Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hat die große Sorge, dass ich die Redezeit überschreite.
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Deshalb fasse ich es hier in einigen Eckpunkten zusammen.
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Erstens. Die Städtebauförderung ist eine tolle Sache. Wir begehen morgen zum fünften Mal den Tag der Städtebauförderung. Sie ist eine tolle Sache, weil sie eine wirksame Hilfe für die Kommunen im ländlichen Raum ist und damit auch ein Stück Politik für den ländlichen Raum darstellt. Es ist nicht so, wie viele glauben, dass es ein Förderprogramm für die Großstädte ist. Es ist ein Förderprogramm für die Gemeinden, für die mittleren Städte, für die kleineren Städte, also eine wirksame Hilfe für den ländlichen Raum.
Zweitens. Städtebauförderung schafft Heimat. Da werden die Marktplätze saniert, denkmalgeschützte Häuser saniert und vieles andere mehr. Diese Förderung trägt demzufolge dazu bei, dass sich die Menschen dort, wo sie zu Hause sind, wohl und geborgen fühlen. Sie ist also auch ein Beitrag zur Heimatpolitik.
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Der dritte Punkt ist die große wirtschaftliche Effizienz dieses Programms, nämlich: Jeder Euro, den wir im Rahmen der Städtebauförderung einsetzen, löst 7 Euro an zusätzlichen Investitionen aus. Das ist also eine starke Effizienz. Wir fördern insgesamt 2 900 Gesamtmaßnahmen und wenden derzeit 790 Millionen Euro als Bund dafür auf.
Ich möchte zum Schluss dafür werben, dass das Parlament sich nachhaltig dafür einsetzt, dass wir die Mittel auch in den nächsten Jahren für die Städtebauförderung wegen ihres investiven Charakters und wegen ihrer vielfältigen positiven Wirkung im Haushalt verstetigen.
Ich danke.
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Das war jetzt ratzfatz. Dann kann ich ja die restlichen zwei Minuten auf die Fraktionen verteilen.
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– Herr Seehofer hat für die Bundesregierung gesprochen.
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– Ach, Sie wollen ihn doch bei sich eingemeinden? Schauen wir mal.
Das war jetzt aber kein Aufruf zur Überziehung der Redezeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen; aber wir waren alle bisschen überrascht, dass es so schnell vorbei war.
Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Marc Bernhard.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Herr Minister! Schön ist es, Geld zu verteilen und sich dafür feiern zu lassen. Das ist schon eine feine Sache, erst recht, wenn es nicht das eigene Geld ist.
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In Ihrem Antrag rühmen Sie sich, dass Sie seit fast 50 Jahren die Städte und Gemeinden finanziell unterstützen. Morgen gipfelt Ihre Jubelfeier dann im sogenannten Tag der Städtebauförderung. So weit, so gut.
Jetzt zurück zur Realität. In Ihrem Antrag fabulieren Sie von 13 Milliarden Euro, die Sie in dieser Legislaturperiode angeblich in die Städtebauförderung investieren wollen. Diese Zahl ist natürlich nichts anderes als eine Nebelkerze. Sie haben darin eine Vielzahl von sozialen Transferleistungen wie zum Beispiel das Baukindergeld und das Wohngeld eingerechnet, die nichts, aber auch gar nichts mit Städtebauförderung zu tun haben. Im laufenden Haushalt sind es tatsächlich gerade einmal 790 Millionen Euro, die für die Städtebauförderung zur Verfügung stehen. Für Ihre Selbstbeweihräucherung und für Feiern gibt es überhaupt keinen Anlass.
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Im Gegenteil: Das, was hier wirklich stattfindet, ist, dass Sie die Städte und Gemeinden zu Bittstellern degradieren, anstatt sie in die Lage zu versetzen, ihre Belange selbst zu regeln. Der Bund bürdet Städten und Gemeinden immer neue Aufgaben auf, sodass in den meisten Städten bereits 90 Prozent des zur Verfügung stehenden Geldes für vom Bund oder den Ländern festgelegte Ausgaben benötigt werden. Damit wird den Gemeinden ein Großteil ihres Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums genommen.
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Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich der Bund nach einer Anfangsfinanzierung für neue Aufgaben regelmäßig aus der Verantwortung stiehlt. Ein Paradebeispiel hierfür war die dringend notwendige Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz. Der Bund hat das entsprechende Gesetz beschlossen und die Gemeinden auch euphorisch mit einer kräftigen Anfangsfinanzierung beim Neubau von Kitas unterstützt. Aber spätestens beim laufenden Betrieb und bei den enormen Personal- und Instandhaltungskosten sind die Städte und Gemeinden auf sich alleine gestellt und oft überfordert.
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– Bevor Sie jetzt gleich losbrüllen, hören Sie bitte erst einmal ganz genau hin.
Ähnlich verhält es sich nämlich mit der Finanzierung der Flüchtlingskosten.
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– Schön, dass Sie brüllen. – Die Bundesregierung hat in den letzten drei Jahren 2 Millionen Flüchtlinge ins Land gelassen und damit auch die moralische Verpflichtung dafür übernommen, für deren Kosten aufzukommen.
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Und genau das wurde den Städten und Gemeinden ja auch versprochen. Von Anfang an ging es dabei jedoch immer nur um die direkten Kosten wie Wohnungen und Lebensmittel. Die indirekten Kosten wie zum Beispiel Personal mussten die Städte und Gemeinden von Anfang an selbst tragen. Jetzt plant die Bundesregierung auch noch, die Kostenpauschale für Flüchtlinge von 4,7 Milliarden Euro auf 1,3 Milliarden Euro zu senken und damit die Städte und Gemeinden mit 3,4 Milliarden Euro pro Jahr im Regen stehen zu lassen. Mit diesen Plänen stellen Sie sich ernsthaft heute hierhin, um sich für Ihre Großzügigkeit bejubeln zu lassen.
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Sie bringen die Kommunen mit Ihrer unverantwortlichen Politik an die Grenzen ihrer Leistungskraft. Es muss Schluss damit sein, dass hier in Berlin Gesetze gemacht werden, die den Städten und Gemeinden immer neue Aufgaben und Lasten aufbürden, ohne dass ihnen auch ausreichend Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, um diese Aufgaben auch bezahlen zu können. Wir müssen endlich wieder zum Prinzip zurückkehren: Wer anschafft, muss auch zahlen.
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Erst wenn die Kommunen mit jeder neuen Aufgabe, die der Bund ihnen zuweist, auch die dafür notwendigen Finanzmittel bereitgestellt bekommen, gibt es wirklich einen Grund, zu feiern. Deshalb fordern wir eine grundsätzliche Gemeindesteuerreform, die die Selbstständigkeit der Städte und Gemeinden gewährleistet und ihnen eigenverantwortliches Handeln ermöglicht, ohne von Bund und Ländern abhängig zu sein.
Viele Städte und Gemeinden ächzen unter den Schulden durch Ihre verfehlte Politik. Hören Sie deshalb auf, sich auf dem Rücken der Gemeinden feiern zu lassen!
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Vielen Dank, Marc Bernhard. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Sören Bartol.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bernhard, ich weiß gar nicht, wie man morgens um 9 Uhr schon so aggressiv sein kann.
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Wissen Sie, der Punkt ist: Sie haben nicht verstanden, dass wir gerade bei der Städtebauförderung in diesem Hause immer einen großen parlamentarischen Konsens hatten, weil wir alle wissen, wie wichtig die Städtebauförderung ist.
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Es geht nicht darum, dass wir uns feiern, sondern darum, dass sich die Kommunen dafür feiern, dass sie ihre Quartiere nach vorne bringen, ihre Städte nach vorne bringen.
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Deswegen haben Sie überhaupt nichts verstanden und komplett am Thema vorbeigeredet.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass wir morgen den Tag der Städtebauförderung feiern. Wir machen das zum fünften Mal. Zum Thema Städtebauförderung haben wir heute hier im Plenum mehrere Anträge vorliegen. Dass sich Menschen ihre Wohnungen noch leisten können und dass sie da, wo sie leben, auch gerne leben, das gehört gerade zu den zentralen innenpolitischen Themen unserer Zeit. Wir Sozialdemokraten wollen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, so zu leben, wie er möchte und wo er möchte, ob in der Stadt, auf dem Land, in einer Wohnung oder in den eigenen vier Wänden.
Wenn Familien in Städten keine größere Wohnung finden, ältere Menschen aber in ihren großen Wohnungen wohnen bleiben, weil jeder neue Mietvertrag um ein Vielfaches teurer wäre, dann ist das ein Problem. Es ist aber genauso ein Problem, wenn auf dem Land die Rentnerin keinen Arzt findet, wenn Dorfzentren verfallen und sich Menschen deshalb gezwungen sehen, umzuziehen. Neben den steigenden Mieten müssen wir also verhindern, dass mangelnde soziale, medizinische, digitale Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur einer Kommune ihre Bewohner zum Wegziehen zwingt. Gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, ist eines der zentralen Ziele von uns. Wir wissen: Wenn aus regionalen Unterschieden Nachteile werden, müssen wir handeln. Dafür leistet die Städtebauförderung einen großen Beitrag. Sie sorgt dafür, dass aus Beton lebendige, spannende und vielfältige Nachbarschaften werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen selbst wissen am besten, wo vor Ort Stärken, Chancen und Potenziale liegen. Aber sie wissen auch, wo die Probleme liegen und wie sie sie am besten lösen. Was die Städtebauförderung den Kommunen bietet, ist doch eine Art Baukasten. Aus diesem sucht die Kommune aus, was sie vor Ort braucht. Das kann sehr unterschiedlich sein: Freiflächen werden gestaltet, ein Schulcafé, ein Nachbarschaftsgarten werden eingerichtet, ein Schwimmbad oder ein Baudenkmal werden restauriert. Es wird saniert oder leerstehende Häuser im Ortskern werden für die Gemeinschaft renoviert als Gemeindezentrum, Nähstube oder Fahrradwerkstatt. Das alles können Projekte sein, damit sich Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Lebensumfeld identifizieren. Ich sehe, dass die Menschen stolz auf ihre Region sind und sie mitgestalten wollen. Die Städtebauförderung sorgt also bestenfalls dafür, dass Menschen sagen: Hier möchte ich leben, hier gehöre ich hin.
Seit 1971 haben bundesweit rund dreieinhalbtausend Kommunen diese Förderung schon genutzt. Nicht nur Bürgerinnen und Bürger profitieren, auch die lokale Bauwirtschaft, der Tourismus, das Handwerk tun es. So können am Ende – der Minister sagte das schon – aus 1 Euro Förderung 7 Euro Investitionen werden.
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Das alles müssen wir gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft anpacken. Auch sie hat hier eine zentrale wichtige Verantwortung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufbauend auf diesen Stärken müssen wir die Städtebauförderung jetzt auch weiterentwickeln. Was die Kommunen brauchen, ist eine noch unbürokratischere, einfachere Förderstruktur, eine Förderung, die nicht nur die einzelne Kommune in den Blick nimmt, sondern die ganze Region und die bei der wohnortnahen Daseinsvorsorge die Nachbarkommunen miteinbezieht. Wenn wir den Zusammenhalt zum Beispiel in den Stadtteilen stärken wollen, müssen wir auch auf die nichtinvestiven Maßnahmen schauen, auf Quartiers- und Integrationsmanager, Bewohnerbudget oder Gesundheitsberatung. Wichtig dabei ist, bauliche, soziale, arbeitsmarktpolitische, ökologische und ökonomische Maßnahmen ressortübergreifend zu gestalten. Verzahnt mit europäischen Förderprogrammen entfalten sie ihre maximale Wirkung.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen speziell von der FDP: Ich kann mich gut daran erinnern, wie Sie noch die Axt an die Städtebauförderung gelegt haben. Sie haben damals dafür gesorgt, dass die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ von 95 Millionen Euro auf 28,5 Millionen Euro, also um 70 Prozent, zurückgefahren wurden.
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Wir haben das unter größtem Einsatz auch der Zivilgesellschaft verhindert. Heute haben wir für das Programm „Soziale Stadt“ 190 Millionen Euro zur Verfügung und für die Städtebauförderung insgesamt sogar 1 Milliarde Euro an Bundesmitteln. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Regierungsbeteiligung der SPD hat sich sehr gelohnt. Wir müssen diesen Weg gemeinsam weitergehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sören Bartol. – Nächster Redner: für die FDP Daniel Föst.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Natürlich hängt der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft auch davon ab, dass es möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land gibt. Wir sind der Meinung, jeder oder jede sollte dort leben können, wo er oder sie möchte: Wer es stressiger, voller, lebhafter will, in der Stadt, wer lieber die Ruhe sucht, die Nähe zur Natur, der soll ohne Sorge um ärztliche Versorgung, Bildung und Infrastruktur auf dem Land leben können.
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Wir sind leider in die Situation gekommen, dass man das eigentlich Selbstverständliche betonen muss. In Zeiten, in denen von neuen sozialistischen Gesellschaftsformen, von Wohnungszuweisungen geträumt wird, möchte ich ganz klar sagen: Freiheit bedeutet, dass die Menschen für sich selbst entscheiden können, wo sie leben wollen. Das ist das, was die FDP möchte.
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Lebensverhältnisse mit gleichen Chancen – da gebe ich meinen Vorrednern recht – entstehen nicht von ganz allein. Weil es in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Herausforderungen gibt, unterstützt der Bund die Kommunen mit der Städtebauförderung. Aber bei der Städtebauförderung ist – das müssen wir uns klarmachen – bei Weitem nicht alles Gold, was glänzt, ganz egal, wie sehr sich die Regierung dafür feiert.
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– Das glaube ich Ihnen. Es ist mir schon aufgefallen, dass der SPD hin und wieder der Blick auf die eigene Regierungsleistung verstellt bleibt, sehr geehrte Frau Kollegin.
Das Deutsche Institut für Urbanistik hat sich in einer Studie mit der Städtebauförderung auseinandergesetzt und bei den Kommunen nachgefragt, wie sie mit der Städtebauförderung zurechtkommen. Das ganz klare Ergebnis: Für viele Kommunen sind die Programme zu starr, zu unflexibel, zu unübersichtlich. Die Förderlandschaft in der Städtebauförderung weitet sich immer weiter aus, immer neue Förderziele kommen hinzu. Man verliert den Überblick, weil man ins Mikromanagement kommt. Da müssen wir endlich umsteuern.
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Aber das größte Problem: Die Programme der Städtebauförderung richten sich vor allem an die größeren, an die größten Städte. Die kleinen Städte und Gemeinden können zum Beispiel mit Quartiersmanagement oder den hochkomplexen Antragsverfahren oft nichts anfangen.
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Sie profitieren viel zu wenig von der Städtebauförderung. Auch wenn Sie sich dafür feiern, liebe Kollegen von CDU/CSU und SPD: Ihr großer Antrag wird an dieser Situation nichts ändern.
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Dabei müssen wir gerade jetzt den kleineren Städten und Gemeinden helfen. Die steigenden Mieten in den Metropolen sind auch Ergebnis einer Landflucht. Die Menschen ziehen in die Städte, obwohl laut einer Umfrage die meisten lieber auf dem Land leben möchten. Das ist doch eine absurde Situation! Wir können mit der Städtebauförderung diesen Trend zwar nicht automatisch stoppen, aber wir müssen alles tun, um das Ausbluten des ländlichen Raums auf gar keinen Fall weiter zu befeuern.
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Deswegen müssen wir die Städtebauförderung auf neue Beine stellen. Für uns bedeutet dieser Paradigmenwechsel in der Städtebauförderung: Wir wollen, dass Stadt und Land gleichermaßen von der Städtebauförderung profitieren. Wir wollen, dass ländliche und strukturschwache Räume mehr von den inzwischen fast 800 Millionen Euro jährlich profitieren. Wir halten es für dringend erforderlich, die Städtebauförderung neu zu denken, damit sie einfach, unbürokratisch und flexibel ist.
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An erster Stelle müsste bei der Städtebauförderung nicht mehr der Förderzweck stehen. Wir wollen den Städten und Gemeinden mehr Verantwortung und Vertrauen beim Management der Mittel übertragen. Mehr Flexibilität, mehr Vertrauen in die Gemeinde, weniger Bürokratie bedeuten mehr Erfolg der eingesetzten Mittel.
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Liebe Kollegen von Union und SPD, wenn Sie heute Nachmittag in Ihre Wahlkreise fahren und mit Ihren kommunalen Mandatsträgern sprechen, dann zeigen Sie ihnen doch mal den Antrag der FDP zur Neustrukturierung der Städtebauförderung. Ich bin mir sicher, Ihre kommunalen Mandatsträger werden damit sehr viel anfangen können.
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Wir müssen die Städtebauförderung neu denken. Wir müssen die Kommunen in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen sie flexibel gestalten. Wir müssen den Kommunen das Vertrauen schenken, dass sie mit den Mitteln auch ohne unser Mikromanagement gut umgehen. Dann haben wir auch einen größeren Effekt der Städtebauförderung. Das ist dringend notwendig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Daniel Föst. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Caren Lay.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte heute Morgen, wie es sonst so gar nicht meine Art ist, den Bauminister eigentlich dafür loben, dass er ausnahmsweise bei einer Baudebatte anwesend ist und persönlich das Wort ergriffen hat. Allerdings muss ich nach seiner eineinhalbminütigen Rede von dem geplanten Lob leider wieder Abstand nehmen.
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Besser hätten Sie nicht zum Ausdruck bringen können, wie wenig Sie für die Städtebauförderung, wie wenig Sie für die Stadtentwicklung brennen.
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Meine Damen und Herren, die Ungleichheit in den Städten, die Trennung von armen und reichen Vierteln nimmt deutlich zu, am stärksten übrigens in Ostdeutschland: Rostock, Schwerin und Potsdam. Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Diese Entwicklung müssen wir stoppen.
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Die Mieten explodieren. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: In Wolfsburg sind in zehn Jahren die Angebotsmieten um 67 Prozent gestiegen. Menschen werden aus ihren Wohnungen und Stadtteilen verdrängt. Wo früher der Tante-Emma-Laden war, da ist heute Starbucks und McDonald’s. Das alles ist wirklich kein Grund für eine Jubelbilanz.
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Und so umfangreich ist die Städtebauförderung nun auch wieder nicht. In den letzten 48 Jahren kommen wir im Schnitt auf 183 Maßnahmen pro Jahr. Ich finde, bei über 11 000 Gemeinden ist das ein eher dürftiges Ergebnis. Wir müssen also die Städtebauförderung nicht nur beibehalten, sondern wir müssen sie deutlich ausbauen.
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Wenn das Programm reformiert wird, dann dürfen ostdeutsche Städte nicht schlechtergestellt werden – schreibt das Ministerium. Das finden wir als Linke natürlich auch. Aber aus meiner Erfahrung in Sachsen kann ich sagen: Viele können die Städtebauförderung deswegen nicht nutzen, weil sie den geforderten Eigenanteil nicht aufbringen können. Wenn wir also etwas für den Osten tun wollen, dann müssen wir finanzschwachen Kommunen den geforderten Eigenanteil erlassen. Darum wird es gehen.
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Auch die ökologischen Aspekte sind bislang unterbelichtet; da müssen wir ran. Auch die Absurditäten bei der Städtebauförderung müssen wir, glaube ich, überwinden. Beispielsweise gab es ja wirklich große Abrissprogramme, die dazu geführt haben, dass seit 2001 Hunderttausende Wohnungen abgerissen wurden, die heute schmerzlich fehlen.
Nun können wir in Städten mit massivem Bevölkerungsrückgang – wie beispielsweise in meinem Wahlkreis Hoyerswerda – darüber sprechen. Aber es ist doch völlig unverständlich, dass bis zum heutigen Tage Wohnungen mit öffentlichen Geldern dort abgerissen werden, wo die Mieten steigen. In Wolfsburg beispielsweise sind erst vor kurzem 200 günstige Wohnungen mit Mitteln der Städtebauförderung abgerissen worden.
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Das, meine Damen und Herren, kann doch wirklich niemand verstehen.
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Ich lese in Ihrem Antrag viel von „Zusammenhalt“; das ist schön. Aber warum weigert sich diese Regierung dann, Menschen wirksam vor hohen Mieten, vor Kündigungen und vor Zwangsräumungen zu schützen? Das gefährdet doch den sozialen Zusammenhalt in unseren Städten, und da müssen wir ran.
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Sie schreiben, wie wichtig Ihnen Ortskerne sind. Aber was ist denn eigentlich mit den Ortskernen der großen Städte, in denen sich bald kein Normalverdiener mehr eine Wohnung leisten kann? Sie wollten doch eigentlich noch in diesem Halbjahr eine Mietspiegelreform vorlegen. Jetzt lese ich vor zwei, drei Tagen, Sie wollen im Laufe des Jahres Eckpunkte vorlegen. Also, wissen Sie was? Das wird dem Druck, den Mieterinnen und Mieter haben, in keinster Weise gerecht.
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Meine Damen und Herren, Die Linke fordert zum Abschluss nicht nur eine deutliche Aufstockung der Mittel für die Städtebauförderung und die Stadtentwicklung. Wir wollen ein öffentliches Wohnungsbauprogramm nach Wiener Vorbild. Denn Wien macht es vor: Eine moderne Stadtentwicklung ist möglich – sozial, ökologisch und mit starken Nachbarschaften. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.
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Vielen Dank, Caren Lay. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Programme der Städtebauförderung waren seit jeher lernende Programme, die gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen. Sie haben in den letzten 45 Jahren ganz maßgeblich dazu beigetragen, gesellschaftliche Probleme wenngleich nicht zu lösen, aber doch zumindest zu mildern. Insofern ist es auch richtig, am Tag der Städtebauförderung die Aufmerksamkeit auf diese Programme zu lenken.
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Der globale Trend der Urbanisierung geht auch an Deutschland nicht spurlos vorüber. Wir haben einen rasanten Zuzug in die Städte, der sie vor die großen Herausforderungen stellt, Wohnraum und Infrastrukturen entsprechend anzupassen. Auch das Umland der Ballungsräume wächst, während gleichzeitig andernorts Menschen wegziehen. Schlechte Luft und immer häufiger auftretende Extremwetterereignisse fordern unsere Städte massiv heraus.
Meine Damen und Herren, das UN-Entwicklungsziel 11 für nachhaltige Städte und Gemeinden fordert, angemessenen Wohnraum für alle zu schaffen, Mobilität zu sichern, Bürgerinnen und Bürger an der Planung zu beteiligen, die Umweltbelastung zu reduzieren, öffentliche Grünflächen auszubauen, integrierte Konzepte, etwa zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels, zu entwickeln und entsprechende Maßnahmen umzusetzen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das sind genau die Punkte, an denen sich die Neuausrichtung der Städtebauförderung orientieren und die sie widerspiegeln muss.
({1})
In Ihrem Antrag ist uns dieser Ansatz eindeutig viel zu wenig berücksichtigt. Er ist lediglich darauf angelegt, den zuständigen Bundesminister zu beweihräuchern, der heute einmal mehr nichts zum Thema zu sagen hatte und einmal mehr deutlich gemacht hat, dass ihn das wirklich nicht interessiert. Der Auftritt war eine Missachtung des Parlaments.
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Er und die gesamte Bundesregierung unterlässt aber jeden Schritt, der dem UN-Entwicklungsziel für nachhaltige und resiliente Städte wirklich hilfreich wäre. Es sind keine Lösungsansätze in Sicht, und die Kommunen werden mit entscheidenden Herausforderungen alleingelassen: den Kosten des Wohnraums, der Mobilitätswende, dem Klimaschutz, dem Flächenverbrauch und der Digitalisierung. Die Programme und Absichtserklärungen der Bundesregierung lesen sich schön. Aber in der konkreten Politik findet sich das in keinem der Häuser wieder.
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Wir wollen mit unserem Antrag deutlich machen, dass diese Schwerpunktthemen im Sinne nachhaltiger und integrierter Stadtentwicklung zu erweitern sind, dass die riesigen Herausforderungen wie Klimaschutz, Klimaanpassung und Digitalisierung auch eine Chance sind. Aber Digitalisierung birgt auch Risiken – ich verweise nur auf China –, und auch dort ist es wichtig, dass wir den Städten ganz klar sagen: Wir helfen euch bei der Umsetzung und bei der Bewältigung der Digitalisierung, dass ihr sie im Sinne der Demokratie, im Sinne der Nachhaltigkeit und im Sinne einer gelingenden Mobilität und eines gelingenden Miteinanders umsetzen könnt. – Das ist in den nächsten Jahren wichtig, verehrter Herr Seehofer.
Wir brauchen einen Aktionsplan Faire Wärme, ein finanzstarkes Förderprogramm für energetische Quartierssanierung. Wir wollen damit erreichen, dass wir wenigstens in die Nähe einer warmmietenneutralen Sanierung des Gebäudebestands kommen.
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Wir wollen auch deutlich machen, dass es mit Modellprojekten bei der Digitalisierung – Smart City und Smart Region – nicht getan ist. Die Herausforderungen, die vor uns liegen, brauchen eine langfristige Begleitung.
Lassen Sie mich einen letzten wichtigen Punkt noch sagen: Die finanzschwachen Kommunen, die Probleme haben, die Kofinanzierung überhaupt aufzubringen, sind oft diejenigen, die es am meisten brauchen und wo kein Geld ankommt, weil es nicht abgerufen werden kann.
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Es wäre wirklich klug – das sage ich der Koalition und dem Bundesminister –, wenn Sie dies endlich abstellen würden, damit die, die es am meisten brauchen, auch in den Genuss eines unglaublich guten Programms kommen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Daniela Wagner. – Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion: Mechthild Heil.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Jede Bürgermeisterin und jeder Bürgermeister muss das Grundbedürfnis seiner Bevölkerung nach Wohnraum stillen. Aber damit nicht genug, Frau Lay: Stadt ist viel, viel mehr als Wohnen; denn je größer ein Ort wird, desto größer werden auch die Bedürfnisse der Bevölkerung. Dann geht es eben nicht mehr nur um Wohnen, sondern dann geht es um Schulen, Kitas, Einkaufs- und Erholungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze, Gesundheitsvorsorge, Kultur, ÖPNV und vieles, vieles mehr.
Es reicht aber nicht aus, diese Entwicklung dann dem Zufall zu überlassen. Die Bürger erwarten zu Recht von den politisch Verantwortlichen ansprechende und sinnvolle Planung und Gestaltung ihrer eigenen Heimat. Sie müssen sich die Frage stellen: Wie soll mein Ort in 10, 20 oder 30 Jahren aussehen? Das ist eben eine Frage des Städtebaus und der Stadtentwicklung.
Wenn Städtebau qualitativ hochwertig geschehen soll – wofür ich hier als Architektin und Vorsitzende des Bauausschusses wirklich werben möchte –, dann bedeutet das zunächst einmal: Man muss gründlich nachdenken und dann gute Konzepte entwickeln. Das alles kostet am Ende natürlich einen Haufen Geld. Weil wir wissen, wie wichtig eine gute Stadtentwicklung ist, und weil wir auch wissen, dass viele Kommunen für diesen Bereich wenig bis gar kein Geld ausgeben können, haben Bund und Länder schon in den 70er-Jahren die Städtebauförderung entwickelt, und das auch sehr erfolgreich. Wir fördern kommunale, aber auch private Investitionen, sodass am Ende 1 Euro 7 Euro an Investitionen auslösen kann.
Wir haben die Städtebauförderung kontinuierlich weiterentwickelt. Zu den klassischen Bereichen, angefangen bei der Denkmalpflege oder dem Stadtumbau, kamen dann Bereiche wie zum Beispiel die „Soziale Stadt“, die Förderung des Stadtgrüns oder die nationalen Projekte des Städtebaus, bei denen große Projekte, die deutschlandweite Bedeutung haben, gefördert werden.
Aber die Entwicklung geht weiter, Herr Föst. Wir wollen schneller, einfacher, effektiver bei der Vergabe der Fördermittel werden.
({0})
Denn die Erwartungen an die Städte und Gemeinden steigen mit jedem Jahr.
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Der Klimawandel und der Qualitätsanspruch unserer Bewohner in den Städten verlangen zum Beispiel nach umfassenden Begrünungsmaßnahmen, die sich nicht darauf beschränken dürfen, dass es Moose und Flechten auf Flachdächern gibt und hier und da mal ein Baum an der Straße steht. Städte müssen smarter werden. Die Digitalisierung muss in allen Bereichen vorangetrieben werden.
Wie kommen wir zu neuem Bauland? Verdichtung und brachliegende Industrie und Gewerbeflächen können ein Teil der Lösung sein. Ich habe zu Beginn die Bürgermeister angesprochen. Sie müssen in allererster Linie erst mal eine Idee für ihre Stadt entwickeln. Aber das kann und darf heute nicht alles sein. Gute Stadtentwicklung kann heute nur gelingen, wenn die Bürger und auch die Eigentümer der Immobilien intensiv in die Planung miteinbezogen werden.
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Um das alles leisten zu können, müssen die Stadtplanungsämter gestärkt werden. Das ist zwar keine Aufgabe der Städtebauförderung, aber eine notwendige Voraussetzung, um die Mittel der Städtebauförderung optimal einsetzen und in Anspruch nehmen zu können.
Städtebauförderung ist nicht weit weg, sondern überall in Deutschland. Morgen – Sie haben es schon gehört – ist der Tag der Städtebauförderung. Nutzen Sie doch einfach die Gelegenheit, und besuchen Sie eine der 750 Veranstaltungen dazu bei uns in Deutschland. Sehen Sie sich eine Stadt in Ihrer Region an. Dann können Sie ganz konkret sehen, wo die Bundesgelder im Land hingehen und wie Ihre Stadt mit diesen Bundesgeldern lebenswerter und ein Stück schöner wird. Ich würde mich freuen, wenn Sie an den Veranstaltungen teilnehmen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Mechthild Heil. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernhard Daldrup.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen zum fünften Mal bundesweit den Tag der Städtebauförderung. Es werden sich voraussichtlich etwa 500 Kommunen daran beteiligen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Städten und Gemeinden, bei den Verwaltungen, den Planungsdezernenten, den Stadtbauräten herzlich dafür zu bedanken, dass sie sich daran beteiligen.
({0})
Ich bedanke mich übrigens auch bei Barbara Hendricks, die diesen Tag 2015 eingeführt hat.
Die Städtebauförderung ist seit 48 Jahren eine Erfolgsgeschichte in Deutschland. Sie ist übrigens von der Regierung Willy Brandts eingeführt worden. Damals war uns schon klar, dass Investitionen in unsere Städte und Gemeinden Investitionen in die Stabilität unserer Gesellschaft sind. Deshalb wurde vor 20 Jahren das Programm „Soziale Stadt“ eingeführt. Städtebauförderung, das ist etwas mehr als Kubikmeter umbauter Raum. Das sage ich deswegen, weil ich die FDP daran erinnern will, dass sie in ihren Regierungsjahren massive Kürzungen der Städtebaufördermittel vorgenommen hat.
({1})
– Das waren Sie. Ja, nicht wegducken und mit Bürokratiemonstern kommen. Das kenne ich schon.
({2})
Wir halten das Programm mit 190 Millionen Euro auf Rekordniveau. Das unterscheidet uns. Auf uns können sich die Kommunen verlassen, Frau Strack-Zimmermann. Das ist der Unterschied.
({3})
Wir haben eben schon viel über die 790 Millionen Euro Städtebaufördermittel gesprochen. In Wirklichkeit werden wir mit fast 1 Milliarde Euro zusammen mit den komplementären Mitteln von Ländern und Kommunen viele Maßnahmen fördern, die es sonst nicht gäbe: Reaktivierung von Quartieren, Stärkung kleiner Gemeinden, Dorfplätze, städtebaulicher Denkmalschutz. Jede Kommunalpolitikerin und jeder Kommunalpolitiker erzählt gerne davon, wie mit Mitteln der Städtebauförderung ein Stück Heimat wiedergewonnen, erhalten wurde und wieder erlebbar geworden ist.
({4})
Darüber werden wir reden, nicht über Ihre Anträge. Das ist wahr.
({5})
Übrigens hat die Städtebauförderung eine beachtliche regionalwirtschaftliche Bedeutung für das kleine Handwerk, für die Handwerkerinnen und Handwerker.
Der Tag der Städtebauförderung ist auch Anlass, sich über künftige Herausforderungen zu unterhalten. Die Städte und Gemeinden stehen vor großen Herausforderungen, vor gemeinsamen, zum Teil auch gegensätzlichen Herausforderungen. Deshalb ist es nicht gut, Stadt und Land gegeneinander in Stellung zu bringen, sondern wir sollten an der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse arbeiten.
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Gutes Zusammenleben braucht sozialen Zusammenhalt. Ausreichender und bezahlbarer Wohnraum ist das eine. Aber gute Quartiere, Plätze für gemeinsames Leben,
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Gebäude, die Ortsgeschichte erzählen, kurzum: das einladende Zusammenleben, die Vielfalt des Lebens, das macht Städte und Gemeinden aus. Das muss erhalten, gefördert und weiterentwickelt werden.
({8})
Ich will mal sagen: Wenn man die kritischen Quartiere bei uns mit europäischen Städten vergleicht, dann wird man feststellen, dass es deutliche Unterschiede gibt, die zu unseren Gunsten ausfallen. Das hat was mit Städtebauförderung zu tun.
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Die „Soziale Stadt“ ist weit mehr als nur ein Programmtitel. Sie ist eine Aufgabe, an der sich – da haben die Kolleginnen Caren Lay und Daniela Wagner recht – auch die finanzschwachen Kommunen beteiligen können müssen. Wir werden die Städtebauförderung in diesem Jahr weiterentwickeln. Wir werden die „Soziale Stadt“ stärken. Wir werden Stadt-Umland-Partnerschaften mit einem Förderbonus belohnen. Wir wollen Brachflächen mobilisieren. Wir wollen Barrierefreiheit ausbauen, um öffentliche Räume für jedermann zugänglich zu machen – egal ob im Kinderwagen oder Rollstuhl –, und vieles mehr.
({10})
Städte und Gemeinden sind Orte der Zukunft und nicht nur, wie es bei der Firma Google mal hieß, eine Ansammlung von IP-Adressen. Wir wollen das Leitbild der europäischen Stadt vor dem Hintergrund der Leipzig-Charta 2.0 weiterentwickeln. Wir entscheiden über Investitionen, nicht nur in den Städtebau, sondern auch in die soziale Stabilität unserer Gesellschaft. Das wollen wir. Ich wünsche uns allen einen wirklich schönen Tag der Städtebauförderung.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Bernhard Daldrup. – Letzter Redner in dieser Debatte: Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte besonders die Gäste aus Thüringen und natürlich auch die Thüringer an den Fernsehschirmen begrüßen.
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Sehr geehrte Frau Lay, lassen Sie mich zuerst sagen: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man redet lang und handelt kurz, oder man redet kurz und handelt dafür. Ich denke, unsere Minister und diese Große Koalition haben sich für das Zweite entschieden.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Städtebauförderung heißt Stadtentwicklung gestalten, und zwar gestalten und nicht verwalten. In einigen Beiträgen heute stand das Verwalten im Mittelpunkt. Aber wir als Große Koalition stellen das Gestalten in den Mittelpunkt.
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Denn es hilft uns nichts, wenn wir über die Probleme sprechen und dabei vergessen, diese Probleme mit den entsprechenden Gestaltungsmitteln anzugehen. Eines der wichtigsten Gestaltungsmittel ist die Städtebauförderung.
Seien wir doch mal ehrlich: Die Anziehungskraft der großen Städte kommt doch nicht daher, dass man vor lauter Staub die Hand nicht vor den Augen sieht oder vor lauter Lärm das eigene Wort nicht versteht. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall: Die Städte sind attraktiv, unsere Städte haben eine gute Durchmischung, und sie haben vor allen Dingen im Großen und Ganzen menschenwürdigen Wohnraum. Ich will damit die Probleme, die bestehen, nicht kleinreden; die müssen wir klären, daran müssen wir arbeiten. Aber das muss an der Stelle mal gesagt werden.
Vor allem richtet sich der Dank an alle Akteure. Dazu gehören die Länder und vor allen Dingen die Kommunen, und dazu gehört der Bund. Dazu gehören auch alle Selbstnutzer, viele Private und natürlich auch unsere Genossenschaften, unsere Kommunalen und nicht zuletzt die Bauwirtschaft, die das realisieren muss. Dafür an dieser Stelle anlässlich des Tages der Städtebauförderung unser Dank.
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Eines möchte ich damit auch zum Ausdruck bringen: Städtebauförderung wird in Zukunft ein noch besseres Angebot für alle Bereiche machen. Damit meine ich sowohl große kommunale Unternehmen als auch Private, die in den Genuss der Städtebauförderung kommen wollen. Damit meine ich die großen Städte ebenso wie die kleinen Städte, die die Städtebauförderung in Anspruch nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade angesichts der EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland rückt das Thema in einen europäischen Kontext. Nicht nur die Industrie vernetzt sich europaweit und weltweit, nein, auch die Städte, die Ballungszentren, die Siedlungsstrukturen werden mehr und mehr vernetzt. Das müssen wir beachten, und das wird Deutschland im Rahmen der EU-Präsidentschaft beachten.
Nichtsdestotrotz kommt es darauf an – das ist die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung –, dass sie eigenständig erhalten bleibt, dass sie konkrete Probleme vor Ort erkennt und die Programme danach ausrichtet. Wir werden die Städtebauförderung in mindestens gleicher Höhe wie bisher fortführen, mit rund und eckig 800 Millionen Euro. Man muss dabei auch berücksichtigen, dass wir zusätzlich Entflechtungsmittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen, die hier nicht berücksichtigt wurden. Insgesamt sind es 1,5 Milliarden Euro; das ist doch ein erheblicher Beitrag.
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Wenn wir die Förderschwerpunkte überarbeiten, werden wir sehr genau darauf achten, dass wir für alle Akteure ein Angebot machen: für die Privaten, für die Kleinstädte. Liebe Daniela Wagner, wir werden die integrierten Ansätze der Stadtentwicklung verstärkt beachten und unterstützen. Ich will zwei Beispiele geben:
Zum einen geht es darum, dass wir mit Nachverdichtungen natürlich auch Probleme in den Städten schaffen. Das Problem wollen wir mit Stadtgrün und Grünflächen in der Stadt lösen, damit dort entsprechende Erholungsräume entstehen, um die klimatischen Bedingungen zu verbessern. Nicht jeder Architekt hört gerne, wenn man von vertikaler und horizontaler Begrünung spricht; aber das ist ein Thema. Ein weiteres Thema ist, dass man Ersatz- und Ausgleichsmaßnahmen, die im Rahmen der Kompensation möglich sind, durchaus auch in den Städten durchführen kann.
Das Zweite, was ich ansprechen möchte – das ist sehr, sehr wichtig –, ist die Stadt-Umland-Beziehung. Wenn wir über die Stadt-Umland-Beziehung sprechen, dann stellen wir fest, dass das natürlich nicht nur eine Frage des Bau- und Planungsrechts ist; es ist natürlich auch ein Problem des Kommunalrechts. Nichtsdestotrotz gilt es auch an dieser Stelle, neben den Finanzhilfen, die wir leisten, die entsprechenden Instrumente zu schärfen. Ich denke an das Baugesetz, die Musterbauordnung und die Baunutzungsverordnung.
Mit der Einführung der Baugebietskategorie „Urbanes Gebiet“ in der letzten Legislatur ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass Arbeiten und Wohnen in der Stadt in urbanen Quartieren möglich ist. Ähnliches müssen wir auch in den kleinen Städten und in den Dörfern erreichen. Deswegen ist es wichtig, dass wir das ländliche Kerngebiet so entwickeln, dass das Leben auf dem Dorf lebenswert ist. Bauland, Bauen in zweiter Reihe und Bauen als Lückenbebauung, das sind Themen, die wir angehen müssen, um auch die Situation am Wohnungsmarkt zu verbessern.
Die Redezeit müssen Sie auch angehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme damit zum Schluss.
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All das, über das wir hier sprechen, wird immer eine gemeinschaftliche Aufgabe zwischen Bund, Ländern und Kommunen bleiben, nämlich ein Gestaltungsauftrag und kein Verwaltungsauftrag. Daran werden wir arbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, Volkmar Vogel. – Ich habe Ihnen ja versprochen, dass Sie den Rest der Redezeit des Ministers kriegen.
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– Das darf ich ja nicht bewerten. – Sie haben die Thüringer gegrüßt. Wir grüßen natürlich auch von Bayern bis Schleswig-Holstein und von Rheinland-Pfalz bis Brandenburg. Alle seien sie uns gegrüßt.
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Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! 2018 wurde an Griechenland eine letzte Tranche von 15 Milliarden Euro aus dem ESM-Kreditprogramm ausgezahlt, explizit zum Aufbau eines Liquiditätspuffers. Das Land sei nun stabilisiert. Dasselbe hörten wir schon 2010, 2012 und 2015. Zudem wurden Schuldenerleichterungen im Wert von weiteren 40 Milliarden Euro gewährt. Griechenland bekam für seine EFSF-Kredite Zins- und Tilgungsfreiheit bis mindestens 2032 und Laufzeitverlängerungen zum Teil bis 2060. Kein Schuldner denkt auch nur ansatzweise daran, solche Kredite noch zu beachten, geschweige denn zu bedienen. Für die Gewährung dieser Finanzhilfen wurden mit der griechischen Regierung 110 Maßnahmen vereinbart. Die Euro-Gruppe stellte dann am 22. Juni 2018 die Erfüllung aller dieser Voraussetzungen fest und veröffentlichte eine Jubelerklärung zur „Rettung“: Wir gratulieren der griechischen Regierung zum erfolgreichen Abschluss des ESM-Programms.
Seitdem unterliegt Griechenland einer sogenannten Nachprogrammüberwachung durch die EU-Kommission. Auch Minister Scholz und das BMF haben versichert, dass die Einhaltung der Zusicherungen überprüft werde. Es war allerdings völlig klar, dass Griechenland die Bedingungen nicht erfüllen kann und dass die Geldgeschenke nur einer weiteren Konkursverschleppung auf Kosten deutscher Steuerzahler dienen.
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Die AfD hat darum am 26. Juni 2018 per Stellungnahme gemäß Artikel 5 ESM-Finanzierungsgesetz noch versucht, für den Deutschen Bundestag die Reißleine zu ziehen. Alle anderen Fraktionen haben dies verhindert.
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Die griechische Regierung hat danach wie erwartet umgehend den sogenannten Reformkonsens aufgekündigt. Bereits wenige Woche nach der Milliardenauszahlung verfügte Ministerpräsident Tsipras die Rückabwicklung wichtiger Reformen: Die bereits beschlossene Rentenreform wurde zurückgenommen, es wurden Nachlässe bei Immobiliensteuern und Sozialbeiträgen gewährt. Die fest zugesagte Steuerharmonisierung auf den griechischen Inseln wurde gleich mehrfach verschoben. Inzwischen wird von der griechischen Regierung noch nicht einmal mehr ein konkreter Termin für die Umsetzung genannt. In Summe bedeuten diese Maßnahmen bzw. Unterlassungen eine Abweichung von Vereinbarungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro.
Sogar die inzwischen vorliegenden sehr schönfärberischen ersten Nachprogrammüberwachungsberichte der Kommission attestieren Griechenland gravierende Versäumnisse und Risiken. So seien die vereinbarte Rentenreform und die Mehrwertsteueränderung nicht umgesetzt worden. Zudem kritisieren die Berichte die von der Tsipras-Regierung eben beschlossene Entschuldung von Kreditnehmern auf Steuerkosten und die gewaltige Erhöhung der Mindestlöhne. Heute Morgen erst, vor zwei Stunden, hat uns ESM-Chef Regling bestätigt, dass es wegen der absurden Wahlkampfgeschenke, die aktuell im Raum stehen, und auch wegen des Investitionsstaus gewaltigen Gesprächsbedarf mit der Tsipras-Regierung gibt.
Es ist praktisch sicher, dass Griechenland das vereinbarte Ziel eines Primärüberschusses von mindestens 3,5 Prozent nicht einhalten wird, wohlgemerkt nicht als Folge einer unerwarteten wirtschaftlichen Notsituation, sondern als Ergebnis bewusst absprachewidrigen Verhaltens.
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Inzwischen ist die Geschäftsgrundlage für die Auszahlung der 15 Milliarden Euro eindeutig entfallen, ebenso die Voraussetzung für die gewährten Krediterleichterungen von 45 Milliarden Euro.
Ein Grund für unsere Ablehnung 2018 war die grundlegend falsche Logik der EU, einem souveränen Land politische und planwirtschaftliche Fesseln anzulegen und dann auf wundersame Heilung der Volkswirtschaft zu hoffen, was im völlig unpassenden Euro-Währungskorsett einfach nicht gelingen kann.
