})
- „Pfui, pfui" rufen Sie nicht mir zu, sondern denen, deren Verhalten ich in dieser Form leider kritisieren mußte!
({19})
- Sie halten das für eine Unterstellung? ({20})
- Nun seien Sie mal ganz ruhig! Über Sie, Herr Dr. Rinke, ist in Kreisen der Heimatvertriebenen schon lange das letzte Wort gesprochen.
({21})
Meine Damen und Herren, ich darf doch bitten, diese Debatte in aller Ruhe und Sachlichkeit fortzuführen. - Herr Abgeordneter, fahren Sie in Ihren Ausführungen fort!
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident. Ich wurde aber auf diese - ich will es einmal so nennen - Unhöflichkeit aufmerksam gemacht und habe etwas heftig darauf reagiert, was ich zu verstehen bitte. Es wäre gut gewesen, wenn wenigstens einer der beiden Herren dagewesen wäre.
Ich fahre fort. Ich hatte der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß hinsichtlich des völkerrechtlichen Status einschließlich der Grenzziehung niemals in irgendeiner Form der echten, vollen Entscheidungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung und des gesamtdeutschen Parlaments vorgegriffen wird.
In diesem Zusammenhang eine ganz kurze Randbemerkung zu einem der vielen Pläne, die immer auftauchen werden, verehrter Herr Kiesinger, ob Sie das wollen und für richtig halten oder nicht. Ich meine den neuen Friedlaender-Plan, der sehr beachtlich ist und der immerhin auf der Tagung der Europa-Union Deutschland in Berlin von einer Tribüne verkündet wurde, die eine sehr beachtliche Schallwirkung hat. Nur ganz wenige Worte dazu. Wenn ich Herrn Friedlaender recht verstanden habe, schlägt er einen gesamtdeutschen Rat aus freien Wahlen vor, der zwei Aufgaben haben soll, einmal, mit der Verfassungsarbeit zu beginnen, und zweitens, nicht nur mit den Verhandlungen über den Friedensvertrag zu beginnen, sondern auch hinsichtlich des Friedensvertrages zu einem Abschluß zu kommen. Dann sagt Herr Friedlaender: Das ist ein echtes Zwischenstadium, das für die Sowetunion noch keine Gefahr zu bedeuten braucht; denn zum Friedensvertrag müßtet ihr - die Sowjetunion - ja sagen; sagt ihr nicht ja, dann ist damit dieser Versuch der Wiedervereinigung gescheitert, alles geht nach Haus, und es bleibt alles beim alten.
Meine Damen und Herren, bei aller Würdigung der Gedanken, die in diesem Plan enthalten sind, und der Form, in der er der deutschen Öffentlichkeit und der Öffentlichkeit des Auslandes vorgetragen wurde, möchte ich doch von unserer Seite ein sehr ernstes Bedenken anmelden. Die Aushandlung des Friedensvertrages und damit die Herstellung des
({0})
völkerrechtlichen Status Gesamtdeutschlands sollte erst in Angriff genommen werden, wenn die Wiedervereinigung der vier Besatzungszonen Wirklichkeit geworden ist und ein stabiles staatliches Instrument auf deutscher Seite für diese unerhört schweren Verhandlungen zur Verfügung steht.
({1})
Wir möchten - und das glaube ich gerade als Heimatvertriebener aussprechen zu dürfen - bitten, diesen Einwand einmal sehr sorgfältig zu überlegen. Ansonsten freuen wir uns über die Entschließungen, die die Europa-Union in Berlin und die neulich der Europarat zur Deutschlandfrage gefaßt haben. Wir können das nur mit Dankbarkeit feststellen.
Zum innerpolitischen Status brauche ich nach dem, was dazu heute von allen Rednern ausgeführt worden ist, nicht viel zu sagen. Wir haben heute im Bundestag erfreulicherweise völlige Einmütigkeit darüber herstellen können, daß die freiheitliche Zukunftsgestaltung unseres Gemeinschaftslebens vorher unter keinen Umständen von irgendwelchen Wünschen unserer Nachbarn beschränkt oder beeinträchtigt werden darf. Es besteht wohl auch begründete Hoffnung, daß dieser Versuch einer Einmischung in die innerpolitischen Verhältnisse des zukünftigen Gesamtdeutschlands von der ganzen freien Welt nicht nur heute, sondern ständig zäh zurückgewiesen werden wird. Der Grundsatz, daß ein Staat sich nicht in die inneren Verhältnisse eines anderen einzumischen hat, scheint uns im Bewußtsein der freien Welt heute doch so verankert zu sein, daß man das, was die Sowjetunion mit ihrer Forderung erstrebt, in der vollen Auswirkung wirklich erkennt.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns keiner Täuschung darüber hingeben, daß in der Stunde der Wiedervereinigung eine Aufgabe vor das gesamte deutsche Volk tritt, die man nicht schwer und ernst genug nehmen kann. Niemand und kein Konferenzbeschluß wird uns davor bewahren, niemand wird uns die Aufgabe abnehmen, in hartem politischem Ringen auch das letzte Gift auszuscheiden, das durch zehn Jahre kommunistischer Beeinflussung in unseren Volkskörper eingedrungen ist. Ich wundere mich, daß sich diese Einsicht offenbar noch nicht überall durchgesetzt hat. Erst vor wenigen Tagen äußerte ein Politiker - es war sogar ein Bundesminister - schriftlich die Meinung, man werde das System in der Sowjetzone mittels freier Wahlen „hinwegfegen". Meine Damen und Herren, wenn solche Auffassungen schon am grünen Holze sprießen, wie soll es dann am trockenen sein?! Vielleicht könnte Herr Bundesminister Jakob Kaiser einmal Gelegenheit nehmen, aus dem sicherlich sehr, sehr reichhaltigen Fundus seiner Erfahrungen seinem Ministerkollegen einiges von dem mitzuteilen, was an echter Problematik vor uns stehen wird, wenn wir mit den 17 Millionen deutschen Brüdern und Schwestern einmal an den Neubau eines gemeinsamen deutschen Staates herangehen können. Von Hinwegfegen ist da nicht viel zu reden, sondern da wird ernst und sorgfältig diskutiert und, notfalls im politischen Kampf, das Richtige gefunden werden müssen.