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Doch es gibt noch einen zweiten Grund. Die Malaise mit den Griechenland-Rettungen ist notorisch. Es gibt x historische Analogien, zum Beispiel bei den Schuldenerleichterungen 2012. Am 27. November 2012 brachte das BMF unter dem damaligen Finanzminister Schäuble hier im Bundestag folgenden Antrag ein:
Die Laufzeit sowohl der bilateralen Kredite unter Griechenland I als auch der EFSF-Kredite wird um 15 Jahre verlängert. …
Genau wie heute.
Gleichzeitig wird die Marge des Griechenland-I-Kredits … um 100 Basispunkte abgesenkt. …
Auch das ist eine Analogie zu heute.
Die Zinsen auf EFSF-Darlehen werden für zehn Jahre gestundet.
Alles genau wie heute.
Schon 2001 war Griechenland überhaupt nur durch gefälschte Defizitzahlen in den Euro-Raum gekommen. Und auch schon viel früher gefährdete Griechenland eine andere europäische Währungsunion, damals die Lateinische Münzunion, also den historischen Euro-Vorläufer. Ökonom Henry Willis meinte damals, 1901:
In keinem Fall ist Griechenland ein wünschenswertes Mitglied der Währungsunion.
Das Land sei wirtschaftlich unseriös.
Griechenland kämpfte schon damals ständig gegen den Staatsbankrott. Gleichzeitig überboten sich die Parteien regelmäßig mit teuren Wahlgeschenken. 1893 verkündete der griechische Premier Trikoupis vor dem Parlament: „Bedauerlicherweise sind wir bankrott.“ Auch damals – jetzt hören Sie gut zu! das hat sehr aktuelle Bezüge – wurde ein Schuldenschnitt vereinbart. Auch damals musste Athen im Gegenzug ausländischen Experten erlauben, seine wirtschaftlichen und fiskalischen Reformen zu überwachen. Doch das Land druckte einfach viel Papiergeld und destabilisierte die ganze Münzunion.
Der Publizist Laughlin schrieb 1898 – und das ist ein denkwürdiger Satz –: Die Münzunion wurde fortgeführt, weil es undenkbar war, dass sie zu existieren aufhört. – Es war dieselbe Vogel-Strauß-Logik, wie sie seit 2010 permanent auch in diesem Haus herrscht.
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Trotzdem vegetierte die Münzunion noch bis zum Jahr 1927. Eine nicht funktionierende Währungsunion kann erstaunlich langlebig sein. Obwohl es teuer war, finanzierten damals Belgien und Frankreich die Staatsdefizite von Griechenland mit.
Sogar noch früher waren die griechischen Finanzen ein Problem. Der bayerische Staatsminister Graf Montgelas sagte schon 1850
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zum Griechenland-Abenteuer seines Bayern-Prinzen Otto von Wittelsbach, der damals König von Griechenland war: Solange wir Bayern Geld nach Griechenland schicken, geht es gut. – Griechische Regierungen kennen also das Verhalten der EU-liten seit 170 Jahren. Die Versuchung, zu betrügen und immer neue Krediterleichterungen, also Geschenke, zu bekommen,
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wird übermächtig sein. Sie werden sie immer und immer wieder erfolgreich einfordern; denn der Euro ist ja „alternativlos“.
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2018 wurde erneut ein Blankoscheck für die griechische Regierung ausgestellt, und die griechischen Versprechungen werden erneut gebrochen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die EU und die Bundesregierung trotz der zum Teil offen vereinbarungswidrigen Handlungen und Unterlassungen Griechenlands nur lapidare Feststellungen aus den Fakten ableiten. Ich zitiere:
Griechenland hat seine Zusicherung wiederholt, die Umsetzung aller … Reformen fortzusetzen.
Oder: Wir nehmen Risiken und Herausforderungen zur Kenntnis, die im Bericht dargelegt wurden. – Das wird Athen beeindrucken. Diese Problemverharmlosung ist völlig unangemessen. Man muss Regeln auch einmal ernst nehmen.
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Die Bundestagsentscheidung 2018 war konditioniert. Konsequenzen? Keine. Man fährt einfach fort mit der notorischen Ignorierung von Fakten, nur um die Lebenslüge EU-ropas, dass der Euro funktionieren kann, durch permanente Rettung aufrechtzuerhalten.
Darum heute unser einzig konsequenter Antrag: „Rückabwicklung von Finanzhilfen für Griechenland wegen Nichterfüllung und Nichtbeachtung der Kreditkonditionen“. Wir fordern die Bundesregierung auf, im Interesse der deutschen Steuerzahler in den einschlägigen Gremien auf Rückzahlung der 15-Milliarden-Zahlung zu bestehen
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und eine Rücknahme der gewaltigen Kreditgeschenke zu erwirken.
Wir geben dem Bundestag heute erneut Gelegenheit, endlich den Teufelskreislauf aus Lügen, Rettungskrediten
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und noch mehr Lügen zu durchbrechen.
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Wenn die Fraktionen von Links bis FDP die absurden Rettungen nicht stoppen, werden sie auch für die weiteren Haushaltsschäden verantwortlich sein.
Danke schön.
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Vielen Dank, Peter Boehringer. – Nächster Redner: Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Boehringer, eine Vorbemerkung: Ich würde mir schon mal überlegen, wie ich als Abgeordneter im Deutschen Bundestag einem Volke, das eine ganz lange Tradition hat und dessen Land Geburtsort der Demokratie ist,
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das sicher schwierige Zeiten hinter sich hat, verbal gegenübertrete.
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Ich rate Ihnen und ich rate uns auch aufgrund unserer Geschichte gelegentlich zu ein bisschen mehr Demut an dieser Stelle.
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Ich finde, ein bisschen mehr Demut könnte an dieser Stelle guttun.
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Ich sage dabei ganz ausdrücklich: Das, was in Griechenland zum Thema Reparationen betrieben wird, findet unsere und meine Zustimmung nicht.
Zweite Bemerkung. Meine Damen und Herren von der AfD, haben Sie sich eigentlich mal überlegt, was in Griechenland, in Europa und in Deutschland passieren würde, wenn Ihr Antrag eine Mehrheit bekäme? Wissen Sie eigentlich, was Sie hier beantragen?
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Haben Sie an die Menschen in Griechenland gedacht? Haben Sie an die Auswirkungen dieses Antrages gedacht? Das wären die gleichen wie im Sommer 2015, als die Menschen vor Bankautomaten gestanden haben und kein Geld bekommen haben.
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Der griechische Staat könnte keine Löhne, keine Gehälter und keine Renten mehr zahlen. Das trifft gerade die sozial Schwachen. Ihr Antrag ist verantwortungslos, und er ist menschenfeindlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sie würden dem griechischen Staat Milliardenbeträge entziehen. Die Wirtschaft würde kollabieren. Die Banken würden zusammenbrechen. Die Euro-Zone würde Riesenprobleme bekommen. Letztendlich: Ihr Antrag hat nur eins zum Ziel, nämlich vor den Europawahlen am 26. Mai Unruhe zu stiften und Unsicherheit zu schüren. Sie, Herr Boehringer, waren – entschuldigen Sie – mit Ihrer Rede nicht nah an der Wahrheit.
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Sie haben ein scharfes Auge auf Griechenland geworfen. Wenn Sie es mit der Politik ehrlich meinen würden,
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dann sollten Sie auch Ihre Freunde in Italien ins Visier nehmen, die ganz bewusst und massiv die Stabilitätskriterien der Europäischen Union missachten und die dagegen verstoßen.
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Dann wäre Ihre Politik vielleicht noch ansatzweise glaubwürdig. Aber Ihre Freunde vom rechten Rand lassen Sie da völlig außen vor.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Ihrem Antrag – –
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Moment! Ich finde ja richtig, dass es lebendig zugeht; aber Sie haben heute Morgen wirklich eine Lautstärke, die anstrengend ist. Deswegen: Einfach heftig und kräftig und streitbar miteinander umgehen, aber bitte geben Sie uns dabei auch die Möglichkeit, den Rednerinnen und Rednern zuhören zu können.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Ihr Antrag hat den falschen Adressaten. Nicht die Bundesregierung ist Letztentscheider für alle Hilfen, die gegeben werden.
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Herr Boehringer, anscheinend waren Sie am 1. August 2018 mental abwesend, als wir den Maßgabebeschluss gefasst haben.
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Da haben wir klar und deutlich unter Punkt 2 und 3 gesagt, dass wir bei der Freigabe von SMP-Gewinnen neben der Stellungnahme zukünftig entscheiden und dass der deutsche Vertreter sich vorher das Votum des Haushaltsausschusses abzuholen hat. Und wenn der Haushaltsausschuss sagt: „Das entscheiden wir nicht alleine“, dann wird das ans Plenum des Deutschen Bundestages verwiesen. Der Letztentscheider bei allen Hilfen für Griechenland ist nicht die Bundesregierung, sondern der Deutsche Bundestag. Insofern haben Sie an dieser Stelle den falschen Adressaten gewählt.
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Meine Damen und Herren, es war immer üblich, dass eine gewisse Flexibilität bei den Prior Actions und beim MoU herrschte. Obwohl Griechenland abgewichen ist, haben die Institutionen beim letzten Mal bestätigt, dass die vereinbarten makroökonomischen Ziele eingehalten werden können. Diese Politik – das passt Ihnen ja auch nicht – ist in Europa erfolgreich gewesen.
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Spanien, Portugal, Irland und Zypern sind auf einem guten Reformkurs. Sie haben in Teilen die höchsten wirtschaftlichen Zuwachsraten in ganz Europa; ich bin davon überzeugt.
Griechenland hat sich im letzten Jahrzehnt – weder unter konservativer Regierung noch unter sozialdemokratischer Regierung – wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Natürlich habe auch ich ein gewisses Misstrauen gegenüber der Tsipras-Regierung, gerade wenn ich die letzten 24 Stunden betrachte. Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Die Institutionen werden sehen, ob die Maßnahmen, die Griechenland vorgenommen hat, den Zielvorstellungen entsprechen. Wenn ich es richtig sehe, wird der vorgegebene Primärüberschuss eingehalten.
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– Kollege Fricke, ich warte den nächsten Vierteljahresbericht von ESM, EZB und Europäischer Kommission ab. Dann können wir uns im Haushaltsausschuss darüber unterhalten, ob die Worte, die ich heute sage, stimmen oder nicht stimmen. Ich möchte hier jetzt nicht, kilometerweit entfernt, einfach sagen, das sei nicht so. Da bin ich etwas zurückhaltender als Sie.
Auch ich sehe die eine oder andere Maßnahme kritisch, die Tsipras vorgenommen hat. Aber auf der anderen Seite muss man sehen: In den letzten fünf Jahren ist die Arbeitslosigkeit um fast 10 Prozentpunkte gesunken, das Wirtschaftswachstum ist bei 2 Prozent,
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und die Rückkehr an den Kapitalmarkt ist im März dieses Jahres mit zehnjährigen Anleihen zu knapp 4 Prozent durchaus gelungen.
Ich sage für die Unionsfraktion ganz klar: Wir stehen zu dem Maßgabebeschluss vom 1. August 2018. Ganz nebenbei: Der ist auf unsere Initiative hin zustande gekommen. Ich will auch sehr deutlich in Richtung Griechenland sagen: Das Prinzip „Hilfe gegen Reformen“ ist weiter die Basis für unser politisches Handeln. Wolfgang Schäuble ist für seine strikte Haltung zur Haushaltskonsolidierung unter Einhaltung von Reformen oft kritisiert worden. Ich kann jetzt und heute sagen: Ich halte die Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium, sowohl mit Olaf Scholz als Minister als auch mit Staatssekretär Kukies, der dafür verantwortlich ist, für exzellent. Ich fühle mich gut vom Haus informiert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben als Deutscher Bundestag Verantwortung gegenüber dem deutschen Steuerzahler. Wir haben aber auch Verantwortung gegenüber Europa. Ich glaube, dass sich Griechenland in den letzten Jahren auch beim Thema Mazedonien sehr verantwortungsvoll verhalten hat. Wenn ich mir diese Region, diesen Raum anschaue – nebenan die Türkei, nicht ganz einfach, der Nahe Osten, Syrien, Libyen –, dann glaube ich, dass es ganz wichtig ist, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als das größte Land in Europa, wirtschaftlich, aber auch politisch, verantwortlich sagen: Stabilität ist uns wichtig. – Deswegen: Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, würde das genaue Gegenteil bewirken. Er ist unsolidarisch, er ist menschenfeindlich, und er ist verantwortungslos. Ich wiederhole 14 Tage vor der Europawahl das, was ich zu Beginn gesagt habe: Wir wollen ein starkes, ein solidarisches, ein handlungsfähiges Europa. Ihr Antrag würde das genaue Gegenteil bewirken.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Eckhardt Rehberg. – Nächster Redner in der Debatte: Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
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Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Damen und Herren! Man muss vielleicht erst mal unterscheiden zwischen der Frage „Was sind die Fakten?“ und der Frage „Was ist die Konsequenz daraus?“. Fakt ist, dass wir darüber diskutieren, wie wir als Europäer am Vorabend einer europäischen Wahl mit einem Familienmitglied Europas umgehen, das in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, Verträge nicht eingehalten hat und auch an vielen Stellen nicht bereit war, auf den Pfad der Tugend einzugehen.
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Das ist, glaube ich, auch unbestritten; denn sonst hätte es all diese Maßnahmen ja nicht gegeben.
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Ich glaube, auch Sie von der linken Seite des Parlamentes kommen nicht umhin, zuzugeben, dass Griechenland durch falsche Versprechen gegenüber seinen eigenen Bürgern Probleme erzeugt hat, die die Ärmsten der Armen, die die Schwachen in diesem Land am meisten geschwächt haben, während die Stärkeren Fluchtwege geduldet gehen konnten. Damit wurde im Endeffekt das, was unseren sozialen Staat, unsere soziale Marktwirtschaft, unser soziales Europa ausmacht, in großem Maße ad absurdum geführt.
Dann haben wir geholfen und Verträge geschlossen. Ich glaube, was wir in diesem Hause immer wieder verkennen, ist, dass in einer Demokratie ein alter Grundsatz gilt: Die Legislative beschließt Gesetze, die Exekutive – das gilt national wie international, kommunal genauso wie auf Länderebene – setzt diese Gesetze um, und wenn sich jemand nicht an die Gesetze hält, gibt es die Rechtsprechung, die erkennt, dass Fehler gemacht wurden und etwas nicht umgesetzt wurde – Rechtsfolgen. Dann kommt der letzte Punkt, mit dem wir alle Schwierigkeiten haben: Verletzungen von Rechtsfolgen werden auch vollzogen. Es gibt eine Vollstreckung. – Das funktioniert doch aber nur, wenn der Bürger am Ende das Vertrauen hat, dass die Regeln auch eingehalten werden. Der Bürger vertraut darauf, dass der Gesetzgeber das, was er national und international beschließt, auch einhält. Wir müssen beim Thema Griechenland darauf achten, dass das Vertrauen in Europa nicht geschwächt wird. Diese Gefahr besteht nämlich.
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Insofern mache ich es ganz kurz, was die Analyse der Fakten angeht: Angesichts dessen, was Griechenland gemacht hat, würde selbst der Kollege Kindler nicht im Traum behaupten,
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die Griechen hätten es nicht so gemacht, wie Sie es beschreiben.
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Aber es geht doch in der Politik nicht um die Beschreibung. Obwohl weiterhin nicht privatisiert wird, obwohl weiterhin keine einheitliche Mehrwertsteuer in Griechenland existiert – das können auch Sie nicht bestreiten –,
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sind Sie, Herr Kollege Kindler, immer noch der Meinung: Das ist nicht so schlimm. Wir machen mal eine gesetzliche Sondersteuerzone. Wir haben den Bürgern und dem europäischen Gesetzgeber zwar etwas anderes versprochen, aber wir machen so weiter. – Nein, man muss das auch benennen und sagen, dass das falsch ist.
Aber dann kommt die Frage – das ist ja Ihr Lieblingswort – der Alternative. Welche Reaktion ist denn dann die richtige? Hier muss man einfach sagen – mal wieder –: Das, was Sie vom rechten Rand vorlegen, es ist keine Alternative.
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Punkt eins. Sie reden erstens davon, dass das Ganze rückgängig gemacht werden müsse und der ESM das Geld dem deutschen Staatshaushalt zurückzahlen müsse. Vielleicht einfach mal ein kleiner Fortbildungshinweis.
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– Doch, Herr Kollege Schneider. In einer Demokratie muss man allen helfen. Das ist Bestandteil einer solidarischen Gemeinschaft. – Wollen Sie wirklich ernsthaft, dass der ESM den deutschen Haushalt subventioniert, dass Europa den deutschen Haushalt subventioniert?
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– Nein, Herr Kollege Boehringer, Sie und Ihre Fraktion haben es immer noch nicht verstanden. Der ESM hat Geld, das er am Markt aufgenommen hat. Ich will für den deutschen Haushalt kein Geld des ESM haben, das dieser dann bei uns einbezahlt. Das ist ein Verständnis von Europa, wo ich mich frage: Wollen Sie wirklich ein Europa, in dem der ESM Gelder an die staatlichen Haushalte zahlt? Nein, er soll, wenn überhaupt, das machen, wofür er zuständig ist. Wenn die Schulden nicht mehr notwendig sind, wird das Geld an den ESM zurückgeführt, und es bleibt bei unseren Garantien. – Also: Falsch!
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Punkt zwei.
Nein, kein Punkt zwei. Sie sind, mit Verlaub, am Ende der Redezeit.
Frau Präsidentin, selbstverständlich. – Punkt zwei, zum Schluss. Was mich am meisten bei Ihnen ärgert, ist, dass Sie von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage reden und im Endeffekt nur eines meinen: Strafen, weg, schwarz und weiß.
({0})
Europa ist bunt, Europa ist verhältnismäßig, und Europa ist nicht so eng wie Sie in Ihrem Antrag.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Otto Fricke. – Nächste Rednerin: Sonja – jetzt hoffe ich, ich spreche es richtig aus – Amalie – wunderbarer Name – Steffen für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank für die freundliche Begrüßung, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Als ich vorhin einen Blick auf die Rednerliste geworfen habe, habe ich sehr traurig feststellen müssen, dass ich die einzige Frau bin, die heute zu diesem Thema redet.
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Das ist für mich ein Anlass, noch einmal dafür zu werben, dass wir dringend ein Parité-Gesetz brauchen.
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Aber nun zum Antrag. Es liegt uns wieder einmal ein Antrag vor, mit dem die AfD, unsere Rechtsaußenfraktion im Deutschen Bundestag, die Europäische Union spalten will. Aber ich freue mich, dass Sie sich immerhin meine Kritik zu Herzen genommen haben und nicht wieder, wie letzte Sitzungswoche zu Target2, einen alten Antrag aus der Mottenkiste holen, sondern sich etwas Neues einfallen lassen. Aber das heißt leider nicht, dass es damit besser wird – im Gegenteil.
Worum geht es? Das haben wir schon gehört: Sie fordern mit Ihrem Antrag die Rückabwicklung der Finanzhilfen für Griechenland. Sie fordern also, dass Griechenland 15 Milliarden Euro an den ESM zurückzahlt, also die 15 Milliarden Euro, die im August 2018 überwiesen wurden. Warum fordern Sie das? Weil Sie unterstellen, dass die Griechen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Übrigens: Herr Kollege Fricke hat das auch gemacht. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Sichtweisen sein können. Ich möchte in meiner Rede mit den Vorurteilen, die Sie in dem Antrag zur Geltung bringen, mit Ihrer Arroganz, mit Ihrer Überheblichkeit und vor allem mit den falschen Begründungen, die Sie hier liefern, einmal aufräumen.
({2})
Sie reden in Ihrem Antrag vom Fehlschlag diverser Rettungspakete. Was für ein marktschreierischer Unsinn! Denn die Wirklichkeit sieht völlig anders aus. Herr Boehringer – wo ist er? da ist er noch –, ich und auch Herr Kindler kommen gerade aus dem Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union. Dort hatten wir ein Gespräch mit Herrn Regling. Sie haben schon darauf hingewiesen. Herr Regling ist der Geschäftsführer des ESM
({3})
und immerhin der Vorstandsvorsitzende der EFSF.
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Ich frage mich, ob Sie über ein gutes Gehör verfügen oder ob Sie vielleicht Ihren Zwillingsbruder geschickt haben. Vielleicht lag es aber auch an einer mentalen Abwesenheit. Herr Regling hat uns gerade bestätigt, dass Irland, Spanien, Zypern und Portugal sich als wahre Erfolgsmodelle nach der Hilfe durch die EU erwiesen haben.
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Auch Griechenland hat nach den Worten von Herrn Regling große Fortschritte gemacht. Es werden momentan in Griechenland so viele Jobs geschaffen wie seit 20 Jahren nicht. Meine Herren und Dame von der AfD, auch Sie sollten doch verstehen, wie wichtig das in Bezug auf die dortige Arbeitslosigkeit ist. Auch hier gibt es neue Zahlen von Herrn Regling.
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Mein Kollege aus der Union, Eckhardt Rehberg, hat sie gerade wiederholt. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist um 10 Prozentpunkte seit der Krise gesunken.
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Das ist ein gutes Zeichen.
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Die Wachstumsprognosen für Griechenland hat die EU-Kommission auf 2,2 Prozent für dieses Jahr festgelegt. Griechische Exporteure gewinnen weltweit Marktanteile.
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Der Primärüberschuss im Haushalt der Griechen beträgt schon zum dritten Mal in Folge 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Davon schreiben Sie nichts in Ihrem Antrag. Stattdessen schreiben Sie, dass Griechenland in den Jahren 2019 bis 2022 das dazu vereinbarte Globalziel von jährlich mindestens 3,5 Prozent des BIP nicht einhalten wird. Da frage ich mich: Woher nehmen Sie diese Zahl? Haben Sie eine Glaskugel in Ihrer Fraktion, wo draufsteht: „AfD, ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“? Ich weiß es nicht, jedenfalls haben Sie nicht in die Nachprogrammüberprüfung geschaut, auf die Sie sich in Ihrem Antrag ja beziehen. Vielen Dank an Bettina Hagedorn! Sie hat uns diese Nachprogrammüberprüfung zukommen lassen. Sie könnten das schon auf Seite 4 lesen. Dort steht: In Bezug auf den Staatshaushalt dürfte Griechenland zum dritten Mal in Folge das Primärüberschussziel von 3,5 Prozent des BIP im Jahr 2018 übertroffen haben. – Davon schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts.
Frau Steffen, erlauben Sie – –
Ich habe schon gesehen, dass sich Herr Fricke gemeldet hat.
Er kann sich schon melden, aber Sie müssen sagen, ob Sie eine Frage zulassen.
Ja.
Gut.
Frau Kollegin Steffen, weil Sie auf die 3,5 Prozent Primärüberschuss, also unter Nichtberücksichtigung der Zinsen, für Griechenland, hingewiesen haben und wir beide wahrscheinlich der Meinung sind, dass das das Ziel ist, was für uns immer die Orientierung war, nämlich zu helfen, freizugeben: Kann ich davon ausgehen, dass in dem Moment, wo Griechenland erklären würde, es fühle sich an die 3,5 Prozent nicht mehr gebunden, sondern mache nur noch 3,0 Prozent, 2,5 Prozent, 2,0 Prozent, auch die Sozialdemokratie sagen wird: „Das ist das Ende von dem, was an Zusagen möglich ist“? Oder sagen Sie: Das ist uns egal? Es wird in den nächsten Wochen – es gibt in Griechenland Wahlen – sicherlich Versuche geben. Und dann muss nach unserer Meinung jedenfalls – ich glaube, da sind wir uns einig – gehandelt werden. Die konkrete Frage: Wenn Griechenland selbst erklärt: „3,5 Prozent interessiert uns nicht mehr“, ist das dann der Punkt, an dem Sie sagen: „Jetzt geht es nicht mehr“?
Diese Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ich weiß, dass es entsprechende Überlegungen gibt, auch von Griechenland, im Hinblick auf das derzeitige Wachstum. Insofern meine ich, wird man darüber reden müssen. Aber es wäre, glaube ich, anmaßend von mir,
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mich hierhinzustellen und zu sagen: Meine Fraktion wird dem auf jeden Fall zustimmen.
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Meine Herren und Dame von der AfD, die positive Entwicklung Griechenlands passt schlicht nicht in Ihr Bild und widerspricht Ihrer Absicht, die EU und den Euro zu zerstören. Sie wollen mit Ihrem Antrag das Zerrbild vom faulen Griechen, der nicht liefert, krampfhaft aufrechterhalten. Aber wir wissen: Die Griechen waren nie per se faul. Das Land ist nie gescheitert. Natürlich haben die Griechen in den vergangenen Jahren viele Dinge reformiert. Sonst hätten sie manche Kredittranche aus der EU gar nicht erhalten.
Wissen Sie was? Zum Glück ist die Zeit der Daumenschrauben vorbei, die Zeit, in der Reformen mit heillosem Kürzen von Renten und Geldern für Krankenhäuser verwechselt wurden. Und – auch das hat übrigens Herr Regling vorhin bestätigt –: In dieser Zeit sind auch seitens der EU Fehler in Bezug auf Griechenland gemacht worden.
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Wenn Griechenlands Wirtschaft aktuell wieder wächst, dann liegt das auch daran, dass das Land inzwischen wieder politische Freiräume hat und die Regierung in Athen seither gerade nicht mehr so heillos kürzt. Übrigens, was Herr Tsipras jetzt an Wahlversprechen gibt: Ich glaube, jeder hier im Bundestag weiß, dass vor der Wahl nie nach der Wahl ist.
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Wir sollten einfach mal abwarten, wie sich das entwickelt.
Ich möchte noch etwas zu Zinsgewinnen sagen. Vielleicht schaffe ich es noch in meiner Redezeit. Sie haben gefordert, dass die Zinsvergünstigungen zurückgenommen werden. Was Sie aber nicht erwähnt haben, ist, dass die Zinsgewinne der EU-Staaten, die wir auch bei den griechischen Anleihenankäufen haben, auch in Deutschland, zurückgezahlt werden – in Abhängigkeit von der Erfüllung der vereinbarten Reformmaßnahmen. Wir haben eine Tranche ausgezahlt. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses werden sich erinnern: 644 Millionen Euro. Die restlichen sieben Tranchen in Höhe von 644 Millionen Euro werden davon abhängig gemacht, ob alle Reformziele erreicht wurden.
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Übrigens, nach dem Bericht, der uns zugeleitet wurde, sind lediglich 4 von 16 vereinbarten Reformmaßnahmen bislang nicht ergriffen worden.
Insofern hat Ihr Antrag noch ein Gutes: Wir können darüber reden, dass Griechenland, aber auch Spanien, Portugal, Zypern und Irland sich gut entwickelt haben. Auch für Griechenland besteht Optimismus, dass es in eine gute Richtung geht. Aber das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, würde zu einem Scheitern der EU und zu einer kollektiven Rezession führen. Ich behaupte mal: Das wissen Sie auch. Es geht Ihnen nur darum, auf billigste Art und Weise und mit wissentlichen Fehlinformationen Angst und Zwiespalt zu verbreiten. Es geht Ihnen nur darum, Stimmen zu fangen, und dabei ist Ihnen wirklich jedes Mittel recht.
Redezeit, bitte.
Beschämend und dumm. Gut, dass unsere Wählerinnen und Wähler nicht auf Ihre billigen Tricks hereinfallen werden!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Steffen. – Nächster Redner: Michael Leutert für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Boehringer, von Ihren fundierten Geschichtskenntnissen bin ich schwer beeindruckt. Ich möchte dazu gerne etwas beisteuern.
Diese Woche hat Europa zum 74. Mal den Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus gefeiert. Vor 74 Jahren, 1945, lag Europa in Schutt und Asche, Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren. Trotz der Schuld, die Deutschland damit auf sich geladen hatte, war sich die europäische Gemeinschaft einig, dass Deutschland auch eine wirtschaftliche Perspektive braucht. Deshalb wurde 1953 in London das Londoner Schuldenabkommen beschlossen. Auch Griechenland hat es mit unterzeichnet. Bei diesem Abkommen sind uns die europäischen Staaten weit, weit entgegengekommen: das ganze Programm, bis hin zum Schuldenerlass, bis zu 50 Prozent.
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Dort wurde nur über die finanziellen Schulden verhandelt, nicht über Reparationszahlungen. Folgerichtig kann man in einem Beitrag der Konrad-Adenauer-Stiftung lesen, wie die Bundesrepublik kreditwürdig wurde. Bis heute gilt das Abkommen als Beispiel für einen fairen Umgang mit einem hochverschuldeten Staat.
({1})
Sie dagegen schreiben in Ihrem Antrag – mit Ihren Geschichtskenntnissen – unter Punkt 8:
Kein Schuldnerstaat wurde in der Geschichte so großzügig behandelt wie Griechenland.
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Das ist absurd. Was Sie hier machen – das hat der Kollege Rehberg schon angesprochen –, ist nichts anderes, als Stimmung zu machen, als Neid, Hass und Missgunst zwischen Menschen und Nationen zu säen. Ich sage Ihnen: Die Menschen merken das; sie wollen das nicht mehr. Und deshalb werden Sie irgendwann aus diesem Parlament verschwinden und dann nicht mehr als ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte sein.
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Ich sage Ihnen: Griechenland hat sieben Sparpakete beschlossen und umgesetzt. In diesen Sparpaketen waren Maßnahmen enthalten, von denen ich nicht möchte, dass sie hier in Deutschland umgesetzt werden müssten: Massenentlassungen, Lohnkürzungen, Rentenkürzungen, Sozialtransfers wurden eingestellt. All das wurde durchgesetzt. Jetzt hat Griechenland seit einiger Zeit Primärüberschüsse. Griechenland macht nichts anderes, als die Primärüberschüsse dafür einzusetzen, die Wirtschaft anzukurbeln und damit die Schuldenquote zu senken. Das müsste hier eigentlich auf großen Beifall stoßen.
Ich erinnere mich: Damals im Jahr 2009 hat die schwarz-gelbe Koalition das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschlossen, in der Öffentlichkeit auch bekannt als „Mövenpick-Gesetz“. In diesem Gesetz ging es im Kern um nichts anderes als um Steuersenkungen, unter anderem für das Hotel- und Gastgewerbe.
({4})
Genau das macht Griechenland jetzt auch. Es müsste hier auf große Zustimmung stoßen.
Es ist hier schon angesprochen worden, und dafür möchte ich werben: Bevor man mit erhobenem Zeigefinger andere belehren will, sollte man sich immer an die eigene Nase fassen und in die Geschichte des eigenen Landes schauen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Michael Leutert. – Nächster Redner in der Debatte: Sven-Christian Kindler für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute reden wir über Griechenland. Wenn wir über Griechenland reden, dann reden wir auch über Europa. Um es am Anfang klar zu sagen: Die Rede von Herrn Boehringer hat noch mal gezeigt, dass Sie nichts von Europa verstanden haben.
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Die AfD hat den Grexit, den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone unterstützt. Sie sind für den Brexit, den EU-Austritt Großbritanniens, und Sie fordern sogar den Dexit, den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union. Sie haben nicht verstanden, dass gerade Deutschland massiv von der Europäischen Union profitiert. Sie haben auch nicht verstanden, dass die Stärke unserer Europäischen Union der Zusammenhalt, die Freundschaft, die Solidarität der Menschen in Europa ist.
({1})
Am Mittwoch dieser Woche haben wir den 8. Mai gefeiert, den Tag der Befreiung, und gestern war der 9. Mai, der Europatag. Wir müssen uns dieser Tage, auch in dieser Debatte, daran erinnern, dass die Europäische Union auf den Trümmern und Leichenbergen gegründet wurde, die Nazideutschland über ganz Europa gebracht hat.
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Von meinen vielen Reisen, die ich nach Griechenland gemacht habe, weiß ich, dass der Naziterror für viele Menschen in Griechenland eine immer noch sehr schmerzhafte Erinnerung ist. Auch das müssen wir heute beachten, wenn wir über Griechenland reden. Deswegen finde ich es wirklich geschichtsvergessen und beschämend, wie Herr Boehringer in seiner Rede über Griechenland gesprochen hat.
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Europa, das ist das Projekt für den Frieden und gegen Nationalismus. Wir erleben heute, wie Nationalisten versuchen, Europa zu spalten und Menschen gegeneinander auszuspielen. Genau das will der Antrag der AfD. Die AfD will sich auf dem Rücken der Menschen in Griechenland billig vor den Europawahlen profilieren. Ich finde das schäbig. Das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
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Es wurde schon angeführt: Die AfD will hier einmal geschlossene Vereinbarungen mit Griechenland einseitig von deutscher Seite aufkündigen. Ich sage Ihnen: Das haben aber 19 demokratisch gewählte Regierungen in der Euro-Gruppe, in Europa, gemeinsam beschlossen. Das haben wir auch hier im Deutschen Bundestag beschlossen; wir haben mit großer Mehrheit zugestimmt.
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Es war völlig klar: Wenn sich Griechenland zu sehr großen Teilen an die extrem harten Vereinbarungen hält, gibt es im Gegenzug dann auch Schuldenerleichterungen. Das war innerhalb der Euro-Gruppe lange versprochen. Wir sagen klar: Verträge sind einzuhalten; man muss sich an Verträge halten.
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Für die Prüfung, ob die Verträge eingehalten worden sind, gibt es ein demokratisch legitimiertes Verfahren.
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Das haben die 19 Regierungen in Europa beschlossen, und das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Darüber entscheidet nicht die rechtsradikale AfD hier im Deutschen Bundestag – um das auch klar zu sagen.
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Herr Kindler, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Kommentierung aus der AfD-Fraktion?
Nein, danke. Die AfD hatte heute genug Zeit, hier zu reden.
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Man muss wissen, dass die Menschen von den Kreditzahlungen, die nach Griechenland gegangen sind, fast gar nichts gehabt haben. Der Großteil ging in den Bankensektor. Gerade viele deutsche und französische Banken haben davon profitiert. Das gehört zur Wahrheit dazu und muss hier in der Debatte gesagt werden.
Wir wissen: In Griechenland wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele Fehler gemacht – das ist klar –, und es sind noch viele Strukturreformen weiterzuführen: im Justizsystem, bei den Steuern, in der öffentlichen Verwaltung. Aber man muss auch klar sagen, dass natürlich auch im Rahmen der Troika-Programme viele Fehler gemacht wurden. Die Jugendarbeitslosigkeit ist zum Beispiel immer noch ein extrem großes Problem in Griechenland. Ich habe in Griechenland mit vielen jungen Menschen geredet, die arbeitslos sind, für die es extrem bitter ist, die keine Perspektive haben.
Die Maßnahmen waren für die Menschen in Griechenland extrem hart. Die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel wurde in Griechenland zum Beispiel fast verdoppelt. Es gab eine 30-prozentige Kürzung des Haushalts. Selbst der IWF sagt ja heute, dass der harte Sparkurs, der in Griechenland durchgesetzt wurde, die Krise verlängert und verschärft hat und so nicht wieder verfolgt werden sollte. Man muss klar sagen: Beim Troika-Programm für Griechenland wurden viele Fehler gemacht. Wir brauchen für die Zukunft einen anderen Kurs, der mehr auf Investitionen und soziale Gerechtigkeit setzt.
({1})
Man hatte zum Beispiel angenommen, dass es zu hohen Privatisierungserlösen kommt; Einnahmen von 50 Milliarden Euro wollte man darüber erzielen. Am Ende hat man gerade mal 10 Prozent davon, 5 Milliarden Euro, eingenommen. An der Stelle möchte ich auf einen Punkt eingehen: Kann man eigentlich von einer Privatisierung reden, wenn der staatliche Hafen von Athen, Piräus, an ein chinesisches Staatsunternehmen verkauft wird? Ist das wirklich eine Privatisierung? Man muss sich auch mal fragen: War das vor dem Hintergrund, wie wir heute mit China umgehen, aus geopolitischer Sicht wirklich eine kluge Maßnahme, die man da ergriffen hat, oder war es am Ende eher ein Eigentor für Europa?
({2})
Europa steht in diesen Zeiten am Scheideweg. Nicht nur Rechtsradikale gefährden unser Europa.
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Es liegt auch eine Gefahr darin, dass diese Bundesregierung im Kern eigentlich nicht handelt und einfach nur den Status quo verwaltet. Ich frage mich: Wo ist eigentlich die Antwort der Bundesregierung, die Antwort der CDU auf Emmanuel Macron? All seine Vorschläge wurden von Annegret Kramp-Karrenbauer abgewiesen. Man hat irgendwie gesagt: Ein soziales Europa, das wollen wir nicht. – Die einzige Vision, die die CDU für Europa hat, ist ein gemeinsamer Flugzeugträger für Europa. Aber ich sage Ihnen: Ein Rüstungsprojekt als einzige Vision für unser Europa, das kann wirklich nicht wahr sein.
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Ich frage mich auch: Wo ist eigentlich die SPD?
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– Da ist die SPD. Herzlich willkommen hier! – Aber ich frage mich: Wo ist die SPD beim Thema Europa, wo ist Bundesfinanzminister Olaf Scholz beim Thema Europa?
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Das Euro-Zonenbudget zum Beispiel wurde vom Bundesfinanzminister maximal kleingehäckselt. Während andere Genossen in der SPD über Alternativen zum Kapitalismus reden,
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verfolgt Olaf Scholz einzig das Ziel, digitale Großkonzerne vor Besteuerung zu schützen. Da frage ich mich, ehrlich gesagt, schon: Was ist eigentlich die Antwort der SPD bei der digitalen Konzernsteuer? Ich erwarte ja nicht gleich, dass Sie Kevin Kühnert folgen und Olaf Scholz dann Facebook in eine Genossenschaft umwandelt. Aber ich erwarte, ehrlich gesagt, dass sich die SPD und Olaf Scholz dafür einsetzen, dass digitale Großkonzerne wie Facebook und Amazon endlich richtig besteuert werden.
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Denken Sie an die Redezeit?
Ja. Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
Wir haben jetzt eine historische Verantwortung, dieses Europa wirklich nach vorne zu bringen, dieses Friedensprojekt zu erhalten, für die Werte Europas einzutreten. Dafür brauchen wir Mut und Tatkraft. Ich erwarte von der Bundesregierung, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sven-Christian Kindler. – Nächster Redner: Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Beendigung des Anpassungsprogrammes im Sommer 2018 wurde Griechenland wieder regulär in das Europäische Semester integriert. Im Rahmen der intensivierten Nachprogrammüberwachung wird Griechenland momentan stärker überwacht als andere Mitgliedstaaten und ehemalige Programmländer. So hat die Europäische Kommission als Teil des Winterpaketes am 27. Februar 2019 den zweiten Überprüfungsbericht im Rahmen der intensivierten Nachprogrammüberwachung vorgelegt, der die ökonomische Situation des Landes sowie den Umsetzungsstand der vereinbarten Reformen bewertet. Zudem wurde im Nachbericht vom 3. April festgestellt, dass Griechenland nunmehr die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung ergriffen hat, um sämtlichen Reformzusagen nachzukommen.
Mittlerweile lässt es sich auch an den Zahlen ablesen, dass die Maßnahmen erfolgreich und folglich auch richtig gewesen sind. In 2019 und 2020 erwartet die Kommission ein reales Wachstum des BIPs von 2,3 Prozent. Im November war ein Rückgang der Arbeitslosigkeit, insbesondere, lieber Sven Kindler, auch bei den Jugendlichen, festzustellen. Bezüglich der Schuldentragfähigkeitsanalyse gab es lediglich technische Anpassungen in Form von aktualisierten Vorhersagen, die zu keinen nennenswerten Veränderungen führen.
Eine der wichtigsten Handlungen war es, die Rückkehr Griechenlands an den Kapitalmarkt sicherzustellen. Dies war eines der wichtigsten Ziele überhaupt. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass Griechenland schrittweise wieder an den Markt zurückgekehrt ist. Bereits während des Programms, im Juli 2017, war es Griechenland erstmals seit 2014 wieder möglich, eine Anleihe am Markt zu platzieren. Und im Januar 2019 hat Griechenland die erste Anleihe nach Ende des Programms begeben.
Meine Damen und Herren, dies ist das Ergebnis der langjährigen Reformen gemeinsam mit den europäischen und internationalen Partnern. Es muss jetzt darum gehen, gewonnenes Vertrauen zu verstetigen und Reformen weiter zu stärken. Eine nachhaltige Fortsetzung der Reformagenda und die Glaubwürdigkeit sind entscheidend, um dauerhaft Vertrauen auf den Märkten zu erhalten.
Die Krise hat uns klar vor Augen geführt, wie eng wir in der Europäischen Union und in der Euro-Zone tatsächlich miteinander verflochten sind. Die Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten können uns alle sehr direkt betreffen.
Liebe Kollegen von der AfD, ganz kurz zu Ihrem Antrag. Sie fordern unter anderem
eine Rückzahlung der letzten Tranche an den ESM und
– jetzt kommt’s; das steht wortwörtlich im Antrag –
danach von diesem an den deutschen Staatshaushalt …
Das ist schlichtweg falsch. Wenn kein Geld vom deutschen Staatshaushalt geflossen ist, kann ich an den deutschen Staatshaushalt auch nichts zurückführen. Wir geben nur Bürgschaften, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich bitte Sie deshalb, dies das nächste Mal in Ihren Anträgen zu berücksichtigen und solche handwerklichen Fehler zu verbessern.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich von gewonnenem Vertrauen und zu verstetigenden Reformen spreche, dann betrachte ich das Agieren vom griechischen Ministerpräsidenten Tsipras momentan sehr kritisch.
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Denn um dauerhaft Vertrauen auf den Märkten zu erhalten und zu sichern, aber auch dauerhaft Vertrauen bei den Partnern in der Europäischen Union, brauchen wir – und das fordern wir – Kontinuität und Disziplin. Daher stellt sich mir persönlich schon die Frage, welchen Weg Griechenland für die Zukunft plant. Für mich ist klar – ich denke, für uns alle –, dass der griechische Ministerpräsident den Bürgern seines Landes verpflichtet ist, aber es muss uns auch klar sein, dass wir den deutschen und den europäischen Steuerzahlern verpflichtet sind. Daher empfehle ich ausdrücklich, den schwierigen Weg der zurückliegenden Jahre beizubehalten. Man kann kein Land zu seinem Glück zwingen, aber man kann versuchen, ihm Chancen zu eröffnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch kurz – ich habe nunmehr noch wenig Redezeit – das eine oder andere jenseits der finanziellen Zusagen erwähnen. Ich hatte 2012 – das war vor meiner Zeit im Deutschen Bundestag – die Gelegenheit, mit dem damaligen Griechenlandbeauftragten Fuchtel nach Griechenland zu reisen. Ich konnte miterleben, wie wir den Menschen dort ohne große finanzielle Mittel helfen können – dabei geht es nicht um eine andere Staatsform –, ein Stück weit besser zu werden. Ich bedanke mich bei Herrn Fuchtel für diese seine Arbeit – ich konnte sie ja damals selbst miterleben – und wünsche Norbert Barthle, dem neuen Griechenlandbeauftragten, für seine Aufgabe alles erdenklich Gute und viel Glück. Denn auch auf diesem Wege können wir den Menschen in Griechenland viel Gutes tun.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Alois Rainer. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Karsten Klein.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um den Antrag der AfD auf Rückabwicklung von Finanzhilfen für Griechenland richtig einordnen zu können, lohnt sich, auch wenn es wehtut, ein Blick in das AfD-Europawahlprogramm. Dort beschreiben Sie nämlich zuerst breit die Probleme der EU, um dann den Austritt Deutschlands aus der EU zu fordern
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und vermeintliche Forderungen aufzuführen.
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Allein die Reihenfolge in Ihrem Programm spricht schon für sich.
Wir Freie Demokraten wollen, dass die EU besser wird und dass Frieden, Freiheit und Wohlstand, also unsere gemeinsamen Werte, erhalten werden.
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Dazu gehört, dass wir das EU-Parlament stärken wollen. Sie hingegen wollen die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in der EU abschaffen, indem Sie auch die EU und ihre Werte abschaffen wollen. Dieses plastische Beispiel, das für jeden eingängig ist, zeigt sehr schön, wie es bei Ihnen um das Thema Griechenland bestellt ist.
Wir Freie Demokraten wollen mehr Finanzstabilität in der EU, mehr Finanzstabilität im Euro-Raum. Wir wollen, dass Europa aus seinen Fehlern in der Vergangenheit lernt, dass Europa besser wird.
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Für Sie ist der vorliegende Antrag zum Thema Griechenland aber nur ein Mosaikstein in einem Bild, das den Untergang Europas zeichnet. Im Übrigen wäre Ihr Antrag zumindest ein bisschen glaubwürdiger, wenn Sie in Ihrem rechtspopulistischen Bündnis in Europa mit den Kolleginnen und Kollegen von der Lega Nord sprechend würden, die sich haushaltspolitisch nicht besonders ordentlich zeigen. Da steht keine dieser Forderungen, die Sie im vorliegenden Antrag formulieren, auf der Tagesordnung. Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind.
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Wir Freie Demokraten wollen ein starkes Europa, und ein starkes Europa steht auf stabilen Staatsfinanzen. Ich fand die heutige Debatte auch eindrücklich und heilsam mit Blick auf die Europawahl; denn leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD, Grünen und Linken, haben auch Sie heute noch einmal deutlich gemacht, dass es Ihnen in erster Linie nicht darum geht, dass Europa auf stabilen Staatsfinanzen steht. Für Sie ist das zweitrangig.
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Aber gerade Sie müssten doch wissen, dass zuerst immer die Schwächsten darunter leiden, wenn ein Land nicht auf soliden Staatsfinanzen steht. Deshalb fordere ich Sie auf, in Zukunft mehr zur Stabilität des Euro, mehr zur Stabilität unserer Hilfspakete beizutragen und hierzu klare Aussagen zu treffen.
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Wenn Sie, Herr Kollege Kindler, hier davon sprechen, dass die Verträge größtenteils eingehalten werden sollen, oder Frau Steffen nicht in der Lage ist, eine klare Aussage dazu zu treffen, was der Haushaltsausschuss, Herr Kollege Rehberg, beschlossen hat, nämlich dass die Auszahlung nur stattfindet, wenn die Bedingungen erfüllt sind, dann ist das einfach nur bedauerlich. Das hilft dem europäischen Stabilitätsgedanken im Bereich der Finanzen nicht weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Karsten Klein. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Christian Petry.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist im Laufe der Debatte schon ein paar Mal gesagt worden, dass man nicht viele Worte auf den Antrag selbst zu verwenden braucht. Herr Rehberg, Sie haben ihn komplett auseinandergepflückt: Der Adressat stimmt nicht, die Inhalte sind falsch. – Trotzdem bietet uns der vorliegende Antrag die Gelegenheit, diese Debatte zu führen, und die sollten wir auch nutzen.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus, mit 700 Milliarden Euro ausgestattet, soll nach unserer Vorstellung zu einem europäischen Währungsfonds ausgebaut werden. Herr Kindler, wahrscheinlich haben Sie die Vereinbarung von Meseberg nicht gelesen, oder Sie haben in Ihrer Rede etwas ausgeblendet, als Sie sagten, es sei nichts getan worden. Es sind jedoch Antworten gefunden worden. Es gibt hier ein entsprechendes Instrumentarium. An diesem Punkt will die AfD einschreiten und Geld zurück haben.
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Das Volumen des Rettungsschirms für Griechenland ist mit 330 Milliarden Euro enorm groß. Die Verschuldung beträgt 180 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Da muss man natürlich dazusagen, da man den Anteil am Bruttoinlandsprodukt immer in Prozent rechnet: Es ist stark gesunken. Das relativiert das Ganze, und von daher sind die Zahlen immer schwierig. Aber klar ist: Die Verschuldung ist deutlich zu hoch.
Die Rückzahlungen, die Sie einfordern, sind vereinbart: die an den IWF und an die EZB bis 2025 – Griechenland liegt im Plan –, die an die EU-Staaten bis 2040, die an die EFSF bis 2050 und die an den ESM bis 2053. Nun sagen Sie, das sei alles zu langfristig. Wir haben eben schon gehört, dass im Londoner Schuldenabkommen Deutschlands Rückzahlungsverpflichtungen gestreckt wurden, nämlich über 41 Jahre bis 1994. Das ist also nichts Ungewöhnliches. Ihre rechten Kumpels von der FPÖ haben zugestimmt, in Österreich Anleihen mit 50-jähriger Laufzeit auf den Markt zu bringen. Fragen Sie einmal nach, warum sie das machen. Bleiben wir in Deutschland: In meinem Bundesland, im Saarland, haben wir zur Entschuldung der Kommunen und der Kassenkredite Rückzahlungszeiträume von 45 Jahren beschlossen. Das alles ist nichts Ungewöhnliches. Das dient dazu, einem Land die Flexibilität und die Möglichkeit zu geben, die Rückzahlungsverpflichtungen aus seiner eigenen Wirtschaftskraft heraus – deswegen die Orientierung am Primärüberschuss – einhalten zu können. Es ist klar, dass wir das wünschen und hoffen, dass das eintritt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir müssen jetzt ehrlich zu uns sein. Eckhardt Rehberg und Johannes Kahrs – die beiden kennen sich damit wie andere auch besonders gut aus – wissen, dass wir hohe Schuldenstände haben und die Schuldenstände auf einem, so sage ich es einmal, hohen Niveau bleiben. Ich sehe kein signifikantes Sinken der Schuldenstände; ein bisschen schon, aber nicht signifikant. Also, es gehört schon zur Wahrheit dazu, zu sagen, dass es auch anderen Ländern, denen es vermeintlich sehr gut geht, nicht immer gelingt, ihre Schuldenstände drastisch zu senken. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Warum sollten wir, der ESM, die Europäische Gemeinschaft und andere, die südlichen Länder, insbesondere Griechenland, hier anders behandeln? Ich sehe dafür keinen Bedarf.
Die uns vorliegenden Berichte enthalten Bewertungen. Natürlich ist in Sachen Rente einiges getan worden; es gab erhebliche Rentenkürzungen. Und es ist klar, dass die Arbeitslosenquote zu hoch ist. Der Kollege Ulrich, der nach mir redet, wird das alles gleich benennen. Er wird die Austerität geißeln, er wird den Neoliberalismus geißeln,
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der zur Verarmung der Bevölkerung und zum Elend der Rentner geführt habe.
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Da ist ja auch was dran. Aber, Kollege Ulrich, Sie werden mal wieder ausblenden, dass die Ursachen nicht nur darin liegen, sondern auch in einer jahrzehntelangen eklatanten Misswirtschaft in Griechenland. Das müssen Sie dann auch dabei erwähnen, lieber Kollege Ulrich.
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Ich bin alles in allem guter Dinge.
Die AfD dagegen widerspricht sich zum Beispiel in ihrem Antrag. Auf der einen Seite spricht sie im Zusammenhang mit der Rückkehr zum Kapitalmarkt vom „glänzend-risikoarmen Finanzzustand“. Diesen risikoarmen und glänzenden Zustand wollen Sie allerdings kaputtmachen, indem Sie den Puffer, der diese Sicherheit bietet, kaputtmachen. Auf der anderen Seite kritisieren Sie den Zustand der Wirtschaft und sagen, dass die Prognosen für die Zukunft keinen Primärüberschuss hergeben. Sie widersprechen sich sogar in Ihren eigenen Anträgen.
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Selbst das zu vermeiden, kriegen Sie nicht hin. Das entlarvt Sie als Antieuropäer. Das ist ziemlich klar.
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Sie zitieren dann auch nur aus nur einem Bericht. Den zweiten Bericht, nämlich den vom April 2019, der einen ganz anderen Schluss zulässt, zitieren Sie nicht. Deswegen möchte ich das hier tun. Dieser Bericht kommt zu dem Schluss, dass die nachhaltige und kontinuierliche Umsetzung der im Programm vereinbarten Reformmaßnahmen gewährleistet ist. Auch das ist ein Widerspruch zu Ihren Aussagen. Das Weglassen der halben Wahrheit ist bei Ihnen Programm und führt zur Lüge. Insoweit entlarven Sie sich regelmäßig selbst.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir haben mit den Maßnahmen auf europäischer Ebene, insbesondere mit dem ESM, eine gute Perspektive für die schwächelnden Staaten in der Staatshaushaltskrise geschaffen, und die Erfolge sind auch zu sehen. Ich selber hätte mir auch einen stärkeren Ansatz für Wachstum und Beschäftigung in den Ländern gewünscht und weniger Fokussierung auf die Sanierung der Fiskalkreisläufe, die zweifellos notwendig ist; denn ohne einen ausreichenden Bankenmarkt, der zur Finanzierung auch kleiner und mittlerer Unternehmen bereitsteht, geht es natürlich nicht. Aber man ist, glaube ich, da ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. Doch die Anpassungen laufen.
Ich bin mir sicher, dass wir hier weitere gute Schritte gehen können. Das wünsche ich mir zumindest. Hierfür steht die demokratische Seite dieses Hauses geschlossen – das haben wir im letzten Jahr gesehen –; denn wir sind für ein freies, offenes und solidarisches Europa, im Gegensatz zum rechten Rand. In diesem Sinne werden wir weiterarbeiten.
Glück auf!
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Vielen Dank, Christian Petry. – Nächster Redner: der von Ihnen schon zitierte Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Petry, Sie müssen ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie in Ihrer Rede auf mich als jemanden, der nach Ihnen kommt, eingehen. Normalerweise geht man ja nur auf Redner ein, die vor einem sprechen.
({0})
Sie wissen, dass unsere Argumente im Zusammenhang mit der sogenannten Griechenland-Hilfe richtig sind.
Um nur einmal so viel dazu zu sagen: Wenn wir darüber reden, dass auch die griechische Politik Schuld daran hat, dann müssen wir uns anschauen, welche Parteien in der Vergangenheit Verantwortung getragen haben: Die Partnerpartei der SPD und die Partnerpartei von CDU und CSU haben Griechenland an die Wand gefahren.
({1})
Das muss man sagen, wenn man über politische Fehlentscheidungen redet.
({2})
Eine der größten Fake News der vergangenen zehn Jahren ist ja eigentlich, dass wir überhaupt über Griechenland-Hilfe reden. Für die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne und die Fernsehzuschauer sage ich: Wir haben nicht Griechenland geholfen, sondern das war eine gigantische Bankenrettung.
({3})
90 Prozent der aufgebrachten Finanzzusagen wurden insbesondere für deutsche und französische Banken aufgewandt. Die griechische Bevölkerung hatte von der sogenannten Griechenland-Hilfe so gut wie gar nichts. Das ist auch am Ergebnis zu sehen: Wenn das eine Griechenland-Hilfe gewesen wäre, dann würde es den Menschen in Griechenland ja heute nicht schlechter gehen. Es sind aber 300 000 Menschen aus Griechenland weggezogen. Wir verzeichnen eine Zunahme bei der Armut, drastische Einschnitte bei den Renten und in der Gesundheitsversorgung und Massenentlassungen.
({4})
Wir haben den Griechen die Privatisierung aufgezwungen. Sie mussten sogar ihr Tafelsilber verkaufen, zum Beispiel den Hafen von Piräus. – Das alles hatte nichts mit Griechenland-Hilfe zu tun. Das war eine Hilfe für die Zockerbanken, die sich in Griechenland verspekuliert haben. Das ist die Wahrheit.
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Den Vertretern der AfD, die sich hierhinstellen und erzählen, wir müssten jeden Tag so viel bezahlen – das ist ja der Hintergrund; Sie sagen, wir würden zahlen für Griechenland –,
({6})
sage ich: Wir haben bis zum heutigen Tag noch nichts gezahlt. Im Gegenteil: Letztes Jahr hat das Bundesfinanzministerium auf die Anfrage einer Fraktion hier geantwortet, dass man bis Mitte letzten Jahres schon 2,9 Milliarden Euro Zinsgewinne aufgrund der Finanzsituation erzielt hat.
({7})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich schäme mich, dass keine Fraktion außer der Linken hier deutlich sagt: Wir haben bisher von der sogenannten Griechenland-Hilfe profitiert.
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Der Bundeshaushalt hat im Umfang von 2,9 Milliarden Euro von der sogenannten Griechenland-Hilfe profitiert. Europäische Solidarität würde eigentlich bedeuten, dass wir dieses Geld nicht für uns nutzen, sondern an Griechenland zurückzahlen.
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Dann wird hier auch noch erzählt, dass diese Austeritätspolitik erfolgreich wäre. Herr Rehberg, die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist heute um ein Viertel geringerer als zu Beginn der Griechenland-Hilfe.
({10})
Die Austeritätspolitik, die Griechenland von der Troika auferlegt worden ist, insbesondere auch von Herrn Schäuble und von Frau Merkel, ist grandios gescheitert. Wir haben heute ein schlechteres Griechenland als zu Beginn der Griechenland-Hilfe.
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Wenn wir uns im Vorfeld der Europawahl über die Zukunft der Europäischen Union unterhalten, wenn Herr Juncker sagt – –
Herr Ulrich, Entschuldigung, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Boehringer?
Nein, mit Ausländerfeinden unterhalte ich mich nicht.
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Die können mir zuhören, aber unterhalten tue ich mich mit Ausländerfeinden nicht.
Also, wenn wir uns darüber Gedanken machen, dass Europa bei dieser Europawahl möglicherweise eine letzte Chance hat, dann müssen wir feststellen: Das, was in Griechenland und vielen anderen südeuropäischen Ländern gemacht worden ist, war eine Kriegserklärung an ein soziales Europa. Wir haben viele Menschen in Südeuropa ins Elend getrieben. In Griechenland und anderen Ländern haben wir eine riesige Jugendarbeitslosenquote. Wer Europa retten will, muss mit dieser Austeritätspolitik brechen. In Griechenland sind viele Fehler gemacht worden.
({1})
Wir als Linke haben von Anfang an gesagt: Diese Politik führt dazu, dass es Griechenland in zehn Jahren nicht besser gehen wird. – Die Beweise dafür haben wir heute auf dem Tisch.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Als letzter Redner in dieser Debatte: Carsten Körber für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Tagen wurde eine Umfrage von Infratest dimap zur Europawahl veröffentlicht. Danach sagen acht von zehn Befragten, dass sie sich sehr stark oder stark mit Europa verbunden fühlen. Das gilt grundsätzlich für die Anhänger aller Parteien, mit Ausnahme der Anhänger der AfD. Eine Mehrheit der AfD-Anhänger, nämlich 54 Prozent, fühlt sich laut dieser Umfrage weniger oder gar nicht mit Europa verbunden.
({0})
89 Prozent der AfD-Mitglieder haben sich im vergangenen Herbst für den EU-Austritt Deutschlands als letzte Option ausgesprochen. Dieser Passus steht nun, wie wir alle wissen, im Europawahlprogramm.
Diese Zahlen zeigen: Die AfD ist eine Partei, die Europa nicht im Herzen trägt.
({1})
Neben unserer Bundeskanzlerin ist die EU Feindbild Nummer eins. Überall dort, wo die blaue Europaflagge weht, wittert die AfD Abzocke, Bevormundung, Unterdrückung und den Totalitarismus Brüsseler Bürokraten.
({2})
Aber wenn man auf der anderen Seite einmal schaut, mit wem Sie sich auf internationaler Bühne ganz gerne zeigen, zum Beispiel mit Herrn Putin oder auch mit Herrn Orban,
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dann könnte man meinen, dass Sie mit Unterdrückung und auch autoritärem Gehabe im Grunde gar kein Problem haben – ganz im Gegenteil!
({4})
In zwei Wochen ist Europawahl. Deshalb haben Sie heute diesen Antrag eingebracht, der sich mit den Finanzhilfen für Griechenland beschäftigt.
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Dieser Antrag ist Mittel zum Zweck, um die eigentliche Agenda durchzusetzen, nämlich die Verächtlichmachung der Europäischen Union.
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Es geht Ihnen um die Delegitimation der Europäischen Union.
({7})
Für Sie ist die EU – so steht es in der Präambel Ihres EU-Wahlprogramms, aus der ich zitiere – „ein Widerspruch in sich“, „ein bürgerferner Kunststaat, der auf Vertrags- und Rechtsbrüche zurückgeht“, eine „Pervertierung“.
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Für uns hingegen ist die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsunion. Für uns ist die Europäische Union vor allem eine Wertegemeinschaft.
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Über Jahrhunderte ist die europäische Geschichte neben vielem Positiven eben auch durch Gewalt und Blutvergießen gekennzeichnet. Es brauchte erst die ultimative Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, um zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und dann schließlich zur Europäischen Union zu gelangen. Die europäische Einigung hat uns mehr als 70 Jahre lang Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht.
({10})
Eine so lange Periode von Frieden gab es noch nicht in Europa. Mit Blick in die Gegenwart und die Zukunft wird die EU für uns noch wichtiger.
({11})
Die Welt wird zunehmend multipolar und unübersichtlicher. Die USA fallen als verlässlicher Partner aus. Auch Russland agiert zunehmend kompromisslos und kümmert sich nicht um die internationale Ordnung. Chinas Aufstieg hingegen setzt diese Ordnung noch weiter unter Druck. Dabei propagiert China ein autoritäres Staats- und Gesellschaftsmodell, das im scharfen Gegensatz zu unseren westlichen Werten steht. Das alles zeigt: Weder Deutschland noch die anderen europäischen Staaten können international alleine bestehen. Deshalb brauchen wir alle gemeinsam die Europäische Union.
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Das heißt natürlich nicht, dass die Europäische Union perfekt ist. Das heißt auch nicht, dass nicht Fehler gemacht wurden. Das gilt ganz klar und ausdrücklich auch für die Griechenland-Rettungspolitik. Das würde auch in diesem Hause niemand ernstlich abstreiten. Und die Nachrichten, die wir jetzt aus Athen hören, bestätigen uns; das ist richtig. Aber wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben Verantwortung für Deutschland.
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Und genau aus dieser Verantwortung für Deutschland heraus stehen wir fest zur Europäischen Union.
Dazu gehört auch, dass wir die Einhaltung der Zusagen der griechischen Regierung einfordern werden; denn nur so funktioniert eine Gemeinschaft. Wir werden alles dafür tun, dass Griechenland seine gegebenen Zusagen einhält.
({14})
Wir riskieren nicht die Finanzstabilität der Euro-Zone – im Gegensatz zu Ihnen und Ihrem Antrag.
Am Ende haben wir als Haushaltsausschuss des Bundestages Vorsorge getroffen; denn ohne unsere Zustimmung – dazu dient der Maßgabebeschluss, den wir letztes Jahr gefasst haben – wird es keine Auszahlung der Zinsgewinne an Griechenland geben. Nun kann sich Herr Tsipras überlegen, was er will: Will er jetzt mit seiner lauten Wahlkampfrhetorik auf diese Gelder verzichten, oder kommt er doch zur Vernunft und geht diesen langen und schwierigen Weg, der aber letzten Endes erfolgversprechend ist, mit uns weiter?
Dem AfD-Antrag stattzugeben, würde einen massiven Rückschritt bedeuten und Europa wieder in die Krise stürzen.
({15})
Das dürfen und werden wir nicht zulassen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag entschieden ab.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Carsten Körber. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9961 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Östliche Partnerschaft: ein wichtiges Jubiläum, glaube ich, um innezuhalten und um deutlich zu machen, wie wichtig diese zehn Jahre gewesen sind, wie wichtig sie aktuell sind und wie wichtig sie auch für die nächsten zehn Jahre bleiben werden.
Vergegenwärtigen wir uns mal das Jahr 2009. Damals, im Rahmen der neugedachten EU-Nachbarschaftspolitik, war diese Partnerschaft ein entscheidender Baustein in der damaligen Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier, die mit der 2007 auf den Weg gebrachten EU-Zentralasienstrategie – das muss man erwähnen – zusammengedacht worden ist. Diese Zusammenarbeit in der Östlichen Partnerschaft mit den sechs Ländern hatte ein Ziel: Annäherung an Werte und Standards der EU, an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung, gute Regierungsführung, Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft. Und – das gilt es immer wieder zu betonen – sie ist eine Initiative, die gegen niemanden gerichtet ist, sondern die zur Zusammenarbeit auffordert und nicht im Gegensatz zu anderen Ländern steht.
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Wenn wir uns aber heute die Situation vergegenwärtigen, stellen wir fest, dass der Punkt der guten Regierungsführung sicher eine der Herausforderungen für die kommenden zehn Jahre ist. Der verstärkte Kampf gegen die Korruption ist etwas, bei dem wir mit Nachdruck Reformen umsetzen müssen. Dass dies einer der Hauptgründe für Unzufriedenheit ist, haben wir gerade im Rahmen der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gesehen.
Auf der anderen Seite sehen wir Erfolge im Bereich der Zivilgesellschaft, etwa das Programm Erasmus+ mit fast 17 000 Teilnehmern in den letzten zehn Jahren, fast 30 000 Teilnehmer im Jugendaustausch. Das ist ein Punkt, wie wir auch die nachfolgenden Generationen mit den europäischen Werten verbinden und wie sie sich annähern können. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, an dem wir dranbleiben sollten.
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Es ist auch wichtig gewesen, eine stärkere Differenzierung zu machen. Man muss bei einem Resümee nach zehn Jahren auch ehrlich sagen: Es gibt einige Länder, die vorangegangen sind. Hier muss man an erster Stelle Georgien nennen, das bei der Umsetzung der Reformen viel weiter ist als das eine oder andere Land, das auch im Bereich der Visa-Liberalisierung, die im Jahr 2017 eingeführt worden ist, eine stärkere Heranführung an die Europäische Union erlebt hat, und zwar trotz der Schwierigkeiten aufgrund Verletzung der territorialen Integrität, ähnlich wie in der Ukraine. In diesem Zusammenhang kann man die Bemühungen, Reformen voranzubringen, nicht hoch genug einschätzen. Darum freue ich mich auch ganz besonders, dass Botschafter Dr. Khokrishvili der Debatte heute hier im Deutschen Bundestag beiwohnt.
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Wir haben auch andere Länder, in denen es noch nicht so vorangegangen ist, wie man sich das gewünscht hat. Nichtsdestotrotz erkennen wir gerade auch in Belarus momentan eine Öffnung. Wir sehen, dass eine Vielzahl von Besuchsdiplomatie stattfindet. Auch hier bietet das Instrument der Östlichen Partnerschaft eine gute Möglichkeit, diesen Dialog mit Belarus weiter zu vertiefen und voranzubringen.
Was wir sicherlich für die kommenden zehn Jahre verbessern müssen und wo wir aus Fehlern lernen müssen, ist: Wir brauchen eine stärkere Sichtbarkeit der Östlichen Partnerschaft in den Ländern. Das ist sicherlich etwas, woran man arbeiten muss. Ich war im Februar dieses Jahres auf einer Konferenz anlässlich des zehnjährigen Jubiläums in Tallinn. Dies ist einer der Punkte, bei denen Verbesserungen wünschenswert sind.
Vor kurzem haben wir hier im Deutschen Bundestag mit dem CEPA-Abkommen mit Armenien etwas auf den Weg gebracht, das Ländern, die in der Eurasischen Wirtschaftsunion sind und den Weg nach Europa suchen, aufzeigt, wie eine Verbindung möglich gemacht werden kann. Ich glaube, das ist etwas, was wir unterstützen müssen.
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Was wir beachten müssen, ist – da ist die Bundesregierung durchaus weiter –: Wir dürfen bei den Projekten der Zivilgesellschaft nicht an den Grenzen der Östlichen Partnerschaft Schluss machen. Es ist richtig, dass das Auswärtige Amt in seine zivilgesellschaftlichen Projekte im Rahmen der Östlichen Partnerschaft Russland miteinbezieht und hier auch trilaterale Projekte mit der russischen Seite möglich macht. Die Vielzahl an Projekten, die nachgefragt und durch die Mittelaufstockung auf fast 18 Millionen Euro möglich gemacht werden, zeigt, dass dieser Ansatz richtig ist und dieser Ansatz auch auf europäischer Ebene vertieft werden sollte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Anton Friesen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Zehn Jahre Östliche Partnerschaft der Europäischen Union – und keiner merkt es. Selbst in Gesprächsrunden von EU-Experten zum Beispiel kürzlich bei der Veranstaltung „Europa berichtet“ der Hessischen Landesvertretung kommt das Thema leider kaum vor. Dabei ist eine breite öffentliche Debatte über dieses so wichtige Thema angemessen. Umso wichtiger, dass heute das Hohe Haus darüber diskutiert.
Die geopolitische Bedeutung Ost- und Mitteleuropas ist aus deutscher Sicht kaum zu unterschätzen. Die Östliche Partnerschaft wurde daher vor allem von Deutschland vorangetrieben und sollte die Staaten zwischen der Europäischen Union und Russland wirtschaftlich und politisch stabilisieren. Eine solche Stabilisierung ist zweifellos in unserem Interesse. Sie schafft Absatzmärkte. Sie vermindert Migrationsströme, und sie sorgt auch für eine sichere Südostflanke der Europäischen Union.
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Jedoch gab es von Anfang an zwei gravierende Denkfehler. Erstens wurde Russland nicht von Anfang an vollumfassend einbezogen. Zweitens betrieb und betreibt die Europäische Union leider im Rahmen der Östlichen Partnerschaft nach wie vor einen moralischen Werteimperialismus.
Es war gerade das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, das 2013/2014 für einen Bruch Russlands mit der EU sorgte. Der Ukraine-Experte Winfried Schneider-Deters schrieb bereits 2014 dazu – ich zitiere –:
Doch die Schutzbehauptung, die Europäische Union strebe nicht nach einer „Einflusszone“ in ihrer östlichen Nachbarschaft, ist schlicht naiv. Die Beteuerung ihrer geopolitischen Unschuld wurde der Europäischen Union in Moskau angesichts der ökonomischen Fakten, die das Abkommen über tiefgreifenden und umfassenden Freihandel schaffen würde, nicht abgenommen. Die Geopolitik „wider Willen“, wie sie die „sanfte Macht“ Europa betreibt, stößt in der Realität auf unsanfte Gegenmacht.
Im Ergebnis dieser Konfrontation, zu der sicherlich beide Seiten beigetragen haben, stehen weder Deutschland und die Europäische Union noch die Ukraine oder Russland besser da.
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Auch und gerade was die ökonomische Stabilisierung der Ukraine angeht – das ist doch eines der wichtigsten Ziele der Östlichen Partnerschaft –, ist die Europäische Union krachend gescheitert.
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Noch 2013, also im letzten Jahr vor dem Maidan und dem Machtwechsel, betrug in der Ukraine das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 3 968 US-Dollar. Im Jahr 2018 lag es bei gerade einmal 2 963 US-Dollar, also ein Rückgang von rund einem Viertel innerhalb von fünf Jahren. Hinzu kommt die Korruption, die sich wie ein Krebsgeschwür durch die ganze Gesellschaft und die Politik zieht.
Ohne eine Kooperation zwischen der EU mit der Führungsmacht Deutschland und der Eurasischen Wirtschaftsunion mit der Führungsmacht Russland sind weder die Ukraine noch die anderen Staaten der Östlichen Partnerschaft zu stabilisieren.
Wie es geht, zeigt das Beispiel Armenien. Mit diesem Mitgliedsland der Östlichen Partnerschaft wurde mit dem CEPA ein Abkommen geschlossen, das die Interessen sowohl der Staaten der Europäischen Union als auch Russlands wahrt. Nicht zuletzt deshalb gab es in Armenien eine samtene Revolution und keine blutige.
Für Stabilität in unserer Nachbarschaft sind wirtschaftliche Prosperität und sicherheitspolitische Entspannungspolitik wichtig. Was die Ukrainer, die Armenier, die Aserbaidschaner, die Georgier, die Weißrussen und die Moldawier dagegen nicht brauchen, sind Projekte zur Stärkung von Transmenschen durch zivilgesellschaftlichen Austausch oder ähnliche Absurditäten, für die der deutsche Steuerzahler im Rahmen der Östlichen Partnerschaft einzustehen hat.
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Daher gilt: Die Östliche Partnerschaft ist an und für sich notwendig, aber bitte unter Einbeziehung Russlands und ohne den falschen westlichen moralischen Werteimperialismus.
Vielen Dank.
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Der Kollege Nikolas Löbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Östliche Partnerschaft, das ist der richtige Zeitpunkt, um einmal Bilanz zu ziehen und die anstehenden Herausforderungen gemeinsam zu definieren. Als nach dem Georgien-Krieg im Jahre 2008 der Druck, zu handeln, immer weiter stieg, war es schließlich die richtige europäische Initiative, Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine eine proeuropäische, wenn auch keine europäische Perspektive zu geben. Die Östliche Partnerschaft ist neben der Zentralasienstrategie und der EU-Russland-Beziehung eine der wesentlichen Säulen unserer Ostpolitik. Es geht um die Schaffung privilegierter Wirtschaftsbeziehungen der europäischen Staaten. Es geht um die Förderung demokratischer Strukturen, jedoch ohne die Perspektive einer vollen EU-Mitgliedschaft, um das an dieser Stelle einmal deutlich zu sagen.
Innerhalb der Östlichen Partnerschaft erarbeiten wir Assoziierungsabkommen, um die politische Zusammenarbeit zu stärken, um den politischen Dialog zu intensivieren und um die Kooperation in Rechts- und Sicherheitsfragen zu verbessern, auch bei der Visafreiheit. Die östlichen Partnerschaften sind aber keine feste, institutionalisierte Einheit, sondern eher ein loser Staatenbund mit gleichen Interessen. Warum sage ich das? Weil wir an dieser Stelle auf das Prinzip der Differenzierung hinweisen sollten. Es sind eben sechs unterschiedliche Länder aus dem gleichen geopolitischen Raum, mit ähnlichen Geschichten, aber mit unterschiedlichen Gegenwarten und mit noch differenzierteren Bildern von der Zukunft. Dabei sollten wir zum zehnjährigen Jubiläum den Fokus auf das differenzierte Bild der Östlichen Partnerschaft legen.
Die Republik Moldau beispielsweise hat sich zum Sorgenkind entwickelt. Galt Moldau einst als das positive Beispiel innerhalb der Östlichen Partnerschaft, so müssen wir heute anhand des Beispiels der Republik Moldau festhalten, wie fragil Modernisierung und Demokratisierung manchmal sein können.
Wie stark Demokratie auch sein kann, zeigen die jüngsten Wahlen in der Ukraine. Dass das Land unter schwierigsten außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen friedlich einen demokratischen Wechsel herbeigeführt hat, ist bemerkenswert und zeigt uns, wie stark Demokratie sein kann.
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Ob sich das Wahlergebnis im Nachhinein eher als schlechter Witz erweisen wird, können wir heute noch nicht beurteilen. Aber der neue Präsident hat eine Chance verdient, hat er doch bei seiner Wahl das Land und seine Menschen hinter sich vereint und geeint.
Georgien können wir heute wohl als den Stabilitätsanker innerhalb der Östlichen Partnerschaft bezeichnen. Georgien ist für Deutschland, für Europa und für die NATO ein verlässlicher, ein wichtiger strategischer Partner. Georgien ist eine stabile Demokratie mit dem klaren Anspruch, sich an westlichen Werten zu orientieren und ein gutes Verhältnis zu Deutschland und Europa zu pflegen. Für alle Staaten, auch für die Staaten der Östlichen Partnerschaft, gilt der Anspruch auf territoriale Integrität. Das möchte ich auch im Fall Georgien besonders betonen.
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Georgien ist zum Beispiel mit 900 Soldaten im Verhältnis zu seiner Bevölkerung einer der größten Truppensteller der NATO in Afghanistan. Das zeigt die Bedeutung des Landes innerhalb der Östlichen Partnerschaft, aber auch darüber hinaus und im Verhältnis zur NATO.
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Helmut Kohl sagte stets, dass man die Sorgen seines Gegenübers mitdenken müsste, wenn man eine Lösung im gegenseitigen Interesse finden möchte. Deshalb muss für uns Europäer klar sein: Dauerhaften Frieden in und für Europa gibt es nur mit Russland, niemals gegen Russland. Die östlichen Partnerschaften können dabei eine Brücke zwischen Russland, einer postsowjetischen Gesellschaft, und der westlichen Welt bauen und bilden. Wir wollen und wir können die östlichen Partnerschaften politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich fördern und Kooperationen schaffen. Das heißt, die Länder der östlichen Partnerschaften erfahren eine privilegierte Partnerschaft mit der Europäischen Union, ohne dabei Teil der europäischen Familie zu werden.
Wir legen mit dem Antrag der Regierungsfraktionen ein richtiges Bekenntnis zu einem wichtigen Bündnis zur richtigen Zeit ab. Deswegen bitten wir um Unterstützung dieses Antrags.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Löbel. – Ich darf an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne Seine Exzellenz, den Botschafter Georgiens, Herrn Khokrishvili, ganz herzlich begrüßen. Herr Botschafter, schön, dass Sie heute bei uns sind!
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Die nächste Rednerin für die Fraktion der FDP: die Kollegin Renata Alt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bis 2004 schaute mein ehemaliges Heimatland, die Slowakei, von außen auf die EU. Daher weiß ich, was es bedeutet, in einem Transformationsland zu leben. Heute ist die Slowakei, gemessen an der Bevölkerungszahl, der größte Automobilhersteller weltweit.
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Für mich ist daher die Östliche Partnerschaft eines der bedeutendsten Instrumente der europäischen Außenpolitik. Sie hält Europa zusammen. Wir Freie Demokraten wollen eine vertiefte Kooperation mit den östlichen Nachbarn der EU, auch und gerade nach dem zehnjährigen Bestehen der Östlichen Partnerschaft.
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Liebe Bundesregierung, es ist richtig, die Östliche Partnerschaft zur Priorität der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu machen; aber sie darf kein Leuchtturmprojekt sein. Ihrem Antrag fehlt die Antwort auf eine zentrale Frage: Wo soll die Östliche Partnerschaft in zehn Jahren sein? Wir brauchen eine Strategie über 2020 hinaus.
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Für uns gibt es drei Prioritäten: Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, neue Kooperationsformate und eine differenzierte Partnerschaft mit den Ländern. Mit der Ukraine, Moldau und Georgien bestehen Assoziierungs- und Freihandelsabkommen. Sie sind erfolgreiche Ergebnisse der Östlichen Partnerschaft. Die Ukraine beweist es: Nahezu alle Zölle sind abgeschafft. Alleine 2017 wuchsen die ukrainischen Exporte in die EU um über 27 Prozent. Zahlreiche deutsche Firmen sind in der Ukraine aktiv und stellen über 30 000 Arbeitsplätze. Wir brauchen mehr solcher Assoziierungs- und Freihandelsabkommen.
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Wir brauchen aber auch innovative Kooperationsformen. Gerade bei der Digitalisierung ist die EU der einzige Partner, der die richtigen Impulse für eine Modernisierung bieten kann.
Lieber Herr Wiese, lieber Herr Löbel, das Gießkannenprinzip ist überholt, und es freut mich, dass Sie das erkannt haben.
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Denn die Östliche Partnerschaft lebt von dem individuellen Potenzial ihrer Teilnehmerstaaten. Jedes Land braucht maßgeschneiderte Forderungen und Förderungen. Das CEPA-Abkommen mit Armenien ist dafür das beste Beispiel: Es erweitert passgenau den Radius der Kooperation auf die Bereiche, die für Armenien wichtig sind: Bekämpfung der Korruption, Bekämpfung der Kriminalität und Förderung regionaler Stabilität.
Meine Damen und Herren, die Visegrad-Gruppe traf sich gerade am Montag zum neunten Mal mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft. Für unsere mitteleuropäischen Freunde hat die Östliche Partnerschaft längst außenpolitische Priorität, auch jenseits einer EU-Ratspräsidentschaft. Folgen wir deshalb diesem Beispiel!
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, geht uns nicht weit genug. Wir werden ihm deshalb nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren wurde die östliche Partnerschaftspolitik der Europäischen Union entwickelt, um in den Ländern Belarus, Ukraine, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan und Armenien eine Einflusszone der Europäischen Union zu entwickeln. Wenn man heute, nach zehn Jahren, zurückblickt, so muss man schon sagen: In vielen Bereichen ist diese Östliche Partnerschaft ein Scherbenhaufen. Vor allen Dingen die beiden Länder Ukraine und Moldawien, mit denen die tiefen Freihandelsabkommen geschlossen worden sind, konkurrieren mittlerweile leider um den Spitzenplatz als ärmstes Land in Europa. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung ist ausgesprochen traurig. Und man muss auch daran erinnern: Die tiefen Freihandelsabkommen, insbesondere das Abkommen mit der Ukraine, haben mit dazu beigetragen, dass 2013, 2014 die Konfrontation in der Ukraine entstanden ist. Das ist eine sehr bedauerliche Entwicklung, die wir kritisieren.
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Man muss auch sagen, dass die Politik der Östlichen Partnerschaft kein Konzept ist, das diesen Ländern eine Perspektive auf Mitgliedschaft eröffnet. Vielmehr hat diese Politik eine Einflusszone geschaffen. Leider verabschiedet sie sich auch von der ursprünglich diskutierten Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses vom Atlantik bis zum Pazifik, von Lissabon bis Wladiwostok – eine Idee, die Gorbatschow 1989 vorgebracht hat und die leider immer mehr in den Hintergrund gerät.
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Uns liegt ein Antrag der Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD vor. Wenn ich diesen mit Ihrem Antrag von vor zwei Jahren vergleiche, dann stelle ich fest, dass auch noch die blumigste Formulierung in Richtung eines gemeinsamen europäischen Hauses verschwunden ist. Noch 2017 schrieben Sie, dass ein gemeinsamer humanitärer und wirtschaftlicher Raum vom Atlantik bis zum Pazifik anzustreben ist. Diese Vorstellung ist in Ihrem neuen Antrag verschwunden. Auch das ist ein Grund, warum wir Ihren Antrag ablehnen werden.
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Ein weiterer Punkt. In vielen Ländern der Östlichen Partnerschaft gibt es territoriale Konflikte: in der Ukraine, in Georgien, in Aserbaidschan, in Armenien und auch in Moldawien. Noch 2017 schrieben Sie, dass im Rahmen der OSZE diese Konflikte „in einem friedlichen Prozess zu lösen“ seien. Auch diese Formulierung – „friedlicher Prozess“ – ist jetzt, 2019, verschwunden. Sie sprechen nur noch von einer Lösung, aber streichen das Wort „friedlich“. Wir sagen ganz klar: Diese territorialen Konflikte können ausschließlich friedlich durch Verhandlungen und am besten im Rahmen der OSZE gelöst werden.
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Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union war im April 2016 unter Leitung unseres Vorsitzenden, Herrn Krichbaum, in Brüssel bei Juncker. Auf die Frage, was bezüglich der Östlichen Partnerschaft vor allen Dingen in der Ukraine schiefgelaufen sei, sagte er wörtlich – er spricht fließend Deutsch –: Wir haben in maßloser Verblendung geglaubt, nicht mit Russland reden zu müssen. – Das ist das Kernproblem. Ich glaube, eine Perspektive für die Länder der Östlichen Partnerschaft beinhaltet neben der Einbeziehung dieser Länder auch eine Einbeziehung Russlands, ein kooperatives Verhältnis zu Russland und eine Lösung der Sicherheitsfragen. So besteht am Ende vielleicht doch die Perspektive eines gemeinsamen europäischen Hauses.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Manuel Sarrazin.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die Östliche Partnerschaft ist wichtig. Deswegen möchte ich mich zunächst bei den Koalitionsfraktionen für die Antragsinitiative und die Debatte heute bedanken. Die Debatte über die Weiterentwicklung der Östlichen Partnerschaft ist auch wichtig. Die Östliche Partnerschaft, vor allem mit den DCFTA und dem CEPA mit Armenien, ist ein Fahrplan, ein Leitfaden für die Veränderung der Staaten dieser Partnerschaft in Richtung Marktwirtschaftlichkeit, aber auch in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wir müssen uns aber auch ehrlich machen – und das tut der Antrag an einer ganz wichtigen Stelle nicht –: Attraktiv ist nicht die Östliche Partnerschaft; attraktiv ist die Europäische Union. Der Versuch – verklausuliert in einem Antrag –, die EU-Beitrittsperspektive endlich als nicht gegeben klarzustellen, ist ein Grundfehler, den schon die Nachbarschaftspolitik gemacht hat, wobei die Östliche Partnerschaft diesen Fehler in dieser Klarheit aber zum Glück nicht macht. Das Fehlen einer Perspektive ist meiner und unserer Ansicht nach ein Fehler. Wir brauchen die Perspektive des Beitritts dieser Staaten zur Europäischen Union, um sie in ihrer Kraftanstrengung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu unterstützen.
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Gleichzeitig hat sich die Östliche Partnerschaft seit 2013, 2014 – das ist in allen Reden hier angeklungen – stark verändert. Ein Problem der Östlichen Partnerschaft ist, für die Länder der Region adäquate Antworten zu geben auf die Fragen der neuen Sicherheitseinschätzung, die diese Länder gegenüber dem Nachbarn Russland haben. Ich sage nicht, dass ich den goldenen Weg kenne, wie man das richtig machen kann. Ich glaube nicht, dass die Östliche Partnerschaft die NATO ersetzen sollte oder Ähnliches. Aber wir müssen trotzdem klar sagen, dass es nicht reicht, nur zu sagen – so die Aussage in diesem Antrag –: Die werden trotz Problemen mit Russland irgendwie klarkommen müssen. – Wir müssen auch die Bedenken der Länder ernst nehmen und anerkennen, dass sie sich sicherheitspolitisch von Russland bedroht fühlen und dass die Östliche Partnerschaft auf diese wichtige Frage bisher schlichtweg keine Antwort hat. Zu der Debatte über die Weiterentwicklung der Östlichen Partnerschaft gehört auch die Frage, wie man damit umgeht. Soll die Östliche Partnerschaft bewusst darauf verzichten, oder nicht?
Es ist schade, dass Sie in Ihrem Antrag vergessen, die Kohärenz zwischen Europapolitik und der Politik der Mitgliedstaaten zu betonen. Da wir sehen, wie wichtig für die künftige Entwicklung der Stabilität auf unserem Kontinent vor allem der Erfolg der Reformen in der Ukraine und Georgien ist – nicht nur, aber vor allem in diesen beiden Ländern –, wäre es meiner Ansicht nach wichtig gewesen, auch die Verzahnung zwischen europäischem Handeln und dem Handeln der Mitgliedstaaten untereinander und mit der EU stärker zu betonen.
Ansonsten halte ich es für falsch, dass Sie zwar von Menschenrechten und Zivilgesellschaft reden – aber eher sehr allgemein –, aber die besonders schlechte Menschenrechtslage sowohl in Aserbaidschan als auch in Belarus nicht genannt wird. Die Freilassung von politischen Häftlingen wird nicht klar adressiert. Besonders der Appell, das Minsker Abkommen umzusetzen und einzuhalten, hätte meiner Ansicht nach doch ein klares Verhalten der Bundesregierung und auch der Fraktionen mit Blick auf die Tatsache erfordert, dass seit dieser Woche in Luhansk russische Pässe verteilt werden, was ein klarer Bruch des Minsker Abkommens ist
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und ganz klar zeigt, dass die russische Seite im Moment kein Interesse daran hat, an dieser Umsetzung mitzuwirken.
Deswegen wäre es meiner Ansicht nach auch gut gewesen, zum Thema Georgien und auch Moldau etwas mehr zu schreiben. Es ist richtig, dass der Konflikt in der Donbass-Region der überwältigende Konflikt zu sein scheint. Aber der Antrag wäre besser geworden, wenn man auch Transnistrien und die russische Okkupation in Georgien erwähnt hätte.
Alles in allem möchte ich zusammenfassend sagen: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir diese Debatte im Ausschuss miteinander geführt hätten. Vielleicht wäre es dann dazu gekommen, dass wir den Antrag gemeinsam so verbessert hätten, dass wir ihm hätten zustimmen können. Weil wir aber heute schon abstimmen, sehen wir uns nur in der Lage, uns zu enthalten.
Vielen herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über die Zukunft der Europäischen Union und natürlich auch über Partnerschaften mit unseren Nachbarstaaten sprechen, dann gilt für uns als CDU/CSU-Fraktion: Wir wollen Europa nach innen wie nach außen stärken, nach innen gegenüber den Extremisten am linken und rechten Rand
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und nach außen, um anderen Mächten in der Welt auf Augenhöhe begegnen und auch unsere europapolitischen Vorstellungen in relevanten Fragen einbringen zu können. Dabei geht es vor allem um die großen Themen Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Verteidigungspolitik, aber natürlich auch Terrorismusbekämpfung oder Klimaschutz. Diese Probleme können wir nur als vereinte Europäer lösen, und deswegen brauchen wir gerade in diesen Wochen kurz vor der Europawahl ein enorm starkes Europa und müssen alles daransetzen, Europa zu einen und es gerade bei diesen großen Themen zu stärken.
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Aber, meine Damen und Herren, wenn wir über unsere europäischen Werte sprechen und auch darüber sprechen, wie wir diese exportieren und in unsere Nachbarschaft tragen können, dann brauchen wir nicht nur innerhalb Europas eine gute Kooperation, sondern dann brauchen wir auch eine gute Kooperation und eine gute Zusammenarbeit mit unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir heute hier im Deutschen Bundestag nicht nur über Reformen innerhalb der Europäischen Union sprechen und den Blick nach innen richten, sondern dass wir den Blick nach außen, vor unsere europäische Haustür richten.