({2})
Nun einige wenige Worte zum militärischen Status, und da möchte ich gern vermeiden, daß mich der politische Bannstrahl Bonns trifft.
({3}) - Ich will einmal annehmen, daß der Herr Bundeskanzler vielleicht doch erfährt, was der Sprecher des Gesamtdeutschen Blocks dazu zu sagen hat.
Er hört's, er hört's, Herr Abgeordneter!
({0})
Fahren Sie fort!
Danke schön! - Ich möchte also auch auf die Gefahr hin, daß mich der politische Bannstrahl treffen könnte, doch der folgenden ketzerischen Auffassung Ausdruck geben. Ich sprach schon davon, daß wir hinsichtlich des völkerrechtlichen und des innerpolitischen Status und der Entscheidungsfreiheit Gesamtdeutschlands offenbar alle einer Meinung sind. Nun geht es um die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des sogenannten militärischen Status Gesamtdeutschlands. Meine Damen und Herren, eine Gretchenfrage: Glaubt jemand im Ernst, daß es auf dem Gebiet des militärischen Status eine echte, volle Entscheidungsfreiheit für Gesamtdeutschland überhaupt einmal geben kann?
({0})
Ja, ich möchte noch weiter fragen: glaubt jemand, daß in der enggewordenen Welt irgendein anderer souveräner Staat in diesem Sinne volle Entscheidungsfreiheit hat? Die Grenzen für einen Ermessensspielraum, für einen Entscheidungsspielraum sind doch hier durch die harte Wirklichkeit sehr eng gezogen. Dort nämlich, wo das Sicherheitsbedürfnis oder die Gefahr für die eigene Sicherheit der Nachbarn beginnt, hört es in der Praxis doch schon mit der Entscheidungsfreiheit auf.
Diese Bemerkungen sollen nur dazu dienen, bei der Behandlung des zukünftigen Status Gesamtdeutschlands zu erkennen, daß wir - ich gebrauche ein Wort von Herrn Kiesinger - aus dem Teufelszirkel, in den wir hineingeraten sind, einfach nicht herauskommen, wenn wir nicht alle Bemühungen anstellen, über den militärischen Status Gesamtdeutschlands so oder so irgendwie Klarheit zu gewinnen. Vier müssen dazu ja sagen; wir allein haben ohnehin im echten Sinne nie die Entscheidungsfreiheit.
Ich weiß nicht, Herr Bundesaußenminister, ob Sie nicht zustimmen werden, wenn ich darauf hinweise, daß auch die mehreren Vorschläge, die uns von den Westmächten gemacht worden sind und für die wir, d. h. Gesamtdeutschland, eine echte Wahlmöglichkeit haben, nicht das sind, was man eine volle Entscheidungsfreiheit nennt. Es ist in allen Vorschlägen beispielsweise enthalten, daß in der Mitte Europas, also dort, wo wir wohnen und wo unser deutscher Gesamtstaat einmal sein wird, eine neutrale oder entmilitarisierte Zone oder etwas Ähnliches bestehen wird. Über diese Frage würden wir doch auch bei der Durchführung der Pläne der Westmächte nicht mehr eine volle Entscheidungsfreiheit haben. Bitte, ich will kein Spiel mit Worten treiben, Herr Bundesaußenminister; aber bei der Behandlung dieser schweren Problematik würden wir ein gut Stück vorangekommen sein, wenn nicht gleich der Bannstrahl gegen denjenigen gerichtet würde, der einmal Überlegungen darüber anstellt, wie es denn militärisch einmal sein soll.
({1})
({2})
Ich habe seitens des Gesamtdeutschen Blocks/BHE gar keine Veranlassung, zur Frage der Pariser Verträge im gegenwärtigen Augenblick etwas Besonderes zu sagen. Wir empfinden nicht das Bedürfnis, unsere Zustimmung zu den Pariser Verträgen heute noch einmal besonders zu begründen; denn in Genf ist es nicht um die Pariser Verträge, d. h. um den militärischen Status der Bundesrepublik gegangen, sondern um den militärischen Status Gesamtdeutschlands.
({3})
- Doch, in Vorschlägen ist darüber schon gesprochen worden. Hierzu meinen wir - und darin stimme ich mit Herrn Ollenhauer überein; das ist eine Frage, die völlig nüchtern, ohne jede Leidenschaft und ohne jede Parteitaktik besprochen werden sollte -: Ist wirklich in Genf an die Sowjetunion die entscheidende Frage gestellt worden, wie sie sich den militärischen Status Gesamtdeutschlands vorstellt? Ich will dazu nicht etwa sagen, daß man sich die Antwort nicht vielleicht schon vorher selbst geben könnte; das ist nicht das Entscheidende. Sowjetrußland hat zweierlei gesagt. Es hat einmal gesagt, der Sicherheitspakt, den es vorschlägt, beinhaltet im letzten Ziel die Beseitigung aller militärischen Bündnisse innerhalb dieses künftigen Sicherheitspaktes. Wenn es in diesem Zusammenhang ferner gesagt hat: Auch für Gesamtdeutschland keine Bündnisse, dann war das nicht zusätzlich, sondern ergab sich aus dem eigenen Sicherheitspaktvorschlag.