Viele Staaten in den Regionen Europas – das wurde in dieser Debatte ja auch schon deutlich – wollen eng mit uns zusammenarbeiten, insbesondere die in der östlichen Nachbarschaft: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Republik Moldau oder die Ukraine. Und so unterschiedlich diese Staaten im Einzelnen sind und von uns im Einzelnen zu betrachten sind, eines haben sie doch gemeinsam – das muss man bei dieser Debatte aus meiner Sicht noch einmal besonders hervorheben –: Viele Menschen aus diesen östlichen Nachbarstaaten schauen zu uns nach Europa; denn Europa steht für sie für Toleranz, für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für soziale Marktwirtschaft und auch für Reisefreiheit. Und letztlich steht Europa – das muss man gerade mit Blick auf diese Regionen besonders hervorheben – auch für Frieden. Denn das ist in diesen Regionen alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
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Wenn man sich mit den Menschen dort austauscht – ich war gerade letztes Jahr in Armenien und hatte diese Woche Gespräche mit georgischen Politikern –, dann merkt man: Da sind viele gut ausgebildete, gerade junge, offene Menschen, die sehr interessiert an Europa sind, die teilweise europabegeisterter sind, als wir das hier im eigenen Land erleben, und die auch Signale senden und sagen: Wir wollen mit den europäischen Staaten, wir wollen mit Deutschland zusammenarbeiten. – Diese jungen Menschen fordern in ihrem Land Reformen, die Bekämpfung von Korruption, die fordern den Ausbau der sozialen Marktwirtschaft bzw. die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft, die wollen den Rechtsstaat, und die wollen demokratische Strukturen in ihren Ländern vorantreiben. Dafür brauchen sie unsere Unterstützung.
Einige Länder – das wurde schon hervorgehoben, gerade mit Blick auf Georgien – haben in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. In anderen Ländern muss es noch größere Fortschritte geben. Aber die Menschen in diesen Ländern brauchen neben unserer Unterstützung auch eine starke Zivilgesellschaft. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch einmal betonen, dass der Antrag ja auch darauf zielt, die Zivilgesellschaft in diesen Staaten zu stärken, und das ist auch ein ganz, ganz wichtiger Schritt. Alles andere, meine Damen und Herren, wäre eine Steilvorlage für autoritäre Staaten in der Welt. China, Russland, die Türkei warten nur darauf, dass wir diesen Staaten den Rücken zukehren und uns von ihnen lösen. Deswegen ist dieser Antrag hier so wichtig.
Gerade weil wir Europa lieben und gerade weil wir auch diejenigen sind, die Europa besser machen wollen, brauchen wir die Östliche Partnerschaft als wichtigen Baustein in der zukünftigen Europapolitik. Wir setzen auf diese Staaten und wollen heute das Signal aus dem Deutschen Bundestag senden, dass wir bei den vielen großen Themen noch enger zusammenarbeiten wollen.
Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Johannes Schraps.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich auch ein herzliches Willkommen den Vertreterinnen und Vertretern aus den Botschaften auf der Tribüne! Schön, dass Sie da sind! In der Debatte haben wir jetzt schon viele Aspekte zu zehn Jahren Östliche Partnerschaft gehört. So ein Jubiläum ist ja tatsächlich immer ein guter Anlass, um noch mal ein bisschen Bilanz zu ziehen und gleichzeitig auch Pläne für die Zukunft zu entwickeln. Eines – das kann man, glaube ich, zum Ende der Debatte jetzt schon mal festhalten – ist bei der Bilanz ganz klar: Die Östliche Partnerschaft hat eine Menge Erfolge vorzuweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die wirtschaftliche Annäherung ist kontinuierlich vorangetrieben worden, und der Handel der sechs Partnerländer mit der EU ist in den letzten Jahren ausnahmslos gestiegen. Auch die politische Zusammenarbeit ist durch einen verstärkten regelmäßigen Austausch in den vergangenen zehn Jahren deutlich enger geworden; mein Kollege Dirk Wiese hat zu Beginn der Debatte ja auch noch auf einige weitere Punkte hingewiesen. Die abgeschlossenen Assoziierungs- und Partnerschaftsabkommen mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft haben diesen Weg der engeren Zusammenarbeit in den letzten Jahren auch noch einmal ganz deutlich manifestiert.
Ein Bereich, der uns bei allen Fortschritten in der Zusammenarbeit aber klar zu denken geben muss, ist – das ist auch schon angesprochen worden – die sicherheitspolitische Lage. Fünf von sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft haben es auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet mit ausgesprochen schwierigen Territorialkonflikten zu tun. Auf der Agenda der europäischen Öffentlichkeit – auch das muss man sich eingestehen – erfahren diese Konflikte leider zudem nicht immer die Aufmerksamkeit, die eine wirklich aufrichtige Beschäftigung mit Lösungsoptionen nach sich ziehen würde.
Häufig wird von „Frozen Conflicts“ gesprochen, sogenannten eingefrorenen Konflikten; aber so eingefroren, wie diese Bezeichnung suggeriert, sind sie meist jedoch keineswegs. Davon konnte ich mich im vergangenen November bei meinem Besuch in der Ukraine intensiver überzeugen, als mir lieb war, als beim Checkpoint Majorske an der Kontaktlinie zu den Separatistengebieten in der Ukraine gleich mehrere Mörsergranaten in unmittelbarer Nähe unserer Delegation einschlugen. Aber das ist nicht nur dann der Fall, wenn Bundestagsabgeordnete sich vor Ort über Konflikte informieren wollen. Immer noch wird dort jeden Tag geschossen, und immer noch sterben regelmäßig Menschen durch Kampfhandlungen in der Ostukraine. Auch von der Halbinsel Krim wird immer wieder von Menschenrechtsverletzungen berichtet, und in Georgien – auch das ist schon angesprochen worden – werden in der Nähe der annektierten Gebiete Abchasien und Südossetien immer wieder georgische Staatsbürger entführt und dann manchmal später auch ermordet aufgefunden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, was können wir in Anbetracht der noch immer vorhandenen Konflikte also tun? Erstens ist es aus meiner Sicht absolut wichtig, die Konflikte, die es noch immer gibt, nicht als Normalzustand hinzunehmen. Wir müssen unserem Engagement für Fortschritte beim Minsk-Prozess und bei der Bearbeitung der anderen Konflikte in der Region noch größere Anstrengungen hinzufügen. Heiko Maas ist hier aus meiner Sicht auf dem vollkommen richtigen Weg, wenn er die Konflikte in der Region, in den Ländern dort als Gegenstand einer neuen „europäischen Ostpolitik“ sieht.
Zweitens müssen wir das Potenzial der geschlossenen Abkommen noch besser nutzen. Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich, in der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit oder im akademischen Austausch können sicher über Nacht keine Konflikte lösen, aber sie können langfristig einen enormen Beitrag zur nachhaltigen Stabilisierung dieser Länder leisten.
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Drittens, liebe Frau Kollegin Alt, müssen wir eine Perspektive für eine vertiefte Zusammenarbeit mit der EU anbieten. Alle Länder der Östlichen Partnerschaft sind – das ist festgestellt worden – vollkommen unterschiedlich und haben dementsprechend auch unterschiedliche Interessen. Die Initiative einer sogenannten Östlichen Partnerschaft Plus, die aus dem EU-Parlament vorangebracht wurde, würde flexibel auf diese Unterschiede eingehen und bessere Möglichkeiten der Beteiligung in bestimmten Themenfeldern eröffnen. Diese Idee sollten wir auch hier im Bundestag weiter diskutieren.
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Natürlich müssen wir uns auch weiterhin intensiv für Demokratieentwicklung, Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung einsetzen. Und wir dürfen – das ist schon angesprochen worden – die Länder der Östlichen Partnerschaft nicht vor die Wahl stellen, ob sie sich Richtung EU oder Richtung Russland orientieren wollen. Es muss beides gehen.
Man kann also abschließend festhalten: Viel ist in den zehn Jahren vorangebracht worden. Einige schwierige Herausforderungen sind noch zu meistern. Dass es sich dabei um gemeinsame europäische Herausforderungen handelt, das versteht sich für einen Großteil dieses Hauses zum Glück von selbst. Die dafür notwendige enge Abstimmung oder, Kollege Sarrazin, auch Kohärenz, das ist etwas, was Minister Maas oder auch unsere Staatsminister maßgeblich vorantreiben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Deswegen bin ich mir sicher, dass wir auch 2020 im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft – das wird im Antrag ganz konkret genannt – zusätzliche Akzente in der europäischen Nachbarschaftspolitik setzen werden.
Ich freue mich darauf und danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss einer Debatte zu reden, ist manchmal eine Last und manchmal ein Vergnügen. Man kann auf die Vorredner eingehen und ihre Rede reflektieren, aber wenn man das bei jedem Redner und jeder Rednerin machen würde, wäre die Redezeit bald vorbei. Auf Ihre Rede, lieber Herr Hunko, will ich aber trotzdem eingehen und zwei, drei Dinge reflektieren.
Wir hatten über die Östliche Partnerschaft hier schon häufiger Parlamentsdebatten, so im Jahre 2017. Damals hat Herr Hunko darüber gesprochen, dass sich die Europäische Union eine neue Einflusszone, einen neuen „Einflussbereich“ in Mittelosteuropa schaffen wolle; das Gleiche haben Sie heute auch wieder gesagt. Sie ha ben seinerzeit vom „Scherbenhaufen“ der europäischen Ostpolitik gesprochen; das Gleiche haben Sie heute mit dem gleichen Wortlaut auch wieder gesagt. Lieber Herr Hunko, es ist nach dem deutschen Strafrecht nicht verboten, Plagiator eigenen Unsinns zu sein,
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aber es ist trotzdem bemerkenswert, dass Sie die gleichen Formulierungen verwenden. Ich würde anheimstellen, dass Sie bei Ihrer nächsten Rede, vielleicht im Jahre 2021, hier mit mehr Innovation aufwarten.
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Es könnte sein, dass es noch andere gibt als mich, die mitschreiben oder sich die alten Protokolle dazu anschauen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist schon viel über die Östliche Partnerschaft gesagt worden. Vor fast genau zehn Jahren, am 7. Mai 2009, ist mit Blick auf die vorangegangenen Ereignisse, insbesondere den Konflikt von 2008, in Prag in Nachbarschaft zur Slowakei vereinbart worden, dass die Europäische Union mit den sechs Ländern Armenien, Aserbaidschan, Belarus – also Weißrussland –, Georgien, Moldawien und der Ukraine eine Partnerschaft eingeht, um mit den Nachbarn an unseren östlichen Grenzen in ein gutes Einvernehmen zu kommen.
Es ist heute schon so manche Rückschau gehalten worden. In der Tat kann man sagen: Es hätte besser sein können. Aber man muss auch optimistisch sein und sagen: Ohne die Östliche Partnerschaft wären diese sechs genannten Länder deutlich schlechter dran. Der wirtschaftliche Austausch ist mit allen Ländern besser geworden, aber die Verflechtungen, die wir uns erwünscht haben, haben sich in der Tat nicht so positiv entwickelt, wie das der Fall hätte sein sollen. Es war Außenminister Steinmeier, der in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen hat, dass man Russland mit einbinden muss und dass sich die zivilgesellschaftlichen Verflechtungen – auch das ist heute schon gesagt worden – gerade mit Russland, die Verbindungen und der Austausch deutlich verstärkt haben.
Ich selbst bin Mitglied im Haushaltsausschuss. 2014 haben wir 5 Millionen Euro für die Östliche Partnerschaft und die Förderung der Beziehungen zu Russland eingesetzt, um die partnerschaftlichen Beziehungen zur Zivilgesellschaft zu verbessern. Aus diesen 5 Millionen Euro sind im letzten Jahr 14 Millionen Euro und in diesem Jahr, 2019, 18 Millionen Euro geworden; das ist also fast eine Vervierfachung des Betrages. Daran sollen Sie erkennen, dass uns diese Östliche Partnerschaft schon etwas wert ist, dass wir sie pflegen und ausbauen wollen, dass wir in den nächsten Jahren – auch das ist so ähnlich schon gesagt worden – Perspektiven schaffen wollen.
Dabei brauchen wir Offenheit und Ehrlichkeit. Wir müssen unseren östlichen Nachbarn sagen, dass ein Beitritt zur Europäischen Union, dass ein Beitritt zur NATO augenblicklich jedenfalls in gar keiner Weise eine Perspektive ist. Ich glaube, wenn man die Beziehungen weiterhin hervorragend pflegen möchte, gehört es dazu, dass man mit den Partnern kollegial, offen und ehrlich umgeht.
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Am 7. Mai 2009 – das habe ich schon gesagt – ist das Abkommen in Prag unterzeichnet worden. Dieses Datum liegt nahe am 8. Mai. Am 8. Mai vor 74 Jahren haben wir in Deutschland das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt. Seitdem leben wir in einer langen Periode von Jahrzehnten des Wohlstandes, des Glücks, des Friedens. Das möchten wir auch den östlichen Partnern angedeihen lassen. Wir möchten unsere helfende Hand ausstrecken,
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und zwar nicht im Gegensatz zu Russland, sondern in Partnerschaft mit Russland und in Partnerschaft mit den sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft.
Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
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Vielen Dank, Herr Kollege Karl. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 19/9916 mit dem Titel „Zehn Jahre Östliche Partnerschaft der Europäischen Union – Für eine intensive Zusammenarbeit auf dem Weg zu Wohlstand, Sicherheit und Demokratie“. Wer stimmt für diesen Antrag? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Enthaltungen? – FDP, Grüne und AfD. Damit ist der Antrag angenommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Eindruck entgegentreten – den Eindruck hat Herr Ramelow ja eben erweckt –, dass die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner in den letzten 30 Jahren benachteiligt worden wären. Das Gegenteil ist der Fall!
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Ich will das an einigen Fakten festmachen. Vielleicht weiß das Herr Ramelow gar nicht:
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Er kommt aus dem deutschen Bundesland mit der niedrigsten Altersarmut. Das heißt, nur 0,97 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in Thüringen beziehen Grundsicherung im Alter.
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In Deutschland beträgt der Durchschnitt 3,2 Prozent. Der Grund dafür ist unter anderem folgender: Wo kommen wir her? 1989 gab es in der ehemaligen DDR eine Mindestrente in Höhe von 330 Mark;
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nach 45 Arbeitsjahren betrug die Durchschnittsrente 470 Mark; die Höchstrente lag bei 510 Mark.
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Wer mehr haben wollte, liebe Kolleginnen und Kollegen, der musste in die eigene Tasche greifen; das nannte sich dann Freiwillige Zusatzrentenversicherung. Nur: Wer weniger als 600 Mark verdient hat, wurde ausgeschlossen. Das heißt, er konnte nicht mehr Rente erwerben. Deswegen wurde im politischen Konsens im Deutschen Bundestag 1991/92 ein System geschaffen, um die Ostlöhne hochzuwerten.
Ich will ein Beispiel nennen: 1980 gab es einen Hochwertungsfaktor von größer 3. Das Einkommen einer Einzelhandelskauffrau betrug zu der Zeit rund 500 Mark. Das heißt, aus den 500 DDR-Mark wurden durch dieses System über 1 500 Westmark. Jetzt gucke ich mal die Kolleginnen und Kollegen an, die woanders als ich sozialisiert wurden. Ich glaube, eine Verkäuferin bei Rewe hat 1980 nicht 1 500 Westmark bekommen. So könnte man das weiterführen.
Ich gehe noch mal auf die Bruttodurchschnittsentgelte ein. Durch die Hochwertung, die wir bis heute haben – leider abschmelzend –
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– ja, „leider“; ich komme gleich auf das zurück, was Sie mit den Menschen getrieben haben –, sind die Ostrenten in folgender Art und Weise gestiegen: 1992, als das System eingeführt wurde, lagen sie bei durchschnittlich 508 Euro; heute sind es im Durchschnitt 1 230 Euro. Die Rente im Westen liegt im Durchschnitt bei 1 284 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Aufholprozess, wie es ihn in Gesamtdeutschland, glaube ich, noch nie gegeben hat.
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Das ist die Solidarität des Westens mit dem Osten, und das ist eine gesamtdeutsche Leistung. Ich finde, das sollten wir hier mal würdigen, wenn die Überschrift „Arbeitsleistung der Ostdeutschen würdigen“ lautet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch eine weitere Zahl, um das klarzumachen. Wenn Sie sich die Rentenschichtung ankucken, dann stellen Sie fest: Bei einer Rente kleiner als 900 Euro sind es in Deutschland West 50 Prozent, in Deutschland Ost 30 Prozent; bei einer Rente größer als 900 Euro sind es in Deutschland West 50 Prozent, in Deutschland Ost 70 Prozent.
Jetzt werde ich Sie noch mal mit den Daten der Renteneinkommen pro Haushalt konfrontieren. Und zwar ist bei den Ehepaaren das Verhältnis von durchschnittlich 2 572 Euro in Deutschland West zu 2 257 Euro in Deutschland Ost. Bei den Männern sind das durchschnittlich 1 593 Euro zu 1 389 Euro und bei den Frauen 1 422 Euro zu 1 370 Euro.
Heute haben wir Schlagzeilen wie: Uns erwarten 11 Millionen Minirenten. – Nicht die gesetzliche Rente ist entscheidend für die Berechnung der Grundsicherung im Alter, sondern das Renteneinkommen und das Haushaltseinkommen. Hier wird deutlich, dass die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner durch die Hochbewertung vor 1990 und auch danach nicht zu kurz gekommen sind, sondern dass das ein Aufholprozess war. Noch eines gehört zur Wahrheit dazu: Mit Blick auf die letzten zehn Jahre ist der effektive Erwerb der Rentenanwartschaften bei gleichem Bruttolohn durch die Hochbewertung der Löhne im Osten
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heute um bis zu 9 Prozent besser als im Westen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ganze Rentensystem ist eine gesamtdeutsche Erfolgsgeschichte.
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Herr Ministerpräsident Ramelow, es tut mir leid, ich kann mir auch Einzelfälle rausgreifen, aber wenn man die Gesamtheit sieht, dann ist das Rentensystem mehr als blühende Landschaft.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Bürger! Heute beraten wir diverse Anträge, die eines gemeinsam haben: die bestehenden rentenrechtlichen Unterschiede zwischen Ost und West zu schließen. Jährlich feiern wir den Tag der Wiedervereinigung, und dennoch leben wir weiterhin in einem getrennten Deutschland – nicht physisch durch eine Mauer, sondern durch eine geringere Wertschätzung der Lebensleistung der ostdeutschen Rentner.
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Viele der heute eingebrachten Anträge befassen sich mit den Folgen der Rentenüberleitung, der Überführung der DDR-Renten und ‑Rentenanwartschaften in das Rentensystem der Bundesrepublik. Vieles wurde damals nicht ausreichend berücksichtigt. Vieles wurde damals vergessen. Damals zementierte Ungerechtigkeiten bestehen auch heute noch fort. Kollege Rehberg, dann reden wir eben nicht von dem Durchschnittsrentner, sondern wir reden hier von bestimmten Berufsgruppen, die vergessen wurden.
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Zwei Themenfelder sind uns als AfD-Fraktion besonders wichtig. Dazu möchten wir heute zwei Anträge ins Plenum einbringen. Mit diesen Anträgen wollen wir die bis heute bestehenden Mängel der Rentenüberleitung endlich korrigieren. Mit der Einrichtung eines Härtefallfonds wollen wir Frauen, die sich vor 1992 auf dem Gebiet der ostdeutschen Bundesländer scheiden ließen, vor Altersarmut bewahren. Und mit dem Antrag zur Gleichstellung von Einmalzahlungen in Ost und West wollen wir die Jahresendprämien in der DDR als Lohnbestandteil anerkennen. Ein höherer Lohn bedeutet auch einen höheren Rentenanspruch für die Ostrentner.
Verglichen mit Westdeutschland waren Scheidungen in der DDR nichts Außergewöhnliches und gesellschaftlich nicht verpönt. Aus diesem Grunde wurden Ehen in Ostdeutschland auch leichter geschieden. Für die in der DDR geschiedenen Frauen gab es damals keinen Versorgungsausgleich, jedoch enthielt die Rentenberechnung nach DDR-Recht viele frauen- und familienspezifische Elemente, die dem Bundesrecht fremd sind. Im Rahmen der Rentenüberleitung wurde für diese Frauen keine dauerhafte spezifische Regelung geschaffen. Das war ein grober Fehler und führte dazu, dass viele ostdeutsche Frauen unverschuldet in die Altersarmut fielen.
Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau der Vereinten Nationen beanstandete im Februar 2017 die Diskriminierung dieser Frauen und zeigte sich besorgt darüber, dass hier eine staatliche Ausgleichsleistung fehle. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, bis Anfang 2019 über ihre Aktivitäten zu berichten. Und was gibt es nun für Aktivitäten der Bundesregierung? Im Koalitionsvertrag findet sich die Absichtserklärung, einen Fonds einzurichten. Mehr ist seitdem scheinbar nicht geschehen. Hier muss umgehend gehandelt werden.
Für die in der DDR geschiedenen Frauen fordern wir einen Härtefallfonds, der aus Steuern finanziert wird. Dabei darf auch keine Zeit verschwendet werden, wie es die Bundesregierung bei der Ost-West-Angleichung praktiziert. Die betroffenen Rentnerinnen sind im fortgeschrittenen Alter, und daher bedarf es einer zeitnahen und unbürokratischen Lösung.
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Wir haben zu diesem Thema heute Anträge von drei verschiedenen Parteien vorliegen. Der Ausschuss der Vereinten Nationen zeigt sich besorgt. Im Koalitionsvertrag steht es auch. Das muss doch jetzt eigentlich ausreichen, damit Minister Heil hier endlich tätig wird.
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– Er ist nicht da. Das ist nicht so wichtig.
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– Frau Griese ist da. Frau Griese kann ihm das ja mitteilen.
Auch die Jahresendprämie, die in der DDR gezahlt wurde, ist so ein Fall, der in der Rentenüberleitung nicht beachtet wurde. Jahresendprämien werden nur dann bei der Rentenberechnung berücksichtigt, wenn sie als Lohnbestandteil zu werten sind und die Zugehörigkeit zu einem Sonder- oder Zusatzversorgungssystem vorlag. Diese Unterscheidung, ob normal sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder versichert in einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem, ist hochgradig ungerecht. Wir fordern die Bundesregierung auf, hier einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Anrechnung der in der DDR ausgezahlten Jahresendprämien bei den Rentenanwartschaften ermöglicht. Die Anerkennung dieser Prämien dient der rentenrechtlichen Gleichstellung von Einmalzahlungen in Ost und West und damit auch der Bekämpfung der Altersarmut im Osten.
Wir können die Ungerechtigkeiten, die selbst nach fast 30 Jahren zwischen Ost- und Westdeutschen herrschen, mit unseren Anträgen vermindern. Das sind wir den Menschen im Osten schuldig. Die Beseitigung dieser Ungerechtigkeiten darf nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden. Diejenigen, denen wir damit Anerkennung ihrer Lebensleistung zukommen lassen können, können leider nicht ewig warten, bis sich die Bundesregierung irgendwann einmal bemüht, irgendetwas zu unternehmen. Wir müssen jetzt handeln!
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Kurz zu meinem Vorredner von den Linken. Wer ein Problem mit Einigkeit und Recht und Freiheit hat,
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kann nicht glaubhaft über die Folgen der Wiedervereinigung im Bundestag sprechen.
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Einigkeit möchten Sie ja nicht, der Rechtsstaat ist Ihnen ein Dorn im Auge,
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und über Freiheit können wir mit SED-Nachfolgern nicht wirklich diskutieren.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Kolbe.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Herr Rehberg, Sie haben natürlich vollkommen recht. Sie haben auch die großen Anstrengungen, die in der Rentenüberleitung gemacht worden und gelungen sind, richtig dargestellt. Ich finde es richtig, das zu betonen. Genauso richtig ist es aber auch, auf die Anliegen derer zu schauen, die sich noch benachteiligt fühlen.
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Um diese Rentengruppen geht es. Ich finde, Herr Rehberg, wir als Koalition haben da eine ganze Menge vorzuweisen.
Ich kann für mich sagen: Ich habe mich richtig auf diese Debatte gefreut, unter anderem auch, weil ich eine Bewegung wahrnehme, die mich sehr freut. Ich nehme sie sowohl in den Anträgen als auch in den Reden und in den Gesprächen mit den Betroffenen wahr. Ich nehme wahr, dass viele von Maximalforderungen abrücken. Ich erinnere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Wir haben früher über ganze Listen mit Maximalforderungen abgestimmt. Jetzt finde ich die Anträge, insbesondere zu den in der DDR Geschiedenen, vollkommen richtig in der Darlegung. In den Konsequenzen unterscheiden wir uns noch, aber ich nehme da eine gute Bewegung wahr.
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Ich nehme sie auch im zuständigen Ministerium, im BMAS, wahr. Es gibt den entscheidenden Satz im Koalitionsvertrag. Herr Ramelow, die Gespräche finden statt; Thüringen ist dazu ebenfalls eingeladen. Soweit ich weiß, hat Thüringen auch an den ersten Gesprächen teilgenommen. Die Vereinbarung steht: Ende dieses Jahres, im Dezember 2019, soll ein Vorschlag erarbeitet sein, wie ein solcher Härtefallfonds ganz konkret ausgestaltet werden kann. Darüber freue ich mich sehr.
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Das ist auch deshalb so wichtig – ich will das noch mal klarmachen –, weil bisher die Maximalforderung der Betroffenen war: Wir wollen unsere Forderung zu 100 Prozent durchgesetzt haben. – Die Bundesregierung hat gesagt: Das alles ist kein Problem; wir machen nichts. – Davon sind wir jetzt weg. Besser noch: Es findet Dialog statt. Der Staatssekretär Rolf Schmachtenberg war vor kurzem in Dresden und hat sich mit Betroffenen auseinandergesetzt. Im Nachgang haben die betroffenen Gruppen dem Ministerium ganz konkrete Zahlen und abgespeckte Forderungen übermittelt. Ich finde, das ist eine Grundlage, auf der sich wirklich reden lässt und auf der gesellschaftliche Befriedung gelingen kann, was ich mir für diese Debatte wünsche.
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Auch die Betroffenen – viele Gruppen zumindest – sagen mittlerweile, dass sie über Entschädigung sprechen und keine Abrechnung bis auf Heller und Pfennig haben wollen. Wenn ich mit den Betroffenen spreche – das mache ich ganz oft, so wie Herr Weiler von der Union auch –, dann spüre ich vor allen Dingen eines: Zur Befriedung braucht es nicht nur monetäre Leistungen, sondern für gesellschaftliche Befriedung braucht es auch Respekt und Anerkennung. Dazu gehört in erster Linie auch, sichtbar zu machen, was hinter diesen Gruppen steckt, woher ihre Wut und ihr Frust kommen. Herr Ramelow hat einige Beispiele genannt, zum Beispiel die in der DDR geschiedene Frau, die im Betrieb mitgeholfen hat. Wir als SPD und hoffentlich auch die Koalition wollen eine Grundrente einführen, die vielen Betroffenen helfen würde; aber genau dieser Gruppe wäre damit nicht geholfen. Wir brauchen in jedem Fall eine Fondslösung, die sich dieser Härtefälle annimmt und klarmacht: Du hast dein Leben lang gearbeitet, du hast Kinder großgezogen, du hast Respekt verdient für die Lebensleistung, die du erbracht hast. Dieses Signal müssen wir dringend aussenden.
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Der erste Schritt ist die Grundrente, der zweite Schritt ist das Reden über die betroffenen Gruppen, um zu sehen, welche Schritte wir zur Befriedung unternehmen wollen. Wir – ich habe Herrn Weiler schon erwähnt – werden weitere Veranstaltungen machen, um intensiver mit den Gruppen ins Gespräch zu kommen und diese Annäherung weiter zu forcieren. Ich danke dem Ministerium für den nicht einfachen, sondern durchaus mutigen Schritt, zu sagen: Wir schauen uns diese Gruppen genau an.
Zu den Anträgen. Ich persönlich finde es toll, dass nicht nur Anträge auf der Tagesordnung stehen, sondern auch Petitionen von in der DDR Geschiedenen. Ich finde einen Aspekt ganz spannend: Einzelne Petitionen, die wir heute besprechen, sind gar nicht von den Betroffenen selbst, sondern von ihren Kindern geschrieben, die für ihre Mütter noch einmal klarmachen: Da muss etwas passieren. Das geht so nicht, wie hier mit meiner Mutter umgegangen wird.
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Das bedeutet für mich auch, dass der Gedanke, zu glauben, nichts tun zu müssen, weil es sich biologisch klären würde – so empfinden es einige –, nicht greift; denn die Nachkommen haben sehr wohl mitbekommen, was hier mit ihren Eltern passiert ist. Dieses Ungerechtigkeitsgefühl würde weiter fortleben. Ich glaube, das können wir uns nicht leisten. Deswegen: Lassen Sie uns aktiv werden und für gesellschaftliche Befriedung sorgen.
Inhaltlich zu den Anträgen. Der Beschreibung der Linken zu in der DDR Geschiedenen kann ich mich anschließen; sie ist richtig dargestellt. Sie wissen, dass wir als SPD keine Lösung für einzelne Gruppen wollen. Wir wollen eine Fondslösung, eigentlich wollen wir einen Gerechtigkeitsfonds. Aber auch wenn wir jetzt nur einen Härtefallfonds umsetzen können, würde dieser insbesondere den in der DDR geschiedenen Frauen zugutekommen. Deswegen halte ich das für den richtigen Weg.
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– Ja, aber auch in einer Bundesregierung finden Meinungsbildungsprozesse statt, und Meinungsbildungsprozesse dauern manchmal länger, und wenn es etwas wird, sind wir alle glücklich. Ich glaube, diesen Konsens können wir hier im Haus festhalten.
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Die AfD hat ebenfalls zu den in der DDR Geschiedenen einen Antrag vorgelegt. Ich stelle fest: Sie haben im Ausschuss aufgepasst und zugehört und haben einen Lernprozess durchlaufen. Aber auch hier gilt: Wir wollen nicht für eine einzelne Gruppe etwas tun, sondern wir wollen für alle Gruppen etwas anbieten.
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Die Grünen haben ebenfalls einen Antrag vorgelegt, ihre Forderungen gehen aber deutlich darüber hinaus. Ich glaube, dass die sehr weitgehenden Forderungen, die Sie hier formulieren, nicht geeignet sind, gesellschaftlich zu befrieden. Deswegen finde ich den Antrag inhaltlich schwierig. Wir lehnen ihn nicht nur ab, weil er sich auf eine Gruppe beschränkt, sondern auch, weil die Forderungen sehr weitgehend sind.
Vielleicht noch ein letzter Satz zu dem Antrag zur Alterssicherung für die Bergleute, eine Gruppe, die mir besonders am Herzen liegen; ich bin häufig bei ihnen zu Gast. Ich bin nicht überzeugt, dass der Antrag der Grünen hier ins Schwarze trifft, da er einen Härtefallfonds fordert, der den Bergleuten gar nichts bringt, weil sie glücklicherweise keine Härtefälle sind. Ich sage Ihnen aber auch: An dieser Gruppe wird noch einmal deutlich, dass ein reiner Härtefallfonds doch zu kurz gesprungen ist.
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Wir werden uns in der Regierung dafür einsetzen, dass auch für solche Gruppen etwas unternommen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Johannes Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die durch den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch der sozialistischen DDR und insbesondere durch die mutige friedliche Revolution unserer ostdeutschen Mitbürger möglich gewordene deutsche Wiedervereinigung ist für uns alle ein unfassbares Geschenk.
({0})
Das muss man erst einmal festhalten. Sie hat uns neben vielen anderen aber auch vor die historisch mindestens seltene, wahrscheinlich einzigartige Herausforderung gestellt, die Integration eines halben Landes in ein Sozialsystem, konkret: unser umlagefinanziertes Rentensystem, zu bewerkstelligen. Diese Aufgabe – auch das muss man deutlich sagen – wurde dadurch erschwert, dass die sozialistische DDR in der Phase ihres Zusammenbruchs ihren Bürgerinnen und Bürgern gewaltige, aber leere Versprechungen – auch in der Rente – gemacht hat, die sie niemals in der Zukunft hätte finanzieren können. Das hat die Aufgabe nicht einfacher gemacht; das gehört auch zur Wahrheit dazu.
Klar ist: Insgesamt ist die Integration unserer ostdeutschen Mitbürger in das gesamtdeutsche bundesrepublikanische Rentensystem sehr gut gelungen. Der Kollege Eckhardt Rehberg hat eben darauf hingewiesen. Genauso klar ist aber auch – wahrscheinlich ist es bei einer solchen Aufgabe auch unvermeidlich –, dass es schwierige Abwägungsentscheidungen gab, die zu mindestens gefühlten Ungerechtigkeiten und tatsächlichen Härtefällen geführt haben. Auch dieser Aufgabe müssen wir uns annehmen.
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Deshalb – das will ich deutlich sagen – ist es eine schwierige, aber verdienstvolle Aufgabe, dass sich die Koalition laut ihrem Koalitionsvertrag dieser Herausforderung angenommen hat und mit der Errichtung eines Fonds eine Lösung anstrebt. Es kommt nicht häufig vor, dass ich die Rentenpolitik der Großen Koalition lobe. Hier muss ich das, zumindest für das Ziel und die Absicht, ausnahmsweise einmal tun.
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Genauso klar ist aber: So einfach wie ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, es euch macht, kann man es sich nicht machen. Ich fange mal mit dem Antrag der Linken an. Sie fordern, dass alle in der DDR erworbenen Ansprüche gerecht anerkannt werden sollen, ohne zu sagen, wie.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn das denn so einfach wäre, dann hätten wir alle kein Problem. Das ist, glaube ich, keine seriöse Politik. Das ist vor allem keine verantwortungsvolle Politik gegenüber den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern.
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Ähnlich problematisch ist es nach meiner Überzeugung aber auch – das müssen sich die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen anhören –, einzelne Gruppen in den Blick zu nehmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wollen zum Beispiel eine Sonderregelung für Bergleute. Was ist mit den Landwirten und Selbstständigen? Was ist mit den Reichsbahnern? Was ist mit den Ingenieuren und Technikern? Ansprüche für eine Gruppe zu postulieren, schafft potenziell neue Ungerechtigkeit.
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So einfach ist es eben auch nicht.
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Deswegen – ich muss es noch einmal sagen – macht das Vorgehen der Koalition an dieser Stelle mehr Sinn, nämlich echte materielle Härten in den Blick zu nehmen und ernsthaft zu schauen, ob es zu Ungerechtigkeiten, die zu materieller Armut geführt haben, gekommen ist. Bei dieser Lösung schaut man auf den einzelnen Menschen und nicht auf einzelne Gruppen. Das ist hier das bessere Vorgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie müssen sich aber natürlich auch die Frage gefallen lassen: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf? Es ist ja schön, im Koalitionsvertrag Dinge zu postulieren, aber bisher war jede andere Frage in der Rentenpolitik wichtiger: Sie haben Milliarden mit dem Gartenschlauch verteilt, die Rente damit destabilisiert, Sie haben die Rentenformel manipuliert – alles war wichtiger und dringlicher, als sich um die echten Härtefälle zu kümmern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist die falsche Priorität in der Rentenpolitik, und das muss sich endlich ändern.
Vielen Dank.
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Der Kollege Markus Kurth ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rednerin und der Redner der Koalition lassen einen etwas ratlos zurück zu diesem Zeitpunkt der Debatte.
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Der eine Redner, Eckhardt Rehberg, hat ja richtigerweise auf die große und durchaus auch großartige Aufbauleistung hingewiesen, die im Bereich der Rentenversicherung stattgefunden hat, aber kein Wort über die besonders belasteten Gruppen verloren, die berechtigterweise beklagen, dass sie beim Rentenüberleitungsprozess vergessen worden sind.
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Wir benennen sehr deutlich die in der DDR geschiedenen Frauen, die sogar Erfolg haben, mit ihrem Anliegen bei der UNO gehört zu werden, und die Bergleute. Und, Johannes Vogel, es macht sehr wohl Sinn, sich den Braunkohleveredlern, die dort gearbeitet haben, zu widmen, weil es sehr gesundheitsschädliche Tätigkeiten waren und diese Gruppen besonders belastet sind.
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Meine Kollegin Monika Lazar wird dazu nachher noch etwas sagen.
Die andere Rednerin, Daniela Kolbe, hat sehr viel Verständnis aufgebracht und von gesellschaftlicher Befriedung gesprochen. Ich glaube, Sie haben wahrscheinlich auch ein gewisses therapeutisches Talent. Das ist schön; aber konkret geworden sind Sie nicht
({3})
Sie haben keine Einschätzung gegeben. Außer ein vages Versprechen, dass Sie irgendwann mal ein Weihnachtsgeschenk zum Ende des Jahres machen werden, war von Ihnen nichts zu hören; aber wie das auch nur in Ansätzen aussehen könnte, haben Sie nicht gesagt.
Ich will angesichts der knapp bemessenen Zeit aber auch grundsätzlich sagen, dass ich mir wünschen würde, dass diese Debatten, die wir ja regelmäßig auf Initiative der Linken führen, endlich als gesamtdeutsche Debatten und nicht immer mit dem Soupçon „Das ist der benachteiligte Osten; dem geht es so schlecht“ geführt werden.
Ich habe von meinem Büro das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland ermitteln lassen.
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Wissen Sie, Herr Ramelow, am unteren Ende steht der Kreis Osterholz – da sind Sie ja aufgewachsen –; dort liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 19 700 Euro. In Jena, dieser schönen Stadt in Ihrem Bundesland Thüringen, ist es glatt doppelt so hoch.
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Die Emscherzone, das nördliche Ruhrgebiet – in der Nähe ist mein Wahlkreis, in Dortmund –, hat ein Bruttoinlandsprodukt von 25 000 Euro pro Kopf. Selbst im Kreis Teltow-Fläming sind es schon 33 000 Euro. Ich habe hier eine ganze Reihe von Beispielen, die ich dem großen Zahlenfreund Matthias W. Birkwald nachher überreichen werde.
({6})
Das zeigt, dass wir die Debatte doch längst nicht mehr als Ost-West-Debatte führen dürfen, sondern sie als gesamtdeutsche Debatte führen müssen,
({7})
und es dabei nicht immer nur nachlaufend über die Sozialpolitik richten können.
Ich würde viel lieber mit dem Blick nach vorne diskutieren und über Strukturpolitik und Strukturentwicklung sprechen; denn wir müssen uns ehrlich machen: Man kann nicht alle strukturpolitischen Verwerfungen mit Renten- und Sozialpolitik nachlaufend heilen. Besser ist, man handelt vorausschauend.
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In puncto Strukturwandel und gerade im Bereich der ökologischen Transformation machen wir unsere Vorschläge.
Vielen Dank.
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Der Kollege Albert Weiler hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Man muss schon sagen: Auch die Länder haben hierbei eine Verpflichtung – gerade die Ostländer; denn wenn wir über die DDR reden, reden wir über eine Vergangenheit im deutschen Osten. Ich finde, dass an dieser Stelle aus den Ostländern zu wenig kommt – außer Forderungen.
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Vorschläge, wie man vielleicht mitfinanzieren kann, wären auch mal eine schöne Sache. Das ist das eine.
Zum anderen bin ich Tierfreund. Ich habe mit dem Pferd, das sich hier bewegt, Mitleid; denn auf den Rücken dieses Pferdes steigen jetzt immer mehr auf.
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Sein Rücken ist schon durchgebogen, weil mittlerweile auch die Grünen, die AfD und Die Linke aufspringen usw. usf. Dieses arme Pferd wird hier sehr traktiert. Das liegt wahrscheinlich an den Wahlen, die jetzt vor uns liegen. Aber gut, so ist nun einmal die Politik gerade dieser Parteien.
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Wir freuen uns aber über das Jubiläum „30 Jahre Fall der Berliner Mauer“. Nach 30 Jahren, die seit der Wiedervereinigung vergangen sind, muss ich feststellen, dass sich – das hat Eckhardt Rehberg sehr gut herausgearbeitet – vor allen Dingen für die Menschen in den neuen Bundesländern viel getan hat, dass viele Träume und Erwartungen erfüllt wurden.
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Man muss aber auch sagen: Es gibt leider auch die andere Seite, die ich jetzt ansprechen will. Seit 15 Jahren bin ich ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Milda. Das heißt, ich bin politisch sehr nah am Bürger dran. Viele Menschen in Ostdeutschland mussten hart dafür kämpfen, den Systemwechsel und den wirtschaftlichen Wandel erfolgreich zu meistern. Auch der Übergang in den verdienten Ruhestand gestaltet sich zum Teil schwierig und bedeutet nicht immer eine finanzielle Absicherung im Alter. Die Menschen in Ostdeutschland müssen im Alter vernünftig abgesichert sein – da sind wir uns hier alle einig –, gerade weil die Umstände auf dem Arbeitsmarkt nach der Wende äußerst schwierig und die Herausforderungen vielfältig waren.
Im Renten-Überleitungsgesetz wurden 1991 die in der DDR erworbenen Anwartschaften auf das westdeutsche Altersversorgungsystem übertragen. Auch das hat Eckhardt Rehberg gut herausgearbeitet. Trotzdem müssen wir heute leider feststellen, dass manche Regelungen für einige betroffene Gruppen von Nachteil sind. Das ist aber keine Feststellung, die ich heute treffe, sondern diese Feststellung wurde schon vor vielen Jahren getroffen. Auch in den Zeiten der rot-grünen Regierung wurde da nichts getan.
Zu diesen Gruppen gehört auch die Gruppe der in der DDR geschiedenen Frauen. Anders als im westlichen Teil Deutschlands, wo es seit 1977 einen Versorgungsausgleich gibt, wurden ihnen die Kindererziehungszeiten nicht ausgeglichen. Bei der Überleitung in das westdeutsche Rentensystem wurde ihre individuelle Situation nicht ausreichend berücksichtigt. Heute verfügen viele von ihnen im Alter über eine zu geringe Rente, und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben fällt ihnen schwer. Es fehlt Geld für einen kleinen Urlaub, für kleine Geschenke für die Enkelkinder und auch für Theaterbesuche; dafür reicht bei vielen die Rente nicht aus. Da müssen wir etwas tun.
Seit meiner ersten Legislaturperiode als Mitglied des Deutschen Bundestages mache ich mich gerade auch für diese Gruppe stark. Wir stehen in einem engen Austausch. Ich bedanke mich an der Stelle sehr für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Für mich stehen die Sorgen und der berechtigte Wunsch der Betroffenen nach Anerkennung für die geleistete Arbeit im Vordergrund. Deshalb habe ich mich bereits in den Koalitionsverhandlungen für den Härtefallfonds starkgemacht. Es ist uns gelungen, die Einrichtung des Härtefallfonds im Koalitionsvertrag festzuhalten. Jetzt geht es darum, diesen Fonds so schnell wie möglich auf den Weg zu bringen.
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Aus diesem Grund habe ich wiederholt Gespräche mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, mit seinem zuständigen Staatssekretär und vielen anderen geführt. Aktuell – darüber möchte ich mal aufklären – laufen sehr gute Abstimmungen auf der Arbeitsebene zur konkreten Ausgestaltung des Härtefallfonds. Wir benötigen im nächsten Schritt einen Haushaltstitel, der mit Mitteln untersetzt ist. Ich erwarte vom Arbeitsministerium, dass hier aufs Tempo gedrückt wird – das wird auch sicher geschehen –, damit wir keine wertvolle Zeit mehr verlieren und den Betroffenen noch zu Lebzeiten geholfen wird.
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Für den Herbst dieses Jahres plane ich Informationsveranstaltungen in meinem Thüringer Wahlkreis, um gemeinsam mit meiner Kollegin Frau Daniela Kolbe von der SPD über den aktuellen Stand zu berichten. Wir wollen das in Sachsen tun, wir wollen das in Thüringen tun. Wir wollen Fragen vor Ort beantworten.
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30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer müssen wir dafür sorgen, dass die Wunden der Wiedervereinigung gerade in Ostdeutschland endlich heilen. Wir werden anderen Parteien den Raum für Populismus nehmen; denn die Schwierigkeiten bei der deutschen Einheit auszunutzen und immer noch den Osten gegen den Westen auszuspielen, meine Damen und Herren, und auf diese Weise Ängste und Neid zu schüren, kann nicht der Weg sein; das kann nicht gut sein.
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Wir haben im Koalitionsvertrag die Weichen gestellt. Nun werden wir die Umsetzung des Härtefallfonds so schnell wie möglich abschließen. Ich bitte jeden hier im Haus, sich dabei sachlich und fachlich einzubringen und den Populismus beiseitezulegen.
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Für die AfD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Jürgen Pohl.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Sehr geehrte Ost- und Mitteldeutsche! Es freut mich, dass wir hier heute einmal über die Wertschätzung der Lebensleistung von Ostrentnern reden; denn das Thema ist wichtig, und zwar nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen. Warum? Fast 30 Jahre nach der Einheit ist eine Debatte zum Thema Ostrenten immer noch eine Debatte über Diskriminierung, Missachtung und Altersarmut, und das ist traurig.
({0})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die hier schon länger sind, sind mitverantwortlich, dass ein Teil meiner Landsleute immer noch zum Sozialamt gehen muss, um irgendwie über die Runden zu kommen. Das ist entwürdigend.
({1})
Das führt mich gleich zu meinen Fragen dazu, was Die Linke heute treibt. Hat Die Linke keinen Ostdeutschen mehr, der die Nöte der ostdeutschen Landesgruppen, der ostdeutschen Mitglieder glaubhaft darstellen kann? Müssen Sie einen eingebürgerten Westdeutschen hierher einfliegen?
({2})
Wenn Sie es nicht wissen, dann sage ich Ihnen: Herr Ramelow hält seit Jahren fromme Reden – so wie heute –,
({3})
hat aber nichts für die ostdeutschen Landsleute getan, die er vormals hier vertreten wollte.
({4})
Und wenn Sie hier wieder anfangen, zu pöbeln, dann ist das der Stalin’sche Geist, dann sind das die Stalin’schen Gedächtnislücken.
({5})
Sie haben den Osten gegen die Wand gefahren. Ihre Partei hat die Treuhand gegründet.
({6})
Wir kommen zur Sache. In den kommenden Jahren, Herr Rehberg, steigt die Zahl der Ostrentner, die mit der Wiedervereinigung ihre Arbeit verloren haben. Die Älteren im Saal werden das wissen: Die Treuhand hat diese Arbeitnehmer als Ballast empfunden und einfach entsorgt, um besser und leichter die Grundstücke verkaufen, veräußern zu können. Wer damals im Alter in der Arbeitslosigkeit gestrandet ist, der war dreimal bestraft: Der war arbeitslos, der konnte keine Betriebsrente kriegen, und der konnte keine betriebliche oder private Altersvorsorge treffen.
({7})
– Ich weiß das besser als Sie: Ich bin Ostdeutscher, Sie sind Westdeutscher.
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Ich sage Ihnen eines:
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Damals wurden im Rahmen der Wiedervereinigung die ostdeutschen Rentensysteme bewertet, und alles, was dem westdeutschen System fremd war oder man den Ostdeutschen nicht geben wollte, wurde einfach gestrichen. Sonder- und Zusatzversorgungssysteme gingen einfach in den Orkus. Herr Kollege Rehberg, warum bekommt ein westdeutscher Reichsbahner
({10})
im Westen eine Zusatzversorgung und ein Eisenbahner im Osten nicht? Warum streichen Sie ihm die Zusatzversorgung? Der Kollege aus dem Westen kriegt sie.
({11})
– Na ja, das ist ein westdeutscher Bundesbahner. Das ist aber hochgradig intelligent.
({12})
Hier drängt sich der Eindruck auf – Herr Präsident, der letzte Satz –, dass bei der Rente systematisch nach Herkunft und Geschlecht diskriminiert wird. Wenn Sie also nicht zu einer Spaltung beitragen wollen – denken Sie daran: Ihre Wähler schauen zu –
({13})
und wenn Sie eine Spaltung in Ost und West und in Arm und Reich vermeiden wollen, dann sollten Sie aktiv an der Wiedervereinigung mitarbeiten. Die Menschen im Osten sind keine Menschen zweiter Klasse.
({14})
Sie haben genauso hart gearbeitet wie die Menschen im Westen, wenn nicht sogar härter. Sie mussten noch das politische System ertragen. Ich sage Ihnen: Die AfD als neue Volkspartei wird sich weiter für diese Bürger einsetzen.
Danke schön. Jetzt können Sie diskutieren.
({15})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Ralf Kapschack.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich würde gerne wieder zur Sache reden; denn ich glaube, Pöbeleien helfen bei diesem Thema nicht weiter.
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Wir feiern in diesem Jahr den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ohne die Fantasie, den Mut und die Durchsetzungskraft vieler Frauen und Männer in der DDR wäre das nicht möglich gewesen. Ich glaube, das kann man nicht oft genug sagen. Es war für viele eine dramatische Veränderung in ihrem Leben. Vieles hat sich für sie zum Besseren gewendet, aber es ist auch Sicherheit verloren gegangen. Wir sollten uns in Erinnerung rufen – das ist schon angesprochen worden –, dass es mit der Wiedervereinigung gewaltige Umwälzungen gegeben hat, die in kürzester Zeit stattgefunden haben. Es war eine enorme Leistung, wie schnell und im Grunde auch effektiv eine Überleitung in die bundesdeutschen Sozialsysteme funktioniert hat, sicherlich mit Kompromissen auf beiden Seiten und nicht immer mit einem für alle befriedigenden Ergebnis. Deshalb ist klar – darüber reden wir ja heute –, dass es Härten und persönlich empfundene Ungerechtigkeiten bei der Rentenüberleitung von dem System der DDR in das Rentensystem der Bundesrepublik gab. Trotzdem muss man sagen – Kollege Rehberg hat darauf hingewiesen –, dass in den neuen Bundesländern die gezahlten Renten im Schnitt höher sind als im Westen. Das hat nicht zuletzt etwas mit der Erwerbsbeteiligung von Frauen vor der Wende zu tun.
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Klar ist: Das sind Durchschnittszahlen. Eine ganze Reihe von Frauen und Männern bezieht allerdings trotz Arbeit und geleisteter Beiträge Grundsicherung im Alter oder liegt deutlich hinter den gezahlten Renten in Westdeutschland zurück – bei gleicher Berufsbiografie. Menschlich ist es sehr gut nachvollziehbar, dass Rentnerinnen und Rentner für Sonderregelungen, Angleichungen streiten, so wie es auch in den diskutierten Anträgen und Beschlussempfehlungen deutlich wird.
Ich bin Mitglied des Petitionsausschusses. Wir bekommen regelmäßig Petitionen von Frauen und Männern, die die Konsequenzen der Rentenüberleitung von Ost nach West für sich persönlich sehr nachvollziehbar für ungerecht halten. Ob es die eben angesprochene Problematik des Versorgungsausgleichs ist oder zum Beispiel die Überführung der Rentenansprüche ehemaliger Beschäftigter der DDR-Post in die gesetzliche Rentenversicherung oder die Berücksichtigung von Zeiten im Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz: An diesen Beispielen wird schon deutlich, wie unterschiedlich die Alterssicherung in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik war. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne hier Entscheidungen, die vor fast 30 Jahren getroffen worden sind, für alle Gruppen rückgängig machen, die sich ungerecht behandelt fühlen.
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Es ist schwer vermittelbar, dass Leistungen aus einem System, das es in dieser Form nicht mehr gibt, aufrechterhalten werden sollen. Es ist angesprochen worden, und wir meinen es ernst: Wir wollen den im Koalitionsvertrag vereinbarten Fonds einrichten, der Härtefälle im Zuge der Rentenüberleitung abmildern soll. Aber natürlich müssen wir trotzdem gucken, wie wir die Situation grundsätzlich verbessern können. Und wir haben einiges gemacht in der Rentenpolitik; darüber haben wir hier teilweise ja auch sehr intensiv und sehr kontrovers diskutiert. Mit der Rentenangleichung Ost-West, die bereits beschlossen ist, sind wir auf dem richtigen Weg.
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Auch in den ostdeutschen Bundesländern wird die Grundrente für höhere Renten sorgen. Wir stabilisieren das Rentenniveau und den Beitragssatz. Wir haben Verbesserungen bei der Mütterrente und den Erwerbsminderungsrenten auf die Schiene gesetzt. Das kommt allen zugute, in West wie in Ost.
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Klar ist natürlich: Die im Vergleich zum Westen oft immer noch niedrigeren Löhne, die geringe Tarifbindung von Unternehmen hinterlassen Spuren. Nicht alles, was im Erwerbsleben schiefgelaufen ist, lässt sich mit der Rente reparieren.
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Und dennoch – darüber wird aktuell zu Recht sehr viel diskutiert – können wir nicht sagen: Ihr habt einfach Pech gehabt.
Die Grundrente, wie sie Hubertus Heil vorgeschlagen hat, ist ein geeignetes Instrument, um die Renten derjenigen aufzuwerten, die jahrzehntelang gearbeitet, aber unterdurchschnittlich verdient haben. Das ist Anerkennung von Lebensleistung, auch in diesem Zusammenhang, und kein Almosen.
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Wer viele Jahre gearbeitet, Kinder erzogen und/oder Angehörige gepflegt hat, der soll im Alter bei niedrigen Renten bessergestellt werden als bisher. Davon würden nicht zuletzt Frauen und Männer in den ostdeutschen Bundesländern profitieren, nicht nur zukünftige Rentnerinnen und Rentner, sondern auch diejenigen, die schon in Rente sind und durch die Rentenüberleitung nicht den angemessenen Lohn für ihre Lebensleistung bekommen.
Bei der Ausgestaltung der Grundrente müssen wir versuchen, möglichst viele Menschen einzubeziehen, die aufgrund ihrer Ostbiografie, zum Beispiel durch sehr niedrige Löhne, trotz langer Vollzeitbeschäftigung in der Grundsicherung gelandet sind. Ich bin da guter Dinge, dass das auch gelingt. Der Arbeits- und Sozialminister wird demnächst ein Maßnahmenpaket vorstellen mit dem Kern der Grundrente, ergänzt um Freibeträge in der Grundsicherung und eine Reform des Wohngelds. Das ist ein Paket, das nicht nur, aber gerade auch in den ostdeutschen Bundesländern wirken wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner: der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten zahlreiche Anträge, mit denen die Altersversorgung bestimmter Personengruppen mit DDR-Erwerbsbiografien verbessert werden soll. Zunächst, glaube ich, muss man festhalten, dass die Überleitung des DDR-Alterssicherungssystems in das umlagefinanzierte Rentensystem der Bundesrepublik Deutschland eine großartige Leistung war und ganz erheblich zum sozialen Frieden in unserer Gesellschaft und auch zur sozialen Absicherung der allermeisten Rentnerinnen und Rentner aus der DDR beigetragen hat.
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Dass die Wiedervereinigung im Allgemeinen und das Rentenüberleitungsverfahren im Besonderen natürlich nicht alle Erwartungen hat erfüllen können, das ist, glaube ich, jedem klar. Pauschal aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, von einer Demütigung der Ostdeutschen zu sprechen, wie Sie es in einem Ihrer Anträge tun, das ist unerträglich und zielt letztlich auf eine Spaltung dieser Gesellschaft, und das lehnen wir ab.
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Herr Ramelow, Sie führen die geschiedenen Rentnerinnen ohne Versorgungsausgleich an. Hinter dem Rotkäppchenkostüm bleibt aber der Wolf nicht verborgen. In einem Ihrer Anträge ist nämlich zu lesen, dass „alle in der DDR erworbenen Ansprüche gerecht“ anerkannt werden sollen. Was Sie der Öffentlichkeit nicht explizit sagen, aber damit gemeint ist, ist, dass Sie auch den DDR-Funktionärinnen und DDR-Funktionären im SED-Politbüro und anderen, denen im DDR-System eine höhere Rente zugesprochen worden war, eine höhere Rente zusprechen wollen. Das ist nicht in Ordnung, und da schauen wir ganz genau hin.
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– Herr Bartsch, ich habe es genau gesehen: Als der Kollege Vogel die Wiedervereinigung als ein Geschenk bezeichnet hat, hat sich keine Hand in Ihren Reihen zum Applaus geregt.
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Sie sollten noch einmal in sich gehen und Ihr Verhältnis zur DDR-Geschichte in den eigenen Reihen bearbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir vonseiten der FDP sehen, dass durch den Rentenüberleitungsprozess, so wie er verlaufen ist, an der einen oder anderen Stelle soziale Härten entstanden sind, und sagen: Das müssen wir angehen. Die Große Koalition hat das in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen. Wir werden Sie an Ihren Worten messen. Sie haben für diese Härtefälle eine Fondslösung angekündigt. Wir hoffen, dass Sie damit bald über die Rampe kommen.
Vielen Dank.
({4})
Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Stephan Stracke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist inzwischen länger vereint, als Mauer und Stacheldraht es getrennt haben. In diesem Jahr feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls.
({0})
Das sollte uns allen ins Bewusstsein rufen, dass Ostdeutschland aus dem langen Schatten der DDR-Vergangenheit herausgetreten ist, auch beim Thema Rente.
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Der aktuelle Rentenwert Ost ist seit 1991 von 10,79 Euro auf 31,89 Euro angestiegen und hat sich damit verdreifacht. Das Verhältnis zwischen den aktuellen Rentenwerten Ost und West ist in diesem Zeitraum von rund 51 Prozent auf 96,5 Prozent angestiegen. Mit anderen Worten: Die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern sind die Gewinner der deutschen Einheit. Das ist eine riesige gesamtdeutsche Leistung, auf die wir stolz sein können, weil es an dieser Stelle auch eine gesamtdeutsche Solidarität gab. Deswegen lassen wir es nicht zu, dass hier getrennt wird. Es ist eine gesamtdeutsche Leistung, etwas wirklich Großartiges in diesem Bereich.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat vor knapp zwei Jahren das Gesetz über den Abschluss der Rentenüberleitung beschlossen. Mit diesem Gesetz werden die Rentenwerte Ost schrittweise bis 2024 an die Rentenwerte West angeglichen. Damit haben wir die Voraussetzung geschaffen, die zentrale rechtliche und sozialpolitische Anpassung in Ost und West zu vollenden. Mit der Rentenangleichung haben wir einen offenen Punkt bereinigt, der vielen Menschen in Ostdeutschland zu Recht außerordentlich wichtig war.
Die Menschen in den neuen Bundesländern haben sich Freiheit und Demokratie in der friedlichen Revolution selbst erkämpft. Für sie war der Vereinigungsprozess mit vielen gesellschaftlichen Umbrüchen und persönlichen Einschnitten verbunden. Ich weiß um die Enttäuschungen vieler Menschen, dass wegen der unterschiedlichen Organisation der DDR-Sozialversicherung bestimmte Besonderheiten des DDR-Rentenrechts keinen Einzug in das gesamtdeutsche Rentenrecht gefunden haben; in den Anträgen, über die wir heute beraten, sind einige Fallkonstellationen benannt. Aus diesem Grund haben wir uns in den Koalitionsverhandlungen vorgenommen, die Fälle noch einmal anzuschauen. Wir streben keine rentenrechtliche Lösung an, die in der Vergangenheit mit guten Gründen abgelehnt wurde und auch gescheitert ist. Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, für Härtefälle in der Grundsicherung einen Ausgleich durch eine Fondslösung zu schaffen. Das bedeutet eine gezielte Verbesserung für Menschen, die es finanziell nötig haben, keine Besserstellung für alle. Auf diese Weise setzen wir gezielt darauf, Altersarmut zu vermeiden.
Dies ist auch der rote Faden, der uns beim Thema Grundrente bewegt. Lebensleistung wollen wir belohnen; aber wir reichen nicht gleichzeitig die Hand dazu, die Rentenkassen zu plündern und Gelder mit der Gießkanne zu verteilen. Nein, es muss auf den Bedarf ankommen und eine gezielte Verbesserung für diejenigen sein, die es tatsächlich nötig haben.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Zusammenhang mit der Fondslösung wird das Rentenüberleitungsrecht nur ein Teil der Lösung sein. Wir wollen dies auch für die Gruppe der Spätaussiedler und der jüdischen Kontingentflüchtlinge prüfen. So haben wir es im Koalitionsvertrag ausdrücklich verabredet. Über Lösungswege zur Alterssicherung bezüglich jüdischer Kontingentflüchtlinge haben wir bereits im Deutschen Bundestag debattiert. Die Beseitigung von Nachteilen deutscher Spätaussiedler bei der gesetzlichen Rente haben wir uns als CDU/CSU besonders auf die Fahnen geschrieben. Mit dem früheren Fraktionskollegen und heutigen Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Bernd Fabritius, haben wir da einen engagierten Kämpfer. Bei den Spätaussiedlern haben wir mit dem Fremdrentenrecht einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt. Deshalb wäre dort eine rentenrechtliche Lösung folgerichtig.
Wir sind, was diese Fragen angeht, in guten Gesprächen. Wir nehmen diejenigen in den Blick, meine sehr verehrten Damen und Herren, die es finanziell nötig haben. Wir setzen uns für gezielte Verbesserungen ein und verteilen nicht mit der Gießkanne. Der Härtefallfonds ist hier der beste und schnellste Weg für konkrete Verbesserungen.
Ein herzliches Dankeschön.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Monika Lazar.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Ministerpräsident! Ich finde es gut, dass wir heute wieder einmal über das Thema DDR-Rentenüberleitung und hier über spezielle Gruppen reden. Auch wir sagen: Ein großer Teil der Rentnerinnen und Rentner aus der DDR hat vom jetzigen System profitiert. Aber zur Detaillierung gehört natürlich, dass es einige Gruppen gibt, die benachteiligt sind.
Ich möchte mich jetzt zwei Gruppen widmen, zu denen wir entsprechende Anträge eingebracht haben. Das sind zum einen die in der DDR geschiedenen Frauen und zum anderen die Bergleute in der ehemaligen Braunkohleveredlung der DDR. Zu beiden Gruppen habe ich seit Jahren enge Kontakte; ich begleite sie. Wir müssen aber feststellen, dass für diese Gruppen noch keine Lösungen gefunden werden konnten.
Zu den in der DDR geschiedenen Frauen haben viele Rednerinnen und Redner schon etwas gesagt. Es sind nicht mehr viele Frauen, aber viele von ihnen sind von Armut betroffen. Deshalb ist es gerade für diese Gruppe wichtig, dass wir endlich eine Lösung finden. Wir schlagen vor, dass es einen rückwirkenden Versorgungsausgleich entsprechend der Regelung für die westdeutschen Frauen aus Steuermitteln geben soll.
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Es ist ja so, dass Vertreter dieser Gruppe schon bei verschiedenen Institutionen vorstellig gewesen sind, unter anderem auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch der Bundesrat hat sich mit dieser Gruppe beschäftigt und eine entsprechende Entschließung gefasst. Diese hat die Bundesregierung allerdings nicht aufgegriffen.
Für die Rentner aus der früheren Braunkohleveredlung verläuft die Grenze nicht nur zwischen Ost und West, sondern leider auch zeitlich. Für die gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen wurde eine Rentenzulage nach dem Einigungsvertrag nur zeitweise gewährt, und zwar für Rentnerinnen und Rentner, die bis 1996 in Rente gegangen sind. Sie bekommen diese Zulage; alle anderen, die ab 1997 in Rente gegangen sind, bekommen sie nicht. Wir sagen: Das ist nicht nachzuvollziehen. Das ist unsystematisch und unfair. Deshalb schlagen wir vor, dass dies abgestellt wird.
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Auch bei dieser Rentnergruppe geht es um eine kleine Gruppe. Leider sind schon viele verstorben. Aktuell sind es noch 381 Bergleute aus Borna und Espenhain im Süden von Leipzig, die weiter sehr enthusiastisch kämpfen.
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Dies fordern wir in unseren beiden Anträgen und geben wir der Koalition als Empfehlung mit. Wir haben ja schon von einigen Rednerinnen und Rednern der Koalition gehört, dass der Härtefallfonds jetzt endlich kommt. Wir sagen: Das reicht nicht, wäre aber für die betroffenen Rentengruppen sehr wichtig. Wir würden natürlich weiter unterstützend tätig sein. Wichtig ist nur, dass die Lösungen in dieser Wahlperiode kommen. Ansonsten sind die Leute irgendwann zu alt, und das kann nicht in unser aller Interesse sein.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diejenigen, die mit diesem Thema noch nie zu tun hatten – vielleicht einige von Ihnen als Zuhörer oder Zuschauer hier im Raum –, haben wahrscheinlich gemerkt, wie umstritten das Thema zwischen den Lagern ist, wie komplex und herausfordernd die Situation. Tatsächlich haben wir es noch mit Verwerfungen und Ungerechtigkeiten, die wir auch konstatieren, zu tun. Allerdings – das haben dankenswerterweise auch einige gesagt – sind wir auch sehr dankbar für das, was damals bei der Rentenüberleitung geleistet wurde; denn man hatte zu der Zeit keine Copy-and-paste-Vorlage dafür, wie so etwas überhaupt funktionieren könnte. Für das, was dabei herauskam, bin ich sehr dankbar.
Ich will es noch mal kurz erklären – ich bin ja der letzte Redner und darf es deshalb ein bisschen zusammenfassen –: Es gab in der DDR und der BRD sehr unterschiedliche Versorgungssysteme. Die Berechnung der Leistungen erfolgte grundlegend anders. Das DDR-Rentensystem war ein Grundversorgungssystem mit festen Altersgrenzen, das nur in geringem Maß an den jeweiligen Entgelten orientiert war. Man bekam 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens als Rente ausbezahlt. Wenn man heute darüber nachdenken würde, gäbe es aber Aufruhr! Das Ende der DDR war nicht absehbar. Das Vertrauen der Menschen in das damalige soziale Versprechen der DDR ist somit nachvollziehbar. Auch Geringverdiener konnten eine Rente nahe der Durchschnittsrente bekommen.
Die Versicherungszeiten, die damals erworben worden waren, wurden zum Stichtag 1. Januar 1992 – das wurde vorhin gesagt – in das deutsche Rentenversicherungssystem überführt. Das Renten-Überleitungsgesetz sollte dafür sorgen, dass die Rente nach gleichen Grundsätzen berechnet wird. Wir alle haben die Zahlen dazu von verschiedenen Seiten gehört. Die 27 Zusatz- und vier Versorgungssysteme der damaligen DDR wurden über das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz in die Rentenversicherung überführt.
Sie haben in Ihren Anträgen die Herausforderungen benannt; es sind die zwei genannten Gruppen. Da werden die DDR-Renten als Ganzes angesprochen, auch die Einmalzahlungen und die DDR-Prämien, die gemäß den Forderungen von Linken und AfD berücksichtigt werden sollten. Ein kurzes Beispiel für die Komplexität: Die DDR-Sozialversicherung, die anders organisiert war, war wegen der Besonderheiten des DDR-Rechts nicht einfach in das gesamtdeutsche Recht zu überführen; die Puzzleteile waren nicht so geschnitten. Die Aufnahme dieser Besonderheiten in das von mir gerade genannte AAÜG würde die Systematik brechen. Die Folge wäre kein Rechtsfrieden, sondern weitere Verwerfungen und Ungerechtigkeiten. Darin besteht die Herausforderung. Wir erkennen an, dass es da Verwerfungen gibt. Einmalzahlungen, wie etwa Jahresendprämien, waren damals nicht beitragspflichtig. Wenn wir sie jetzt nachträglich als sozialversicherungspflichtigen Verdienst anerkennen würden und damit nicht beitragspflichtige Einnahmen mit beitragspflichtigen Einnahmen gleichstellen würden, dann wäre das systemwidrig und rechtlich nicht haltbar.
Dann sind da die Härtefallgruppen, über die schon viel gesagt wurde. Frau Kollegin, Sie haben sie gerade genannt. Die Kollegen Weiler und Kapschack haben gesagt, dass dafür ein Fonds in der Mache ist. Selbst unser Kollege von der FDP, Herr Vogel, hat gesagt, das sei der richtige Weg, er solle dann aber auch kommen.
({0})
Sie haben von „kraftvoll anpacken“ gesprochen, Herr Ministerpräsident. Ich glaube, kraftvolles Anpacken muss nicht mit Schnelligkeit einhergehen;
({1})
denn es muss durchdacht, nachhaltig und rechtssicher sein.
Als Letztes will ich auf die Forderungen eingehen, ostdeutsche Bundesländer zu entlasten. Genau das steht nicht nur im Koalitionsvertrag; es ist auch in der Mache. Meine Kollegen sind schon darauf eingegangen.
Ich hatte gesagt, wie komplex die Materie ist. Wo stehen wir heute? Die Rentenüberleitung war eine großartige Leistung; dafür ist vorhin mehrfach Applaus gegeben worden. Letztlich ist es die größte sozialpolitische Leistung der deutschen Einheit, nicht nur, was den finanziellen Umfang angeht. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR war sehr gering. Manche meiner Kollegen haben vorhin gesagt, die Anwartschaften und Ansprüche aus den Sondersystemen hätten wahrscheinlich gar nicht ausgezahlt werden können. Mittlerweile haben die sogenannten Entgeltpunkte im Osten 95,8 Prozent des Westwertes erreicht. Erst Ende letzten Jahres wurden zudem große rentenversicherungsrechtliche Leistungsverbesserungen für alle, Ost wie West, beschlossen: Mütterrente, Erwerbsminderungsrente, Entlastung von Geringverdienern.
An einer Stelle möchte ich Sie bitten, sich in der Argumentation ehrlich zu machen, wenn Sie von der Rentenwertangleichung sprechen. Es gibt eine Untersuchung – ich kann sie Ihnen gerne zur Verfügung stellen –, in der Beispielsrenten in Ost und West berechnet werden. Wäre die Rentenwertangleichung bereits im Jahr 2005 eingeführt worden, würde ein ostdeutscher Beitragszahler, der dieses Jahr in die Rente eintritt, gegenüber dem rentenrechtlichen Status quo monatlich 54,26 Euro weniger bekommen,
({2})
weil beide Seiten, die Hochwertung Ost und die anderen rentenrechtlichen Veränderungen, berücksichtigt werden müssen. Die Mathematik zeigt – sagen Sie das bitte auch den Bürgern –, dass eine Angleichung nicht automatisch zu einer Erhöhung der Renten im Osten geführt hätte.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Heinrich. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7981, 19/9971, 19/9972 und 19/9949 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Prämien in Ost und West rentenrechtlich gleichstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/3056, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/858 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalition, FDP, AfD und Grüne. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Linken. Enthaltungen? – Keine. Dann ist die Beschlussempfehlung so angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Forderung der Vereinten Nationen zu den in der DDR geschiedenen Frauen sofort umsetzen“. Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1028 (neu), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/220 abzulehnen. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Das ist die Koalition. Gegenprobe! – Das sind AfD, Grüne, Linke. Enthaltungen?
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– Sie stimmen mit der Koalition. – Dann wurde die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses – Sammelübersicht 278 – auf Drucksache 19/9290. Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen des Hauses. Damit ist die Sammelübersicht 278 angenommen.
Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ostdeutsche Bundesländer von Aufwendungen für DDR-Renten entlasten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6152, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4614 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalition und die FDP. Dagegen? – Die Linke. Enthaltungen? – Grüne und AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Eine Lösung für die rentenrechtliche Situation der in der DDR geschiedenen Frauen schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1378, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/983 abzulehnen. Wer für diese Beschlussempfehlung ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Koalition und die FDP. Gegenprobe! – Grüne, AfD und Linke. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wussten Sie eigentlich, dass wir allein durch Steuer- und Finanzgesetze in dieser Legislaturperiode 520 Millionen Euro an Bürokratiemehrkosten eingeführt haben?
({0})
Hier wird zwar immer von Bürokratieabbau gesprochen, aber die Realität sieht ganz anders aus: Still ruht der See. Dabei überfordert überflüssige Bürokratie nicht nur die Beamten in der Verwaltung. Sie ist auch fatal für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen.
({1})
Hier belegt die Steuerbürokratie einen unrühmlichen Spitzenplatz; denn mehr als 43 Prozent der Gesamtheit der bürokratischen Belastungen bei uns liegen in der Steuerbürokratie. Das räumte jüngst der Bundeswirtschaftsminister in einem Interview ein.
Bürokratieabbau ist eine Daueraufgabe, auch für die Bundesregierung, allerdings in einem anderen Sinne: Sie verschiebt andauernd das Bürokratieentlastungsgesetz III. Diesem Bürokratieentlastungsgesetz – es ist eher ein Ankündigungsgesetz, wie ich finde – sind bereits zwei Bürokratieentlastungsgesetze vorangegangen, nur hat das leider niemand gemerkt.
({2})
Es gibt eine Bürokratiebremse: One in, one out.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist zu wenig;
({4})
denn so schaffen wir es nur, dass es nicht noch schlimmer wird. Wir geben uns dem Status quo hin. Besserungen werden dadurch nicht erreicht.
Und wenn wir bei der sogenannten Bürokratiebremse die Kosten nicht berücksichtigen, die über EU-Vorgaben bzw. über das Bundesverfassungsgericht kommen, können wir uns die Bremse gleich sparen.
({5})
Das muss sich ändern. Die Menschen interessieren sich nicht dafür, woher der Aufwand kommt – das ist ihnen völlig egal –, ob aus Berlin, aus Brüssel oder aus Karlsruhe.
({6})
Wichtig ist nur, dass die Bürokratie endlich weniger wird.
({7})
Wir stellen mit unserem vorliegenden Antrag einen bunten Strauß an Vorschlägen zur Diskussion; denn gerade im Steuerrecht – das führte ich aus – ist der Irrsinn ganz besonders groß. Warum muss beispielsweise ab dem Veranlagungszeitraum 2018 jeder Betreiber einer noch so kleinen Photovoltaikanlage einen zusätzlichen Vordruck ausfüllen? Warum befreit man Rentner, die ausschließlich Renteneinkünfte beziehen, nicht von der Pflicht, eine Steuererklärung abzugeben, wenn wir diesbezüglich einen automatisierten Datenaustausch haben?
({8})
Warum müssen bei der Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf der Einnahmenseite die Warmmieten und auf der Ausgabenseite sämtliche umlagefähigen Kosten angegeben werden? Und dass Finanzämter interne Mitteilungen immer noch per Post durch die Bundesrepublik schicken, das kann man, glaube ich, niemandem mehr erklären, insbesondere dann nicht, wenn man bedenkt, in welchem Umfang der Gesetzgeber von den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen zunehmend Digitalisierung erwartet.
({9})
Das alles und die zahlreichen anderen Vorschläge in unserem Antrag stehen für sich genommen sicherlich nicht für große Probleme; aber Kleinvieh macht auch Mist. Wir könnten aber zur Abwechslung mal ein Gesetz machen, das den Bürgerinnen und Bürgern, der Verwaltung und der Wirtschaft hilft und dabei so gut wie nichts kostet – nur vielleicht den einen oder anderen Überwindung.
Lassen Sie uns die überbordende Bürokratie aus dem Steuerrecht über Bord werfen, aber nicht irgendwann, nicht bald. Beginnen wir bitte jetzt!
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Uwe Feiler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau ist eines der zentralen Anliegen der CDU/CSU-Fraktion.
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Der vorliegende Antrag zeigt, dass nicht nur wir die Wichtigkeit dieses Themas als sehr hoch einschätzen. Deshalb, meine Damen und Herren von der FDP, vielen Dank für diese Debatte.
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Im vorliegenden Antrag sind die Erfolge der vergangenen Jahre formuliert. Vieles haben wir schon erreicht. Zwischen 2007 und 2012 konnten wir die Belastungen durch Informationspflichten unserer Unternehmen um ein Viertel senken. Mit der Bürokratiebremse im Jahr 2015 hat sich die Bundesregierung politisch verpflichtet, den Erfüllungsaufwand für unsere Unternehmen zu begrenzen. Zentraler Punkt war die Einführung der „One in, one out“-Regelung. Diese Regelung garantiert, dass bei Einführung neuer Belastungen gleichwertige bisherige Belastungen abgebaut werden. Dadurch wollen wir weiterhin politisch gewollte und erforderliche Maßnahmen umsetzen, zeitgleich aber den Anstieg von Belastungen dauerhaft begrenzen. Sollte der laufende Erfüllungsaufwand steigen, wird dieser Zuwachs dafür an anderer Stelle in gleichem Umfang kompensiert.
An Aktualität wird das Thema Bürokratieabbau nie verlieren. In der Zukunft können wir die ausgebaute Breitbandversorgung und Digitalisierung dafür nutzen, weitere steuerrechtliche und bürokratische Hürden abzubauen. Das bedeutet aber auch: Gigabitanschlüsse für alle Gewerbegebiete, ein Innovationsprogramm zur Digitalisierung des Mittelstandes, Bürokratieabbau unter anderem durch eine Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Vorgaben, eine Vereinheitlichung von Schwellenwerten und „One in, one out“ auch auf europäischer Ebene.
({2})
Ganz wichtig für mich ist dabei eine wirksame Unternehmensteuerreform, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.
({3})
Technik wird uns bei all dem helfen. Vorausgefüllte Steuererklärungen sollten der Normalfall und nicht mehr die Ausnahme sein. Auch kleine und mittlere Unternehmen müssen weiterhin von unnötiger Papierflut entlastet werden. Gründungen von Unternehmen dürfen nicht erschwert werden. Wir fördern die Gründungskultur in Deutschland, indem wir etwa im ersten Jahr der Gründung die Bürokratiebelastungen auf ein Mindestmaß reduzieren und die Bedingungen für Wagniskapital verbessern. Einheitliche Anlaufstellen, mehr Transparenz, digitale Kommunikation und dadurch auch kürzere Wege und geringere Wartezeiten sind die Mittel für einen optimalen Start in die Selbstständigkeit. Bestehende Unternehmen und Gründer müssen sich auf das konzentrieren können, was wirklich wichtig ist: ihr Geschäft, Innovationen, Arbeitsplätze und Ausbildung.
Das Erste Bürokratieentlastungsgesetz zielte vor allem auf Start-ups ab. Junge, schnell wachsende Unternehmen sollten entlastet werden. Das Entlastungsvolumen für die Wirtschaft beläuft sich dadurch auf etwa 704 Millionen Euro jährlich. Das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz aus dem Jahr 2017 entlastet insbesondere kleinere Betriebe mit zwei bis drei Mitarbeitern, zum Beispiel unsere Handwerksbetriebe. Schwerpunkt waren die Digitalisierung im Verwaltungsverfahren und im Handwerk. Das Konzept einheitlicher Ansprechpartner wurde begonnen. Informationen zu Gesetzen und Verordnungen können über Internetportale einheitlich abgerufen werden. Die Berechnung der Beiträge zur Sozialversicherung wurde ebenfalls vereinfacht. Das Entlastungsvolumen liegt bei mindestens 135 Millionen Euro im Jahr. Insgesamt bringen beide Gesetze eine Entlastung von rund 839 Millionen Euro jährlich. Das ist immerhin schon etwas, und wir arbeiten daran, dass das so weitergeht.
({4})
Wir wollen Bürokratie am liebsten verhindern, bevor sie überhaupt entstanden ist. Dafür ist es wichtig, in neuen Gesetzentwürfen auf diesen Aspekt hinzuwirken. Hierbei sind wir alle gefragt. Die Vereinbarung der „One in, one out“-Regelung muss weiter umgesetzt werden. Bevor wir zur Regelung „One in, two out“ übergehen, wie in Ihrem Antrag gefordert, halte ich es für wichtiger, die Ausnahmen im Bereich der Umsetzung von EU-Recht zu überwinden.
Die Koalition ist mitten in den Verhandlungen zum Bürokratieentlastungsgesetz III. Viele Maßnahmen sind bereits in der Planung. Hier gilt es, die Ergebnisse abzuwarten. Vieles, was von der FDP vorgeschlagen wird, findet sich in einem von mir gefertigten Positionspapier wieder. Daher denke ich, dass Ihre Fraktion ein großer Unterstützer des Entwurfs des Bürokratieentlastungsgesetzes III sein wird.
({5})
Durch Entlastungen werden wir Freiräume für das Unternehmerkerngeschäft und neue Investitionen schaffen. Statistikpflichten wollen wir weiter verringern. Die Grenz- und Schwellenwerte in verschiedenen Rechtsbereichen werden wir vereinheitlichen. Handels- und steuerrechtliche Vorschriften werden wir harmonisieren. Zeitnahe Betriebsprüfungen durch die Finanzbehörden, die Vermeidung von Doppelmeldungen zur Berufsgenossenschaft, die Überprüfung von Schwellenwerten vor allem im Steuer- und Sozialrecht sowie Berichtspflichten und die Verwendungspflicht bestimmter Formulare, all das sind Punkte, die wir umsetzen werden.
Europäische Vorgaben werden wir nicht mit zusätzlichen bürokratischen Belastungen versehen. Deshalb stimmen wir beispielsweise einer grenzüberschreitenden Anzeigepflicht von Steuergestaltung zu, lehnen aber eine zusätzliche nationale Anzeigepflicht ab.
({6})
Wir werden uns bei der Europäischen Union für eine angemessene Abgrenzung für kleine und mittlere Unternehmen einsetzen, die zukünftig bis zu 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfassen sollen, damit mehr Unternehmen von europäischen Berichtspflichten entlastet werden. Verwaltungsmodernisierung und E-Government bergen enorme Potenziale, um die Bürokratiebelastung zu reduzieren und die Verfahren zu beschleunigen.
Bei all diesen Zielen ist aber eines zu beachten: Allein vom Anheben steuerlicher Pauschalen wird Bürokratie nicht abgebaut. Das mag zwar in dem einen oder anderen Fall helfen; aber damit wird nicht das grundsätzliche Problem bürokratischer Regelungen gelöst. Alles, was wir beschließen, muss mit dem Haushalt in Einklang stehen. Unter den aktuellen wirtschaftlichen Vorzeichen müssen alle Maßnahmen finanzierbar sein. Von der schwarzen Null rücken wir daher in keinem Fall ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Stefan Keuter von der AfD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Zuhörer! Liebe Gäste aus Niedersachsen auf der Tribüne! Wir beraten heute einen Antrag der FDP mit dem Titel „Steuerrecht vereinfachen – Bürokratie abbauen“. Das klingt schwungvoll, voller Elan. Sie haben bei solchen Anträgen grundsätzlich die volle Unterstützung der AfD. Wir setzen uns für die Rodung des Bürokratiedschungels ein und gegen den Wildwuchs im Steuerrecht.
({0})
Wir haben hier auch schon einige Anträge selbst eingebracht: zur Abschaffung des inzwischen verfassungswidrigen Solidaritätszuschlages und zur Grundsteuerabschaffung. Leider hat dieses Hohe Haus, haben Sie unsere Vorschläge so nicht mitgetragen.
Liebe FDP, wir schauen einmal zurück in die Jahre 2009 bis 2013. Sie wissen, was da war?
({1})
– Sie schauen nach vorne. Ja, ich weiß auch, warum. – Gut, ich beantworte Ihnen die Frage: Von 2009 bis 2013 hatten wir eine schwarz-gelbe Bundesregierung. Sie waren an der Regierung beteiligt. Aus dieser Zeit ist mir steuer- und finanzpolitisch nur eine Aktion von Ihnen in Erinnerung geblieben, und zwar ein Lobbygeschenk: die Senkung des Mehrwertsteuersatzes zugunsten der Hoteliers. Das hat zu einem Bürokratiezuwachs und zu einer deutlichen Verkomplizierung des Steuerrechts geführt. Hiermit haben Sie uns allen keinen Gefallen getan.
({2})
Sie sagten, Sie schauen lieber in die Zukunft. Das können wir sehr gerne tun. Thema Forschungsförderung: Was machen Sie hier? Sie wollen mit einzelnen Ausnahmetatbeständen arbeiten, wollen kleine Lobbygruppen bevorzugen.
({3})
Dafür sind wir nicht zu haben.
({4})
Wir gehen noch weiter zurück, ins Jahr 2005: Die CDU – jetzt kommen wir zu Ihnen – hatte damals einen ausgewiesenen Fachmann, Paul Kirchhof, Finanz- und Steuerrechtler. Er hatte eine echte Reform geplant. Er war damals Ihr designierter Finanzminister. Wer hat es verbockt? Die Bundeskanzlerin, die heute nicht da ist.
({5})
Sie ist mit einem gigantischen Umfragevorsprung in die Bundestagswahl gegangen. – Zur SPD kommen wir gleich noch.
({6})
Sie hat es gerade noch geschafft, sich mit einem hauchdünnen Vorsprung in die Große Koalition zu retten. Für eine echte Reform in Sachen Steuerrecht ist die SPD ja nicht zu haben. Dass das mit Paul Kirchhof nicht zu machen war, war auch klar. Insofern kamen von der CDU bzw. inzwischen der Großen Koalition keine großen Lösungen.
({7})
Wir reden hier ja Klartext:
({8})
Eine schwarze Null, einen ausgeglichenen Haushalt, hat es unter der Raute noch nie gegeben. Ich sage Ihnen auch, woran das liegt: Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, die noch eine Kameralistik haben und keine kaufmännische Rechnungslegung. Das heißt, der Werteverzehr, den wir auf über 25 Milliarden Euro jährlich schätzen, ist hier gar nicht abgebildet.
({9})
Das heißt, von der kaputten Brücke über die marode Infrastruktur bis hin zum nicht fliegenden Kampfjet – unsere Verteidigungsministerin ist heute auch nicht da; da denkt man: Freitag ab eins macht jeder seins auf der Regierungsbank –
({10})
findet der Werteverzehr keine Berücksichtigung.
({11})
Wir kommen zu den Staatsschulden. Deutschland hat 2 Billionen Euro Staatsschulden.
({12})
Hierfür zahlen wir 22 Milliarden Euro Zinsen. Hätten wir nicht diese künstlichen Niedrigzinsen, würde unser Haushalt hier implodieren.
Herr Herbrand, Sie haben eben gesagt, Sie haben einen großen Strauß eingebracht. Das mag so sein. Wir nennen diesen Strauß „Flickschusterwerk“, einen großen Wunschkatalog, aus dem sich jeder das raussuchen kann, was er möchte. Der bunte Strauß ist eher am nächsten Sonntag angebracht, Herr Herbrand, am Muttertag. – An dieser Stelle von uns zum Muttertag allen Müttern alles Gute!
({13})
Wir werden im Finanzausschuss Ihren bunten Strauß beraten, Herr Herbrand.
Vielen Dank an dieser Stelle und allen ein schönes Wochenende. Die Bundesregierung ist ja zu großen Teilen schon im Wochenende.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Wiebke Esdar.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihr Wirtschaftseinmaleins, werte Kolleginnen und Kollegen der FDP, greift aus unserer Sicht zu kurz.
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Auch der heute vorgelegte Antrag atmet leider den alten Geist: Hauptsache, die Steuern senken, Bürokratie abbauen und fertig.
In unseren Augen ist das aber nicht so einfach; denn zum Fundament einer starken Wirtschaft gehören auch gut ausgebildete Fachkräfte, eine funktionierende Infrastruktur und soziale Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und zu einer starken Wirtschaft gehört auch ein funktionierender Rechtsstaat, der Steuerbetrug und Steuerhinterziehung bekämpfen kann. Das, meine Damen und Herren, muss organisiert und auch finanziert werden.
Darum darf, erstens, die Gleichung nicht lauten: Weniger Steuereinnahmen führen zu weniger gut ausgebildeten Fachleuten oder zu schlechterer Infrastruktur oder zu weniger sozialer Sicherheit.
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Zweitens. Da niemand hier Steuerbetrug oder die Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder die Aushöhlung von Schutzrechten töfte findet, darf die Gleichung auch nicht lauten: Bürokratieabbau führt dazu, dass der Zoll, die Finanzämter oder auch die Justiz sagen müssen: Wir sehen das zwar, wir können aber leider nichts gegen den Missbrauch tun, weil uns die Nachweise fehlen.
Meine Damen und Herren, richtig ist, dass die Senkung der Bürokratiebelastung ein Teilaspekt für eine starke Wirtschaft ist. Das haben wir als Regierungskoalition aber auch fest im Griff.
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Mit dem Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau 2018“ hat das Kabinett bereits mehr als 50 Maßnahmen beschlossen. Dazu gehört zum Beispiel, dass das Prinzip „One in, one out“ gilt und dass wir uns dafür einsetzen, dass es auch in der EU eingeführt wird.
Wir fördern auch Gründungen in Deutschland, und wir senken die Bürokratiebelastung im ersten Jahr auf ein Minimum. Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen, dass es – das wurde in dieser Woche intensiv diskutiert – einen großen Steuerbetrug gibt, zum Beispiel über Umsatzsteuerkarusselle. Wenn wir sehen, wie hoch die kriminelle Energie dabei ist, dann müssen wir ehrlich sagen, dass dieser Betrug auch deswegen so gut funktioniert, weil es Firmen gibt, die kurzerhand gegründet wurden und nach einem Jahr schon wieder verschwunden sind. Auch das gehört, glaube ich, zu einer ehrlichen Debatte über Bürokratie.
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Sie wissen, dass das Bürokratieentlastungsgesetz III kommt; wir sind in der Ressortabstimmung. Darin werden wir umfassende Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft bündeln. Darüber werden wir dann gerne hier mit Ihnen debattieren.