Ich weiß nicht, Herr Bundesaußenminister, ob ich mich verständlich mache, ob ich richtig verstanden werde, wenn ich meine: die Antworten, die Molotow gegeben hat, lassen zwar - es ist ja nicht schwer, hier seine Phantasie spielen zu lassen - eine ganze Reihe von klaren und für uns völlig unmöglichen Antworten erkennen. Es ist aber nicht zu bestreiten, daß er bisher auf die Kernfrage noch keine Antwort hat zu geben brauchen.
({4})
Wir meinen, daß nach dieser Richtung Überlegungen durchaus geboten sind. Das bedeutet keine Kritik, das bedeutet insbesondere keine Kritik an den drei westlichen Außenministern. Meine Damen und Herren, lesen Sie sich die Reden durch! Es wird Ihnen manchmal das Herz warm werden nicht nur über die Qualität, mit der dort für die deutsche Sache in Übereinstimmung mit dem Sicherheitsbedürfnis des Westens gefochten wurde, sondern auch über die wirklich überzeugenden Formulierungen, die man direkt als Schlagzeilen für die deutsche Presse verwenden könnte. Das wollen wir gar nicht verkennen und wir wollen auch keine Kritik damit verbinden. Wir möchten aber die Notwendigkeit herausstellen, hierüber einmal eine Frage zu stellen.
Wenn wir uns hierüber nicht klar sind und wenn sich das deutsche Volk nicht über den Einsatz klar ist, um den es bei dieser Entscheidung geht, dann werden wir keine einheitliche Linie finden. Ich glaube, die einheitliche Linie in der deutschen Außenpolitik ist erst dann zu finden, wenn auch der Rest irgendwelcher ungeklärt gebliebener Fragen, wenn auch das letzte Zwielicht über die Absicht hier und da beseitigt worden ist. Ich glaube, es ist der Mühe wert, auf diesem Wege voranzukommen. Vielleicht kommen wir schneller zu einer Einheitsfront auch in der letzten Frage, nachdem wir heute alle mit großer Befriedigung festgestellt haben, daß hinsichtlich der Entscheidungsfreiheit Gesamtdeutschlands auf innerpolitischem Gebiet hier in diesem Hause - und wir meinen, im deutschen Volke - nur eine einzige Meinung möglich ist.
Daß die Grenze unserer Entscheidung in Fragen des militärischen Status unsere eigene Sicherheit, unser eigenes Sicherheitsbedürfnis ist, das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber das ist auch nicht ein absoluter Begriff, auf den es nur eine Antwort gibt. Es kommt doch letzten Endes einmal der Tag - ich glaube, wir werden ihm nicht entgehen -, an dem vor das deutsche Volk die Frage gestellt sein wird: Was ist dir die Wiedervereinigung an Übernahme von Risiken wert? Es kann doch keiner annehmen, daß uns eines Tages das wiedervereinigte Deutschland ohne jedes eigene Risiko in den Schoß gelegt wird, wenn einmal ein guter Stern über irgendeiner Konferenz schwebt. Wir laben den Großteil des Weges selbst zu gehen, haben den Großteil des Weges selbst uns abzumühen.
Ich bin deshalb der Meinung, daß auch die Frage der sogenannten technischen Kontaktstelle, von der die SPD vor einigen Wochen gesprochen hat, noch nicht ausgetragen ist. Herr Bundesaußenminister, ich möchte mit aller Deutlichkeit erklären: wir begrüßen die Stellung und die Haltung der Bundesregierung, alles zu versuchen, um die völkerrechtliche Anerkennung der sogenannten DDR zu verhindern, meinetwegen auch mit Mitteln, die nicht gerade höflich sind; da stehen wir völlig hinter Ihnen. Aber es hieße doch den Kopf in den Sand stecken, wenn wir nicht sehen wollten, daß auf der anderen Seite Machthaber am Werke sind, die auch vor echten Erpressungen nicht zurückschrecken werden.
Auf der anderen Seite steht die Not - nicht nur die materielle, sondern auch die seelische Not - der siebzehn, achtzehn Millionen deutscher Brüder. Wird die Bundesrepublik nicht eines Tages doch in die Notwendigkeit versetzt werden, etwas zu tun - mehr will ich gar nicht sagen, um Gottes willen, meine Damen und Herren -, irgend etwas zu tun? Gespräche müssen doch vielleicht einmal geführt werden. Wir sitzen ja in dieser Frage nicht am längeren Hebelarm, sondern am kurzen, und zwar an einem sehr kurzen.