Meine Damen und Herren, für uns und für die Bundesregierung ist Bürokratieabbau immer eine Vereinfachung unter Wahrung bestehender Schutzvorschriften. Es darf nicht zu einer Absenkung kommen.
Für Sie bedeuten Schutzvorschriften aber ganz offensichtlich vor allem lästige Kosten für Unternehmen. Diese Vermutung drängt sich mir zumindest auf, da man in Ihrem Antrag lesen kann, dass für Sie die Mindestlohndokumentationspflichten ein Negativbeispiel für bürokratische Auflagen sind. Ich sage Ihnen: Wenn Unternehmen den Mindestlohn unterlaufen, dann müssen wir das auch bestrafen können. Das ist sehr eindeutig. Dafür brauchen wir die Nachweise.
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Lassen Sie uns darum in den nächsten Wochen im Ausschuss über den bestmöglichen Bürokratieabbau diskutieren, Verfahren vereinfachen und auch gerne Vorgänge digitalisieren. Aber was wir als SPD sicher nicht zulassen werden, ist die Aushöhlung von Schutzvorschriften unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich fange lieber mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP an: Etwas ratlos macht mich der von Ihnen vorgelegte Antrag schon. Was um Gottes willen sollen wir mit diesem bunten Strauß von über 20 sehr unterschiedlich detaillierten Vorschlägen eigentlich anfangen?
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Weniger Bürokratie finde ich auch gut.
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Dann wären wir jetzt fertig.
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Die polemische Variante hätte irgendwie etwas mit einem wahllosen Sammelsurium zu tun. Aber gut, das schenke ich mir.
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Ich versuche es mal als Co-Serviceopposition mit ein paar praktischen Anmerkungen. Also, einzelne Vorschläge sind organisatorische Verbesserungen: rechtssichere, vollelektronische Abfragemöglichkeit der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer – das ist okay –, die Möglichkeit, Steuererklärungen im Unternehmen auch elektronisch freizuzeichnen. Kein Problem: Legen Sie einen Antrag vor! Wir stimmen zu.
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Der Grenzwert, ab dem sogenannte geringwertige Wirtschaftsgüter komplett gewinnmindernd verbucht werden können, wird ohnehin immer wieder angepasst. Rechnungen werden selbst von Kleinstunternehmen weitgehend mithilfe von Software erstellt. Weniger Pflichtangaben – es sind ohnehin nur eine Handvoll – sind nur in extrem wenigen Anwendungsfällen eine Erleichterung für irgendjemanden. Das scheint mir wenig relevant zu sein.
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Bei sehr vielen Ihrer Vorschläge läuft die Umsetzung aber nicht in erster Linie auf weniger Aufwand für die Unternehmen, sondern schlicht auf niedrigere Steuerzahlungen oder größere Chancen für Steuergestaltungen hinaus. Nehmen wir mal das mit den Betriebsprüfungen. Der Vorschlag, diese zeitnäher durchzuführen, ist okay. Das klingt zunächst völlig plausibel, läuft letztlich aber darauf hinaus, dass Steuererklärungen aus weiter zurückliegenden Jahren dann kaum mehr geprüft werden können.
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Wir alle wissen, dass die Finanzämter aufgrund ihrer viel zu dünnen Personaldecke schon heute mit den Betriebsprüfungen nicht hinterherkommen und – so könnte man munkeln – auch gar nicht hinterherkommen sollen. Mehr Personal für die Finanzämter fordert die FDP aber explizit nur für die Verbesserung der Servicequalität der Finanzämter im Erbschaftsteuermeldewesen. Das ist in Ordnung; da würden wir mitgehen. Ich werde nur den Verdacht nicht los, dass Sie die Steuerbetriebsprüfungen nicht ganz so im Sinne des Serviceauftrags der Finanzverwaltung sehen.
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Wir finden, dass das ein zentraler Dienst im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist.
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Zum Schluss will ich Ihnen noch – das finde ich jetzt wirklich schön – zu diesem wunderbaren Antragsformat, zu dieser Loseblattsammlung oder Antragsserie „Bürokratie abbauen“ gratulieren. Wir haben schon „Zollverfahren vereinfachen“ gehabt. Wir hatten schon das „Bürokratieentlastungsgesetz III“. Wir hatten schon einen Antrag zur nationalen Tourismusstrategie. Immer hieß es: „Bürokratie abbauen“. Das ist klasse.
Wenn mir eine wunderbare Idee einfallen würde, mit der man alle Probleme dieser Welt lösen könnte, würde ich sie gerne auch bei uns umsetzen. Die Enteignungsdebatte hat ja gerade begonnen. Vielleicht probiere ich es demnächst mal damit.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt seit fast zwei Jahren im Deutschen Bundestag. Ich weiß nicht, wie oft wir hier schon über geringwertige Wirtschaftsgüter gesprochen haben. Oft genug – so erinnere ich mich –, sodass irgendwie der Eindruck entsteht, es handele sich hier um eine hochkomplexe Angelegenheit von enormer Tragweite. Die Wahrheit ist: Die Anhebung der GWG-Grenze um 200 Euro – von 800 auf 1 000 Euro – ist nahezu unstrittig. Die Bedeutung für den Bundeshaushalt ist marginal. Wir reden hier über einen Zinseffekt.
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Die Frage ist: Wo liegt eigentlich das Problem? Das hat auch schon was mit der Koalition zu tun. Schon in der letzten GroKo konnten sich der Wirtschaftsminister – damals noch Herr Gabriel – und Finanzminister Schäuble nicht einigen. Man ist bei 410 Euro gestartet und wollte auf 1 000 Euro kommen. Am Ende ist man bei 800 Euro gelandet. Da hat die FDP natürlich schon recht; das ist ein guter Punkt. Wenn wir die Grenze auf 1 000 Euro anheben würden, könnten wir uns die komplizierten Poolabschreibungen sparen.
Mein Vorschlag wäre: Herr Wirtschaftsminister, Herr Finanzminister, schließen Sie sich mal zusammen in einen Raum ein, und wenn Sie sich auf die 1 000-Euro-Grenze geeinigt haben, dann kommen Sie raus! Das wäre ein klares Signal an die Unternehmen. Ich glaube, es wäre zumindest im Kleinen auch mal ein klares Signal der Handlungsfähigkeit, meine Damen und Herren.
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Nun zu den anderen Punkten der FDP, über die wir noch nicht so oft geredet haben. Viele Dinge sind richtig, zumindest mal diskussionswürdig, Herr Herbrand. An vielen Stellen finde ich Sie übrigens zu zaghaft, beispielsweise beim Thema Istbesteuerungsgrenze bei der Umsatzsteuer. Wir haben uns da auf eine Grenze von 2 Millionen Euro festgelegt, was die Umsatzsteuer angeht. Auch hier reden wir lediglich über einen Zinseffekt. Ich finde teilweise, in Zeiten, in denen wir über negative Bundesanleihen sprechen, können wir hier für Unternehmen und Selbstständige sehr konkret, sehr schnell und sehr einfach eine Bürokratieentlastung herbeiführen. Das unterstützen wir an dieser Stelle auch gerne.
Aber – jetzt kommt natürlich das Aber – eine Serviceopposition hat auch immer Konkurrenz; da lassen wir Sie nicht alleine. Ganz so einfach, wie Sie es sich an dieser Stelle machen, ist es dann auch wieder nicht. Manche Fristen, manche Anforderungen – das hat die Kollegin eben völlig richtig gesagt – haben natürlich ihre Notwendigkeit, beispielsweise um Steuerbetrug zu vermeiden. Wir haben gerade diese Woche – wieder einmal, muss man sagen – von einem großen Steuerraub gehört. Es geht um einen sogenannten Karussellbetrug bei der Umsatzsteuer. Dabei geht es um zweistellige Milliardenbeträge. Mit Blick auf die nach der gestrigen Steuerschätzung sinkenden Einnahmen geht es dabei um richtig viel Geld für den Bundeshaushalt. Dieses Geld können wir gut gebrauchen.
Das Coole an der Sache ist, dass dieses Problem relativ schnell zu lösen ist. Deutschland müsste nur dem sogenannten TNA-Verfahren auf europäischer Ebene beitreten. Das macht Deutschland aber nicht, und zwar aus Zögerlichkeit. Das sage nicht ich; das sagt der hessische CDU-Finanzminister, meine Damen und Herren.
Worauf ich hinauswill: Nicht jede Frist, nicht jede Datenerfassung ist sinnlos. Das kritisieren wir eben auch an Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sie wollen jetzt aus „One in, one out“ die Regelung „One in, two out“ machen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Grünen haben seit der Einführung der Bürokratiebremse immer sehr konkrete Bürokratieabbauziele und -pfade gefordert, aber eben nicht dogmatisch und nicht aus Prinzip. Man muss doch auch gerade nach der Finanzkrise anerkennen, dass ein funktionierender Staat Bürokratie und Regeln braucht,
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im 21. Jahrhundert am besten digital. Das sehen wir gerade am Datenchaos bei der Grundsteuer, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber nicht jede Änderung für Umweltschutz, nicht jede Änderung für Verbraucherschutz, nicht jede Änderung bei der Finanzmarktregulierung muss gleich doppelt kompensiert werden. Das klingt mir zu ideologisch. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir die Digitalisierung noch viel stärker nutzen, um Normen auf ihre Handhabbarkeit und ihre Notwendigkeit zu überprüfen, aber eben nicht dogmatisch, sondern mit Logik und mit Umsicht. Dann sind wir gerne mit dabei.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP richtet sich weniger auf Steuervereinfachung als vielmehr auf Vereinfachungen im Vollzug, also auf den Abbau von Bürokratie. Die Klage über ausufernde Bürokratie ist wohl so alt, wie es in Staaten Verwaltungen gibt.
Das soll keine Anmerkung sein, um den vorliegenden Antrag der FDP abzuwerten. Im Gegenteil: Vielmehr ist es unsere gemeinsame Aufgabe, Verwaltungsverfahren so auszugestalten, dass sie nicht zu einem unnötigen Zeit- und Kostenaufwand beim Steuerzahler führen.
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Das gilt selbstverständlich auch für das gesamte Steuerrecht. Wir müssen immer wieder prüfen, ob und welche Verfahren überflüssig geworden sind oder vereinfacht werden können.
Um es deutlich zu sagen: Die Entlastung von Firmen und Bürgern von Bürokratie ist für uns alle eine Daueraufgabe. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen werden durch Bürokratie unverhältnismäßig stark belastet. Das kostet dort Geld, und es kostet vor allem Zeit, die besser für den Betrieb eingesetzt werden könnte.
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Diese Entlastung ist die ursprüngliche Aufgabe. Deshalb muss der Grundsatz gelten: So viel Staat wie nötig, aber so wenig Bürokratie wie möglich.
Wir von CDU und CSU haben das bereits frühzeitig erkannt. Wir haben 2006 das erste Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht. 2017 folgte das zweite Bürokratieentlastungsgesetz. Wir haben einen Nationalen Normenkontrollrat eingerichtet. Und wir haben seit 2015 mit einer „One in, one out“-Regel die Ausuferung der Bürokratie eingedämmt. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
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Der Erfolg ist offensichtlich. Im Zeitraum von 2015 bis 2017 wurden neue bürokratische Belastungen in Höhe von 900 Millionen Euro erfasst. Dem standen aber im gleichen Zeitraum Entlastungen in Höhe von 2,8 Milliarden Euro gegenüber. Das ist die Wahrheit. So steht es auch im Bericht des Normenkontrollrats, meine Damen und Herren, und das muss heute hier deutlich werden.
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Leider können wir Bürokratiebegrenzung nur im eigenen Zuständigkeitsbereich durchsetzen. Auf die Europäische Union haben wir da etwas weniger Einfluss. Dabei sind es zunehmend EU-Verfahren, die die Klagen über Überbürokratisierung gerade in der Wirtschaft auslösen. Wenn man sich die Zahlen anschaut, wird deutlich: Von 2015 bis 2017 sind – so die Antwort der Bundesregierung – durch EU-Maßnahmen Mehrbelastungen in Höhe von 774 Millionen Euro entstanden. Hier ist der Handlungsbedarf unübersehbar.
Ein vergleichbares Gremium wie den Nationalen Normenkontrollrat in Deutschland wünsche ich mir deshalb auch für die Europäische Union.
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Denn darin liegt die Aufgabe: Ein bürokratisch schlankerer Staat ist leistungsfähiger – auch eine bürokratisch schlankere Europäische Union wäre leistungsfähiger – und kann sich stärker auf die Lösung seiner zentralen Aufgaben konzentrieren, statt seine Kräfte in überbordender Verwaltung zu zerreiben. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt das dritte Bürokratieentlastungsgesetz, das wir gegenwärtig vorbereiten, auf den Weg bringen. Da werden wir weitere gute Vorschläge machen. Wir werden auch Ihre Vorschläge, meine Damen und Herren von der FDP, aufnehmen und gemeinsam darüber beraten.
Die aktuelle Steuerschätzung zeigt, dass wir einen neuen Wachstumspakt brauchen, der neben Bürokratieabbau Innovation und Entlastung bei den Steuern umfasst. Dazu gehören auch Steuerentlastungen für Unternehmen, wo geboten und sinnvoll. Die Wirtschaft braucht ein positives Signal, unser Land höheres Wachstum. Wir brauchen Rückenwind, um gestärkt in die Zukunft zu gehen.
Entlastung muss es auch für die Bürger geben. Die vollständige Abschaffung des Soli und die Modernisierung des Unternehmensteuerrechts sind nach meiner Ansicht notwendiger denn je. Wir sind bei Bürokratieabbau und Steuervereinfachung gefragt und müssen uns auf den Weg machen. Deshalb wollen wir bei der Grundsteuerreform kein neues Bürokratiemonster schaffen. Das ist ein wesentlicher Punkt.
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Ich habe durchaus Verständnis für alle Vorschläge, die aus dem Bundesfinanzministerium kommen. Wir wollen aber nachprüfbare Berechnungen und simultandurchgeführte Prüfungen, was die Ergebnisse dieser Vorschläge angeht. Leider fehlen diese bis zum heutigen Tag. Alles, was wir bislang geprüft haben, führt zu mehr Bürokratie und dazu, dass niemand, der Grundsteuer zahlt – sei es der private Mieter, der gewerbliche Mieter oder der Eigentümer –, dieses Bürokratiemonster verstehen kann. Deswegen müssen wir eine solche Regelung ablehnen.
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Ich würde mich freuen, wenn sich unter dieser Voraussetzung alle Fraktionen aktiv in die Gesetzgebungsprozesse einbringen würden: beim dritten Bürokratieentlastungsgesetz, bei der Modernisierung des Unternehmensteuerrechts, bei der Grundsteuerreform und auch bei der Abschaffung des Soli.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Lothar Binding für die Fraktion der SPD.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Herbrand hat vorhin etwas Schönes gesagt: Im Moment sind Bürokratiemehrkosten in Höhe von 520 Millionen Euro in der Diskussion. – Insgesamt war es in den letzten Jahren natürlich viel mehr. Es wurden auch schon Belastungen in Höhe von 2 Milliarden Euro abgebaut. Was er nicht erwähnt hat, ist, wie viele Kosten durch Steuergestaltung entstehen.
Ich nenne als Beispiel nur die Big Four. Diese beschäftigen fast 1 Million Menschen und geben 150 Milliarden Euro für Beratung und Steuergestaltung aus. Was da für ein Einsparpotenzial besteht! Das ist gigantisch.
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Hier wird quasi der halbe Bundeshaushalt von den Big Four ausgegeben, also von PwC, KPMG, Deloitte und Ernst & Young. Das dortige Einsparpotenzial ist ungeheuer groß.
Hans Michelbach hat eben von Bürokratiemonstern gesprochen. Woher kommen die eigentlich? Also, meine Damen und Herren auf der Zuschauertribüne: Wir machen ein Gesetz, das vorschreibt, dass Sie, wenn Sie ein Grundstück kaufen, Grunderwerbsteuer zahlen müssen. Das sind 3 bis 6 Prozent. Nun gibt es andere Leute, die sagen: So dumm wie Sie dort oben auf den Zuschauerbänken sind wir nicht. Wir nehmen das Grundstück und überführen es in eine GmbH. Wir verkaufen also gar keine Grundstücke mehr, sondern GmbH-Anteile, und das steuerfrei. – Dann sind Sie die Dummen und die anderen die Schlauen. Es ist aber viel komplizierter. Sie werden das Grundstück von einer Stiftung kaufen lassen, von der Bank finanziert. Der Kapitalgeber gibt sein „mezzanines Geld“ dazu. Alles wird von den Mieteinnahmen bezahlt. Wenn sich der Geldgeber herauszieht, hat er Dividenden und Zinsen bekommen, und Sie sehen wieder dumm aus, weil Sie es bezahlt haben.
Die extrem komplizierte Gestaltung der Welt schafft also die Bürokratiemonster, weil sich 1 Million Menschen darum kümmern, es kompliziert zu machen.
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Die FDP spricht gern von Überbürokratisierung, Bürokratiemonstern usw. Sie will sogar die Dokumentationspflichten beim Mindestlohn abschaffen. Ehrlich gesagt, wenn ich jemanden beschäftige – vielleicht nicht nur zum Mindestlohn –: Wie soll ich ihn bezahlen, wenn ich nicht weiß, ob er dreieinhalb Stunden oder mehr gearbeitet hat? Würden Sie sagen: „Er hat so zwischen zwei und sieben Stunden gearbeitet; ich gebe ihm mein Geld“? Man muss schon aufschreiben, wie viel jemand arbeitet, oder?
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Max Weber hat etwas Schönes gemacht: Er hat die Vorteile der Bürokratie beschrieben. Das sind nämlich auch Merkmale einer legalen und rationalen Herrschaft. Das Gegenteil ist die Willkürherrschaft, die Diktatur. Manche verweisen immer auf China, weil dort alles angeblich schneller und unbürokratischer geht. Natürlich, der Brandschutz ist dort nicht so wichtig und auch nicht so kompliziert. Die Bürgerrechte? Wenn ein Dorf im Weg ist, wird es weggeräumt, damit die Straße gebaut werden kann. Alles kein Problem: Easy-going und ohne Bürokratie! Aber nicht mit uns!
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Übrigens ist der Antrag richtig klug. Darin fordern Sie, unnötige Bürokratie abzubauen. Das wollen wir auch. Was unnötig ist, kann sowieso weg, weil es nicht nötig ist.
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Das erklärt sich von selbst.
Sie sagen weiter, der Grund für die überbordende Bürokratie ist – darin stimme ich Ihnen halb zu – die Einzelfallgerechtigkeit, die wir anstreben. Aber wehe, wir pauschalieren! Wenn wir pauschalieren, dann gibt es bestimmt einen Abgeordneten im Haus, der für seinen Bürger nachrechnet und dann sagt: Der muss einen Groschen mehr zahlen. Pauschalierung ist ganz böse! – Nein, Pauschalierung brauchen wir. Dann muss der eine ein bisschen mehr und der andere ein bisschen weniger zahlen; das nächste Mal ist es umgekehrt. Insgesamt ist das gerecht.
Übrigens hat die FDP sogar den Vorschlag gemacht, für einzelne Branchen – nicht nur Einzelfallgerechtigkeit! – Regelungen zu schaffen. Stellen Sie sich vor, wir würden die Idee, für eine einzelne Branche etwas zu tun, weiterentwickeln und diesen Weg fortsetzen. Dann müssten wir für jede Branche ein einzelnes Gesetz machen.
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Sie erinnern sich sicherlich – eigentlich will ich das gar nicht erwähnen –: 2015 Bürokratiebremse, 2017 Bürokratieentlastungsgesetz. Das enthält alles, was man braucht. Bei der Regelung zur Kleinbetragsrechnung wurde die Grenze von 150 auf 250 Euro angehoben. Sie wollen das jetzt auf 400 Euro erhöhen; die Idee gab es aber schon. Die Schwelle für die Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter haben wir von 400 auf 800 Euro angehoben. Sicherlich haben wir auch irgendwann 1 000 Euro als Grenze im Blick.
Insgesamt will ich ehrlich sagen: Ihr Antrag ist nicht schlecht, aber überflüssig.
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Immerhin punktgenau geendet. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9922 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. – Damit sind Sie, wie ich sehe, alle einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns gefreut, als Wirtschaftsminister Altmaier vor wenigen Wochen seine Industriestrategie vorgestellt hat. Wir haben uns gefreut, weil wir als Grüne, insbesondere meine Kollegin Kerstin Andreae, schon seit Monaten von Ihnen als Regierungsfraktionen und von der Bundesregierung gefordert hatten, eine Industriestrategie – allerdings für Europa – vorzulegen.
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Eine solche Industriestrategie braucht es nicht nur wegen der aggressiven Handelspolitik der USA. Eine solche Industriestrategie braucht es nicht nur, weil die chinesische Seidenstraße mittlerweile mitten in Europa angekommen ist. Beides sind große Herausforderungen, für die wir eine Industriestrategie brauchen. Aber: Eine europäische Industriestrategie braucht es auch für Europa grundsätzlich und aus sich selbst heraus.
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Diese Aussage fehlt ein bisschen in Ihrem Vorschlag.
Was heißt eigentlich Industriestrategie? Industriestrategie heißt, dass der Staat sich eben nicht aus der Wirtschaft heraushält, sondern dass er Spielregeln bestimmt und eine Richtung vorgibt.
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Das ist schlichtweg nicht weniger als unser Job als Wirtschaftspolitikerinnen und -politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber als wir das Deckblatt von Peter Altmaiers „Nationaler Industriestrategie 2030“ gesehen haben, haben wir aufgehört, uns zu freuen. Denn ausgerechnet das, was eine Industriestrategie ausmacht, nämlich eine Richtung vorzugeben und Spielregeln zu bestimmen, steht da nicht drin. Zum Beispiel beim Thema Klimaschutz, die Jahrhundertaufgabe für Wirtschaft und Gesellschaft: Dazu fällt Ihnen in Ihrer Industriestrategie gar nichts ein. Schlimmer noch: Umweltschutz, Klimaschutz, Energiewende und sogar die Sozialpolitik tauchen in Peter Altmaiers Industriestrategie nur als Wettbewerbsnachteile und Kostenfaktoren auf.
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Ich frage Sie ganz ehrlich: In welche Richtung wollen Sie Europa eigentlich steuern? Wie weit in die Vergangenheit soll es gehen, wenn das Ihre Industriestrategie ist?
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Zum Glück, muss ich Ihnen sagen, steht außer Peter Altmaier und vielleicht Teilen von CDU und FDP niemand mehr dahinter. Die gesamte deutsche Wirtschaft und die Wirtschaftsweisen fordern mittlerweile die Einführung eines CO 2 -Mindestpreises, und zwar deshalb, weil das Innovationen und Investitionen miteinander verbindet, weil das für ein ökologisches Ziel steht und weil das gleichzeitig gut für die Wirtschaft ist.
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Dasselbe Prinzip hat übrigens auch beim EEG funktioniert. Aus meiner Sicht ist das EEG eines der besten Wirtschaftsgesetze unserer Geschichte, und zwar deshalb, weil es Innovationen und Investitionen miteinander verbunden und eine neue Technologie in den Markt gebracht hat.
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Was diese beiden Konzepte auch miteinander verbindet, ist, dass wir der Wirtschaft damit Planungssicherheit und Langfristigkeit geben würden
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und nicht dieses Durcheinander, dieses Ad-hoc, das Sie die ganze Zeit praktizieren. Sie sagen nur, wogegen Sie sind. Wir müssen der Wirtschaft sagen, in welche Richtung es geht;
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dann kann sie sich darauf einstellen, und dann schaffen wir die ökologische und soziale Transformation in Europa auch gemeinsam.
Aber eine zukunftsgewandte Industriestrategie besteht eben auch darin, die eigenen Spielregeln da zu verteidigen, wo sie unter Druck stehen. Wir können auf unfairen Wettbewerb aus China und auf die Macht der Digitalkonzerne aus den USA nicht reagieren, indem wir unsere eigenen Spielregeln aufweichen, indem wir unsere eigenen Spielregeln den falschen Spielregeln anderer anpassen, indem wir Megakonzerne schaffen, wie Peter Altmaier es vorschlägt, und damit die Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa schädigen und im Endeffekt ganze Länder unter Druck setzen.
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Was wir von Ihnen erwarten würden, ist eine gute Regulierung digitaler Giganten. Eine solche Regulierung ist möglich, und dazu machen wir Ihnen Vorschläge. Was wir von Ihnen erwarten würden, ist, dass Sie auf unfairen Wettbewerb aus China mit schlauen Instrumenten reagieren: mit dem Beihilferecht, mit dem Handelsrecht, mit dem Vergaberecht. All das sind Vorschläge, die wir Ihnen auf den Tisch legen; dies ist der Weg, den Sie gehen könnten.
Ein letzter Gedanke: Dass das starke Kartellrecht in Deutschland unter Druck steht, ist nicht erst seit Google, Facebook und den chinesischen Staatsmonopolen so. Schon bei Einführung des Wettbewerbsrechts sind große Teile der deutschen Industrie gegen das deutsche Kartellrecht Sturm gelaufen, und zwar deshalb, weil es das Ziel hat, überbordende wirtschaftliche Macht zu beschränken. Ludwig Erhard, den Peter Altmaier so gerne als Vorbild zitiert, hatte damals die Standfestigkeit, dagegenzustehen und sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Ich wünsche mir ganz ehrlich auch heute einen Wirtschaftsminister, der in der Lage ist, so etwas zu tun.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Rouenhoff für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Ich bin ein wenig enttäuscht, –
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nicht von Peter Altmaiers Industriestrategie,
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sondern von der FDP. Ich habe bei den Liberalen wirklich mehr wirtschaftspolitische Kompetenz vermutet. Aber der Antrag zeigt: Ich habe mich wohl geirrt. Die wirtschaftspolitischen Ideen der FDP erschöpfen sich in Allgemeinplätzen auf anderthalb Seiten.
Auch wenn man über einzelne Inhalte des Altmaier-Papiers streiten kann – das ist überhaupt keine Frage; Frau Dröge hat ja ein paar Punkte genannt –, ist eine Industriestrategie heute wichtiger denn je. Der neue Protektionismus der USA gefährdet über Jahrzehnte aufgebaute Liefer- und Wertschöpfungsketten deutscher und europäischer Industrieunternehmen. China lässt ein Level Playing Field bei ausländischen Direktinvestitionen vermissen und blockiert nach wie vor den Marktzugang in strategisch relevanten Bereichen. In der Digitalbranche verändern disruptive Entwicklungen das weltweite Wirtschaftsleben grundlegend. Das zeigen Konzerne wie Google, Amazon und Facebook, die innerhalb kürzester Zeit entstanden sind und heute die Weltmärkte beherrschen. Fehlendes Risikokapital und unterschiedliche nationale Rechtsrahmen verhindern, dass auch in Europa große Digitalunternehmen entstehen. Und – ein weiterer Punkt – kritische Infrastrukturen in Deutschland und in Europa sind zunehmend Cyberangriffen ausgesetzt und nur unzureichend vor politischer Einflussnahme geschützt.
Liebe Kollegen von der FDP, diese Herausforderungen zeigen doch: Es reicht nicht mehr, mit den Rezepten von gestern um die Ecke zu kommen: reine ordnungspolitische Lehre hier, Steuersenkungen dort. Genauso falsch ist es aber auch, zu glauben, dass wir mit staatlichem Interventionismus und Verstaatlichung weiterkommen. Dass das kein Allheilmittel ist, ist überhaupt keine Frage; ich heiße ja nicht Kevin Kühnert.
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Peter Altmaier hat zu Recht und richtig gesagt: Wir müssen unsere industrielle und technologische Souveränität und Kapazität bewahren;
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denn das ist entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Das erfordert neue EU-Handelsverträge mit Drittstaaten, in denen etwa der digitale Handel verankert wird.
Jetzt komme ich zu den Punkten, die Frau Dröge hier angesprochen hat. Sie fordern in Ihrem Antrag eine europäische Industriepolitik – richtig so. Aber dann handeln Sie endlich auch mal im europäischen Sinne. Unterstützen Sie endlich mal ausgehandelte Freihandelsabkommen, statt immer dagegen zu sein.
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Meine Damen und Herren, wir brauchen auf europäischer Ebene auch neue handelspolitische Instrumente, um abgeschottete Auslandsmärkte zu öffnen, etwa bei öffentlichen Beschaffungen. Bei der Förderung von Forschung und Entwicklung müssen wir mehr Tempo an den Tag legen. Neue unternehmerische Ideen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie schneller zur Produktreife geführt werden. Auf Bundesebene müssen wir jetzt auch endlich den Weg freimachen für die steuerliche Forschungsförderung.
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Wir müssen schauen, dass wir mit der steuerlichen Forschungsförderung auch die Innovationskraft der Unternehmen stärken. Deutsche und europäische Start-ups brauchen bessere Finanzierungsmöglichkeiten und einen digitalen Binnenmarkt, damit sie ihre Geschäftsmodelle ausrollen und schneller wachsen können.
Allen Kritikern einer Industriestrategie sei hier gesagt: Eine kluge Industriepolitik richtet sich nicht gegen den Mittelstand; sie ist im Interesse des Mittelstandes. Hier hat Peter Altmaier durchaus den einen oder anderen positiven Beitrag geleistet.
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Ich sage das, auch wenn wir die Diskussion natürlich weiter führen werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich bin mir nicht sicher, ob wir demnächst noch eine europäische Industrie hätten, wenn wir Ihren Antrag tatsächlich umsetzen würden. Es ist sicherlich nicht alles falsch, was in Ihrem Antrag steht. Aber nehmen wir einmal den CO 2 -Zertifikatehandel. Sie fordern jetzt die Einführung eines CO 2 -Mindestpreises, obwohl der Zertifikatehandel sehr gut funktioniert,
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obwohl der Preis in zwei Jahren um 400 Prozent gestiegen ist.
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Staatliche Eingriffe in ein funktionierendes marktwirtschaftliches Instrument sind aus Unionssicht der falsche Weg; da können Sie noch so meckern und jammern.
Wenn Sie das EEG hier als glorreiches Beispiel heraufbeschwören, dann sage ich nur eines: Wie beim EEG haben die besserverdienenden Grünen auch beim Zertifikatehandel wieder nicht die Kosten im Blick. Sie verfolgen Ihre Klimadoktrin nun auch in der Industriepolitik, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf den kleinen Mann. Deswegen können wir Ihren Antrag nicht mittragen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir schließen heute an die Aktuelle Stunde von Mittwoch an und reden erneut über die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft. Das ist gut so; denn über Kühnerts und Habecks sozialistische Allmachtsfantasien ist ja eigentlich auch genug geredet worden. Aber ich muss auf die Rede von Frau Teuteberg von der FDP von Mittwoch zurückkommen. Ich wundere mich schon sehr, dass sie in ihrer Rede am Mittwoch zu Recht SPD und Grünen linksautokratische Tendenzen vorgeworfen hat – ich würde sogar sagen: linkstotalitäre –, Sie es aber gleichzeitig nicht abwarten können, mit diesen Parteien in jedes mögliche Koalitionsbett zu steigen.
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Meine Damen und Herren, wir reden heute über zwei Anträge. In dem von der FDP steht eigentlich eine ganze Menge Richtiges drin; er geht aber nicht wirklich über Allgemeinplätze hinaus. Sie werfen uns doch immer vor, dass wir mangelhaft konkrete Anträge stellen. Mit dem Antrag hier bekleckern Sie sich aber auch nicht wirklich mit Ruhm.
Das wenig Konkrete, was Ihr Antrag enthält, halten wir allerdings für falsch. Wir lehnen die Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur ebenso ab wie die aller anderen grundlegenden Infrastrukturen; denn das ist Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge. Die Infrastrukturen sind das Fundament, auf dem die Marktwirtschaft aufbaut. Sie dürfen nicht zur Disposition einzelner Unternehmen gestellt werden. Sie sagen, Sie wollen das Bürokratiemonster Grundsteuer verhindern. Das ist auch richtig; das wollen wir ja auch. Da schlage ich Ihnen vor: Stimmen Sie doch einfach unserem Antrag auf Abschaffung der Grundsteuer zu.
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Ansonsten finden sich in Ihrem Antrag nur Selbstverständlichkeiten: Handelskonflikt mit den USA überwinden, intensivere Zusammenarbeit mit Frankreich etc., etc. „Abschaffung der Russland-Sanktionen“, das wäre mal eine richtige und knackige Forderung gewesen.
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Insgesamt, meine Damen und Herren von der FDP, also nichts Neues. Ihr Antrag tut zwar nicht weh, bringt aber auch keine Lösung.
Der grüne Antrag ist allerdings anders. Er kaschiert perfide mit vorgeschobenen Forderungen das eigentliche Ziel, nämlich einen von jeder demokratischen Kontrolle abgekoppelten Brüsseler Zentralismus. Die Grünen fordern eine Konzentration von Forschung und Entwicklung auf ihre grüne Klimareligion. Wenn Sie schon sonst an keine echten Werte glauben, dann jedenfalls daran. Ihre Klimapolitik wird unweigerlich zu Armut und Chaos führen.
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Soll ich Ihnen was sagen? Das Klima wird sich auch weiter wandeln – mit oder ohne Ihre Politik.
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Meine Damen und Herren, für die Zukunft unserer Wirtschaft und der Menschen in unserem Land müssen wir mit dieser krachend gescheiterten Energiewende Schluss machen.
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Wir brauchen niedrigere Energiepreise durch eine wirtschaftlich sinnvolle Energiepolitik.
Wir können es uns nicht leisten, mit all den neuen Erkenntnissen nicht erneut über die Nutzung ressourcenschonender Kernkraft nachzudenken. Wir müssen die Grundlagen für eine erfolgreiche Wiederbelebung unserer sozialen Marktwirtschaft legen, und dafür müssen wir einmal gemachte Fehler beseitigen. Wir müssen raus aus dem Euro. Sie wissen das, wir wissen das; nur sind wir die Einzigen, die es sagen.
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Weg mit den Nullzinsen! Schluss mit der fortlaufenden Enteignung von Sparvermögen! Der Euro und die EZB sind Triebfeder der Altersarmut.
Herr Altmaier – er ist nicht da; Herr Wittke, vielleicht richten Sie es ihm aus –, auch wenn Sie heute aus Österreich Rückendeckung vom Bundeskanzler bekommen haben: Wir brauchen keine Industriestrategie 2030, sondern eine deutsche Mittelstandsstrategie 2022
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und eine Digitalisierungsstrategie „vorgestern“. Wenn wir gegen China, Indien und die USA bestehen wollen, dann reichen gute Produkte alleine nicht aus. Wir müssen auf Innovation setzen, auf neue Produkte, neue Fertigungstechniken. Dafür brauchen wir eine viel intensivere Begleitung und Steuerung des digitalen Wandels, und wir brauchen die Kräfte unseres immer noch Weltklasse-Mittelstandes.
Wir brauchen ein Vielfaches der jetzigen öffentlichen Investitionen in den Mittelstand, in Forschung und Entwicklung, in Digitalisierung, und zwar, liebe Grünen, branchen- und technologieoffen. Dafür brauchen wir mehr Freiheit, weniger Gängelung durch den deutschen Staat und noch weniger Gängelung durch den Brüsseler EU-Apparat. Einigkeit und Recht und Freiheit sollten auch in der zukünftigen Wirtschaftspolitik die Leitlinien sein, keinesfalls jedoch Sozialismusfantasien.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Markus Töns.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Grundsätzlich kann ich als Sozialdemokrat erst mal sagen: Gegen Sozialismus und demokratischen Sozialismus hat hier eigentlich keiner was – zumindest wir nicht.
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Um auf die Anträge an der Stelle mal einzugehen: Es geht hier nicht um den Bestandsschutz von Großunternehmen. Es geht um die Förderung von Innovationen; das ist der entscheidende Punkt. Das sichert Arbeitsplätze, und die Sicherung von Arbeitsplätzen gehört hier aus unserer Sicht ganz besonders dazu. Die neuen Technologien, die unsere Wirtschaft von Grund auf ändern können, regelt nicht der Markt. Da müssen wir fördern, und da müssen wir forschen, und darum müssen wir uns kümmern.
Industriestrategie und europäische Industriestrategie bedeutet aber auch, dass diese Strategie nachhaltig sein muss. Nachhaltigkeit bedeutet aus meiner Sicht zumindest eines: dass wir uns an das Pariser Klimaschutzabkommen halten,
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dass wir nationale Klimaziele einhalten. Das gehört zu einer europäischen, aber auch zu einer nationalen Industriestrategie.
Bei den Grünen fehlt mir da ein bisschen was; das muss ich dann auch sagen. Industriestrategie bedeutet aus meiner Sicht übrigens auch Mitbestimmung.
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Industrie ist immer dann stark, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Mitbestimmung wie in der Montanindustrie haben; immer dann waren Unternehmen stark, dann hat Innovation funktioniert. Wir brauchen Mindeststandards zur Mitbestimmung in europäischen Unternehmen. Bei öffentlichen Ausschreibungen muss übrigens Tariftreue berücksichtigt werden; das ist wichtig.
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Lassen Sie mich vielleicht noch zwei Sätze zur FDP sagen – so lang ist der Antrag ja nicht geworden; das war jetzt keine Fleißarbeit –: Was China angeht – das will ich noch mal sagen –, bringt uns Marktgläubigkeit alleine hier nicht weiter. China ist ein systemischer Wettbewerber, und er spielt nicht nach Regeln, zumindest häufig nicht nach unseren Regeln. Aber statt sich damit auseinanderzusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, fordern Sie die Abschaffung des Solis für die reichsten 10 Prozent.
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Das ist nun wirklich ein Vorschlag aus der Mottenkiste.
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Er wird der Aufgabe von Industriepolitik überhaupt nicht gerecht und geht am Thema komplett vorbei, liebe Kollegen.
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Was brauchen wir? Wir brauchen die Förderung von Innovation: Speichertechnologie, Power-to-X. Wir brauchen autonomes Fahren, Sektorenkoppelung und auch künstliche Intelligenz. Daran müssen wir arbeiten. Da müssen wir forschen. Das müssen wir unterstützen. Das ist der wichtige Punkt.
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Eine nationale Industriestrategie bringt uns wirklich nicht weiter. Deshalb brauchen wir eine europäische Wirtschafts- und Industriepolitik, gerade auch vor dem Hintergrund der Handelspolitik der nächsten Jahre und des nächsten Jahrzehnts. Den europäischen Rahmen für ausländische Investitionen müssen wir umsetzen, und wir müssen wettbewerbsverzerrende Praktiken auf dem Binnenmarkt endlich unterbinden. Eines will ich an dieser Stelle einmal betonen: Wenn wir europäisch denken, müssen wir auch über einen europäischen Haushalt nachdenken. Das bedeutet auch mehr Mittel für den mehrjährigen Finanzrahmen, um Forschung und Innovation auf europäischer Ebene zu fördern. Das ist der richtige Weg, und dafür stehen übrigens auch wir Sozialdemokraten.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Reinhard Houben für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Mittwoch hat der Kollege Müller (Braunschweig) in der Aktuellen Stunde den von uns eingebrachten Antrag kritisiert – ich möchte zitieren –:
Erstens: kein Wort zur Rohstoffpolitik, kein Wort zur Cloud-Technologie, kein einziges Wort zur Frage „Wie gehen wir mit dem Patentrecht um?“ und beispielsweise auch kein Wort zur Leitindustrie. Das Schlimmste, Herr Dürr …
– er saß da, er wurde angesprochen –
Sie finden in diesem ganzen dünnen Antrag … nicht einmal das Wort „Mittelstand“ … Am besten ist, Sie ziehen diesen Antrag zurück.
Nun haben wir aus der Union gehört: dünner Antrag, Rezepte von gestern, Allgemeinplätze, Selbstverständlichkeit usw. usf. – Liebe Unionskolleginnen und -kollegen, glauben Sie wirklich, dass die Qualitätskontrolle unserer Fraktion diesen kurzen, sehr allgemeinen Antrag akzeptiert hätte, wenn wir damit nicht ein bestimmtes Ziel verfolgen würden?
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Dieser Antrag ist Ihr Antrag: Das sind die Forderungen des wirtschaftspolitischen Hoffnungsträgers Ihrer Partei. Das ist das Sieben-Punkte-Programm des Wirtschaftsministers in Reserve Friedrich Merz, teilweise wortwörtlich aus der Rede, die er im Januar auf dem Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee gehalten hat.
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So wie Sie sein Programm für Deutschland vom Tisch wischen – wenn Ihnen seine Thesen so schlecht gefallen, sowohl am Mittwoch als auch heute hier –, muss er wohl jede Hoffnung auf eine Kanzlerkandidatur oder eine andere Karriere in der Union aufgeben.
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Dabei sind einige seiner Ideen ja gar nicht falsch. Er hat einige Dinge auf die Tagesordnung gebracht. Jedenfalls sind manche Äußerungen von Friedrich Merz näher an der Realität der Wirtschaft als die Positionen aus dem Industriepapier von Peter Altmaier.
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Das Einzige, was vielleicht positiv ist – ich möchte jetzt Sabine Herold vom BDI zitieren; Wolfgang Kubicki hat mir das ja am Mittwoch nicht möglich gemacht –:
Wenn die große Koalition die Nationale Industriestrategie genauso konsequent umsetzt wie ihre anderen wirtschaftspolitischen Ankündigungen, dürfte in dieser Wahlperiode sowieso nichts mehr passieren.
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Also, meine Damen und Herren, bevor Sie reaktiv – nur weil eine falsche Überschrift über dem Antrag steht – schreiben, dass das alles von gestern ist, dass das Käse ist, dass das Mist ist, machen Sie sich erst mal kundig, welche Parteifreunde mit den entsprechenden Themen in der Öffentlichkeit unterwegs sind und den Bürgern und den Unternehmern vormachen, die Union wäre nun der Hort der Ordnungspolitik und der wirtschaftlichen Vernunft. Lesen Sie zumindest mal unsere Anträge, und unterschätzen Sie den politischen Wettbewerb nicht, wenn solche Anträge auf Ihrem Tisch landen.
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Einige kurze Bemerkungen zum Antrag der Grünen. Wir finden gut, dass Sie einen europäischen Schwerpunkt setzen. Wir finden es auch gut, dass Sie keine staatlich geschützten Champions wollen. Sie scheinen aber in dieser Frage durchaus gespalten zu sein. Kollege Trittin hat sich ja gerade dafür ausgesprochen, man sollte im Zweifelsfall Monopole in Europa fördern, um sich vor weltweiten Monopolen zu schützen. Das ist meiner Meinung nach ein bisschen schwierig vom Ansatz her.
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Festigen Sie Ihre Position! Wenn es so bleibt, wie in dem Papier dargestellt, können wir gerne weiter diskutieren.
Unsere Kritik an Ihrem Papier: Sie haben so einige Lieblingsbranchen. Wirtschaftspolitik kann aber nicht darin bestehen, nur einige Lieblingsbranchen zu fördern, sondern muss insgesamt darauf achten, dass wir Wachstum haben; denn nur durch Wachstum und vernünftige Arbeitsplätze können wir unseren Sozialstaat und alles Weitere finanzieren. Wenn wir den Standard in diesem Land halten wollen, meine Damen und Herren, brauchen wir aktive Unternehmen, und wir brauchen Wohlstand; den müssen wir politisch auch möglich machen.
Wir wollen nicht unfair sein. Für den Fall, dass Sie sich gleich beschweren, wir hätten abgeschrieben, gebe ich Ihnen etwas Interessantes mit: „10 Thesen zur Entlastung von Mittelstand und Handwerk“. Ich gebe es Ihnen; dann können Sie daraus gerne abschreiben. Wir würden einen Blick darauf werfen und, wenn Sie es so übernommen haben, zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung, Energiewende, Mobilitätswende sind Stichworte, die die Herausforderungen, vor denen die Industrie steht, deutlich machen. Eigentlich wäre es gut gewesen, wenn wir im Zusammenhang mit der industriepolitischen Strategie auch über solche Themen reden. Aber die AfD und die FDP verweigern sich eigentlich einer solchen Debatte. Der AfD zufolge ist der Euro schuld, ist Europa schuld – ohne einmal auf die Themen einzugehen. Der FDP fällt nichts ein als die alten Gassenhauer: Die Steuern für die Unternehmer sind zu hoch; die Lohnnebenkosten sind zu hoch; die Steuern müssen gesenkt werden.
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Sie wollen Reichtumspflege, aber haben keine Antwort auf die Herausforderungen, die vor uns liegen.
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Deshalb sage ich Ihnen eins: Damit die Politik ein bisschen wach wird, ist es ganz gut, dass die IG Metall für Ende Juni eine Großdemonstration hier in Berlin angemeldet hat, um endlich mal klarzumachen, dass angesichts dieser Herausforderungen Hunderttausende von Arbeitsplätzen in diesem Land industriepolitisch in Gefahr sind,
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wenn die Politik nicht endlich handelt.
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Da kommt man aber mit Ihren alten Gassenhauern nicht hin, sondern da müssen die Sachen gemacht werden, die Sie von der FDP verweigern.
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Wir brauchen nämlich eine Industriepolitik, einen aktiven Staat. Wir brauchen mehr Zukunftsinvestitionen. Wir müssen neue Technologien fördern. Das alles lehnen Sie ab.
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Sie wollen alles, was an aktivem Staat vorhanden ist, in die Tonne hauen. Deshalb ist die FDP wirtschaftspolitisch eine Fehlbesetzung.
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Es ist erst mal begrüßenswert, dass Herr Altmaier gesagt hat, wir brauchen einen aktiven Staat, weil man angesichts dieser Herausforderungen nicht alle Probleme allein bewältigen kann. Der Markt nimmt keine Rücksicht auf den Klimawandel, der Markt nimmt auch keine Rücksicht auf soziale Belange. Es wäre gut, wenn mehr Leute von der Union Herrn Altmaier unterstützen würden; aber das große Problem ist wahrscheinlich, dass, wenn das Papier von der Regierung mal unterschrieben wird, Herr Altmaier kein Wirtschaftsminister mehr ist.
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Das wäre an dieser Stelle schade; denn wir brauchen einen aktiveren Staat. Das haben die letzten Jahre gezeigt.
Warum sind wir denn so gut aus der Wirtschaftskrise herausgekommen?
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Weil wir einen aktiven Staat hatten, weil wir mit Arbeitgebern und Gewerkschaften starke Sozialpartner hatten. Daraus müssen wir lernen, nicht zu warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern zu sagen: Die Herausforderungen sind so groß,
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dass wir – mit den Sozialpartnern – diese Transformation gestalten müssen.
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Mein Punkt ist – das haben wir auch gesagt –: Wir brauchen in Deutschland und in Europa, um die Industrie zukunftsfähig zu machen, deutlich mehr Zukunftsinvestitionen in den sozialökologischen Umbau. Wir sagen, wir brauchen mindestens 500 Milliarden Euro in Europa, um diesen Strukturwandel zu gewährleisten.
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Wir müssen dadran. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das wäre eine Maßnahme! Wenn man sich die Herausforderungen anschaut, erkennt man: Die schwarze Null und die Schuldenbremse sind Hemmnisse.
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Es sind so viele Investitionen notwendig, dass wir auch die schwarze Null und die Schuldenbremse überdenken müssen.
Wir brauchen, weil die Regionen so unterschiedlich betroffen sind – Automobilsektor, Braunkohlebereiche usw. –, auch eine Debatte darüber, ob das Vergaberecht und die Beihilfeordnung der Europäischen Union nicht überdacht werden müssen.
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Ich glaube, mit diesen Maßnahmen kommen wir bei diesen Herausforderungen nicht voran. Wir brauchen da eine Umkehr, auch auf europäischer Ebene.
Herr Altmaier hat diese Woche auf einem Kongress zu seiner Industriestrategie gesagt, ihm wäre es am liebsten, man würde eine Sozialabgabenquote von nicht mehr als 40 Prozent ins Grundgesetz schreiben. Man stelle sich das mal vor: Er will eine Sozialabgabenquote von nicht mehr als 40 Prozent ins Grundgesetz schreiben; das ist sein politischer Vorschlag. Ich sage Ihnen eins: Die Lohnquote, der das Einkommen nach Abzug von Sozialabgaben zugrunde liegt, ist in Deutschland viel zu gering. Wir brauchen eine höhere Lohnquote. Denn entscheidend ist, was volkswirtschaftlich erwirtschaftet wird, was übrig bleibt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das ist zu gering. Deshalb ist eine Debatte über die Lohnnebenkosten im Rahmen der industriepolitischen Debatte, die wir jetzt führen, völlig falsch.
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Wenn die FDP in ihrem Antrag auch noch „Wohlstand für alle“ fordert, dann muss ich Ihnen mal sagen: Sie haben offensichtlich nicht mitbekommen, dass der Wohlstand in diesem Land bei immer weniger Menschen ankommt. Wir haben einigen riesigen prekären Arbeitsmarkt, wir haben einen riesigen Niedriglohnsektor, wir haben Altersarmut, wir haben Kinderarmut. Das alles wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht behandelt.
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Wenn Sie Wohlstand für alle wollen, dann machen Sie mal was für einen höheren Mindestlohn, machen Sie mal was gegen sachgrundlose Befristungen, machen Sie mal was für eine faire Besteuerung. Das alles macht die FDP nicht und leider auch nicht die Große Koalition. Deshalb haben wir viel zu tun. Die Linke hat da gute Antworten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Knoerig für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wohlstand für alle“, so lautete der Titel von Ludwig Erhards Programmschrift im Jahr 1957. Dieses Plädoyer für die soziale Markwirtschaft hat die FDP in ihrem Antrag auch aufgegriffen. Sie fordert, das Kernversprechen der sozialen freien Marktwirtschaft für die Zukunft abzusichern, und ich sage: zu Recht angesichts der aktuellen Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert.
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Mir ist dabei völlig unverständlich, dass sich die SPD-Spitze nicht von seinen Forderungen nach Enteignung und Vergemeinschaftung klar und deutlich distanziert.
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Denn auch die Sozialdemokraten haben sich im Jahre 1959 im Godesberger Programm zur sozialen freien Marktwirtschaft bekannt und diese seither auch mitgetragen.
Meine Damen und Herren, derzeit aber werden Erinnerungen an die ehemalige DDR wach. Dort hat der Staat die Privatwirtschaft enteignet. Und so hat ja auch der Herr Kühnert gefordert, zum Beispiel BMW zu enteignen.
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Neben Industrie und Gewerbe wurde in der DDR auch die Landwirtschaft zwangskollektiviert, und die Repressalien der Zentralverwaltungswirtschaft sind vielen Zeitzeugen immer noch gut im Gedächtnis.
Wenn also Kühnert von dem demokratischen Sozialismus spricht, erinnert das stark an die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus auf der SED-Parteikonferenz 1952.
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Diese verbalen Entgleisungen sind gerade mit Blick auf 30 Jahre Mauerfall und 70 Jahre Grundgesetz richtigzustellen.
Unsere Verfassung ist das klare Gegenmodell zu Kollektivismus und Planwirtschaft.
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Sie garantiert die demokratischen Grundrechte wie Menschenwürde, Freiheit der Person und Privateigentum. Außerdem gibt unser Grundgesetz keine Wirtschaftsordnung vor. Vielmehr gewährt es allgemein die Berufs-, Gewerbe- und Unternehmerfreiheit. Dabei ist die soziale Marktwirtschaft fester Bestandteil unseres Systems; aber sie ist nicht verfassungspolitisch diktiert, sondern freiheitlich begründet.
Meine Damen und Herren, im Gegensatz zum Sozialismus wird in der Bundesrepublik der Wohlstand aber erst mal erwirtschaftet, bevor er verteilt wird.
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Mit „Wohlstand für alle“ meinte Erhard auch Wirtschaftsfreiheit und Wirtschaftsförderung; denn nur so erzielen wir Wirtschaftswachstum, von dem die ganze Bevölkerung auch profitieren kann.
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Der FDP-Antrag mit anderthalb, zwei Seiten
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wird vor allem einem wichtigen Thema gar nicht gerecht: der Digitalisierung.
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Auf anderthalb, zwei Seiten lassen Sie komplett die Komplexität des digitalen Wandels außer Acht. Wir wissen, dass damit ganz besonders das Innovationstempo verbunden ist, welches sich in den letzten Jahren erheblich erhöht hat. Deswegen brauchen wir eine nationale und europäische Industriestrategie, die mit den Wirtschaftsverbänden abzustimmen ist.
Auf einer Veranstaltung im Bundeswirtschaftsministerium wurde in dieser Woche eine Vereinbarung mit Verbänden, mit Managern und Gewerkschaften getroffen. Bis zum Herbst wird auch eine koordinierte Fassung der Industriestrategie vorliegen.
Meine Damen und Herren, diese Wettbewerbs- und Standortfragen dulden keinen Aufschub. Es eilt!
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Johann Saathoff.
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Sehr gerne, Herr Houben. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über Industriestrategien wird in diesen Tagen ja bekanntlich viel geredet. Gut, dass wir heute auch im Bundestag dazu eine Debatte mit zwei, man kann sagen, sehr unterschiedlichen Anträgen haben!
Wenn man es sich einfach machen würde, könnte man sagen: Die Sozialdemokratie steht für den Mittelweg, steht also zwischen diesen beiden Anträgen. Aber das wäre viel zu einfach und würde den Anträgen eigentlich nicht gerecht. Es gibt aber den einen oder anderen im politischen Raum, der ein bisschen fabuliert: Es könnte ja eine Koalition mit den Grünen und mit der FDP zusammen geben. – Ehrlich, hier haben wir Nordpol und Südpol der Wirtschaftspolitik. Wäre ja fast spannend, mal zu erleben, was denn dabei am Ende rauskäme.
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Für uns Sozialdemokraten ist gute Industriepolitik der Motor für die Schaffung von Arbeitsplätzen und damit für gesellschaftlichen Wohlstand. Immer wieder müssen wir uns dabei klar sein, welche Herausforderungen in der Wirtschaft gerade zu bewältigen sind. Digitalisierung und künstliche Intelligenz gehören, wie wir es gerade von vielen gehört haben, ohne Zweifel dazu.
Aber natürlich gehört zu den Herausforderungen auch der Kampf gegen den Klimawandel. Wir wollen das Klimaschutzabkommen erfüllen, damit die Temperatur auf der Erde nicht um über 1,5 Grad steigt,
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was fatale Folgen für die Menschen auf diesem Planeten hätte.
Und Herr Komning, ich kann es mir nicht verkneifen: Ich hatte den Eindruck, Sie hatten im Wirtschaftsausschuss einen guten Draht zu Herrn Gerst. Sie haben doch gehört, was er aus dem Weltraum beobachtet hat, was er darüber gesagt hat, wie es unserer Erde geht.
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Ich glaube, das ist bei Ihnen nicht verinnerlicht.
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Oder, wie wir Ostfriesen sagen: Ik verstah di wall, man ik begriep di neet.
Für die Industrie heißt das zum Beispiel Umstellung der gesamten Automobilindustrie auf Elektromobilität. Da hängt viel dran; das ist eine große Aufgabe. Da hängt durch die Veränderung der Arbeitsplätze Strukturwandel dran; denn mit Einzug der Elektromobilität braucht man weniger Menschen, um gleich viele Autos zu produzieren. Daran hängt Batteriezellenproduktion. Ich setze stark darauf, dass dies nach Standortfaktoren geschieht. Was braucht man für eine Batteriezellenproduktion? Man braucht einen Hafen, ein Automobilwerk, kluge Menschen und 100 Prozent grüne Energie im Umfeld. Da gehört ein Batteriezellenwerk hin. Und man braucht ein Konzept für Ladesäuleninfrastruktur.
Eine große Herausforderung der nächsten Jahre stellt die CO 2 -Reduktion im Industriesektor dar. Innovationen für Effizienzsteigerungen werden das zentrale Element sein, um die CO 2 -Reduktion erreichen zu können.
Zur Industriepolitik gehört auch, sich um die Energieversorgungssicherheit für die Wirtschaft zu kümmern. Mit dem 65-Prozent-Ziel bis 2030 stehen wir in Deutschland vor großen Herausforderungen. Wir brauchen vor allen Dingen Verlässlichkeit für die Wirtschaft, und Verlässlichkeit bekommt man nur mit Ausbaupfaden, auf die sich alle Beteiligten einstellen können. Also: Photovoltaik: 4 bis 5 Gigawatt pro Jahr, Wind onshore: ebenfalls 4 bis 5 Gigawatt pro Jahr, und Wind offshore: 1 Gigawatt pro Jahr. Da müssen wir jetzt dringend ran.
Eine industrielle Säule des Landes war lange auch der industrielle Süden des Landes; aber der hat das Problem noch lange nicht erkannt. Die europäischen Klimaziele müssen nämlich auch in Bayern und Baden-Württemberg erreicht werden. Dazu brauchen Sie grünen Strom aus dem Norden mit den dazugehörigen Leitungen, oder Sie bauen ambitionierter Erneuerbare aus. Wahrscheinlich müssen Sie sogar beides machen. Bisher haben wir in Deutschland Strompreiszonen verhindern können. Jetzt muss der Süden mitarbeiten und auch die Lasten schultern. Die Taktik des Wegduckens, so zu tun, als hätte man damit nichts zu tun, ist jetzt endgültig vorbei.
Vieles von dem, was ich gesagt habe, ist in dem Antrag der Grünen enthalten. Ich freue mich auf die Debatte. Die FDP hat 228 Tage vor Weihnachten schon mal den Wunschzettel geschrieben.
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Aber, Herr Houben: Ist ja gar nicht Ihr Zettel; ist ja der von Friedrich Merz. Das habe ich jetzt verstanden. Ob ich unbedingt eine Äußerung von Friedrich Merz zum Gegenstand eines Antrags meiner Fraktion gemacht hätte? Nein, da brauche ich gar nicht drüber nachzudenken; hätte ich nicht gemacht.
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Sie tun in Ihrem Antrag – oder in dem von Herrn Merz – so, als wäre in Deutschland jeder Mensch wohlhabend.
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Dabei geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Neben den industriepolitischen Herausforderungen, die wir in Deutschland haben, ist genau das die zentrale sozialpolitische Herausforderung, der wir begegnen müssen. Bei all den kommenden Herausforderungen gilt: Lever Stoff upwirbeln, as Stoff ansetten. Oder, wie man in Deutschland sagt: Lieber Staub aufwirbeln als Staub ansetzen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Matthias Heider für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Woche schon zweimal über Wirtschafts- und Industriepolitik gesprochen. Das ist ein gutes Zeichen. Alle Fraktionen des Hauses haben dabei das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft gelobt.
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Erstaunlich ist nur, dass unterschiedliche Aussagen über die Bedeutung der sozialen Marktwirtschaft gemacht werden.
Als Feind der sozialen Marktwirtschaft macht Die Linke die Arbeits- und Wohnungspolitik der Bundesregierung aus, die Grünen machen die Klimapolitik als Feind aus, die AfD macht die Europapolitik als Feind aus – und die FDP hat alles bei Friedrich Merz abgeschrieben.
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Also, Herr Houben, nachdem Sie uns das offenbart haben, lassen Sie mich mal festhalten: Erstens. Die Eckpunkte sind gar nicht von der FDP. Zweitens. Die Qualitätssicherung findet außerhalb der FDP statt. Drittens. Ein Großteil der FDP bittet inständig um ein Gespräch mit Friedrich Merz und um Aufnahme in die CDU. Das scheint mir offensichtlich zu sein.
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Sie sehen daran: Die Instrumente der Wirtschaftspolitik, die hier diskutiert werden, sind sehr unterschiedlich. Aber lassen Sie uns eins gemeinsam tun – und das gilt im Hinblick auf alle Unternehmen unseres Marktes, im Hinblick auf Handwerk, Mittelstand und Industrieunternehmen jeglicher Größenordnung –: Lassen Sie uns den Wirtschaftsunternehmen durch radikale Marktansätze nicht das Vertrauen entziehen.
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Denn es gilt der alte Satz: Das Vertrauen verlässt den Markt auf dem Rücken eines Pferdes, und es kehrt nur sehr langsam zurück. Wenn wir an dem Punkt, meine Damen und Herren, erst mal angekommen sind, dass das Vertrauen in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes erschüttert ist,
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dann wird es zu spät sein, so hehr die Ansätze, die Sie bringen, auch sein mögen.
Lassen Sie uns einen Moment über einen ganz wichtigen Aspekt sprechen, nämlich über die Anstrengungen, die wir im digitalen Bereich selbstverständlich unternehmen müssen. Wir müssen das Vertrauen dort bekräftigen. Wir müssen uns um Lösungen bemühen, und sie liegen nicht auf der Hand. Auch wenn wir den Rahmen für ein fortschrittliches Wettbewerbsrecht in Europa neu setzen wollen, soll eine Vermachtung von Märkten durch wenige Konzerne darin nicht vorkommen. Aber die Instrumente, um die es dabei geht, liegen nicht auf der Hand. Ich habe heute Morgen mit dem Generaldirektor der Direktion Wettbewerb diskutieren können. Auch in der Europäischen Kommission scheint es, jedenfalls nach seinen Einlassungen, für radikale Instrumente keine Ansätze zu geben.
Meine Damen und Herren, Deutschland mag in einigen Bereichen der Digitalisierung hinterherhinken. Wir sind im Markt nicht so schlecht, wie in der Öffentlichkeit manchmal gesagt wird. Hidden Champions aus Deutschland bringen derzeit mit ihren Technologien die ersten E-Frachtschiffe aufs Wasser, die ersten E-Helikopter in die Luft. Ein Unternehmen in Göppingen ist Weltmarktführer in der Fernwartung von Computern. Europa beschäftigt mehr Softwareentwickler als die USA und Siemens mehr als Google. Auch im Bereich der Industrieplattformen haben wir in Deutschland einen guten Stand. Nur: Die Bedeutung ist gegenüber dem großen Bereich, den Plattformen wie Google und andere bearbeiten, nicht so groß.
Diese Aspekte müssen wir berücksichtigen. Aber das werden wir in aller Ruhe tun und dabei nicht über jedes Stöckchen springen, das Sie uns bei dieser Gelegenheit hinhalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Heider. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9955 und 19/9923 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag diskutiert in dieser Aktuellen Stunde auf grüne Initiative den Bericht des Weltbiodiversitätsrates, IPBES, zum globalen Artensterben und zu dem Verlust von Ökosystemleistungen.
Ich möchte mich zuallererst – ich denke, an dieser Stelle spreche ich für alle Mitglieder dieses Hauses – bei den Vertretern von IPBES und den Wissenschaftlern bedanken, die den Report erstellt und uns damit wertvolle Informationen zur Verfügung gestellt haben.
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Stellvertretend möchte ich mich bei der deutschen Delegation bedanken, und hier insbesondere bei Professor Settele, dem deutschen Co-Vorsitzenden des Globalen Assessments, und den deutschen Wissenschaftlern von Helmholtz, UFZ, iDiv, dem Karlsruher Institut für Technologie, dem Alfred-Wegener-Institut, dem Leibniz-Institut und dem Senckenberg-Institut.
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Sie merken an dieser Aufzählung, dass Deutschland und die deutsche Wissenschaftsszene intensiv an der Erstellung dieses Berichtes beteiligt waren. Die wichtigsten Aussagen lauten, dass wir uns inmitten eines globalen Massenaussterbens von Tieren und Pflanzen befinden, wie es das seit dem Existenzbeginn der Menschheit noch nicht gegeben hat, aber dass wir die Möglichkeiten haben, dies zu stoppen, wenn wir jetzt endlich mit sehr großer Entschiedenheit und Klarheit handeln.
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1 Million Arten sind in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vom Aussterben bedroht – 1 Million Arten von 8 Millionen existierenden, also jede achte Art. Wenn sich unsere Wirtschaftsweise nicht ändert, wird das massiv auf uns als Menschen, auf unsere Lebensweise zurückschlagen; denn wir steuern auf Ernteverluste im Wert von weit über 500 Milliarden Dollar pro Jahr zu, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Korallenriffe werden wir in wenigen Jahren verloren haben, wenn nichts passiert.
Präsident Macron hat die Leitautoren des IPBES-Berichtes noch am Montagabend in Paris empfangen, um mit ihnen Konsequenzen aus dem Bericht zu diskutieren. Er hat erste gravierende Maßnahmen angekündigt. Schauen wir, was daraus wird, und schauen wir auf die Reaktion der deutschen Bundesregierung!
Sie hat den IPBES-Bericht als „Weckruf“ bezeichnet. Das ist gut; denn daraus können wir viele wichtige Dinge ableiten. Erstens. Der Wecker klingelt. Zweitens. Der Adressat des Klingelns – in unserem Fall die deutsche Bundesregierung – schläft;
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sonst bräuchte es kein Weckerklingeln. Drittens. Der Wecker hat 2007 zum ersten Mal geklingelt; denn 2007 hat die Bundesregierung zum ersten Mal beschlossen, das Artensterben in Deutschland bis 2020 – das ist Ende dieses Jahres – zu stoppen. Die Bundesregierung ist demnach seit zwölf Jahren nicht bereit, aufzustehen. Sie hat sich umgedreht, die Decke über den Kopf gezogen und schlichtweg weitergeschlafen. Viertens. Da der Wecker seit nunmehr zwölf Jahren klingelt, verfügt die Bundesregierung offensichtlich über die unschöne Gewohnheit, endlos die Schlummertaste zu drücken und letztendlich den Wecker an die Wand zu werfen, anstatt aufzustehen, sich anzuziehen und an die Arbeit zu gehen.
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Der Zustand der biologischen Vielfalt hat sich in Deutschland seit Ihrem Regierungsantritt rapide weiter verschlechtert. Es wurde keine einzige der notwendigen wichtigen Maßnahmen zum grundsätzlichen Stoppen des Artensterbens angepackt. Was den Naturschutz belangt – das kann ich Ihnen nicht ersparen –, sind Ihre Regierungsjahre schlichtweg umsonst gewesen – und dies, obwohl insbesondere CSU und CDU die Bewahrung der Schöpfung in allen Grundsatzprogrammen, Wahlprogrammen bis hin zum Koalitionsvertrag mit der SPD verankert haben. Ich kann nur an Sie appellieren, Ihre eigenen Programme jetzt endlich ernst zu nehmen, weil wir an einem Point of no Return angekommen sind.
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Wenn Sie das mit dem Weckruf ernst meinen, dann stehen Sie auf, und machen Sie etwas! Und mit „machen“ meine ich explizit nicht, neue Zielfestlegungen für 2030 oder 2050 formulieren, sondern in diesem Jahr hier in diesem Haus, im Deutschen Bundestag, politische Entscheidungen treffen:
Erstens: ein Beschluss zur Halbierung des Pestizideinsatzes; Beginn sofort, Halbierung bis 2025.
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Zweitens: sofortiges Verbot von bienengefährlichen Pestiziden, wenn irgendjemand in diesem Hause Frau Klöckner mit „Die Biene ist systemrelevant“ noch ernst nehmen soll.
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Drittens: sofortiges Nitratreduktionsprogramm.
Viertens: Streichung naturschädlicher Subventionen bei den Haushaltsberatungen im Herbst 2019, in diesem Jahr.
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Fünftens: ein Sofortprogramm zum Erhalt und zur Wiederherstellung von Feuchtgebieten, Mooren, Streuobstwiesen und anderen für die Biodiversität notwendigen Strukturelementen.
Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Kollegin.
Letzte Forderung, Herr Präsident: direkt nach der Europawahl ein Neustart für die Verhandlungen zur gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, um die Subventionen umzusteuern.
Vielen Dank.
Dann haben Sie den Weckruf gehört.
Vielen Dank, Herr Präsident.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 1 Million von 8 Millionen Arten weltweit sind vom Aussterben bedroht – das schätzt der IPBES, der Weltbiodiversitätsrat. Das ist so schnell, das sind so viele Arten wie noch nie zuvor. Bei uns in Deutschland sind die Arten vor allem deshalb bedroht, so jedenfalls die Rote Liste zum Artenschutz, weil 70 Prozent der Lebensräume gefährdet sind. Die Ursachen bei uns hier in Deutschland sind genauso wie weltweit menschengemacht. Der Ressourcenverbrauch hat sich seit 1980 verdoppelt. Die Landnutzungsänderungen für Viehzucht, für Plantagen nehmen zu. Alles in allem gibt es eine nicht nachhaltige Produktion und einen entsprechenden Konsum. All das wird durch den Klimawandel noch mal verstärkt.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – das wissen wir doch alle –: Wir brauchen die Natur. Wir sind ein Teil der Natur. Wir sind biologische Wesen am Ende einer Nahrungskette. Wir brauchen die Natur für sauberes Wasser, für saubere Luft, für Bodenfruchtbarkeit und für Bestäubung. Wir brauchen die Resilienz der Natur, ihre Widerstandsfähigkeit. Wir brauchen ihre Anpassungsfähigkeit nach schädigenden Einwirkungen, die wir der Natur durch übermäßige Nutzung ihrer Ressourcen zumuten.
Und wir wissen außerdem: Ökosysteme sind schon heute weniger produktiv, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Ein Discountermarkt in meiner Heimatstadt Hannover hat durch eine ganz besondere Aktion vor einem Jahr gezeigt: Ohne die Existenz von Insekten wäre über die Hälfte der Regale leer. Die Folgen treffen ja nicht nur uns hier, sondern sie treffen vor allen Dingen die Menschen in den Entwicklungsländern. Das Artensterben bringt das Erreichen der SDGs der Agenda 2030 in Gefahr. Deshalb sagt der Weltbiodiversitätsrat: Artensterben ist neben dem Klimawandel eine der ganz großen globalen Herausforderungen. – Und deshalb können wir natürlich nicht mehr wegschauen. Deshalb muss Nachhaltigkeit zum Prinzip unseres Handelns werden, bei uns in Deutschland und weltweit. Das heißt also: nachhaltige Landwirtschaft, mehr erneuerbare Energien, weniger Wasser- und Ressourcenverbrauch und mehr Klimaschutz.
Deutschland übernimmt Verantwortung, liebe Frau Kollegin Lemke, längst ohne den Wecker, den Sie gerade ins Gespräch gebracht haben.
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Deutschland stellt in diesem Bereich jährlich mehr als 500 Millionen Euro zur Verfügung und ist damit einer der großen internationalen Geber für den Erhalt von Biodiversität. 80 Prozent davon kommen aus dem Haushalt meines Ministeriums, dem BMZ. Unsere Entwicklungspolitik gibt längst Antworten, zum Beispiel durch Programme zum Schutz kritischer Ökosysteme in 54 Ländern mit der Fläche viermal so groß wie die Bundesrepublik.
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Wir fordern den Schutz von Tropenwäldern mit ihrer besonders hohen biologischen Vielfalt. 80 Millionen Hektar haben wir unter Schutz gestellt. Wir fördern den Erhalt von Mangroven und von Küstenmeeren zum Schutz der Menschen, die dort wohnen, aber natürlich auch zum Schutz der Fischgründe. Wir fördern naturverträgliche Wertschöpfung in entwaldungsfreien Lieferketten.
Auf der großen Vertragsstaatenkonferenz 2020 der Convention on Biodiversity in Kunming in China, soll der große New Deal für Mensch und Natur für die nächsten zehn Jahre realisiert werden, und der muss natürlich ehrgeizig sein. Wir wollen eine breite Allianz für biologische Vielfalt – gemeinsam mit Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Das Ergebnis von Kunming muss dann sein: Von Politikpapieren müssen wir noch mehr, als es bislang der Fall ist, in die Umsetzung kommen; denn der globale IPBES-Bericht über den Zustand der Artenvielfalt macht auch klar: Es ist spät, aber noch nicht zu spät. Umsteuern ist möglich, wenn wir jetzt entschlossen handeln.
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Und wir handeln entschlossen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dietmar Friedhoff für die AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Geschätzte Bürgerinnen und Bürger! Kolleginnen und Kollegen!
Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.
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– Das war er nicht. – Dieser Ausspruch ist heute aktueller denn je. Die Umwelt leidet nämlich wie nie zuvor. Der Mensch, der sich die Welt nicht untertan machen sollte, sondern diese behüten und beschützen soll, zerstört seine eigene Lebensgrundlage. Der Mensch wird zum Humankapital und die Natur zur Ressourcenbank von Wirtschaftsmächten und Ideologen.
Das Thema der Aktuellen Stunde, das gefährliche Artensterben, könnte auch heißen: Über die Art, zu sterben. – Wo der Mensch in die Natur eingreift, herrscht Chaos. Unsere Welt ist im Wandel. Unsere Umwelt ist im Ungleichgewicht, die Natur aus der Balance. Aber was sind die Gründe dieser Veränderung? Oder: Worum genau geht es?
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Die Gründe sind erstens das dynamische Bevölkerungswachstum, zweitens der ungezügelte Konsumzwang und drittens die Globalisierung und – das wird Sie jetzt wundern – auch die Digitalisierung, nach dem Motto: Jeder zu jeder Zeit an jedem Ort alles immer.
Zu eins. Die Menschheit wird in den nächsten 32 Jahren circa 3 Milliarden Brüder und Schwestern dazubekommen. Das bedeutet, dass sich die Menschheit in 150 Jahren von 1,5 Milliarden Menschen auf 10 Milliarden Menschen verachtfacht haben wird – und das zu einer Zeit, wo der Konsum groß ist wie noch nie.
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Konsequentes Handeln muss folgen.
Zu zwei. Menschen brauchen Wohnraum, Natur, Energie und Infrastruktur. Wälder werden weggerodet, um Brennstoff, Baumaterial und Freiflächen für Ackerbau und Viehzucht zu bekommen. Afrika und Südamerika leiden darunter. Es ist keine Klimakatastrophe, die wir wahrnehmen; es ist eine Umweltkatastrophe mit massiven Auswirkungen auf die Arten. Bedingt durch die Wohnraumexplosion und den dazugehörigen Baustoff wird so viel Sand wie nie benötigt. Sand wird aus Meeren gebuddelt – mit Auswirkungen auf die Biodiversität in den Meeren. Dazu kommt die Vermüllung der Meere mit Kunststoff. Kunststoff wird zum Dilemma, letztendlich auch in unseren Nahrungsmitteln.
Nahrung braucht Fläche. Monokulturen und exzessive Landwirtschaft vernichten Arten. Und das Sojaschnitzel, liebe Grüne, ist hier kaum besser als das Rindersteak. Die linksgrüne Energiewende verändert die Natur in einem ungeheuren Ausmaß. Durch die CO 2 -Ventilatoren, also Ihre Windräder, werden riesige Naturflächen verdichtet und die Filterfunktion der Erde aufgebrochen. Insekten werden wie Greifvögel und Vögel generell weggeschreddert.
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Das hat Auswirkungen auf alle am Boden lebenden Arten. Biokraftstoff fördert weltweit den Anbau von Mais, Raps- und Palmöl. Auch hier: Monokulturen. Biogasanlagen sprechen hier die gleiche negative Umweltsprache. Nichts ist emissionsfrei oder CO 2 -neutral, liebe Grüne; denn alles erzeugt in der gesamten Produktionskette irgendwann irgendwo irgendwie Emissionen und eben auch CO 2 . Die E-Mobilität wird der Natur eine weitere tiefe Narbe zufügen. Der Ressourcenabbau ist ein wesentlicher Eingriff in die Artenstruktur und – das sollten wir nicht vergessen – in den Wasserhaushalt der Welt.
Zu drei. Die Globalisierung fördert den Produktwahnsinn. So werden zum Beispiel für das Leder für einen Autositz Tiere in Amerika gezüchtet und abgezogen. Dann wird in Indien gegerbt, in der Türkei verarbeitet, in Tschechien eingebaut und in Deutschland verkauft. Es lebe die CO 2 -Bilanz! Globalisierung fördert zudem die schnelle Wanderung von invasiven Arten in einheimische Räume, die eben auch für das Artensterben verantwortlich sind. Unser Bienensterben ist das Produkt aus all dem: Veränderung der Randbewachsung, Ausbau von Monokulturen, invasive Arten in Form von Milben und vieles mehr. Der Biene wurde ihr Lebensumfeld entzogen. Liebe Bürgerinnen und Bürger, im Krieg gab es Kartoffelferien. Wir brauchen demnächst Bestäubungsurlaub.
Schlussendlich: Die Digitalisierung wird den Konsumdruck weiter erhöhen; denn jeder Mensch möchte demnächst immer überall alles konsumieren. All die Systemgeräte, die wir dafür benötigen, brauchen zusätzliche Energie und Rohstoffe.
Es gäbe noch viel zu sagen, es gibt noch mehr zu tun, aber am meisten gibt es etwas zu wagen: Wahrheit wagen, Klarheit wagen. Unsere Art, zu leben, müssen wir ändern, wollen wir unsere Art erhalten; sonst steht unsere Art, zu sterben, bereits fest.
Abschließend: Artenschutz ist Umweltschutz. Umweltschutz ist Heimatschutz. Heimatschutz ist blau, und blau ist AfD.
Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut und wichtig, dass wir über den Bericht zur Artenvielfalt des IPBES sprechen. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß, jetzt ist es amtlich. Egal wie groß unsere Befürchtungen vorher waren: Es ist noch viel schlimmer gekommen. 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Für Deutschland ist uns das schon seit einiger Zeit klar. Wir sprechen davon, dass 80 Prozent unserer Insekten direkt bedroht sind. Nun müssen wir feststellen, dass dieser Artenschwund global ein genauso dramatisches Ausmaß hat. Die Hauptursache – auch das sagt der Bericht – sind wir, sind die Menschen. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Nicht nur für den Klimawandel, sondern auch für das große Artensterben ist der Mensch die Hauptursache – durch Überfischung, durch Flächenfraß, durch Vermüllung, durch intensive Landwirtschaft und illegale Jagd.
Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Bericht muss ein Alarmsignal sein, ein Alarmsignal für uns alle. Es ist höchste Zeit, dass wir als Politik und Verantwortungsträger ebendieser Verantwortung gerecht werden, und zwar als Entscheider auf allen Ebenen: von der Kommune über die Landesparlamente, den Bundestag bis in das Europaparlament. Natürlich müssen wir auch den Einfluss nutzen, den wir weltweit haben. Wie wollen wir in Zukunft Landwirtschaft betreiben? Wie wollen wir in Zukunft produzieren und bauen? Wie wollen wir in Zukunft konsumieren? Die Lage ist tatsächlich so ernst, dass jeder von uns, der in Verantwortung ist, sich diese Fragen stellen muss.
Der Bericht zum Artensterben zeigt die globale Dimension auf: vom afrikanischen Elefanten, der von kriminellen Wilderern wegen seines Elfenbeins erbarmungslos gejagt wird, bis hin zum Korallenriff, das wegen der gestiegenen Wassertemperatur stirbt. Natürlich braucht es zur Lösung eines globalen Problems auch globale Maßnahmen. Aber natürlich müssen auch wir in Deutschland und in Europa viel tun, und wir können viel tun. Ein Hauptverursacher für das Artensterben ist die immer intensiver betriebene Landwirtschaft. Hier brauchen wir endlich ein europäisches Fördersystem, das nicht weiterhin diejenigen belohnt, die intensiv wirtschaften, wirklich das Letzte aus der Fläche herausholen und dem auch den Tierschutz unterordnen. Sie werden durch ein Fördersystem, wie wir es jetzt haben, das nach dem Prinzip „Wer viel hat, kriegt viel“ handelt, dazu gezwungen. Auch die Kleinen werden immer mehr unter Druck gesetzt, so zu handeln, wie sie es jetzt tun.
Wir müssen das Prinzip umdrehen; dafür treten wir als Sozialdemokraten ein. Wir müssen diejenigen belohnen, die auf ein bisschen Ertrag verzichten, weil sie eben Naturschutz, Gewässerschutz, Tierschutz in den Blick nehmen. Deren Verdienstausfälle – in Anführungszeichen – müssen wir kompensieren. Das ist der richtige Weg. Deswegen sagen wir: Sie dienen der Allgemeinheit. Sie müssen die Förderung bekommen. Öffentliches Geld für öffentliche Leistungen.
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Wir können viel mehr tun, wir müssen viel mehr tun, und, Frau Lemke, wir haben auch schon einiges getan. Ganz so, wie Sie es der Regierung unterstellen,
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ist es nun auch wieder nicht. Ich nenne das Stichwort „Schutzgebiete“. Wir wissen, dass der beste Artenschutz die Ausweisung von Großschutzgebieten ist. Da kann sich die Natur, da können sich die Arten erholen. Dafür haben wir mit dem Bundesprogramm „Blaues Band Deutschland“, das auch Sie unterstützt haben, oder der Initiative Nationales Naturerbe viel getan. Da geht noch mehr; aber da haben wir einiges getan.
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Frau Schulze hat als allererste Amtshandlung das Aktionsprogramm Insektenschutz vorgelegt.
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Und wir haben auch die drei schlimmsten Bienenkiller, die Neoniks, verboten.
Natürlich müssen wir auch aus dem Glyphosat-Einsatz aussteigen. Da könnten wir schon längst so weit sein, wenn nicht der ehemalige Landwirtschaftsminister Schmidt sich über alle Absprachen hinweggesetzt hätte und in Brüssel anderes in die Wege geleitet hätte.
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Gleichwohl begeben wir uns auf den Weg: Wir steigen so schnell wie möglich aus. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt. Wir binden das auch in eine generelle Reduktionsstrategie beim Pflanzenschutz ein; denn es bringt ja nichts, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Ja, ich habe die Hoffnung, dass wir dabei gut vorankommen werden; denn die Union hat bewiesen, dass sie lernfähig ist. Ich schaue da auf mein Heimatland Bayern. Dort hat der Bayerische Landtag, der ja mehrheitlich von der CSU bestimmt ist, beschlossen, den Gesetzentwurf des Volksbegehrens zum Artenschutz fast eins zu eins umzusetzen. Wir als SPD in Bayern haben es mitgetragen. Deswegen begrüße ich diesen Schritt. Er zeigt, dass die Union auch in diesem Bereich gesprächsbereit ist. Ich würde mir wünschen, dass Herr Söder vielleicht mal Frau Klöckner anruft, damit auch das Aktionsprogramm Insektenschutz, das wir vorgelegt haben, möglichst schnell umgesetzt wird.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Judith Skudelny das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einer der drei wichtigsten Treiber für den Artenverlust weltweit ist tatsächlich der Flächenverbrauch. Wir werden weltweit mehr Menschen. Die Menschen müssen ernährt werden.
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Dafür brauchen wir die Landwirtschaft. Die Menschen wollen wohnen und brauchen Infrastruktur, Straßen und Energie. All das bedeutet einen Verlust an Fläche, die wir für den Arterhalt eigentlich brauchen. Jährlich gehen so 80 Millionen Hektar Wald verloren.
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Allerdings ist der Verlust an Waldflächen und der Verlust an Flächen für Biodiversität, wie es heißt, nicht überall gleich. Ganz im Gegenteil: In Deutschland nehmen die Waldflächen zu.
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In Deutschland nehmen übrigens auch die Flächen für Naturschutz zu. Was der IPBES-Bericht jedoch feststellt, ist, dass wir die Erträge, die Lebensmittel, die wir in Deutschland nicht mehr produzieren, im Ausland einkaufen. Damit sind wir ein indirekter Treiber für den Flächenverbrauch in Schwellen- und Entwicklungsländern.
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Deswegen kann ich überhaupt nicht verstehen, wie gerade die Grünen und die SPD, wenn sie einer nachhaltigen Verantwortung gerecht werden wollen, es forcieren können, dass die Erträge in Deutschland für die Ernährung der Menschen in Deutschland zugunsten einer nachhaltigen Nutzung, beispielsweise im Bereich der Bioenergie, weiter reduziert werden sollen.
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Damit verursachen wir den Flächenverbrauch in anderen Ländern. Wir dürfen aber doch die Belastungen nicht auslagern.
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Viel sinnvoller, wichtiger und nachhaltiger wäre es, wenn wir uns überlegen würden, wie wir es schaffen, die Erträge in Deutschland mindestens auf gleichem Niveau zu halten und gleichzeitig bei der Biodiversität, bei dem Erhalt der Arten Fortschritte zu machen. Da gibt es eine ganz leichte Lösung: Wir brauchen einen Artenschutz 2.0. Herr Träger, ich kann gar nicht verstehen, wie Sie sagen können: Was wir mit unseren Naturschutzgebieten machen, ist ganz toll. – Es ist doch Fakt, dass selbst in den Naturschutzgebieten bei uns in Deutschland die Artenvielfalt weiter zurückgeht, und das ist erbärmlich.
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Wichtig wäre es vielmehr, zu schauen, warum das so ist. Tatsächlich ist es so: Deutschland ist eine Kulturlandschaft. Wir müssen selbst in unseren Naturschutzgebieten schauen, dass die Böden nicht versauern.
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Wir müssen selbst in unseren Naturschutzgebieten dafür sorgen, dass auch Offenlandarten, die ein regelmäßiges Mähen der Wiesen benötigen, die Habitate, die Lebensräume, erhalten, die sie brauchen. Das schaffen wir übrigens nicht gegen die Landwirtschaft, sondern nur gemeinsam mit der Landwirtschaft.
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Ich sage es mal ganz plakativ, so wie ich es im letzten Jahr erlebt habe: Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich das Umweltministerium und das Landwirtschaftsministerium in einem Zickenkrieg ergehen, anstatt einmal gemeinsam, Hand in Hand, etwas für Deutschland und für den Umweltschutz zu tun.
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Wir müssen überlegen, wie wir es schaffen, landwirtschaftliche Erträge in Deutschland zu erhalten und dabei den Lebensraum für Arten besser zu machen. Wir kriegen das übrigens nicht dadurch hin, Frau Schulze, dass wir Papiere vorlegen: Ja, wir haben ein Aktionsprogramm Insektenschutz, wir haben übrigens auch eine Idee dazu, was wir gegen Plastik machen wollen, wir haben ein Papier zur Digitalisierung, das vorgelegt wurde, und eigentlich hätte schon im März 2019 ein Gesetz zum Wolfsmanagement vorliegen sollen. – Der Natur wird nicht geholfen, indem wir Papiere schreiben, sondern indem wir unseren Ideen Taten folgen lassen,
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und das kriegt diese Bundesregierung nicht hin.
Wenn wir wirklich etwas für Natur und Artenschutz tun wollen, dann gelingt das nicht, indem man die Presse bedient. Dafür wäre es notwendig, dass sich diese beiden Ministerinnen endlich hinter verschlossener Tür zusammensetzen und überlegen, wie wir Natur- und Artenschutz in Deutschland so gestalten können, dass wir die Flächen wirksam nutzen, unseren Flächenverbrauch nicht ins Ausland verschieben und somit insgesamt etwas global und nachhaltig für den Artenschutz tun können. Das wäre besser, als nur darüber zu diskutieren und alles einfach so weiterlaufen zu lassen wie bisher; denn zurzeit stirbt in jeder Stunde eine weitere Art aus. Das müssen wir alle gemeinsam verhindern.
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Das Wort hat Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Unsere Tochter ist zwölf Jahre alt, und wenn sie mich fragt: „Was tust du gegen die Klimakrise, was tust du gegen das Artensterben?“, dann will ich ihr eine Antwort geben können. Denn sie steht Freitag für Freitag mit Fridays for Future auf der Straße. Sie kämpft um ihre Zukunft, und sie kämpft um unser aller Zukunft. Und wenn wir ganz ehrlich sind, dann müssen wir sagen: Sie und ihre Freundinnen haben viel mehr begriffen als einige hier im Deutschen Bundestag.
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Wir haben mittlerweile eine Situation, wo 500 000 Arten als lebende Tote über diese Erde laufen. Sie sind nicht mehr zu retten, sagt der Bericht der Vereinten Nationen. Weitere 500 000 Arten werden in den nächsten Jahrzehnten aussterben, wenn wir nicht entschieden handeln. Deswegen sprechen die Forscherinnen und Forscher mittlerweile vom sechsten großen Artensterben. Sie wissen sicher alle, was das fünfte große Artensterben war. Das fünfte große Artensterben war das Aussterben der Dinosaurier. Aber es gibt einen Unterschied: Wir haben mittlerweile Handlungsmöglichkeiten. Dieses Artensterben ist selbstgemacht, es ist menschengemacht, und wir können es stoppen.
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Der Bericht der Vereinten Nationen zur Biodiversität macht sehr deutlich, was dafür verantwortlich ist: Es sind eine verantwortungslose Agrarindustrie, Überdüngung, Flächenverbrauch, Umweltverschmutzung und in zunehmendem Maße eben auch der Klimawandel. – Und es wird sehr klar, was zu tun ist. Wir müssen unsere Art, zu leben, wir müssen unsere Art, zu konsumieren, wir müssen unsere Art, zu wirtschaften, von Grund auf ändern. Wir müssen aufhören, Flächen zu verbrauchen und Ressourcen zu verschwenden, und wir müssen die Agrarindustrie in die Schranken weisen. Und vor allem: Wir müssen Umweltzerstörung und Klimawandel entschieden bekämpfen.
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Seien wir mal ehrlich: Die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist nicht gleichmäßig verteilt. Die reichen Industriestaaten profitieren davon. Sie machen damit kurzfristige Gewinne. Die Globalisierung des Kapitalismus hat in den letzten Jahrzehnten zu Hunger, Armut, Kriegen und Fluchtgründen geführt. Deswegen ist unsere Antwort: Wir brauchen globale Gerechtigkeit; denn die Message des Berichtes ist klar und eindeutig.