Dieser Tatbestand hat bereits in der Sitzung des Bundestages am 23. September meinen Fraktionsvorsitzenden Dr. Mocker veranlaßt, eine Anregung zu geben. Ich habe die Rede des Herrn Außenministers nachgelesen und will also die Voraussetzungen, die er für neue Pläne und Anregungen hier stellt, noch einmal zum Vortrag bringen, weil ich hoffe, daß ich sie erfülle, Herr Bundesaußenminister, und daß Sie das, was ich jetzt hier zu sagen habe, nicht als außerhalb der von Ihnen gesetzten Voraussetzungen liegend empfinden: „Wer neue und zusätzliche Beziehungen zu errichten wünscht, sollte in einer Weise, die jeden Zweifel ausschließt, sagen, was er damit meint." Jawohl, Herr Bundesaußenminister, wir haben - weil es ja nicht so schwer war, vorauszusehen, daß die freien Wahlen in Gesamtdeutschland vielleicht nicht konzediert werden würden - am 23. September den Vorschlag gemacht, zu überlegen, wie die Russen darauf reagieren würden, wenn man nicht gesamtdeutsche Wahlen insgesamt, sondern freie Wahlen in den einzelnen Teilen Deutschlands zur Bildung eines Gremiums, das Gespräche aller Art, die nicht nur heute, sondern in Zukunft in
({5})
verstärktem Maße notwendig werden, führen könne, vorschlüge. Wir haben damit nicht - das liegt auch nicht in dem Vorschlag und auch nicht in den Folgen des Vorschlages - eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR verbinden wollen. Das müßte dann genau so gegen den Vorschlag der Europa-Union, den Friedlaender-Plan, zutreffen. Also in dieser Beziehung kann es gar keinen Zweifel geben. Den Einwand: Das werden die Sowjets ohnehin nicht tun, werden Sie, Herr Bundesaußenminister, mir, glaube ich, nicht machen. Das sollte man abwarten. Im übrigen wäre das niemals ein Grund, einen von unserm Standpunkt aus denkbaren und vernünftigen Vorschlag nicht zu verfolgen; es ist gleichgültig, ob er Aussicht auf politische Wirksamkeit hat.
Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber gar nicht im unklaren, daß hierin natürlich Probleme stecken. Wir sind nicht so unbescheiden, zu glauben, daß wir Ihnen hier ein Allheilmittel anbieten könnten, insbesondere ein Allheilmittel gegen die von uns befürchteten Erpressungen zu Lasten der Sowjetzonenbevölkerung. Aber wir möchten meinen, man sollte sich einmal darüber unterhalten und sollte versuchen, mit den Russen auch darüber ins Gespräch zu. kommen. Dabei wird es entscheidend von den möglichen Garantien für die Freiheit der Wahl abhängen, wie man alle die Probleme der Aufgabenstellung, der Zuständigkeit und das angeblich so schwierige Problem der richtigen Verhältniszahl hinsichtlich der Stärken, die von der einen und von der anderen Seite kommen, wird lösen können.
Wir haben, wie gesagt, kein Allheilmittel; aber wir haben den dringenden Wunsch, neben all den anderen Anregungen, wozu wir im einzelnen auch einige Formulierungen im Entschließungsantrag der SPD zählen, sämtliche Anträge, die heute gekommen sind und die im politischen Raum irgendwie einmal aufgetaucht sind, im Auswärtigen Ausschuß in einer völlig leidenschaftslosen Aussprache zu erörtern. Ich sehe, daß der Herr Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses mir zunickt, und entsinne mich noch sehr gut der Worte, mit denen er uns das letzte Mal verabschiedet hat. Er hat zum Ausdruck gebracht, daß er endlich einmal etwas anderes sein möchte als der Vorsitzende eines Ausschusses, der sich nur im Frage-und-Antwort-Spiel betätigt. Ein solcher Wunsch des ganzen Ausschusses wurde mir nämlich vorhin bestritten; aber ich glaube, Herr Kiesinger, Sie sind mit mir der Meinung, daß wir über alle Pläne nicht hinauskommen und nicht zu einer immer stärkeren Einmütigkeit kommen, wenn wir uns nicht entschließen, die Dinge einmal offen und ehrlich Auge in Auge miteinander auszutragen. In diesem Zusammenhang haben wir den Wunsch, daß man auch die Anregung, die mein Fraktionsvorsitzender am 23. September gegeben hat, als Material verwendet.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Vielleicht darf ich mit wenigen Sätzen noch etwas zu den uns vorliegenden Entschließungen sagen. Wie wenig Wert man auf die politische Meinung meiner Fraktion legt, ist uns soeben ad oculos demonstriert worden.
({6})
- Danke schön, Herr Kollege! Ich habe ja gesagt: „soeben"! Ich freue mich, daß es jetzt im Augenblick anders ist.
Der Entschließungsantrag der Regierungskoalition ist - nehmen Sie es mir bitte nicht übel - doch wirklich sehr, sehr inhaltsleer.
({7})
Ich habe fast den Eindruck, daß das vielleicht die Kompromißformel der von der FDP abgeforderten Garantieerklärung ist
({8})
und daß man das vielleicht verwechselt hat. Jedenfalls ist es eine Demonstration, hinter der nichts steckt, und wir sind nicht in der Lage, ihr zuzustimmen. Im übrigen hat man offenbar auch nicht mehr das Bedürfnis, unsere Meinung zu solch wichtigen politischen Fragen zu hören und darüber zu sprechen.
Zu dem Entschließungsantrag der SPD habe ich bereits gesagt, daß nach unserer Auffassung in den einzelnen Formulierungen Anregungen und Gedanken stecken, die man endlich einmal diskutieren sollte. Wir sind aber der Meinung, daß es sich zum Teil um bereits vorweggenommene Ergebnisse handelt, daß die Formulierung etwas zu perfektionistisch ist und zu weit geht. Wir können deshalb diesen Antrag zwar als eine wertvolle Diskussionsgrundlage anerkennen, aber nicht das bereits vorweggenommene Ergebnis.
({9})
- Das ist richtig, Herr Professor Schmid. Aber wenn man bei einem solchen Entschließungsantrag, wo der eine Teil alles zu Ende gedacht hat, von einem Dritten verlangt, daß er zustimmt, ist dieser etwas überfordert. Man sollte ihm Gelegenheit geben, das auch einmal zu Ende zu denken; und um diese Gelegenheit habe ich bereits gebeten.
Ein kurzes Wort zur Kriegsgefangenenfrage, und zwar nur deshalb - vielleicht darf ich Sie daraufhin ansprechen, Herr Bundesaußenminister -, weil heute in der deutschen Presse ein Artikel der russischen Zeitung „Isvestija" steht. Danach wird der Stopp der Transporte in Verbindung gebracht mit angeblichen Drangsalierungen und Zurückhaltungen gegen den Willen der Sowjetbürger, die sich noch hier befinden. Ich glaube, daß die Angehörigen der Kriegsgefangenen, auf die wir warten, von denen wir mit Recht hoffen, daß sie bald kommen, sehr beruhigt sein würden, wenn der Herr Bundesaußenminister vielleicht die Gelegenheit der heutigen Debatte benutzte - es ist nicht für uns; wir wissen, wie die Dinge liegen -, noch einmal ganz unmißverständlich zu erklären, daß jeder Angehörige der Sowjetunion, der durch die Kriegsereignisse hierhergekommen ist, unter allen nur möglichen Garantien jederzeit die Möglichkeit hat, in sein Vaterland zurückzukehren, wenn sein Wille dahin geht. Das ist angesichts der Tatsache, daß dieses ganze Problem so außerordentlich leidenschaftlich in unserer Öffentlichkeit erörtert wird, aus verständlichen Gründen notwendig.
Wir erklären uns ausdrücklich bereit, die Mitverantwortung für die deutsche Außenpolitik zu tragen, wie jeder sie tragen muß, gleichgültig, ob er sich innerhalb oder außerhalb der Regierungsverantwortung befindet. Wir sind zu jedem offenen und ehrlichen Gespräch bereit und bitten nochmals dringend, uns endlich die Gelegenheit zu diesen offenen Aussprachen zu bieten. Damit, daß wir
({10})
hier die Überzeugung ausdrücken, es werde schon keine Resignation im deutschen Volke geben, die Regierung werde nicht resignieren, also werde auch das deutsche Volk nicht resignieren, sollten wir es aber nicht genug sein lassen. Hier muß etwas getan werden. Der letzte entscheidende Faktor in der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit ist der entschlossene Wille des ganzen deutschen Volkes. Alles andere ist, wenn dieser entschlossene Wille nicht da ist, leeres Treiben. An der Herstellung und Erhaltung dieses entschlossenen Willens mitzuwirken, werden wir auch in Zukunft als unsere Aufgabe betrachten.
({11})
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind zwei Gründe, die mich veranlassen, einige Worte zu sagen.
Erstens. Herr Kollege Gille hatte die Abwesenheit des Herrn Bundeskanzlers beanstandet.
({0})
- Und auch die meine. Ich möchte hierzu sagen, daß der Herr Bundeskanzler hier im Hause um 12 Uhr ein Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin geführt hat, und Sie werden verstehen, daß dieses Gespräch keinen Aufschub duldete. Das war auch der einzige Grund, weswegen ich für drei Minuten die Sitzung verlassen habe.
({1})
Ich hatte ausdrücklich den Leiter der Politischen Abteilung gebeten, in dieser Zeit Ihre Rede zu verfolgen, damit ich in der Lage war, auch zu Ihren Erklärungen Stellung zu nehmen.
Zweitens. Ich bin nur dankbar für den Hinweis des Herrn Kollegen Gille auf die Erklärung in der „Iswestija", und ich folge sehr gern seiner Anregung. Es ist eine Selbstverständlichkeit - und wir haben es auch in Moskau, als am letzten Verhandlungstag diese Frage angeschnitten wurde, ausgesprochen -, daß jeder Sowjetbürger, aber auch jeder andere, der den Wunsch hat, nach der Sowjetunion zurückzukehren, von uns nicht an der Rückkehr gehindert wird. Das entspricht den Grundlagen unserer demokratischen Ordnung, der absoluten Freizügigkeit. Wir haben auch schon in Moskau erklärt, daß wir der Sowjetunion, falls sie Zweifel daran hat, gerne die Erkenntnis verschaffen, daß in der Bundesrepublik kein Bürger der Sowjetunion, aber auch kein anderer daran gehindert wird, freiwillig nach der Sowjetunion zurückzukehren. Also die Behauptung, daß man die Kriegsgefangenen zurückbehalten dürfe, weil hier der eine oder andere gegen seinen Willen zurückgehalten werde, wird nicht ausreichen, das feierlich gegebene Versprechen von Moskau nicht einzulösen.
({2})
Nach § 47 der Geschäftsordnung hat der Bundesminister für besondere Aufgaben Kraft das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Gille hat in seinen Ausführungen den Artikel eines Bundesministers zitiert, ohne dessen Namen zu nennen.
({0})
Der Bundesminister, den er meinte, bin ich. Der von ihm kritisierte Satz lautet: „Solange das SED-Regime der Sowjetzone nicht selbst durch echte freie Wahlen unter internationaler Kontrolle hinweggefegt wird, so lange bleibt die dortige Bevölkerung unfrei."