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Die Message lautet: Es geht so nicht weiter. Es reicht nicht, wenn wir unseren Kapitalismus nur grün anstreichen.
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Wir müssen etwas verändern. Wir müssen unser Gesellschaftssystem verändern, unsere Art, zu wirtschaften und zu leben.
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Wir brauchen eine Alternative zum rücksichtslosen Profit und zum Konkurrenzdenken.
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Unsere Alternative ist sehr klar: Wir wollen diesen Kapitalismus überwinden. Wir wollen eine solidarische Gesellschaft. Wir wollen grenzenlose Solidarität.
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Was können wir also tun? Schauen wir nach Großbritannien und nach Irland. Die haben zugehört. Die haben den Klimanotstand beschlossen. Ich sage ganz klar: Es reicht nicht mehr, alle vier Jahre zur Wahlurne zu schreiten. Es reicht nicht mehr, die Verantwortung abzugeben. Vielmehr müssen wir alle Verantwortung übernehmen. Nicht handeln ist keine Option. Das gefährdet die Zukunft unserer Menschheit.
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Deswegen sagen wir ganz klar: Die Menschen müssen auf die Straße gehen. Es ist gut, wenn unsere Bevölkerung aktiv wird. Es ist gut, wenn nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Omas und Opas, die Eltern aktiv werden. Ich will Ihnen zum Schluss ein Zitat aus der Abhandlung „The Soul of Man under Socialism“ von Oscar Wilde vorlesen, ein Zitat, das, glaube ich, die Situation sehr gut trifft:
Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und durch Rebellion.
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Also: Fangen wir an, ungehorsam zu sein! Gehen wir auf die Straße! Wagen wir die Rebellion!
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Beutin, angesichts dessen, was Sie hier gerade ausgeführt haben, muss ich sagen – Sie haben es wahrscheinlich nicht erlebt –: Ich habe Flüsse im Osten Deutschlands gesehen, auf denen Schaum getrieben ist.
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Ich habe gesehen, dass viele technische Umweltschutzanlagen nicht gearbeitet haben, und ich kann mich erinnern, dass ich oftmals am frühen Morgen von meinem Trabbi mit dem Besen ein wenig Kohlenstaub runterkehren musste, damit ich fahren konnte. Das ist das, was Ihr Gesellschaftsmodell im Osten Deutschlands
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und in vielen osteuropäischen Ländern und darüber hinaus verursacht hat, und das wollen wir mit Sicherheit nicht mehr.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist in der Tat so, dass es in den vergangenen 540 Millionen Jahren mindestens fünf große Wellen des Artensterbens gab, die fast immer durch Einwirkungen aus dem Weltall entstanden sind. Möglicherweise finden die Geologen noch weitere. An der sechsten Welle, vor der wir jetzt stehen, sind wir alle anständig beteiligt.
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Wenn ich mir, bevor ich auf den globalen Fakt komme, einmal angucke, wie es in Deutschland aussieht, dann muss ich sagen: Deutschland hat, was die weltweiten Relationen betrifft, 0,23 Prozent der Landfläche, 3,3 Prozent der Insekten – wenn ich davon ausgehe, dass es 1 Million Arten gibt, wahrscheinlich sind es viel mehr –, 2,8 Prozent der Vögel, 1,8 Prozent der Säuger und 0,1 Prozent der Reptilien. Das heißt nicht, dass wir da nicht auch Verantwortung tragen, aber das, was wir in Deutschland verbessern, kann nur ein ganz kleiner Teil von dem sein, was eigentlich notwendig ist.
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Und wenn ich sehe, dass wir in Deutschland in den Medien am Wochenanfang bei diesem Thema jetzt sozusagen genauso in die Verpflichtung genommen werden wie bei bestimmten Fragen des Klimaschutzes, bin ich sehr dankbar, dass unsere Umweltministerin in Paris sehr deutlich gesagt hat: Das ist ein globales Problem, das wir alleine nicht lösen können.
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Aber natürlich können wir entsprechende Beiträge dafür leisten, und das werden wir, ich denke mal, spätestens nach der Sommerpause mit dem Insektenschutzpapier, das wir hier diskutieren werden, leisten. Wir werden ab 2020 eine neue Förderung im Agrarbereich haben. Ich glaube, auch hier muss sich einiges ändern. Es müssen zumindest alle Bundesländer bereit sein, Blühstreifen und andere ökologische Maßnahmen der Landwirte zu fördern, so wie das mit Ausnahme des Landes Brandenburg alle anderen ja schon tun.
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Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Monotonisierung der Landschaft, ich sage mal, weiter eindämmen. Wir dürfen sie auch nicht weiter ausräumen, indem wir Hecken, Steinwälle und Ähnliches beseitigen, sondern wir müssen versuchen, solche Strukturen wieder reinzubringen. Das muss uns gelingen.
Aber es gibt auch Bereiche, wo es Zielkonflikte gibt. Wir haben nach den Berechnungen des Jagdverbandes mittlerweile 1 Million Waschbären in Deutschland. Waschbären sind Eierräuber, plündern Nester, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn es immer weniger bodenbrütende Vögel gibt. Diese 1 Million Waschbären, die hier ja eigentlich nichts zu suchen haben, müssten wir eigentlich anständig bekämpfen.
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Aber mit der Flinte reicht es nicht. Wir müssen die Fallenjagd wieder aktivieren bzw. Fallen aufstellen. Ansonsten bekommen wir dieses Problem nicht in den Griff. Aber da haben wir den Konflikt mit dem Tierschutz.
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Zum Thema Flächenverbrauch möchte ich mich hier jetzt nicht äußern. Das hat schon der eine oder andere gemacht. Kommen wir mal zum Wildtierhandel. Auch da werden wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Antrag einbringen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Der Eumeces persicus, der persische Streifenskink, ist 2017 erstmalig beschrieben worden. Drei Monate später ist er in Deutschland gehandelt worden. Das sind Dinge, bei denen wir auch mit unserem Verhalten, mit unserem Vorgehen Verbesserungen herbeiführen können.
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– Wenn Sie eine Frage stellen wollen, können Sie es gerne machen, Frau Lemke.
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Zum Abschluss möchte ich noch auf das Thema Mangrovenwälder eingehen. Die Mangrovenwälder sind um 50 Prozent zurückgegangen. Woran liegt das? Weil der größte Teil dieser Flächen für Aquakulturen, für Garnelen – manche sagen Scampi dazu –, ausgebaut wurde. Das Ergebnis ist, dass wir mittlerweile über 3 Millionen Tonnen davon jährlich produzieren. Das war eigentlich einmal ein Luxuslebensmittel, das man sich zu bestimmten Zeiten geleistet hat, aber mittlerweile kann man sie in den großen Discountern für 2 Euro die Schachtel kaufen. Da könnten wir alle einen Beitrag leisten, wenn Sie das nicht machten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Aus der Tatsache, dass die Partei Die Grünen eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Nach dem globalen Report zur Artenvielfalt – Politische Konsequenzen aus dem gefährlichen Artensterben“ beantragt, könnte der geneigte Zuschauer schließen, dass sich diese Partei intensiv, konsequent und ehrlich für Artenschutz einsetzt. Jeder, der sich näher mit dieser Partei und deren Geschichte befasst, muss aber erkennen, dass es sich um eine Partei handelt, die vorrangig darauf spezialisiert ist, Panik zu verbreiten, frei nach dem Motto der neuen Galionsfigur Greta Thunberg,
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welches sie auf dem Weltwirtschaftsgipfel im Januar dieses Jahres in Davos ausgab: „Ich will, dass ihr in Panik geratet“. Oder nach Al Gore im Jahr 2009: „Wir müssen Furcht erzeugen.“ – Oder John Houghton, ehemaliger Vorsitzender der Science Working Group des IPCC: „Solange wir keine Katastrophe ankündigen, wird uns keiner zuhören.“
In einer meiner letzten Reden hatte ich schon erwähnt, dass sich in der Geschichte Ihrer Partei nicht nur Pädophile, Inzestverharmloser, sondern auch Kommunisten, Maoisten und bis heute Deutschlandhasser und Deutschlandabschaffer unter dem grünen Mäntelchen dieser Partei verstecken. Zu den Gründungsmitgliedern bzw. frühen Mitgliedern dieser Partei gehörten mit Baldur Springmann und Werner Vogel zwei ehemalige NSDAP-Mitglieder. Wer damals die Grünen wählte, wählte also wirklich Nazis, wie Sie es jetzt auf dem Titelblatt einer grünen Zeitung der AfD andichten.
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Faschistoide Methoden nutzten Sie und Ihre Jugendorganisation, die auch gerne mal mit der Antifa oder der Interventionistischen Linken gemeinsam ans zerstörerische Werk geht, noch immer, indem Sie Andersdenkende diffamieren und verleugnen.
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Aber kommen wir zum Hier und Heute. Im Bericht des sogenannten Weltbiodiversitätsrates, dem IPBES, nutzt man offensichtlich die Erfahrung, die schon der Weltklimarat IPCC gemacht hat. Diese Erfahrung lautet laut Professor Dr. Schneider vom IPCC:
Deshalb müssen wir Schrecken einjagende Szenarien ankündigen … Um Aufmerksamkeit zu erregen, brauchen wir dramatische Statements und keine Zweifel am Gesagten. Jeder von uns Forschern muss entscheiden, wie weit er eher ehrlich oder eher effektiv sein will.
Die größten Gefahren für die Biodiversität sehen die Verfasser bei Landnutzung und – wie kann es anders sein? – beim Klimawandel. Auch sie fordern eine große Transformation der Gesellschaft, wie es auch im Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung steht. In diesem Klimaschutzplan werden verschiedene Ziele ausgerufen, unter anderem der intensive Ausbau der sogenannten Erneuerbaren, die natürlich von den Grünen unterstützt werden, ihnen aber teilweise nicht weit genug gehen. Wenn wir uns die Folgen dieses Ausbaus anschauen, können wir klar die Scheinheiligkeit der Grünen erkennen. Nicht nur, dass Hunderttausende Vögel und Fledermäuse den Windkraftanlagen direkt zum Opfer fallen, es wird auch deren Lebensraum massiv eingeschränkt. Wind und Solar produzieren im Moment circa 4 Prozent des Primärenergieverbrauchs. Um auf 100 Prozent kommen, müsste die installierte Leistung um das 25-Fache anwachsen. Wir bräuchten dann also anstatt jetzt 30 000 schlappe 750 000 Vogelschredder. Dann fliegt wahrscheinlich kaum noch ein Vogel an unserem Himmel.
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Wie in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates für Biodiversität und Genetische Ressourcen von 2018 zu lesen war, haben der Ausbau von Photovoltaik- und Windenergieanlagen, aber auch der Anbau von Energiepflanzen teilweise erhebliche negative Einflüsse auf Insekten. So bietet Mais für Biogasanlagen Bestäubern gar keine Nahrung, aber auch beim Anbau von Raps entsteht nach der Ernte eine sogenannte Trachtlücke, in der die Bestäuber plötzlich keine Nahrung finden. Wenn sie dann zugrunde gehen, werden sie wahrscheinlich an ihre Schutzpatronin, Frau Katrin Göring-Eckardt, denken, die ihnen versprach:
Wir wollen, dass in den nächsten vier Jahren jede Biene und jeder Schmetterling und jeder Vogel in diesem Land weiß: Wir werden uns weiter für sie einsetzen!
Dann stirbt es sich natürlich leichter.
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In der Stellungnahme heißt es weiter, dass Windenergieanlagen nicht nur Fluginsekten bei der Nahrungssuche und der Reproduktion anlocken, ihnen fliegen wiederum Vögel, die diese Insekten als Nahrungsquelle sehen, hinterher und fallen den Rotoren zum Opfer. Weiter heißt es in dieser Stellungnahme: Photovoltaikanlagen sind Quellen polarisierten Lichts und können laut dem Bericht eine Lockwirkung vor allem für aquatische, also am Wasser lebende, Insekten sein, die die Anlagen mit Wasserflächen verwechseln.
Sie sehen also, Ihre viel gepriesenen Windkraft- und Photovoltaikanlagen sind nun nicht unbedingt ein Hort für Biodiversität. Solange Sie also mit Ihrer wahnhaften Klimapanikpolitik den Tod von Hunderttausenden Vögeln und Fledermäusen und Billionen Insekten billigend in Kauf nehmen, solange Sie durch den Aufbau von Windkraftanlagen den Lebensraum Tausender Wildtiere zerstören, gelten Sie für viele Menschen in Deutschland als Umwelt- und Naturzerstörungspartei.
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Wir, die AfD, betreiben ehrlichen Umweltschutz, weil wir im Gegensatz zu Ihnen unsere Heimat lieben.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich ist es gut, dass wir dieses existenzielle Thema heute hier behandeln und dass es die Aufmerksamkeit bekommt, die es dringend braucht und auch verdient. Zynismus ist hier völlig fehl am Platz, weil er überhaupt nicht dem Ernst der Lage entspricht.
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Die anderen, Herr Hilse, lieben ihre Heimat genauso.
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Das lassen wir andere hier im Parlament uns gar nicht absprechen.
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Der Verlust der biologischen Vielfalt ist eine ebenso große Herausforderung wie der Klimawandel. Der Bericht beschreibt ganz deutlich, wie der Zustand in der Natur bei uns und weltweit ist. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass es ohne Forschung und ohne internationalen Austausch nicht geht. Bloße Phrasen und das in irgendwelche Ideologieschubladen stecken zu wollen, ist einfach nicht angebracht und völlig fehl am Platz.
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Es diskreditiert auch die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich drei Jahre intensiv damit auseinandergesetzt und daran geforscht haben. Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung ist durchaus stolz darauf. Wir sind froh, dass wir den IPBES, den Weltbiodiversitätsrat, unterstützt haben und es auch ermöglicht haben, dass dieser Bericht erstellt wurde.
Wer diesen Bericht aufmerksam gelesen hat, weiß, wie erschreckend die Zahlen beim Rückgang der Arten sind. Es ist ein Alarmzeichen. Dass wir jetzt darüber diskutieren, macht noch einmal klar: Es geht um unsere Lebensgrundlagen. Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen. Damit will ich noch einmal sagen: Das zerstört nicht nur den Lebensraum der Arten, der Tiere und Pflanzen, es zerstört unseren eigenen Lebensraum. Deswegen ist es wichtig, dass wir nach Lösungen suchen – dafür müssen wir uns einsetzen –, wie wir das verhindern, wie wir den dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt verhindern und stoppen können.
Der Bericht stellt ganz klar fünf Haupttreiber in den Mittelpunkt.
An erster Stelle sind das Nutzungsänderungen an Land und im Meer. Wir verlieren tropischen Regenwald für landwirtschaftliche Flächen, natürlich in Form intensiver Landwirtschaft. Frau Skudelny, Sie machen hier ein Fass auf, wenn Sie sagen, wir verbrauchen hier Fläche für Windanlagen und importieren – Sie haben es auch beschrieben – von Regenwaldländern. Wir sind aber auch – das muss man dazusagen – Hauptexporteure bei manchen Nahrungsmitteln, wie zum Beispiel Schweinefleisch. Deswegen haben wir eine intensive Landwirtschaft.
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Wenn wir über Landwirtschaft diskutieren, muss man nicht nur A, sondern auch B sagen und es im gesamten Zusammenhang sehen;
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und dann reden wir über eine nachhaltige Landwirtschaft.
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Ich glaube, es ist Zeit, dass wir uns darüber intensiv austauschen.
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Es wird nun immer davon gesprochen, dass es die Windkraftanlagen sind.
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Man weiß, was dann, wenn die FDP an der Regierung ist, kommt. Dann legt man als Abstandsfläche nicht 500 Meter oder 1 000 Meter fest, nein, dann legt man 1 500 Meter wie in Nordrhein-Westfalen fest. Obwohl es dort ein großes Potenzial gibt, regt man sich auf und sagt: Die Windkraftanlage ist der Killer der biologischen Vielfalt.
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Sie machen hier ein großes Getöse und machen Nebenkriegsschauplätze auf. Kehren Sie erst einmal vor Ihrer eigenen Tür.
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Ich komme zum zweiten Haupttreiber: das Abholzen von Wäldern und die Überfischung. Natürlich ist das eine Bedrohung für Pflanzen- und Tierarten.
Dritter Haupttreiber ist der Klimawandel, weil der Anstieg der Temperaturen den Arten ganz deutlich zu schaffen macht. Schauen wir uns nur mal die Korallen an: Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad bleiben nur noch 10 bis 30 Prozent des Vorkommens bestehen, und bei einer Erwärmung um 2 Grad wäre es weniger als 1 Prozent. Man muss die Korallen nicht nur deswegen erhalten, weil man sie vielleicht mal beim Tauchen angucken will. Vielmehr sind die Korallen die Geburtsstuben der Fische. Deswegen sind sie elementar. Um ihren Schutz voranzubringen, arbeiten wir mit dem BMZ bei der Internationalen Klimaschutzinitiative zusammen. Sie bezieht sich auch auf den Bereich der Mangrovenwälder; auch hier wollen wir Kapazitäten bilden, weil es um die Existenz der Menschen vor Ort geht.
Viertens: Abfallprodukte. Viele unserer Konsumgüter landen in der Natur: Plastikmüll, Schwermetalle, Pestizide und Düngemittel. Hier zeigt sich auch, wie wichtig die Leistungen der Ökosysteme sind. Sie filtern Schadstoffe und sorgen unter anderem dafür, dass wir Menschen sauberes Trinkwasser haben. Umso wichtiger ist es, die Ökosysteme zu schützen.
Fünftens. Globale Transportwege und zunehmender Tourismus zerstören natürlich auch Lebensräume, und sie haben einen weiteren unerwünschten Nebeneffekt: Invasive, gebietsfremde Arten breiten sich aus – mein Kollege Klaus-Peter Schulze hat es anhand des Beispiels des Waschbären deutlich gemacht – und verdrängen heimische Flora und Fauna. Natürlich haben wir auch das im Fokus.
Wie beim Klimaschutz gilt: Noch haben wir das Steuer in der Hand, noch können wir umsteuern. Wir müssen es nur jetzt tun, und wir tun es auch. Wir haben die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, wir haben das Blaue Band und das Grüne Band, und wir haben das Nationale Naturerbe.
Ich möchte jetzt noch auf drei Projekte eingehen, die für uns ganz wichtig sind, die im Koalitionsvertrag stehen und die wir auch abarbeiten:
Erstens. Wir brauchen ein größeres und effektiv gemanagtes Netz an Schutzgebieten. Zum Beispiel fördert die Bundesregierung schon das Grüne Band und das Blaue Band – ich habe es eben schon erwähnt. Das reicht aber noch nicht aus. Wir wollen erreichen, dass die Lücken geschlossen werden und die vorhandenen Schutzgebiete ihren Aufgaben gerecht werden, unter anderem mit einem gemeinsam mit den Ländern getragenen Nationalen Aktionsplan Schutzgebiete. Wir wollen die Schutzgebiete noch besser managen und zum Beispiel den Einsatz von Pestiziden in besonders schutzbedürftigen Bereichen, also Natur- und Wasserschutzgebieten, grundsätzlich beenden.
Zweitens: Insektenschutz. Das Thema der Bestäuber ist in aller Munde. Ich finde es eigentlich schon ziemlich bezeichnend, wenn man als größte Oppositionsfraktion über 1,8 Millionen Menschen aus Bayern hinweggeht, die die Dringlichkeit des Insektenschutzes erkannt haben. Es wird nicht nur Greta diskriminiert, sondern es werden auch diejenigen in die Ecke gestellt, die sich für Insektenschutz einsetzen. Das gehört sich einfach nicht. Das ist in dieser Situation nicht angebracht. Die Initiative aus Bayern gibt uns Rückenwind für die Vorschläge des Bundesumweltministeriums hinsichtlich eines Aktionsprogramms Insektenschutz. Wir haben es auf den Tisch gelegt. Der IPBES-Bericht bestärkt uns. Jetzt geht es darum, zu handeln und es mutig und schnell umzusetzen.
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Drittens geht es um die Agrarförderung. Im Bericht des IPBES-Beirats ist immer wieder von schädlichen Subventionen die Rede. Gleichzeitig tragen wir natürlich durch die Ausgestaltung der EU-Agrarförderung mit dazu bei, wie sich die Landwirtschaft weiterentwickelt. Deswegen ist es wichtig, dass wir, wenn wir die GAP weiterentwickeln, bei dem ansetzen, was im IPBES-Bericht steht, und dies auch in der zukünftigen Finanzierung seinen Niederschlag findet.
Es ist klar: Dem IPBES-Bericht muss politisches Handeln folgen, und zwar schnell. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir haben das im Koalitionsvertrag festgehalten. Wir sind aber auch international gefordert: bei den Themen Wilderei und illegaler Artenhandel, beim Schutz der Weltmeere, im Bereich Abfall und beim Chemikalienhandel.
Ich habe heute der Presse entnommen – man kann sich manchmal gar nicht vorstellen, was es alles gibt –, dass jemand im Ortenaukreis mehrere streng geschützte Orchideenarten ausgegraben hat. Das hat zu einem immensen Schaden geführt, weil man sie nicht so schnell rekultivieren kann. Solche Nachrichten müssen dazu führen, dass man sich dessen bewusst wird, dass man die Arten tatsächlich schützen muss, nicht nur im Ausland, sondern auch bei uns. Das ist kein Kavaliersdelikt.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir gemeinsam ein ambitioniertes Rahmenwerk für die Weltbiodiversitätskonferenz in China entwickeln. Die Chancen stehen gut. Deswegen wünsche ich mir, dass wir in den nächsten Wochen tatsächlich Themen wie den Insektenschutz voranbringen. Der Sommer steht an. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.
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– Wir haben den Wecker schon lange gehört, wir sind schon lange aufgestanden, Frau Lemke.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Schon lange schlagen Natur- und Artenschützer Alarm. Ihr Ruf verhallte allerdings vor allem bei dieser Bundesregierung allzu lange ungehört. Das Bienensterben und die Krefelder Studie zum Insektensterben haben eine breite Öffentlichkeit erreicht und gezeigt: Wenn wir das Leben auf diesem Planeten erhalten wollen, müssen wir jetzt etwas tun.
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Der neue Bericht des IPBES belegt völlig klar: Unsere Landwirtschaft muss sich ändern, unsere Agrarpolitik muss sich ändern.
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Wir müssen raus aus dem zur Regel gewordenen Gifteinsatz, raus aus strukturverarmten Landschaften ohne Baum und Strauch, runter von zu viel Nitrat auf dem Feld. Wir müssen rein in strukturreiche, blütenreiche, vielfältige Kulturlandschaften, die unsere Lebensgrundlagen erhalten.
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Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt schon seit Jahren auf dem Tisch. Die deutschen Wissenschaftsakademien, das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, der Sachverständigenrat für Umweltfragen und viele andere sagen klar: Landnutzung ist ein Haupttreiber des Artensterbens. – Wer trotz dieser Expertise den Schuss nicht gehört hat, für den muss der IPBES-Bericht jetzt wirklich wie ein Meteoriteneinschlag sein.
Alle fordern doch immer wissenschaftsbasierte Entscheidungen. Ja, schön, richtig, nur zu! Beim Artenschutz weigert sich diese Regierung aber immer noch, den Fakten zu folgen und Konsequenzen zu ziehen. Wenn es um die Landwirtschaft als Haupttreiber des Problems Artensterben geht, dann machen Agrarministerin Klöckner, Bauernverband und Co die Schotten dicht.
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So ist es, lieber Kollege de Vries und lieber Kollege Klaus-Peter Schulze. – Wo ist er denn? Ist er weg? – Da ist er. Kollege Klaus-Peter Schulze, Kleinreden und Ablenken helfen hier nicht. Kehren wir doch mal vor der eigenen Haustüre.
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Frankreichs Präsident Macron hat am Dienstag konkrete Maßnahmen vorgestellt. Was macht Frau Klöckner? Frau Klöckner will prüfen, auswerten, abwarten. Was gibt es denn da, bitte schön, noch zu prüfen?
Ein Bericht des Thünen-Instituts legt klar die Vorteile des Ökolandbaus im Hinblick auf die Biodiversität auf den Tisch, aber der Ökolandbau bleibt Stiefkind der Regierung. Überdüngung schadet der Artenvielfalt, doch zu einer besseren Düngeverordnung muss sich diese Regierung per Strafzahlung zwingen lassen. Das wollen Sie doch nicht als wissensbasierte Politik verkaufen. Das nimmt Ihnen keiner mehr ab.
Beim Glyphosat-Ausstieg ist die Bundesregierung keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: 100 Glyphosat-Produkte sind zugelassen worden, auf wirksame Strategien zur Pestizidreduktion warten wir seit langem, und echte Forschung zum alternativen Pflanzenschutz ohne Gift findet nicht in nennenswertem Umfang statt, sie fristet ein Nischendasein. Auch da hilft der Blick in unsere Nachbarländer.
Der Spruch von Agrarministerin Klöckner „Was der Biene schadet, muss vom Markt“ war richtig und klasse, aber leider nicht so gemeint, hat uns der Staatssekretär erklärt. In Wahrheit heißt das Motto: Was der Biene schadet, wird zugelassen. – Bienengiftige Pestizide wie Thiacloprid bleiben weiter zugelassen, und die Zulassungsverfahren bleiben mangelhaft. Das ist für die Artenvielfalt fatal. Wir haben es bei den Neonikotinoiden gesehen. Die Bienenleitlinien, die dazu geführt haben, dass diese drei Stoffe vom Markt kamen, werden leider nicht umgesetzt. Das muss sich ändern. Diese Leitlinien müssen umgehend angewendet werden. Das darf nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
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Beim Insektenschutzprogramm gibt es überhaupt nichts außer gegenseitigen Blockaden. Dieses Ressort-Hickhack hilft draußen keiner einzigen Biene, keinem einzigen Schmetterling und keinem einzigen Käfer.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, hören Sie bitte endlich auf, die durch die Agrarindustrie verursachten Umweltprobleme kleinzureden. Dafür haben die meisten Menschen in unserem Land kein Verständnis mehr. Sie wollen eine umweltfreundlichere Landwirtschaft.
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Das zeigt die große Beteiligung an Volksbegehren oder Petitionen für bienenfreundliche Politik. Die Kanzlerin muss jetzt den Artenschutz zur Chefsache machen, statt dem Sandkastenchaos in ihrem Kabinett weiterhin tatenlos zuzusehen.
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Es ist noch nicht zu spät. Geben wir einer Landwirtschaft eine Chance, die unsere Lebensgrundlagen erhält und pflegt und damit auch gutes Essen erzeugt. Das können unsere Bäuerinnen und Bauern. Wir müssen dafür die Agrargelder anders verteilen und schädliche Subventionen abschaffen. Hören Sie auf die wissenschaftlichen Beiräte, die genau das fordern: öffentliches Geld für öffentliche Leistung. Reduzieren Sie die Pestizidanwendungen! Ändern Sie die Agrarpolitik! Agrarpolitik muss Umwelt- und Naturschutzpolitik werden. Dann leistet sie auch einen Beitrag zum Artenschutz.
Danke schön.
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Nächster Redner in der Aktuellen Stunde ist Hermann Färber für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Laut dem Zustandsbericht des Weltbiodiversitätsrates sind 1 Million Arten vom Aussterben bedroht. Das heißt, es ist in der Tat an der Zeit, gemeinsam und global gegenzusteuern.
Wie ist die Ausgangslage? Zurzeit leben 7 Milliarden Menschen auf der Welt. Jährlich wächst die Bevölkerung um weitere 70 Millionen Menschen an. All diese Menschen benötigen Wasser, Nahrungsmittel, Energie und Rohstoffe. Durch den steigenden Bedarf verschlechtern sich die Ökosysteme von Wasser, Land und Luft. Der Zustandsbericht des Weltbiodiversitätsrates nennt deshalb viele Ursachen – nicht nur eine! – für den Verlust der Biodiversität und der Arten – beispielsweise: die Auswirkungen des Klimawandels, die Expansion der Landwirtschaft in den Tropen, Viehzucht in Lateinamerika und Ölplantagen in Südostasien, die vor Ort zum Verlust von waldreichen Gebieten führen.
Genannt wurde auch die Zunahme der urbanen Ballungsgebiete. Seit 1992 haben sich die städtischen Gebiete verdoppelt, was zur Flächenversiegelung und zur Zerstörung der Kulturlandschaften beigetragen hat. Der Materialverbrauch pro Kopf ist laut Bericht um 15 Prozent gestiegen. Das wiederum führt zu beispiellosen Mengen an Abfallprodukten. Ein weiteres Beispiel: Über 80 Prozent der globalen Abwässer werden ungeklärt wieder in die Umwelt zurückgeleitet. 400 Millionen Tonnen Schwermetalle, Lösungsmittel, toxische Substanzen und andere Abfälle aus Industrieanlagen werden weltweit jedes Jahr in Gewässer eingeleitet. Die Schlussfolgerung des Weltbiodiversitätsrates lautet: Eine verringerte Nutzung der Ökosysteme ist von einer Verminderung des Konsums abhängig. Für die Verbesserung der Welt trägt also auch jeder Mensch mit seinem eigenen Konsumverhalten ein Stück der Verantwortung.
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Die Bundesregierung arbeitet daran, die Energiewende so zu gestalten, dass die Klimaschutzziele erreicht werden. Weiterhin setzt die Regierung mit dem Aktionsprogramm Insektenschutz und der Ackerbaustrategie auf eine größere Bandbreite in den Bereichen Pflanzenbau und Biodiversität. Ja, wir brauchen wieder eine größere Kulturvielfalt auf unseren Feldern. Diese wird vor allem durch kleine und mittlere Betriebe garantiert. Doch gerade diese kleineren und mittleren Betriebe müssen wir vor allzu vielen Regulierungen schützen.
Leider gibt es in Deutschland auch Beispiele, wo sich der Artenschutz selbst im Weg steht. In meinem Wahlkreis konnte ich mir vor kurzem ein eindrucksvolles Bild verschaffen. Dort haben strenge Vorschriften für FFH-Gebiete zu einer starken Ausbreitung der hochgiftigen Pflanze Herbstzeitlose geführt, die die eigentlich erwünschte Biodiversität, die Orchideen, die dort wachsen, wieder sehr stark zurückdrängt. Von 1 500 Hektar FFH-Flächen in meinem Landkreis sind bereits 42 Prozent davon betroffen.
Die Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrates betonen die Notwendigkeit einer vernetzten, globalen Strategie. Deshalb dürfen wir den Fokus wirklich nicht allein auf die heimische Landwirtschaft richten. Denn die Wissenschaftler haben uns bei der Vorstellung des Berichts Dienstagfrüh auch gesagt: Selbst wenn wir in Deutschland die gesamte Kulturlandschaft unter Naturschutz stellen und nichts mehr nutzen, keinen Ertrag mehr realisieren und nichts mehr anbauen würden, wäre das falsch. Das wäre kontraproduktiv; denn dann würden all die von uns benötigten Produkte in anderen Teilen der Welt produziert, und zwar mit mehr Landverbrauch und auch zu schlechteren Bedingungen für die Ökologie. – Das stammt, bitte schön, nicht von mir, sondern von den Wissenschaftlern, die uns den Bericht am Dienstagmorgen vorgestellt haben.
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Welchen Schluss ziehen wir daraus? Es braucht fundamentale Veränderungen bei Technologie, in Wirtschaft und Gesellschaft,
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und diese Veränderungen müssen unsere Ziele und Werte mit einschließen. Daher gilt es, umsichtige, wirksame und vor allem maßvolle Entscheidungen zu treffen und diese dann weltweit umzusetzen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren und vor allen Dingen die vielen jungen und älteren Menschen, die uns heute hier zuhören! Bei mir zu Hause würde man sagen: Jetzt haben wir den Salat. – Die Wissenschaft hat belegt: Es gibt ein massives Artensterben mit absolut unabsehbaren Konsequenzen. Wir haben heute mehrere Interpretationen dazu gehört. Ich habe mich in meinen Überlegungen von zwei Bildern leiten lassen:
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt zeigt auf seiner Homepage die Darstellung des Waldsterbens auf der Welt im Zeitraffer. Ich muss sagen, das hat mich schon sehr erschrocken gemacht. Es ist jetzt dokumentiert, was in den letzten 50 Jahren an Wald verloren gegangen ist. Über TanDEM-X kann man, da alle vier Tage ein neues Bild aufgenommen wird, zwischen riesigen grünen Dächern unglaublich große Lücken sehen.
Weil Kees de Vries und Hermann Färber, die in meinem Alter sind, hier sitzen, will ich sagen: Seit ein paar Monaten bin ich glücklicher Großvater. Deshalb geht mein Blick natürlich auch ins 22. Jahrhundert, und ich kann Ihnen sagen: So ganz optimistisch bin ich nicht, was die Zukunft angeht. Der uns vorgelegte Bericht muss uns zumindest wachrütteln. Dieses Land hat sich im letzten Jahrhundert sozusagen redlich bemüht, sehr viele Menschen in eine andere Welt zu befördern, aber das, was wir jetzt tun, ist womöglich noch gefährlicher. Das macht mich sehr betroffen.
Als ich einmal vor 30 Jahren in dieses Land eingeflogen bin, habe ich vom Flugzeug aus 250 unterschiedliche Felder mit Wiesenstreifen dazwischen, mit Ackerrandstreifen, mit Blühstreifen und mit Hecken gesehen. Wenn ich heute einfliege – das war gerade erst wieder der Fall –, dann sehe ich 20 Felder mit Monokulturen. Das zeigt die Problematik, der wir uns stellen müssen. Ich glaube nicht, dass wir mit einem Stakkato an Vorwürfen, lieber Harald Ebner, einer Lösung näherkommen.
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Vielmehr müssen wir uns dem zuwenden, was wir tun können.
Ich möchte aber den guten Hinweis, den Harald gegeben hat, aufnehmen. Wir verfügen über wirklich gute Wissenschaftler. Wir sollten uns alle hier gegenseitig versprechen, dass wir die Ergebnisse der Wissenschaftler ernst nehmen. Ich habe in dieser Woche ein langes Gespräch mit Professor Taube geführt. Nun ist er nicht unumstritten, aber fachlich anerkannt. Wir haben die Energiewende gehabt, und was wir jetzt dringend brauchen – das ist mein Anliegen –, ist eine Agrarwende, und zwar eine vorurteilsfreie Agrarwende. Professor Taube kann sehr gut belegen, dass die Maximalsteigerungen von Erträgen in den letzten 20 Jahren zu keinem Erfolg geführt haben. Trotz starker Düngung und trotz starker Einbringung von N und P, also von Stickstoff und Phosphor, ist der Ertrag nicht gestiegen. Das sollte uns dazu bringen, uns zu überlegen, ob die Maximalsteigerung auf Dauer von Erfolg gekrönt ist.
Hermann Färber hat die Situation, was unseren Wirtschaftsstandort angeht, ganz gut beschrieben. Wahr ist, dass wir in vielen Bereichen Exportweltmeister sind, auch in der Landwirtschaft. Wir sind weltweit der drittgrößte Exporteur von Lebensmitteln. In Argentinien und Brasilien werden Regenwälder abgeholzt und wird Soja angepflanzt. Wir importieren es und erzeugen zumindest – das kann ich für meinen Bereich sagen – Unmengen Gülle. Der Bereich Weser-Ems produziert 3 Millionen Tonnen mehr Gülle als er selber verkraften kann. Dem müssen wir uns wirklich mal stellen.
Wenn wir uns dem stellen wollen, dann brauchen wir Agrarfördersysteme – das ist hier heute mehrfach angesprochen worden –, die dieser Forderung gerecht werden. Das heißt, wir müssen Maximalbewertungen und Maximalertragssteigerungen in Korrelation zur Nachhaltigkeit und zum Ökosystem setzen. Das müssen wir neu bewerten; das kann man. Wenn man die Gelder dafür haben will, dann muss man die GAP-Mittel umschichten. Ich glaube, das ist eine der ganz großen Aufgaben, die wir haben.
Die nächste große Aufgabe ist ein Faktencheck. Das, was Hermann hier eben angesprochen hat, nämlich dass Daten nicht durchgeleitet werden, ist wahr. Die deutschen Düngebehörden können aufgrund bestimmter Datenvorgaben die Daten, die sie hinsichtlich der Aufnahme von Düngemitteln erfassen, nicht an die Emissionsschutzbehörden weiterleiten. Was ist das für ein Irrsinn? Das heißt, die Behörden, die überwachen müssen, haben keinen Zugriff auf Daten, die vorhanden sind. Das Allertollste ist: In Brüssel sind sie vorhanden, und deswegen haben wir Schwierigkeiten mit unserer Düngeverordnung, weil man in Brüssel tatsächlich besser bewerten kann, was wir hier tun, als wir das hier selber können. Neben der Veränderung bei der GAP müssen wir also einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung legen und einen Faktencheck durchführen. Die Daten müssen auf den Tisch gebracht werden.
Wenn wir die Daten haben, können wir reagieren. Dann müssen wir zusammen mit der Wissenschaft dafür sorgen, dass wir einen Teil des Verlustes, den wir bis jetzt erlitten haben, wieder geradebiegen. Das ist meine große Forderung an dieses Parlament: Nutzen wir die hervorragende deutsche Wissenschaft, nutzen wir die Kreativität der Landwirtschaft, und bringen wir sie nicht weiter in Abhängigkeit von der Agrarindustrie und vom unseligen Einfluss des Deutschen Bauernverbandes. Dazu wünsche ich uns allen Glück.
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Das Wort hat die Kollegin Sybille Benning für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörer! Auf dem Weg zum Reichstag prangt am BPA derzeit ein großes Plakat mit dem Aufruf: „Jetzt Bienen füttern!“ Das macht aufmerksam. Ich bin Imkerin. Gemeinsam mit einer Freundin betreue ich sechs Bienenvölker. An diesem Hobby kann ich in Gesprächen anschaulich zeigen, was die Natur für uns Menschen leistet: Wir können Honig essen, Bienenwachskerzen herstellen, und als Wildbestäuber sind Bienen für eine ertragreiche Landwirtschaft ein unschätzbarer Faktor. Es gibt noch viel mehr Leistungen, die die Natur und die Ökosysteme erbringen. Um nur ein paar zu nennen: Luftqualität, sauberes Wasser – das alles wird in Ökosystemen reguliert. Wir gewinnen Energie, Arzneien und Baumaterialien aus der Natur. Und selbstverständlich bringt uns eine intakte Natur Lebensqualität, Erfahrungen mit der Natur, die unserer Seele guttun. Das kann man monetär gar nicht ausdrücken.
Wenn aber Pflanzenarten, kleinste Bodenorganismen, Insekten, Säugetiere aussterben, Korallen und Algen sterben, dann ist die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme beeinträchtigt. Sie verändern sich und die Leistungen sinken. Das hat gravierende Folgen. Dem müssen wir endlich mehr Aufmerksamkeit widmen, und wir müssen handeln.
Aufmerksamkeit ist in der Politik ein wichtiges und zugleich knappes Gut. Die Konferenz von Paris und der Bericht des IPBES schaffen die Aufmerksamkeit für das Thema Artenvielfalt, ein Thema, das mit vielen anderen konkurriert, sowohl in der Öffentlichkeit wie auch im politischen Prozess, zum Beispiel mit dem Thema Klimaschutz, wobei der Klimawandel als eine der Ursachen für das Artensterben bekannt ist. Wir müssen diese beiden globalen Probleme in ihrem engen Zusammenhang betrachten.
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Der politische Rahmen dafür liegt in den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, den sogenannten SDGs der Vereinten Nationen. Ökosystemleistungen unterstützen uns auf dem Weg zur Erreichung der SDGs direkt und indirekt. Direkt bei den Zielen zum sauberen Wasser, zum Leben in Gewässern, zum Leben an Land und zum Klimaschutz. Indirekt können Ökosystemleistungen aber zum Beispiel auch zu den Zielen „Beendigung von Hunger und Armut“ und „Verbesserung von Gesundheit und Wohlergehen“ beitragen.
Wir haben jetzt mit dem am Montag vorgestellten Bericht erstmals für 132 Mitgliedstaaten des Weltbiodiversitätsrats eine gemeinsame wissenschaftliche Grundlage über den Zustand der Artenvielfalt und der Ökosysteme. So unterschiedliche Staaten wie die USA, China, Peru und Simbabwe haben anerkannt, was die direkten und indirekten Ursachen für den Verlust von Biodiversität sind.
Die Aufmerksamkeit ist da. Dieses Momentum müssen wir nutzen. Aus meiner Sicht geht es darum, gemeinsam an Lösungen für die Probleme in den Bereichen Artenschutz und Klimaschutz zu arbeiten. Ich meine damit uns selbst, die Politik und die Verbraucher, aber auch die Wirtschaft und die Landwirtschaft als ein Teil davon.
Die Wissenschaft hilft dabei. Sie zeigt Optionen für die Politik, aber auch für die ganze Gesellschaft auf. Zum Beispiel gibt dieser Bericht Hinweise, dass wir uns bei der Landnutzung von der hergebrachten Vorstellung – auf der einen Fläche wirtschaften, auf der anderen Fläche Umweltschutz – verabschieden müssen. Damit allein konnten wir das Artensterben nicht aufhalten. Wir müssen also die Biodiversität viel stärker auf allen, wie auch immer genutzten Flächen schützen.
Dazu gehört für mich unbedingt der Ausbau der Grünflächen in den Städten. Wir brauchen viel mehr naturnahe, artenreiche Grünflächen, begrünte Fassaden und Dächer. Sie senken die Temperaturen in bebauter Umgebung, können Starkregen aufnehmen, und sie sind kostengünstige, nachhaltig wirksame Lösungen, die die Biodiversität erhöhen.
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– Danke. – Darum setze ich mich intensiv für einen Masterplan für das Weißbuch „Grün in der Stadt“ ein, in dem unser Programm „Zukunft Stadtgrün“ einen festen Platz haben muss.
Die Grundlage für alle Artenschutzprogramme ist, die Arten und Organismen zu kennen; das ist die Aufgabe der Taxonomie, einem Teilgebiet der Biologie. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam durch einen Antrag gefördert. Dabei bleiben wir natürlich nicht stehen. Das BMBF hat im Februar dieses Jahres eine neue Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt gestartet und damit auch einen Beitrag zur nationalen Biodiversitätsstrategie geleistet. Dafür stellt das Forschungsministerium 200 Millionen Euro bereit. Der Ansatz ist sektorübergreifend. Es wird eine Dialogplattform Artenvielfalt eingerichtet, die die Schnittstelle sowohl für die verschiedenen Ressorts als auch zu Gesellschaft und Wirtschaft sein soll – ich finde das genau richtig –, damit Handlungsoptionen breite Akzeptanz finden und schnell von politischen Entscheidern umgesetzt werden können.
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Es hilft doch nicht, wenn wir anfangen, einzelnen Gruppen eine Schuld am Artensterben und am Klimawandel zuzuweisen. In unserer Gesellschaft sind alle gefordert, wenn wir unsere Wirtschaftsweise und unser Verhalten so verändern wollen, dass wir nachhaltig mit Ressourcen und schonend mit der Umwelt umgehen. Es betrifft uns alle als Verbraucher jeglicher Konsumgüter, es betrifft uns als Autofahrer, als Flugreisende, eben als Menschen, die mobil sein wollen. Es betrifft alle. Alles ist mit allem verknüpft. Wir brauchen international verbindliche Handlungsstrategien, die transparent und vergleichbar sind. Und wir müssen kontrollierbare Ziele im Artenschutz festlegen. So schaffen wir auch gleiche Wettbewerbsbedingungen. Man kann Nichtstun eben nicht mit dem Argument beschönigen, Artenschutz sei ein Wettbewerbshindernis. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch sagen: Die Biodiversität sichert die Grundlage des Wettbewerbs.
Ich finde, wir müssen die politischen Rahmenbedingungen schaffen, um es allen leichter zu machen, unser Leben nachhaltig zu gestalten.
Kollegin Benning, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir finden nur dann Akzeptanz dafür, wenn wir als Politik nicht immer Verzicht abverlangen. Wir müssen Lösungen anbieten, die einen Wandel unseres Verhaltens vereinfachen.
Kollegin Benning, Sie müssen bitte jetzt den Schlusspunkt setzen.
Ich komme zum Abschluss. – Ich bin der Meinung, dass Sie alle verstanden haben, was ich meine.
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Ich wünsche, dass Sie in diesem Sinne handeln, dass Sie unsere Politik unterstützen. Ich weiß, dass sich der Einsatz dafür lohnt.
Ich wünsche Ihnen allen jetzt ein schönes Wochenende. Nehmen Sie die Natur doch einfach mal sehr bewusst wahr, und wir handeln dann danach.
Danke schön.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Mai 2019, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis zum 15. Mai alles Gute.
(Schluss: 15.28 Uhr)