({1})
Ich habe bisher geglaubt, daß das die einhellige Meinung aller Mitglieder dieses Hohen Hauses ist. Es ist Herrn Dr. Gille vorbehalten geblieben, an dieser allgemeinen Erwartung als erster Zweifel zu äußern.
({2})
Das wollte ich feststellen als Heimatvertriebener und Angehöriger einer Bundesregierung,
({3})
nämlich der Regierung Adenauer, deren außenpolitischer Haltung gerade die Heimatvertriebenen bisher die größte Anerkennung gezollt haben.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Manteuffel-Szoege.
({0})
- Ausgezeichnet, Herr Abgeordneter, daß Sie auf das Wort verzichtet haben; das ist mir bis jetzt noch nicht gesagt worden.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Brühler.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie, daß ich Ihnen eingangs schon die Versicherung abgebe, daß ich mich erstens angesichts der vorgerückten Stunde, dann aber auch angesichts der zum Teil ausgezeichneten Reden, die gehalten worden sind, sehr kurz fassen werde.
({0})
Die Sowjetunion hat auf der vor kurzem beendeten Genfer Konferenz alle Hoffnungen zerstört, die man auf den Genfer Geist ursprünglich gesetzt hatte. Es hat sich gezeigt, daß das Lächeln, das bei verschiedenen Gelegenheiten von ihren führenden Männern gezeigt worden ist, wirklich ein gefährliches Lächeln gewesen ist. Denn es erweckte bei vielen Hoffnungen auf eine grundlegende Änderung der sowjetischen Haltung und eine Abkehr vom Geiste, man muß wohl besser sagen, vom Ungeiste Stalins. All das ist zerronnen, wie es die Realisten vorausgesehen und vorausgesagt haben. Die einzige Bedeutung von Konferenzen wie der jetzt in Genf liegt darin, daß man jedesmal klarer sieht, woran man ist, und daß die Richtigkeit der bisherigen Politik des Westens und der Bundesregierung ihre Bestätigung findet.
({1})
Die einzige Alternative auf Genf ist die intensive weitere Verfolgung und Stärkung des Europagedankens. Wir Deutschen müssen wie bisher alle Kraft einsetzen, die anderen westlichen Völker aber auch. Die Lebensgefahr, die vom Osten her droht, muß mit aller Deutlichkeit ins öffentliche europäische Bewußtsein gerückt werden. Es muß ganz klar werden, daß für die Sowjetunion die Wiedervereinigung Deutschlands nur insoweit von Interesse ist, als sie die Bolschewisierung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik auf Gesamtdeutschland ausdehnen kann. Dieses kommunistische Gesamtdeutschland soll den Russen dann als Sprungbrett für die Bolschewisierung Europas dienen. Der Kommunismus wird sich nach dem Glauben und nach dem Bekenntnis seiner Bekenner noch in diesem Jahrhundert auch in Europa ausdehnen. Molotow hat mit größter Brutalität am 8. November die Einstellung der Sowjets dargelegt. Er hat unter anderem die Bundesrepublik als einen Staat bezeichnet, in dem die großen Monopole und die Junker ihre Herrschaft aufrechterhalten haben, und hat weiter in krassestem Gegensatz dazu erklärt, die deutschen Werktätigen hätten in Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik zum erstenmal in der Geschichte ihr wahres Vaterland gefunden, einen deutschen Staat, in dem nicht große Monopolherren und Junker regierten, sondern das schaffende Volk selber Herr seines Schicksals sei. Das sind Aussagen wider alles bessere Wissen. Natürlich ist Herrn Molotow bekannt, daß ^s einen Tag von höchster historischer und politischer Bedeutung, nämlich einen 17. Juni 1953 gibt, wo sich wehrlose Menschen eines versklavten Volkes erhoben haben und gegen die Machthaber und die Moskauer Präfekten im deutschen Osten aufgestanden sind und wo gerade das schaffende Volk, das angeblich erstmals ein wahres Vaterland gefunden hat, gegen seine Bedrücker aufgestanden ist. Natürlich weiß er, daß die Zahl der Flüchtlinge in diesem „wahren Vaterland" gerade in der letzten Zeit immer mehr zunimmt, daß Tausende von Bauern ihre ererbte Scholle verlassen, man kann sich vorstellen, nach welchen furchtbaren inneren Kämpfen. Natürlich weiß Molotow, daß die notwendigsten Lebensmittel in der sowjetisch besetzten Zone immer knapper werden und daß die deutschen Menschen vielfach bitterste Not leiden. Und so frage ich: warum scheut man so sehr freie geheime Wahlen in der sogenannten DDR? Die Werktätigen müßten doch eigentlich durch sie ihre Dankbarkeit für ihr wahres Vaterland beweisen, in dem angeblich sie die Herren sind.
Außer diesen Lügen und heuchlerischen Scheinheiligkeiten aber hat Molotow in Genf mit zynischer, brutaler Offenheit auch die Ziele der Sowjets dargelegt. Hier ist es wirklich nicht nötig, alles aus der Sprache der täuschenden Worte in die Sprache der wahren Absichten zu übersetzen, wie es der Herr Bundeskanzler einmal geraten hat. Es ist alles von vornherein sehr klar. Die Sowjetunion denkt nicht daran, freien Wahlen in der von ihr besetzten Zone zuzustimmen und ein Pfand herauszugeben, weil sie es als Sprungbrett für das kommunistisch zu machende Europa verwenden will und weil sie Rückwirkungen auf ihre Satellitenstaaten fürchtet. Ein Nachgeben in der Deutschlandfrage könnte ja vielleicht der Weckruf werden für revolutionäre Bewegungen gegen das herrschende Regierungssystem in Polen vor allem, in der Tschechoslowakei und in Bulgarien.
Vollkommen irrealistisch ist es auch, anzunehmen, man brauche nur den Verzicht auf die Pariser Verträge anzubieten, um ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland zu erhalten. Schon vor Genf, während der Genfer Konferenz und hinterher hat die SED, haben die Herren Grotewohl und Konsorten die gleiche Tonart angewendet. Sie verlangten, bei einer Wiedervereinigung müßten auch in der Bundesrepublik die großen Betriebe enteignet und volkseigen werden, die Landwirtschaft müßte kollektivisiert, sämtliche Bündnisse aufgehoben werden, Presse und Rundfunk unter kommunistischen Einfluß kommen. Das heißt, das Programm der seit 1945 planmäßig bolschewisierten Diktatur, die sich DDR nennt, soll auf allen Gebieten durchgeführt und auch Westdeutschland bolschewisiert werden.
Ich könnte jetzt auch noch einige bedeutende Männer, die sich jedenfalls in der Sowjetzone bedeutend vorkommen, zitieren und mit ihren Zitaten das, was ich gesagt habe, kurz belegen. Ich kann mir das aber schenken.
Und mit diesen Exponenten Moskaus sollen wir direkt verhandeln, mit ihnen gar einen Gesamtdeutschen Rat bilden, mit ihnen, deren Regime sich nicht auf einen freien und in demokratischer Weise zustande gekommenen Volkswillen zu stützen vermag!
Neben diesem realpolitischen gibt es aber auch einen moralischen Grund im Hinblick auf die mit der Menschenwürde und unserem Freiheitsbegriff nicht zu vereinbarenden Verhältnisse in der Sowjetzone, die die einschmeichelnde Parole „Deutsche an einen Tisch!" entlarven als eine rein sowjetische Vokabel. Mit gesamtdeutschen Beratungen will man den Hebel ansetzen für eine Bolschewisierung ganz Deutschlands. Die Taktik ist sonnenklar. Man will bei gutgläubigen Deutschen infiltrieren, es ginge nur durch Gespräche zwischen Bonn und Pankow. Aber durch solche Gespräche will Pankow nur die eigene Position stärken. Wer sagt, wenn Dr. Adenauer mit den Russen verhandele, dann könne es die Bundesregierung auch mit Pankow tun, der vergißt, daß die Sowjetunion ein fremder Staat ist, zu dem man diplomatische Beziehungen unterhalten kann. Bei der sowjetisch besetzten Zone handelt es sich aber um einen Teil Deutschlands, der zur Zeit nichts ist als ein russischer Satellit, der von der Wiedervereinigung in Freiheit ferngehalten wird. Direkte Verhandlungen könnte Bonn nur mit legitimen, aus freien, geheimen Wahlen hervorgegangenen Vertretern führen. In voller Klarheit sei es noch einmal gesagt: Für die Bundesrepublik bedeutet die Wiedervereinigung die uns zustehende Zusammenführung des deutschen Staatsvolks zu einer einheitlichen Nation und ist damit zugleich ein Mittel, ja das Hauptmittel zur Entspannung und zur europäischen Sicherheit. Für die UdSSR soll sie ein Mittel zur Vergrößerung ihrer Basis für die Bolschewisierung Europas sein.
Die Westmächte haben daher ein ganz reales eigenes Interesse an der Wiedervereinigung. Das hat die Genfer Konferenz, wie ja auch in verschiedenen Reden hier ausgeführt worden ist, deutlich gezeigt. Alle drei Westmächte haben sich dankenswerterweise deutlich dafür eingesetzt und werden es auch weiterhin tun. Sie haben erklärt, daß sie in ihren Bemühungen um Beseitigung der Ungerechtigkeit und des Unrechts der Teilung Deutschlands nicht nachlassen werden. Der bri({2})
tische Außenminister hat von dem „abscheulichen ostdeutschen System" gesprochen.
Meine Damen und Herren, die Aussagen verschiedener englischer Zeitungen, die heute den Status quo propagieren, dürfen uns in dieser Sache nicht irremachen. Denn die konservative Regierungspartei und die Labour-Opposition anerkennen unser unverbrüchliches Recht auf die Wiedervereinigung. Die Wiedervereinigung, die ja nun leider vielfach zu einer Frage des Kampfes und der Propaganda gegen die Außenpolitik der Bundesregierung gemacht worden ist, indem man den Anschein erweckte, unserer Regierung liege weniger an der Wiedervereinigung als anderen, ist tatsächlich eine Frage des politisch Möglichen. Ihre Lösung kann nur auf Umwegen und mit Geduld erreicht werden. Auch hier gilt das Wort: „Geduld ist die Tugend eines besiegten Volkes".
Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wie tief unten wir am 8. Mai 1945 waren und was bisher eben durch die weise Politik der Geduld erreicht worden ist.
({3})
Hätte man einem von uns - und ich appelliere jetzt an Sie alle - nach unserem grauenhaften Zusammenbruch 1945 gesagt: Im Jahre 1952 oder gar 1955 werdet ihr das und das erreicht haben, aus einem reinen Objekt der Politik werdet ihr wieder ein Subjekt der Politik geworden sein, eure Stellung in der Welt wird wieder eine angesehene sein, - ich glaube, wir alle hätten denjenigen, der uns derartiges Anno 1945 nach dem Zusammenbruch gesagt hätte, für verrückt gehalten.
({4})
Es ist eine sehr bittere, aber realistische Erkenntnis, wenn wir sagen: Lieber eine Vertagung der Wiedervereinigung auf unbestimmte Zeit als eine Wiedervereinigung in Unfreiheit für alle Zeit!
({5})
An die Kraft zum Durchhalten, vor allem an die unserer Brüder und Schwestern in der sowjetisch besetzten Zone, werden damit höchste Anforderungen gestellt. Aber wir alle, alle in Gesamtdeutschland, müssen die Dinge sehen, wie sie tatsächlich sind. Sie erfordern den festen Willen, die bisherige konsequente Politik fortzusetzen und in keinem Punkte schwankend zu werden. Meine Fraktion weiß, daß ich das Wort, das ich jetzt zitieren will, gerne zitiere, und ich habe es auch schon mehrfach in der Fraktion zitiert. Goethe war bekanntlich nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Staatsmann. Er hat im Jahre 1797 aus politischer Weisheit heraus geschrieben:
Denn der Mensch, der in schwankenden Zeiten auch schwankend gesinnt ist, der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter.
Und nun kommt das, was für uns heute vor allen Dingen in Frage kommt:
Doch wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich!
({6})
Auf dieses „fest auf dem Sinne Beharren" kommt alles an. Die Wiedervereinigungsfrage muß auf der Ebene der Großmächte gehalten und darf nicht auf Zwiegespräche zwischen Bonn und Moskau heruntergedrückt werden.
Nach dem ergebnislosen Verlauf der zweiten Genfer Konferenz ist die Weltlage wieder außerordentlich kritisch und gespannt. Gerade darum müssen wir dafür sorgen, keinerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit und Festigkeit unserer Politik aufkommen zu lassen. Ist es darum hoffnungslos geworden mit der deutschen Wiedervereinigung, wenn man erkannt hat und es klar ausspricht, warum es rebus sic stantibus nicht dazu kommen wird und daß ein großes Warten uns bevorsteht? Nach wie vor muß die Wiedervereinigung in Freiheit unser oberstes Ziel sein.
Dabei müssen wir uns und den Deutschen in der Sowjetzone immer vor Augen halten, daß Regimes, die sich auf Unmenschlichkeit gründen, in der Geschichte noch immer zum Untergang bestimmt waren. Wir müssen uns weiter immer wieder vor Augen halten, daß nicht wir Menschen, sondern der Herrgott der Herr der Geschichte ist und daß es von uns nicht voraussehbare Imponderabilien in der Geschichte gibt, die unsere Staatsmänner ausnützen müssen. Und über allem muß stehen, daß nur das verloren ist, was die Seele aufgibt. Genf ist kein Ende, wenn wir nicht wollen. Gerade jetzt wäre das Bekenntnis aller deutschen Parteien zu einer gemeinsamen Politik überragend wichtig.
({7})
Für uns Deutsche darf der negative Ausgang von Genf nicht zum Auftakt politischer Auseinandersetzungen werden, die nur der Sache des Kremls dienlich sein könnten. Wir Deutschen müssen den Gedanken der europäischen Einheit, die untrennbar von der deutschen Einheit ist, immer wieder und immer intensiver gen Westen tragen.
Die russische Gefahr ist groß, riesengroß. Aber wir dürfen sie auch nicht übertreiben. Wir dürfen nicht in die Situation des Kaninchens, das da vor der Schlange sitzt, kommen. Auch diese Dinge müssen realpolitisch gesehen werden. Wir müssen dieser Politik ohne Furcht entgegentreten, sogar häufig offensiv, ohne Angst und mit klarem Wollen. Wenn wir uns so verhalten werden, kann Genf letztlich ein zu preisender Anfang werden. Bereit sein aber ist alles.
({8})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Lenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem alle Fraktionen auf die Benennung weiterer Redner verzichtet haben bzw. die genannten Redner zurückgezogen haben, beantrage ich namens der Fraktion der CDU/CSU, der Fraktion der FDP und der Fraktion der DP Schluß der Debatte.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Antrag auf Schluß der Debatte gehört. Die nach § 30 der Geschäftsordnung vorgeschriebene Unterstützung von mindestens 30 Mitgliedern des Hauses ist gegeben. Ich lasse über den Antrag abstimmen. Wer dem Antrag auf Schluß der Debatte zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Das erste war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen. Ich schließe damit die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung und komme zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge.
({0})
Meine Damen und Herren! Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP, DP auf Drucksache 1909 und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 1898 vor. Ich lasse über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und DP - Drucksache 1909 - zunächst abstimmen, weil ich der Meinung bin, daß er deshalb der weitergehende ist, weil er eine uneingeschränkte Billigung der von dem Bundesminister des Auswärtigen gestern abgegebenen Regierungserklärung darstellt. Ich lasse anschließend über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD abstimmen. Ich bin nicht der Meinung, daß sich die eine Abstimmung durch die andere erledigt.
Wer dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und DP auf Drucksache 1909 zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 1898. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich darf bitten, noch einen Augenblick Platz zu behalten. Es liegt hier noch ein Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 1723 vor, der offensichtlich für erledigt erklärt werden soll. - Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Schluß der heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste, die 116. Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 7. Dezember 1955, 14 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.